Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/10/1988

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung der 106. Sitzung des Deutschen Bundestages möchte ich folgende amtliche Mitteilungen zur Verlesung bringen. Der Abgeordnete Dr. Czaja feierte am 5. November 1988 seinen 74. Geburtstag. Das Haus gratuliert ihm herzlich. ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt - ich bitte Sie, die Punkte dieser Liste zu entnehmen - : 1. Aktuelle Stunde: Die Förderung der Fusion von Daimler-Benz mit MBB durch die Bundesregierung ({1}) 2. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Für eine Politik der offenen Grenzen - für ein Recht auf Zuflucht - Flüchtlings- und Asylkonzeption - Drucksache 11/3249 -3. Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer internationalen Begegnungsstätte für Frieden und Versöhnung in Guernica, Baskenland und zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien - Drucksachen 11/362, 11/483, 11/3180 -4. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 11/2302, 11/3189 -5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Wüppesahl ({2}) : Sitzplatz des Abgeordneten Wüppesahl im Plenarsaal - Drucksache 11/3198 -6. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Das Genfer Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan vom 14. April 1988 und humanitäre Hilfeleistungen der Bundesrepublik Deutschland an Afghanistan - Drucksache 11/3272 6. Aktuelle Stunde: Jüngste Äußerungen von Politikern der CDU und SPD zur Wochenarbeitszeit 8. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes ({3}) - Drucksachen 11/2436, 11/3292 -9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 86 zu Petitionen - Drucksache 11/3289 -10. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 87 zu Petitionen - Drucksache 11/3290 7. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Neuorganisation der Marktordnungsstellen - Drucksachen 11/2675, 11/3288, 11/3294 -12. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Humanitäres Kriegsvölkerrecht - Drucksache 11/3295 -13. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1988 ({4}) - Drucksachen 11/2742, 11/3293, 11/3297 Gleichzeitig soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgesehen werden, soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung und den Zusatzpunkten erforderlich ist. Erhebt sich gegen diesen Vorschlag Widerspruch? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Ergebnisse der Reise des Bundeskanzlers und seiner Delegation in die UdSSR Interfraktionell ist die Vereinbarung getroffen worden, die Beratungszeit auf drei Stunden festzusetzen. Ich nehme an, daß sich auch hiergegen kein Widerspruch erhebt. - Das ist der Fall. Dann darf ich auch das als beschlossen feststellen. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein offizieller Besuch in der Sowjetunion vom 24. bis 27. Oktober 1988 diente dem beiderseitigen Ziel, in der Geschichte beider Staaten und Völker ein neues, zukunftsgewandtes Kapitel zu beginnen. Dieses Ziel ist nach Aussage beider Seiten erreicht worden. In meiner Begleitung reisten die Bundesminister Genscher, Scholz, Kiechle, Riesenhuber und Töpfer sowie die Kollegen Dregger und Rühe. Mitglieder meiner Delegation waren führende Vertreter der deutschen Wirtschaft, die Vorsitzenden Heinz-Werner Meyer und Roland Issen als Vertreter der Gewerkschaften, führende Wissenschaftler, Persönlichkeiten des kulturellen Lebens sowie die Präsidenten unserer Organisationen der Kriegsopfer, der Hinterbliebenen und der Kriegsgräberfürsorge in der Bundesrepublik Deutschland. Stärke und auch Zusammensetzung der Begleitung spiegeln den Wunsch unserer Bevölkerung wider, in unseren Beziehungen zur Sowjetunion in allen Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens einen neuen Anfang zu setzen, und verdeutlichen die außerordentliche Vielfalt der Themen, bei denen wir uns Fortschritte in den Beziehungen vorgenommen haben. Lassen Sie mich diesen Besuch zunächst in einen größeren Rahmen stellen; in den Rahmen der jüngsten Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen, der Dynamik der europäischen Einigung, der zunehmend günstigeren Großwetterlage zwischen West und Ost und der Politik der „Umgestaltung" in der Sowjetunion. Die von mir geführte Bundesregierung hat ihr Amt zu einem Zeitpunkt angetreten, an dem die mit der Entspannungspolitik der siebziger Jahre verknüpften Hoffnungen durch eine sowjetische Politik, die den Erwartungen der westlichen Partner zuwiderlief, zerstoben waren. Im Innern verstärkte sich die Repression; ich erinnere an das Schicksal Professor Sacharows und vieler anderer Sowjetbürger. In der Außenpolitik setzte sich die ungehemmte Expansion in Regionen der Dritten Welt fort; ich erinnere an Afghanistan. In der Rüstungsentwicklung verstärkte die Sowjetunion ihren zielbewußten Aufbau neuer Bedrohungen, wodurch entgegen allen anderslautenden Versicherungen dem Westen das Recht auf gleiche Sicherheit verweigert und unser Land bedroht wurde. Der sowjetische Generalstabschef Achromejew hat am 25. Juni dieses Jahres in einer Pressekonferenz in Moskau auf die Frage nach den „schwersten Fehlern sowjetischer Außenpolitik " auf die „Militarisierung des Denkens" und auf das „sinnlose Hochrüsten" verwiesen. Die Bundesregierung hat dennoch seit ihrer Amtsübernahme im Oktober 1982 in allen Regierungserklärungen als unverrückbares Ziel erklärt, daß für uns, die Bundesrepublik Deutschland, das Verhältnis zur Sowjetunion als unserem größten und wichtigsten östlichen Nachbarn von zentraler Bedeutung ist, daß wir die geschlossenen Verträge und Vereinbarungen nach Geist und Buchstaben erfüllen und ausbauen wollen und daß wir bereit und entschlossen sind, unsere Beziehungen auf allen Gebieten, wo dies im beiderseitigen Interesse möglich ist, zu entwickeln. Unser langfristiges Ziel war und ist noch heute eine über die Verständigung der Regierungen hinausreichende Versöhnung der Völker. Jeder weiß, daß sich in den frühen achtziger Jahren der Ost-West-Gegensatz in einem Maße verschärfte, daß die Vorzeichen für solche politischen Ziele nicht eben günstig waren. Jeder weiß, daß wir auch bilaterale Rückschläge erlitten haben, weil die sowjetische Regierung bis 1987 versuchte, die beiderseitigen Beziehungen ausschließlich auf Fragen der Sicherheit und der Abrüstung zu beschränken. Wir haben indes auch in schwieriger Zeit an unserem Ziel festgehalten. Heute, da die Sowjetunion selber diese Periode als „Stagnation" bezeichnet, hat ein Prozeß begonnen, der dazu führt, daß auch die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland neu überdacht werden. Sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung waren der Staatsbesuch des Herrn Bundespräsidenten im Sommer 1987, die vielfältigen wechselseitigen Besuche von Fachministern und die Verabredung des Besuchsaustauschs zwischen Generalsekretär Gorbatschow und mir im März dieses Jahres. Dabei waren sich beide Seiten einig, daß diese Besuche keine Einzelereignisse bleiben dürfen, sondern daß mit meinem Besuch der regelmäßige Dialog auf höchster Ebene wieder aufgenommen wird. Für diesen Dialog sind jetzt die Weichen gestellt. Es ging und geht uns darum, das Fundament des Vertrauens zwischen beiden Staaten und ihren Regierungen zu verbreitern und darauf aufbauend einen Zustand guter Nachbarschaft dauerhaft zu begründen. Ein weiterer Bezugsrahmen für meinen Besuch ist die jüngste Entwicklung in Europa. Seit Beginn dieses Jahres ist auch den Kleingläubigen klar: Die Europäische Gemeinschaft entwickelt sich mit neuer, mit großer Dynamik. Die Vollendung des Binnenmarktes 1992 ist in realistische Nähe gerückt. Gleichzeitig haben sich unter unserer EG-Präsidentschaft die Europäische Gemeinschaft und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe einander angenähert. Bilaterale Abkommen der Europäischen Gemeinschaft sind mit RGW-Staaten, wie z. B. mit Ungarn, abgeschlossen worden. Auf gutem Weg sind solche Vereinbarungen insbesondere mit der Sowjetunion. Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, diese Vereinbarungen zustande zu bringen, ist von Generalsekretär Gorbatschow und von Ministerpräsident Ryschkow ausdrücklich gewürdigt worden. Es ist selbstverständlich, meine Damen und Herren, daß diese europäische Dynamik, die früheren sowjetischen Prognosen zuwiderläuft, auch in Moskau und in den Staaten des östlichen Wirtschaftssystems zu Reaktionen führen mußte: Zu den Befürchtungen, daß die zwischen den EG-Staaten abgebauten Binnengrenzen nun nach außen um so höher wieder aufgerichtet werden, habe ich in Moskau mit aller Klarheit festgestellt, daß es eine „FeBundeskanzler Dr. Kohl stung Europa" mit uns nicht geben wird. Zu der Sorge, daß sich die westeuropäische Integration im Bereich der Sicherheitspolitik zu einer neuen Bedrohung der östlichen Nachbarn entwickeln könnte, habe ich erklärt, daß sich diese Entwicklung gegen niemand richtet; sie dient vielmehr dem Frieden und der langfristigen Stabilität ganz Europas. Dabei habe ich insbesondere die deutsch-französische Zusammenarbeit gewürdigt als ein historisches Beispiel dafür, daß sich eben nicht nur Regierungen verständigen, sondern auch Völker alte Erbfeindschaften überwinden und sich versöhnen können, und deutlich gemacht, daß sie aus unserer Sicht als Keimzelle der europäischen Einigung und als Motor dieser zukunftsgerichteten Entwicklung zu verstehen ist. ({0}) Ich habe es als besondere Genugtuung empfunden, daß ich bei meinen Moskauer Gesprächen über diese Fragen an die Gespräche des italienischen Ministerpräsidenten de Mita vor einem Monat anknüpfen konnte. Ich bin sicher - wir sprachen bis in die letzten Tage darüber - , daß auch Staatspräsident François Mitterand, mit dem ich mich ja am Vorabend meines Moskau-Besuchs und in der vergangenen Woche erneut abgestimmt habe, bei seinem eigenen MoskauBesuch Ende dieses Monats dieses Thema in dem eben genannten Sinne bei der Darstellung unseres gemeinsamen Standpunkts bekräftigen wird. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf ein Besuchsergebnis hinweisen. Mit führenden Mitgliedern der sowjetischen Akademie der Wissenschaften habe ich vereinbart, daß führende Wissenschaftler aus den Staaten der EG und des RGW - und unser Land wird dafür gern die Initiative übernehmen - sich bald treffen und über die Auswirkungen des Binnenmarktes 1992 sowie über die Möglichkeiten, diese Dynamik für alle Europäer zu nutzen, eine wissenschaftlich fundierte Analyse zu erarbeiten. Daß wir bei dieser Arbeit die europäischen Neutralen und Ungebundenen nicht ausschließen wollen, ist für uns selbstverständlich. Die parallel dazu vorgetragene Anregung der sowjetischen Seite, daß sich auch die Außenminister von EG und RGW, von NATO und Warschauer Pakt treffen, werden wir mit unseren Partnern diskutieren und bald besprechen. Der dritte, ganz entscheidende Bezugsrahmen meines Besuchs ist die Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses insgesamt. Vier Gipfeltreffen der USA und der Sowjetunion in drei Jahren sind Sinnbild für eine dynamische Aufwärtsbewegung, die in der Nachkriegsgeschichte ihresgleichen sucht. Ich habe diese Entwicklung seit meiner ersten Regierungserklärung vor sechs Jahren immer wieder gefordert, und ich fühle mich in diesem politischen Kurs heute bestätigt. ({1}) Frucht dieser Gipfeldiplomatie ist nicht nur der historische INF-Vertrag, sondern - ich zitiere das Kommuniqué des ersten Gipfeltreffens Reagans und Gorbatschows in Genf - die Entschlossenheit, Dialog und Zusammenarbeit auf breiter Grundlage, auf allen Feldern zu verstärken. Wir als Europäer waren von Anfang an entschlossen, in gleichgerichteten Anstrengungen unseren Beitrag zu einer Grundsanierung des West-Ost-Verhältnisses zu leisten. Hierüber gab und gibt es bei unseren Freunden und Verbündeten keine Meinungsunterschiede. Nach meinem Besuchsaustausch mit der ungarischen Führung, nach dem Besuch des bulgarischen Staatsratsvorsitzenden in unserem Land und dem Staatsbesuch des Herrn Bundespräsidenten Ende dieses Monats, nach meiner Begegnung mit Generalsekretär Honecker und meinem Besuch in Prag zu Beginn dieses Jahres war die Zeit einfach reif für diesen nächsten wichtigen Schritt: für die Wiederaufnahme des deutsch-sowjetischen Dialogs auf höchster politischer Ebene. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch betonen, daß es mein Wunsch, daß es mein Wille ist, möglichst bald auch mit der Volksrepublik Polen zu dauerhaftem Ausgleich zu gelangen und den Weg für die Verständigung und Versöhnung der Völker und insbesondere auch der Jugend zu ebnen. Was ich selbst dazu beitragen kann, werde ich gerne tun. ({2}) Meine Damen und Herren, wir wollen in einer schwierigen Situation nach Wegen suchen, unseren in Rumänien lebenden Landsleuten in jeder nur denkbaren Weise zu helfen. ({3}) Mit der von Generalsekretär Gorbatschow ins Werk gesetzten Reformpolitik, die er mit den Begriffen „Umgestaltung", „Offenheit" und „Demokratisierung" betreibt, ist eine weitere Rahmenbedingung meines Besuches abgesteckt. Ich habe gegenüber dem Generalsekretär ausdrücklich bekräftigt: Wenn diese Politik der sowjetischen Führung für uns alle und nicht zuletzt für uns Deutsche mehr Chancen zur Verständigung und Zusammenarbeit bietet, findet sie unsere Sympathie und Zustimmung. Wir sind bereit - bei klarem Verständnis der fortbestehenden Unterschiede in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen - , durch praktische Zusammenarbeit im Interesse der Menschen unseren Beitrag zu leisten, diese Politik voranzubringen; denn, meine Damen und Herren - ich will dies unterstreichen - , ein Erfolg dieser Politik liegt langfristig auch in unserem Interesse. ({4}) Dies ist nicht nur die Überzeugung der Bundesregierung; dies ist insbesondere auch das Ergebnis der Gespräche und der Kontakte, die die Mitglieder meiner Delegation in Moskau gehabt haben. Dabei darf ich insbesondere auf ein langes Gespräch hinweisen, das Ministerpräsident Ryschkow mit führenden Vertretern unserer Wirtschaft führte und in dem er mit außerordentlicher Offenheit die Konzeption, aber auch die Probleme und Widerstände der Umgestaltung in seinem Land schilderte. Aber gerade durch diese Offenheit ist hier sicherlich die Vertrauensbasis erweitert worden. Daß wir auch in diesem Punkt in Gleichklang mit unseren Freunden und Verbündeten stehen, zeigen nicht zuletzt die Kreditabschlüsse der letzten Wochen. Unter ihnen hat der 1-Milliarde-Rubel-Kredit, den ein Bankenkonsortium unseres Landes gewährt und der während meines Besuchs in Moskau unterzeichnet wurde, zwar eine gewisse Vorreiterrolle gespielt; inzwischen sprechen aber andere westliche Bankenkonsortien bereits über höhere Beträge. Ich wiederhole: Wir begrüßen diese gemeinsame Einschätzung unseres Interesses, die Umgestaltung der Sowjetunion durch vernünftige Zusammenarbeit zu begleiten. Wie weit der Prozeß der Umgestaltung bereits fortgeschritten ist, aber auch auf welche schwierigen konzeptionellen und praktischen Fragen er stößt, davon konnte ich mich besonders in einem außergewöhnlich eindrucksvollen Gespräch mit dem Präsidenten und den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften überzeugen. In den Ausführungen der Nationalökonomen auf der sowjetischen Seite standen die Stichworte „Markt", „Wettbewerb" und „Pluralismus" im Vordergrund. Ludwig Erhard, meine Damen und Herren wurde als ein Klassiker der Nationalökonomie gewürdigt, die von ihm ins Werk gesetzte Währungsreform als Lehrstück über den Übergang von der Kriegswirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft hervorgehoben. Ich sage dies gerne all jenen, die hierzulande eine Rückkehr in den Steinzeitsozialismus proklamieren. ({5}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. ({6}) - Ich denke, Sie, Herr Kollege, gehen als wirtschaftspolitischer Sprecher nachher ans Pult und folgen den Mitgliedern der sowjetischen Akademie und sagen: Auch wir waren immer für Erhard. Das wäre doch ein wichtiger Beitrag. ({7}) Beeindruckt hat mich auch bei diesem Gespräch die Nüchternheit der Analyse, die Offenheit, mit der Schwierigkeiten angesprochen wurden, aber auch die Entschlossenheit, den jetzt eingeschlagenen, aber schwierigen Weg fortzusetzen. Gemeinsam haben wir festgestellt, daß neben den unverzichtbaren Kriterien der wirtschaftlichen Wissenschaften die Psychologie nicht vernachlässigt werden darf, d. h. konkret, daß die Menschen mit ihren schöpferischen Energien, mit ihren Hoffnungen und ihren Wünschen sich in dieser wirtschaftlichen Entwicklung auch wiederfinden müssen. Die Menschen in der Sowjetunion standen auch im Mittelpunkt eines Gespräches mit Professor Andrej Sacharow und seiner Frau Elena Bonner. Großer Ernst, aber auch unverkennbarer Optimismus prägten diese Begegnung. Die Umgestaltung fördert offensichtlich auch den Respekt - das ist eine unserer gemeinsamen Hoffnungen - für Menschen- und Bürgerrechte, auch wenn wir beobachten müssen, daß dieser Prozeß zuweilen noch recht mühsam vorankommt. Professor Sacharow sagte, daß sich die Lage gebessert habe und weiter bessere und daß er die Hoffnung habe, daß möglichst bald alle politischen Häftlinge freigelassen werden. Diese Aussage und die gleichgerichteten Versicherungen des sowjetischen Außenministers Schewardnadse gegenüber Bundesminister Genscher, daß bis zum Jahresende alle Personen, die der Westen als politische Häftlinge ansehe, freikommen würden, haben mich bewogen, einem Anliegen der sowjetischen Führung entgegenzukommen: Wir sind bereit, im KSZE-Rahmen nach Menschenrechtskonferenzen in Paris und Kopenhagen auch eine solche Konferenz in Moskau mitzutragen, wenn - dies will ich deutlich unterstreichen, das ist die Voraussetzung - diese den Standards, die die vorausgegangenen Treffen setzten, folgt und wenn auch weitere inhaltliche Fragen und Voraussetzungen geklärt sind. Meine Damen und Herren, obwohl ich meinen Besuch bewußt in diesen weitgespannten Rahmen stelle, muß ich zugleich betonen, daß ich heute nur eine Zwischenbilanz ziehen kann. Denn von Anfang an war vereinbart, daß mein Besuch in Moskau und der Gegenbesuch Generalsekretär Gorbatschows eine Einheit bilden werden. Wir erwarten den Generalsekretär, wie ich denke, in der ersten Hälfte des kommenden Jahres. Ich glaube aber, schon die Zwischenbilanz kann sich durchaus sehen lassen. Das Gesprächsprogramm, das meine Kabinettskollegen und ich in Moskau absolvieren konnten, war von großer Dichte. Ich selbst habe mit Generalsekretär Gorbatschow weit über zehn Stunden unter vier Augen und im Delegationskreis gesprochen. Wir haben in einem außerordentlich offenen und angenehmen und auch freundlichen Gesprächsklima die Themen abgesteckt. ({8}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie sich darüber erregen. Ich finde, Sie sollten sich doch freuen und Applaus geben. Wir haben über die geschichtlichen Grundlagen unserer Beziehungen gesprochen. Wir haben unsere Entschlossenheit bekräftigt, an die guten und an die konstruktiven Traditionen der gemeinsamen Geschichte anzuknüpfen. Wir waren uns einig über die Bewertung unserer Gespräche und darin, daß jetzt die Chance gegeben ist, ein neues Kapitel mit vielen positiven Seiten zu eröffnen. Wir haben die Zukunftsperspektiven erörtert. Hier hebe ich insbesondere unsere Verabredung hervor, auch über den Gegenbesuch von Generalsekretär Gorbatschow hinaus uns regelmäßig zu treffen und die persönlichen Kontakte in verschiedenen Formen aufrechtzuerhalten. Wir haben vor allem auch über die Entwicklung in Europa gesprochen und über die kulturelle und menschliche Dimension, die diese Entwicklung bekommt. Generalsekretär Gorbatschow hat seine Idee eines „gemeinsamen Hauses Europa" umrissen und immer wieder betont, daß selbstverständlich die USA und Kanada dazugehören, daß die Bündnissysteme unberührt bleiben und die unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gegenseitig respektiert werden sollten. Ich habe ihm geantwortet, daß aus unserer Sicht dieses „Haus Europa" nur dann einen Sinn macht, wenn dieses Haus, um im Bild zu bleiben, viele Fenster und Türen hat, wenn die Menschen frei zueinander kommen können, wenn nichts und niemand den Austausch von Gütern und von Ideen, von Wissenschaft und Kultur hemmt; dann bin ich und sind wir alle mit diesem Bild gerne einverstanden. ({9}) Wir haben sehr intensiv auch über unsere Vision eines gemeinsamen Europas, einer europäischen Friedensordnung diskutiert, die alle Europäer in gemeinsamer Freiheit zusammenführt und die für uns immer auch die Verbundenheit mit den nordamerikanischen Demokratien einschließt, einer Friedensordnung, in der alle Länder und Völker in friedlichem Wettbewerb miteinander leben und in immer engerem Austausch einander begegnen, einer Friedensordnung, in der jeder sein Auskommen hat und in der unsere natürlichen Lebensgrundlagen pfleglich behandelt werden, einer Friedensordnung, deren Voraussetzung die Achtung von Menschenrecht und Menschenwürde ist. Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns einig, daß für das Europa der Zukunft, an dem wir bauen wollen, der Helsinki-Prozeß Bauplan und Hausordnung sein kann. Wir waren uns einig, kurzfristig alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, daß das Wiener KSZE-Folgetreffen mit einem ausgewogenen, substantiellen Abschlußdokument beendet wird und daß zu diesem Abschluß auch die Verabredung eines weiteren Forums über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sowie des Mandats für Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa gehören. Ebenfalls waren wir uns einig, daß diese Verhandlungen über konventionelle Stabilität möglichst noch in diesem Jahr beginnen sollten. Für den Vorschlag des Generalsekretärs, ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs unter Teilnahme der USA und Kanadas einzuberufen, habe ich mich offen gezeigt, dabei aber betont, daß solche Konferenzen ungewöhnlich gründlich vorbereitet werden müßten und vorher eine klare Verständigung über Themen und Zielsetzungen notwendig sei. Wir erwarten hierzu in Kürze sowjetische Erläuterungen. Das gilt auch für das angekündigte Zentrum zur Verminderung der Kriegsgefahr. Die beiden Außenminister haben dieses Thema weiter vertieft. Der Kollege Genscher wird hierzu noch Näheres erläutern. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle auch hervorheben, daß mit dem Bundesminister Scholz erstmals ein Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland Moskau besucht hat. Ich habe gegenüber Generalsekretär Gorbatschow angeregt, den sowjetischen Verteidigungsminister Jasow im nächsten Jahr in seine Delegation einzuschließen, und er hat diesen Vorschlag sehr positiv gewürdigt und aufgenommen. Auch die Verteidigungsminister haben in einem konstruktiven Gespräch ihr Augenmerk auf die konventionellen Ungleichgewichte in Europa gerichtet und dabei sowohl quantitative als auch qualitative Kriterien dieser Politik erörtert. Einig waren sie sich darin, daß die bestehenden Asymmetrien auf dem Wege der Abrüstung und der Rüstungskontrolle beseitigt werden müssen. Meine Damen und Herren, Nüchternheit und Sachlichkeit prägten auch die Gespräche über Abrüstung und Rüstungskontrolle, die ich in Moskau mit Generalsekretär Gorbatschow hatte, die Bundesminister Genscher und Bundesminister Scholz mit ihren jeweiligen sowjetischen Kollegen führten. Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns einig, daß wir von den Realitäten auszugehen haben und versuchen sollten, uns auf das Machbare, d. h. auf das Nächstliegende, zu konzentrieren. Generalsekretär Gorbatschow will mit seinem Willen zur Abrüstung ernstgenommen werden. Er pocht auf das Prinzip der Gegenseitigkeit als ein wesentliches Kriterium für die Abrüstung. Dies muß selbstverständlich auch für uns gelten. Das Nächstliegende, meine Damen und Herren, ist der Abschluß des Wiener KSZE-Folgetreffens mit einem Mandat für Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa sowie über neue vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen. Dort sind jetzt nicht nur Worte, sondern von allen Seiten Taten gefordert. Generalsekretär Gorbatschow will keine Verhandlungen an den laufenden und noch zu schaffenden Rüstungskontrollforen vorbei, sondern erklärte, daß sachdienliche Beiträge zum erfolgsorientieren Verhandeln in diesen Foren auch von seiner Seite geleistet werden. Er hat auch - ich will auch dies wegen mancher öffentlicher Äußerungen in diesen Wochen sagen - nicht etwa mit Vorschlägen zum Tauschhandel mit einseitigen, aber unkontrollierten Truppenreduzierungen im Gegenzug für bündniswidriges „Wohlverhalten" gelockt. Im Gegenteil: Es gilt die Verabredung, sich im Rahmen der Bündnisse für gemeinsame, für vernünftige Lösungen auf dem Wege zu einer sicheren Welt mit weniger Waffen einzusetzen. Dabei soll auf den Grundprinzipien des INF-Vertrags aufgebaut werden: Wer mehr Waffen hat, muß mehr abrüsten, und erst strikte Überprüfung schafft Vertrauen. Meine Damen und Herren, nichts verdeutlicht besser die außerordentlich breite deutsch-sowjetische Themenpalette als die Fachgespräche, die die fünf Kabinettskollegen und die Staatssekretäre in Moskau geführt haben, als die sechs Verträge und Abkommen, die wir unterzeichnet haben, und als die Fülle von Absichtserklärungen zu weiteren Verhandlungen und Projekten, die in einer abgestimmten Mitteilung über die Besuchsergebnisse festgehalten sind. Lassen Sie mich hervorheben:

Not found (Kanzler:in)

Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns einig, daß angesichts grenzüberschreitender Gefährdung unserer Umwelt gemeinsames Handeln auch im deutsch-sowjetischen Verhältnis geboten ist. Das Umweltschutzabkommen ist deshalb ein besonders notwendiges, aber auch in die Zukunft weisendes Instrument, im Interesse aller unserer europäischen Nachbarn Luft, Boden und Gewässer - und ich denke hier insbesondere an die Ostsee - von gegenwärtigen Belastungen zu befreien und unseren Nachkommen in einem besseren Zustand zu hinterlassen. Zweitens: Mit dem Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit bei Erforschung und Nutzung des Weltraums zu friedlichen Zwecken vertiefen wir die Zusammenarbeit. Wir freuen uns auf eine gemeinsame Raumflugmission sowjetischer Kosmonauten und eines Wissenschaftsastronauten oder einer Wissenschaftsastronautin aus der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Unser wissenschaftliches Potential - das war bei diesen Gesprächen erkennbar - macht uns dabei zu einem besonders geschätzten Partner. Drittens: Mit dem Abkommen über die Förderung von Unternehmenszusammenarbeit im Bereich der Nahrungsmittelindustrie werden wir einem Schwerpunkt des sowjetischen Reformprogramms Rechnung tragen und ihn in einer guten Weise abstützen. Viertens: Mit der Vereinbarung über die Verhütung von Zwischenfällen auf See außerhalb der Hoheitsgewässer nach dem Vorbild entsprechender Abkommen der USA und Großbritanniens haben wir erstmals ein militärisch relevantes Abkommen mit der Sowjetunion geschlossen. Es wird nach unserer Überzeugung helfen, den Zustand guter Nachbarschaft - das gilt insbesondere für den Bereich der Ostsee - zu stabilisieren. Fünftens: Unser Abkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen und den Informationsaustausch über Kernanlagen geht wesentlich weiter als das von der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wien entworfene Musterabkommen: Unser Ziel ist die Verhütung von Störfällen durch erhöhte Sicherheitsstandards. Dazu ist ein konkreter Sicherheitsvergleich bestehender Kernkraftwerke auf beiden Seiten vereinbart worden. Sechstens: Nicht zuletzt eröffnet das erste ZweiJahres-Programm zum deutschsowjetischen Kulturabkommen von 1973 ein breites Feld des Austauschs und der Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist verabredet, Verhandlungen über einen Austausch von Kulturinstituten aufzunehmen - ein Schritt, der angesichts der großartigen kulturellen Tradition beider Völker und ihres Beitrags zum kulturellen Erbe Europas längst überfällig ist. Der Schwerpunkt der Abschlüsse auf wirtschaftlichem Gebiet lag diesmal bei unseren Privatunternehmen und ihren sowjetischen Partnern. Die rund 30 Abschlüsse, die von traditionellen Liefergeschäften bis zu neuen Formen der Kooperation gingen, insbesondere joint ventures, werte ich als eine wichtige Aussage darüber, was die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens zur Entwicklung der sowjetischen Volkswirtschaft beitragen kann. Wir können dabei bekanntlich auf einer jahrzehntealten Erfahrung und einem erheblichen Vertrauen unserer Partner auf diesem Feld aufbauen. Besonders befriedigt bin ich - das will ich hervorheben - darüber, daß bei dieser Zusammenarbeit vor allem die mittelständische Wirtschaft voll einbezogen wird. Meine Kollegen und ich haben uns in Moskau nachdrücklich für bessere Arbeitsbedingungen für die deutschen Geschäftsleute und vor allem für bessere rechtliche Rahmenbedingungen für Gemeinschaftsunternehmen eingesetzt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Verabredung, daß bis zum Gegenbesuch des Generalsekretärs im nächsten Jahr ein Abkommen über Schutz und Förderung von Investitionen unterschriftsreif verhandelt wird. Ich will das besondere Interesse der Bundesregierung an zwei Projekten betonen, deren Bedeutung über den Rahmen der wirtschaftlichen Beziehungen hinausgeht: Zum einen geht es um ein Zentrum für Industrie und Handel, kurz „Haus der deutschen Wirtschaft" genannt, das als Gemeinschaftsunternehmen in Moskau eingerichtet werden soll. Eine entsprechende Verabredung wird in nächster Zeit unterzeichnet. Dieses Projekt steht für eine langfristig angelegte, enger werdende wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es ist unerläßlich und von besonderem Wert für die mittleren und kleineren Unternehmen unseres Landes, die, wie ich in Moskau immer wieder betont habe, gerade durch Flexibilität und Innovationskraft einen wichtigen Beitrag zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen leisten können. Zum anderen nenne ich mein Angebot, im Rahmen eines Drei-Jahres-Programms von 1989 bis 1991 und auch auf der Grundlage von Pilotprojekten jährlich rund 1 000 junge Sowjetbürger zu Studium, Aus- und Fortbildung, insbesondere im Managementbereich, sowie zu Informationsreisen in die Bundesrepublik Deutschland einzuladen. Ich verbinde mit diesem ersten Schritt die Hoffnung auf deutliche Fortschritte beim Jugend- und Schüleraustausch zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns einig, daß eine Intensivierung dieses Austausches eben nicht nur den fachlichen Kenntnissen beider Seiten zugute kommt, sondern vor allem auch das menschliche Miteinander fördert. Generalsekretär Gorbatschow und alle seine Mitarbeiter haben diesen Vorschlag ausdrücklich begrüßt und sich bereit erklärt, ihren Beitrag zu leisten. Ich wäre dem Hohen Hause dankbar, wenn wir die notwendigen Mittel bereits in den Bundeshaushalt 1989 einbringen könnten. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bin in Moskau auch für mehr Begegnungen zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Obersten Sowjet einBundeskanzler Dr. Kohl getreten. Wir haben unseren Wunsch nach mehr Begegnungen der Kirchen, der Gewerkschaften und anderer wichtiger gesellschaftlicher Gruppen deutlich gemacht, den Wunsch nach Städtepartnerschaften und vor allem auch nach einem verbesserten Kontakt der Medien. Ich hoffe, daß sich die positiven Äußerungen auch bald in entsprechenden Aktionen niederschlagen. Ausdrücklich, meine Damen und Herren, würdige ich, daß in den Tagen meines Moskauer Besuchs die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik und das Institut für Europa der Akademie der Wissenschaften ein regierungsunabhängiges Gesprächsforum vereinbart haben, zu dem selbstverständlich auch die Vertreter der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien gehören werden. Als einen Schlußpunkt dieser Liste erwähne ich meine Verabredung mit Generalsekretär Gorbatschow, beim Gegenbesuch im nächsten Jahr ein gemeinsames Dokument zu unterzeichnen, das, aufbauend auf den Erfahrungen des Moskauer Vertrages, diesen konzeptionell weiterentwickeln und Perspektiven des deutsch-sowjetischen Verhältnisses im Rahmen eines immer enger zusammenwachsenden Europa aufzeigen wird. Ich habe Generalsekretär Gorbatschow in all diesen Gesprächen gesagt: In der Perspektive eines Europa, das seine alten Wunden heilt, das sich auf seine geschichtliche und kulturelle Einheit besinnt, gemeinsame Wege in die Zukunft sucht, wollen auch wir als Deutsche die Teilung unseres Vaterlandes überwinden. Ich habe betont, daß Krieg und Gewalt für uns kein Mittel der Politik sind, daß wir die bestehenden Verträge ohne Wenn und Aber achten, daß aber der Zusammenhalt der Deutschen und die Einheit unserer Nation zu den menschlichen und zu den politischen Realitäten unseres Kontinents gehört, an denen auf Dauer niemand vorbeigehen kann. ({2}) Ich habe deutlich gemacht, daß wir deshalb am Auftrag unseres Grundgesetzes und am Ziel unserer Politik festhalten, so wie sie anläßlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages im Brief zur Deutschen Einheit erläutert wurde - ich zitiere - : „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt" . Ich habe mit Generalsekretär Gorbatschow auch sehr intensiv und mit großem Ernst über die Lage in und um Berlin gesprochen. Meine Damen und Herren, Berlin ist in die geschlossenen Verträge sowie in die sich intensivierende Zusammenarbeit insgesamt voll einbezogen. Generalsekretär Gorbatschow und ich haben vereinbart, daß die Außenminister auf der Grundlage des Vier-Mächte-Abkommens für die noch offenen Fragen praktikable Lösungen erarbeiten. Sie wissen, daß hier die Unterschiede im Grundsätzlichen nicht überbrückt sind. Der Generalsekretär hat dies in seiner Tischrede mit großer Klarheit festgestellt. Wir haben jedoch in unseren Gesprächen Einigkeit erzielt, daß Unterschiede im Grundsätzlichen nicht den Weg zu praktischen und vor allem für die Menschen sinnvollen und vernünftigen Lösungen versperren dürfen. In dieser Perspektive weise ich darauf hin, daß Generalsekretär Gorbatschow ebenfalls in seiner Tischrede erklärt hat, die Sowjetunion sei nicht gegen die Teilnahme der Stadt am europäischen und internationalen Verkehr und sei bereit, ihre spezifischen Interessen in Wirtschaft und im kulturellen Leben in Rechnung zu stellen. Hier, meine Damen und Herren, sehe ich politischen Gestaltungsraum, den wir im Einvernehmen mit den Mächten, die für Berlin und Deutschland als Ganzes besondere Verantwortung tragen, ausloten müssen. Das ist eines der wichtigen Ziele für die nächste Zeit. Ich bin mir darüber im klaren, daß auch dieses Feld schwierig bleibt. Wie vor meinem Moskau-Besuch warne ich auch heute vor unrealistischen Erwartungen. Aber wir werden in unserem Einsatz für eine Zukunftsfrage unserer Nation nicht nachlassen. Meine Damen und Herren, zu den menschlich bewegenden Begegnungen in der sowjetischen Hauptstadt gehörte mein Treffen mit Vertretern der deutschen Minderheit und mit Aussiedlern, die in unserer Botschaft gerade ihre Pässe und Ausreisepapiere in Empfang nehmen konnten. Beide Begegnungen spiegeln positive Entwicklungen wider, die noch vor wenigen Jahren, ja noch vor einigen Monaten unvorstellbar gewesen wären. Auch hier hat sich beharrliche Arbeit im stillen ausgezahlt. Wir wollen uns weiterhin bemühen, die Lage unserer Landsleute, die dort leben - zum Teil seit zehn, zwölf Generationen - , insbesondere in kultureller und religiöser Hinsicht nachhaltig zu verbessern, und wir wollen alles tun, den Aussiedlern, die zu uns kommen, den Start in einer neuen Heimat zu erleichtern. Ich würdige ausdrücklich das Verständnis, das ich bei der sowjetischen Führung für diesen besonderen Wunsch der Deutschen gefunden habe. Meine Damen und Herren, in seiner abschließenden Bewertung unserer Begegnung hat Generalsekretär Gorbatschow davon gesprochen, daß wir in den deutschsowjetischen Beziehungen anläßlich dieses Besuchs in Moskau eine „große Wende " erlebt und mitgestaltet haben. Ich will mir dieses Wort zu eigen machen und ergänzen: Wir wollen die günstigen objektiven Voraussetzungen, die ich angesichts der weltpolitischen Entwicklung eingangs umrissen habe, nach besten Kräften nutzen, um unsere Beziehungen auf eine neue, höhere Stufe zu stellen. Wir wollen den politischen Willen darauf konzentrieren, das jetzt realistisch Machbare mit großer Energie auf den Weg zu bringen und dabei über unvermeidbare Schwierigkeiten im Detail die große Zielsetzung nicht übersehen. Wir wollen dazu beitragen, daß sich das Klima in unseren Beziehungen im Interesse des West-Ost-Verhältnisses insgesamt freundlicher entwickelt und daß wir zum Nutzen aller unserer europäischen Nachbarn einen Zustand guter Nachbarschaft dauerhaft begründen. Die Bundesregierung und ich selbst sind fest entschlossen, hierzu unseren Beitrag zu leisten. Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für weitere Fortschritte im West-Ost-Verhältnis stehen heute so günstig wie kaum je zuvor in der Nachkriegszeit. In diesen Tagen hat das amerikanische Volk George Bush zu seinem 41. Präsidenten gewählt. Ich darf ihn auch von dieser Stelle aus zu seiner Wahl sehr herzlich beglückwünschen. Ich wünsche ihm ein erfolgreiches Wirken für den Frieden und die Freiheit seines Landes. ({3}) Aus vielen persönlichen Begegnungen in den letzten Jahren mit ihm weiß ich, daß George Bush ein Freund unseres Landes ist und daß ich in ihm bei unseren Gesprächen einen Partner haben werde, der mit Nüchternheit und Weitblick den von Ronald Reagan beschrittenen historischen Weg der Abrüstung und Rüstungskontrolle konsequent weiter gehen wird, der die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf allen Feldern mit neuem Schwung weiterentwickeln und für Achtung von Menschenrecht und Menschenwürde in allen Staaten auch unseres Kontinents kämpfen wird. Wir setzen darauf, daß nach den Konfrontationen des Kalten Krieges und nach den Verwerfungen der sogenannten Stagnationszeit nunmehr auf unserem Kontinent eine Chance für mehr Dialog und Zusammenarbeit eingeleitet ist, die es West und Ost ermöglicht, sich auf gemeinsame Zukunftsaufgaben zu konzentrieren, die es West und Ost ermöglicht, ihrer Verantwortung gegenüber den Völkern der Dritten Welt gerecht zu werden und an einer friedlichen Zukunft für alle Länder und Völker zu bauen. Nicht Kleingläubigkeit und nicht Blauäugigkeit, sondern ein solides, Schritt für Schritt begründetes Vertrauen ist der Schlüssel in diese Zukunft. Die Bundesregierung wird alles tun, daß wir auf diesem Weg gemeinsam entschlossen vorankommen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen in diesem Hause zur Stunde wohl alle noch unter dem Eindruck der Rede, die wir heute vormittag in diesem Saal gehört haben. Ich habe meiner Betroffenheit und der meiner Fraktion bereits außerhalb dieses Saales Ausdruck gegeben. Es war meine Absicht, die Gründe der Betroffenheit hier von der gleichen Stelle aus zu erläutern, an der die Rede gehalten worden ist. Ich bin gebeten worden, das nicht zu tun, um Gespräche, die zwischen den Fraktionen stattfinden sollen, nicht zu erschweren. Ich will dieser Bitte entsprechen. Ich beschränke mich deswegen auf zwei Sätze. Ich ziehe nicht - das gilt auch für meine Fraktion - die innere Einstellung des Redners zu dem damaligen Geschehen in Zweifel. Aber wir bezweifeln, ob wesentliche Passagen dessen, was gesagt wurde, dem gerecht geworden sind, was der Anlaß an gedanklicher und sprachlicher Einfühlung und Sorgfalt von einer Rede erfordert, die in einer solchen Stunde für das gesamte Parlament und damit für unser ganzes Volk gehalten wird. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist gut, wenn wir gerade in dem Zusammenhang nicht außer acht lassen, daß auch das, was jetzt noch geschieht und gesagt wird, mit dem Geschehen vor 50 Jahren in irgendeinen Zusammenhang gebracht wird. Ich meine, was von dem heutigen Vormittag in jeder nur denkbaren Hinsicht bleiben wird, ist, daß das Eis hinsichtlich dieser furchtbaren Ereignisse und ihrer Bewältigung auch nach 50 Jahren dünn ist. Und wenn noch jemand einen Zweifel gehabt hat, ob wir diesen Abschnitt der Geschichte bereits hinter uns lassen können, dann hat uns der heutige Vormittag gezeigt, daß die Geschichte selbst beim besten Willen noch immer ungeheuer gegenwärtig sein kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zu Ihrer Regierungserklärung. Es ist dankenswert, daß Sie, Herr Bundeskanzler, das Parlament heute über den Verlauf und die Ergebnisse Ihrer Moskau-Reise unterrichtet haben. Noch dankenswerter wäre es allerdings gewesen, wenn das schon am Freitag vor acht Tagen, also unmittelbar nach Ihrer Rückkehr, geschehen wäre. Das hätte dem Rang des Deutschen Bundestags entsprochen, und auf diese Weise wäre auch vermieden worden, daß der Bundestag von Ihnen - wieder einmal, muß ich leider sagen - erst nach der Presse und nach zahlreichen anderen Gesprächspartnern als letzter ins Bild gesetzt wird. ({1}) Aber über Fragen, die den Umgang mit dem Parlament betreffen, sind wir ja, Herr Bundeskanzler, nicht selten ganz unterschiedlicher Meinung. Das ist unter anderem auch bei der Auseinandersetzung über das Beratungsprozedere deutlich geworden, das Sie dem Bundestag bei der Behandlung der Gesundheitskostenvorlage zugemutet haben und trotz einiger Korrekturen noch immer zumuten. In der Beurteilung des Verlaufs und der Ergebnisse Ihrer Reise stimmen wir zum Teil mit Ihnen überein, zum Teil kommen wir zu anderen Folgerungen. Ich beginne mit den positiven Aspekten, und ich stehe nicht an, Ihnen auch für meine Fraktion für den Teil Ihrer Anstrengungen, den wir positiv bewerten, meinen Respekt zu erweisen. ({2}) Es ist gut, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Reise, die lange überfällig war, jetzt unternommen haben. Es ist erfreulich, daß mehrere Verträge, die schon seit längerem ausgehandelt worden sind, bei dieser Gelegenheit unterzeichnet wurden. Das kann der Kooperation auf dem Gebiet der Kultur, der Wissenschaft und des Umweltschutzes neue Impulse geben. Wir begrüßen auch die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und die von deutschen Banken bei Gelegenheit Ihres Besuchs getroffene Vereinbarung über einen Kredit in Höhe von 3 Milliarden DM. Ich habe gern die Ankündigung jetzt gerade aus Ihrer Erklärung gehört, daß weitere westliche Kredite in noch größerer Höhe folgen werden. Das liegt in unserem wirtschaftlichen Interesse. Es liegt aber auch in unserem Interesse, daß dadurch die Erfolgsaussichten für die Politik des Umbaus und der Erneuerung gestärkt werden. Denn darüber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, müssen wir uns wohl im klaren sein: Wenn diese Politik scheitern würde, könnte und würde uns das nicht unberührt lassen. Weder könnten wir weiterhin so leben wie bisher, wenn der andere Teil Europas ohne Hoffnung in wirtschaftlichen Schwierigkeiten versinken würde. Noch könnten wir dann eine konstruktive Fortsetzung der Politik der Öffnung, der Abrüstung und der Entspannung erwarten. ({3}) Vielmehr wäre dann mit neuen Spannungen und der Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs zu rechnen. Wir halten mit Ihnen die Begegnung zwischen dem Bundesverteidigungsminister und seinem sowjetischen Kollegen und die Diskussion für bedeutsam, die Herr Scholz in der Militärakademie mit sowjetischen Kommandeuren und anderen Offizieren geführt hat. Das setzt fort, was wir schon vor längerer Zeit, damals übrigens begleitet von Kommentaren des Mißtrauens und der Fragezeichen, eingeleitet haben. So ich selbst in einer mehrstündigen Unterredung mit Marschall Achromejew, dem sowjetischen Generalstabschef, im Mai dieses Jahres. Oder die Kollegen von Bülow und Voigt, die in den vergangenen Jahren mehrfach mit Angehörigen des sowjetischen Generalstabs über konkrete Schritte zur Herbeiführung eines Zustands der strukturellen Angriffsunfähigkeit der beiden Streitkräfte diskutiert haben. Das ist geeignet, die wechselseitigen Feindbilder, die jahrelang, und zwar nicht nur auf der sowjetischen Seite, gepflegt worden sind, abzubauen. ({4}) Deshalb wäre es übrigens gut, wenn Herr Scholz jetzt auch bald mit dem Verteidigungsminister der DDR, Herrn Keßler, und auch mit seinem polnischen Kollegen zusammentreffen würde. Auch eine Begegnung der ranghöchsten Generäle der jeweiligen Teilstreitkräfte sollte angestrebt werden, und zwar, Herr Kollege Scholz, ohne Vorbedingungen, die in der gegenwärtigen Situation eher kleinlich, jedenfalls aber überholt wirken. ({5}) Das wichtigste Ergebnis Ihrer Reise sehen wir allerdings in der Verbesserung des Klimas zwischen Ihnen und der sowjetischen Führung und darin, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihre Einschätzung der Persönlichkeit und der Politik Gorbatschows vollständig korrigiert haben. Ihrem unseligen Vergleich vom Herbst 1986 haben wir mit aller Entschiedenheit widersprochen; Ihre jetzige Beurteilung stimmt mit der unseren in wesentlichen Punkten überein. Es wäre besser gewesen, es hätte diese Übereinstimmung schon vor zwei Jahren gegeben. ({6}) Wir erkennen auch an, daß Sie sich bemüht haben, die von Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen entwickelte Ostpolitik nunmehr auch ihrem Inhalt nach und nicht nur verbal fortzusetzen. Es gab ja eine Periode, in der die verbalen Berührungspunkte im Vordergrund standen. Wir entnehmen dieses Bemühen unter anderem daraus, daß Sie während Ihres Besuches eine KSZE-Menschenrechtskonferenz in Moskau ebenso befürwortet haben wie einen sicherheitspolitischen Europagipfel. Willy Brandt, der diese Politik seinerzeit gegen den erbitterten Widerstand Ihrer Partei und auch gegen Ihren Widerstand eingeleitet und durchgesetzt hat, wird diese Teile Ihrer Regierungserklärung nicht ohne Aufmerksamkeit und nicht ohne Bewegung registriert haben. Ich meine, es besteht gerade in diesem Zusammenhang aller Anlaß, Willy Brandt und dem Kollegen Bahr sehr herzlich zu danken - wenn es sein kann, sogar gemeinsam - für die Einleitung dieser Politik. ({7}) - Aber ich sehe, die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen sind mit einer solchen Annahme überfordert. ({8}) Vielleicht wird sogar - und wir lassen uns durch diese eher kleinliche Reaktion nicht beirren - hinsichtlich wichtiger Elemente dieser Ostpolitik nunmehr eine gewisse, das ganze Haus einschließende Gemeinsamkeit möglich. Unseren nationalen Interessen und dem Frieden in Europa würde das in hohem Maße dienen. Ich bin ziemlich sicher: Der Herr Kollege Genscher als Außenminister sieht das ähnlich. Eine zusätzliche Bemerkung kann ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, allerdings nicht ersparen. Es ist die Erinnerung daran, daß Sie seinerzeit nicht nur die Ostverträge und auch den Grundlagenvertrag abgelehnt haben, sondern auch zur Schlußakte von Helsinki, auf die Sie sich heute in Ihrer Erklärung an fünf Stellen berufen haben, ja, sogar zum UNO-Beitritt der Bundesrepublik nein gesagt und mit Nein gestimmt haben. ({9}) Auch Sie, Herr Bundeskanzler, wissen genau, daß Sie als Exponent Ihrer damaligen Verweigerungspolitik niemals zu einer konstruktiven Begegnung mit der sowjetischen Führung gelangt wären. Es wäre nicht unredlich gewesen, wenn Sie das heute an dieser Stelle selber gesagt hätten. ({10}) Ich habe von Übereinstimmungen gesprochen. Es gibt aber auch Punkte, die unsere Kritik herausfordern. Wir haben nicht zu tadeln, daß Sie die Situation Berlins und die Deutschlandfrage angesprochen haben. Das tun wir und gerade ich als Berliner Abgeordneter bei unseren Begegnungen mit der sowjetischen Seite auch. Die Art und Weise, auf die Sie das getan haben, halten wir allerdings für wenig förderlich. Sie haben damit die sowjetische Antwort, die Ihnen zuteil wurde, geradezu herausgefordert. Bundespräsident von Weizsäcker hat auf eine wohlbedachte und behutsam vorgetragene Formulierung derselben Frage eine wesentlich konstruktivere Antwort erhalten, nämlich die, daß die Geschichte entscheiden werde, was in diesen beiden Fragen in Zukunft sein wird. Was Berlin angeht, so sagen wir - soweit ich sehe, einmütig in diesem Hause - : Berlin muß in den Prozeß der Entspannung und der Zusammenarbeit voll einbezogen werden. Wer Berlin davon ausnehmen wollte, würde die Entspannung und die Zusammenarbeit insgesamt beeinträchtigen. Das ist aber etwas ganz anderes als die Wiederbelebung des Formelstreits, die beispielsweise Herr Zimmermann im Vorfeld Ihres Besuchs versucht hat. Sicher hat es sich als notwendig erwiesen, die FrankFalin-Formel, die seit den 70er Jahren die Einbeziehung von Berlin ({11}) in Verträge mit der Sowjetunion gewährleistet, in bezug auf die Einrichtungen des Bundes im Westteil der Stadt so zu konkretisieren, daß diese Einbeziehung nicht in jedem einzelnen Fall wieder aufs neue zum Gegenstand schwieriger und kontroverser Verhandlungen wird. Aber gerade in dieser Hinsicht, Herr Bundeskanzler, hat Ihr Besuch nichts erbracht, was über das hinausginge, was Herr Genscher und Herr Schewardnadse schon vorher erreicht hatten. Es wäre gut, wenn diese heikle Sache in den Händen der beiden Außenminister und damit in den diplomatischen Kanälen bliebe, die nach den bisherigen Erfahrungen am ehesten und am geräuschlosesten Fortschritte erwarten lassen. ({12}) Außerdem war es wohl nicht der Weisheit letzter Schluß, daß Sie in Ihrer Tischrede die DDR und die Tatsache nicht erwähnt haben, daß wir die Existenz der DDR als Staat anerkennen. Das konnte den Eindruck erwecken, als wollte man hinter den auf dem Grundlagenvertrag beruhenden und anläßlich des Besuchs des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker bekräftigten und konkretisierten Stand der deutschdeutschen Beziehungen zurückfallen. Schon dieser Eindruck wäre geeignet, an der Stetigkeit unserer Absichten Zweifel hervorzurufen. Und dies um so mehr, als Sie bei Ihrem vorletzten Aufenthalt in Moskau anläßlich der Beisetzung von Generalsekretär Tschernenko in einem gemeinsamen Kommuniqué mit Herrn Honecker ausdrücklich erklärt haben - ich zitiere wörtlich - : Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Es wäre sicher förderlich und gut gewesen, Sie hätten in Ihrer Tischrede diesen entscheidenden Satz, den Sie dazu noch gemeinsam mit dem Staatsoberhaupt der DDR erklärt haben, wiederholt. ({13}) In diesem Zusammenhang wirft auch Ihre Reaktion auf eine Äußerung von Herrn Geißler weitere Fragen auf. Immerhin ist Herr Geißler, was ich nicht zu beklagen habe, von Ihnen deshalb gerügt und zu Beginn der Woche in der Sitzung der Unionsfraktion scharf attackiert worden, weil er die Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen für illusorisch erklärt und damit etwas wiederholt hat, was Franz Josef Strauß schon 1965 gesagt hat: ein bemerkenswerter Vorgang, der all Ihre Äußerungen hinsichtlich der Unverbrüchlichkeit von Grenzen in einem Licht erscheinen läßt, bei dem Sie sich nicht wundern müssen, wenn Fragen gestellt werden. Sie haben in Moskau zu Recht die Lage der deutschstämmigen Bevölkerung in der Sowjetunion angesprochen. Wenn Ihr Besuch dazu beitragen konnte, die kulturelle Autonomie derer, die dort leben, zu stärken und ihre Lebenssituation zu verbessern, dann begrüßen wir das. Jüngste Veröffentlichungen in der „Prawda" darüber, daß für die früheren Wolga-Deutschen eine gewisse Form der Autonomie - in der Übersetzung hieß es sogar: eine gewisse Form der Staatlichkeit - in Erwägung gezogen werde, lassen in diesem Punkt Hoffnungen zu. Ich bin mir der Zustimmung des ganzen Hauses sicher, wenn ich sage: Die beste Option wäre es, wenn den Menschen deutscher Abstammung nicht nur in der Sowjetunion, sondern überall da, wo sie zu Hause sind, Perspektiven eröffnet würden, die sie zum Bleiben in ihren angestammten Geburtsländern ermutigen könnten. ({14}) ({15}) Es war auch richtig, sich für diejenigen einzusetzen, die nach reiflicher Überlegung zu uns in die Bundesrepublik ausreisen wollen. Damit allein, Herr Bundeskanzler - wenn ich Sie bei Ihren Dienstgesprächen gelegentlich stören darf -, ist es aber nicht getan. ({16})) - Meine Damen und Herren, es war ursprünglich der Sinn des Parlaments, daß man zuhört, daß man redet und daß der Kanzler, wenn er eine Regierungserklärung abgegeben hat, die Chance hat, dazu auch die Auffassung der Opposition zu hören. Das war einmal der Sinn dieser Veranstaltung. ({17})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waigel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß dieses Gespräch ebenso wichtig ist wie die Gespräche, die ich vorhin mit Ihnen, während der Bundeskanzler gesprochen hat, geführt habe?

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Waigel, ich bin bereit, Ihre Gespräche für wichtig und für ernsthaft zu erklären, wenn Sie genauso wie mit mir mit dem Kanzler 36 Sekunden reden und dann der Kanzler wieder voll zuhören kann. Dann bin ich einverstanden. ({0}) - Aber bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte sehr, Herr Waigel.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das in der Zeit erfolgen wird? ({0})

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich ziehe da keine Wechsel auf die Zukunft; ich werde es sorgfältig verfolgen. Es war richtig, daß sich der Herr Bundeskanzler für diejenigen eingesetzt hat, die nach reiflicher Überlegung zu uns in die Bundesrepublik ausreisen wollen, aber damit allein ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr, daß hier alles zur Eingliederung dieser Menschen Erforderliche getan wird. Herr Bundeskanzler, das können Sie gerade bei dem persönlichen Engagement, das Sie diesen Menschen gegenüber zeigen, nicht den Ländern und den Gemeinden aufbürden. ({0}) Hier sind Sie genauso gefordert wie bei der Begrüßung dieser Menschen. Hier muß sich der Bund in viel stärkerem Maße engagieren. Vor allem müssen die Wohnungsbauprogramme erweitert, vom Bund höher finanziert und dann auch für diejenigen geöffnet werden, die hier schon lange auf eine Wohnung warten. ({1}) Wir tun den Aussiedlern einen Bärendienst, wenn wir zwischen Menschen eine Spannung weiter eskalieren lassen, die hier schon seit Jahr und Tag auf Wohnungen warten und es zudem noch mit steigenden Mieten zu tun haben, und anderen, die gerade eingetroffen sind und an der langen Schlange vorbeiziehen. Integration bedeutet: gemeinsame Programme und die Menschen dann auch gemeinsam unterbringen. ({2}) Das eigentliche Defizit Ihrer Reise sehen wir jedoch an anderer Stelle. Wir sehen es darin, daß es in den politisch-substantiellen Fragen kein - ich füge hoffend hinzu: noch kein - erkennbares Ergebnis gegeben hat. Zu diesen substantiellen Themen gehören für uns der Fortgang des Abrüstungsprozesses und die damit eng verbundene Frage nach der konkreten Ausgestaltung des gemeinsamen europäischen Hauses, also nach der europäischen Friedensordnung. Sie haben in diesen beiden Fragen auch in Ihrer heutigen Erklärung kein deutliches Profil erkennen lassen. Das wäre aber ebenso notwendig wie möglich gewesen. In voller Loyalität zum Bündnis hätte deutlich werden können, daß Sie den dreigestuften Vorschlag Gorbatschows und des Warschauer Vertrages - Abbau der Asymmetrien, drastische Reduzierung und dann Herstellung der strukturellen Angriffsunfähigkeit beider Seiten - für vernünftig halten, daß wir die baldige Aufnahme von Verhandlungen auch über die Reduzierung und Beseitigung atomarer Gefechtsfeld- und Kurzstreckenwaffen für notwendig halten, daß wir gegen kompensatorische Rüstungen sind, weil Sie den mit dem INF-Abkommen begonnenen Prozeß nuklearer Abrüstung konterkarieren würden. Zum Thema Europa müssen wir gerade in der Phase, in der die Gemeinschaft jetzt mit der Verwirklichung des Binnenmarktes Ernst macht, konkret werden. Wir haben dazu Anfang dieser Woche auf der Konferenz aller Vorsitzenden der sozialdemokratischen und der sozialistischen Parteien der Mitgliedstaaten der EG und der EFTA in Berlin unseren Beitrag geleistet. Wir haben in der gemeinsamen Abschlußerklärung gesagt, daß der Binnenmarkt nicht zu einer neuen Teilung Europas, sondern zu einer verstärkten Zusammenarbeit nicht nur mit den EFTA-Staaten, sondern auch mit der Sowjetunion und den übrigen Mitgliedern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe führen soll. Es war uns wichtig, daß diese Botschaft gerade von Berlin ausging. Denn diese Art der europäischen Entwicklung bietet für Berlin die Chance, allmählich aus einer Randlage in die Funktion eines Scharniers zwischen den verschiedenen Teilregionen Europas hineinzuwachsen. Das ist eine sinnvolle Aufgabe für Berlin. ({3}) Diese Defizite in der Substanz werden hoffentlich bei dem Gegenbesuch Gorbatschows im Frühjahr 1989 abgebaut werden können. Die für diesen Zeitpunkt geplante deutsch-sowjetische Erklärung wird zur politischen Substanz vordringen müssen. Die Zeit bis dahin sollte genutzt werden. Sie sollte auch in der Frage der Modernisierung genutzt werden. Das heißt, bezüglich der Stationierung neuer Kurzstreckensysteme größerer Reichweite endlich Klarheit zu schaffen. Mit dem Jein, Herr Bundeskanzler, mit dem Sie bislang zwischen dem Nein des Herrn Genscher - zuletzt in einem drei Tage alten Interview erneut bekräftigt - und dem Ja des Herrn Scholz, seit Monaten, auch in der NATO, lavieren, dienen Sie deutschen und europäischen Interessen nicht. Sie werden, wenn Sie in der kommenden Woche in Washington sein werden, Argumente hören, mit denen auf eine deutsche Zustimmung zu neuen Stationierungen gedrängt wird. Ich ersuche Sie dringend, auch im Interesse klarer Verhältnisse zwischen unseren Verbündeten und uns und auch aus Respekt vor unseren Verbündeten, hier nicht länger zu lavieren, sondern dem ein deutliches Nein entgegenzusetzen. ({4}) Mit uns ist jedenfalls keine Politik zu machen, die den Abrüstungsprozeß schwer belastet, wenn nicht sogar zum Stehen bringen wird. Herr Bundeskanzler, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Besuch, über den Sie heute berichtet haben, war nützlich. Zur weiteren Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion bleibt noch viel zu tun. Wir Sozialdemokraten werden uns auf diesem unserem ureigensten Felde auch weiterhin mit großem Ernst im Sinne eines friedlichen Wettbewerbs der Systeme, im Sinne der individuellen und der sozialen Menschenrechte, im Sinne des Friedens in Europa und in der Welt und vor allem auch im Sinne einer Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion und den Menschen, die dort leben, engagieren. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein erstes Wort ist ein Wort des Dankes und des Glückwunsches an den Bundeskanzler und an die Bundesregierung für den erfolgreichen Besuch in Moskau. ({0}) Daß dieser Besuch erfolgreich war, ist ja auch in wesentlichen Teilen von der Opposition anerkannt worden. Es sind Irritationen aus der Vergangenheit abgebaut worden, und die Normalisierung der deutschsowjetischen Beziehungen ist eingeleitet worden. Ich denke, es gibt jetzt ein gutes Arbeitsverhältnis zwischen beiden Seiten, das der Bedeutung der beiden Länder füreinander entspricht. Damit ist die Grundlage dafür gelegt, daß man in den nächsten Jahren in fast allen Bereichen zu ganz konkreten neuen Verabredungen kommen kann. Insofern ist jetzt eine neue Qualität der Beziehungen geschaffen worden, durch die beide Länder entspechend ihrem Gewicht in der europäischen Politik die Chance haben, Spannungen abzubauen, die Beziehungen zwischen Ost und West zu vertiefen, zur Vertrauensbildung beizutragen und zu einer für jeden einzelnen Menschen in Europa erlebbaren Entspannung beizutragen. Jetzt ist es wichtig, auf dieser Grundlage mit absolutem Realismus weiterzuarbeiten. Wir sollten dabei nüchtern, aber erkennbar positiv auf die neuen Entwicklungen in der Sowjetunion zugehen. Übertriebenes Mißtrauen muß beiseite gelegt werden, und neues Vertrauen muß wachsen können. Mehr Offenheit wird auch zu mehr Vertrauen führen. Je offener Europa ist, desto sicherer ist es auch. Je offener eine neue Sowjetunion für die eigenen Bürger und für ihre europäischen Nachbarn ist, desto sicherer werden sich diese Nachbarn der Sowjetunion fühlen. Offenheit schafft Sicherheit. ({1}) Die CDU hat auf ihrem letzten Bundesparteitag in einer außenpolitischen Resolution hierzu folgendes festgestellt: Erst wenn ganz Europa ein Kontinent der Menschenrechte und der gewaltfreien Konfliktregelung, der Freizügigkeit und des freien Austausches von Meinungen und Informationen ist, ist der Frieden dauerhaft gesichert. Wir betreiben unsere Politik gegenüber der Sowjetunion aus einer gefestigten und glaubwürdigen Position innerhalb des westlichen Bündnisses, aber nicht aus dem politischen Niemandsland heraus. Es ist das, was ich eine Politik des klaren Standorts nennen möchte. Westpolitik ist das Fundament unserer Ostpolitik. Herr Vogel, ich muß Ihnen sagen: Wir wissen, Sie haben eine Ostpolitik. Darüber muß gelegentlich gestritten werden. Aber niemand kann bestreiten, daß Sie eine Ostpolitik haben. Was genau ist jedoch Ihre Westpolitik? Ihre Ostpolitik unterscheidet sich allein schon deswegen von unserer Ostpolitik, weil Ihre Westpolitik in den vergangenen Jahren unklar und unberechenbar gewesen ist. ({2}) Ich denke an Ihre Bereitschaft, innerhalb des westlichen Bündnisses Entscheidungen mitzutragen. Ich denke aber z. B. auch an Ihre Kritik an einer engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. ({3}) Deswegen ist es falsch, so zu tun, als ob wir Ihre Ostpolitik übernommen hätten. Unsere Ostpolitik unterscheidet sich alleine schon deswegen von Ihrer, weil sie ein ganz sicheres Fundament der Westpolitik hat. Da müssen Sie weiterarbeiten, Herr Vogel. ({4}) Gemeinsame Sicherheit und Geschlossenheit im Bündnis sind eben auch in Zukunft die Grundlage für erfolgversprechende Abrüstungsbemühungen mit dem Warschauer Pakt. Glasnost und Perestroika, überhaupt die Reformdiskussion in der Sowjetunion und in den anderen Staaten des real existierenden Sozialismus sind im Grunde genommen - ich finde, daß das noch viel zuwenig gesagt wird - ein Kompliment an uns und ein Argument für Demokratie als politische Ordnung und für den sozial abgesicherten Markt als wirtschaftliche Ordnung. Dem friedlichen Wettbewerb von Ideen und Gesellschaftsordnungen in Europa können und sollten wir jedenfalls sehr selbstbewußt entgegensehen. Für uns bedeuten Innovation und Wandel, Pluralismus und Meinungsstreit, Ideenwettstreit, Offenheit und Gewaltenteilung keine Bedrohung. Sie sind vielmehr seit langem, von Anfang an Grundlage unseres politischen Systems und unserer Gesellschaftsordnung. Unser politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System beruht auf der ungefesselten Kreativität, der Leistungsbereitschaft und den geistigen Impulsen eines jeden Menschen. Cocom, also Beschränkungen beim Export und beim Handel im Hinblick auf sicherheitspolitische Erfordernisse des Westens, mag manchmal ein Ärgernis sein. Aber es ist bei weitem nicht der Grund dafür, daß heute eine Hälfte Europas wirtschaftlich und technologisch weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Die Selbstfesselung der Menschen im Rahmen eines erstarrten politischen Systems ist der entscheidende Grund für diese Teilung Europas. ({5}) Deshalb sind die Reformdiskussion und die Systemkritik im real existierenden Sozialismus von historischer Bedeutung. Wer im übrigen das gemeinsame europäische Haus will, der muß dafür sorgen, daß alle Europäer, egal wo sie leben, ihre Kreativität, ihre Leistungsbereitschaft und all ihre menschlichen Fähigkeiten und Vorstellungen voll entfalten können. Das ist der Kern der Diskussion, und das ist im übrigen auch der Kern des europäischen Problems. Glasnost und Perestroika anerkennen die Notwendigkeit des Wandels; sie widerspiegeln aber auch die Faszination und die Attraktion von politisch offenen Systemen und im übrigen deren Zweckmäßigkeit für moderne Staats- und Gesellschaftsordnungen. Ein weiteres Verharren in überkommenen Strukturen würde sich in Europa destabilisierend auswirken. Zur Stabilität gehört der Wandel. Stabilität durch Wandel, das ist heute das Lebensgesetz von Gorbatschows Sowjetunion. Stabilität ohne Wandel erscheint ausgeschlossen. In diesem Verständnis sollten wir den Wandel in der Sowjetunion und in den anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa ermutigen und fördern. Wenn ich eben davon gesprochen habe, daß wir die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf der Basis von absolutem Realismus weiterentwickeln sollten, dann gilt das auch für die Fragen der Deutschland- und Berlin-Politik. Hier muß man nüchtern sehen, daß es weder in der Berlin-Politik noch in der DeutschlandPolitik eine grundlegend neue Politik in Moskau gibt. Neues Denken ist hier jedenfalls noch nicht zu beobachten. Wenn uns die Sowjetunion darauf hinweist - wie dies auch in Moskau geschehen ist -, daß niemand an den Realitäten in Europa vorbeikomme, dann muß man hinzufügen, daß zu den Realitäten in Europa, an denen niemand vorbeikommt, auch der Wille des deutschen Volkes gehört, die widernatürliche Teilung zu überwinden. Wir sollten allerdings realistisch im Auge behalten, in welchen Bereichen der deutschsowjetischen Beziehungen wir kurzfristig nicht zu einer Übereinstimmung kommen können. Aber wir werden unser Ziel der Überwindung der deutschen Teilung mit dem dafür notwendigen langen Atem verfolgen. Auch die deutsche Geschichte geht weiter. Die europäische Geschichte kann ebenfalls niemand anhalten. Das erlebt im Augenblick insbesondere der erste Mann in der Sowjetunion. Die europäische Geschichte kann nicht eingefroren werden. Deshalb wird es auch mit Sicherheit nicht so bleiben, wie es jetzt im Augenblick um das geteilte Deutschland steht. Es paßt im übrigen ja auch nicht zusammen, daß wir aufgerufen werden, Europa zu einem gemeinsamen Haus zusammenwachsen zu lassen, und sich gleichzeitig in der deutschen Frage nichts bewegen soll, wenn sich im übrigen in Europa sehr viel bewegt. Deshalb war es richtig und wichtig, daß der Bundeskanzler diese Frage in Moskau so offen angesprochen hat. Dies gilt, wie ich meine, auch für Berlin. Die wirtschaftlichen Vereinbarungen mit der Sowjetunion haben eine schon vorhandene Diskussion im Westen über die richtige Strategie gegenüber der Sowjetunion weiter vorangetrieben. Unabhängig davon, daß die deutschen finanziellen und wirtschaftlichen Vereinbarungen international keineswegs aus dem Rahmen fallen, auch wenn manche dies behaupten, scheint es mir notwendig zu sein, nun endlich eine langfristige gemeinsame Strategie des Westens zu entwickeln. Der Westen insgesamt muß sich klar darüber werden, mit welcher Strategie er den Prozeß der Veränderung in der Sowjetunion und in den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas begleitet und fördert. Dies gilt auch für die Europäische Gemeinschaft, die sich sehr schnell auf ein solches Konzept verständigen sollte. Ich meine, wir würden im Westen eine historische Chance verpassen, wenn wir bei den Veränderungsbestrebungen in Osteuropa nur zuschauen und im übrigen die weitere Entwicklung abwarten würden. Daher sollten wir mutiger sein und auch eine aktive Rolle spielen. So sollten wir jetzt die günstige Gelegenheit nutzen, um über die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit die politische Öffnung dieser Länder zu fördern, zumal bei der Mehrzahl der Regierungen in Osteuropa inzwischen durchaus die Erkenntnis vorhanden ist, daß eine erfolgreiche Wirtschaftsreform ohne politische Reformen nicht machbar sein wird und daß man das Engagement der Menschen für diese Reformen nicht erreichen kann, solange für diese keine greifbaren Vorteile und erst recht kein Glaube an die Zukunft besteht. Das ist im übrigen auch bis in diese Tage hinein das Problem der mangelnden Popularität Gorbatschows in der Sowjetunion, und zwar an der Basis, wo für viele Menschen die Fortschritte noch nicht eingetreten sind. Wenn von der Führung der Sowjetunion jetzt offen festgestellt wird, daß sich ihr Land in einer tiefen Krise befindet, dann, meine ich, hat der Westen für seine eigene Sicherheit ein Interesse an einer Stabilisierung der Situation. Deswegen sollten wir die Chancen der Zusammenarbeit nutzen, wenn sie zu einer Stabilisierung führen. Doch sollten wir dabei deutlich sagen, daß aus unserer Sicht zur Stabilisierung der Situation auch die Bereitschaft der politischen Führungen gehört, den einzelnen Menschen größere politische und persönliche Freiheiten als bisher zu gewähren. Im übrigen kann man ja an unseren politischen Systemen erkennen, daß zur Stabilität durchaus auch Demonstrationen und offene politische Meinungsäußerungen gehören können. Das Ringen um den richtigen Weg ist ja keineswegs ein Zeichen für Instabilität, sondern Ausdruck für Stabilität. Mit all diesen Dingen müssen sich Systeme auseinandersetzen, die bisher geglaubt haben, daß man Stabilität am ehesten dadurch erreicht, das sich möglichst wenig ändert. Ich wiederhole: Stabilität ohne Wandel, das ist in der Sowjetunion und in Osteuropa nicht mehr möglich. Größere Leistungsbereitschaft wird von den Menschen nur zu erwarten sein, wenn ihre individuellen Rechte besser geachtet werden, wenn es zu einem echten Dialog und zur Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte kommt. Wo der Westen dabei auf die Öffnung der osteuropäischen Gesellschaften hinwirken kann, sollte er dies tun; doch das kann man nicht allein durch Reden, daß muß man durch Taten tun. In diesem Zusammenhang ist das Angebot des Bundeskanzlers zu sehen, in den nächsten drei Jahren tausend junge Sowjets in unserem Land auszubilden. Ich meine, eine derart von jedem einzelnen erlebte Entspannung trägt nicht nur zur Vertrauensbildung bei, denn hier wird Ermutigung zur Eigenverantwortung, zur Eigeninitiative, zu selbständigem Denken und Handeln als Folge solcher Begegnungen und solcher Ausbildungen geschaffen. Insofern glaube ich, daß auch dies Schritte zur Förderung der Modernisierung der Gesellschaften hin zu offeneren Strukturen sind. Wenn jetzt Stimmen vor einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion warnen und gefragt wird, ob westliche Kredite der Sowjetunion wirtschaftliche Verbesserungen bei gleichbleibend hoher Rüstung ermöglichen würden, also Kanonen und Butter statt mehr Butter für weniger Kanonen - manche leisten sich sogar die Geschmacklosigkeit, zu diskutieren, ob wir ein Interesse an mageren oder an fetten Russen hätten -, dann muß ich mit aller Klarheit festhalten, daß durch die Form der Zusammenarbeit , die wir mit der Sowjetunion pflegen wollen, der Reformdruck von Gorbatschow nicht genommen werden soll und auch nicht genommen werden kann. Wenn er sein Land modernisieren will, so muß das bedeuten, daß in Zukunft weniger Geld als bisher - 14 % des Bruttosozialprodukts - für Waffen ausgegeben werden kann. Diese Entscheidung über eine Umverlagerung der Ressourcen, dieser Reformdruck muß und wird bleiben. Er kann dem sowjetischen Generalsekretär nicht erspart werden; unsere Politik erspart ihm diese Entscheidung auch nicht. Die jetzt gewährten Kredite entheben die Sowjets keineswegs von tiefgreifenden Wirtschaftsreformen. Ich meine aber auch, daß der Westen ein sicherheitspolitisches Interesse daran hat, daß sich die Sowjetunion wirtschaftlich und damit auch politisch modernisiert. Sie ist im Grunde genommen bis heute eine eindimensionale Weltmacht: nur militärisch stark. Im Grunde genommen ist ein wichtiger Grund dafür, daß es auch weiterhin so schwer ist und in der Vergangenheit fast unmöglich war, mit der Sowjetunion zu Abrüstungsvereinbarungen zu kommen, daß die militärische Stärke ihre einzige Stärke ist, während der Westen im Verhältnis zur Sowjetunion heute ökonomisch und, wie ich glaube, auch ideologisch stark ist. Von daher macht es Sinn, wenn die Sowjetunion auch andere Stärken entwickelt als nur die militärische Stärke. Ich glaube, daß sie dann ein besserer Partner sein kann, solange diese nicht zusätzlich zu der militärischen Überstärke entwickelt werden, die in der Sowjetunion bis zum heutigen Tage anhält. Gerade in den Fragen der Verteidigungs- und Abrüstungspolitik sollten wir uns allerdings auch in Zukunft weiter von absolutem Realismus leiten lassen und weder die Veränderungen und Verbesserungen herunterspielen, die es gegeben hat, noch die weiter bestehenden Probleme verschweigen. Ich meine, daß der Westen gut beraten ist, in dem für uns entscheidenden Feld der konventionellen Abrüstung endlich Vorschläge zu machen, so wie es auch Franz Josef Strauß immer wieder gefordert hat, die es Moskau schwermachen, sie abzulehnen. Das müssen Vorschläge sein, die auch die Opfer und Einschnitte auf unserer eigenen Seite deutlich machen. ({6}) Ich meine, daß Chancen bestehen, gerade auch mit der neuen politischen Führung in den Vereinigten Staaten. Wir sollten von unserer Seite aus einen Beitrag dazu leisten, ein Konzept zu entwickeln, hinter dem unsere Bevölkerung voll steht und das so überzeugend ist, daß es nicht einfach vom Tisch gewischt werden kann, wenn es um die schicksalhafte Frage der konventonellen Abrüstung in Europa geht. ({7}) Denn es geht ja nur vordergründig um Panzer; im Kern geht es um das zukünftige politische Gesicht Gesamteuropas. Verteidigungsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft gehören zusammen. Sie ergänzen sich, solange sich so unterschiedliche Systeme wie in Europa gegenüberstehen. Das ist unsere Politik. Verteidigungsfähigkeit ohne Verständigungsbereitschaft, das würde niemals aus der Sackgasse einer waffenstarrenden Welt herausführen. Das ist nicht unsere Politik. Verständigungsbereitschaft ohne Verteidigungsfähigkeit, das könnte zu weniger Sicherheit und weniger Freiheit für viele Europäer führen. Auch das ist nicht unsere Politik. Deshalb sage ich, daß die Bundeswehr auch und gerade in der Entwicklung der nächsten Jahre von großer Bedeutung für eine gute Entwicklung in Europa sein wird. Lassen Sie mich noch einige wenige Bemerkungen zur Situation der Deutschen in der Sowjetunion machen. Wir haben mit denen gesprochen, die dableiben wollen, und auch mit einer Gruppe von Aussiedlern. Das waren jeweils sehr intensive und bewegende Gespräche. Dabei ist sehr deutlich geworden, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen der Gewährung von Autonomie für die Deutschen in der Sowjetunion und der Ausreisefrage gibt, also der weiteren Entwicklung des stark angeschwollenen Aussiedlerstroms aus der Sowjetunion. Die Deutschen in der Sowjetunion wollen Gleichberechtigung mit anderen Nationalitäten. Ihnen ist während des Zweiten Weltkriegs von der sowjetischen Seite Unrecht geschehen. Es ist gut, daß in jüngster Zeit sowjetische Stimmen dieses anerkannt haben. Die Deutschen in der Sowjetunion wollen und können, wie ich glaube, auch eine Brücke zwischen beiden Völkern sein. Es liegt jedenfalls auch in unserem Interesse, wenn die deutsche Kultur in der Sowjetunion lebendig bleibt. Die Sprecher der Deutschen haben uns sehr deutlich gemacht, daß das, was Familienzusammenführung in der Bundesrepublik bedeutet, in der Sowjetunion sehr häufig und für viele Menschen Trennung von Familien, Trennung von Freundschaften, Brüche in Dorfgemeinschaften ist und daß sich insofern die Freude derjenigen, die das Land endlich verlassen können, mit der Trauer über den Abbruch vieler Beziehungen, Freundschaften und sehr enger Bindungen mischt. Sie haben hinzugefügt, daß sich dann, wenn sich die Verhältnisse nicht grundlegend verbessern im Sinne der Autonomie, der Pflege der eigenen Kultur in Schulen, Zeitungen, Theatern und Bibliotheken, der Ausreisewunsch weiter steigern wird und damit allerdings die Lage der verbleibenden Deutschen in der Sowjetunion immer schwieriger werden wird. Sie haben gesagt - ich möchte, weil mich das besonders beeindruckt hat, das hier wörtlich zitieren, was einer der Sprecher dieser Deutschen uns gesagt hat -: Wir verstehen diejenigen, die die Sowjetunion unter den jetzigen Bedingungen verlassen. Wir bedauern es, wenn jemand von diesen Deutschen die Sowjetunion verläßt. Aber wir beneiden Sie um diese Landsleute, die in die Bundesrepublik Deutschland kommen. Ich muß Ihnen sagen, daß uns ein solcher Satz beschämen sollte angesichts mancher Diskussionsbeiträge - ob an Stammtischen oder in hohen politischen Ämtern -, die es gegeben hat. ({8}) Ich muß Ihnen sagen, daß ich, nachdem ich diesen Satz gehört habe, an meine Heimatstadt Hamburg gedacht habe, wo wir deutsche Familien mit kleinen Kindern aus der Sowjetunion und Polen auf der Reeperbahn in einem ehemaligen Eros-Center unterbringen. Ich frage mich wirklich, ob wir unserer Verantwortung in dieser Situation immer voll gerecht werden. Ich meine, daß von allen Seiten des Hauses verstärkt Beiträge zu leisten sind, damit wir uns dieser historischen Situation und vor allen Dingen auch der Menschen würdig erweisen, die hierherkommen. ({9}) Alle Deutschen, die sich aber unter den jetzigen Bedingungen entschließen, zu uns zu kommen, sollten wissen, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland willkommen sind. Wir sollten ihnen helfen. Wir sollten im übrigen aber - das deckt sich mit dem, was Herr Vogel gesagt hat - verstärkte Anstrengungen unternehmen, um gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen in der Sowjetunion die Lage der Deutschen in der Sowjetunion grundlegend zu verbessern. Das liegt im Interesse beider Staaten. ({10}) Bei allen Gesprächen in Moskau haben wir deutlich gemacht, daß mehr Offenheit unverzichtbar für mehr Sicherheit in Europa ist. Das gilt im engeren sicherheitspolitischen Bereich durch die Verifikation, also die Überprüfung, vor Ort. Das gilt für eine größere ökonomische Offenheit der Sowjetunion im Inneren und nach außen. Das gilt schließlich für die Offenheit für Ideen und Menschen, für die Menschenrechte. In diesem Zusammenhang wird im Westen die Frage der Menschenrechtskonferenz in Moskau kritisch und kontrovers debattiert. Ich meine, daß wir offen sein sollten für eine solche Konferenz, wenn sie denselben Standard einhält, der auf den Konferenzen in Paris und Kopenhagen geschaffen werden soll, und wenn bestimmte andere Voraussetzungen, wie z. B. die Freilassung aller politischen Gefangenen, erfüllt sind. Aber es muß auch klar sein, daß das Recht, frei zu sprechen und zu schreiben, und das Recht, frei zu reisen und auszuwandern, zu den grundlegenden Menschenrechten gehören, daß sie kein Geschenk eines Staates oder einer Staats- und Parteiführung an Menschen sind. Diese Rechte können nicht zugeteilt werden, mal weniger und - wie jetzt erfreulicherweise - mal mehr. Sie gehören nicht den Staats- und Parteiführungen, sondern sie gehören den Menschen als Grundrechte. Insofern müssen diese Rechte, wenn der Weg konsequent weitergegangen werden soll, in Form von Rechtsansprüchen für die Menschen auch im real existierenden Sozialismus irreversibel gemacht werden. ({11}) Ich glaube, daß eine Menschenrechtskonferenz in Moskau die richtige Gelegenheit bieten kann, im Grundsatz über unser Verständnis von Menschenrechten zu sprechen. Ich möchte am Ende den Bundeskanzler und auch die Bundesregierung ermuntern, auf dem beschrittenen Wege so fortzufahren, wie es der Bundeskanzler hier heute gesagt hat, nicht kleingläubig, aber auch nicht blauäugig - wie manche meinten bemerken zu müssen -, sondern solide und Schritt für Schritt, nüchtern, aber erkennbar positiv. Vielen Dank. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie werden verstehen, daß ich nach dem heutigen beschämenden Vormittag nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Ich glaube, es besteht Anlaß für uns alle, einmal in einer besonderen Sitzung den gesamten Themenkreis, der Gegenstand des heutigen Vormittags war, ohne übertrumpfende Selbstgerechtigkeit in diesem Hause zu behandeln. Dazu möchte ich aufrufen. Ich möchte den Herrn Bundestagspräsidenten bitten, rasch zu einer Selbstprüfung zu gelangen, ob er seinem Amt wirklich gewachsen ist. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand bestreitet, daß es der europäischen Entwicklung im Sinne einer friedlichen Zielsetzung von Nutzen ist, wenn auch die Bundesregierung und die sowjetische Führung wieder ins Gespräch kommen. Wenn der Bundeskanzler die Tatsache, daß es in Moskau nach längerer Pause Verhandlungen zwischen der sowjetischen Führung und der Bundesregierung gab, als Erfolg sieht, sei es ihm gegönnt, obwohl es vielleicht doch etwas zu großspurig war, daß er in der Öffentlichkeit die Freilassung politischer Gefangener als Ergebnis seiner besonderen Bemühungen dargestellt hat. Es besteht, denke ich, eine weitgehende grundsätzliche Übereinstimmung, daß der deutsch-sowjetische Dialog in Gang kommen muß, nicht zuletzt angesichts der weitreichenden Veränderungen in der Sowjetunion. Ehe sich aber die Bundesregierung voreilig als Wegbereiter einer neuen Ostpolitik feiert - ich wiederhole an dieser Stelle ganz bewußt einen Hinweis von Herrn Vogel - , wäre es nicht unangebracht, wenn der Bundeskanzler seinen Dank dafür zum Ausdruck brächte, daß für ihn die Fahrkarte nach Moskau von Willy Brandt gebucht worden ist. ({0}) Es hieß - der Bundeskanzler ist nicht mehr da -, ({1}) daß der Bundeskanzler mit großen Erwartungen nach Moskau gefahren sei. Heute zieht er eine positive Bilanz. Aber er wird uns doch noch einiges erklären müssen. In den Zeitungen war zu lesen, daß sich der Bundeskanzler in den Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow auf die übliche Seifenblasenspielerei mit Wiedervereinigungsillusionen eingelassen hat. Sehr glanzvoll war dieser Auftritt wohl nicht. Gewiß, einer bestimmten politischen Klientel in der Bundesrepublik mag es gefallen haben, daß der Bundeskanzler wacker die Wiederherstellung des Deutschen Reiches eingeklagt hat. Ich frage mich nun aber eines: Wovon hat der Bundeskanzler in seinem Hotelbett in Moskau geträumt? ({2}) - Ich war ja nicht dabei, Herr Rühe ; Sie können es mir dann genauer erläutern. - Wie immer man es bewerten mag, als Wunschtraum oder als Alptraum: Wie hat der Bundeskanzler den Traum überstanden? Vielleicht ist ihm Michail Gorbatschow im Traum erschienen und erklärte: Gut, Gospodin Kohl, warum nicht, versuchen wir es mit der Wiedervereinigung. Aber was bieten Sie dafür? Den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO, die Neutralisierung der beiden deutschen Staaten, die Aufgabe der EG-Mitgliedschaft der Bundesrepublik? Und was hat dann der Bundeskanzler im Traum geantwortet? ({3}) Oder ist der Bundeskanzler eventuell mit Schweißperlen auf der Stirn aufgewacht, nachdem ihm Freund François Mitterrand mit drohendem Zeigefinger erschienen ist? ({4}) Bei Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik als unwiderruflich und als Kern der deutschen Staatsräson überhöht. Wie geht das zusammen, NATO-Mitgliedschaft und Wiedervereinigung? Die Diskussion in seiner eigenen Partei hat den Bundeskanzler längst eingeholt. Die Äußerungen von Heiner Geißler, Norbert Blüm und Lamers einerseits sowie Heinrich Lummer und Todenhöfer andererseits beweisen, daß die krassen Widersprüche in Ihren politischen Aussagen nicht länger ignoriert werden können. Die furchtsame Abstinenz, mit der sich der Bundeskanzler aus der Diskussion heraushalten will, wird ihm auf Dauer nicht weiterhelfen. Es besteht dringender Klärungsbedarf. Einige in Ihren Reihen, Herr Bundeskanzler, haben längst erkannt, daß das krampfhafte Festhalten an der Wiedervereinigungsillusion nichts anderes als der alte überlebte Nationalstaatsgedanke ist und daß es ein Zurück zu den Grenzen von 19xy nicht geben kann. Da gibt es Arbeit für den Bundeskanzler. Sie müssen Ihr Programm entrümpeln, auch wenn es schmerzt. Noch ein zweiter Widerspruch ist zu benennen, mit dem sich der Bundeskanzler in der Ostpolitik in eine Sackgasse manövrieren könnte. Sie waren bekanntlich mit großem Gefolge in Moskau, darunter die Minister Genscher und Scholz. ({5}) Vielleicht sollte ich mich hüten, Herrn Genscher zum Gefolge des Bundeskanzlers zu zählen, aber das brauchen wir nicht zu vertiefen. ({6}) Jedenfalls haben die beiden Herren dafür gesorgt, daß der Bundeskanzler gewissermaßen wie Buridans Esel zwischen zwei gleich großen Heuhaufen stand. Herr Genscher bietet ihm die Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses, die dritte Null-Lösung vielleicht, während Herr Scholz - ein Novize unter den Verteidigungsministern - mit der Nuklearen Planungsgruppe der NATO stramm auf eine neue Nachrüstung zumarschiert, was der Öffentlichkeit nach der gewohnten Methode als Modernisierung untergejubelt werden soll. Von dem Bundeskanzler, der dazu ausersehen ist, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, haben wir dazu bisher kein klares Wort gehört. ({7}) Gelegenheit wird dazu spätestens im kommenden Jahr sein, wenn Michail Gorbatschow zu einem Gegenbesuch noch Bonn kommt. Wir hoffen, daß zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik in der Tat eine „systemöffnende Kooperation" zustande kommt, wie es Bundespräsident Richard von Weizsäcker zutreffend gekennzeichnet hat. Wenn die Bundesregierung dazu beiträgt, werden wir sie dabei unterstützen. Jedoch werden wir Sie selbstverständlich fragen und fragen Sie bereits heute: Was ist die Grundlage und was ist die Substanz der Zusammenarbeit mit Osteuropa nach Ihren Vorstellungen? Eine Kooperation, die darin besteht, daß Sie mit dem Hochtemperaturreaktor sicherheitstechnisch gefährliche, energiepolitisch nicht verantwortbare und in der Bundesrepublik politisch nicht mehr durchsetzbare Atomtechnik in die Sowjetunion verkaufen, lehnen wir rundweg ab. ({8}) Wir meinen auch, daß die Prioritäten in der Zusammenarbeit richtig gesetzt werden müssen. Weltraumforschung mag interessant sein. Vielen mag es imponieren, daß nun ein bundesdeutscher Raumfahrer zu einem Ausflug in einer sowjetischen Rakete eingeladen worden ist. Aber Sie hätten mit viel mehr Beifall von uns rechnen können, wenn es Ihnen gelungen wäre, die Sowjetunion davon zu überzeugen, künftig keine Atomreaktoren in den Weltraum zu verfrachten. ({9}) Wichtiger ist im übrigen und verdient bei weitem den Vorrang, daß die Zusammenarbeit in der Umweltpolitik in einem sehr umfassenden Rahmen intensiviert und beschleunigt wird, daß der ökologische Umbau der europäischen Industrien gemeinsam in Angriff genommen, der Abrüstungsprozeß entschlossen fortgesetzt und eine gemeinsame solidarische Politik gegenüber den Dritte-Welt-Ländern entwickelt wird. Wir fordern eine gesamteuropäische Umweltcharta. Wir fordern europaweite Sofortmaßnahmen zum Schutz der Ozonschicht. Wir fordern ein gesamteuropäisches Bodenschutzprogramm, ein Programm der Reinhaltung der Luft und ein gesamteuropäisches Gewässerschutzprogramm. Zusammenarbeit mit dem europäischen Osten muß in einer gemeinsamen europäischen Perspektive konzipiert werden. Die Vision eines gemeinsamen Europäischen Hauses nehmen wir als Herausforderung an. Niemand hat bisher Detailpläne für die Architektur dieses gemeinsamen Europäischen Hauses vorlegen können. Jedoch lassen sich aus grüner Sicht jedenfalls die Grundelemente für die künftige Struktur Europas benennen: Erstens. Nach unserer Überzeugung kann es nur um einen gesamteuropäischen Entwurf gehen. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein zweigeteiltes Europa würde neue Spannungen hervorrufen und den Ost-West-Gegensatz unweigerlich wieder verschärfen. Zweitens. Ein friedfertiges, kooperatives und seinen humanistischen Traditionen verpflichtetes Europa muß sich seiner globalen Verantwortung stellen und seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in der Nord-Süd-Achse neu bestimmen, im Sinne von mehr Gleichberechtigung und Respektierung eigener Entwicklungswege in den Ländern der Dritten Welt. Zu der neu zu definierenden globalen Verantwortung Europas gehört zugleich, alle technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen zusammenzufassen und zu nutzen, um die gegenwärtige industrielle Produktionsweise mit ihren gigantischen ökologischen und sozialen Schadensfolgen grundlegend zu verändern. Drittens. Wir wollen kein kulturell nivelliertes und homogenisiertes Europa, übrigens auch keine homogenisierte Bundesrepublik. Wir wollen auch kein Europa mit zentralen Machtinstanzen, die demokratisch nicht mehr kontrolliert werden können. Und wir wollen kein Europa, das sich den Direktiven wirtschaftlicher Machtgruppierungen unterwerfen muß. Deshalb muß die regionale Struktur Europas erhalten bleiben und ausgebaut werden. Der kulturelle Reichtum des Europas der vielen Gesichter und Charaktere, der Mannigfaltigkeit, darf nicht verlorengehen. Kulturelle Zusammenhänge müssen sich über Staatsgrenzen hinweg ausbilden, aber zugleich gegenüber überstaatlichen Instanzen behaupten können. Aus Europa wird dann ein vielfältiges Geflecht unterschiedlicher gesellschaftlicher Beziehungen entstehen. Eine regionale und funktionale Autonomie ist dafür die Voraussetzung. Nach unserem Verständnis kann Europa durch Aufhebung der Grenzen zu einer stärkeren Zusammenarbeit gelangen und zugleich eine regionale und funktionale Differenzierung und Dezentralisierung fördern. Viertens. Wir wollen ein ziviles, entmilitarisiertes Europa, das nicht an Rüstungsexporten verdient und das durch friedliche Austragung von Konflikten beispielgebend wirkt. ({10}) Mit den sowjetischen Reformen eröffnet sich eine neue historische Dimension für die europäische Zukunft. Dennoch soll vor blinder Euphorie gewarnt werden. Wer in dem alten Machtkalkül denkt und auf einen schnellen, trügerischen Machtzugewinn aus ist, geht in die Irre. Aber Vorsicht kann auch nicht schaden; denn niemand kann sich wünschen, eine Abhängigkeit gegen eine andere einzutauschen. Die Entwicklung in der Sowjetunion und im europäischen Osten insgesamt vollzieht sich in einer atemberaubenden Dynamik, von der niemand sicher vorauszusagen weiß, zu welchen Konstellationen sie führen wird. Eines aber ist gewiß: An Schwierigkeiten und Risiken wird es nicht fehlen. Die bundesrepublikanische Außenpolitik muß sich darauf einstellen, wie sie sich gegenüber dem Prozeß einer Differenzierung und Metamorphose im Sinne von mehr Pluralismus in der bisher monolithischen Sowjetunion verhalten will. Eine Festung Westeuropa, die militärisch, wirtschaftlich und politisch als neue Supermacht debütieren will, womöglich mit einem kräftigen deutschen Übergewicht, verbaut den Weg in eine friedliche gemeinsame Zukunft Europas und würde den Prozeß der Differenzierung und Lokkerung in der Sowjetunion verhindern. ({11}) Umgekehrt, wenn die sowjetische Führung aus machtpolitischen Gesichtspunkten die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Verbündeten als Festung erhalten will, könnte das nicht den Grundriß für ein europäisches Haus bilden, weil die Statik aus dem Gleichgewicht geriete. Dann wird es unverzichtbar sein, daß die politische Anwesenheit der USA und Kanadas in Europa zum Austarieren der Machtgewichte gesichert bleibt. Auch das ist ein denkbarer Entwurf Europas, daß die Mächte mit dem Doppelgesicht, einerseits die USA und Kanada mit ihrer europäischen und pazifischen Orientierung und andererseits die Sowjetunion mit ihrer europäischen und asiatischen Perspektive, an der europäischen Kooperative und Friedensstruktur beteiligt bleiben. Die künftige europäische Architektur muß sich nach den Interessen der europäischen Völker richten. Sie sind die wahren Bauherren. Wir wollen und die europäischen Völker wollen eine gesamteuropäische Kooperative, kulturelle Vielfalt, die Zurücknahme staatlicher Machtansprüche, reduzierte Rüstung und die uneingeschränkte Durchsetzung der Menschenrechte. Der Wille der europäischen Völker wird sich aber nur in einer europaweiten pluralistischen Demokratie verwirklichen lassen. Ich danke Ihnen. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Vogel, die FDP hat mit Respekt die Art zur Kenntnis genommen, wie Sie die Vorgänge des heutigen Vormittags behandelt haben. Wir wollen uns dem anschließen. Ich sage für die Freie Demokratische Partei: Es ist eine schwierige Aufgabe, an einem solchen Tage und zu einem solchen Anlaß sprechen zu müssen. Niemand wird darum beneidet, wenn er diese Aufgabe wahrnimmt. Aber wir müssen feststellen, daß die Ansprache von heute morgen auf weiten Strecken, wenn auch sicher ungewollt, den Eindruck des Versuchs einer Rechtfertigung oder Teilrechtfertigung der schlimmsten Ereignisse jüngster deutscher Geschichte erweckte. Die Mitglieder der FDP-Fraktion fühlen sich durch diese Rede nicht vertreten. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Reise des Bundeskanzlers und seiner Delegation in die UdSSR war auch nach Auffassung der FDP ein Erfolg. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt das Ergebnis einer langfristig auf Kontinuität angelegten Politik, an der die FDP immer beteiligt war und für die ihr Außenminister Hans-Dietrich Genscher in erster Linie steht. Wir sehen mit Vergnügen und nicht mit irgendwelchem Neid die Diskussion darüber, wer denn nun der Erfinder, der Betreiber und der Promotor der Ostpolitik war, und wir denken an die 50er Jahre, an Karl Georg Pfleiderer und viele andere. ({0}) Uns bereitet es Vergnügen, wenn Dinge, die auch von uns mitbetrieben worden sind, von anderen aufgenommen und gemeinsam zum Erfolg geführt werden. ({1}) - Bitte? ({2}) - Wenn Sie sich richtig erinnern, Herr Schily, und wenn Sie das damals auch schon so verfolgt hätten, dann wüßten Sie, daß sich von dort an eine ununterbrochene ost- und deutschlandpolitische Diskussion in meiner Partei entwickelt hat, die wir in den verschiedenen Koalitionen - ich komme darauf gleich noch zurück - durchgesetzt haben. Diese Politik, die auf Kooperation und Dialogbereitschaft setzt, hat die Vertrauensbasis mit geschaffen, die zu den deutlich verbesserten deutsch-sowjetischen Beziehungen geführt hat. Vertrauen bedeutet für uns nicht Vertrauensseligkeit. Wir stimmen dem zu, Herr Rühe. Wir haben dies bewiesen. Ich weiß, mancher mag das heute nicht mehr gerne hören. Die heutige Atmosphäre sieht auch nicht mehr so aus. Trotzdem sei es noch mal gesagt. Wir haben dies dadurch bewiesen, daß wir den NATO-Doppelbeschluß nicht nur mit beschlossen - das mit Ihnen von der SPD - , sondern auch mit durchgeführt haben - dieses mit Ihnen von der CDU -, ({3}) mit dem bekannten positiven Ergebnis, ({4}) das wir heute vor uns haben. - Herr Kollege Ehmke, wenn Sie den Findungsprozeß im Zentralkomitee und Politbüro der KPdSU so gut beherrschen, dann können Sie uns vielleicht ein paar nähere Informationen darüber vermitteln. Das wäre sicher interessant. Die Gespräche des Bundeskanzlers in Moskau zeigen, daß die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu einem der Drehpunkte des Ost-West-Dialogs geworden sind. Das belegt nicht zuletzt die Breite der angesprochenen Themen. Neben der Vielzahl bilateraler Fragen standen die Fortschritte der Abrüstungsverhandlungen, das Verhältnis der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinschaft, die mögliche Menschenrechtskonferenz - hoffentlich wird sie zustande kommen - im Mittelpunkt der Gespräche. Der erneut bekräftigte Wunsch beider Staaten, das Wiener Folgetreffen der KSZE auf der Basis des vorliegenden Schlußdokuments bis Mitte November 1988 zum Abschluß zu bringen, sollte diesen Verhandlungen einen zusätzlichen Impuls verleihen, damit der Weg zu Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung sobald wie möglich geöffnet wird. Im übrigen, wie sich die Welt geändert hat: Derjenige, der heute das Ergebnis in Wien blockiert, wurde früher dafür gelobt, daß er eine von der Sowjetunion unabhängige Außenpolitik betrieb. Heute hätten wir ihn gerne auf dem Kurs der Sowjetunion. Mit Befriedigung, meine Damen und Herren, können wir zur Kenntnis nehmen, daß sich die positive Haltung der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinschaft während des Besuchs des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers in Moskau bestätigt hat. Wir alle wissen: Auch das ist eine neue Entwicklung. Früher lief da nichts. Es wurde von sowjetischer Seite positiv bemerkt, daß sich die EG und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe gerade während der deutschen EG-Präsidentschaft nähergekommen sind. Die Sowjetunion sieht in der Bundesrepublik einen ihrer wesentlichen Gesprächspartner im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Es wird jetzt darauf ankommen, die begonnenen bilateralen Verhandlungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Sowjetunion zu einem für beide Seiten befriedigenden Ergebnis zu führen. Der Erfolg der Reise des Bundeskanzlers, des Bundesaußenministers und der übrigen Kabinettsmitglieder dokumentiert sich auch in der Vielzahl der abgeschlossenen bilateralen Abkommen und ihrer Bedeutung. Das Paket enthält für beide Partner Bereiche von besonderem Interesse. Aus meiner Sicht ist das Abkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei einem nuklearen Unfall und den Informationsaustausch über Kernkraftanlagen besonders wichtig. Das Abkommen ermöglicht den regelmäßigen bilateralen Informationsaustausch über den Betrieb aller zivilen Kernkraftanlagen. Wir wollen dieses Abkommen nutzen, um an einer beschleunigten Einführung von international anerkannten Sicherheitsstandards in der Sowjetunion mitzuwirken. Das trägt zu einer Erhöhung der Sicherheit für uns bei und eröffnet unserer Industrie, die auf dem Gebiet der Sicherheitsstandards von Kernkraftanlagen international eine führende Stellung einnimmt, neue Exportchancen. Ich weise weiter auf die vereinbarte Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Hochtemperaturreaktorkonsortium und dem sowjetischen Staatskomitee zur Nutzung der Atomenergie hin. Der privatwirtschaftliche Vertrag sieht die industrielle Zusammenarbeit bei Planung und Bau von Hochtemperaturreaktoren mit kleiner Leistung vor. Fernziel dieser Zusammenarbeit ist der gemeinsame Bau von Kernkraftwerken zur Erzeugung von Strom- und Prozeßwärme in der Sowjetunion und der Export derartiger Anlagen in Drittländer. Wir eröffnen der deutschen Industrie angesichts des eindeutigen sowjetischen Bekenntnisses zum weiteren Ausbau der Kernindustrie die Möglichkeit, eine von der deutschen Industrie entwickelte Spitzentechnologie mit besonders hohen Sicherheitseigenschaften international zu demonstrieren. Wir fragen uns allerdings, meine Damen und Herren, was sich Ministerpräsident Rau und die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen dabei denken, wenn sie Bau und Betrieb des Hochtemperaturreaktors in Nordrhein-Westfalen behindern und gleichzeitig deren Export begrüßen. Auf Dauer kann man nicht exportieren, was man zu Hause nicht benutzen will. ({5}) - Sie sind wenigstens konsequent, Herr Schily; das muß ich in dem Zusammenhang bestätigen. Mir scheint das Projekt zur Aus- und Weiterbildung von sowjetischen Managern von besonderer Bedeutung zu sein. Wenn es um das immer wieder zitierte Wort: „Wir wollen Herrn Gorbatschow helfen" geht, dann geht es in meinen Augen um diesen Bereich. Technisches Know-how, Management-Know-how, da herrscht bittere Not, man hat dort keine Ahnung. Hier können wir zur Verfügung stehen, und das kostet auch gar nicht viel Geld. Das ist machbar, und es ist dringend erforderlich. Es geht darum, sowjetische Führungskräfte auf neue Aufgaben vorzubereiten, die im Rahmen der Reform des sowjetischen Wirtschaftssystems auf sie zukommen. Das heißt insbesondere: eigenverantwortliche betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen, auch im Hinblick auf die verstärkte Integration der sowjetischen Wirtschaft in den internationalen Wettbewerb. Hier liegt wirklich ein Aufgabenbereich auch für uns. Die Errichtung von je einem Industrie- und Handelszentrum in der UdSSR und der Bundesrepublik wird zur Intensivierung und Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehungen beitragen. Die Einbeziehung von Berlin ist bei den jetzt abgeschlossenen Regierungsabkommen pragmatisch und befriedigend geregelt. Die grundsätzlichen Differenzen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik in der Berlin- und Deutschlandfrage konnten bei den Moskauer Gesprächen nicht ausgeräumt werden. Nach Auffassung der FDP gebührt Bundeskanzler Kohl Dank für seine klaren Worte zur Haltung der Bundesregierung und der Bundesrepublik. Die Überwindung der Teilung Europas und die Überwindung der Teilung Deutschlands sind auch für die FDP untrennbar miteinander verbunden. Die Sowjetunion hat demgegenüber in Moskau an ihren alten Positionen zur Berlin- und Deutschlandpolitik festgehalten. Es gilt, die Dynamik zu nutzen, die durch den Besuch des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers und durch den geplanten Gegenbesuch des Generalsekretärs in Bonn in die deutsch-sowjetischen Beziehungen gekommen ist, um auch in der Berlin- und Deutschlandpolitik weitere Fortschritte zu erzielen. Wir sind uns darüber im klaren, daß sich derartige Fortschritte nur schrittweise durch einen oft mühsamen Dialog erreichen lassen. Wir wissen auch, daß Fortschritte nicht erreicht werden können, wenn die bestehenden Grenzen in Europa in Frage gestellt werden, und wir tun dies nicht. Herr Schily, die NATO im gegenwärtigen Zeitpunkt in Frage stellen? Man kann sehr schnell zwischen allen Stühlen sitzen, und wer will hier mit solchen Anregungen eigentlich wirklich veraltete Nationalpolitik? Meine Damen und Herren, parallel zu den Gesprächen des Bundeskanzlers haben Vertreter der deutschen Wirtschaft erfolgreiche Verhandlungen über eine Kooperation mit der Sowjetunion in vielen Bereichen geführt. Das Vertrauen, das die deutsche Industrie in die künftige wirtschaftliche Entwicklung der Sojwetunion legt, ist zu begrüßen. Umgekehrt ist unverkennbar, daß die Sowjetunion der Kooperation mit deutschen Firmen erhebliche Bedeutung beimißt und daß ihre Erwartungen in diese Zusammenarbeit sehr hoch sind. Das Stichwort von Joint-ventures und Kapitaleigner bis zu Mehrheitsverhältnissen ist ja sensationell neu. Ein deutsches Bankenkonsortium ist bereit, auf rein kommerzieller Basis einen Betrag von 1 Milliarde Rubel zu kreditieren. An die in- und ausländischen Kritiker gerichtet merke ich an, daß dieser Rahmenkredit deutlich niedriger ist als die Beträge, über die andere westliche Staaten zur Zeit mit der Sowjetunion verhandeln. Meine Damen und Herren, für die deutsche Wirtschaft ist festzustellen, daß es sich bei dem Rahmenkredit um eine rein kommerzielle und nicht präferenzierte Vereinbarung handelt, die voll in Übereinstimmung mit den westlichen Leitlinien über die WestOst-Wirtschaftsbeziehungen, nämlich dem OECD-Konsensus, steht. Ich halte diesen Kredit auch unter politischen Gesichtspunkten für wichtig, weil er ein Beitrag zur Reformpolitik der Sowjetunion ist und weil er die Integration der Sowjetunion in die Weltwirtschaft fördert. Für die Sowjetunion wird es darauf ankommen, die zur Verfügung gestellten Auslandskredite sinnvoll einzusetzen und der warnenden Überschrift eines In7296 terviews, das man vor einigen Tagen in deutschen Zeitungen lesen konnte - „Zu schnell und zu viel" -, durch Erfolge zu begegnen. Der Generalsekretär hat eine wesentliche Reform der sowjetischen Wirtschaft angekündigt. Eine Steigerung der Effizienz des sowjetischen Wirtschaftssystems liegt auch in unserem Interesse. Der bilaterale Handel zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion wie auch mit anderen westlichen Staaten ist in den letzten Jahren durch die nicht ausreichende Exportfähigkeit der Sowjetunion und den dadurch mitbestimmten Devisenmangel wesentlich beeinträchtigt worden. Die Sowjetunion wird Wert darauf legen müssen, das Konsumgüterangebot im Inland zu erhöhen, um den Erfolg der neuen Wirtschaftspolitik ihrer Bevölkerung augenfällig zu machen. Das für Wirtschaftsfragen zuständige Politbüromitglied, Herr Szjunkow, sagte mir im Juli in Moskau: 40 Jahre nach dem Kriege haben unsere Menschen doch einen besseren Lebensstandard verdient. Wohl wahr, habe ich ihm gesagt, dann macht's mal! Bei den Gesprächen der deutschen Delegation in Moskau war viel von marktwirtschaftlichen Elementen die Rede - der Bundeskanzler hat ja Ludwig Erhard in dem Zusammenhang erwähnt; übrigens sollte ihn mancher zu Hause auch wieder lesen - , die in das sowjetische Wirtschaftssystem eingebaut werden sollen. Ich begrüße eine derartige Entwicklung, nicht nur weil sie Liberalen grundsätzlich sympathisch ist, sondern auch weil dies der richtige Weg zu einer auch in unserem Interesse liegenden Effizienzsteigerung ist, vor allem aber weil ein Prozeß der Dezentralisierung der Entscheidungsverfahren notwendigerweise mit größerem gesellschaftlichem Pluralismus verbunden ist. Die FDP, meine Damen und Herren, beobachtet mit großem Interesse, ob und wie eine kommunistische Partei ohne Zentralverwaltungswirtschaft ihre dominierende Rolle im staatlichen Leben behaupten kann. Beide Delegationen haben sich vorgenommen, die Zeit bis zum Besuch von Generalsekretär Gorbatschow im Frühjahr des kommenden Jahres dazu zu nutzen, ein gemeinsames Dokument für die Perspektiven der künftigen Zusammenarbeit auszuarbeiten. Es wird darauf ankommen, insbesondere auf den Gebieten, auf denen während des Besuchs des Bundeskanzlers in Moskau noch keine ausreichenden Fortschritte erzielt werden konnten, voranzukommen. Das beabsichtigte Investitionsschutzabkommen sollte bis dahin unterschriftsreif sein. Die FDP sieht in dem Besuch des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers in Moskau - ich wiederhole das - die geradlinige Fortsetzung einer von den Liberalen seit Jahrzehnten für richtig gehaltenen und betriebenen Ost- und Deutschlandpolitik, und wir werden die Bundesregierung in ihren Bemühungen, die Beziehungen zu unserem großen Nachbarn Sowjetunion zu verbessern, auch weiterhin nachhaltig und tatkräftig unterstützen. Ich bedanke mich. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Professor Heimann.

Prof. Gerhard Heimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000845, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow vollzieht sich in Moskau ein Themenwechsel. Die Sicherheitspolitik bleibt immer noch ganz oben auf der Liste. Wie könnte es auch anders sein; denn mit Ausnahme des INF-Abkommens ist keine wichtige Frage auf diesem Gebiet wirklich gelöst, allenfalls konzeptionell neu durchdacht. Aber es ist doch auffällig, wie sich andere Fragen gleichrangig danebenschieben, und das ist so, weil es einer neuen Schwerpunktsetzung der sowjetischen Politik entspricht. Das hat auch seinen Ausdruck gefunden, sieht man sich einmal die Themen der Abkommen und Vereinbarungen bei diesem Besuch des Kanzlers in Moskau an. Das alles gibt Anlaß, darüber nachzudenken, was ein solcher Übergang zu Themen der Wirtschaft, der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und der Umwelt für eine Partnerschaft zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Sowjetunion bedeutet. Solange es für die Sowjetunion in der Hauptsache um zweierlei ging, erstens im Club der atomaren Zwei durch eine gesicherte strategische Zweitschlagskapazität mit den Vereinigten Staaten die atomare Balance aufrechtzuerhalten und zweitens zusammen mit den Vereinigten Staaten das machtpolitische Vakuum auszufüllen, das in der Mitte Europas als Folge des Zweiten Weltkrieges durch den jähen Sturz des Deutschen Reiches ins Bodenlose entstanden war, so lange stimmte das Bild zweier Supermächte, die im eigentlichen Sinne nur sich selbst als Gegner und als Partner haben, und, deutlich deklassiert darunter, jeweils von diesen Supermächten auf unterschiedliche Weise abhängiger europäischer Subsysteme. Das ist jedenfalls für die Vergangenheit ein mehr oder weniger zutreffendes, wenn auch bewußt vereinfachtes Bild. Ganz zweifellos werden die hierin zum Ausdruck kommenden alten Prioritäten sowjetischer Politik nicht von heute auf morgen abgelöst werden, aber es ist doch schon heute erkennbar, daß atomare Hochrüstung in der operativen Politik kaum zusätzliche vernünftige Handlungsspielräume schafft, ja sogar zu einer schweren Belastung der Supermächte selbst werden kann. Möglicherweise liegt hier einer der Gründe für die zu beobachtenden großen strukturellen Schwierigkeiten, mit denen beide Supermächte, die in vielen den gesellschaftlichen Reichtum produzierenden zivilen Sektoren kaum noch auf den Weltmärkten konkurrenzfähig sind, zu kämpfen haben. In Wirklichkeit hat das atomare Patt die Supermächte streckenweise zu unbeweglichen Dinosauriern gemacht. ({0}) Die einzig mögliche, das Überleben der Menschheit sichernde Konsequenz aus der Pax atomica ist die friedliche Konkurrenz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme in West und Ost. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Ökologie, Wissenschaften, kulturelle Vielfalt, Dritte Welt, das werden die Felder sein, die über Weltmachtgeltung und gesellschaftliche Attraktivität entscheiden werden. Genau das aber ist die zentrale und höchst moderne Aussage, wie sie uns im „Neuen Denken" der Sowjetunion entgegentritt. Solange europäische Politik unter einer Prädominanz militärischen Denkens betrieben werden muß, sind die Aussichten der Europäer insgesamt eher schlecht. Sobald sich aber die simple, übrigens genuin sozialdemokratische Erkenntnis durchsetzt, daß sich die Zukunft der Systeme nicht an ihrer militärischen Stärke entscheiden wird, stehen die Chancen für Europa gut. Am 9. September 1965 sagte Charles de Gaulle: Wir sehen ohne Zaudern dem Tag entgegen, an dem Europa im Interesse einer konstruktiven Verständigung vom Atlantik bis zum Ural ganz seine eigenen Probleme selbst regelt. De Gaulle fand damals in der Sowjetunion keinen Staatsmann und Partner von gleicher visionärer Kraft und Größe, aber er fand auch in Westeuropa kein Gehör. Seine Worte verhallten fast folgenlos. Europa war offenbar noch nicht soweit. Jetzt, mehr als 20 Jahre später, ist es Gorbatschow, der mit seinem Begriff „das gemeinsame europäische Haus" wieder Europa vom Atlantik bis zum Ural denkt. Wird er - anders als damals de Gaulle - einen Partner finden, und wird Westeuropa dieser Partner sein? Zu dem radikalen Themenwechsel kommt ein radikaler Szenenwechsel. Die Zeit ist vorbei, als über Europas Schicksal entweder in Washington oder in Moskau oder in Washington und Moskau entschieden wurde. Die Europäische Gemeinschaft ist zu einem Faktor von weltpolitischer Bedeutung herangewachsen, der an wirtschaftlicher Kraft und wissenschaftlich-technischer Innovationsfähigkeit die Sowjetunion im zivilen Sektor überflügelt und die Vereinigten Staaten in vielerlei Hinsicht erreicht hat, teilweise sogar übertrifft. Diesen Erfolg - da gebe ich Herrn Schily ganz recht - hat die Europäische Gemeinschaft erringen können, weil sie bisher nicht versucht hat, eine militärische Supermacht zu werden. Sie würde diesen Erfolg aufs Spiel setzen, wenn sie es nachträglich versuchen würde. Immerhin, die Europäische Gemeinschaft ist ein weltpolitischer Faktor. Die darin liegende Auflösung des bipolaren Weltbildes kann und wird zu einer neuen Balance in Europa führen. Eine neue Balance heißt nicht, sich von den Vereinigten Staaten abzukoppeln, heißt aber, daß die Chance, westeuropäische und deutsche Interessen im Notfall auch einmal gegenüber den Vereinigten Staaten zu behaupten, ungleich größer geworden ist. Nicht jedes Stirnrunzeln auf dem Capitol in Washington in bezug auf sogenannte Vorzugskredite an Moskau oder jede Drohung, COCOM anzurufen, macht in Westeuropa heute noch Eindruck. Das Wichtigste aber ist: Dadurch, daß die Europäische Gemeinschaft größer geworden ist, hat sie auch an Selbstbewußtsein gewonnen, so daß der Popanz von der furchteinflößenden Übergröße des russischen Bären auf ein vernünftiges Maß reduziert wird. Nur so kann es gelingen, mit der Sowjetunion, die auch so noch groß genug bleibt, in ein und dasselbe Haus einzuziehen, ohne daß bereits im vorhinein fast alle Zimmer belegt sind. Was bei Charles de Gaulle nur eine kühne Vision sein konnte, könnte heute gelingen: die Rückbesinnung der Sowjetunion darauf, daß sie auch ein Teil Europas ist und daß Rußland immer ein Teil der europäischen Geschichte war, und die gleichberechtigte Partnerschaft zwischen ihr, den übrigen RGW-Staaten und der Europäischen Gemeinschaft. Die Frage ist nur: Begreifen wir die Größe der Herausforderung, und finden wir adäquate Mittel, um ihr gerecht zu werden? Dies ist der einzige Maßstab, der heute zählen darf. Unter dieser Meßlatte steht jeder Besuch eines Bundeskanzlers in Moskau und jeder Gegenbesuch in Bonn. Unter dieser Fragestellung müßte selbst die Opposition wünschen, daß der Herr Bundeskanzler das ist, wofür er sich gerne hält, nämlich ein Enkel Adenauers. Allerdings, im Zusammenhang mit Ostpolitik käme es ja wohl mehr darauf an, ein Enkel Brandts und Bahrs zu sein. ({1}) Europa würde seine historische Stunde, die Chance seiner Wiedergeburt verpassen, wenn der Öffnung nach Westen, die Gorbatschow betreibt, nicht eine Öffnung nach Osten als Antwort erfolgen würde. Theo Sommer sagt dazu in der „Zeit" : In der Entspannungsphase I hat die Bundesrepublik ihren Sonderkonflikt mit dem Osten beendet. In der nun anhebenden Entspannungsphase II geht es um viel mehr: um die Überwindung jenes Grundkonflikts zwischen Ost und West, der seit 1945 die Weltpolitik bestimmt hat. Er nennt das die Wende von den konfrontativen zur kooperativen Koexistenz. Kann es in der Europäischen Gemeinschaft, so frage ich, noch einen anderen Staat geben, der ein so elementares Interesse daran haben muß, daß Koexistenz aufhört, konfrontativ zu sein, und anfängt, kooperativ zu werden, wie die Bundesrepublik Deutschland? Ihre Lage in Mitteleuropa, die Teilung des Volkes und auch die Pflicht, die Interessen von Berlin ({2}) umsichtig und klug wahrzunehmen, das alles zusammengenommen und eben nicht nur ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit macht die Bundesrepublik zu dem geborenen Partner der Sowjetunion in Westeuropa, sogar zu einem Hauptpartner. „Geborene Partner" , das kann allerdings mißverständlich sein, sogar schädlich, wenn es bedeuten würde, Frankreich, Großbritannien, Italien und andere abzuhalten, mit gleicher Intensität die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu suchen. Das kann die Bundesrepublik überhaupt nicht wollen, im Gegenteil, ohne die anderen wird ihr eigener Spielraum enger. Das würde im übrigen auch gelten, wenn sich die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten wieder verschlechtern würden. Dennoch, es ist einfach nicht zu leugnen, was die elementare Interessenlage angeht, ist kaum jemand so berührt wie die Bundesrepublik. Das hat die Sowjetunion offenbar erkannt, und die Bundesregierung beginnt, danach zu handeln. Das allein - und das sage ich an die Adresse des Bundeskanzlers - und nicht seine streckenweise die Kritik geradezu herausfordernde Art und Weise des Auftretens ist der Grund, weshalb seine Moskau7298 Reise alles in allem bei der SPD mehr Beifall als Kritik gefunden hat. Hier bahnt sich ein äußerst folgenreicher politischer Konsens zwischen allen wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kräften in der Bundesrepublik an. Ein solcher Konsens kann aber nur von Dauer sein, wenn auch über fernere Ziele Klarheit besteht. Der Bundeskanzler hat in Moskau auch über die Einheit der Nation gesprochen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das hat auch der Bundespräsident, allerdings in unvergleichbarer Weise getan. Entscheidend ist, daß unser Beharren auf der Einheit der Nation in einer Form erfolgt, die jede, aber wirklich jede auch nur intellektuelle Verbindung mit jenen abenteuerlichen Spekulationen und Hoffnungen ausschließt, die manche, auch in der Partei des Bundeskanzlers, an eine Wiederbelebung deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit knüpfen. Hier könnte der Bundeskanzler gar nicht deutlich genug werden, hat es aber aus den bekannten innenpolitischen und wohl auch innerparteilichen Gründen vorgezogen, eher undeutlich zu bleiben. Wer ein klares Bild von der deutschen Zukunft vermitteln will, muß zuvor ein klares Bild von den Ursachen der europäischen Teilung haben. Die Teilung Deutschlands ist die Folge des Zweiten Weltkrieges, den die Deutschen begonnen haben, und des Auseinanderbrechens der Anti-Hitler-Koalition im Ost-WestKonflikt nach dem Zweiten Weltkrieg. Seither gehören die deutschen Staaten unterschiedlichen Bündnissen und Systemen an. Ursache und Kern der Teilung ist also nicht eine nationale Abspaltung des einen oder anderen Teils, wie es dies in der deutschen Geschichte allerdings auch häufig genug gegeben hat, sondern der überlagernde Ost-West-Konflikt und der darin eingeschlossene Antagonismus zweier Bündnisse und Systeme. Es ist deshalb Unsinn, geradezu albern, die Überwindung der Teilung als eine nationale Frage zu betrachten. Die eigentliche Frage ist, wie der Antagonismus der Bündnisse und Systeme in Europa überwunden werden kann, ({3}) und zuvor, wie Theo Sommer sagt, die Wende von der konfrontativen zur kooperativen Koexistenz gelingen kann. Damit sind wir aber wieder bei der Ausgangsfrage. Ein Europa vom Atlantik bis zum Ural, oder, was dasselbe ist, als gemeinsames Haus wird nur gelingen, wenn das Werk von beiden Seiten der Bündnis- und Systemgrenze aus in Angriff genommen wird. Ohne Zweifel können die Deutschen, in zwei Staaten geteilt, mehr zum Gelingen beitragen, wenn jeder der beiden deutschen Staaten die ihm zukommende Rolle in seinem Bündnis- und Gesellschaftssystem spielt, als wenn ein neutralisiertes Deutschland - was Gott sei Dank kaum jemand ernsthaft anstrebt - erneut in eine unglückliche, schwankende und einflußlose Lage in der Mitte gedrängt werden würde. Die Zweistaatlichkeit Deutschlands wurde in der Vergangenheit mit Recht als Unglück betrachtet, jedenfalls von uns, weil die Folgen für das Volk wie für den einzelnen einfach nicht akzeptabel waren. Aber ist es nicht an der Zeit, darüber nachzudenken, ob in der Zweistaatlichkeit in Zukunft nicht auch eine besondere europäische Chance der Deutschen liegen kann, und zwar, wenn die Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten über Bündnis- und Systemgrenzen hinweg eine beispielhafte Wirkung für Gesamteuropa hat? ({4}) Herr Rühe, warum sagen Sie das eigentlich nicht so deutlich? Warum werfen Sie an dieser Stelle immer diesen Nebel mit der deutschen Geschichte? Natürlich geht diese Geschichte weiter, aber keiner weiß von uns genau, wohin. ({5}) Wenn eines Tages Militärbündnisse in Europa überflüssig gemacht und Systemgegensätze überwunden sein werden - Herr Lintner, das auch als meine Antwort auf Ihre Frage -, dann werden wir sehen, in welchen Verhältnissen die beiden deutschen Staaten dann ihren weiteren Weg in die Geschichte gehen, vielleicht auch gemeinsam. ({6}) Aber das ist doch jetzt nicht der Punkt. Jetzt kommt es darauf an, anzufangen, Militärbündnisse überflüssig zu machen und Systemgegensätze zu überwinden. Dazu ist es eben nötig, daß jetzt die beiden deutschen Staaten so eng wie möglich zusammenarbeiten und daß man eben nicht die Existenz sich gegenseitig dauernd in Frage stellt. Wenn es um eine solche Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten geht, dann ist es gleichgültig, ob man das „privilegierte Sonderbeziehung" oder anders nennt. Wichtig ist, daß mehr und intensiver als anderswo - aber eingebettet in eine gesamteuropäische Politik - die Wende von einer konfrontativen zu einer kooperativen Koexistenz gerade im Verhältnis der beiden deutschen Staaten vollzogen wird. Deshalb sollte der Bundeskanzler möglichst bald nach seinem Besuch in der Sowjetunion einen Besuch in der DDR folgen lassen. Genauso sollte - wie Dr. Vogel das hier schon gesagt hat - sein Verteidigungsminister möglichst bald mit dem Verteidigungsminister der DDR sprechen. Wir alle aber sollten aus intellektueller Redlichkeit und politischer Klugheit gerade jetzt den Kernsatz der Ost- und Vertragspolitik wiederholen; er handelt von der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Achtung der Integrität und Souveränität aller Staaten in ihren Grenzen in Europa, aber eben auch von dem Begründungszusammenhang, der zwischen diesem Satz und unserer gemeinsamen Zielsetzung besteht, den trennenden Charakter dieser Grenzen, aller Grenzen in Europa, auch der Mauer in Berlin, zu überwinden. Damit zum Schluß ein Wort zu Berlin: Die Ausbalancierung sehr unterschiedlicher, teilweise gegensätzlicher Interessen von insgesamt sechs Staaten ist im Viermächteabkommen gelungen. Dennoch bleibt der gefundene Ausgleich empfindlich und verträgt weder eine unnötige Verleugnung eigener Standpunkte noch ein allzu forsches Draufsatteln. Das hat den Bundeskanzler nicht daran gehindert, im Vorfeld seines Moskau-Besuchs, nach dem bekannten Grundsatz zu handeln: Klappern gehört zum Handwerk. In bezug auf West-Berlin hat er so laut geklappert, daß der Verdacht aufkommt, er hätte von vornherein über den zu erwartenden mäßigen Erfolg seiner Bemühungen mit dem lautstarken Beweis seines guten Willens hinwegtäuschen wollen. Ob das aber WestBerlin genützt hat? Sicher, die seit 1972 gefundene Frank-Falin-Formel für die Einbeziehung von Berlin ({7}) in Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Sowjetunion hat sich als unzureichend herausgestellt, was die tatsächliche Berücksichtigung der Anstalten und Einrichtungen des Bundes in Berlin ({8}) angeht. Es ist also ohne Zweifel ein Fortschritt, wenn für die jetzt in Moskau unterzeichneten Abkommen die Ad-personam-Regelung mit Sternchen - Aufzählung in alphabetischer Reihenfolge und Postfach - vereinbart werden konnte. Was der Bundeskanzler nicht erreicht hat, ist, daß diese Regelung nun automatisch auch für alle künftigen Abkommen gelten kann. Auch im Flaggenstreit bei Binnenschiffen oder hinsichtlich einer vernünftigen Betreuung Westberliner Politiker in Moskau durch die Botschaft der Bundesrepublik zeichnet sich keinerlei Ergebnis ab. Das gleiche gilt für die Teilnahme Berliner Bundestagsabgeordneter bei Ausschußreisen in die Sowjetunion unter akzeptablen Bedingungen. Also: Nicht viel, was der Herr Bundeskanzler erreicht hat. Die ungelösten Probleme hat er an Herrn Genscher weitergereicht, der nun mit seinem sowjetischen Kollegen nach einem Ausweg suchen soll. Allzu leicht kann aus dem Weiterschieben von Problemen ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt werden. Deshalb werden wir uns an das halten, was der Bundeskanzler auf seiner Pressekonferenz in Moskau gesagt hat, und werden ihn zur gegebenen Zeit erinnern. Über das, was bei diesem Anlauf noch nicht lösbar war, dürfen wir nicht das aus den Augen verlieren, was jetzt lösbar ist. Die Sowjetunion und wohl auch die DDR haben verstanden, daß ein gemeinsamer Weg nach Europa Berlin ({9}) nicht ausklammern kann. Gerade Berlin ({10}) war im Kalten Krieg mehr als jede andere Stadt Ausdruck des konfrontativen Charakters des Ost-West-Verhältnisses. Jetzt muß es, wieder mehr als jede andere Stadt, seine Sicherheit, Integrität und Zukunft in der Umformung des OstWest-Konflikts zu einer gesamteuropäischen Kooperation finden. Berlin ({11}) will nicht sosehr Prüfstein, schon gar nicht Stolperstein, sondern Scharnier und Brücke zwischen der Europäischen Gemeinschaft, zu der es gehört, und den Staaten des RGW sein. Es könnte sogar eine europäische Region besonderer Art werden. Seine rechtliche und politische Verfassung ist so kompliziert, daß daran erst gerührt werden darf, wenn eine bessere Lösung einvernehmlich durchsetzbar ist. Berlin ({12}) will nicht länger nur Schaufenster des Westens nach Osten sein. Es wäre doch eine Chance - die die Sowjetunion und die DDR ergreifen sollten -, Berlin ({13}) auch zu einem Schaufenster des Ostens nach Westen zu machen. Vieles ließe sich in dem kleinen, überschaubaren Markt entwickeln, erproben, testen und vorführen, was sich auf dem größeren Europäischen Markt später durchsetzen und behaupten muß. Und das würde nicht nur in einem engen wirtschaftlichen Sinne gelten. ({14})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat Frau Geiger.

Michaela Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000649, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einige Sozialdemokraten haben in der letzten Zeit der staunenden Öffentlichkeit verkündet, die Union habe die Ostpolitik der SPD übernommen. Herr Ehmke, Sie haben das sogar als einen zentralen Vorgang bezeichnet. Das ist natürlich, gelinde gesagt, ein Etikettenschwindel, und zwar aus dreierlei Gründen. ({0}) Erstens. Die Unionsparteien waren schon immer Befürworter einer aktiven, auf Interessenausgleich und echte Verständigung angelegten Ostpolitik. Das begann schon mit dem ersten Moskau-Besuch des Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer im Jahre 1955, reicht über die Friedensnote von Bundeskanzler Professor Erhard bis hin zu den offiziellen Besuchen von Bundeskanzler Dr. Kohl in Prag, in Budapest und jetzt in Moskau. ({1}) Wir haben also keine ostpolitische Nachhilfestunde und Anleihen bei der SPD nötig. ({2}) Zweitens. Grundlage für unsere aktive Ostpolitik ist die feste Verankerung im Westen und die Abstimmung mit unseren Hauptverbündeten, vor allem mit den USA, Frankreich und Großbritannien. Eine wesentliche Voraussetzung für die guten Ergebnisse des Moskau-Besuchs war unsere Standfestigkeit in den Fragen der Außen- und der Verteidigungspolitik. Hätten CDU/CSU und FDP 1983 dem Druck von SPD, den GRÜNEN und der Friedensbewegung nachgegeben, gäbe es heute nicht die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenraketen, gäbe es kein INF-Abkommen, gäbe es vielleicht sogar auch kein neues Denken in Moskau. ({3}) Unsere Ostpolitik steht im festen Verbund mit unseren Bündnispartnern. So lag der Besuch des Kanzlers zwischen dem Moskau-Besuch des italienischen Ministerpräsidenten de Mita und dem des französischen Präsidenten Mitterand. Bundeskanzler Kohls Besuch ist somit Teil eines umfassenden und fruchtbaren Dialogs zwischen West und Ost. Der Führung im Kreml ist heute klar, daß sie nicht, wie das in der Ara Breschnew noch der Fall war, darauf bauen kann, uns mittel- oder langfristig von der westlichen Gemeinschaft abzukoppeln. Heute respektiert und akzeptiert Generalsekretär Gorbatschow unseren festen Standpunkt im Westen und spricht trotzdem vom „gebrochenen Eis". Dies ist ein ganz gravierender Unterschied zu damals. Drittens. Unsere Ostpolitik unterscheidet sich zur SPD-Ostpolitik noch um ein Weiteres. Wir sind zwar jederzeit zur Zusammenarbeit, zum Dialog und zum Interessenausgleich bereit. Aber wir lassen uns nicht durch rein verbale Deklamationen abspeisen, denen keine Taten folgen, wie das Beispiel der SPD-SEDKontakte zeigt. Wir warten nüchtern ab, bis echte konstruktive Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorhanden ist. Wir treiben eine solide, an praktischen Resultaten, nicht an unverbindlichen Nettigkeiten orientierte Politik. Die Ergebnisse der Moskau-Reise des Bundeskanzlers können sich sehen lassen. Sie bieten gute Ansätze für mehr Austausch von Menschen und Ideen und für einen umfangreicheren und einen unbefangeneren Umgang miteinander. Diese guten Ergebnisse sind von meinem Kollegen Volker Rühe und von Graf Lambsdorff ausführlich gewürdigt worden. Ich möchte deshalb nicht mehr auf Einzelheiten eingehen. Eines möchte ich aber festhalten: Wenn alles umgesetzt werden kann, was jetzt in Moskau vereinbart wurde, dann wird die Vertrauensgrundlage im deutsch-sowjetischen Verhältnis ein gutes Stück wachsen. Besuche in den Ostblockstaaten dürfen sich nicht im Symbolischen erschöpfen. Sie müssen sich für die Menschen auf beiden Seiten lohnen. Sie dürfen Probleme nicht durch Unverbindlichkeiten überdecken, sondern sie müssen sie offen anpacken und schrittweise einer Lösung zuführen. Dies hat der Bundeskanzler in Moskau und vorher schon in der CSSR und in Ungarn auf eine ganz vorbildliche Weise getan. ({4}) Das Entscheidendste und das Wichtigste an diesem Besuch ist für mich die Tatsache, daß heute zwischen Deutschen und Sowjets offen über Themen gesprochen werden kann, die früher tabu waren, z. B. alle Menschenrechtsfragen. Fast eine Sensation war es, daß der sowjetische und der deutsche Verteidigungsminister zum erstenmal zu einem freundschaftlichen und offenen Meinungsaustausch zusammentraf en und daß Minister Scholz in der sowjetischen Malinowski-Militärakademie freimütig mit den Offizieren diskutieren konnte. Das war ganz gewiß eine neue Seite im Buch der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Erfreulich ist auch, daß die sowjetische Seite erstmals bereit war, die schwierige Lage der RußlandDeutschen auf die Tagesordnung zu setzen und daß der Bundeskanzler mit Andrej Sacharow und Elena Bonner sprechen konnte. Hier zeigt sich in der Tat neues Denken. Leider klammert das neue Denken in der Sowjetunion noch eine ganze Reihe von Themen aus. Wir hoffen, daß die neue Dynamik, die der Besuch des Bundeskanzlers in die deutsch-sowjetischen Beziehungen gebracht hat, zukünftig auch hier Wirkung zeigen wird. Ich denke dabei besonders an Berlin. Herr Professor Heimann, ich denke ein wenig anders über die Sache. Die Verbesserung der deutschsowjetischen Beziehungen darf keinen Bogen um Berlin machen. Berlin bleibt der Gradmesser der Entspannung, so wie dies der Bundeskanzler gesagt hat. ({5}) Wir respektieren den besonderen Status von Berlin. Aber es berührt diesen Status nicht im mindesten und es liefe auch den Interessen der Sowjetunion nicht zuwider, wenn in einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, die vom Obersten Sowjet eingeladen wurde, ein Berliner Bundestagsabgeordneter mitreisen würde oder wenn der Regierende Bürgermeister bei einem etwaigen Besuch in der Sowjetunion von unserem Botschafter begleitet würde. Ich hoffe, daß wir bald auch hier eine befriedigende Lösung finden werden. Andrej Sacharow hat vor ein paar Tagen zum erstenmal ins westliche Ausland reisen dürfen. Er hat in den USA wörtlich gesagt, daß die sowjetischen Reformbemühungen „kein Theater für den Westen" seien. Auch wir glauben an die Ernsthaftigkeit des Reformwillens der sowjetischen Führung. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern in der EG und in der atlantischen Allianz dafür eintreten, daß alle Chancen, die der Wandlungsprozeß in der Sowjetunion bietet, wirklich wahrgenommen werden. Das darf uns aber nicht daran hindern, auch die Risiken mit ins Kalkül zu ziehen, denn noch gibt es in der Sowjetunion eine ganze Reihe von Widersprüchlichkeiten. Auch nach drei Jahren Perestroika und Glasnost fließen nach wie vor 12 bis 15 To des sowjetischen Bruttosozialprodukts in die Rüstung, und das bei einer sich eher verschlechternden Versorgungslage. Diese ist eine Hypothek, die die zügige Modernisierung der sowjetischen Volkswirtschaft ganz erheblich blockiert; es ist auch eine Hypothek, die auf Dauer die Glaubwürdigkeit der neuen sowjetischen Außenpolitik belastet. Was soll man davon halten, daß die Sowjetunion, wie erst vor wenigen Tagen wieder geschehen, den Westen pauschal auffordert, auf jegliche Modernisierung seiner Waffensysteme zu verzichten, selbst aber laufend und in großem Maßstab ihre Rüstung weiter modernisiert, worauf erst kürzlich das renommierte Londoner Internationale Institut für strategische Studien wieder hingewiesen hat? Dem Westen muß selbstverständlich erlaubt sein, die gleichen Sicherheitsstandards zu haben, wie sie der Osten für sich selbst in Anspruch nimmt. Wir hoffen und wünschen, daß die positiven Aspekte in der sowjetischen Außen- und Verteidigungspolitik die Oberhand gewinnen. Es stimmt hoffnungsvoll, daß seit diesem Jahr erstmals Fehlentwicklungen in der sowjetischen Außenpolitik zugegeben wurden. Die eigentliche Bewährungsprobe für die PeFrau Geiger restroika in der sowjetischen Außenpolitik bleibt jedoch die Bereitschaft der Sowjetunion, ihre überdimensionierte konventionell, Militärmacht auf reine Verteidigungsbedürfnisse zurückzuschrauben. ({6}) Das große konventionelle Übergewicht des Warschauer Pakts und seine Invasionsfähigkeit sind bis heute das Kernproblem der europäischen Sicherheit, wobei ich die Meinung von Volker Rühe teile, daß auch wir zu Reduzierungen bereit sein müssen. Besonders wir Deutschen sind an einem guten Arbeitsverhältnis mit der Sowjetunion interessiert. Wir werden den Dialog offen und ehrlich führen. Die Sowjetunion ist für uns keine Macht wie jede andere, und dies nicht nur wegen ihrer Bedeutung als internationale Großmacht. Die Sowjetunion ist eine der vier Mächte, die nach wie vor Verantwortung für Deutschland als Ganzes trägt, sie ist Vertragspartei des Viermächteabkommens über Berlin. Der Bundeskanzler ist in Moskau als mutiger und besonnener Anwalt unserer nationalen und europäischen Anliegen aufgetreten. Durch seine Rede im Kreml hat er unterstrichen, daß sich die Deutschen mit der widernatürlichen Situation nicht abfinden werden. Er hat aber gleichzeitig klargemacht, daß dies nicht im Widerspruch zu unseren Bemühungen um ein besseres Verhältnis zum Osten, zum Brückenschlag zwischen den Menschen diesseits und jenseits der Trennungslinie steht. Dafür möchte ich dem Bundeskanzler aus ganzem Herzen danken. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Manchmal scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Das positive Echo auf Herrn Kohls Moskaufahrt fügt sich gut in das politische Gesamtklima. Wir erleben eine zweite Entspannungszeit zwischen den Supermächten, und nach und nach normalisieren sich auch die Beziehungen der anderen Staaten aus den beiden Blöcken. Wir sind erleichtert, daß wir die dramatische, streckenweise beängstigende Konfrontation der frühen 80er Jahre unbeschadet überstanden haben. Vor ungefähr 15 Jahren herrschte hierzulande schon einmal eine ganz ähnliche Stimmung. Die Beziehungen der Großmächte entwickelten sich rasch, regionale Konflikte wie der Vietnamkrieg wurden beigelegt, eine Fülle von Verträgen zwischen den USA und der UdSSR geschlossen, Abrüstungsverhandlungen zu vielen Themen wurden damals eingeleitet. Die Sache hatte allerdings schon damals einen Haken: Mitten in der Entspannungszeit wurden bereits die nächsten Konfrontationen vorbereitet, und zwar durch systematische Steigerungen der Rüstungsanstrengungen. Der Militärhaushalt der Bundesrepublik ist nie so drastisch gewachsen, die Zahl der Atomwaffen ist nie so rasch erhöht und zugleich ihre Modernisierung so zielsicher vorangetrieben worden wie damals in der Entspannungsphase. Heute erleben wir etwas ganz Ähnliches. Wir freuen uns hier über Verbesserungen im Ost-West-Verhältnis, und inzwischen geht das Wettrüsten in aller Stille - bis jetzt noch - in die nächste Runde. Wir wollen das gar nicht so recht wahrhaben; es ist störend davon zu reden - aber die Tatsachen sind so. Der Harmel-Bericht, die strategische Grundlage der NATO-Politik, benennt auf dem Papier zwei zentrale Aufgaben der Allianz: die Sicherung der militärischen Abschreckung und die Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die NATO hat sich entschieden, auch in Zukunft die erste dieser zwei Säulen, nämlich die Abschreckung, als ihre Hauptaufgabe anzusehen. Auch in Zukunft wird die NATO die militärische Aufrüstung in den Mittelpunkt stellen und Rüstungskontrollverhandlungen nur nebenher betreiben. Der Zweck dieser Rüstungskontrollverhandlungen ist nicht etwa Abrüstung - Gott bewahre! - , ein umfassendes Modernisierungsprogramm, Restrukturierung genannt, aller Waffensysteme hat die NATO vor und längst beschlossen. Von diesem Modernisierungsprogramm darf durch Verhandlungen kein einziges Stück in Frage gestellt werden. So sieht das Ergebnis aus, das sich bei den NATO-Gesprächen über das sogenannte Gesamtkonzept für Abrüstung und Rüstungskontrolle ergeben hat. Die nackten Tatsachen sind entsprechend: Der Verteidigungshaushalt wird dieses Jahr um 2 Milliarden DM erhöht, der Jäger 90 wird nun doch durchgesetzt - als ob wir nicht schon zu viele dieser Kampfflugzeuge hätten - , das Infrastrukturprogramm der NATO wird um ein Viertel erhöht - Erhöhung um ein Viertel, das ist der Beitrag der NATO zum Entspannungsprozeß. Auch bei den Atomwaffen geht es nicht mehr um Abrüstung. sondern um Modernisierung. Das Programm zur Beschaffung neuer, modernisierter Atomwaffen für Europa - Mittelstreckenwaffen, luftgestützte Cruise Missiles - geht in der NATO planmäßig voran. Die Bundesregierung hat dabei bisher jedem Schritt zugestimmt. Sie sagt zwar, es bestehe kein Entscheidungsbedarf, aber sie verschweigt noch immer, daß die im INF-Vertrag beschlossene Abrüstung - neben den Pershing II und Cruise Missiles - die Sprengköpfe nicht beinhaltet, daß also diese Sprengköpfe wieder zurückkommen werden. Wir wollen Entspannung, wir wollen Versöhnung mit der Sowjetunion und den Völkern Osteuropas. Wir wollen enge politische, kulturelle und auch wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ihnen. Das Wettrüsten aber wollen wir nicht. Die Fortschritte sind erfreulich, die im Augenblick im Ost-West-Verhältnis eintreten. Vergessen wir aber nie, daß dies nicht der Einsicht des Westens, sondern der neuen Politik Gorbatschows zu verdanken ist. Die NATO untergräbt durch ihren militärisch-bornierten Aufrüstungswahnsinn die Grundlagen dafür, daß die Beziehungen in Europa nicht nur für kurze Zeit, sondern auf Dauer besser werden. Man kann nicht auf Dauer von Entspannung reden und gleichzeitig immer neue, immer modernere Waffen entlang der Grenze aufstellen. Es wird höchste Zeit, daß der Politik des Wettrüstens ein Ende gemacht wird. Abrü7302 stung ist nötig, und sie ist gerade in diesem Moment auch möglich. Man muß sie wollen. Fangen wir mit der Abrüstung bei uns selber an, hier in unserem eigenen Land. Ich möchte Sie bitten, zu überlegen, wohin der Spagat der Bundesregierung, nämlich auf der einen Seite wirtschaftliche Kooperationen im atomaren oder in anderen Bereichen und auf der anderen Seite die verschwiegene Aufrüstung, führt - und zu welchen Komplikationen, zu welcher Zuspitzung und Gefährdung für alle, nicht nur für die Bundesrepublik, dies führen kann. Vielen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Besuch in Moskau hat uns einen wichtigen Schritt vorangebracht; das ist ein Meilenstein in der Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. In der Vorbereitung des Besuchs von Generalsekretär Gorbatschow hier in der Bundesrepublik werden wir dem neu geöffneten Kapitel weitere Substanz geben. Wir sind uns alle bewußt, daß die Resonanz, die der Besuch in Moskau in der Weltöffentlichkeit gefunden hat, das Gewicht unterstreicht, das international dem deutsch-sowjetischen Verhältnis gegeben wird; das bedeutet Verantwortung. Für die Bundesregierung war dieser Besuch Ausdruck ihres Willens, Vertrauen zu schaffen und auf dieser Grundlage Zusammenarbeit in allen Bereichen als das zentrale Element zur Gestaltung der West-OstBeziehungen einzusetzen. Wir haben festgestellt, Generalsekretär Gorbatschow teilt diese Zielvorstellung. Die starke Dynamik, die unsere Beziehung in der jüngsten Zeit kennzeichnet, verpflichtet uns, das Begonnene entschieden fortzusetzen. Das gemeinsame Dokument, das bis zu dem Besuch des Generalsekretärs Gorbatschow im kommenden Jahr erarbeitet werden wird, wird Substanz und Perspektiven der deutschsowjetischen Beziehungen und Zusammenarbeit definieren und zugleich unsere Beiträge zur Annäherung zwischen West und Ost beschreiben. Diesem Dokument wird von beiden Seiten erhebliche Bedeutung zugemessen. Wachsendes Vertrauen und die umfassende Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit auf allen Ebenen eröffnen große Möglichkeiten. Es ist zutreffend und keineswegs übertrieben, wenn von der zentralen oder auch von der Schlüsselrolle der deutsch-sowjetischen Beziehungen gesprochen wird. Das deutsch-sowjetische Verhältnis hat Bedeutung für unsere beiden Staaten, für die Lage in Europa und für das West-Ost-Verhältnis im Guten wie im Schlechten. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen haben seit jeher ihre Wirkungen über das bilaterale Verhältnis hinaus entfaltet. Wir haben mit dem Moskauer Vertrag aufbauend auf den Erfahrungen unserer gemeinsamen Geschichte die Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit geschaffen. Der Moskauer Vertrag wiederum öffnete den Weg für den Warschauer Vertrag, den Vertrag mit der CSSR, den Grundlagenvertrag mit der DDR und für das Viermächteabkommen für Berlin. Er hat schließlich den Weg freigemacht für die Schlußakte von Helsinki und den darauf bauenden KSZE-Prozeß. Der mit dem Moskauer Vertrag eingeleitete Weg hat sich allen Rückschlägen und allen Perioden des Stillstands zum Trotz als tragfähig und übrigens als der einzig mögliche erwiesen. Auch das unterstreicht die Schlüsselrolle der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die Entwicklung der West-Ost-Beziehungen heute eröffnet Aussichten auf einen grundlegenden Wandel, vor allen Dingen auf den Abbau von Konfrontation und für eine Kooperation in allen Bereichen. Dabei haben wir keine Berührungsängste. Wir sollten sie gerade in einer Zeit nicht haben, in der die Attraktivität unserer Gesellschaftsordnung eine immer größere Anziehungskraft ausübt, in einer Zeit, in der Politik und Wissenschaft in der Sowjetunion mit großem Ernst unsere Erfahrungen studieren, um herauszufinden, was im Rahmen der Ordnung, die sie sich gegeben haben, daraus abgeleitet werden kann. Nicht Kooperation ist eine Gefahr für Stabilität und Frieden, sondern fortdauernde Konfrontation wäre es. ({0}) Mit ihrer Öffnung nach innen und außen hat die Sowjetunion eine grundlegende Reform begonnen - Gorbatschow selbst spricht von einem revolutionären Prozeß - , eine Reform, die sowohl ihre politischen als auch gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Verhältnisse umgestalten soll. Meine Damen und Herren, in einem solchen Entwicklungsprozeß sind wir offen für eine Begegnung der Außenminister der Organisation der westlichen Demokratien mit den Außenministern der Organisationen - ich meine sowohl den Warschauer Pakt wie den RGW - der sozialistischen Staaten. Wir sehen in einer systemöffnenden Zusammenarbeit die Chance für die Schaffung einer europäischen Friedensordnung. Frau Kollegin, dieses Ziel ist das übergeordnete Ziel des Harmel-Berichts von 1967. Damals nämlich, 1967, hat das westliche Bündnis mit der Forderung nach einer europäischen Friedensordnung ein Angebot gemacht, das erst jetzt in der Vision Gorbatschows von dem gemeinsamen europäischen Haus eine konstruktive, von uns zu nutzende Antwort gefunden hat. ({1}) Beiden Visionen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Europa vom Atlantik bis zum Ural reicht, daß dieses Europa zusammengehört und daß die Menschen in diesem Europa eine tiefe Sehnsucht nach Frieden haben. Beiden Visionen muß auch die Ansicht zugrunde liegen, daß die Schlußakte von Helsinki die Kursbestimmung für eine Friedensordnung ist, in der Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung im friedlichen Wettbewerb miteinander leben können. Deshalb, Herr Kollege Schily, kann eine immer stärkere Annäherung der Demokratien in der Europäischen Gemeinschaft dann nicht ein Hindernis für systemöffnende Zusammenarbeit sein, wenn gerade wir und alle unsere Partner für Öffnung sind und unsere Einigung in der Europäischen Gemeinschaft zugleich als ein Angebot für Zusammenarbeit mit den anderen Staaten im ganzen Europa verstehen, seien es die EFTA-Staaten oder die Mitgliedstaaten des RGW.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Beer?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Nein, ich möchte nicht, weil ich die Debatte nicht verlängern möchte, Frau Kollegin. Wir werden sicher noch Gelegenheit haben, darüber zu reden. Wenn wir heute darangehen, die Architektur des künftigen Europas zu bestimmen, dann erweist sich darin auch die Lebenskraft der Identität, der unteilbaren europäischen Identität. Sie ist stärker als Ideologien, sie gründet sich auf gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur, zu der alle Völker beigetragen haben und weiter beitragen sollen - ich stimme dem zu, was Sie über Vielfalt gesagt haben, Herr Kollege Schily -, und sie gründet sich auf das Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft unseres Kontinents. Weder die unterschiedlichen politischen Systeme noch die Perioden des Kalten Krieges, noch militärische Konfrontation, auch nicht die beiden Paktsysteme, die sich hochgerüstet gegenüberstehen, ja nicht einmal Jahrzehnte der Trennung haben aus einem Europa zwei gemacht und übrigens nicht aus einer deutschen Nation zwei deutsche Nationen. Im Gegenteil: Das Bewußtsein unserer europäischen Identität wird immer stärker. Je deutlicher wir Deutschen die Sache des Friedens in Europa zu unserer eigenen Sache machen, um so mehr dienen wir auch unserem nationalen Interesse. Nicht eine neue Wirsind-wieder-wer-Mentalität, sondern unsere Verantwortung in und für Europa wird und muß unsere Politik auch in Zukunft bestimmen. Es ist gewiß keine Anmaßung und keine Überheblichkeit, sondern tief begründete Einsicht in unsere geschichtliche Aufgabe, wenn wir Deutschen Vertrauensbildung zwischen West und Ost gerade als unsere Sache begreifen. Die Völker der Sowjetunion, unsere polnischen Nachbarn, unsere Nachbarn in der CSSR blicken mit ihren geschichtlichen Erfahrungen auf uns, auf die Deutschen, wenn sie danach fragen, wie ernst es der Westen mit dem Frieden meint. Die Frage nach ihrer Sicherheit richtet sich in erster Linie an uns und nicht an unsere Verbündeten, von denen die meisten im Kampf gegen Hitler-Deutschland an ihrer Seite gestanden haben. Deshalb ist es unsere Aufgabe, für die Brücke neuen Vertrauens den Hauptpfeiler zu bilden. Unser Bemühen, das Bemühen der Bundesrepublik Deutschland, mit der Sowjetunion ein Verhältnis guter und verläßlicher Partnerschaft herzustellen, gibt deshalb auch wirklich niemandem im Westen Anlaß zu Mißtrauen. Es hat wahrlich ganz andere Ziele deutscher Politik in diesem Jahrhundert gegeben als das Bemühen um gute Nachbarschaft mit allen Europäern. Herr Präsident, wir haben hier in der Bundesrepublik Deutschland durch unsere Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien von der am 8. Mai 1945 wiedergewonnenen Freiheit verantwortlichen Gebrauch gemacht, und das ist eine tiefgreifende Verbindung, die Verbindung der Werte. Die Festigung der Gemeinschaft der westlichen Demokratien, die Schaffung der Europäischen Politischen Union einerseits und das Streben nach Überwindung der Trennung Europas andererseits durch eine europäische Friedensordnung sind doch keine sich widersprechenden, ja es sind in meiner Überzeugung nicht einmal konkurrierende Ziele, von denen das eine nur zum Schaden des anderen verfolgt werden könnte. Beide Zielsetzungen haben ihren Ursprung in unserer gemeinsamen europäischen Geschichte. Sie akzeptieren, daß eine Friedensordnung es ertragen muß, daß in ihr auch unterschiedliche gesellschaftliche Systeme vorhanden sind, wenngleich wir alles daransetzen werden, daß durch die Verwirklichung der Werte, die in der Schlußakte von Helsinki niedergelegt sind, so viel wie möglich Schritt für Schritt an Menschenrechten, Freizügigkeit, individueller Entfaltungsmöglichkeit im ganzen Europa durchgesetzt werden kann. In den guten und herzlichen Wünschen für den neuen amerikanischen Präsidenten ist die Werteverbindung der europäischen Demokratien mit den nordamerikanischen Demokratien gerade wieder deutlich zum Ausdruck gekommen. Aber ich fand es auch eine große Ermutigung, daß es schon am Tag nach der Wahl zu einem Austausch von Botschaften des guten Willens zwischen dem ersten Mann der Sowjetunion und dem künftigen ersten Mann der Vereinigten Staaten gekommen ist. Wir sollten nicht falsche Gleichungen aufmachen. Wir sollten nicht befürchten, daß Verbesserungen im West-Ost-Verhältnis zu Verschlechterungen im WestWest-Verhältnis führen müssen oder umgekehrt; sondern wir sollten auf der einen Seite erkennen, was uns an Werten verbindet, und auf der anderen Seite erkennen, was uns an Verantwortung verbindet, um das Überleben der Europäer in West und Ost sicherzustellen. Die Gemeinschaft der Werte führt die Staaten der Europäischen Gemeinschaft über das hinaus, was man als Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet. Das ist eine ganz andere Dimension. Aber die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft bedeutet doch nicht die Abkehr ihrer Mitglieder von dem Teil Europas, der nördlich, der südlich, der östlich der Grenzen der Europäischen Gemeinschaft liegt, so wie im übrigen unsere immer enger werdende deutsch-französische Zusammenarbeit sich nicht gegen, sondern für das ganze Europa auswirken soll. Die Europäische Gemeinschaft ist nicht das ganze Europa. Deshalb gehören zu ihrem Selbstverständnis Offenheit, Abbau von Trennung und Wille zur Zusammenarbeit. Um das Wirklichkeit werden zu lassen, dafür können, wie der Bundeskanzler heute erwähnt hat, durchaus Zusammenkünfte auch der Außenminister der beiden Gemeinschaften - EG auf der einen Seite, RGW auf der anderen Seite - nützlich sein. Die Interdependenz zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den EFTA-Staaten, aber auch zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den europäischen Mitgliedern des RGW ist im Grund viel weiter fortgeschritten, als vielen in West und Ost bewußt ist. Ich meine das keineswegs nur in einem ökonomischen Sinn. Es gilt in gleicher Weise für den grenzüberschreitenden Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und für die Erhaltung des Friedens. Diese wechselseitige Abhängigkeit in einem guten Sinn enthält ein Entwicklungspotential für das ganze Europa, das bei entschlossener Nutzung durch West und Ost eine grundlegende Änderung der Lage in Europa bewirken kann. Deshalb müssen wir Anwälte einer solchen Entwicklung sein. Eine solche durchgreifende Änderung der WestOst-Beziehungen wäre nicht möglich ohne grundlegende Reformen in der Sowjetunion, wie sie mit den Worten Glasnost und Perestroika zur Öffnung nach innen und außen führen sollen. Niemand kann heute noch bestreiten - und es bestreitet auch niemand mehr - , daß eine Sowjetunion, die sich nach innen und nach außen öffnet, für uns ein besserer, ein berechenbarerer Partner als eine Sowjetunion ist, die sich nach außen abschließt und nach innen verhärtet. Die von der neuen sowjetischen Führung in Angriff genommene Politik liegt also auch in unserem Interesse. Deshalb wollen wir den Erfolg dieser Politik. Und deswegen werden wir diesen Erfolg nicht behindern, sondern wir sind dafür, ihn in Übereinstimmung mit unseren Interessen zu fördern. ({0}) Ich muß Ihnen sagen: Um so verwunderlicher ist es, und es zeugt eigentlich auch nicht gerade von demokratischem und freiheitlichem Selbstbewußtsein, daß es derzeit Stimmen gibt - man hört sie gelegentlich immer wieder - , die Generalsekretär Gorbatschow als gefährlicher als seine Vorgänger ansehen. Meine Damen und Herren, Demokratien brauchen aus ihrem Selbstverständnis heraus keine Feindbilder, sondern Feindbilder widersprechen ihrem Selbstverständnis. ({1}) Es wäre im übrigen schlecht um die westlichen Demokratien bestellt, wenn sie für ihren Zusammenhalt die Angst vor der Sowjetunion brauchten. Die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen auf der Grundlage des Moskauer Vertrages dient dem ganzen Europa. Dabei ist offenkundig, daß wir mit der Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Voraussetzungen schaffen für durchgreifende Fortschritte bei der Abrüstung. Wer Europa als Ganzes begreift, wer die Trennung des Kontinents - und das zu Recht - beklagt, der muß jeden Schritt zum Abbau des Trennenden wollen, der muß wollen, daß Konfrontation durch Kooperation abgelöst wird, der kann auch nicht die wirtschaftliche und technologische Spaltung unseres Kontinents wollen. Das verlangt, daß die Beschränkungen des wirtschaftlichen und technologischen Austausches auf das wirklich unverzichtbare Mindestmaß reduziert werden - aber das übrigens auf beiden Seiten, meine Damen und Herren. Auf westlicher Seite dürfen Vorstellungen keinen Platz haben, die die unbezweifelbare wirtschaftliche und technologische Stärke des Westens als Machtmittel gegen unsere östlichen Nachbarn einsetzen wollen. Unsere wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten sind ein Angebot zur Zusammenarbeit, zu gleichberechtigter Zusammenarbeit und zu beiderseitigem Vorteil. Die im System der sozialistischen Staaten begründeten Probleme, die allerdings können diese Staaten nur selbst lösen. Das können wir nicht. Die Erfahrung zeigt: Je ausgeglichener der Entwicklungsstand, desto einfacher, desto größer der Austausch, desto größer auch das Interesse an der Erhaltung stabiler und friedlicher Rahmenbedingungen. Die Qualität der wirtschaftlichen Beziehungen hat auch außenpolitische und sicherheitspolitische Bedeutung. Sicherheitspolitisch, meine Damen und Herren, geht es jetzt darum, alle Möglichkeiten von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu nutzen und über das Netz der Abschreckung, das Auffangnetz der Ultima ratio, der letzten Vernunft, ein zusätzliches Netz von neuen, kooperativen Strukturen militärischer Sicherheit zu spannen und damit die Risiken zu reduzieren, die sich bei einer ausschließlichen Abstützung auf Abschreckung ergeben würden. Es gibt heute schon solche kooperativen Strukturen. Dazu gehören die vertrauensbildenden Maßnahmen der Schlußakte von Helsinki, die Vereinbarungen der Stockholmer Abrüstungskonferenz, mehrere bilaterale Vereinbarungen der USA und der Sowjetunion. Der ABM-Vertrag gehört dabei zu den wichtigsten. Es geht letztlich um die Schaffung einer neuen Qualität von Sicherheit auf der Grundlage kooperativer Sicherheitsstrukturen. Die westlichen Vorstellungen von der konventionellen Abrüstung werden diese Strukturen weiter konkretisieren und ausbauen. Autonome Sicherheitsanstrengungen allein reichen im Nuklearzeitalter nicht aus. ({2}) Es geht dabei um mehr und nicht weniger Sicherheit. Dem würde es widersprechen, wenn Abrüstung an einer Stelle durch neue Rüstung an anderer Stelle kompensiert werden sollte. ({3}) Abrüstung und Rüstungskontrolle sind für uns im Atlantischen Bündnis integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik. Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß unbegrenzte Rüstung nicht unbegrenzte Sicherheit schafft, daß aber aus ausgewogener und beiderseitiger Abrüstung zusätzliche Sicherheit gewonnen werden kann. Meine Damen und Herren, zu den integralen Bestandteilen der Sicherheitspolitik gehören aber natürlich auch, Frau Kollegin, unsere Verteidigungsanstrengungen, zu denen die Soldaten unserer Bundeswehr ihren friedenssichernden Beitrag leisten. Die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee in einer demokratischen Gesellschaft wird nicht zum Denken in Feindbildern erzogen. Feindbilder sind ihr so wesensfremd, wie sie einer freiheitlichen Gesellschaft wesensfremd sind. ({4}) - Ja, das ist so. Ganz gewiß, meine Damen und Herren -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, Sie müßten mal eben auf das Licht neben Ihnen gucken. Sie wissen, daß ich jetzt schon übermäßig großzügig gewesen bin. Ich darf Ihnen zwar nicht das Wort entziehen. Das steht in der Geschäftsordnung, in der Verfassung. Aber ich darf Ihnen sagen, wie spät es ist. ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident, vielleicht erlauben Sie mir, noch wenige Gedanken auszuführen und die rote Farbe hier zu übersehen. ({0}) Ganz gewiß, meine Damen und Herren, könnten Begegnungen der Soldaten von beiden Seiten vertrauensbildend wirken. Unsere verantwortliche Politik der aktiven Friedenssicherung stellt den Friedensdienst unserer Soldaten nicht in Frage. Wohl aber würde die Weigerung, Möglichkeiten von sicherheitsbildender Abrüstung zu nutzen, den sicherheitspolitischen Mindestkonsens in Frage stellen können, der gerade für eine Demokratie mit Wehrpflichtarmee besonders wichtig ist. Deshalb brauchen wir keine Brandmauern gegen neue Abrüstungsbereiche, sondern eine Brandmauer der Vernunft und der Verantwortung gegen einen neuen Rüstungswettlauf. ({1}) Deshalb wollen wir entsprechend den Beschlüssen von Reykjavik unser Abrüstungskonzept erarbeiten. Deshalb halten wir es für dringend geboten, daß, wie bei der NATO-Außenministertagung in Reykjavik im Frühjahr 1987 vorgesehen, die Verhandlungsposition für die nuklearen Kurzstreckenraketen erarbeitet wird. Deshalb unterstützen wir die Bemühungen der Großmächte um eine 50%ige Reduzierung ihrer strategischen Potentiale. ({2}) Deshalb halten wir die konventionelle Abrüstung und die Verhandlungen darüber für ein zentrales Ziel. Ich kann nur hoffen, daß die Widerstände, die es derzeit in Wien noch gibt, überwunden werden können. Hier ist von verschiedenen Rednern, meine Damen und Herren, auf die Menschenrechtskonferenz in Moskau verwiesen worden. Als die Konferenz in Wien eröffnet wurde, habe ich mich damals im Prinzip positiv geäußert und zum Ausdruck gebracht: Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, werden wir dafür eintreten. Es wird eine Menschenrechtskonferenz in Paris geben. Es wird eine Menschenrechtskonferenz in Kopenhagen geben. Wenn die in Moskau denselben Standards an Zugang, Berichterstattung und Freiheit folgt, warum denn eigentlich nicht? ({3}) Sollte es nicht unser Interesse sein, möglich zu machen, daß in Freiheit und ungehindert gerade in Moskau über Menschenrechte diskutiert wird? ({4}) Darum geht es. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, appelliere ich an alle Teilnehmer der Wiener Konferenz, mit uns zusammen zum Abschluß dieser Konferenz zu kommen und den Weg für die Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung freizumachen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch am 20. Oktober, nur wenige Tage vor Abreise des Bundeskanzlers und seines umfangreichen Trosses nach Moskau, hat der Generalsekretär der CDU das bevorstehende Ereignis in den historischen Adelsstand erhoben und den geschichtlichen Bogen zu den Moskau-Reisen Adenauers von 1955 und Willy Brandts von 1970 geschlagen. Entsprechend hoch mußte er auch die Meßlatte für den Erfolg der Visite legen. Geißler erwartete „Fortschritte in der Berlin-Politik", „Fortschritte in der Deutschlandpolitik", „Fortschritte in der Abrüstung" und „Fortschritte bei den Menschenrechten". Während der Reise wurden dann schon kleinere Brötchen gebacken, und am Ende beklatschten die Regierungsparteien vor allem atmosphärische Verbesserungen im deutsch-sowjetischen Verhältnis und haben das auch heute hier wieder getan. Ernüchterung war allenthalben spürbar, und sie läßt sich auch nicht dadurch überspielen, daß man greifbare Ergebnisse einfach auf den Gegenbesuch Gorbatschows im nächsten Jahr vertagt und behauptet, beide Visiten müsse man schließlich als Einheit betrachten. Nun ist Atmosphäre auch etwas, und jeder Mensch in unserem Lande wird es begrüßt haben, daß zwischen Kohl und Gorbatschow endlich Gesprächsfähigkeit hergestellt wurde. Doch jeder konnte auch beobachten, wie schwierig es war, Probleme zu überwinden, die der Kanzler Kohl mit seinem zumindest bisher notorisch gestörten Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn und mit seinen unsäglichen historischen Vergleichen selber im Gepäck mitgebracht hatte. Kein Wunder, daß dann kleinste atmosphärische Fortschritte schon enthusiastisch gefeiert wurden. Selbsternannte politische Meteorologen griffen sogar zum Mittel einer fragwürdigen Übersetzung, um aus der Andeutung einer Vorfrühlingsstimmung, die das Gorbatschow-Wort vom „led tronulsja", also dem „Anrühren des Eises" bezeichnet, flugs ein Brechen des Eises mit frühsommerlichen Begleittemperaturen zu konstruieren. Alle ließen sich nicht mitreißen von solcher Euphorie. So nannte Christian Schmidt-Häuer in der „Zeit" das Verhalten des Generalsekretärs gegenüber dem deutschen Gast „eher harsch als huldvoll" . ({0}) - Das ist eine Formulierung des „Zeit" -Korrespondenten gewesen. - Es ließ sich auch schwer übersehen, daß Gorbatschow in seiner Tischrede gleich vier Opponenten und Konkurrenten des Kanzlers, nämlich Brandt, Genscher, Späth und Rau, namentlich und demonstrativ lobte. Da bot sich der Vergleich zu dem warmherzigen Empfang des italienischen Ministerpräsidenten Ciriaco de Mita in Moskau an, den der sowjetische Generalsekretär zehn Tage vorher auch mit vier Namen geschmückt hatte, als er von der sowjetischen Verehrung für Dante, Petrarca, Mazzini und Garibaldi sprach. Hier liegen noch atmosphärische Welten dazwischen, und der Bundeskanzler muß das wohl auch gespürt haben, wenn er sich etwa bescheiden daran freute, daß - wie er wörtlich erklärt hat - die Gespräche in „europäisch kultivierter Weise " verlaufen seien. Nein, auch bei der vielgelobten Atmosphäre läßt sich beim besten Willen nicht mehr feststellen als jener „Startschuß zur Normalität", den die „Stuttgarter Zeitung" nüchtern zu vernehmen meinte. Daß die Frage des Endes von Eiszeiten im Echo auf die Reise des Bundeskanzlers eine solch herausragende Rolle gespielt hat, liegt an der Dürftigkeit der tatsächlich greifbaren Ergebnisse. Gewiß, es wurden sechs lange vorbereitete Regierungsabkommen und etwa 30 Wirtschaftsvereinbarungen unterzeichnet. Aber Fortschritte in der Berlin-Politik ({1}) - ich messe das ja an den Worten Ihres eigenen Generalsekretärs; hören Sie doch mal zu -, in der Deutschlandpolitik, bei der Abrüstung, wie sie Heiner Geißler ankündigte, hat es nicht gegeben. Darüber hat auch Hans-Jochen Vogel hier bereits gesprochen. ({2}) Und selbst da, wo eilig ein Erfolg dieses Besuches reklamiert wurde, nämlich bei der Frage der Menschenrechte, sah hinterher alles etwas anders aus. ({3}) - Das sage ich ja gerade: Sowjetische Sprecher mußten die frohe Botschaft von der Freilassung aller politischen Häftlinge korrigieren: Erstens sei dies keine neue Zusage - die hatte Schewardnadse nämlich schon vier Wochen vorher gemacht ({4}) und zweitens - jetzt hören Sie mal zu - beziehe sie sich auf gerade elf Sowjetbürger, die nach den §§ 70 und 190 der sowjetischen Strafprozeßordnung wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda sowie Verleumdung der sowjetischen Staatsordnung inhaftiert seien. In der Tat ist ja in den letzten Monaten, was die Bürger- und Freiheitsrechte angeht, unter der Devise von Glasnost, Demokratisierung und Entwicklung einer sozialistischen Rechtsstaatlichkeit in Moskau vieles in Bewegung gekommen. Hätte man da gerade von dem Bundeskanzler und Vorsitzenden der CDU als Vertreter einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, weltweit an vorderster Stelle für Menschenrechte zu streiten, nicht wenigstens erwarten können, daß er sich vorher über den Sachverhalt informiert? Weiß der Bundeskanzler eigentlich, daß amnesty international als Gefangenenhilfsorganisation, die übrigens diese positive Entwicklung in Moskau sehr wohl registriert hat, noch immer 140 gewaltlose politische Gefangene in der Sowjetunion betreut, von denen aber nur einer im Gefängnis sitzt, während elf in Besserungs-Arbeits-Lagern gehalten werden, andere ihr Leben in der Verbannung und in Lagern verbringen müssen - unter ihnen besonders Anhänger religiöser Gemeinschaften und Kriegsdienstverweigerer - und schließlich ein Großteil zu Arbeiten auf Staatsbaustellen verpflichtet ist? Gerade weil man hier bei sorgfältigem Umgang mit dieser sensiblen Materie wirklich hilfreich hätte sein können, gerade weil es doch jetzt darauf ankäme, nicht durch spektakuläre und dann wie Seifenblasen platzende Ankündigungen eigene Erfolge zu reklamieren, sondern ohne die Scheinwerfer der Offentlichkeit den hoffnungsreichen Wandlungsprozeß bei den Menschenrechten in Osteuropa zu ermutigen, gerade deshalb überzeugt dieser Teil der Mitbringsel aus Moskau in keiner Weise. Das hindert niemanden und schon gar nicht die Sozialdemokraten daran, es zu begrüßen, daß jetzt die bundesdeutschen Einwände gegen eine Menschenrechtskonferenz in der Folge des KSZE-Prozesses abgeräumt werden. ({5}) Insgesamt hat es dem Bundeskanzler an Mut gefehlt, die Gunst der Stunde zu nutzen, um in Moskau eigene deutsche Positionen zu vertreten und mit dem sowjetischen Generalsekretär zu beraten. Warum hat er nicht in Moskau einmal deutsche Gedanken zur konventionellen Abrüstung vorgetragen? Warum hat er nicht klargestellt, daß sich die Bundesrepublik an keinerlei technischer Umgehung des INF-Abkommens beteiligen wird? Warum hat er nicht, wie Staatspräsident Mitterrand es kürzlich tat, eigene konstruktive Ideen zu Gorbatschows Vorschlag von einem „europäischen Reykjavik" vorgetragen, statt, wie er es auch heute im Plenum wiederholt hat, auf weitere, so wörtlich, sowjetische Erläuterungen zu warten? Warum hatte er nicht einmal eine deutliche Absage an unnötige Handelsembargos gegenüber der Sowjetunion im Gepäck und keinerlei Vorschläge, wie angesichts des bevorstehenden westeuropäischen Binnenmarktes die wirtschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa konkret gestaltet werden können? Vielleicht werden Sie und wir in wenigen Wochen noch einmal an diese verpaßten Chancen erinnert, wenn der französische Staatspräsident nach Moskau fährt und dann Vergleichsmöglichkeiten bestehen werden. ({6}) - Das kann sein. Wir werden ja sehen, was für Ergebnisse dabei herauskommen. Es kann sein, daß dem Bundeskanzler auch deshalb dieser Mut gefehlt hat, weil in seiner Partei der Weg zu einem wirklich neuen Kapitel der deutsch-sowjetischen Beziehungen noch nicht geebnet ist. Wie ist es sonst zu erklären, daß Verteidigungsminister Scholz, der in Moskau scharfe Töne vermieden hat, nur wenige Tage später bei einer CDU-Versammlung in Fellbach wieder kräftig vom Leder zog? Da ist so etwas wie ein zoologisches Phänomen passiert: Aus einem freundlichen Teddy ist über Nacht wieder der allbekannte dräuende Grizzly geworden. Da hieß es auf einmal, Gorbatschow strebe mit seinem Werben für ein „gesamteuropäisches Haus", ein Begriff, den der Herr Bundeskanzler in Moskau und auch heute hier wieder durchaus für akzeptabel erklärt hat, die - wörtlich - „Vorherrschaft in Europa" an. Da brachten auf einmal Warnungen, die - so wörtlich - „Gefahr aus dem Osten" nicht zu unterschätzen, Stimmung in den Saal, ebenso wie Absagen an - wörtlich - „vorauseilendes westliches Entgegenkommen" und -ebenfalls wörtlich - „weitere einseitige Vorleistungen " Diese Melodie, meine Damen und Herren, besonders von dieser Seite des Hauses, kennen wir, und wir bedauern, daß durch solche Auftritte der Eindruck entstehen kann, daß diese Regierung vor eigenem Publikum nicht zu den Einsichten, Ansichten und Erklärungen steht, die sie auf internationalem Parkett verlautbaren läßt. Hier offenbart sich noch ein großer Bedarf an Nacharbeit für den Bundeskanzler in seiner eigenen Umgebung und in seiner eigenen Partei. Da muß jetzt das anfangen, was er heute hier als Ziel formuliert hat, die Grundsanierung des Ost-West-Verhältnisses. Das muß in der eigenen Umgebung anfangen. Selbst die bescheidenen atmosphärischen Fortschritte, die bei der Reise aus Moskau mitgebracht worden sind, und die dürftigen - ich wiederhole es - Ergebnisse in der Sache wird diese Regierung jetzt zu Hause noch durch besondere Anstrengungen absichern müssen. Herr Minister Scholz, Sie haben dazu in Fellbach keinen guten Anfang gemacht. Dabei wäre ein Anknüpfungspunkt in der Sache durchaus gegeben. Wir haben mit großem Interesse gelesen, was Sie in Moskau über gegenseitige Sicherheit gesagt haben. Wörtlich haben Sie vor der Malinowski-Militärakademie ausgeführt: Für die künftige Gestaltung der Ost-West-Beziehungen kann ich mir ein Konzept gegenseitiger Sicherheit vorstellen. Ein solches Konzept verlangt von jeder Seite die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit einzuräumen. Es verlangt den überzeugenden Verzicht, politische Probleme mit militärischen Mitteln lösen zu wollen. Sie kommen dann auf weitere Kennzeichen dieses Konzepts, auf ein Gleichgewicht der beiderseitig gesicherten Verteidigungsfähigkeit, auf vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Entspannung und Abrüstung als Voraussetzung. Wir haben gestern ein Gespräch im Verteidigungsausschuß darüber gehabt. Es hat sich gezeigt: In der Tat ist dieses Konzept gegenseitiger Sicherheit nicht so weit von dem sozialdemokratischen Konzept der gemeinsamen Sicherheit entfernt, und das ist nun schon gar nicht weit entfernt von dem, was der Bundesaußenminister hier eben noch einmal - durchaus mit unserer Zustimmung - zu diesem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit ausgeführt hat. Aber, Herr Minister Scholz, Sie werden, wenn Sie sich auf die Spur eines solchen Konzepts machen, bald sehen, daß das dann eben unvereinbar ist mit dem dogmatischen Festhalten an atomarer Abschreckung, daß das unvereinbar ist mit einer Modernisierung, die in der Sache nichts weiter bringt als neue Waffen, die mit Tricks so ausgebaut werden, daß sie die alte Zielabdeckung gewährleisten, und daß dieses Konzept auch nicht vereinbar ist mit den steten Wiederholungen der Forderung einseitiger Rüstungsreduzierung an unsere östlichen Nachbarn. Wir Sozialdemokraten sind bereit, mit Ihnen über diese Konzeption zu reden, zu schauen, wie weit die Gemeinsamkeit da geht, und auch zu schauen, ob es nicht einen gemeinsamen Weg geben kann, eine Art Konvergenz dieser Begriffe „gemeinsame Sicherheit" und „gegenseitige Sicherheit". Von einem Erfolg dabei wäre meines Erachtens die Chance, daß es beim Gegenbesuch von Gorbatschow im nächsten Frühjahr handfestere Ergebnisse gibt, abhängig. Dann haben wir vielleicht die Chance, daß wir nicht wieder politische Wetterberichte über berührtes, schmelzendes oder brechendes Eis als Hauptnachricht bekommen. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl. ({0}) - Dann sind wir am Ende dieser Debatte. ({1}) Ich schließe also die Aussprache. ({2}) Wir kommen jetzt zu einer Erklärung der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin nach § 32 der Geschäftsordnung. Das ist eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung. Der Zeitpunkt wurde der Abgeordneten bereits zugesagt. ({3}) Bitte, Frau Kollegin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie wissen, stand ich der Gedenk7308 stunde von heute vormittag von Anfang an ablehnend gegenüber. Ich war der Meinung, daß ein Bundestag, der sich in dieser Legislaturperiode geweigert hat, ({0}) die überlebenden Oper, die Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und die Homosexuellen, angemessen zu entschädigen, nicht das Recht hat, eine solche Gedenkstunde zu veranstalten. Ich war der Meinung, daß ein Bundestag, der sich in dieser Legislaturperiode geweigert hat, ({1}) die Gesetze über die Zwangssterilisation für nichtig zu erklären, lieber die Finger von einer solchen Gedenkstunde lassen sollte. ({2}) Aber das, was dann kam, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das ist eine persönliche Erklärung. Die ist zugesagt und vom vorigen Präsidenten so genehmigt worden. Es tut mir leid. ({0}) Bitte, Frau Kollegin, fahren Sie fort.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hatte in der Zwischenzeit Gelegenheit, die Rede relativ genau zu lesen, und stelle folgendes fest: Jenninger spricht davon, daß die jüdische Minderheit zum Freiwild geworden ist; für ihn wurde Goebbels zum Regisseur. Er spricht davon, daß bei den Ausschreitungen nur wenige mitmachten, und erzählt von Berichten über Betroffenheit und Beschämung. Von jemandem, der so viel Unkenntnis zur Schau trägt, von jemandem, der über die Geschichte so wenig weiß, von dem muß ich annehmen, daß er selbst nicht zu den Betroffenen oder zu den Beschämten gehört hätte. Die Rede von Jenninger war eine Mischung von Bewunderung für das Dritte Reich und schlechtem Gewissen dafür - ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, bitte einen Augenblick! Sie geben hier für Ihre Person eine persönliche Erklärung ab. Ich bitte Sie, das bei Ihrer Darstellung auch zu berücksichtigen, und bitte Sie auch, keine Verbalinjurien an jemanden zu richten, der sich hier gar nicht wehren kann.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Rede ist ein Beweis dafür, daß der Antisemitismus auch im Herzen von vielen Mitgliedern dieses Hauses noch vorhanden ist, ({0}) vor allen Dingen von vielen derjenigen, die heute morgen nicht weggegangen sind. ({1}) Jenninger spricht von einem „Faszinosum" statt -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, ich bitte Sie dringend, von solchen Beleidigungen des Hauses abzusehen. Sie können Ihre Meinung zu Ihrer Person hier sagen, dazu, was Sie in besonderer Weise berührt oder betroffen gemacht hat, wozu Sie sich wiederum herausgefordert fühlen, aber bitte keine Beleidigungen dieses Hauses. Hier sitzen genug Leute, die Ihnen darauf sehr wohl antworten könnten. ({0})

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jenninger spricht von einem „Faszinosum" statt von einem Verbrechen, er spricht von der Wiedereingliederung der Saar, von der Einführung der Wehrpflicht, von dem deutsch-britischen - ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, es tut mir leid - Frau Oesterle-Schwerin ({0}): - von den Olympischen Spielen, vom Anschluß Österreichs -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin OesterleSchwerin - Frau Oesterle-Schwerin ({0}): Frau Kollegin, meine Rede hat Herrn Westphal vorgelegen, und er hat sie genehmigt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Es tut mir leid: Wenn Sie jetzt nicht zu der Sache, zu der Sie sprechen wollten, nämlich zu Ihrer Person und Ihrer Betroffenheit, sprechen wollen, dann, bitte, tut es mir leid, muß ich Ihnen das Wort entziehen. Bitte, kommen Sie zum Schluß Ihrer Erklärung!

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Herr Westphal hat die Rede gelesen und sie genehmigt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich bin nicht Herr Westphal.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte wissen, wie hier denn die Geschäftsordnung läuft. ({0}) Wozu legen wir denn die Reden vorher vor?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Kommen Sie doch zum Schluß Ihrer Bemerkungen und Ihres Anliegens, Frau Kollegin! ({0})

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Anstatt über das Pogrom zu sprechen und über die Tausende und Abertausende, die dort mitgemacht haben, macht Jenninger Hitler zu einem großen Politiker; anstatt über die Banalität des Bösen zu sprechen, spricht er über die „staatsmännischen Leistungen" Hitlers. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, das ist keine Erklärung mehr, die hier in diesem Hause akzeptiert werden kann. Es entspricht auch nicht den Tatsachen. Ich entziehe Ihnen das Wort. ({0}) - Ich entziehe Ihnen jetzt das Wort. Frau Kollegin, bitte, verlassen Sie das Podium! ({1}) - Nein, das ist nicht unglaublich, meine Dame, sondern hier wird eine Erklärung abgegeben, die das ganze Haus so nicht hinnehmen kann. Frau Kollegin, verlassen Sie bitte das Podium! ({2}) - Verlassen Sie bitte das Podium! ({3}) - Nein, Sie sind nicht in der Lage, das zu bestimmen. Es tut mir leid, daß ich in dieser Situation so reagieren muß. Sie wissen, daß wir alle sehr betroffen waren über diese Rede heute, aber nicht in dieser Weise, wie Sie das hier vorgetragen haben. Ich bitte Sie jetzt dringend, das Podium zu verlassen, sonst bin ich gezwungen, Sie leider Gottes noch ernster zu ermahnen. ({4}) - Bitte, verlassen Sie das Podium! - Bitte, verlassen Sie das Podium, Frau Kollegin! ({5}) - Wie können Sie sich das erlauben, hören Sie mal?! ({6}) - Lieber Herr Kollege Kleinert, könnten Sie freundlicherweise Ihrer Kollegin klarmachen, daß das hier keine böse Absicht und kein böser Wille ist, sondern daß das Haus dieses nicht hinnehmen kann. ({7}) - Gut, ich unterbreche die Sitzung. Wir fahren um 18.30 Uhr fort. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, wir fahren in unseren Beratungen fort. Ich rufe Punkt 3 sowie Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland ({0}) - Drucksachen 11/3160, 11/3264) Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Aufhebung des Visumzwanges gegenüber Ungarn - Drucksache 11/2203 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Für eine Politik der offenen Grenzen - für ein Recht auf Zuflucht - Flüchtlings- und Asylkonzeption - Drucksache 11/3249 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu diesen Tagesordnungspunkten an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten ohne Aussprache, über die abgestimmt werden muß. Ich rufe zuerst Punkt 4 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Weinwirtschaftsgesetzes - Drucksache 11/1823 7310 Vizepräsident Frau Renger Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) - Drucksache 11/3131 Berichterstatter: Abgeordnete Frau Weyel ({4}) Ich rufe Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der GRÜNEN mit Mehrheit angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der grünen Fraktion angenommen. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Sechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - : Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 11/2726, 11/3123 Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann Der Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so angenommen. Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6}) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 11/3245 Berichterstatter: Abgeordneter Buschbom Wer stimmt der Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 9 und 10 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) - Sammelübersicht 86 zu Petitionen -- Drucksache 11/3289 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) - Sammelübersicht 87 zu Petitionen -- Drucksache 11/3290 Wer für die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN sind die Beschlußempfehlungen angenommen. Ich rufe nun Punkt 7 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft - Drucksache 11/2047 Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9}) - Drucksache 11/2992 Berichterstatter: Abgeordneter Uldall ({10}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Privatisierung der Deutschen Pfandbriefanstalt ist im Gesamtzusammenhang unserer Privatisierungspolitik zu sehen. Nach der Privatisierung von Industrieunternehmen steht jetzt der Bankbereich im Blickpunkt. Zunächst wurde im März 1988 die Deutsche Verkehrs-Kredit-Bank für private Anleger geöffnet. Jetzt werden gesetzgeberische Maßnahmen für die Veräußerung der Beteiligung an der Deutschen Pfandbriefanstalt beraten. Es ist kein Grund zu erkennen, weswegen der Staat weiterhin Eigentümer der Depfa bleiben sollte. 1922 wurde das Institut mit der Aufgabe gegründet, den Kleinwohnungsbau zu fördern. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich diese Aufgabenstellung völlig gewandelt. Die Steuerfreiheit der Gesellschaft wurde deswegen folgerichtig auch bereits vor vielen Jahren abgeschafft. Langfristige Kredite für den Kleinwohnungsbau werden heute von einer Vielzahl von Kreditinstituten gewährt. Genauso ist im umgekehrten Falle die Depfa ihrerseits auf neuen Gebieten tätig, auf denen sie ihrerseits im Wettbewerb steht. Wenn eine Aufgabe ebensogut von einer privaten Institution wahrgenommen werden kann, dann sollte diese Aufgabe nach dem Verständnis der CDU/CSU-Fraktion nicht weiterhin vom Staat, sondern von einem privaten Unternehmen ausgeübt werden. ({0}) Der Beschluß der Regierung, die Depfa zu privatisieren, ist deswegen konsequent und richtig. Die Pläne der Regierung, die von uns voll unterstützt werden, sehen wie folgt aus: Erstens. Die bisherige öffentliche Aufgabenstellung der Depfa wird aufgegeben, wobei das darauf basierende Altgeschäft entsprechend den vertraglich vereinbarten Laufzeiten auslaufen soll. Für das neue Geschäft soll das Hypothekenbankgesetz gelten. Zweitens. Die Depfa wird in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die bisherigen Gesellschafter, in erster Linie der Bund, die Deutsche Bundespost, die Deutsche Beamtenversicherung und viele weitere kleine Gesellschafter, übernehmen entsprechend ihren Anteilen die Aktien. Drittens. Die Bundesregierung veräußert je nach der Marktlage zu einem günstigen Zeitpunkt den Bundesanteil. Im Rahmen der Ausschußberatungen hat die Bundesregierung darüber hinaus mitgeteilt, daß die Sondervermögen und die übrigen Gesellschafter ebenfalls Veräußerungsabsichten bekundet hätten. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daß wir davon ausgehen, daß die Bundesregierung ihre Einflußmöglichkeiten auf die übrigen Gesellschafter nutzt, um zu erreichen, daß sich auch diese Gesellschafter von ihren Anteilen trennen. Gleichzeitig bittet unsere Fraktion die Regierung nachdrücklich, dafür zu sorgen, daß Belegschaftsaktien ausgegeben werden. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn es gelänge, gerade auf diesem Weg die Anteile der Depfa breit zu streuen. Meine Damen und Herren, die jetzt anstehende Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt möchte ich zum Anlaß nehmen, einige grundsätzliche Bemerkungen über unsere Privatisierungspolitik zu machen. ({1}) Bei der Übernahme der Regierung im Jahre 1982 haben wir ein Konglomerat zahlreicher Bundesbeteiligungen vorgefunden. Insgesamt handelte es sich um 808 Beteiligungen. Davon waren 759 mittelbare Beteiligungen. Der Bund betrieb z. B. Automobilbau und handelte mit Öl. Das sind alles nichttypische Staatsaufgaben. Nach unseren ordnungspolitischen Vorstellungen darf von der für unsere Wirtschaftsordnung wesentlichen Trennung zwischen privatem Wettbewerb und der Erfüllung staatlicher Funktionen nur in besonders begründeten Ausnahmen abgewichen werden. Staatlicher Unternehmensbesitz ist auf die Dauer nur dann gerechtfertigt, wenn er zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben erforderlich ist. Die Bundesregierung hatte sich deswegen die Aufgaben gestellt, Verluste bei den Beteiligungen abzubauen, die mittelbaren Beteiligungen zu straffen und nicht mehr begründete Beteiligungen zu veräußern. Von den 808 Beteiligungen, von denen ich zu Anfang sprach, sind heute nur noch 309 Beteiligungen übriggeblieben. Das zeigt, wie erfolgreich und konsequent die Bundesregierung in der Privatisierungspolitik vorangegangen ist. Ich will nur die wichtigsten Punkte nennen. Die VEBA wurde vollständig privatisiert. 600 000 Aktionäre im In- und Ausland halten heute die Anteile. Der Bundesanteil an VW wurde veräußert. 150 000 Personen haben statt des Einzelaktionärs Bund diese Aktien übernommen. Die VIAG wurde privatisiert. 200 000 neue Anteilseigner haben die Anteile eines Einzelaktionärs übernommen. Das sind alles großartige Erfolge, meine Damen und Herren, auch unter dem Gesichtspunkt der Streuung des Vermögens in der Bevölkerung. Denn natürlich ist das Vermögen besser in der Hand der Bevölkerung als in der Hand des übermächtigen Staates. ({2}) Als Bilanz dieser Politik möchte ich vier Punkte festhalten. Erstens. Die notwendige und sinnvolle Trennung zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und privater Wettbewerbswirtschaft wurde vorangebracht. Zweitens. Es ist gelungen, die privatisierten Unternehmen mit ihren Anteilen breit zu streuen. Es ist vor allen Dingen als erfreulich hervorzuheben, daß 50 % der Mitarbeiter bei der VEBA oder bei der IVG an ihrem Unternehmen heute selber beteiligt sind. Drittens. Die Kurse der Aktien sämtlicher privatisierter Bundesunternehmen haben sich überaus positiv entwickelt. Bei keinem Unternehmen sind die Aktien trotz des Crashs heute schlechter notiert, als der Ausgabekurs gewesen ist. ({3}) Viertens. Der Bundeshaushalt wurde durch die Privatisierungserlöse um 6,6 Milliarden DM entlastet. Dies bedeutet auch eine Entlastung bei der Neuverschuldung und spart uns dabei Zinsen. Das sei einmal all denen zu bedenken gegeben, die behaupten, auf lange Sicht führe die Privatisierung zu finanziellen Einbußen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend festhalten: Die Privatisierungspolitik muß weitergehen. Immer noch gehören dem Staat zahlreiche Unternehmen, die genausogut oder sogar noch besser von privater Hand geführt werden können. Aus diesem Grunde begrüße ich sehr, daß die Bundesregierung weitere Privatisierungsprojekte überprüfen läßt. Ich meine, wir brauchen nach der erfolgreichen ersten Phase nunmehr eine zweite Phase der Privatisierungspolitik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung bei diesem Vorhaben weiter unterstützen und fordert die Bundesregierung auf, den erfolgreichen Weg der Privatisierungspolitik weiterhin konsequent zu beschreiten. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Uldall, es ist ja richtig: Sie haben sehr viel verkauft. Ich möchte aber, wenn Sie selber feststellen, daß die Kurse so sehr gestiegen sind, gleich festhalten, daß unser Vorwurf, daß Sie eine Verschleuderung von Bundesvermögen vorge7312 nommen haben, dann nicht ganz unzutreffend ist; sonst wäre das nicht zu erklären. ({0}) - Das ist nun einmal die Logik des Marktes, die Sie sonst immer so loben. Damit fallen Sie selber herein. Es ist ja auch richtig: Sie haben von 1982 bis jetzt von ursprünglich 808 Unternehmen 309 verkauft, ungefähr 6,6 Milliarden DM eingestrichen. Jetzt wollen Sie noch einmal ungefähr - das ist die Hausnummer - 500 Millionen DM aus dem Depfa-Verkauf bekommen, und die DSL-Bank soll ja auch noch folgen. Sie machen dabei Kasse, um nämlich hier Ihre Löcher zu stopfen. Sie haben einmal etwas anderes propagiert. Der Bundeskanzler höchst persönlich, Herr Kollege Meyer, hat, wenn ich mich richtig erinnere, einmal angekündigt, es sollte alles zur Förderung von Wissenschaft und Forschung ausgegeben werden. Ich wundere mich immer noch, warum das Geld nicht in einer Stiftung, sondern im Bundeshaushalt gelandet ist - wenn die Äußerung denn so gemeint war. ({1}) - Zur ordnungspolitischen Begründung komme ich jetzt. - Sie begründen das, es sei in der sozialen Marktwirtschaft so, daß Privatinitiative und Privateigentum grundsätzlich Vorrang vor staatlicher Wirtschaftsaktivität haben sollten; das ist doch Ihre Ideologie. Ihre Begründung wird auch deutlich, wenn ich mir den offiziellen Text des Gesetzes ansehe, das wir hier heute beraten; denn da heißt es als „Zielsetzung" : Die im Jahr 1922 zur Förderung des Kleinwohnungsbaus gegründete Deutsche Pfandbriefanstalt ({2}) hat im Hinblick auf die Entwicklung des Wohnungsmarktes ihren öffentlichen Auftrag erfüllt. Da ein zukünftiger, neuer öffentlicher Auftrag nicht zu erkennen ist, soll die Depfa aus der öffentlichen Rechtsform entlassen werden und ihre Geschäfte künftig als private Hypothekenbank in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft fortführen. Die Veräußerung der Bundesbeteiligung ist vorgesehen. Dann müssen wir uns noch einmal fragen: Heißt das denn, daß wir keinen Wohnungsbedarf mehr haben? Denn es ist die Aufgabe der Depfa, bei seiner Dekkung zu helfen. Da lohnt es sich vielleicht, einmal einen Blick in die Satzung der Depfa, wie sie heute noch lautet und die wohl nach der Privatisierung geändert wird, zu werfen. Danach hat die Depfa Kredite „zu günstigen Bedingungen" vorzugsweise für Wohnungen, die für die - das ist noch der alte Text - „breiten Schichten des Volkes" geeignet sind, zu geben, und weiterhin heißt es, die Erzielung von Gewinn sei nicht der Hauptgeschäftszweck. Wenn wir uns dem ersten Argument zuwenden, so können wir wohl feststellen, daß es noch heute einen - sogar wieder wachsenden - Wohnungsbedarf gibt. Es ist der Städtetag gewesen, der jetzt gerade auf diese Bedeutung hingewiesen hat. Nicht zuletzt haben wir sowohl Mangel bei der deutschen Bevölkerung, die hier ist, als auch bei der deutschen Bevölkerung, die jetzt zuwandert, die sogenannten Aussiedler. Die Ergebnisse der Volkszählung kenne ich zwar noch nicht im einzelnen, aber ich habe mir sagen lassen, daß der Fehlbedarf für mein Heimatland Hessen in der Größenordnung von 75 000 Wohnungen liegen soll. Verständlich ist das Ganze auch, wenn man sich ansieht, daß wir im Jahr im Schnitt 250 000 bis 280 000 neue Wohnungen bräuchten, in den letzten Jahren aber jährlich nur 200 000 gebaut worden sind. Die Folgen sind auch schon spürbar: Die Mieten steigen zum Teil rasant; für junge Familien ist es kaum noch erschwinglich, eine Wohnung anzumieten. Wir haben auch festgestellt, daß bisher als unvermietbar geltende Wohnungen auf einmal bis oben hin belegt sind. Dies alles sind doch Zeichen, daß wir am Wohnungsmarkt eine Anspannung haben. Das ist auch die Folge der Politik, wenn man sich aus der Wohnungspolitik zurückzieht, wie Ihre Regierung das ja gemacht hat. ({3}) Aber es zeugt auch von wenig Problembewußtsein, wenn Sie jetzt sagen: Wir wollen 750 Millionen DM ausgeben und damit 30 000 Wohnungen bauen. - Wie Sie das machen wollen, ist mir unklar. Sie brauchen für eine Wohnung mindestens 100 000 DM, nicht 25 000 DM. Dann kommen Sie gerade auf 7 500 Wohnungen. Wenn ich mir angucke, daß Sie genau in dieser Situation die Depfa, die in einer ähnlichen Situation 1922 gegründet wurde, jetzt aufgeben und als Instrument aus der Hand geben wollen, dann muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Gesetzesbegründung nicht stimmt und daß das auch nicht mit dem Auftrag über einstimmt, den die Pfandbriefanstalt bisher hatte und der hier und heute dringend weiter erfüllt werden müßte. Es kann übrigens auch nicht argumentiert werden, die Depfa werde ihren Aufgaben nicht gerecht. Tatsächlich ist die Depfa nämlich eine Institution, die sich deutlich von anderen Hypothekenbanken bei der Gewährung insbesondere kleinerer und deshalb weniger ertragbringender Hypotheken abhebt. Die machen die gleiche Arbeit, aber bringen weniger. Sie müssen sich doch die Zahlen angucken. Das hätten Sie genauso gut wie ich machen können. Nach dem Geschäftsbericht für 1986 heißt es, daß die Depfa ca. 112 000 Hypotheken mit einer durchschnittlichen Hypothekenhöhe von 88 900 DM vergeben hat. Wenn Sie dies mit den 16 größten Hypothekenbanken der Republik insgesamt vergleichen, werden Sie feststellen, daß bei den Banken dieser 16er Gruppe der höchste Wert sogar bei 250 000 DM liegt und der niedrigste Wert - außer dem der Depfa - bei 124 000 DM. Sie sehen: eine Riesenspanne von rund 35 000 DM zwischen dem Durchschnittswert der Depfa und dem nächsten Institut, das kleine Hypotheken vergibt. Dies zeigt ganz deutlich, daß es eine andere Geschäftsstruktur und offensichtlich eine andere Geschäftspolitik gibt. Damit ist die Depfa ihrem Satzungsauftrag nachgekommen. Wenn Sie berücksichtigen, daß dieses Unternehmen trotzdem Ertrag bringt und mit sehr hoher Produktivität arbeitet - zum Teil höher als private Hypothekenbanken, bezogen auf Volumen und Angestellte -, dann ist dies schon - so meine ich - ein sehr bemerkenswerter Faktor. So etwas geben Sie aus der Hand. Dann kommt ein Weiteres. Die Depfa hat es auch geschafft, die mißliche Lage bei Zwangsmaßnahmen besser in den Griff zu bekommen als andere. Sie hat dafür extra Gruppen zur Beratung gebildet. Es ist ein Erfolg, daß bei der Depfa auf 100 Deckungsposten, sprich: Hypotheken, nur 0,89 Zwangsmaßnahmen kommen. Der negative Spitzenwert in der von mir erwähnten 16er Gruppe liegt bei immerhin 3,52. Also auch hier hat die Depfa Mustergültiges geleistet. Das heißt für mich: Ein gut funktionierendes Instrument der Wohnungswirtschaft und Wohnungspolitik wird ohne Not aufgegeben. Aber es ist ja nicht nur ein wohnungspolitischer Aspekt, es gibt auch noch den Aspekt der Konzentration. ({4}) - Darauf will ich jetzt eingehen; vielen Dank, Kollege Roth. Jedem Marktkenner ist nämlich folgendes klar, Herr Uldall: Es wird hier vielleicht einige kleine Aktionäre geben, die da ein paar Aktien haben. Aber die Depfa alleine - das wird Ihnen jeder Kollege aus dem Bankgewerbe sagen - hat keine Überlebenschance, wenn sie nicht den besonderen Hintergrund des Bundes hat. Der Wettbewerb, der hier und heute schon da ist und der sich durch den europäischen Binnenmarkt ja noch wesentlich verstärken wird, wird die Depfa zwingen, ihre Zukunft in einem der großen Finanzverbünde zu suchen. ({5}) Ob sich eine Bank oder eine Versicherung die Depfa einverleiben wird, weiß ich nicht. Interessenten gibt es schon. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen intern ein paar Namen nennen. ({6}) Nur, Fakt ist, daß die Depfa nicht als selbständiges Institut überleben wird. ({7}) Das ist der eigentliche Punkt. Wir haben gestern in der Aktuellen Stunde einen anderen Superfall der Konzentration erlebt, den die Bundesregierung haben will und fördert. Bei der Depfa sind zwar die Zahlen etwas kleiner, aber das Strickmuster ist dasselbe. ({8}) Privatisierung und Flucht des Staates aus der Verantwortung sind die Musterbeispiele dafür, wie der Staat im Interesse starker Kapitalgruppen handelt. Ich muß in aller Deutlichkeit folgendes sagen: Was Sie in diesen beiden Fällen machen, ist praktizierter Staatsmonopolkapitalismus und sonst gar nichts. Auf der Strecke bleiben dabei die existentiellen Bedürfnisse der Wohnungssuchenden und derjenigen, die ihre Wohnungen umgestalten wollen, aber auch Wettbewerbsinteressen. Wenn die Depfa im Wettbewerb die Sonderrolle, die ich Ihnen hier beschrieben habe und die Sie genauso zur Kenntnis hätten nehmen können, wie ich sie zur Kenntnis genommen habe, nicht mehr spielen kann, wenn Sie sie künftig daran hindern, diese Rolle zu spielen, werden sich die Chancen und Bedingungen gerade für die Nehmer kleinerer Hypotheken entscheidend verschlechtern. Die anderen Banken werden das mit Freude sehen; das kann ich Ihnen garantieren. Aber offensichtlich sind deren Interessen für diese Bundesregierung wichtiger als die der Bevölkerungsschichten, für die preisgünstige Normalwohnungen ein existentielles Muß sind und die darauf angewiesen sind, dafür kleinere Hypothekenbeträge aufnehmen zu können, die sie von den anderen Banken in dieser Qualität, mit dieser Ausstattung und mit dieser Betreuung so nicht angeboten bekommen. Danke. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es wird Sie nicht erstaunen, Herr Kollege Wieczorek, daß ich genau gegenteiliger Ansicht bin. Deswegen will ich darlegen, daß die FDP die Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft begrüßt. Sie begrüßt auch die Absicht der Bundesregierung, bei der Privatisierung der Depfa eine möglichst breite Streuung ihres derzeitigen Anteilbesitzes zu erreichen. Der Staat hat sich nach liberaler Auffassung aus der wirtschaftlichen Betätigung zurückzuziehen; denn nur der freie Wettbewerb zwischen freien Anbietern sichert eine optimale Versorgung der Verbraucher. Das ist die Grundidee der Marktwirtschaft, und dies führt zum Ziel. ({0}) Im übrigen, Herr Kollege Wieczorek, zeigt auch die Erfahrung, daß das von Privaten besser gemacht werden kann als von staatlichen Organisationen oder durch den staatlichen Einfluß. Gerade das gestrige Beispiel beweist, wohin es führt, wenn der Steuerzahler privatwirtschaftliche Risiken übernehmen muß, und wohin es führen kann, wenn der Steuerzahler dann versucht, sich daraus zurückzuziehen, und dies ihm mehr oder weniger nicht gelingt. Wir haben im Finanzausschuß keine Gründe erkennen können, die es rechtfertigen, die Depfa weiterhin als Bundesunternehmen bestehenzulassen. Sie hat ihre ursprüngliche Aufgabe, nämlich die Förderung des Kleinwohnungsbaus, in ihrer Zeit erfüllt. Aber es ist eigentlich nicht zu sehen, warum diese Förderung über eine besondere Anstalt des Bundes geleistet werden muß. ({1}) Sie kann auch auf indirekte Weise oder durch die Zurverfügungstellung zinsbilligen Kapitals an die Hypothekenbanken anderweitig gewährleistet werden. Wenn die Aufgaben der Depfa heute im wesentlichen denen eines Realkreditinstituts entsprechen, so ist es nur konsequent, ihr eine private Rechtsform zu geben, die öffentlich-rechtliche Anstaltslast zu beseitigen und die Bank bei dem von ihr betriebenen Hypothekarkreditgeschäft und kommunalen Darlehensgeschäft dem freien Wettbewerb der privaten Hypothekenbanken zu überlassen. Am Rande sei nur bemerkt, daß wohl niemand behaupten kann, ein öffentlich-rechtliches Kreditinstitut sei vor riskanten Kreditgeschäften sicher. Die Feststellungen des Bundesrechnungshofes über die Deutsche Pfandbriefanstalt haben uns gerade eines Besseren belehrt. In mehreren Fällen ist in dem Institut gegen das Gesetz über das Kreditwesen verstoßen worden. Insgesamt hat die Depfa Verluste in einem Volumen von 45 Millionen DM hinnehmen müssen. Die Umwandlung der Depfa hat lange, meiner Ansicht nach zu lange, auf sich warten lassen. Schließlich handelt es sich hier um einen relativ problemlosen und harmlosen Schritt. In der Privatisierungspolitik sollte mehr Mut bewiesen werden. Bei den Bundesbeteiligungen im Bankenbereich sollte nach den Veräußerungen und der breiten Streuung des Grundkapitals der Deutschen Verkehrskreditbank im März dieses Jahres und nach der Depfa nun als dritter Schritt die Privatisierung der DSL-Bank folgen. Ich bin allerdings der Meinung, daß dieser Schritt nur ein halbherziger Schritt ist. Zumindest langfristig sollte eine Vollprivatisierung der DSL-Bank angepeilt und verwirklicht werden. Es ist hier sicherlich nicht der Platz für eine Grundsatzdiskussion; das Thema geht weit über die Bundesbeteiligungen hinaus. Ich will daher nur am Rande anmerken, daß die FDP vom Bund, aber auch von Ländern und Gemeinden eine umfassende Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen einfordert. Anregungen dazu gibt es inzwischen in Hülle und Fülle. So sieht das Institut der Deutschen Wirtschaft erhebliche Spielräume, wenn bei der Prüfung des wichtigen öffentlichen Interesses ein kritischer Maßstab angelegt wird. Zum gleichen Ergebnis kommt das Forschungsinstitut für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Die FDP ist dazu bereit. Wir werden beharrlich darauf hinwirken, daß die Widerstände in Politik und Verwaltung gegen eine vernünftige, angemessene Privatisierungspolitik überwunden werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Offiziell ist die Begründung für die Privatisierung der Deutschen Pfandbriefanstalt - was gerade auch noch einmal dargelegt worden ist - ideologischer Natur. Was nicht unmittelbar öffentlichen Auftrag erfüllt, meinen die Bundesregierung und auch die Regierungskoalition, muß privatisiert werden. Bekanntlich gilt das aber nicht immer, wie wir ja gestern gesehen haben: Beim Airbus wird sogar die Übernahme von Verlusten einer Privatfirma durch den Staat als öffentliche Aufgabe angesehen. Anscheinend hat die Ideologie der Koalition ihre Lücken und auch ihre Tücken. ({0}) Tatsächlich geht es aber wohl wieder einmal darum, durch das Verscherbeln von Bundesvermögen Geld in die Kassen zu bekommen. Es ist auch kaum überraschend, daß die Privatisierung gegen den ausdrücklichen Widerstand des Personalrats der Deutschen Pfandbriefanstalt erfolgt. Es wäre auch schon sehr verwunderlich, wenn die Bundesregierung ausnahmsweise einmal auf Belegschaftsinteressen Rücksicht nähme. In verschiedenen Veröffentlichungen ist darauf hingewiesen worden, daß für eine private Deutsche Pfandbriefanstalt, also ohne Rückenstärkung durch den Bund, Existenzprobleme auf Grund ihrer geringen Größe nicht unwahrscheinlich sind. Naheliegend ist auch, daß sich Großbanken um eine Beherrschung der Deutschen Pfandbriefanstalt bemühen könnten; sei es durch Aktienübernahme oder sei es nur durch eine entsprechende Ausübung des Depotstimmrechts. Auf jeden Fall fördert die Privatisierung der Depfa den Konzentrationsprozeß im deutschen Kreditwesen. Das müßte Sie eigentlich in Ihrem marktwirtschaftlichen Herzen schmerzen. Aber solche Geschichten wie MBB/Daimler-Benz und andere stumpfen halt erheblich ab. ({1}) In Erinnerung bringen muß man an dieser Stelle wohl auch, daß der Bundesrechnungshof schon vor Jahren eine Zusammenlegung der Depfa mit anderen Bundesunternehmen empfohlen hatte, weil ihr satzungsmäßiger Betätigungsbereich immer kleiner geworden war. Allerdings ist dieser ja auch, wie vorhin schon dargelegt worden ist, sinnvollerweise auszuweiten. Leider wurde dem nicht gefolgt; statt dessen wurde der Handlungsrahmen ausgeweitet. Heute muß die dermaßen ausgeweitete Tätigkeit als Begründung für eine Privatisierung herhalten. Bemerkenswert ist, daß der Bundesrechnungshof gerade erst wieder sieben Verstöße der Pfandbriefanstalt gegen das Gesetz über das Kreditwesen festgestellt und gerügt hat; Verstöße, die einen Schaden von immerhin 9 Millionen DM bedeuten. Ähnliche Beanstandungen gab es auch schon in früheren Jahren. Kritisiert wurden früher zudem eine erhebliche Spendentätigkeit der Deutschen Pfandbriefanstalt - sicherlich auch im Interesse einiger bestimmter Parteien - , unzulässig großzügige Bewirtungen und Geschenke an Aufsichtsratsmitglieder und Beratungsorgane sowie unzulässig günstige Darlehen an Vorstandsmitglieder. Es könnte hier der Anschein entstehen, daß der Bund eben nicht in der Lage ist, diese Mängel zu beseitigen, und deswegen die Depfa privatisiert werden soll. Mit der Privatisierung entziehen Sie sich aber auch endgültig einem öffentlichen Gestaltungsspielraum. Sie entziehen sich auch dem Zugriff des Bundesrechnungshofs. Daß Sie die Depfa privatisieren wollen, ergibt sich auch daraus, daß Sie kein öffentliches Interesse mehr beispielsweise am sozialen Wohnungsbau haben, daß für Sie anscheinend kein öffentliches Interesse mehr an der zinsgünstigen Finanzierung kleinerer Bauvorhaben besteht und somit auch für Sie eine Depfa mit öffentlich-rechtlichem Status überflüssig geworden ist. Wir sehen allerdings in verstärktem Maße dieses öffentliche Interesse und lehnen eine Privatisierung der Deutschen Pfandbriefanstalt ab. Wir fordern eine sinnvolle Ausgestaltung und eine sinnvolle neue Aufgabenbeschreibung für die Depfa. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000774

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf zur Umwandlung der Deutschen Pfandbriefanstalt in eine Aktiengesellschaft wird ein weiterer Baustein in die Privatisierungspolitik der Bundesregierung eingefügt. Es geht um weniger Staat - um mehr Markt. Wir sind der Überzeugung - und das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern dafür gibt es praktische Beweise -: Was für die Erreichung staatlicher Ziele nicht unbedingt durch den Staat selbst geschehen muß, sollte in private Hände gelegt werden. Die Bundesregierung ist mit ihrer Privatisierungspolitik gut vorangekommen. Von sechs Industrieunternehmen - so viele sind es insgesamt - sind drei inzwischen privatisiert, hat sich der Staat aus drei Unternehmen zurückgezogen: VEBA, Volkswagenwerk und VIAG. Bei der Industrieverwaltungsgesellschaft hat eine Teilprivatisierung von 45 % stattgefunden, und bei den anderen Bundesunternehmen hat sich der Bund in den letzten Jahren kräftig von den Beteiligungen zurückgezogen. Zur Privatisierung von öffentlich-rechtlichen Banken bedürfen wir eines Gesetzes, um die Anteilsrechte veräußern zu können; deswegen dieser Gesetzentwurf. Wir sind der Meinung: Die Deutsche Pfandbriefanstalt hat ihren Auftrag erfüllt, vor allem den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben. Heute steht sie tatsächlich schon weitgehend im Wettbewerb mit allen Gruppen des Bankgewerbes. Sie ist im Grund ein Realkreditinstitut, das mit privaten Hypothekenbanken durchaus zu vergleichen ist. Hypothekarkredit und Kommunalkredit sind ihre Aufgabe. Wir haben die Absicht, eine breite Streuung wie bei anderen Privatisierungsvorhaben vorzunehmen, und prüfen mit Aufgeschlossenheit auch den Gedanken, ob man die Belegschaft auch hier beteiligen kann. Der künftige Wohnungsbau wird vor allem durch den Markt geleistet werden können. Das ist der eigentliche Unterschied, den es gibt. Sie meinen, wenn eine Aufgabe da ist, muß sie immer der Staat ausführen. Das ist ein abgrundtiefer Unterschied, der zwischen Ihnen, der Opposition, und uns besteht. ({0}) Wir meinen, daß die Leistung in erster Linie von den Menschen und deren Initiative kommt und daß nur ausnahmsweise, wenn Not am Mann ist, der Staat gleichsam eingreifen muß. Das Vertrauen zu den Menschen, diese Philosophie - keine Ideologie - steckt hinter dieser Politik. ({1}) Notfalls hat der Bund auch andere Kreditinstitute. Wir haben die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wir haben die Deutsche Ausgleichsbank. Gerade das neue, notwendig gewordene Wohnungsbauprogramm für Aussiedler wird ja auch über die Deutsche Ausgleichsbank, also über eine Bundesbank, geleitet. Hier haben wir ein Instrument. Wir brauchen dafür die Deutsche Pfandbriefanstalt nicht. Die soziale Seite des Wohnungsbaus kann mit anderen Rahmenbedingungen und anderen Maßnahmen erreicht werden, z. B. dem Mietrecht und vor allem dem Wohngeldgesetz. Ich erinnere daran, welche soziale Bedeutung das Wohngeldgesetz hat. Allein 1987 sind 3,7 Milliarden DM an Wohngeld ausbezahlt worden. Im übrigen geben natürlich auch andere Banken, die Sparkassen, die Genossenschaftsbanken usw., kleine Kredite. Man braucht nicht die Deutsche Pfandbriefanstalt, um kleine Kredite im Wohnungsbau zu erhalten, sondern das macht der Markt über die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen ohne dies. Diese Privatisierung wird eine Belebung des Wettbewerbs mit sich bringen. Es besteht keinesfalls die Gefahr, daß die drei Großbanken hier etwas übernehmen. Sie haben schon eine oder mehrere Hypothekenbanken. ({2}) Es ist nicht einleuchtend, daß hier irgendein Vorteil für sie bestehen könnte. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wieczorek? - Das ist gegenstandslos, weil Ihre Rede beendet ist. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die §§ 1 bis 9, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Vizepräsident Frau Renger Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dies ist in zweiter Lesung angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Unterstützung für die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Chile und um Gerechtigkeit für ihre Opfer - Drucksache 11/2985 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Sofortige Aufnahme der in Chile mit der Todesstrafe bedrohten politischen Gefangenen - Drucksache 11/2986 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Unterstützung der Oppositionspresse in Chile - Drucksache 11/2987 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß Interfraktionell sind eine gemeinsame Beratung und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vorgesehen. - Das Haus ist einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz nachdem wir die drei Anträge, die wir heute diskutieren, im Bundestag eingebracht hatten, hat das chilenische Volk ein ganz deutliches Wort zu dem gesagt, womit es seit 15 Jahren konfrontiert war. Das chilenische Volk hat ein deutliches Nein zur Diktatur von Pinochet gesagt, ein deutliches Nein zu dem politischen System, das er repräsentierte, und ein deutliches Nein zu der wirtschaftlichen Ausrichtung dieses Systems, das der Masse der Menschen zunehmendes Elend bereitet hat. Wir alle waren froh darüber, daß das sogenannte Plebiszit diesen Ausgang genommen hat. Ich meine, wir alle sollten unsere Glückwünsche und unsere Gratulationen dem chilenischen Volk für seinen energischen Einsatz und für einen Kampf, der anfangs für aussichtslos gehalten wurde, auch von diesem Platz aus aussprechen. ({0}) - Herr Duve, ich glaube, Sie haben da immer noch falsche Vorstellungen im Kopf. ({1}) Dieses Nein zu Pinochet bedeutet gleichzeitig, daß die Menschen in Chile eine vollständige Demokratie wollen. Sie wollen eine vollständige Demokratie unter Beteiligung aller politischen Kräfte, die an der Gestaltung der Zukunft teilnehmen wollen. Nach dem deutlichen Nein zu dieser Diktatur ist eine Debatte in Chile in Gang gekommen, wie denn die wirkliche Demokratisierung durchzusetzen sei. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Gemeinsam ist aber der Opposition, daß die Dynamik, die mit dem Nein begonnen worden ist, genutzt werden muß, um in Verhandlungen mit der oder gegen die Diktatur grundlegende Veränderungen in der Verfassung zu erreichen, weil die sogenannte Verfassung, die zur Zeit in Chile noch in Kraft ist, eine wirkliche Demokratisierung verhindert. Die Verfassung, so wie sie nun nach dem Nein gilt, ist nur eine andere Option auf eine totalitäre Herrschaft, die sich nicht auf einen Diktator fixiert, sondern auf ein Gemenge von Institutionen, die miteinander in Beziehung stehen und die Wirkung haben, daß eine wirkliche Volksbeteiligung noch nicht möglich ist. Die Frage, ob sich Demokratie in Chile durchsetzen wird, ist also auch davon abhängig, inwieweit die jetzige sogenannte Verfassung grundlegend modifiziert werden kann. Hier gibt es von seiten der Opposition insbesondere vier Punkte, die als kritikbedürftig und veränderungsbedürftig angesprochen werden. Dies ist zum einen der Art. 8 der Verfassung, der den Linksparteien die Teilnahme an der Wahl verbietet. Dies ist zum zweiten die Regelung, daß in dem zu wählenden Parlament ein Drittel der zukünftigen Abgeordneten von der Junta designiert wird. Dies ist zum dritten die Regelung, daß der Nationale Sicherheitsrat mit Pinochet an der Spitze aktiven Verfassungsschutz leisten soll und dies teilweise über den Willen des zukünftigen Parlaments und des zukünftigen Präsidenten hinweg tun kann. Da ist viertens Art. 118 dieser sogenannten Verfassung, der jegliche Verfassungsänderung verbietet. Mindestens diese Artikel der Verfassung müssen fallen. Dies ist die Auffassung der Opposition - ich denke, einhellig. Die strittige Frage in Chile ist, wie dies erreicht werden kann. Wir wissen, die Liberal-Konservativen setzen eher auf Gespräche, und die Linke meint, daß Gespräche allein nicht ausreichten, wenn sie nicht durch einen massiven Druck von der Straße flankiert würden. Nun erleben wir in diesen Tagen, daß die Dynamik, die mit dem Nein gewonnen worden ist, zu verebben droht, da sich Pinochet erheblich hartnäckiger, als dies anfangs erwartet worden war, daran klammert, nicht nur seine persönliche Macht so lange wie möglich zu erhalten, sondern auch dieses totalitäre Geflecht von Institutionen zu retten und aufrechtzuerhalten. Er hat deutlich erklärt, daß er keine Abstriche von dieser Verfassung zuläßt, und er hat vor wenigen Tagen einen weiteren politischen, rechtsradikalen Hardliner in die Junta aufgenommen, den General Sinclair, der mit dafür sorgen soll, daß der institutionelle Prozeß in Chile in Zukunft so läuft, wie es Pinochet mit seiner Verfassung von 1980 vorgesehen hat. Es besteht zur Zeit also die ganz große Gefahr, daß es nicht zu einer wirklichen Demokratisierung kommt. Ich sage dies ganz ausdrücklich auch im Gegensatz zu Heiner Geißler, der immer Demokratisierung und den Vollzug des verfassungsmäßig vorgegebenen Prozesses in Chile identifiziert. Meines Erachtens ist der Vollzug des verfassungsmäßigen Prozesses keine Demokratie. Demokratie wird sich in Chile nur durch einen Bruch dieser Verfassung, zumindest einiger wesentlicher Verfassungsartikel, herstellen lassen. Wir sind der Auffassung, daß das chilenische Volk gerade im Moment massive Unterstützung aus dem Ausland braucht, um seine demokratischen Vorstellungen gegen die Diktatur durchsetzen zu können. Deshalb haben wir drei Anträge eingebracht. Wir bitten um Befassung und Zustimmung. Zunächst einmal möchten wir Sie auffordern, mit uns gemeinsam die Oppositionspresse in Chile zu unterstützen. Sie wissen, daß oppositionelle Presseleute ermordet wurden, verfolgt wurden, ins Gefängnis geworfen wurden. Die Regierungspresse wird zum Teil von der bundesdeutschen Industrie durch Anzeigen unterstützt. Wir meinen, daß das umgekehrt werden müßte. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Oppositionspresse zu unterstützen, auch materiell, durch Anzeigenkampagnen. Der zweite Antrag, den wir einbringen, richtet sich darauf, daß die Menschenrechtsverletzungen, die passiert sind, aufgeklärt werden müssen. Wir haben heute hier im Bundestag eine sehr peinliche Debatte darüber erleiden müssen, was passiert, wenn nicht rechtzeitig eine Vergangenheitsbewältigung, eine tiefgehende Aufarbeitung der Verbrechen einer Regierung vorgenommen wird. Die chilenischen Oppositionsgruppen und die Menschenrechtsgruppen möchten nicht, daß mit dem möglicherweise eintretenden Ende der Diktatur ein Schlußstrich gesetzt wird und, wie etwa in Argentinien, alle Verbrechen vergessen und vergeben werden und ein Neuanfang ohne jegliche Aufarbeitung gemacht wird. Deshalb fordern wir Sie und die Bundesregierung auf, uns dabei zu unterstützen, die Menschenrechtsgruppen dabei zu unterstützen, tatsächlich eine Aufarbeitung dieser Verbrechen - Verschwindenlassen von Menschen usw. - durchzusetzen. Unser dritter Punkt richtet sich noch einmal auf die Frage, die wir hier schon oft diskutiert haben, nämlich auf die Aufnahme der 15 vom Tode bedrohten politischen Gefangenen. Die Situation sieht zur Zeit so aus, daß drei von ihnen in zweiter Instanz zu lebenslänglich verurteilt wurden, nachdem die erste Instanz noch das Todesurteil verhängt hatte. Diese lebenslängliche Strafe konnte aber nur deshalb ausgesprochen werden, weil ein einziger Richter in dieser zweiten Instanz der Meinung war, die Todesstrafe sollte aufgehoben werden, dies aus christlichen, gut katholischen, prinzipiellen Gründen. Aber genau deshalb wurde das Urteil der zweiten Instanz vom obersten Gerichtshof angegriffen. Er sagte, daß wegen dieser prinzipiellen Einstellung des einen Richters die gesamte Bandbreite der möglichen Strafen gar nicht diskutierbar war. Diese oberste Instanz fordert eine Aufhebung dieses Urteils. Der aufrechte Richter der zweiten Instanz wird zum Jahresende dieses Gericht verlassen. Von daher besteht wieder einmal Handlungsbedarf. Es besteht die Gefahr, daß es zu einem Todesurteil kommt. Es besteht nach Aussagen der Anwälte auch die Gefahr, daß das Regime gerade dann, wenn es sich durch die demokratischen Kräfte in die Ecke gedrängt fühlen könnte, noch einmal Härte zeigt und daß es in diesem Prozeß von Härte auch zu Provokationen in den Gefängnissen kommt, denen dann die Gefangenen zum Opfer fallen. Ich bitte Sie, nochmals zu prüfen, ob wir diese 15 Leute nicht aufnehmen können. Zahlreiche Bürgermeister aus bundesdeutschen Gemeinden haben sich bereit erklärt, diese 15 Leute in der Bundesrepublik aufzunehmen. Es gibt 15 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens - Staatsanwälte, Richter, Kirchenleute, auch 2 Kollegen aus diesem Hause - , die sich bereit erklärt haben, als persönliche Bürgen dafür zu sorgen, daß die Befürchtung, die Innenminister Zimmermann immer geäußert hat, nämlich daß die Chilenen, falls sie hier wären, sich terroristisch betätigen, daß diese Befürchtung, die ohnehin absurd ist, die bizarr ist, auf keinen Fall eintreten kann. Ich denke, daß die Grundlage - Aufnahmebereitschaft, der Wille zu bürgen - doch wirklich genügen sollte, daß angesichts der objektiven Gefährdung, denen diese Menschen in Chile unterliegen, endlich das Angebot ausgesprochen werden sollte, ihnen hier Asyl zu gewähren. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Schreiber.

Werner Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir befassen uns am heutigen Abend auf Grund von drei Anträgen der GRÜNEN - der Kollege Volmer hat dies vorgetragen - erneut mit der Situation in Chile. Nach alter Tradition werden die Anträge nach der Aussprache an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. Ich gehe davon aus, daß dies so vereinbart ist. Ich gehe auch davon aus, daß wir in den Ausschüssen diese Anträge besprechen und zu den einzelnen Antragselementen Stellung nehmen werden. Gestatten Sie mir trotzdem als engagiertem „ChileKämpfer" eine grundsätzliche und persönliche Anmerkung. Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn sich der Deutsche Bundestag ständig in Detailanträgen mit der Situation in einem Lande befaßt. Das gilt um so mehr, wenn es um Länder geht, in denen politische Prozesse in Gang gekommen sind, die eine jeweils neue Beurteilung der Gesamtsituation notwendig machen. Damit will ich nicht behaupten - ich sage das ausdrücklich - , daß die in den Anträgen aufgeworfenen Fragen befriedigend geregelt sind oder auch nur annähernd befriedigend geregelt sind. Aber ich muß dennoch darauf hinweisen, daß dies jetzt der vierte Antrag oder, wenn ich den gemeinsamen Antrag vom September hinzunehme, sogar der fünfte Antrag in den letzten Wochen ist, der sich mit dem Thema Chile befaßt. Ich glaube, dies ist eine Inflation, die nach meinem persönlichen Empfinden dem Thema nicht immer zuträglich ist, sondern durchaus das Gegenteil bewirken kann. Meine Damen und Herren, die chilenische Bevölkerung - darauf hat der Kollege Volmer hingewiesen - hat sich am 5. Oktober mit einer klaren Mehrheit gegen Pinochet und damit gegen die Militärdiktatur ausgesprochen. Dieses Ergebnis haben die Demokraten in aller Welt begrüßt. Dieses Ergebnis ist sicher ein Sieg für die Demokratie und dokumentiert den Willen der Chilenen nach Selbstbestimmung in bezug auf ihre eigenen Angelegenheiten. Die Mehrheit der Chilenen setzt damit auf ihre alte demokratische Tradition. Ich denke, gleichzeitig muß aber festgestellt werden - wir haben dies ja auch übereinstimmend getan - , daß dieses Abstimmungsergebnis nur einen ersten Schritt darstellt, einen ersten Schritt zur Redemokratisierung in dieser traditionellen Demokratie. Nach meiner Meinung ist folgendes festzuhalten: Erstens. Das Ergebnis hat gezeigt, daß sich in Chile zur Zeit weder extrem links noch extrem rechts Mehrheiten bilden können, und das eröffnet eine große Chance für eine breite Koalition der Mitte. Ich darf bei dieser Gelegenheit einmal ansprechen: Wenn man Wahlergebnisse natürlich so interpretiert, wie das zum Teil von seiten des chilenischen Innenministeriums und der Regierung, aber auch von seiten der chilenischen Botschaft hier in der Bundesrepublik Deutschland so nach dem Motto propagiert wird: 43,04 % der Stimmen galten den Bemühungen und der Person des Präsidenten der Republik; die Opposition setzte sich aus 16 Parteien zusammen, die insgesamt auf 54,68 % der Stimmen kam, dann ist das natürlich ein Witz. Wenn ich 54 durch 16 teile und 43 durch eins teile und daraus im nachhinein noch einen Sieg des Militärs ableiten möchte, dann ist das schon ein Witz. Zweitens. Ich denke aber auch, daß das Ergebnis die Möglichkeit zu einer nationalen Versöhnung offen läßt. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Ich bin der festen Überzeugung, daß es notwendig ist, daß es in Chile zu einer nationalen Versöhnung - natürlich unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit - kommt. Drittens. Ich werte es positiv, daß die im „Kommando für das Nein" zusammengeschlossenen Oppositionsparteien ihr Bündnis fortführen und sich nicht auseinanderdividieren lassen. Es war ja eine der großen Befürchtungen, daß diese Parteien nach dem Plebiszit, nach der Abstimmung auseinanderfallen. Dies ist nicht der Fall, und ich werte dies, wie gesagt, außerordentlich positiv. Viertens möchte ich die Disziplin herausstellen, mit der die Opposition die nicht einfache Zeit nach dem Plebiszit bewältigt hat. Dies hat für den Prozeß der Redemokratisierung sicherlich eine stabilisierende Wirkung und nimmt Pinochet die Chance, unter einem Vorwand wieder den Ausnahmezustand auszurufen. Wie wir alle mittlerweile ja wissen, ist dieser Versuch auch gemacht worden. Ich denke, die Kollegen, die anläßlich der Abstimmung mit in Santiago waren, haben sich mit mir zusammen gewundert, warum es so ruhig blieb und warum das Abstimmungsergebnis, nämlich die Mehrheit für das „Nein", vor allen Dingen auch von seiten der Regierung so spät bekanntgegeben worden ist. Ich denke, daß das, was herübergekommen ist, nämlich daß man vorhatte, durch Provokationen zu einem neuen Putsch zu kommen, teilweise auch dadurch belegt ist, daß man bis zur letzten Minute versucht hat zu sagen: Das „Ja" hat im Grunde genommen gewonnen. Fünftens - ich denke, das ist auch eine ganz wichtige Frage - : Die Opposition muß ein klares ordnungspolitisches und wirtschaftspolitisches Profil entwickeln. Ziel muß es sein, die freie Entfaltung der Kräfte zu ermöglichen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Ich denke, man muß auch hier ganz deutlich darauf hinweisen: Man darf einfach nicht vergessen, daß Pinochet 43% der Stimmen erhalten hat. Wir haben gemeinsam festgestellt: Dies war eine technisch saubere Wahl, d. h. die Wahl war geheim, und es war nicht einsehbar, wer wie gewählt hat. Trotzdem hat Pinochet 43 % der Stimmen erhalten. Darunter waren sicher viele, die Pinochet nicht wollten, aber instabile Verhältnisse befürchtet haben. Deshalb ist auch der Weg richtig, in zähen Verhandlungen Änderungen zu erreichen und Disziplin zu bewahren. Dazu gehört natürlich auch der Versuch - ich sage das aus meiner Sicht, Herr Kollege Volmer - , die Verfassung zu ändern. Ich stehe ganz bewußt hinter einer Strategie, in Verhandlungen den Versuch zu machen, die Verfassung zu ändern, aber eben nicht den Versuch zu machen, auf der Straße Verfassungsänderungen vorzunehmen bzw. den Druck der Straße in einem breiten Umfang möglich werden zu lassen, denn das würde genau zum Gegenteil führen. Ich glaube, die Strategie, die die 16 mittlerweile entwickelt haben, ist genau die richtige Strategie, nämlich zu sagen: Wir wollen hier auf Grund einer Abstimmung, die uns Stärke gibt, auf Grund einer Abstimmung, die uns von seiten der Bevölkerung ein Mandat gibt, Schritt für Schritt erreichen, daß sich etwas ändert, bis hin zu einer eventuellen Verfassungsänderung. Ich möchte hier an dieser Stelle auch ganz bewußt sagen: Dies ist auch die Haltung des Generalsekretärs Geißler. Ich sage das deshalb, weil er eben angesprochen worden ist und weil wir uns auch gestern im Auswärtigen Ausschuß darüber unterhalten haben. Der Generalsekretär hat bei seinem letzten Besuch in Chile mit allen Parteien gesprochen. Er hat ganz bewußt die Solidarität der Demokraten mit allen Parteien herausgestellt. Er hat lediglich - dies ist auch Meinung innerhalb von Chile - herausgestellt, daß die demokratische Mitte mit Sicherheit in der jetzigen Situation einer größeren Herausforderung entgegensieht, bis hin zu der Wahl bzw. Bestimmung eines Präsidentschaftskandidaten. Ich möchte - sechstens - noch hinzufügen: Die Opposition - ich habe das im Zusammenhang mit meinen Bemerkungen zu Generalsekretär Geißler bereits kurz angesprochen - muß eine personelle Alternative aufbauen, sich auf einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen einigen. Ich sage noch einmal und unterstreiche das: Dies muß gemeinsam geschehen. Es hat überhaupt gar keinen Wert, an irgendeiner Stelle die 16, die im Kommando für das „No" zusammengeschlossen sind, auseinanderzudividieren. Dies muß gemeinsam geschehen, denn Demokratie hat in dem gegenwärtig sensiblen Zustand in Chile nur eine Chance, wenn die Demokraten, wenn die demokratische Opposition einig bleiben und diesen Prozeß mit unser aller Unterstützung vorantreibt. Ich sage siebtens: Es muß gelingen, die Armee in den demokratischen Prozeß zu integrieren. Sie muß ihren Standort in einer demokratischen Gesellschaft finden und Bestandteil einer solchen Gesellschaft werden. Ich sage das auch, weil ich weiß, wie problematisch das in der inneren Diskussion ist. Wir haben eine ganze Reihe von Beispielen dafür; ich erinnere an Argentinien und auch an andere Staaten. Aber genau diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, daß die Armee integriert wird und daß sie in einer demokratischen Gesellschaft ihren Standort findet, wie das bei uns in unseren westlichen Industriestaaten eigentlich selbstverständlich ist. Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß in Chile auch nach dem Referendum die Menschenrechte nicht respektiert werden, was neueste Berichte belegen. Wir werden uns noch im Detail über diese Fragen unterhalten, auch über die 15 Häftlinge, die vom Tode bedroht sind, wie immer wieder herausgestellt wird. Meine Meinung dazu ist bekannt, und ich brauche sie nicht noch einmal ex cathedra zu verkünden. Wir müssen das in aller Ruhe, Deutlichkeit und Offenheit miteinander besprechen. Es gibt eine ganze Reihe von Staaten, wie wir wissen, die bereits Asylangebote unterbreitet haben. Es geht also gar nicht mehr so sehr darum, daß westliche Staaten, Demokratien verhindern müssen, daß hier Schlimmes geschieht. Ich denke, auch hier sollten wir in aller Ruhe miteinander diskutieren und nicht den Eindruck erwecken, Herr Kollege Volmer, als würden morgen schon Todesurteile gefällt, wenn wir hier in der Bundesrepublik Deutschland nicht entsprechend reagieren. Auch das bedarf einer ganz ruhigen und sehr sachlichen Diskussion. Ich glaube, auch das haben die letzten Monate insgesamt bewiesen. Ich denke - ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin - , wir sollten als Demokraten den Demokratieprozeß in Chile unterstützen. Ich glaube, es würde niemand in Chile verstehen, wenn sich die Demokraten in einer westlichen Demokratie auseinanderdividieren, während die Demokraten in einem sehr schwierigen Prozeß in Chile zusammenhalten. Das heißt nicht, daß wir nicht unterschiedlicher Meinung über die Methoden, über die Schritte, die zu gehen sind, sein könnten; das gehört ja zu einer Demokratie. Aber ich denke, daß wir hier in den nächsten Monaten gemeinsam vertieft darüber diskutieren müssen, welche Unterstützung wir als westliche Demokraten, als Deutscher Bundestag diesem Demokratisierungsprozeß geben können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist die erste Debatte über Chile nach dem Plebiszit, und deshalb ist es angemessen, wenn sich alle Redner auch auf das beziehen, was wir dort erlebt haben. Das Plebiszit ist ein ungeheuer wichtiger Einschnitt in der Geschichte der Diktatur. Es ist ein Einschnitt, der aber die Diktatur nicht abgeschafft hat. Drei Millionen Menschen, die zu einem Diktator ja sagen, sind ein politischer Faktor. Gegen drei Millionen Menschen baut niemand eine Demokratie auf. Insofern ist es schon richtig, zu fragen: Wie kann der Prozeß, der jetzt weitergeht, so laufen, daß viele dieser Wähler einbezogen werden? Nicht alle von ihnen sind ja „Jubelperser" ; es gibt sehr viele Rechtsextremisten, es gibt sehr viele Altnazis, es gibt auch sehr viele Rechtsterroristen. Aber das sind nicht diese drei Millionen Menschen insgesamt, und deshalb halte ich die Strategie der Oppositionsparteien, auch Signale in diese Wählerschaft zu geben, für richtig. Voraussetzung für das Plebiszit war eine große Einigkeit der politischen Opposition. Diese Einigkeit wurde sehr schwer errungen. Jahrelang gab es diese Einigkeit nicht. Diejenigen von uns, die immer wieder die Chance haben, dort auf die eine oder andere Weise zu helfen, wissen das. Aber jetzt ist die Einigkeit groß, und so ist etwas entstanden, was ich für einmalig halte. Durch dieses Plebiszit, das so viele Leute am Anfang abgelehnt hatten, weil es ja aus einer Verfassung stammt, die man selber nicht gewollt hat und die man auch nicht akzeptieren kann - denn es ist in weiten Teilen eine dikatorische Verfassung -, ist eine Art kultureller Sog für die Menschen entstanden, vor allen Dingen für die jungen Menschen in Chile, der viele von ihnen aus dem Gefängnis der Verzweiflung herausgeholt hat. In diesem Gefängnis der Verzweiflung waren viele junge Menschen der Meinung: Wir haben überhaupt nur eine Chance, wenn wir uns bewaffnen; wir haben überhaupt nur eine Chance, wenn wir uns Gruppen anschließen, die sagen, daß es nur mit Gewalt geht. Dies scheint mir das eigentliche Ergebnis des Plebiszits und des Vorlaufs zu sein, dieser fast singenden und tanzenden Kultur, die dort die Leute neugierig und aufmerksam gemacht hat, aber auch der großen Disziplin. Viele, viele, junge Menschen sagen jetzt: Da ist doch eine Hoffnung! Da ist doch eine Hoffnung, ohne Gewalt etwas zu erreichen. Einigkeit: Ich denke, es ist ganz wichtig gewesen, daß Hunderte von Abgeordneten und Gewerkschaftern, daß Hunderte von Journalisten am Platz waren, eine ganze Woche durchs Land gereist sind, an Veranstaltungen teilgenommen haben und die Wahllokale wirklich beobachtet haben. Sonst wäre das eingetreten, was Herr Schreiber und, glaube ich, auch Herr Volmer hier angedeutet haben: An dem Abend war vom Innenministerium ein anderer Ausgang vorbereitet worden. Es war ganz eindeutig, daß alles dafür vorbereitet worden war, das Ergebnis zu negieren ({0}) und Zustände auf den Straßen zu schaffen, bei denen das Militär hätte eingreifen können, und dann hätte man sozusagen den zweiten Putsch gemacht. Ich denke, die Beobachter und ihre Einigkeit waren ein wichtiger Faktor dafür, daß sich dann in der Nachtsitzung bei Pinochet niemand getraute, das wirklich zu tun. Einigkeit: Herr Volmer, ich habe vorhin, als Sie anfingen, einen Zwischenruf gemacht. Es gab große Zweifel an der Richtigkeit des Plebiszits, es gab große Zweifel in Ihrer Fraktion. Ihre Fraktion hat noch einen Antrag eingebracht. Ich will ihn jetzt nicht noch einmal zitieren, weil darin so viel Peinliches steht. Das sage ich in bezug auf das Plebiszit und auf Ihre Vorstellung, wir sollten gar nicht hingehen und gar nicht prüfen, wie die Wahl läuft, sondern sollten dort sozusagen die Massen mobilisieren helfen. Das steht in diesem Antrag. ({1}) - Gut, beides. Ich bin froh, daß Sie hier heute eine ganz andere Rede gehalten haben, daß Sie in diese Gemeinsamkeit zurückgefunden haben. Das ist sehr, sehr wichtig, denn in Ihrer Fraktion war eine andere Richtung angelegt. Nun ein Wort zu Herrn Geißler. Herr Schreiber, wir haben das im Ausschuß gestern auch schon einmal angesprochen. Herr Geißler hat, sei es bewußt, sei es unbewußt, sich dort als Werber für die Christdemokratie und nicht für die Demokratie geäußert. ({2}) - Wir wollen uns hier jetzt nicht streiten. ({3}) Ich möchte nur sehr herzlich bitten, daß die Übereinkunft, die wir im Laufe des letzten Jahres seit der großen Debatte, die wir über Chile hatten, gefunden haben, dazu führt, daß wir sagen: Wir Sozialdemokraten, wir grünen Demokraten, wir Liberaldemokraten, wir Christdemokraten kämpfen in Chile, in Lateinamerika nicht für unser Gärtchen, sondern wir kämpfen für eine Stabilisierung der Demokratie oder dort, wo Diktatur ist, für die Wiederherstellung der Demokratie. Dies ist die wichtigste Aussage, die heute westliche parlamentarische Demokratien gegenüber diesem Kontinent im Elend, im menschlichen und materiellen Elend machen können. Mich wundert es immer wieder, daß auf den Parteitagen der Christdemokraten sozusagen das christdemokratische Südamerika von morgen auch mit dem Beispiel El Salvador gebracht wird. Das ist nicht die Zeit, die Situation ist zu gefährlich geworden. Wir wollen heute keine Gesamtlateinamerikadebatte machen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter Repnik.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Duve, ich möchte Sie nur fragen, ob Sie mir zustimmen, daß der unerschrockene und unermüdliche Einsatz des Herrn Generalsekretärs Geißler in den letzten Jahren in schwierigsten Zeiten wesentlich mit zum Demokratisierungsprozeß in Chile beigetragen hat und daß er damit auch Verdienste gerade für die jetzige Entwicklung erworben hat.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wissen Sie, meine Familie sagt manchmal, daß ich nicht frei von Eitelkeit bin. ({0}) Ich habe mir bei den fünf Reisen, bei vielen schwierigen Besuchen in Gefängnissen auch im Süden Chiles, bei schwierigen Reisen, die sehr ermüdend waren, sehr viel Mühe gegeben, keine dieser Reisen und keinen dieser Gefängnisbesuche zu irgendeiner publizistischen Geschichte zu nutzen. Das ist meine Antwort auf Ihre Frage. Herr Geißler hat vor zwei Jahren in Chile eine hervorragende Rede gehalten. Die war bedeutend und wichtig, aber es wäre manchmal gut, wenn man sich im Lande selbst sagt: Ich ziehe die Medienwirksamkeit für die Person ein bißchen zurück, wenn es um Menschenrechte geht. - Das ist meine Antwort auf Ihre Frage. Wenn wir wieder zu einer gemeinsamen Linie zusammenfinden, dann ist das eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der Gemeinsamkeit der Opposition. Zur Zeit ist die Opposition stabiler, obwohl es 16 sind, als die Regierung. Die Opposition weiß, wohin sie will. Die Leute, die Pinochet unterstützen, auch die rechten Parteien, sind uneinig. Sie wissen nicht was sie wollen. Das ist eine große Chance, die wir nicht zerschlagen dürfen. Zu den Anträgen. Herr Volmer, ich denke, wir werden die Anträge überweisen und dann im Ausschuß haben. Sie wissen, unsere Position zu den 15 ist eindeutig. Es wäre schön gewesen, wenn wir diese Erklärung des Deutschen Bundestages im letzten Jahr bekommen hätten. Der wichtige Antrag scheint mir der zur Presse, den Sie gestellt haben. Selbstverständlich muß endlich auch die deutsche Wirtschaft begreifen, wenn sie durch Anzeigen ausschließlich Zeitungen unterstützt, die die Regierung unterstützen, daß sie politisch einseitig auf einen solchen Prozeß einwirkt. Wir haben eine Korrespondenz mit dem DIHT geführt, wo ich gemerkt habe: Die wissen im Grunde genommen gar nicht, wovon wir reden, wenn wir von einer Diktatur reden, in der sie wirtschaftlich tätig sind. Wir müssen dieses immer wieder fordern: keine Einseitigkeit, die politische Einseitigkeit bedeutet und die schwachen, die auch finanziell schwachen Kräfte der Opposition noch weiter mindert. Meine Damen und Herren, ein letztes Wort. Wir müssen auch deshalb mit Lateinamerika so wachsam und so sorgsam umgehen, weil wir in einigen der Länder dort - und das betrifft wohl nicht Chile - inzwischen Lebensformen und Regierungsformen haben und Gewaltformen sehen, daß Parlamente wie wir, Menschenrechtler, die da was tun wollen, überhaupt keine Adressaten mehr vorfinden, weil sozusagen das Mafiosenhafte der Entwicklung so schwierig geworden ist, daß ich manchmal gar nicht mehr weiß, an welche Agentur man sich wenden soll, um einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen zu helfen. Dies wird die Hauptaufgabe der 90er Jahre in Menschenrechtsfragen sein. Es ist gut, wenn wir da alle zusammenbleiben und immer sagen: Es geht zunächst einmal um die Stabilisierung der Demokratie und den Schutz der Menschenrechte. Das können wir gemeinsam machen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Plebiszit vom 5. Oktober herrscht in Chile eine außerordentlich labile Situation. Das Plebiszit war, wie die Kollegen Schreiber und Duve richtig gesagt haben, ein erster, unerläßlicher wichtiger Schritt. Aber durch den Sieg des „Nein" vom 5. Oktober ist die Demokratie keineswegs wiederhergestellt. Der Diktator ist angeschlagen, aber bekanntermaßen sind ja - um ein Beispiel zu geben - Tiere, die in die Enge getrieben werden, auch besonders gefährlich. Deshalb kommt es wirklich darauf an, daß die Politik der vereinigten demokratischen Opposition jetzt fortgesetzt werden kann, konsequent und nachhaltig. Es kommt also darauf an, daß zum einen die nicht ohne Mühe gewonnene Einigkeit dieser Parteien gewahrt bleiben kann, und es kommt darauf an, daß die Disziplin aufrechterhalten wird und auch - ich freue mich, daß Sie es gesagt haben, Herr Kollege Duve - die Fröhlichkeit, mit der diese Opposition an das Werk geht, die Demokratie wiederherzustellen. Hier kommt es - wie auch richtig gesagt wurde - entscheidend darauf an, daß sich die Parteien nicht erneut zerstreiten. Als wir im Herbst 1987 in Santiago waren, um an der zweiten Konferenz von APAINDE teilzunehmen, war noch nicht abzusehen, daß sich diese Koalition bilden würde. Es bestand Anlaß zur Sorge, daß dies nicht gelingen könnte. Es ist dann gelungen, und deshalb muß jetzt alles getan werden - auch von unserer Seite - , um dieser demokratischen Koalition zu helfen und ihr die Möglichkeit zu geben, sich dann auch auf die in der Zukunft so wichtigen Punkte zu einigen, nämlich erstens einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen vorzuschlagen und zweitens auch ein politisches Programm zu entwickeln, inklusive der wirtschaftlichen und sozialen Seite, mit dem die Opposition bei der Bevölkerung jetzt auch zu einer Sachentscheidung Zustimmung bekommen kann; bisher - machen wir uns nichts vor - ist die Einigkeit im wesentlichen auf das „Nein" beim Plebiszit beschränkt gewesen. Es wird wesentlich schwieriger sein, jetzt gemeinsame Grundsätze für die künftige Demokratie aufzubauen. Selbstverständlich - Herr Volmer, Sie haben recht - , die Verfassung muß geändert werden. Aber ich sage: Das geht nur einvernehmlich. Ich warne vor allem davor, daß man hier auch nur theoretisch davon spricht, daß eventuell Druck von der Straße gemacht werden müßte. Genau das wäre das Verkehrteste, was man machen könnte. Es wäre brandgefährlich. Wir haben ja eben schon davon gehört: Wie war es denn in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober? Es bestand doch die akute Gefahr, daß provoziert werden würde, und wäre nicht die demokratische Opposition so vorbildlich diszipliniert gewesen, daß eben kein Krawall auf der Straße stattfand, wer weiß, was geschehen wäre? Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang: Wir müssen alles vermeiden, was dazu führen könnte, den Diktator zu provozieren und dazu zu bringen, daß er in der Verlegenheit, in der er sich jetzt befindet, Dinge tut, die den Prozeß hindern, den wir alle wollen. Hier halte ich die zahlreichen Vorschläge, die jetzt in den Anträgen von den GRÜNEN vorgelegt werden, für nicht hilfreich. Ich muß das ganz offen sagen. Über den Antrag, der die oppositionelle Presse betrifft, kann man sicher reden. An dem, was dort ausgeführt ist, ist manches Wahre. Ich sehe z. B. auch nicht ein, warum nicht etwa die Deutsche Lufthansa, die ja Santiago anfliegt, in der Oppositionspresse einmal ein paar Anzeigen plaziert. ({0}) - Ich hoffe, daß irgend jemand der Deutschen Lufthansa mitteilt, daß ich das hier unter dem Beifall aller Fraktionen laut und deutlich gesagt habe. ({1}) - Richtig. ({2}) Zu dem zweiten, dem anderen Antrag, der die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen betrifft: Herr Volmer, ich möchte Sie wirklich bitten, hier etwas nachdenklicher zu sein. Wissen Sie, es kann nicht unsere Aufgabe als Deutsche sein, den Chilenen Vorschläge oder gar Vorschriften zu machen, wie sie ihre Vergangenheit aufzuarbeiten haben. Wir haben ja heute wieder erlebt, wie schwierig es noch nach 50 Jahren bei uns ist, unsere Vergangenheit aufzuarbeiten. Man sollte aus diesem Grunde sehr, sehr zurückhaltend mit derartigen Ratschlägen sein. Ich verweise auf die Gefahr, daß man mit einer zu rigorosen Politik, die noch dazu von außen vorgeschlagen wird, das Militär geradezu dazu provozieren würde - auch soweit es nicht schuldig geworden ist - , sich zu solidarisieren. Es besteht dann nämlich die Gefahr - wir haben das in Argentinien erlebt, wo sich Teile des Militärs solidarisiert haben - , daß der gewünschte Effekt genau in das Gegenteil umschlägt. Man muß doch auch sehen und erkennen, daß die 15 Todeskandidaten, auf die ich jetzt zu sprechen komme, in eine derartige Aufarbeitung der Vergangenheit natürlich auch einbezogen werden müßten. Es gibt sehr viele politische Gefangene. Es gibt eindeutig Folter, so daß ich kein gerichtliches Urteil in Chile akzeptieren kann, wenn es auf Grund von Folter zustande gekommen ist. Das ist völlig ausgeschlossen. ({3}) Aber auf der anderen Seite gibt es natürlich auch - ich rede jetzt nicht von den 15 - Menschen, die verurteilt worden sind und die auch in einem rechtsstaatlichen System zu Recht verurteilt worden wären. Auch diese Verfahren müßten dann alle wiederaufgenommen werden. Wir werden ja im Ausschuß Gelegenheit haben, darüber ausführlicher zu reden. Aber, Herr Kollege Volmer, ich wünsche mir hier gerade von Ihrer Fraktion etwas mehr Nachdenklichkeit auch über die möglichen Folgen. ({4}) Abschließend ein Wort zu den 15. Meine Fraktion hat letztes Jahr ihre Haltung zu dieser Frage ganz eindeutig dargelegt. Ich kann das nur wiederholen. Wir sind der Auffassung: Wenn in einem Terrorregime wie Chile Menschen zum Tode verurteilt worden sind, ist es für uns eine selbstverständliche Pflicht, diesen Menschen Asyl zu gewähren. Davon weichen wir in keinem Punkt ab. Ich frage mich aber auch hier, ob es weise ist, diesen Punkt durch eine erneute Resolution des Deutschen Bundestages jetzt wieder in die Öffentlichkeit zu ziehen. Das, was Sie geschildert haben - daß die Gefahr möglicherweise gerade jetzt droht, wo Pinochet seine Felle davonschwimmen sieht -, sehe ich auch. Wenn dieser Fall jetzt wieder vom Ausland nachdrücklich aufgerollt wird, könnte das genau zu der Konsequenz führen, die wir alle nicht wollen, daß nämlich die Todesurteile jetzt ausgesprochen und möglicherweise vollstreckt werden. Wir sind uns auch in dieser Menschenrechtsfrage unserer Verantwortung voll bewußt. Ich bitte alle Kollegen, dieses Haus insgesamt, die Sache, die heikel ist, die labil ist, so zu behandeln, wie sie behandelt werden muß, nämlich mit äußerster Zurückhaltung und Vorsicht, damit wir unseren Beitrag dazu leisten können, daß in Chile die Demokratie wiederhergestellt wird. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nur noch einige Bemerkungen an das anschließen, was meine Vorredner aus allen Fraktionen gesagt haben. Es ist richtig, daß wir alle begrüßt haben - schon bei einer früheren Debatte - , daß bei dem Plebiszit in Chile am 5. Oktober 1988 die Mehrheit des chilenischen Volkes in eindrucksvoller Weise ihr Bekenntnis zur Demokratie abgelegt hat, und daß wir im Deutschen Bundestag erklärt haben, daß das chilenische Volk bei der Wiedererrichtung der Demokratie wie schon bisher auf die Solidarität und Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland rechnen kann. Zur Unterstützung des chilenischen Volkes auf seinem schwierigen Weg zur Demokratie gehört, daß wir den politischen Prozeß in Chile mit dem Ziel unterstützen, daß die Chilenen ihr eigenes Haus in Ordnung bringen. Ein entscheidendes Ziel unserer bisherigen Politik wie unserer künftigen Bemühungen ist es, den Menschenrechten in Chile und der Demokratie endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Der richtige Weg zu vollen demokratischen Verhältnissen in Chile ist der Weg der nationalen Versöhnung, eines nationalen Paktes für die Demokratie, zu der in der Wahlnacht vom 5. Oktober 1988 führende Kräfte der demokratischen Opposition aufgerufen haben. In diesen Dialog will die chilenische Opposition das chilenische Militär einbeziehen, Herr Kollege Volmer, und das erscheint uns vernünftig. Bei ihren Bemühungen um die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse haben die demokratischen Kräfte unsere volle Unterstützung. Wir sollten - das hat Herr Irmer hier völlig zu Recht gesagt - nicht im vorhinein bereits jetzt Ratschläge an die chilenische Opposition erteilen, wie sie dann verfahren solle, wenn sie möglicherweise in einer demokratischen Wahl die Mehrheit gewonnen hat. Wir haben im Zusammenhang mit der Diskussion um die 15 von der Todesstrafe bedrohten Chilenen der chilenischen Regierung unsere Auffassung zur Todesstrafe mehrfach klargemacht. Zur Zeit besteht jedoch keine konkrete Gefährdung der Betroffenen. In vier Fällen wurde die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Bei weiteren elf Angeklagten ist bisher noch kein Urteil gesprochen worden. Alle Beobachter einschließlich der Menschenrechtsgruppen gehen davon aus, daß mit Todesstrafen nicht zu rechnen ist. Daher hat die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 8. Oktober 1987 weiterhin volle Gültigkeit. Was die Frage einer möglichen Aufnahme der 15 Chilenen betrifft, über die hier schon sehr viel diskutiert worden ist, sehen wir uns seitens des Auswärtigen Amtes zu keiner Stellungnahme veranlaßt. Eine Übernahmeerklärung fällt in die federführende Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern. ({0}) Die Bundesregierung bemüht sich bei ihrem Eintreten für Menschenrechte und politische Freiheit in Chile seit langem um Pressefreiheit und berufliche Unabhängigkeit chilenischer Journalisten. Einschränkungen der Betätigungsfreiheit der Presse in Chile hat die Bundesregierung wiederholt zum Anlaß genommen, dagegen vorzugehen, u. a. auch im Falle von Pablo Cárdenas, des Herausgebers von „Analysis". Im übrigen, Herr Kollege Irmer, nicht nur weil Sie meiner Fraktion angehören, sondern weil ich festgestellt habe, daß Sie heute abend einen konkreten Vorschlag gemacht haben, der bisher noch nicht gemacht worden ist, würde ich sagen: Die Idee mit der Lufthansa finde ich sehr gut. Es gibt aber eine ganze Reihe anderer größerer deutscher Firmen, die man vielleicht ebenfalls noch ansprechen könnte. Ich würde z. B. Siemens nennen, ein Unternehmen, das sehr häufig bei allen möglichen Vergaben unterstützt wird. Uns fallen sicher viele Firmen ein, die man auf die Idee bringen könnte, vielleicht auch in der oppositionellen Presse in Chile die eine oder andere Annonce aufzugeben. Ich kann das nur voll unterstützen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

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Gerne. Das war schon das Ende meiner Rede; aber ich bin gern bereit, noch eine Zwischenfrage zuzulassen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Duve, bitte.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es trotz aller wichtigen Gemeinsamkeit, die wir haben, natürlich manchmal auch, ich will nicht sagen: Erstgeburtsrechte gibt, aber daß der Vorschlag, daß deutsche Firmen, namentlich die Lufthansa, in oppositionellen Zeitungen inserieren, seit Jahren von uns und anderen in Chile, in Santiago, in Konferenzen mit allen dortigen Oppositionszeitungen, die ich z. B. mehrmals eingeladen habe, um so etwas zu besprechen, gemacht worden ist? ({0})

Not found (Gast)

Herr Kollege Duve, ich möchte mich nicht in Geburtsrechte einschalten. Ich hielt das nur für den heutigen Abend für eine gute Idee. Aber ich räume selbstverständlich ein, daß wir Ihnen, wenn Sie diese schon vor Jahren hatten, nachträglich unser Lob spenden. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Das Wort nach § 30 der Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Der verehrte Kollege Duve hat in seiner Rede einige Bemerkungen zu meiner Haltung zum Plebiszit und auch zu der von mir dazu formulierten Politik gemacht. Dazu muß ich einige richtigstellende Kommentierungen vortragen. Herr Duve hat behauptet, wir hätten das Plebiszit nicht beobachten wollen, sondern statt dessen aufgerufen, Massenmobilisierungen zu unterstützen. Dies ist so nicht richtig. Wir haben uns dagegen gewehrt, daß die Beobachtung des Plebiszits auf einen rein technischen Beobachtungsakt reduziert sein sollte. Das haben wir für viel zu eng gehalten. Deshalb haben wir immer gesagt: Beobachtung zum Zeitpunkt des Plebiszits muß stets heißen, die politische Gesamtszenerie zu beobachten, nicht nur die Vorgänge in den Wahllokalen an den Wahlurnen. Zweitens haben wir immer gesagt, daß die Anwesenheit der Beobachter gleichzeitig auch bedeuten müßte, daß der Opposition, und zwar bei allen oppositionellen Strategien, die ich nämlich gegenüber einer solchen Diktatur sämtlich für legitim halte, der Rücken gestärkt werden müßte. Nun sagen Sie, wir oder ich sei in einen Konsens zurückgekehrt. Den Konsens, daß der Diktator mit allen Mitteln gestürzt werden müßte, haben wir nie verlassen; ganz im Gegenteil, das war immer unser authentisches Anliegen. Die Frage ist nur, was der Konsens im Moment ist. Wir werden immer im Konsens mit jedem sein, der darauf abzielt, eine wirkliche Demokratie in Chile herzustellen, an der alle politischen Kräfte beteiligt sind, die einen Gestaltungswillen für Chile haben. In dem Moment allerdings, wo wir und diejenigen, mit denen wir in Chile besonders eng befreundet sind, die Gefahr sehen, daß der Verhandlungsprozeß mit Pinochet nicht weit genug geht... ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie machen schon wieder eine Debatte.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz, Frau Präsidentin -, sondern nur gewisse Parteien oder ideologische Grundströmungen in den Genuß der Teilnahme an der Demokratie kommen, geht es mit dem Konsens wieder sehr weit auseinander. ({0}) - Das ist das gleiche.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Wir haben noch die Anträge der GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Erhebt sich Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wenn Sie einen Moment warten; Herr Stücklen wird mich ablösen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN Errichtung einer internationalen Begegnungsstätte für Frieden und Versöhnung in Guernica, Baskenland zu dem Antrag der Fraktion der SPD Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien - Drucksachen 11/362, 11/483, 11/3180 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Pohlmeier Duve Dr. Feldmann Mir liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Änderungsantrag der Fraktion DIE Vizepräsident Stücklen GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3276 und 11/3281 vor. Meine Damen und Herren, interfraktionell ist ein Beitrag von 5 Minuten für jede Fraktion vereinbart. Das Haus ist damit einverstanden? - Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kelly.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegen und Kolleginnen! Am 26. April 1937 legte Hitlers Legion Condor die baskische Stadt Guernica in Schutt und Asche. Der 26. April 1937 war Markttag. Vier Stunden lang flogen Geschwader in Abständen von 20 Minuten über Guernica, mit Splitterbomben und Brandbomben bestückt - der Auftakt zu einer noch grausameren Art der Luftkriegsführung. Die Legion Condor bestand aus Personal der deutschen Wehrmacht, die Bomber stammten von der deutschen Luftwaffe, und die Legion Condor unterstand deutschem Befehl. Die deutsche Verantwortung für den Bombenangriff ist unbestreitbar. Die mehr als eineinhalbjährige Vorgeschichte des Antrags, über den wir sprechen, hat in beklemmender Weise deutlich gemacht, wie schwer man sich im Bundestag tut, wenn es darum geht, ein von Deutschen im Dritten Reich begangenes Verbrechen beim Namen zu nennen und eine ohnehin nur symbolische Geste der Versöhnung zu beschließen. Diese Beklemmung wird gewiß nicht kleiner angesichts der Peinlichkeit des heutigen Vormittags, der dem 50jährigen Gedenken an ein anderes Naziverbrechen gewidmet sein sollte. Die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Bomber der deutschen Legion Condor war uns bisher keine Gedenkstunde wert. Als ich im April 1987 an den Gedenkfeiern in Guernica zum 50. Jahrestag der Bombardierung teilgenommen hatte, verspürte ich deutlich, wie sehr das Ausbleiben jeder versöhnlichen Geste der Bundesrepublik die Basken enttäuschte. Ich entschloß mich daher, im Bundestag einen, wenn möglich, von allen Fraktionen mitgetragenen Antrag einzubringen, mit dem die Bundesregierung aufgefordert werden sollte, sich zu eben dieser im Baskenland vermißten Geste bereit zu finden und als Zeichen ihres guten Willens ein von der Stadt Guernica wie auch vom baskischen Parlament gewünschtes Vorhaben, nämlich die Errichtung eines Friedensforschungszentrums, zu unterstützen. Leider haben die inzwischen verstrichenen Monate gezeigt, daß es trotz einer sehr weitgehenden Übereinstimmung zwischen Freimut Duve und mir - die ich dankbar anerkenne - und trotz unser beider Bereitschaft, selbst die moderatesten Formulierungen um der Gemeinsamkeit aller Fraktionen willen zu akzeptieren, unmöglich war, eben diese Gemeinsamkeit zu erreichen. Heute haben wir leider zwei gleichlautende, separate Anträge von GRÜNEN und SPD. Ich will all die enttäuschenden Stationen in der Beratung dieses Antrags nicht aufzählen. Aber ich kann nicht verschweigen, daß mich die dabei gemachten Erfahrungen, die vielen Querschüsse durch gezielte Fehlinformationen und eindeutig falsche Behauptungen sehr enttäuscht haben. Was ist da nicht alles gesagt und vorgebracht worden, Herr Schäfer? Es seien doch kaum deutsche, sondern italienische Flieger gewesen, der Angriff sei ohnehin nur auf Wunsch Francos geflogen worden - auch das habe ich hier gehört -, die Basken würden ja gar kein Friedensforschungszentrum wollen, sondern eine deutsche Unterstützung bei der Berufsbildung Jugendlicher. Die spanische Regierung habe angeblich Bedenken gegen ein solches Zentrum, und man werde erst auf spanische Initiativen warten müssen. Und dann der Vorschlag, 10 000 DM Zuschuß für eine Bibliothek in Guernica sei doch übrigens genug. Doch schon 1980 wandte sich eine Kommission des Stadtrats Guernica an Bundeskanzler Schmidt mit der Bitte um eine solche Geste. Dr. Heiner Geißler schrieb 1981, daß die CDU in dieser Frage die Initiative ergriffen habe mit dem Vorschlag einer politischen Geste. Doch nichts, aber auch nichts ist seitdem geschehen. Die von den GRÜNEN und mir sowie der SPD eingebrachte Initiative ist mit den bereits genannten, unzutreffenden Einwänden bisher abgeblockt worden. Die von uns vorgelegte Guernica-Dokumentation und ein klärender Brief des Bürgermeisters von Guernica, den ich mitgebracht habe, Herr Schäfer, setzen klare Maßstäbe. Ich zitiere aus seinem Brief, abgedruckt in der „Süddeutschen Zeitung" vom 3. August 1988: Seitens des Rathauses von Guernica und meinerseits als Bürgermeister von Guernica gibt es keine Vorbehalte gegenüber diesem Friedensforschungszentrum, das wir als ein sehr positives Projekt betrachten. Ich zitiere ferner, Herr Schäfer: Unsererseits gibt es nicht den Wunsch, den möglichen Beitrag für dieses Zentrum limitiert zu sehen, noch daß ihm eine geringere Bedeutung zugeschrieben wird. Botschafter Brunner wie auch Staatsminister Schäfer, die das Gegenteil behauptet haben - das haben Sie behauptet, Herr Schäfer - , sind damit widerlegt. Die hier vorliegenden Anträge der Opposition tragen diesen Tatsachen Rechnung. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP fordere ich auf, ihre absolut unzureichenden Vorschläge noch einmal zu überdenken. Wer bereit ist, sich an einem amerikanischen MarineEhrenmal mit 100 000 DM zu beteiligen, der kann doch in Guernica, wo es um deutsche Schuld geht, nicht derart zurückhaltend sein. Mit der Städtepartnerschaft Guernica/Pforzheim allein - so sehr sie auch zu begrüßen ist - und anderen kleinen Präsenten kann es nicht sein Bewenden haben. Zuletzt: Ein christdemokratischer baskischer Minister hat mir bei meinem letzten Besuch im Baskenland gesagt, durch das ihren Stolz verletzende Hin und Her im Deutschen Bundestag fühlten sich die Basken wie zum zweiten Mal von Deutschen bombardiert. Ich frage Sie: Muß das wirklich der endgültige, von uns zu verantwortende Eindruck sein? ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pohlmeier.

Dr. Heinrich Pohlmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Juni 1987 beschäftigen sich der Deutsche Bundestag und in mehreren Sitzungen der Auswärtige Ausschuß mit dem Gedenken an die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica. Als Ergebnis dieser Bemühungen liegt uns heute eine Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses vor. Darin wird dem Deutschen Bundestag empfohlen, die Städtepartnerschaft zwischen der Stadt Pforzheim und Guernica besonders zu fördern. Die Oppositionsfraktionen - SPD und die GRÜNEN - haben dieser Beschlußempfehlung nicht zugestimmt. Wir von der Koalition halten die besondere Ausgestaltung der Städtepartnerschaft zwischen Pforzheim und Guernica für die geeignete Form des Gedenkens an die Bombardierung der baskischen Stadt durch Flugzeuge der sogenannten Legion Condor im Jahre 1937. Wir meinen, daß eine möglichst auf die Zukunft gerichtete Form der Erinnerung gefunden werden muß. Die Vernichtung der Stadt Guernica auf dem Höhepunkt des spanischen Bürgerkriegs war ein schreckliches Zeichen für die wahllose Tötung unschuldiger Zivilisten in einem modernen Krieg. Das erschütternde Kunstwerk Pablo Picassos hat Guernica zu einem weltweit bekannten Symbol für die Brutalität moderner Kriegsführung gemacht. Die Erinnerung daran wachzuhalten sollte besonders eine Aufgabe für uns Deutsche sein, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges erfahren mußten und die wie auch Menschen aus anderen europäischen Nationen an der schrecklichen Zerfleischung der Spanier in ihrem Bürgerkrieg beteiligt waren. Heute aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollte es unsere Aufgabe sein, Erinnerung, Gedenken und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit umzuwandeln in politisches Handeln für die Zukunft. Wir begrüßen es daher außerordentlich, daß mit dem jetzt zusammenwachsenden Europa die Menschen in einzelnen Städten und Regionen, die besonders von der kriegerischen Zerstörung betroffen waren, sich in brüderlicher Gemeinschaft zusammenfinden. Aus der Städteverbindung Pforzheim und Guernica kann ein solches friedliches Werk für die Zukunft entstehen. Die konkrete Ausgestaltung von Projekten sollten wir aber den beiden Städten selber überlassen. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, daß es in Guernica, dem historischen und symbolkräftigen Zentrum der autonomen Region des Baskenlandes, einen Sinn macht, eine Bibliothek mit besonderer Zielsetzung zu fördern. Der Raum Guernica hat aber auch schwierige wirtschaftliche Entwicklungsprobleme. Das Baskenland leidet auch heute noch unter dem ETA-Terror. Während in vielen anderen Regionen Spaniens seit dem Beitritt zur EG eine starke wirtschaftliche Dynamik festzustellen ist, zögern im Baskenland viele Investoren mit ihrem Engagement. Das Baskenland ist aber von Natur aus eine wirtschaftlich sehr entwicklungsfähige Region. Es hat einen bedeutenden Ansatz von Klein- und Mittelindustrie. Der Reichtum an Kindern und jungen Menschen ist sehr groß. Wenn wir in dieser Region partnerschaftliche Hilfe leisten wollen, dann sollten wir das durch Förderung der Berufsausbildung tun. In der Europäischen Gemeinschaft ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit sicher vornehmlich eine Aufgabe der europäischen Institutionen. Ich bin aber der Meinung, daß hier im Falle Guernicas als eine Ausnahme die bilaterale Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dieser Region versucht werden sollte. Wenn wir in dieser Richtung einen bescheidenen, aber doch sichtbaren Beitrag für die Zukunft Guernicas und des Baskenlandes leisten können, dann werden wir Deutschen der Aufgabe des Erinnerns und Gedenkens nach meiner Meinung in besserer Weise gerecht, als wenn wir, wie es die Oppositionsparteien fordern, in Guernica ein Friedensforschungszentrum errichten. Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Sinne der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zuzustimmen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute morgen des inneren, im Deutschen Reich organisierten Terrors gedacht. Wir diskutieren jetzt den Beginn des äußeren Bombenterrors 1937. Es ist sicher kein Ruhmesblatt, daß wir über ein Jahr daran diskutiert haben. Das war der erste massive Luftangriff auf Zivilbevölkerung. Der von Deutschen geflogene Angriff war das Vorbild dessen, was viele junge Menschen jetzt etwa in der dritten Folge des Films „Bertini" erlebt haben, nämlich was es bedeutet, daß Bomben in die Häuser kommen, daß die Tötungsabsicht bis in die Keller hineinkommt. Ich habe das noch erlebt, jede Nacht, Nacht um Nacht. Guernica ist das Symbol für den Beginn des Terrors gegen zivile Frauen und Kinder; denn in der Regel waren die Männer im Krieg. Wer viele Jahre in einer Großstadt wie Hamburg Nacht um Nacht im Keller gesessen hat, der hat erlebt: der Krieg wird auch gegen die Kinder geführt, oder wer dort in Coventry im Keller gesessen hat, der hat sich nach dem Krieg erkundigt: Womit hat das angefangen? - Guernica ist der Beginn. Das ist der Grund, warum wir in unserem Antrag gesagt haben: Laßt uns dort diese Sache erforschen. Wie kam es zur Kriegführung, zur Idee der Kriegführung gegen Frauen und Kinder? Das ist etwas in der Kriegsgeschichte immer Geächtetes. Das hat es zwar immer gegeben, aber es ist immer geächtet worden. Die Wertvorstellung war: Der Soldat soll kämpfen, ehrenvoll kämpfen. Plötzlich gab es einen völligen Zusammenbruch auch dieses Wertes. Es wurden zivile Menschen angegriffen. Das ist im Grunde genommen der Kern der Idee dieser Anträge, die wir und die GRÜNEN heute noch einmal einbringen. Wir sagen: Wenn die Basken es selber mittragen - wir haben uns erkundigt: Das tun sie -, laßt uns dort ein Forschungsinstitut aufbauen, an dem dieser Frage nachgegangen wird. Diese Frage wird nämlich immer nur so ein bißchen am Rande betrachtet. Es soll nicht allgemein um Abrüstung hier und dort gehen, sondern diese Frage soll untersucht werden. Das wollten wir gern. Die vier Berichterstatter, Herr Pohlmeier, aus den vier Fraktionen waren in einem sehr schönen Gespräch schon einmal fast soweit. Sie hatten dem auch zugestimmt. Ihre Fraktion hat das aber nicht mitgetragen, dem Sie schon Ihre Zustimmung gegeben hatten. So sind wir heute in der mißlichen Lage, daß der Auswärtige Ausschuß einen Antrag empfiehlt, der im Ausschuß von der Union gekommen ist, aber die Urheber - die Sozialdemokraten, die GRÜNEN - werden sozusagen abgeschmettert. Das passiert im parlamentarischen Leben manchmal so, aber es ist an diesem Punkt ganz unnötig. Es wäre sinnvoll gewesen, wir hätten gemeinsam zu einer solchen Geste gefunden. Ich bedaure, daß es bisher nicht dazu kam. Ich möchte Sie doch noch einmal auffordern, diesem Antrag - unser Antrag ist ja wortgleich - zuzustimmen. Ich glaube, es wäre ein wichtiges Zeichen. Ein letztes Wort. Herr Staatsminister Schäfer, ich habe es bedauert, daß unser Botschafter, der ja für uns alle da ist, wie ich finde, ich will es vorsichtig sagen: unsensibel mit der Sache umgegangen ist und sich selber, wenn man so will, ein bißchen desavouiert hat. Er hat nämlich in einer so diffizilen Situation über einen wichtigen Bürger des Baskenlandes etwas behauptet, was nachher von dem Betroffenen selber in einem Leserbrief in der „Süddeutschen Zeitung" zurückgewiesen werden mußte. Das war nicht gut. Das sollte hier auch noch einmal gesagt werden. Ich will Sie, Herr Staatsminister, dafür gar nicht in Haft nehmen. Sie haben seinerzeit im Ausschuß nur das berichtet, was Ihnen der Botschafter gesagt hatte. Das war nicht gut. Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen, auch in Richtung auf Madrid, auch in Richtung auf den spanischen Botschafter: Dieser Antrag trägt der außerordentlich schwierigen Lage zwischen Madrid und dem baskischen Volk Rechnung. Ich glaube, er akzeptiert sehr sensibel, daß wir nicht einfach selbstgerecht in dieses Spannungsfeld hineingehen können. Darum stimmen Sie alle diesem Antrag jetzt zu. Es wäre ein guter Weg. Danke. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ursprüngliche Antrag der SPD-Fraktion trägt den sehr schönen und passenden Titel „Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien". ({0}) - Das haben Sie nicht hineingeschrieben. Ich habe nur Ihren ursprünglichen Antrag zitiert. Es ist deshalb eigentlich bedauerlich, daß auch in dieser Debatte eine so große Uneinigkeit deutlich geworden ist. Um hier nichts Falsches stehenzulassen, möchte ich mir erlauben, Frau Kelly, darauf hinzuweisen, daß nicht zuletzt Ihre Hartnäckigkeit schuld daran ist, weil Sie diese Geste des Friedens und der Versöhnung nur in einer bestimmten Form haben wollten. Sie haben ein Friedensforschungszentrum vorgeschlagen. In Ihrem Änderungsantrag findet sich jetzt die Formulierung von einem baskischen Plan eines Friedensforschungszentrums. Verehrte Frau Kollegin Kelly, ich bezweifle, daß dies ein baskischer Plan ist. Das ist Ihr Plan gewesen, und Sie haben sich mit großer Obsession allen Versuchen entzogen, die die vier Berichterstatter unternommen haben, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Irmer, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie sagten, ich hätte eine „Obsession" gehabt?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe gesagt, daß Sie und Ihre Fraktion die Obsession hatten, diese Geste nun ausschließlich in Form eines Friedensforschungszentrums anbringen zu wollen. Wir hätten uns doch darüber unterhalten können. Schauen Sie mal. Sie sagen: „der baskische Plan". ({0}) - Also, wenn Sie an dem Begriff „Obsession" Anstoß nehmen, bin ich gern bereit, das zurückzunehmen. Das war nicht persönlich gemeint. Ich habe nur referiert. Wir sind doch jetzt seit eineinhalb Jahren mit diesem Problem beschäftigt, einfach deshalb, weil Sie über gar nichts anderes mit sich haben reden lassen. Sie haben gesagt: Das muß so sein, wie wir uns das vorstellen. Und jetzt frage ich Sie einmal: Ich kann doch hier nicht seriöserweise einen Beschluß fassen, der sagt, wir richten ein Friedensforschungszentrum ein, ohne daß ich zugleich sage - Herr Duve hat soeben versucht, zumindest die Aufgabe zu umreißen - : Erstens, wie soll es finanziert werden? Zweitens, wer soll dort hin? Welche Wissenschaftler oder Sachverständigen sollen überhaupt nach Guernica ziehen und dort arbeiten? Wer will das? Das sind doch alles Probleme, die man hätte klären müssen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie trotzdem noch eine Zusatzfrage?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich gern.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wollte die Frage an Sie anschließen, ob ein Mitglied Ihrer Fraktion in den ganzen letzten eineinhalb Jahren, seitdem dieser Antrag gestellt ist, sich wie ich am Ort in Guernica beim Stadtrat, beim Bürgermeister, bei den gesellschaftlichen Gruppen informiert hat und ob irgendein Mitglied Ihrer Fraktion ein klares Bild von dem baskischen Plan im baskischen Parlament hat?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Kelly, ich weiß nicht, ob ein Mitglied meiner Fraktion dort unten war. Sie wissen: Ich bin eigentlich nicht der Berichterstatter; ich stehe hier nur, weil Frau Hamm-Brücher heute nicht anwesend sein kann. Ich weiß nicht, ob Frau HammBrücher unten war. Aber selbst wenn sie es nicht war: Dies liegt doch auf der Hand. Uns ist nie vorgetragen worden, wie denn dieses Friedensforschungszentrum eigentlich ausschauen soll. Zwischendurch ist dann auch einmal gesagt worden - ich weiß nicht, ob Sie das persönlich waren - : Wenn kein Friedensforschungszentrum, dann irgendeine Umweltagentur oder Derartiges. Das macht doch klar, daß es Ihnen hier gar nicht in erster Linie darum geht, den Basken und der Stadt Guernica zu helfen, sondern daß es Ihnen wiederum einmal darum geht, eine ideologische Position durchzusetzen. Das treffen wir ja bei Ihnen immer wieder. ({0}) Deshalb muß ich hier den Staatsminister Schäfer und jene Kollegen der Koalition in Schutz nehmen, die sich Ihrem Vorschlag nicht anschließen konnten. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß wir nicht bereit gewesen wären, eine deutliche und umfassendere Geste vorzuschlagen. Wir haben nun gesagt: Wir nehmen die Tatsache, daß eine Städtepartnerschaft bereits besteht. Wir wollen diese Städtepartnerschaft mit unserer Hilfe, auch durch Bundesmittel und Ideen, mit Leben erfüllen. Ich glaube, das ist der beste Vorsatz, den wir heute fassen können: daß wir dieses bedauerliche Gezänk hier vergessen, daß wir der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zustimmen und uns in einem Jahr wieder darüber unterhalten, was aus den Beziehungen zwischen Pforzheim und Guernica geworden ist. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD sowie den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3276 und 11/3281. Die beiden Änderungsanträge sind wortgleich. Ich lasse deshalb über diese Änderungsanträge gemeinsam abstimmen. Wer für die Änderungsanträge stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit Mehrheit sind die Änderungsanträge abgelehnt. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3180 ab. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Keine Gegenstimme. Enthaltungen? - Enthaltungen aus den Fraktionen der SPD und DIE GRÜNEN. Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften - Drucksache 11/2302 Erste Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 11/3189 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Olderog Dr. Hirsch Wartenberg ({1}) ({2}) Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Ich sehe, das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger.

Carl Dieter Spranger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002205

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir heute beraten, sind die Möglichkeiten, die das geltende Verfassungsrecht bietet, weitgehend ausgeschöpft. Dieses Gesetz kann die anstehenden Probleme nicht lösen, es kann nur dazu beitragen, daß diese Probleme nicht noch größer werden. Die Diskussion über die Asylbewerberproblematik wird auch in diesem Hause schon auf Grund des Antrages der SPD-Fraktion zur Flüchtlings- und Asylkonzeption weitergehen. Ich darf zunächst unbestreitbare Fakten darlegen: Erstens. Wir müssen in diesem Jahr mit etwa 100 000 Asylsuchenden rechnen. Bis Ende Oktober hat das Bundesamt in Zirndorf über 78 000 Asylbewerber registriert, 80 % mehr als im Vergleichszeitraum 1987. Zweitens. Die Anerkennungsquote des Bundesamtes liegt derzeit bei 8,8 %. ({0}) Das bedeutet, daß von 100 Asylbewerbern nur etwa 9 die Anerkennungsvoraussetzungen erfüllen. Von den erwarteten 100 000 werden also voraussichtlich etwa 90 000 abgelehnt werden. Drittens. Der derzeitige Zustrom von Asylbegehrenden stellt die Länder und Kommunen vor kaum lösbare Unterbringungs- und Finanzierungsprobleme. Pari. Staatssekretär Spranger Viertens. Der derzeitige Zustrom übersteigt die Verfahrens- und Entscheidungskapazitäten von Exekutive und Judikative trotz massiver Personalverstärkungen. Fünftens. Anzeichen dafür, daß dieser Zustrom nachläßt, sind nicht ersichtlich. Unser Asylrecht bietet die Möglichkeit der unkontrollierten und unsteuerbaren Einreise für eine gegebenenfalls auch längere Dauer. Wir sind aber kein Einwanderungsland. Wir streben auch keine multikulturelle oder multinationale Gesellschaft an. Weder in den westlichen Industrienationen - ich nenne nur die Konflikte in Nordirland oder im Baskenland - noch in Asien oder Afrika kommt man mit derartigen Vorstellungen zurecht. Viele unserer Asylsuchenden haben sich doch gerade auf die Flucht begeben, weil in ihrer Heimat das Zusammenleben in einer sogenannten multikulturellen oder multinationalen Gemeinschaft blutig scheitert. Aus der Diskussion der letzten Zeit zur Asylbewerberproblematik möchte ich einige Aspekte herausgreifen. Die Forderung, rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber umgehend abzuschieben, ist im Ansatz berechtigt. Der dem Innenausschuß dieses Hauses vorliegende Bericht einer Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz zeigt allerdings die ganz engen Grenzen der Durchsetzbarkeit solcher Forderungen auf. Im übrigen müssen wir uns endlich eingestehen, daß die Fälle der Nichtabschiebung auch systembedingt sind. Wenn sich ein Ausländer erst einmal im Bundesgebiet befindet, hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nur die Verantwortung, ihn keiner politischen Verfolgung auszusetzen, sondern es wird ihr auch die politisch-moralische Forderung auferlegt, den Ausländer nicht wieder den Wirren eines Bürgerkrieges oder einem Dasein in wirtschaftlicher Not auszusetzen. Insoweit wirkt sich das mit der Asylrechtsgarantie verbundene Einreise- und vorläufige Aufenthaltsrecht weit über das Asylrecht hinaus aus. ({1}) Wir haben mit Interesse auch von dem Vorschlag des Kollegen Bernrath Kenntnis genommen, die Gerichtsverfahren im Asylrecht grundsätzlich auf eine Instanz zu beschränken. Diesen Vorschlag werden wir gründlich prüfen. ({2}) In der derzeitigen Diskussion spielt zu Recht die Frage einer Harmonisierung des Asylrechts innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine nicht unbedeutende Rolle. Ich halte es allerdings für unredlich, in der Öffentlichkeit einerseits eine europäische Harmonisierung und eine europäische Flüchtlingskonzeption zu fordern und andererseits zugleich zu betonen, daß Art. 16 des Grundgesetzes absolut unberührt bleiben müsse. Jeder von uns, der die asylrechtlichen Probleme in Europa verfolgt, weiß ganz genau, daß die Forderung, eine Harmonisierung des Asylrechts in Europa auf dem Niveau des Art. 16 des Grundgesetzes zu vollziehen, heute noch weniger als 1977 durchsetzbar ist. Schon damals hat sich nicht ein einziger EG-Mitgliedstaat bei der Genfer Asyl-Konferenz bereitgefunden, den Vorschlag der Bundesrepublik Deutschland auf Schaffung eines Individualanspruchs auf Asyl zu unterstützen. ({3}) - Herr Kollege Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, oder ist Ihnen bekannt, daß die Auslegung des Flüchtlingsbegriffs nach dem deutschen Asylverfahrensgesetz schon jetzt enger ist als nach der Genfer Flüchtlingskonvention, ({0}) also nach unseren internationalen Verpflichtungen?

Carl Dieter Spranger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002205

Es mag ja sein, daß das enger ist. Nur ändert das nichts daran, daß die Problematik innerhalb der EG so zu bewerten ist, wie ich das darzustellen versucht habe. Die Frage, der wir uns alle in absehbarer Zeit stellen müssen, wird vielmehr konkret lauten, ob wir bereit sind, uns einer von unseren europäischen Nachbarstaaten, auch den sozialdemokratisch regierten, übereinstimmend als sachgerecht und notwendig erachteten Regelung über eine Harmonisierung der Asylpraxis in Europa voll und zu gleichen Bedingungen anzuschließen und dabei erforderlichenfalls notwendige Anpassungen auch unseres Verfassungsrechts vorzunehmen oder einer solchen Regelung in der Erkenntnis beizutreten, daß wir wegen unserer besonderen Rechtslage noch zusätzliche Belastungen auf uns nehmen müssen. Ungelöste Fragen des Asylrechts und Ungereimtheiten bei seiner Handhabung erschweren auch eine umfassende vernünftige Ausländerpolitik. Die Akzeptanz bei der Bevölkerung für die auf dem Gebiet der Ausländerpolitik dringend erforderlichen Steuerungsentscheidungen und Integrationsbemühungen wird wesentlich davon beeinflußt, ob es gelingt, auf dem Gebiet des Asylrechts den Eindruck staatlicher Hilflosigkeit durch überzeugende, dauerhafte Lösungen zu beseitigen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Dr. Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute abend zwar über grundsätzliche Fragen des Asylrechts, aber ich glaube, das darf uns, schon gar nicht nach dieser sehr, sehr kühlen Rede, die wir eben hörten, nicht daran hindern, auch auf die schlimmen rhetorischen Zündeleien einzugehen, die uns Unionspolitiker aus dem Süden und dem Südwesten ({0}) in den vergangenen Wochen zugemutet haben. ({1}) Ich muß das leider wiederholen, damit es nicht so schnell aus dem Gedächtnis verschwindet. Der Herr Innenminister Edmund Stoiber aus Bayern malt Schreckensbilder oder vermeintliche Schreckensbilder an die Wand uns spricht von einer „multinationalen Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchraßt" . Er hat - ich weiß es - zwar diese Ausdrücke zurückgenommen, ({2}) aber meiner Meinung nach zu zaghaft und halbherzig, als daß wir es ihm als ehrliche Entschuldigung und Klarstellung anrechnen könnten. Es gibt ein jüngstes beschämendes Beispiel. Es stammt vom CDU-Europa-Abgeordneten Siegbert Alber. Er äußerte: „Multikulturelle Einrichtungen sollten sich auf die Küche beschränken." ({3}) Er sei gegen „Bevölkerungsgulasch". ({4}) Meine Damen und Herren, welcher Geist legt Politikern eigentlich solche Wortmonstren in den Mund? ({5}) Ich wehre mich im allgemeinen gegen die verbreitete Praxis, zwischen ausländerfeindlichen Parolen von heutzutage und dem Vokabular von damals direkte Vergleiche zu ziehen, schon deshalb, weil solche Vergleiche und Parallelen die Einmaligkeit des Nazi-Terrors aufheben und die Verbrechen dieser Zeit verharmlosen. Aber ich gestehe: Zuweilen fällt es mir schwer, diesem Grundsatz treu zu bleiben. ({6}) Es macht um so betroffener, daß in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Gedenkveranstaltungen der Pogromnacht vor fünfzig Jahren die Stimmung gegen Asylsuchende so geschürt wird. Ausgerechnet diejenigen, die mit warnendem Unterton die hohen Asylbewerberzahlen immer wieder präsentieren, als drohe unserem Land ein Dammbruch - so wird es ja dargestellt - , sind es doch, die in der Bevölkerung dumpfe Ängste auslösen und schließlich über ausländerfeindliche Tendenzen wehklagen, die sie im Grunde mit erzeugt haben. ({7}) Das gilt leider auch für Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Lothar Späth, der mit seinen jüngsten Äußerungen zum Asylrecht in Wahrheit offenbar Verbeugungen vor rechten Splitterparteien macht. Solche Politiker sind es, die erst einen guten Nährboden für die Furcht vor angeblicher Überfremdung und finanzieller Belastung bereiten, um dann um so unbekümmerter eine restriktive Gangart bei Ausländer- und Asylfragen einschlagen zu können. Noch eines: Die Politiker, die in diesen Wochen und Monaten das Grundrecht auf Asyl aushöhlen, in Frage stellen oder abschaffen wollen, wissen sehr genau, daß sie für solche Vorschläge nicht die erforderliche Mehrheit bekommen können. So gefallen sie sich in wohlfeilen Kampagnen und starken Worten, ohne das Risiko einzugehen, sie in die Tat umsetzen zu müssen oder zu können.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Olms?

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Ellen Olms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001648, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Meinung, daß diese Kampagne der letzten Monate einfach dazu dient, das Grundgesetz sturmreif zu schießen für die Harmonisierung, d. h. für den europäischen Binnenmarkt 1992? ({0})

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin, ich komme auf die europäische Problematik noch zu sprechen. Für die Atmosphäre in dieser Republik ist die Diskussion, die ich soeben beschrieb, fatal genug, und zwar auch deshalb, Herr Gerster, weil die Scheingefechte um das Asylrecht von einer längst überfälligen Aufgabe ablenken, der wir uns zu widmen haben, nämlich konkrete und wirkungsvolle Schritte zu unternehmen, um etwa die Asylverfahren abzukürzen. Das brauchen wir, und zwar im Interesse aller Betroffenen, sowohl der Bundesbürger als auch der Bewerber. ({0}) - Ich sage es gleich. - Der Innenminister wartet in schöner Regelmäßigkeit mit neuen Statistiken über Asylsuchende auf, auch der Herr Staatssekretär Spranger - mit einem Unterton, den ich herauslese - , als stünden wir vor einer akuten Gefahr. Sie sollten lieber Kraft und Mühe auf die Entwicklung eines tragfähigen Konzepts zur Behandlung von Asylbewerbern und Flüchtlingen verwenden als auf diese Sprüche. ({1}) Was uns die Regierung unter dem hochtrabenden Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften" präsentiert, verdient diesen Namen kaum. Wir begrüßen zwar, daß der vorgesehene Ausschluß der Beschwerde im Prozeßkostenhilfe-Verfahren entfällt, aber insgesamt fehlt auch nur der Ansatz für ein Asyl- und Flüchtlingskonzept. Deshalb lehnt die SPD-Fraktion dieses kärgliche Zwei-Punkte-Programm aus grundsätzlichen Erwägungen ab. ({2}) 7330 Deutscher Bundestag - 1 i. Wahlperiode Frau Dr. Sonntag-Wolgast Zu unseren eigenen Vorschlägen. In vielen Teilen der Welt herrschen Bürgerkrieg, Terror und Folter. Solange das so ist, werden politisch Verfolgte bei uns Zuflucht suchen. In vielen Teilen der Welt, Herr Gerster, herrschen aber auch Hunger und Not, reicht es nicht zur Erfüllung elementarer Lebensbedürfnisse. Solange das so ist, wird es auch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge geben. Wir wissen, daß sie die Mehrheit unter den Bewerbern stellen, und wir kennen die hohen Ablehnungsquoten. Aber mit dem bloßen Abschieben dieser Menschen ist das eigentliche Problem eben nicht bewältigt. Der bessere Weg zur Eindämmung der Flüchtlingsströme ist eben eine andere Politik der Industrienationen gegenüber der Dritten Welt. Solange aber die Bundesrepublik und andere vergleichsweise reiche Länder es nicht schaffen, aktiv für die Lösung der Schuldenkrise und für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung einzutreten, dürfen wir uns nicht aus unserer humanitären Verpflichtung gegenüber den Flüchtlingen selbst entlassen. Wir können - das wissen wir - längst nicht alle dauerhaft aufnehmen. Aber gerade deshalb ist für uns Sozialdemokraten eine europäische Flüchtlingskonzeption unverzichtbar, ({3}) nicht nur, aber auch wegen der bevorstehenden Öffnung des Binnenmarkts. Ich komme jetzt zu diesem Punkt. Die Länder Europas müssen eben eine gemeinsame, eine menschliche und eine rechtsstaatliche Asylpolitik entwickeln. Unser Ziel muß es sein, was wir in anderen Bereichen auch wollen - im Arbeitsrecht, im Umwelt- oder Verbraucherschutz -, nämlich die Einigung nicht etwa auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern auf denkbar hohem Standard. Wer glaubt, sich mit dem Hinweis auf die sogenannte Harmonisierung auf dem europäischen Binnenmarkt aus einer angeblich lästig gewordenen Verpflichtung hinausschummeln zu können, der ist nicht nur leichtfertig, sondern der hat nichts, aber auch gar nichts von der besonderen, geschichtlich bedingten Verantwortung begriffen, die wir als Deutsche tragen. Während der NS-Diktatur mußten Ungezählte ins Ausland flüchten und haben nur so überlebt. Deswegen sage ich - auch wenn Sie es nicht gerne hören mögen, Herr Spranger - : Für uns Sozialdemokraten ist das Recht auf Asyl nach Art. 16 des Grundgesetzes unverzichtbar und unumstößlich. ({4}) Wir schlagen die Errichtung eines europäischen Flüchtlingsamtes vor, daß die Politik gegenüber Flüchtlingen in den Ländern der Gemeinschaft aufeinander abstimmt und die gleichmäßige Belastung der Staaten festlegt. Asylverfahren - darüber sind wir uns einig - dauern immer noch zu lange. Straffung ist nötig. Aber wir dulden auch keine HauruckVerfahren unter Aussparung rechtlicher Instanzen. Ich weiß, daß die quälende Wartezeit den Seelenzustand und auch das Verhalten derer, die auf Anerkennung hoffen, strapaziert, und wir meinen, daß vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in der Regel binnen drei Monaten entschieden werden müßte. Dazu sind aber weitere Personalaufstockungen und organisatorische Maßnahmen nötig. Dringend ist es auch, den Status sogenannter Defacto-Flüchtlinge zu verbessern; das sind Menschen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Antrag abgewiesen worden ist, die aber dennoch aus humanitären oder politischen Gründen nicht abgeschoben werden, immerhin 290 000 zur Zeit. Bislang fehlt ein gesetzlich geregeltes Verfahren, in dem die Eigenschaft der Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, die Herr Hirsch eben erwähnte, festgestellt werden kann. Wir schlagen deswegen vor, dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge diese Aufgabe zu übertragen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Das gegenwärtige lange Arbeitsverbot für Asylbewerber belastet die Sozialhilfe, es schürt bei der deutschen Bevölkerung Abneigung und Vorurteile und verletzt die Menschenwürde der Betroffenen. Deswegen sollte die Wartefrist für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis nicht mehr als sechs Monate betragen. Die Wartefrist soll künftig entfallen, wenn feststeht, daß die Bewerber nicht ausgewiesen oder abgeschoben werden. Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Ein Gesichtspunkt: Ein Konzept, sage ich noch einmal, für unseren Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen ist dringlich, und ich weiß, daß viele diese Aufgabe als unbequem empfinden. Aber fassen wir sie doch endlich einmal als etwas Positives, nämlich als soziale und kulturelle Herausforderung auf, die unserer Gesellschaft nützen kann und wird! Bischof Martin Kruse, der Ratsvorsitzende der EKG, fand in diesen Tagen die folgende Formel, und er bezog sie sowohl auf die Gruppe der Ausländer als auch die der Asylbewerber. Er sagte: Ich denke, daß lange Jahre zu stark der Eindruck geprägt worden ist, wir seien völlig überfüllt und ein Boot, in das niemand mehr hineingelassen werden dürfte. Ich glaube, wir können uns noch einiges zumuten in unserem Land. Meine Damen und Herren, diesem Zitat ist nichts hinzuzufügen. Handeln wir danach! ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nur sechs Minuten Redezeit, ich muß es also etwas härter machen, als ich es sonst getan hätte. Herr Staatssekretär, was reden Sie eigentlich daher von einer Änderung unserer Verfassung, des Art. 16, während Sie sich doch als Vertreter des Innenministeriums darauf einrichten müßten, mit unserer Verfassung zurechtzukommen? ({0}) Was reden wir von der Europäischen Flüchtlingskonvention? Europa ist doch nicht dazu da, die Genfer Flüchtlingskonvention, die wir unterzeichnet haben, an der wir festhalten werden, einzuschränken. Sie wissen, daß das Europaparlament mit einer Dreifünftelmehrheit eine klare Entschließung zur Wahrung der Flüchtlingsrechte in Europa abgegeben hat, sehr weitgehend in der Tat, sehr bemerkenswert, sehr humanitär. Unsere Aufgabe ist doch nicht, ein Europa zu schaffen, das die Rechte der Bürger, das die Freiheiten, das die Grundsätze einer liberalen und humanitären Politik verringert. Das ist doch nicht das Ziel einer europäischen Politik! Ich kann Sie überhaupt nicht begreifen. In Düsseldorf, in der Stadt, aus der ich komme, sind heute die Kinder zur Erinnerung an den Sankt Martin durch die Straßen gezogen, diesen römischen Soldaten, der als Martin von Tours im 4. Jahrhundert Bischof geworden ist und der, der Legende nach, den Mantel mit einem Bettler geteilt hat, der sich vor ihn in den Schnee geworfen hat, ohne zu fragen, ob der verschuldet oder unverschuldet in Not geraten ist, ohne zu fragen, ob er anerkannt ist, einfach weil der Mensch in Not war, und er wollte ihm helfen. Ich weiß genauso wie Sie, daß das keine Maxime für eine Asyl- und Flüchtlingspolitk heute sein kann, aber Sie müssen sich doch klar darüber sein, daß Sie sich heute in Ihrer Rede von dem Geist dieses Sankt Martin sehr weit entfernt haben. ({1}) Wir werden dem Gesetzentwurf, über den wir eigentlich reden, zustimmen, weil er im Grunde genommen den Rechtszustand fortführt, den wir haben, obwohl wir wissen, daß die eigentlichen Probleme, über die hier gesprochen wird, mit diesem Gesetzentwurf nicht gelöst werden. Diese Dinge werden Gegenstand einer Anhörung werden, in der wir nach unserer Überzeugung sehen werden, daß die eigentlichen Probleme nicht in der Gesetzgebung, sondern im Verwaltungsvollzug, in der Verfahrenswirklichkeit liegen. Das fängt doch schon mit den irreführenden Zahlen an, die den Bürgern vorspiegeln, daß wir einer Flut von Flüchtlingen aus den Tiefen Asiens und Afrikas ausgesetzt wären. Irreführende Zahlen! ({2}) Sie wissen, daß über 40 % der Flüchtlinge aus Ostblockstaaten kommen. Sie wissen, daß sich in der Bundesrepublik etwa 80 000 anerkannte politische Flüchtlinge aufhalten, nicht pro Jahr, sondern überhaupt! Zählt man die Familienangehörigen und die Leute hinzu, die sich in Verfahren befinden, sind es vielleicht 230 000 Menschen, die wir auf der Grundlage des Art. 16 unserer Verfassung in der Bundesrepublik aufgenommen haben, nicht, wie die Leute glauben, pro Jahr, sondern überhaupt. Alle anderen, die sich als Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufhalten, sind hier, weil sich die Länder aus humanitären Gründen oder aus welchen Gründen auch immer entschließen, sie nicht abzuschieben. Ich möchte also zunächst den Innenminister zum wiederholten Male bitten, seine Zahlen in Ordnung zu bringen, ({3}) damit dieses Gerede von der „Schwemme" endlich aufhört, ({4}) damit wir nicht Angst in den Menschen erzeugen. ({5}) - Liebe Frau Olms, wir kommen ja dazu. Zur Praxis der Anerkennungsverfahren: Ich habe Sie vor Wochen hier in diesem Hause gefragt, ob es zutrifft, daß die notwendige unverzügliche erste Anhörung in 90 % der Fälle erst nach Monaten stattfindet, nach Monaten! Daß das enorme Folgen für die Dauer der Verfahren hat, ist Ihnen bekannt. Ich frage, ob sich die Länder in der Organisation ihrer Verwaltungsgerichte darauf eingestellt haben, daß das Bundesamt über mehr Fälle entscheidet, als pro Jahr hinzukommen, daß also mehr Fälle auf die Gerichte zukommen. Warum sagen wir der Öffentlichkeit nicht, daß es schon heute praktisch kaum Rechtsmittel gibt, daß es in den offensichtlich unbegründeten Fällen, die über 30 % der Verfahren ausmachen, bis zur gerichtlichen Entscheidung im Schnitt dreieinhalb Monate dauert? Warum reden wir nicht darüber, was wir tun müssen, damit die Praxis der Länder bei der Abschiebung von Flüchtlingen nicht länger kunterbunt durcheinandergeht? Sie werden das vereinheitlichen müssen. Ich möchte die Länder nicht zu einer inhumaneren Praxis aufrufen, aber wenn Sie dem Gedanken, Flüchtlinge an der Grenze zurückzuschicken, nachgehen wollen, will ich Ihnen ein Beispiel nennen. Bis zum September dieses Jahres haben wir 20 700 Personen aus Polen gehabt. 8 % davon - das ist die Anerkennungsquote - sind anderthalbtausend Menschen. Wie wollen Sie denn denen an der Grenze ansehen, ob sie Flüchtlinge aus politischen Gründen sind oder nicht? Darum sage ich Ihnen zum Abschluß: Wir sind ja bereit, alles Erträgliche mitzumachen, um dort, wo es möglich ist, die Verfahrensdauern zu verkürzen, aber unter zwei Voraussetzungen: daß das Recht der politischen Flüchtlinge, Zuflucht zu finden, unberührt bleibt und daß das Verfassungsrecht, ihnen ein faires Verfahren zu gewähren, unberührt bleibt. Vor zehn Jahren haben sich die Länder in einer großzügigen Aktion entschlossen, 30 000 „boat people" aus Vietnam aufzunehmen, obwohl sie keine politischen Flüchtlinge waren. Sind wir seitdem ärmer geworden? Ist es eigentlich wirklich nur noch zulässig, sich nach den Minimalia der gesetzlichen Verpflichtungen zu richten? Haben wir nicht mehr die Kraft, zu zeigen, daß wir etwas mehr dazu beitragen können, daß es auf dieser Welt etwas humaner und etwas christlicher zugeht? Das ist unser Ziel. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.

Ellen Olms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001648, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gerade die Kollegin Sonntag um ihre Redezeit beneidet. ({0}) - Nein, um die Gelegenheit, unsere Asylkonzeption vorzulegen! ({1}) Aber ich muß mich heute leider auf diesen Gesetzentwurf beschränken. Ich denke jedoch, wir haben, wenn die Entwürfe von uns behandelt werden, noch genügend Zeit, darüber zu diskutieren. Der Gesetzentwurf zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften wird die Situation der Asylbewerber bei uns weder verbessern noch wesentlich verschlechtern, denn es geht bei den Gesetzesänderungen in dem einen Fall um die Fortschreibung des § 11 des Asylverfahrensgesetzes als Dauerrecht. Begründet wurde diese Festschreibung des § 11 von Herrn Dr. Waffenschmidt in der ersten Beratung in diesem Hause mit einer Abwehr des angeblichen Mißbrauchs des Asylrechts, nämlich damit, daß die Asylregelung - ich zitiere weiter Herrn Waffenschmidt - leider zum Einfallstor für eine verkappte Einwanderung geworden sei. Er verweist in diesem Zusammenhang immer gern darauf, daß nur 10 % der Asylbegehrenden als Flüchtlinge anerkannt werden und daß sich die restlichen 90 % angeblich illegal in der Bundesrepublik aufhalten. Dabei wissen Sie ganz genau, daß diese Zahlen ein purer Schwindel sind. Denn unter diesen 90 % von den Behörden nicht anerkannten Flüchtlingen befinden sich Hunderttausende - das muß man noch einmal betonen: Hunderttausende - , die aus humanitären oder politischen Gründen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention bei uns geduldet werden müssen. § 11 des Asylverfahrensgesetzes, den Sie hier fortschreiben wollen, widerspricht meiner Auffassung nach sowohl der Genfer Konvention als der auch zum Teil gängigen Praxis, Flüchtlinge aus bestimmten Gründen bei uns zu dulden, denn in § 11 heißt es: Ein Asylantrag ist insbesondere offensichtlich unbegründet, wenn ... offensichtlich ist, daß sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation oder einer kriegerischen Auseinandersetzung zu entgehen, im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhält. Nach Geist und Buchstaben dieser Paragraphen müßten Sie also die bei uns geduldeten Kurden, Eritreer, Tamilen usw. ausweisen und abschieben, was die Behörden zum Teil heute schon tun. Daß Sie diesen Paragraphen festschreiben wollen, zeigt erneut, daß es der Bundesregierung um nichts anderes geht, als die Flüchtlinge schnell wieder loszuwerden. Genau das ist Bestandteil Ihrer von uns immer wieder kritisierten Politik, gegenüber außereuropäischen Flüchtlingen Abschottungs- und Abschreckungsdämme zu errichten. In den Bereich dieser Flüchtlingsabschreckungspolitik fällt Ihre zweite vorgeschlagene Gesetzesänderung. Sie enthält faktisch eine Ermächtigung der Bundesländer, sogenannte aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei einer zentralen Behörde zu konzentrieren. Im Klartext, Sie wollen die Einrichtung von zentralen Abschiebestellen rechtlich legitimieren, um die Flüchtlinge konzentriert mit deutscher Gründlichkeit schneller in ihre Heimatländer abtransportieren zu können. Meine Damen und Herren, Sie werden von den GRÜNEN alles erwarten können, aber nicht die Zustimmung zu dieser flüchtlingsfeindlichen Politik. Die jüngsten Äußerungen der Herren Späth und Zimmermann, das rassistische Stammtischvokabular des Herrn Stoiber, das er nach seinen eigenen Worten nun nicht mehr verwenden will - er hat sich von seiner skandalösen Äußerung inhaltlich nicht distanziert -, all das, was in den letzten Wochen so über den Fernschreiber tickte, läßt erwarten, daß diese Bundesregierung mit der Aushöhlung des Asylrechts noch längst nicht das Ende der Fahnenstange erreicht hat. Wir werden zusammen mit allen demokratischen Kräften, Verbänden und Kirchen eine Barrikade gegen diese nationalistische Flüchtlings- und Emigrantenpolitik aufbauen, ({2}) übrigens auch gegen die euronationalistische Variante. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Olderog.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Hirsch, was Sie gesagt haben, kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, daß unser heutiges Asylrecht nicht in der Lage ist, mit dem zigtausendfachen Mißbrauch fertig zu werden. Auch die heutige Novelle wird grundsätzlich an dieser Problematik nichts ändern. Im Klartext: dies war der letzte Versuch, sozusagen noch einen Rest auszuschöpfen. Wir sind jetzt am Ende der Fahnenstange. ({0}) Auf der Basis des einfachen Rechts können wir kein wirksames Instrument, diesem Mißbrauch entgegenzutreten, mehr finden. Meine Damen und Herren, die kleine Bundesrepublik, die dicht besiedelte Bundesrepublik, die selbst zwei Millionen Arbeitslose hat, die bereits 4,7 Millionen Ausländer aufgenommen hat, darunter 700 000 Flüchtlinge, oft mehr als 50 % aller nach Westeuropa kommenden Flüchtlinge, ist auf Dauer nicht in der Lage, ihre Grenzen offenzuhalten für jährlich 100 000 Flüchtlinge, wie es etwa in diesem Jahr wieder einmal der Fall sein wird. Wir müssen begreifen, daß es Grenzen dessen gibt, was man unserem Volk an Lasten sozialer Integration, an unvermeidbaren ethnischen Spannungen auferlegen kann. Es ist doch Tatsache, das ethnische, religiöse und kulturelle GeschlossenDr. Olderog heit den Grundkonsens eines Volkes ermöglichen und daß nicht oder nicht voll integrierte ethnische Minderheiten, religiöse und kulturelle Gegensätze Spannungen schaffen, oft explosiv wirken. Ja, sie sind leider - Herr Spranger hat es auch gesagt - in aller Welt die Ursache blutiger Konflikte und von Flüchtlingsströmen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe dafür leider keine Zeit. Ich habe nur fünf Minuten, statt der angekündigten 10 Minuten. Meine Damen und Herren, wie ist es eigentlich mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes? Sind wir nicht verpflichtet, die Einheit der Nation zu bewahren, statt eine multinationale und multikulturelle Gesellschaft zu wollen? ({0}) Was ist eigentlich mit den Umfragen der Bevölkerung, die überhaupt kein Verständnis mehr dafür hat, daß Jahr für Jahr Zigtausende das Asylrecht mißbrauchen und wir das tatenlos geschehen lassen? ({1}) - Lassen Sie mich bitte aussprechen. Meine Damen und Herren, wie wollen wir unser Recht europapolitisch durchhalten, ({2}) das so sehr abweicht von dem unserer Nachbarländer. Mit unserem heutigen Asylrecht würden wir die asylrechtliche Kontrolle und alle Vorkehrungen, die in anderen EG-Ländern getroffen sind, aushöhlen. Meine Damen und Herren, vor welcher Aufgabe steht der Bundestag, steht die Bundesregierung? Ich glaube, wir kommen um die Diskussion und die Entscheidung nicht herum, ob wir Formulierungen des Grundgesetzes finden, die der schwierigen Problematik besser gerecht werden, als es die heutigen Formulierungen tun. ({3}) - Wir brauchen neue Formulierungen im Grundgesetz, Herr Duve, die ein Verfahren ermöglichen, ({4}) das einerseits den politisch wirklich Verfolgten einen raschen und sicheren asylrechtlichen Schutz gewährleistet, ({5}) das aber auch andererseits ein Verfahren ermöglicht, das den massiven Mißbrauch des Asylrechts verhindert. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Olderog, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte keine Fragen zulassen. Ich habe leider nur fünf Minuten. Insbesondere muß es möglich werden, daß wir so wie in Frankreich, wie in Großbritannien, wie in Dänemark oder Schweden - und das sind doch keine undemokratischen Länder - ein Verfahren finden, bei dem wir schon an der Grenze jene zurückweisen, die offensichtlich keinen Anspruch auf Asyl haben; z. B. Bewerber aus Indien, aus Ghana, aus Bangladesch, deren Anerkennungsquote praktisch gleich Null ist. Es hat doch keinen Sinn, sie zunächst in die Bundesrepublik hineinzulassen, sie hier Jahre in ein Verfahren zu schicken und dann später den erfolglosen Versuch zu machen, sie wieder in ihre Heimat zurückzuschikken. Ich appelliere an die Kollegen der FDP und der SPD, sich der Verantwortung für diese schwierige Situation bewußt zu sein, sich ihr zu stellen und gemeinsam mit uns und anerkannten Experten nach sachgerechten Formulierungen zu suchen. ({0}) Wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht werden ({1}) - ich komme damit zum Schluß - , dann provozieren wir nicht nur neue Ausländerfeindlichkeit, sondern wir spielen auch extremen rechten Kräften ({2}) ungewollt in die Hände. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 4 - Einleitung und Überschrift - in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit sind diese Vorschriften angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Mit Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf angenommen. Vizepräsident Stücklen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung - Drucksache 11/2065 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 11/3279 Berichterstatter: Abgeordnete Helmrich Dr. Pick ({1}) b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Dr. Hüsch, Eylmann, Dr. Langner, Seesing, Geis, Hörster und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert ({2}), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren - Drucksache 11/2991 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 11/3279 Berichterstatter: Abgeordnete Helmrich Dr. Pick ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine Gesamtredezeit von 30 Minuten vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. - Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben interfraktionell verabredet, es möglichst kurz zu machen. Ich denke, daß das in Anbetracht der heutigen Vorgänge auch angemessen ist. Es fällt schwer, sozusagen zur Tagesordnung überzugehen. Wir haben es heute in zweiter und dritter Lesung mit zwei Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen einerseits und der SPD-Fraktion andererseits zu tun. In der ersten Lesung haben wir schon die unterschiedlichen Auffassungen und auch die Begründungen dargestellt. Auch aus diesem Grunde können wir es heute kurz machen. Es ist festzuhalten, daß der Entwurf der Koalitionsfraktionen materiell darin besteht, das Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren um ein Jahr zu verlängern. Wir sind der Auffassung - das kommt in unserem Antrag zum Ausdruck -, daß wir hier ein Dauerrecht zu schaffen haben, das diese Ansprüche der Arbeitnehmer verstetigt und festmacht. Darüber hinaus sollten auch die Einschränkungen, die Gegenstand des Entwurfs der Koalitionsfraktionen sind, nicht durchgeführt werden. Wir haben es in der Beratung im Rechtsausschuß immerhin erreicht - mit auf unseren Antrag -, daß den noch bestehenden bergrechtlichen Gewerkschaften eine weitere Atempause von fünf Jahren verschafft wird, daß sie also nicht zwangsweise zum 1. Januar 1989 aufgelöst werden. Wir begrüßen das ausdrücklich im Interesse der Betroffenen, insbesondere der Arbeitnehmer, die bei dieser zwangsweisen Umwandlung bzw. Auflösung um ihre Arbeitsplätze hätten bangen müssen. Wir sind nicht zufrieden mit der bloßen Verlängerung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs. Wir denken, daß sich diese Verlängerung des Gesetzes noch einige Male wiederholen wird, zumindest bis zum Ende der Legislaturperiode; denn wir sind der Auffassung, daß diese Reform des Insolvenzrechts wie vieles, was sich diese Koalition vorgenommen hat, in die Mühlsteine verschiedenster Interessen geraten und wieder in der Versenkung verschwinden wird. Wir denken auch, daß die Begründung schon seit dem Februar 1985 verbraucht ist, als das Gesetz über den Sozialplan erstmals verabschiedet wurde. Meine Damen und Herren, wir beantragen, den Beschluß des Rechtsausschusses dahin gehend zu ändern, daß an Stelle des Art. 1 der Ausschußempfehlung die Art. 1 und 2 des Entwurfes eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung der SPD - Drucksache 11/2065 - treten. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Helmrich.

Herbert Helmrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben diesen Antrag in der zweiten Lesung eben zur Kenntnis genommen. Wir beantragen, diesen Antrag zurückzuweisen. ({0}) - Ich sage Ihnen auch noch den Grund, Herr Kollege. Ich kann nur wiederholen, was ich schon in der ersten Lesung gesagt habe, daß wir nämlich den Vorschlag der SPD nicht in die sogenannte alte Konkursordnung aufnehmen wollen. Wir haben die Regelung auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts extra in einem Sondergesetz untergebracht und wollen die Insolvenzrechtsreform beschleunigen. Wir wollen bei Aufhebung der jetzigen Konkursordnung die Frage des Sozialplans im Konkurs dann in einem neuen Insolvenzrecht endgültig regeln. ({1}) Deshalb haben wir jetzt erst einmal die Verlängerung beantragt. Wir werden Ihren Antrag zurückweisen. Ein Zweites: Die bergbaulich tätigen Unternehmen, die Gewerkschaften Sophia-Jacoba und Auguste Viktoria, sind die einzigen, die noch nach dem alten Gesetz, dessen Verlängerung hier heute beschlossen werden soll, arbeiten. Sie sind noch nicht in der Lage gewesen, ihre Unternehmensform umzuändern. Der Kollege Marschewski hat in dankenswerter Weise diese Änderung beantragt. Auch wir werden deshalb, um diesen Gewerkschaften die Möglichkeit zu geben, ihre Unternehmensform zu ändern, diese Fristverlängerung befürworten. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Danke sehr. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sozialpläne entstehen, weil die soziale Marktwirtschaft anscheinend gar nicht immer so sozial ist. Unternehmen wissen meist schon einige Jahre im voraus, daß ihr Unternehmen in Schieflage gerät. Es ist nicht selten, daß sie dann schon beginnen, Vermögenswerte beiseite zu schaffen, und dies natürlich ganz legal, versteht sich. Das können Menschen, die als abhängig Beschäftigte vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, nicht. Deshalb ist es eine Errungenschaft der Gewerkschaften, daß es heute Sozialpläne gibt. Doch Sozialpläne sind nur ein Notbehelf in einer wenig menschlichen Wirtschaftsordnung, in der Reichtum der Unternehmenden durchaus auch hier und da auf dem Arbeitsplatzverlust der Unternommenen beruht. Das Mindeste, was das Parlament daher tun muß, ist, in dieser Wirtschaftsordnung die wahrhaftig nicht glänzenden Ansprüche der Arbeitenden im Konkursfall dann auch entsprechend abzusichern. Der Vorschlag der SPD, im Vorgriff auf die Neufassung des Insolvenzrechts Sozialplanansprüche zu bevorrechtigen, also zu Forderungen im Sinne des § 61 Abs. 1 der Konkursordnung zu machen, ist der bessere Weg unter den hier vorgeschlagenen. Die Fraktion der GRÜNEN wird daher dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Die von der FDP vorgeschlagene Verlängerung der bestehenden Regelung bis Ende 1989 läßt das Hintertürchen der weiteren Verschlechterung der Sozialplanregelung im Konkurs bei der Neufassung durchaus offen. Die Verlängerung dieser Regelung ist jedoch das Mindeste, was zum jetzigen Zeitpunkt getan werden muß. Deshalb werden wir GRÜNEN trotz unserer Enthaltung im Rechtsausschuß diesem Antrag zustimmen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das, was wir gerade gehört haben, betrifft den Kern der Veranstaltung. Es ist ja gerade die interessante Frage, ob man durch Sozialpläne, ob man dadurch, daß man denen, die schon drin sind, ihre zum Teil zugegebenermaßen - da sind wir gar nicht so weit auseinander - bescheidenen Rechte zementiert, der Arbeitnehmerschaft insgesamt hilft. Wir sind dem Bundesjustizminister Hans Engelhard sehr dankbar dafür, daß er einen sehr energischen und im übrigen früheren zeitlichen Prognosen vorauseilenden Vorschlag zur Zusammenfassung von Konkurs- und Vergleichsordnung gemacht hat, bei der dann schließlich herauskommen soll, mehr Arbeitsplätze erhalten werden sollen. Das ist unser Ziel, so wie Sie es eben auch für sich erklärt haben. ({0}) Wenn dies stattfinden soll, dann muß man allerdings in eine solche Diskussion - man schämt sich fast, das hier im einzelnen darlegen zu sollen - natürlich offen für alle Möglichkeiten, die sich ergeben, hineingehen. Dann kann man nicht sagen: Ich möchte gerne, daß der Fiskus auf Vorrechte verzichtet - wofür wir dringend sind - , ich möchte gerne, daß Immobiliengläubiger auf Vorrechte verzichten, daß Mobiliengläubiger auf Vorrechte verzichten, aber nebenbei haben wir dann noch so ein Gesetz, nämlich das Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren, und das verlängern wir jetzt für drei Jahre, damit es als Verhandlungsmasse in dieser gemeinsamen und solidarischen Anstrengung gar nicht zur Verfügung steht. Das kann doch nicht ernstlich normal und fair sein. Wir wollen, daß alle Beteiligten darüber nachdenken, wie sie im Rahmen eines neuen Insolvenzrechts möglichst viele Arbeitsplätze erhalten können. Dazu ist auch ein Solidarbeitrag derjenigen gefordert, die Arbeitsplätze haben. Deshalb darf der Sozialplan aus dieser Sache nicht herausgelöst werden, sondern er bleibt - nur das ist der Grund, warum wir uns über die kürzere Verlängerung unterhalten - genauso Verfügungsmasse wie das, was alle anderen Beteiligten bei dieser Gelegenheit einbringen müssen, wenn das Werk gelingen soll. Deshalb werden wir den Änderungsantrag der SPD ablehnen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Justizminister.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren muß verlängert werden, sonst liefe es Ende dieses Jahres aus. Die Regelung hat sich bewährt; sie hat der verfassungsrechtlichen Überprüfung standgehalten. In der Praxis führt sie zu vernünftigen, in den allermeisten Fällen einvernehmlichen Regelungen. Gerichtliche Auseinandersetzungen werden erfreulich selten notwendig. Das Gesetz hat die Abwicklung der Kon7336 kurse wesentlich erleichtert und auf einem früher höchst umstrittenen Gebiet für Klarheit und Rechtsfrieden gesorgt. Diese Regelung aber will eine Zwischenlösung bis zur Gesamtreform des Insolvenzrechts sein. Die Bundesregierung betrachtet diese Reform als eines der bedeutsamsten rechtspolitischen Vorhaben. Es soll noch in dieser Legislaturperiode vollendet werden. Im Rahmen der gesamten Neuordnung des Insolvenzrechts müssen Betriebsverfassung und Insolvenzverfahren besser aufeinander abgestimmt und der Sozialplan neu geregelt werden. Die dann zu treffenden Entscheidungen werden durch die Zwischenlösung in keiner Weise präjudiziert. ({0}) Die Geltungsdauer des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren wird nach dem Willen der Koalition und der Ausschüsse um ein Jahr verlängert. Auch im Parlament - so schließe ich mit großer Freude daraus - meint man es also mit der Insolvenzrechtsreform ernst. ({1}) Man will diese Reform, und man hält sie auch zu Recht für dringlich. Dies bestärkt mich in der Erwartung, daß das bedeutende Vorhaben zügig weitergetrieben und bald abgeschlossen werden kann. Der von meinem Haus veröffentlichte Diskussionsentwurf wird in der Öffentlichkeit bemerkenswert positiv aufgenommen. Durch seine zugleich entschieden marktwirtschaftliche und soziale Ausrichtung wird er auch Gruppen für die Reform noch gewinnen, die ihr bisher ablehnend, unentschlossen oder gleichgültig gegenüberstanden. Ich bitte Sie namens der Bundesregierung, dem Koalitionsentwurf zuzustimmen. Meine Damen und Herren, den Vorschlag der Opposition bitte ich abzulehnen, denn er sieht ein schrankenloses Superprivileg für Sozialplanforderungen vor, will diese sogar zu Lasten der rückständigen Löhne bevorzugen. Darin liegt nicht nur eine mir unverständliche Bewertung der sozialen Bedürfnisse; eine solche Regelung stünde auch in diametralem Gegensatz zu allen diskutablen Zielen einer Insolvenzrechtsreform. Verhindern Sie also bitte, meine Damen und Herren, daß die fruchtbare Reformdiskussion in dieser Frage auf ein falsches, nämlich auf ein Abstellgleis gerät! ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung der Konkursordnung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3279 unter Buchst. b, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren. Mir liegt ein mündlich gestellter Änderungsantrag der SPD vor. Die SPD beantragt, den Beschluß des Rechtsausschusses dahin gehend zu ändern, daß an Stelle des Art. 1 der Ausschußempfehlung die Art. 1 und 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung der SPD treten sollen. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer ihnen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Alle sind dafür. Somit ist die zweite Lesung einstimmig abgeschlossen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Duve, Dr. Apel, Dr. Penner, Dr. Spöri, Bernrath, Dr. Böhme ({1}), Börnsen ({2}), Conradi, Erler, Graf, Frau Hämmerle, Dr. Hauchler, Huonker, Kastning, Kuhlwein, Frau Dr. Martiny, Frau Matthäus-Maier, Dr. Mertens ({3}), Müller ({4}), Frau Dr. Niehuis, Frau Odendahl, Oesinghaus, Poß, Reschke, Rixe, Frau Schmidt ({5}), Schmidt ({6}), Sielaff, Toetemeyer, Wartenberg ({7}), Frau Weiler, Weisskirchen ({8}), Westphal, Frau Weyel, Dr. Wieczorek, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Erhaltung des halben Mehrwertsteuersatzes für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften - Drucksachen 11/920, 11/1978 - Berichterstatter: Abgeordneter Schulhoff b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({9}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu einer Mitteilung der Kommission an den Rat über Maßnahmen im Bereich des Buches - Drucksachen 11/706, 11/2505 Berichterstatter: Abgeordnete Frau Pack Vizepräsident Stücklen Weisskirchen ({10}) Frau Hillerich Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine Redezeit von 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen. ({11})

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nicht in dieser Stunde. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Erfreuliches, denke ich, hat die Beratung der Ausschüsse des Bundestages über die hier zur Beratung anstehenden Gegenstände gehabt: Am Ende einstimmig - jedenfalls beim Tagesordnungspunkt 10b - fordern wir von unserem Ausschuß aus die Bundesregierung auf, bis zur Mitte des nächsten Jahres über den Fortgang der Empfehlungen des Europäischen Parlaments über Maßnahmen im Bereich des Buches zu berichten. Besonderen Wert legen wir dabei darauf, welche Folgerungen für die Förderung der Verbreitung des Buches und die Sicherung der Rechte der Autoren zu ziehen sind. Aus unserem Beschluß sprechen eine Reihe von Sorgen, daß der sich beschleunigende Konzentrationsprozeß auf der Verlegerseite die Vielfarbigkeit der unterschiedlichen Sprachkulturen einebnen könnte, daß das Buch als Kulturgut von den modernen Kommunikationstechniken an den Rand gedrängt werden könnte, daß die Rechte der Autoren an ihrem Werk, auf ihr Wort, ihr Bild, durch ungesteuerte Reproduktionstechniken ausgehöhlt werden könnten. Die Reihe der Gefahren ließe sich verlängern. Die größte Gefahr aber ist, daß wir bedroht sind, in Provinzialismus zurückzufallen, der sich selbst gefällt, sich abschottet, und auf der anderen Seite, daß wir uns unsere Fähigkeiten von immer neuen Moden enteignen lassen, und kämen sie aus der Disney-Plastikwelt. Europa jedoch hat eine große Chance, wenn unser alter Kontinent seine Aufgabe darin sieht, die Wurzeln seiner Identität in seinen Kulturen zu suchen. Die Kulturen passen nicht glatt zueinander. Sie sind Ausdruck unserer Widerständigkeit. In ihnen sitzt unser Zweifel an den Einebnungsversuchen der großen Zentralen. Sie sind Ausgangspunkte für neues Denken und für fruchtbares Lernen voneinander im Widerspruch und in Toleranz. Mit dem Buch, mit dem geschriebenen Wort, hat die größte Leistung Europas begonnen, nämlich die Aufklärung. Vielleicht sind wir wirklich ein „verbaler Kontinent" , wie Györgi Konrad, der Budapester Autor, sagt. Aber ist das Schwäche, wie manche meinen? Ist das nicht gerade eher Stärke? Darauf zielt unsere Initiative: Es geht darum, das Buch nicht verramschen zu lassen, in seiner Marktfunktion untergehen zu lassen. Deswegen begrüßen wir auch, daß unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament verlangt haben, Bücher nicht wie andere Waren dem ungeschützten Wettbewerb auszusetzen. Ich finde, es ist bemerkenswert, daß sich das Europäische Parlament dieser Aufgabe gestellt hat. Ich finde es gut, daß wir im Deutschen Bundestag dieser Aufgabe auch unsere Entsprechung und unsere Forderung entgegensetzen. ({0}) Ich denke, wir sollten es gemeinsam begrüßen, daß die Europäer und daß wir im Deutschen Bundestag in dieser Sache - in vielen anderen Punkten auch, jedenfalls bei der Arbeit mit unserer Kultur - gemeinsam an einem Strang ziehen. Wohin das führen kann, wenn das nicht gelingt, können wir am persönlichen Machtkampf von Signore Agnelli und Signore Benedetti sehen, ({1}) - Industrielle in Italien; das sollte man nachlesen -, die, um ihre industriellen Interessen zu sichern, sich die Hälfte der italienischen Verlegerlandschaft aufzuteilen versuchen. Oder ein anderes Stichwort: Re-Import; oder ein weiteres Stichwort: Parallel-Ausgaben; Stichwort: Verschieben von Kellerbeständen an Großvertriebsfirmen über Strohmänner, die nicht nur in der EG, sondern auch von außerhalb der EG gelenkt werden. In der Tat: Wenn wir ab 1. Januar 1993 einen Markt in Europa haben, „einen Raum, ... in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist" - wie es in § 8 des EWG-Vertrages heißt - , dann muß bedacht sein, welche Konsequenzen dies für Bestand und Zukunft der europäischen Kultur hat. Ich glaube, daß wir mit unserem Entschließungstext, den wir im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft gefaßt haben, in Verknüpfung mit unserem eigenen Antrag, der im Tagesordnungspunkt 10a aufgeführt ist, eine richtige Linie gezogen haben. Ich wünschte mir, daß diese Linie in unserem Haus von uns gemeinsam gezogen wird. Vielleicht noch eine zusätzliche Anmerkung dazu, was den Mehrwertsteuersatz anbelangt: Mir wäre es lieber gewesen, wenn auch unser Ausschuß dem zugestimmt hätte, was der Finanzausschuß beschlossen hat, was der Innenausschuß schon beschlossen hat, was der Rechtsausschuß hat passieren lassen und was das Europäische Parlament in dieser Entschließung gefordert hat: Man sollte, wenn es geht, den Mehrwertsteuersatz auf Null setzen. Wir könnten dem Buch, den Zeitschriften und den Zeitungen - dem gedruckten Wort - , die es schwerhaben gegenüber den elektronischen Medien - z. B. gegenüber dem Fernsehen, das sich zunehmend durch Werbung finanziert - , seine künftige Marktchance dadurch sichern, daß wir den Mehrwertsteuersatz mutig nach unten setzen. Leider ist der Ausschuß dem nicht gefolgt. Ich hoffe, wir werden in einer weiteren Debatte, die mit diesem Antrag verknüpft ist, das in die richtige Richtung drängen können. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Pack.

Doris Pack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001670, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundsätzlich begrüßen wir es, daß das Europäische Parlament Vorschläge zur Förderung des Buches und damit auch der Lesekultur gemacht hat. Für die Bundesrepublik steht eine rege Nachfrage nach Büchern fest, und wir sind zudem gut mit öffentlichen Bibliotheken ausgestattet. Beides ist Ausdruck unserer kulturellen Wertschätzung des Buches. Im Lesen von guten Büchern drückt sich Freude an den durch das geschriebene Wort gebildeten Lebenszusammenhängen, an den in kräftigen oder nuancierten Farben beschriebenen Personen oder an der Ausleuchtung von landestypischen Hintergründen aus. Wer liest, reflektiert und interpretiert das Gelesene, stellt es in eigene Zusammenhänge und kann sich mit anderen, die sich an der gleichen Lektüre erfreuen, austauschen. Lesen ist mithin Ausdruck unserer kulturellen Entwicklung, und es befähigt zur Aneigung sich ansonsten verschließender Ansichten und Einsichten. Es wäre schade, wenn dieser Schatz durch das Überhandnehmen elektronischer Medien nach und nach verlorenginge. Das Buch bildet eine Einheit. Zunehmende Kopierwut vor allem bei wissenschaftlichen Werken ist ein sehr ernstzunehmender Mißstand. ({0}) Es soll Studenten geben, die ihr ganzes Studium lang nicht ein einziges Buch erworben, hingegen Aktenordner voller Kopien angesammelt haben. Hier müssen verstärkte Anstrengungen zur Eindämmung des Kopierunwesens unternommen werden. ({1}) Dabei spielt natürlich der Preis für Bücher eine große Rolle. Er ist für Studierende vielfach unerschwinglich hoch. Aber das Rezept, das Herr Weisskirchen vorgetragen hat, ist sicherlich nicht das richtige. Nicht das Buch an sich ist besonders wertvoll, vielmehr die sich darin ausdrückenden Leistungen des Autors. Wir sind der Auffassung, daß die Achtung vor dem Verfasser von Schrifttum - sei es belletristischer oder wissenschaftlicher Natur - durch einen besonderen rechtlichen Schutz gewürdigt werden muß. ({2}) - Sehr richtig. Hier setzen nun auch unsere Bedenken an, wenn in der Entschließung vorgeschlagen worden ist, die Geltungsdauer des Urheberrechts nach dem Tode des Autors dramatisch einzuschränken. Ich sage eindeutig: Es darf keine Einschränkung des Urheberrechts geben. Das Urheberrecht muß europaweit mit den führenden Urheberrechtskonventionen übereinstimmen. Weltweit ist unbestritten anerkannt, daß die Rechte der Urheber erst 25 Jahre nach deren Tod erlöschen. Wir in der Bundesrepublik gewähren gar einen Urheberrechtsschutz von bis zu 70 Jahren nach dem Tod. An diesem grundlegenden Autorenrecht darf nicht durch die nebulöse Forderung nach Schaffung eines privatrechtlichen europäischen Autorenstatuts, bei dem der rechtliche Autorenschutz unklar bleibt, herumgewerkelt werden. ({3}) Wenn sich jedoch einmal diese Forderung dergestalt konkretisiert, daß an eine gemeinschaftliche Übernahme fortschrittlichen Urheberrechtsschutzes gedacht ist, dann werden wir uns dem mit Sicherheit nicht verschließen. Wir teilen und begrüßen Vorschläge für einen Abbau der Zollformalitäten wie für eine Anhebung der Freigrenzen bei grenzüberschreitenden Büchersendungen. Wir sind jedoch nicht der Auffassung einer Entschließung des Europäischen Parlaments, die Gott sei Dank von der Europäischen Kommission nicht übernommen wurde, die nationalen Buchpreisbindungen zugunsten einer Geschäftsregelung aufzugeben. Als besonders begrüßenswert erachten wir die Einrichtungen eines gemeinschaftlichen Übersetzungsfonds. Das gegenseitige Kennenlernen in Europa, vor allem aber das tiefe kulturelle Verständnis für das andere Land scheitert oftmals an den unzureichenden Sprachkenntnissen. Hier kann nicht nur durch Sprachförderung Abhilfe geleistet werden; eine Förderung von Übersetzungen für bedeutende Werke ebenso wie für Bücher, die regionale Besonderheiten oder landescharakterisierende belletristische Beschreibungen beinhalten, halten wir für unterstützenswert. Diese differenzierte Bewertung drückt sich auch in unserer gemeinsamen Beschlußempfehlung aus. Wir bitten, sie anzunehmen. ({4})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich zu dieser späten Stunde relativ kurz fassen. Bei der ersten Lesung im Januar dieses Jahres haben der Kollege Duve und ich zum Ausdruck gebracht, daß wir hoffen, zu einer Einigkeit bei der weiteren Beratung zu kommen. Ich glaube, im großen und ganzen ist dies gelungen. Das stellt man fest, wenn man sich die Beschlußempfehlung zu Punkt 3.1 der Empfehlung der EG ansieht. Danach soll der Mehrwertsteuersatz, der zur Zeit in der Bundesrepublik gilt, beibehalten werden. Ich muß mich der Meinung des Kollegen Weisskirchen anschließen, daß es mit Sicherheit noch besser gewesen wäre, wenn wir uns dazu hätten durchringen können, den Mehrwertsteuersatz auf Null herunterzudrücken. Wegen der Zeit möchte ich nicht noch einmal auf die Punkte eingehen, die ich bereits in der ersten Lesung genannt habe. Sie haben an Aussagekraft nichts verloren. Ich würde mich also nur wiederholen. Ich möchte nur ganz kurz auf Punkt 3.5 eingehen. Wir werden diesem Punkt zwar zustimmen, aber meines Erachtens steckt in ihm nicht die ganze Wahrheit. Unseres Erachtens ist nicht nur zu prüfen, wo Versorgungslücken vorhanden sind, sondern unseres Erachtens sind diese Versorgungslücken, wenn man aufs flache Land geht, im öffentlichen Bibliothekswesen vorhanden. Soweit ich informiert bin, gibt es in Rheinland-Pfalz, das ja durchweg ländlich strukturiert ist, ungefähr 1,7 Bücher pro Einwohner. Man kann also durchaus feststellen, daß der Trend zum Zweitbuch in Rheinland-Pfalz anhält. ({0}) Man kann sicher nicht sagen, daß dies ausreichend ist. Wenn man für dieses öffentliche Bibliothekswesen wirklich etwas tun müßte, wäre es dringend geboten, die öffentlichen Finanzen gerade der Kommunen zu stärken, weil wir leider erfahren müssen, daß bei knappen Haushaltsmitteln in diesem Bereich immer zuerst gespart wird. Es wäre eine wirksame Maßnahme im Bereich des Buchs, wenn die Mittel hierfür ausgedehnt würden. ({1}) Ich meine, wir haben dazu schon morgen Gelegenheit, wenn wir unter anderem über die Entlastung der Finanzsituation der Kommunen bei der Sozialhilfe beraten. Wenn wir uns dazu entschließen könnten, würden wir Mittel freisetzen, die von der öffentlichen Hand zur Förderung der Buchkultur ausgegeben werden könnten. Auch wir werden dieser Beschlußempfehlung zustimmen. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir begrüßen es natürlich, daß sich das Europäische Parlament so ausführlich zu einer Mitteilung der Kommission über Maßnahmen im Bereich des Buches geäußert hat, und wir freuen uns, das wir das gerade heute, am Geburtstag Martin Luthers, zum Ausdruck bringen können, dessen Bibelübersetzung ja für die Entwicklung des deutschen Buches nicht ohne Bedeutung gewesen ist. Angesichts der stürmischen Entwicklung auf allen Gebieten moderner Kommunikations- und Informationsmedien tut die Beschäftigung mit dem Buch ja wirklich gut. Auch darüber zu reden, tut gut. Aber besser als Reden ist natürlich Lesen. Denn das Buch ist ja, wenn man es ganz ernst betrachtet, für junge Menschen eigentlich die Tür zum Reich der Phantasie und der freien Imagination, zur Begegnung mit den kulturellen Traditionen, mit dem Denken über die Dinge der Welt und über sie hinaus, mit alledem, womit wir im späteren Leben und auch in diesem Bundestag meist zu wenig Zeit haben. Goethe sagte einmal: Was in der Zeiten Bildersaal Jemals ist trefflich gewesen Das wird immer einer einmal Wieder auffrischen und lesen. Das nicht Treffliche leider natürlich auch. Es gehört zum Leben dazu. Das kann natürlich durch kein anderes Medium in dieser Weise ersetzt werden, vor allem, wenn wir einen weiteren Vers Goethes heranziehen: Warum werden die Dichter beneidet? Weil Unart sie zuweilen kleidet Und in der Welt ist's große Pein Daß wir nicht dürfen unartig sein. Mit dieser „Unart" ist hier natürlich in sehr positivem Sinn der Mut gemeint, an die Stelle von Routine, Phrase und Konvention auch einmal ein neues, vielleicht zunächst provozierendes Wort zu setzen. Aber jetzt zum Ernst der Vorlage. Der Neid auf die Dichter ist von diesen her gesehen oft eine sehr problematische Sache, nämlich wenn man ihre Rechte betrachtet. Goethe sagte auch dazu etwas - wie natürlich zu jedem Lebensgebiet -: Wer dem Publikum dient Ist ein armes Tier Er quält sich ab Niemand bedankt sich dafür. Das gilt auch für Bundestagsabgeordnete, aber für Dichter allemal und besonders. ({0}) Dies wollte der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft nicht so im Raum stehenlassen - weswegen er sich von der hier gemeinsam begrüßten Entschließung hat leiten lassen. Im Hintergrund stand ja auch etwas, was Frau Pack soeben ausgeführt hat, nämlich die etwas merkwürdige Idee, in dieser Entschließung des Europäischen Parlaments eine gewisse Einschränkung des Urheberrechts vorzuschlagen. Das ist etwas, was man gar nicht verstehen kann, vor allem, wenn man daran denkt, daß es sich hier ja schon um ein älteres Thema handelt. Zum Beweis dieser These will ich aus dem Werk „Vollständiges politisches Taschenbuch - Ein Handbuch zur leichten Verständigung der Politik" aus dem Jahr 1849 vorlesen. Da heißt es vor etwa 150 Jahren zum Stichwort „Nachdruck" folgendes: Der Nachdruck sei die Vervielfältigung eines bereits gedruckten Werks oder einer Schrift durch Abdruck ohne Erlaubnis des Autors oder Verlegers; auch versteht man im Allgemeinen jede unrechtmäßige Anmaßung irgendeines Geisteswerkes oder Productes darunter. Da nun jeder Staat jeden rechtlichen Erwerb beschützt, so ist er auch verpflichtet, dem Verleger geistiger Producte den nöthigen Schutz gegen den diebischen Nachdruck angedeihen zu lassen, und das - ich bitte um Aufmerksamkeit um so mehr, als Literatur und Wissenschaft einem civilisierten Volke ebenso unentbehrlich sind, als Ackerbau und Gewerbe, - das sage ich zu den Kollegen dieser Arbeitsgebiete 7340 und kein Mensch, kein Volk kann verlangen, daß derjenige, der die Mittel zur Befriedigung geistiger Bildung und Unterhaltung hervorbringt, ohne Lohn sich anstrenge, und schlimmer gestellt sein soll, als der geringste Tagelöhner. Meine Damen und Herren, wie wahr, kann man dazu nur sagen, wenn man die europäische Perspektive vor Augen hat. Deswegen möchte ich auch aus aktuellem Anlaß zum Schluß, Herr Präsident, einen Dichter zitieren, dessen Namen zu nennen die Bescheidenheit mir verbietet, der sich zu diesem Thema kürzlich geäußert hat: Es sitzt ein Reh im Wald und friert: die Bäume sind hier nur kopiert aus einem großen Bilderbuch, das ist der Technik schlimmer Fluch. Der Förster tritt hinzu und weint, weil auch der Mond kopiert nur scheint; sein Hund hält das für unerhört und flieht davon, total verstört. Doch ein Japaner geht vorbei, dem ist das alles einerlei: noch eh' der Hahn am Morgen kräht, verkauft er ein Kopiergerät. Oh Mensch, bedenke dies in Ruh, sonst wirst Kopie zuletzt auch Du! Das wollen wir alle nicht, auch nicht unter europäischen Vorzeichen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Neuhausen, erheben Sie auf Ihr Gedicht Urheberrechte? ({0}) - Wir vervielfältigen aber unsere Stenographischen Berichte tausendfach. ({1}) Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulhoff.

Prof. Wolfgang Schulhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von der Literatur leider wieder zur Finanzpolitik: Der Antrag der SPD-Fraktion auf Erhaltung des halben Mehrwertsteuersatzes für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften ist noch ein Teil der Kampagne vom Sommer 1987, als man Woche für Woche eine andere Subvention herausstellte, die angeblich gestrichen werden sollte. Man bezog sich dabei auf eine Prüfliste des Finanzministers, die alle Subventionen enthielt, die im übrigen selbstverständlich auch schon zu Zeiten der SPD-Minister da war. Nachdem am 14. Oktober letzten Jahres der Katalog der Subventionsstreichungen vom Finanzminister auf den Tisch gelegt und damit allen Spekulationen ein Ende gesetzt worden war, war auch dieser Antrag vom 8. Oktober schon obsolet geworden. Als dann der Antrag auf Erhaltung des halben Mehrwertsteuersatzes am 9. Dezember 1987 dem Finanzausschuß im Zusammenhang mit einer EG-Vorlage vorgelegt wurde, war man in der Tat im Ausschuß etwas verwirrt, aufgefordert zu werden, etwas beizubehalten, was man gar nicht ändern wollte. Deshalb erklärte auch der Finanzausschuß mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen den SPD-Antrag für erledigt. Selbst die SPD-Kollegen schienen etwas irritiert zu sein und baten, man solle ihn wenigstens zur Kenntnis nehmen. Ich darf nochmals klarstellen: Zur Finanzierung der Steuerreform war weder eine Mehrwertsteuererhöhung noch eine Anhebung des Mehrwertsteuersatzes für Bücher usw. vorgesehen; denn auch wir wissen, daß der halbierte Mehrwertsteuersatz einer der wenigen Ansatzpunkte ist, dem Buchgewerbe kulturpolitisch zu helfen. ({0}) - Also, lieber Herr Kollege Duve, gar keine Sorge! Sie sehen, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie können immer dann mit unserer Zustimmung rechnen, wenn Sie etwas beizubehalten fordern, was wir gar nicht ändern wollen. Nur rauben wir uns bei dem Verfahren etwas unsere wertvolle Zeit. Erlauben Sie mir aber doch noch eine kritische Anmerkung; denn das, was sich hier abgespielt hat, ist kein Sonderfall, sondern leider Methode, Methode, wie die Opposition mit der Regierung umgeht. Da werden einfach grundlos Behauptungen erhoben und diese permanent wiederholt. Nur, in diesem Fall haben Sie sie so lange wiederholt, bis Sie selbst daran glaubten. Diesmal sind Sie Opfer Ihrer eigenen Kampagne geworden. Deshalb reden wir doch in Zukunft lieber über das, was wirklich geplant ist und konkret auf dem Tisch liegt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Schulhoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Prof. Wolfgang Schulhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, vielen Dank, ich habe nur noch eine Minute Zeit. Wir können uns gleich darüber unterhalten. Zum Beispiel könnten wir uns, weil wir uns gerade im finanzpolitischen Bereich befinden, über die jetzt schon ersichtlichen positiven Auswirkungen der beiden ersten Stufen der Steuerreform unterhalten und in diesem Zusammenhang auch über den ungewöhnlich erfolgreichen Kurs der Bundesregierung. Interessant in diesem Zusammenhang wäre z. B. auch eine vertiefende Diskussion über die Forderung der Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen innerhalb der SPD, nur nicht die Spitzensteuersätze anzuheben. Sie rennen mit dieser Forderung bei uns offene Türen ein. Wir haben die Steuersätze gesenkt und denken gar nicht daran, sie anzuheben. Ich sage das nur vorsorglich, damit von Ihnen zukünftig nicht ein derartiger Antrag gestellt wird. Das sind z. B. ein paar aktuelle Themen, über die wir uns im Interesse der Bürger und der Wirtschaft sachlich unterhalten können, auch öfters. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000774

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein paar kurze Bemerkungen zu den beiden Anträgen, die in diesem Tagesordnungspunkt enthalten sind. Zunächst zu dem Antrag, den halben Mehrwertsteuersatz für Zeitungen, Zeitschriften und Bücher beizubehalten. Darin sind und waren wir uns in diesem Hohen Hause immer alle einig. Der Antrag ist also erledigt: durch die bestehende Rechtslage und auch die Ergebnisse der Steuerreform, die daran nichts geändert haben. Der Antrag ist heute eigentlich nur noch insoweit interessant, weil er zeigt, wie wahrheitswidrig die SPD ({0}) am 1. Juli 1987 erklärt hat, die Koalition wolle diesen halbierten Steuersatz auf den normalen Steuersatz erhöhen. Das ist durch die Entwicklung bestätigt. Es zeigt sich, daß das genauso unwahr war wie alle die Behauptungen dieser Monate, die zusammengefaßt nicht weniger als 51 Milliarden DM Steuererhöhungen bedeutet hätten, und die durch die Entwicklung längst widerlegt sind. Herausgekommen ist eine Steuersenkung von netto 50 Milliarden DM und nicht eine Steuererhöhung von 51 Milliarden DM, die die Behauptungen der SPD bedeutet hätten. Zum zweiten Teil dieses Tagesordnungspunktes: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, soweit sie finanzpolitisch von Bedeutung ist. Hier wollen wir dem Antrag durchaus nachkommen, daß die Bundesregierung auf EG-Ebene alles tun soll, um auch künftig bei der Harmonisierung den ermäßigten Steuersatz auf Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zu erreichen. Allerdings muß es ein einheitlich ermäßigter Steuersatz sein. Ich bitte das klar zur Kenntnis zu nehmen. Der Antrag ist etwas mißverständlich. Wir treten aus Vereinfachungsgründen für nur zwei Steuersätze ein. Wir können nicht Komplizierungen haben. Deshalb soll es der ermäßigte Steuersatz sein, nicht ein Sondersteuersatz; es soll der ermäßigte Steuersatz im EG-Mehrwertsteuersystem sein. ({1}) - Das glaube ich nun nicht. ({2}) - Die Haltung der Bundesregierung ist eindeutig: zwei Steuersätze. Machen Sie bitte nicht auch bei der Mehrwertsteuer den Fehler, der in der Vergangenheit bei der Einkommen- und Lohnsteuer allzusehr gemacht wurde: durch allzu viele Ausnahmen ein so kompliziertes Steuerrecht zu schaffen, mit dem Ergebnis hoher allgemeiner Sätze und immer mehr Ausnahmen. Dann werden die allgemeinen Sätze nämlich immer höher. Wer Ausnahmen will - das muß man wissen - , erhöht die allgemeinen Sätze. Deswegen können Ausnahmen nur begrenzt sein. Unser System - das ist inzwischen von der Kommission vorgeschlagen - : zwei Steuersätze, ein normaler Steuersatz und ein halbierter. Unter diesen sollen die Bücher, Zeitungen und Zeitschriften fallen. Soweit im Ausschußbericht weitere Erleichterungen der Zollförmlichkeiten oder gar eine Anhebung der Freibeträge gefordert werden: sehr sympathisch. Aber die Wettbewerbsfairneß gebietet, daß die Verlagsunternehmen natürlich nicht vom Ausland her gleichsam erdrückt werden. Das ist übrigens nicht nur ein deutscher Standpunkt, sondern die anderen Länder sehen es genauso. Somit ist über das hinaus, was hier an Erleichterungen schon gewährt ist, nichts zu machen. Erst dann - darauf arbeiten wir hin - , wenn der europäische Binnenmarkt besteht, wenn gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen, ist es kein Problem - auch das ist ein Ergebnis des Binnenmarktes - , freien Handel für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zum gleichen Satz zu haben. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Duve, bitte sehr.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den beiden letzten Rednern, dem Herrn Staatssekretär und dem Kollegen von der Union, will ich nur noch sagen: Wir haben unser vornehmstes Recht in Anspruch genommen: Pläne, die im Hause des Finanzministers vorlagen, ({0}) zu kritisieren. Es gab eine öffentliche Diskussion. Das ist das Recht der Zeitungen. Es gab im Feuilleton der „Zeit" zwei große Beiträge zu dieser Frage. Das ist eine wichtige Frage. Wir haben dann gar nicht mehr behauptet, daß Sie es vorhatten, sondern wir haben gesagt: Laßt uns im Deutschen Bundestag auch ein paar Jahre vor 1992 einmal einmütig feststellen, daß wir das nicht machen wollen, daß wir dabei bleiben wollen. So eine Feststellung kann man doch treffen, wenn man kurz vor dem Binnenmarkt steht. Um diese Feststellung haben wir Sie gebeten. Und mit sehr, sehr zum Teil heiteren, zum Teil komischen Verrenkungen wollen Sie sich dieser Feststellung immer entziehen. Das wollte ich hier gerne noch sagen. Wir haben nichts Wahrheitswidriges gemacht, sondern wir haben das gemacht, was Opposition zu machen hat, Herr Hochwohlgeboren Staatssekretär. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000774

Herr Duve, ich muß leider richtigstellen, was Sie gesagt haben. Ich habe hier die Presseerklärung Ihres ehemaligen Kollegen Dr. Spöri, der unter dem 1. Juli 1987 behauptet hat, daß die Sätze nach der bei der Bundesregierung vorliegenden Liste von 7 % auf 14 % angehoben werden sollen. ({0}) Ich stelle fest: Diese Liste haben wir vom SPD-Finanzminister übernommen. Ich habe sie selbst gesehen. Das war seine Pflicht. Jeder ist verpflichtet, jederzeit alle Subventionen, die es gibt, aufzulisten. So ist es von den SPD-Finanzministern aufgelistet worden. Wir haben diese Liste übernommen. Ich stelle fest, daß der Kollege Spöri im Namen der SPD am 1. Juli 1987 die Unwahrheit gesagt hat. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 11/1978, Tagesordnungspunkt 10a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/920 für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 11/2505 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Keine Gegenstimme. - Enthaltungen? - Keine Enthaltung. Die Beschlußempfehlung ist einstimig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Wüppesahl ({0}) Sitzplatz des Abgeordneten Wüppesahl im Plenarsaal - Drucksache 11/3198 Herr Abgeordneter Bohl, zur Geschäftsordnung? - Ja, bitte.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Ich beantrage - auch namens der anderen Fraktionen - , die Redezeit in der Weise zu begrenzen, daß der Antragsteller fünf Minuten und jede Fraktion darüber hinaus einen Redebeitrag bis zu fünf Minuten hat. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Es ist ein interfraktioneller Antrag. Ich lasse darüber abstimmen. Ist das Haus damit einverstanden? Gibt es eine gegenteilige Meinung? - Keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen. Herr Wüppesahl, Sie haben eine Redezeit von fünf Minuten.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Meine Damen und Herren! Wir haben heute das denkwürdige Vergnügen, den wohl ersten Antrag eines unabhängigen, fraktionsbefreiten oder, wie Sie es zu nennen pflegen, fraktionslosen Abgeordneten seit Bestehen des Deutschen Bundestages, also seit 1949, zur Behandlung kommen zu sehen. Dies ist in der Tat bereits ein Fortschritt, auch wenn der Sachgegenstand nicht so besonders weltbewegend ist. ({0}) Allerdings bewegt uns der Sachgegenstand hier im Hause, wie der hinhaltende Widerstand aus sämtlichen Fraktionen und auch aus dem Parlamentssekretariat überdeutlich werden läßt. ({1}) Der Hauptgesichtspunkt, weshalb ich diesen Antrag stelle - wir hätten uns das ansonsten sparen können - , ist, daß - Sie lachen jetzt im Grunde über die Unfähigkeit des Hauses ({2}) eine wesentliche Prozeßvoraussetzung für die Organstreitklage in Karlsruhe an dieser Stelle nicht vorhanden ist. Die Zuweisung meines Sitzplatzes dort hinten durch den Bundestagspräsidenten ist nichtig. Das Haus selbst muß darüber befinden. Das hat der Berichterstatter des Zweiten Senats, Herr Mahrenholz, uns allen mit auf den Weg gegeben. Deswegen beantrage ich jetzt, daß mir ein Sitzplatz mit Telefonanschluß und Schreibmöglichkeit in den ersten beiden Sitzreihen des Plenums zur Verfügung gestellt wird. ({3}) Sie wissen, daß es 21 solcher privilegierter Plätze gibt. Ich sehe zur Zeit keinen vernünftigen Grund, weshalb mir nicht ein solcher Platz eingeräumt wird. Ganz im Gegenteil: Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß im Schleswig-Holsteinischen Landtag z. B. der Einzelabgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbandes, Herr Meyer, mit den drei anderen Fraktionsvorsitzenden in der ersten Reihe sitzt. Dort gibt es nur vier Plätze. ({4}) - Herr Meyer hat zu mir verfassungsrechtlich den einzigen Unterschied - das sehe ich auch, Herr Ronneburger - , daß er durch den Minderheitenschutz, der mit 1,5 % völlig zu Recht besteht, nicht in vollem Umfang mit mir zu vergleichen ist. Das wird aber bei weitem dadurch kompensiert, daß die hier für meinen Wunsch zur Verfügung stehenden Plätze ein Vielfaches dessen betragen, was hier im Deutschen Bundestag an Einzelfraktionen vorhanden ist. Es gibt noch weitere Vergleichsmöglichkeiten. Zum Beispiel ist es im Europäischen Parlament auch nicht problematisch, daß aus der Gruppe der Fraktionsbefreiten - das sind zur Zeit 15 Köpfe - einzelne Abgeordnete sehr viel weiter vorne sitzen. Praktisch bedeutet das, was Sie zur Zeit mit mir machen, daß ich darauf angewiesen bin, wenn Informationen von außerhalb des Plenarsaals an mich herangetragen werden oder wenn ich bestimmte Informationswünsche habe, daß ich den Plenarsaal verlassen muß. ({5}) - Sie eben nicht, sondern Sie können hier zum Telefon greifen oder können auch eine Kollegin oder einen Kollegen nach draußen bitten. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Daher ist auch die verfassungsrechtliche Dimension, wie ich sie in dem Antrag formuliert habe, Art. 38 des Grundgesetzes, akut.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ja.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wüppesahl, war das Herausrufen heute nachmittag auch ein Grund dafür, daß Sie bei dem Aufruf Ihrer Rede nicht im Sitzungssaal waren?

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Kollege Carstensen, die Begründung für die Nichtinanspruchnahme des zehnminütigen Rederechts werden Sie - ich werde Ihnen das persönlich zustellen lassen ({0}) in einem Schreiben an den Bundestagspräsidenten und in einem zusätzlichen Vermerk morgen sehr ausführlich nachlesen können. Was dort an Schikanen mit mir durch den präsidierenden Präsidenten gelaufen ist, war in der Tat ungeheuerlich. Ich habe aus diesen Gründen darauf verzichtet. Ich verzichte darauf, das hier jetzt auszubreiten; das werden Sie nachlesen können. ({1}) - Warten Sie bis morgen! Es hört sich im ersten Moment ein bißchen maßlos an, aber ich habe pragmatisch begründet, weshalb es trotzdem sinnvoll ist, daß ich in die ersten zwei Reihen komme. Ich habe ursprünglich beantragt - das nehmen Sie bitte zur Kenntnis - , daß mir dort hinten Schreibmöglichkeit und Telefon eingerichtet werden. Dr. Bücker, der Bundestagsdirektor, hat geschrieben, das sei technisch nicht möglich. Diese Antwort kam in der - ich sage mal - Ablehnungsorgie zu sämtlichen Dingen, die ich beantragt habe, um meine Rechtsstellung in der Konkurrenzsituation mit Ihnen zu verbessern. Ich hätte mich damit zufriedengegeben, aber wenden Sie sich an Herrn Dr. Bäcker, der sagt, es geht nicht! Mir bleibt jetzt nichts anderes übrig, als so eine Forderung zu stellen, daß man mich hier vorne hinplaziert. ({2}) Ich würde mich auch mit einem Platz in den ersten fünf Reihen begnügen. Es geht mir nicht darum, unbedingt hier vorne zu sitzen, auch wenn Sie genausogut wie ich wissen, wie wichtig es für die Optik ist, gerade am heutigen Tag, ob bei der Gedenkstunde oder bei der Regierungserklärung, wenn das Fernsehen läuft usw. Klappern gehört zum Handwerk und die Vermittlung über die Medien für uns Politiker allemal. Das sollte man in der Offenheit deutlich machen. Ich denke, daß in dieser Frage genauso wie in vielen anderen Dingen das zutrifft, was wir wahrscheinlich alle in der Literatur während unseres Deutschunterrichtes, zum Teil auch im Studium gelernt haben: Form und Gehalt müssen zusammen stimmen, zusammentreffen; wenn da etwas nicht stimmig ist, kann das Bild nicht korrekt sein. Bei dem Stellenwert, den ich in diesen erstarrten Bundestag einbringe, nämlich eine besonders ausgeprägte Lebendigkeit ({3}) und auch Akzentsetzung bei einzelnen Themen, ist es völlig unangemessen, daß ich dort hinten in der letzten Reihe, zwar im Mittelpukt und in Fluchtlinie zum Bundestagspräsidenten, aber eben ganz hinten sitze. Ich glaube auch aus diesem Grunde, daß Sie gut beraten sind, diesem Antrag stattzugeben, bevor Ihnen aus Karlsruhe gesagt wird, wie man das hätte klüger machen sollen. Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Es liegen mir keine Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag des Abgeordneten Wüppesahl auf Drucksache 11/3198? - 2 Stimmen. ({0}) Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei 2 Stimmen dafür und 2 Enthaltungen ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt. Aber, Herr Abgeordneter Wüppesahl, wenn Sie immer fleißig im Plenum sind, können Sie sicherlich da und dort in der zweiten Reihe Ihrer früheren Fraktion einen Platz ergattern. Davon bin ich überzeugt. ({1}) Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Humanitäres Kriegsvölkerrecht - Drucksache 11/2118 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Humanitäres Kriegsvölkerrecht - Drucksache 11/3295 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einversanden? - Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bezeichnung „Humanitäres Kriegsvölkerrecht" in der Tagesordnung verschleiert den Punkt, um den es geht. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung im Falle bewaffneter Konflikte. Wenn wir Gott sei Dank von der Möglichkeit bewaffneter Konflikte in unserem Teil der Welt zur Zeit weit entfernt sind, so ist das in anderen Teilen der Welt leider anders. Und das Völkerrecht ist auch etwas, was nicht auf die allernächste Zeit begrenzt ist, sondern für lange Zeit Gültigkeit haben soll. Das Thema hat eine lange, lange Geschichte. Ich möchte sie eine Leidensgeschichte nennen. Ich denke, die hier versammelten wenigen Sachverständigen, die es zu diesem Thema im Deutschen Bundestag gibt, werden mir zustimmen. Ich will diese ganze Leidensgeschichte hier nicht noch einmal aufrollen, sondern nur festhalten: 1977 sind die Zusatzprotokolle zu den Genfer Rotkreuzabkommen von der damaligen Bundesregierung unterzeichnet worden; jetzt, elf Jahre später, sind sie nicht ratifiziert. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir dieses Thema bis in die feinsten völkerrechtlichen Verästelungen diskutiert. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode im Plenum und in den Ausschüssen die Frage der Auswirkungen dieser Protokolle auf die Bündnisstrategie und auf die Doktrin der Abschreckung sehr intensiv diskutiert. Ich erinnere mich daran, daß die Bundesregierung innerhalb sehr kurzer Zeit vier verschiedene Positionen eingenommen hatte. Zuerst hat sie von einem Nuklearvorbehalt, den sie machen müsse, gesprochen, dann von einer Nuklearerklärung, die sie abgeben wolle, und dann von einer Interpretation, die sie zu den neuen Bestimmungen des Vertrages abgeben wolle. Der seinerzeit letzte Stand war, daß die Bundesregierung erklärt hat, sie wolle erst ratifizieren, wenn eine Nuklearmacht ratifiziert hat. Ich mache einen Vorschlag für die Behandlung des Themas in dieser Legislaturperiode. Ich denke, es hat sich gezeigt, daß es wenig Sinn hat, die rechtlichen und moralischen Probleme der Abschreckungsdoktrin und der Bündnisstrategie im Zusammenhang mit den Zusatzprotokollen zu den Genfer Rotkreuzabkommen lösen zu wollen. Vielleicht ist das auch der Grund gewesen, warum wir in der letzten Legislaturperiode nicht weitergekommen sind. Ich schlage vor, daß wir diesen Aspekt, über den wir ja in vielen, vielen anderen Zusammenhängen immer wieder diskutieren und der heute ja auch anders aussieht als vor vier Jahren, einmal ausklammern, nicht weil ich mich drücken möchte - da brauchen Sie keine Angst zu haben -, aber um in der Sache weiterzukommen, und daß wir uns auf das konzentrieren, was eigentlich Thema und Inhalt dieser Zusatzprotokolle ist. Ich frage - das ist eine Frage an die Kollegen von den Regierungsfraktionen und an die Bundesregierung -, ob denn inzwischen wenigstens Einigkeit über ein paar grundsätzliche Feststellungen im Zusammenhang mit diesen Protokollen besteht, über die in der letzten Legislaturperiode keine Einigkeit bestand. Ich frage also, ob jetzt Einigkeit darüber besteht, daß es sich hier um völkerrechtliche Verträge handelt, die nicht einzelne Waffenarten verbieten, sondern sich ausschließlich mit Waffenwirkungen beschäftigen, und zwar unabhängig davon, von welchen Waffensystemen diese Wirkungen ausgehen. Das heißt, es müßte auch dann Einigkeit darüber bestehen, daß diese Protokolle ihren Geltungsbereich eindeutig auch für Nuklearwaffen haben. Die nächste Frage ist, ob hier Gemeinsamkeit darüber besteht, daß in diesen Protokollen zum Teil bisher bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht erstmalig kodifiziert worden ist, z. B. die Frage des Übermaßverbots und des Verbots unterschiedsloser Angriffe, und ob Einigkeit darüber besteht, daß nur in einem ganz geringen Teil der Protokolle, wenn auch in einem wichtigen, neues Völkerrecht geschaffen worden ist, nämlich beim absoluten Repressalienverbot, beim absoluten Verbot einer Umweltkriegführung und - jetzt kommt ein dritter Punkt, der in der Völkerrechtslehre umstritten ist - bei der Präzisierung des Gebots der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Das sind die drei Dinge, die von denjenigen, die an der Aushandlung der Protokolle beteiligt waren und die mit uns in der letzten Legislaturperiode darüber diskutiert haben, als neu bezeichnet worden sind. Darüber hinaus möchte ich aber ausdrücklich dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes zustimmen, der uns gerade heute noch in einem Brief hat wissen lassen, was für eine wesentliche Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung, der Umwelt und der Zivilschutzorganisationen - das sollten wir nicht vergessen - diese Protokolle doch mit sich bringen. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes hat uns im Namen seiner Organisation eindringlich gebeten, die Ratifizierung nicht länger zurückzustellen. Ich glaube, daß die Argumente unseres früheren Kollegen Prinz Wittgenstein es wirklich wert sind, hier ernstlich betrachtet zu werden. Ich bin dankbar, daß trotz der späten Stunde Herr Staatsminister Schäfer es noch ermöglichen konnte herzukommen, weil es hier noch ein paar Fragen gibt, die wir als Oppositionspartei uns selbst nicht beantworten können ({0}) - auch Sie nicht - , nämlich Fragen, wieweit eigentlich die Bündniskonsultationen, von denen immer die Rede war, inzwischen gediehen sind, und insbesondere die Frage, Herr Staatsminister, wie sich denn die amerikanische Position in der letzten Zeit möglicherweise verändert hat. Uns sind natürlich aus der Literatur und aus den Zeitungen zwei Gesichtspunkte bekannt, die für uns neu sind und auch ein wenig alarmierend - das muß ich schon sagen - , daß nämlich aus amerikanischer Sicht jetzt ein ganz neuer, grundsätzlicher Vorbehalt gegen die Ratifizierung der Zusatzprotokolle im Hinblick auf den von amerikanischer Seite vermuteten Kombattantenstatus von Terroristen gemacht wird, der durch diese Protokolle angeblich geschaffen wird. Der zweite Punkt ist für mich aber noch maßgeblicher: Aus einer mir vorliegenden Rede von Außenminister Shultz aus dem Jahre 1986 ergibt sich ganz eindeutig, daß die amerikanische Regierung für sich einen Interventionsanspruch jenseits des Völkerrechts begründet hat. Es ist eine einseitige Erklärung, daß sie jenseits des Völkerrechts Interventionen für sich in Anspruch nimmt. Das wäre ein ganz genereller und prinzipieller Vorbehalt gegenüber diesen Zusatzprotokollen, und es würde bedeuten, daß die amerikanische Regierung, zumindest die jetzige Administration, überhaupt nicht bereit ist, zu ratifizieren. Wenn dann die Bundesregierung bei ihrer Meinung bleibt, daß eine Nuklearmacht vorangehen muß, werden wir, fürchte ich, noch sehr, sehr lange warten müssen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie wirklich sehr herzlich bitten, auf das einzugehen, was ich Ihnen vorgeschlagen habe, die Debatte diesmal anders zu führen. Wenn das nicht möglich sein sollte, werden natürlich all die Fragen wieder auftauchen, die wir auch beim letztenmal schon hatten und die uns nicht weitergebracht haben. Die Genfer Zusatzprotokolle zu den Rotkreuz-Protokollen von 1949 sind ein wesentlicher Fortschritt im humanitären Kriegsvölkerrecht, und wir sollten dieses Kriegsvölkerrecht nicht unterschätzen. Wir sollten nicht denken, daß solche Bestimmungen keinen Wert hätten und sie im Ernstfall doch nicht beachtet würden. Die Geschichte des Kriegsvölkerrechts seit der Haager Landkriegsordnung zeigt etwas anderes. Es gibt wesentliche Bestimmungen dieses Völkerrechts, die in allen Konflikten beachtet worden sind, und es wäre in den letzten Jahren vielen Menschen - z. B. im Golfkrieg - schreckliches Leid erspart geblieben, wenn diese Protokolle von allen Staaten der Erde bereits ratifiziert wären. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Graf Huyn.

Hans Huyn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000987, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich teile die Meinung, Herr Kollege Verheugen, daß es uns allen darum gehen muß, hier zu einer Verbesserung des Schutzes der Umwelt, der Bevölkerung und natürlich auch der Zivilschutzorganisationen zu kommen. Darum hat unsere Fraktion der CDU/CSU die Zusatzprotokolle seit ihrer Fertigstellung im Jahre 1977 unterstützt. Im Kern - und auch da stimme ich Ihnen zu - sind diese Zusatzprotokolle im humanitären Kriegsvölkerrecht ein Fortschritt, den wir, glaube ich, alle erreichen wollten. Unsere grundsätzliche Unterstützung gilt auch angesichts der Tatsache, daß die Zusatzprotokolle noch mit Mehrdeutigkeiten behaftet sind, die vor einer Ratifizierung ausgeräumt werden müssen. Für die CDU/CSU-Fraktion geht es darum, den Krieg als Mittel der Konfliktaustragung ein für alle mal unmöglich zu machen. Das ist, wie ich meine, ein zutiefst humitäres Anliegen im Geiste des Kriegsvölkerrechts und auch im Sinne der Genfer Protokolle. Angesichts dieser Aufgabe ist die Frage, welche Waffen in einem Krieg angewendet werden dürfen und welche nicht, zweitrangig. Wer den Hauptzweck der Kriegsverhinderung aus den Augen verliert, macht den Krieg wieder führbar. Die Opposition gibt sich hier der Illussion hin, ein verbessertes humanitäres Kriegsvölkerrecht könnte einen Krieg humaner und damit erträglicher machen. ({0}) Aber darum geht es nicht. Es geht darum, den Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich zu eliminieren, und dies wird natürlich nicht durch Gesetze erreicht, wie wir alle wissen, sondern durch Verteidigungsanstrengungen und durch Waffensysteme, die sich als Instrumente der Friedenserhaltung bewährt haben. ({1}) - Und durch Waffensysteme; leider ist es so, Frau Kollegin. In unserer gegenwärtigen Situation sind das die Nuklearwaffen. Konventionelle Mittel alleine reichen unter den gegebenen Umständen für eine Friedenssicherung leider - ich sage: leider - nicht aus. Erst die Verkoppelung von konventionellen und nuklearen Mitteln stellt sicher, daß jegliche Aggression als erfolglos und damit als sinnlos angesehen werden muß. Diese Verkoppelung schützt vor allem die nichtnuklearen Staaten, vor allem also auch die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Es wäre paradox, wollten wir uns auf dem Umweg über nukleare Kriegsvölkerrechtsparagraphen ausgerechnet dieses Schutzes selbst berauben. Die entscheidende Trennungslinie liegt nicht zwischen konventionellem und nuklearem Krieg - angesichts der Tatsache, daß die konventionellen Waffen ja immer schlimmer und tödlicher werden - , sondern zwischen Krieg und Nichtkrieg, zwischen Krieg und Frieden. Lassen Sie mich hier unseren verstorbenen Kollegen Alois Mertes zitieren, der auf diese entscheidende Dimension in einer wirklich denkwürdigen Rede in diesem Hause am 14. Oktober 1983 hingewiesen hat. Er sagte damals: Der Verfassungsauftrag der Bundesregierung geht dahin, Schaden vom deutschen Volke zu wenden und das Bundesgebiet vor jedem Angriff und vor jeder Erpressung zu schützen. Der verantwortliche Politiker muß sich fragen, wie er in der konkreten Situation, in der wir stehen, diesem Auftrag genügen will. Das Risiko für jeden potentiellen Angreifer muß so hoch sein, daß für ihn keinerlei Aussicht besteht, irgendeinen Vorteil aus einer Aggression zu ziehen, nach deren Beginn dann das humanitäre Kriegsvölkerrecht zu gelten hätte. Diese Abschreckung bleibt für die voraussehbare Zukunft auf Atomwaffen angewiesen. Wir können es bedauern, und ich tue es, aber es ist so .... Diese Strategie der Abschrekkung ist - ethisch gesprochen - das Ergebnis einer Güter- und Risikoabwägung oder, besser gesagt, einer Abwägung zwischen dem geringeren und dem größeren Übel. Die Ethik gebietet in einer solchen Lage die Wahl des geringeren Übels. Soweit Alois Mertes. Sogar das Rote Kreuz, das sich seit Jahren für eine Ratifizierung des Zusatzabkommens einsetzt, erkennt dieses besondere Dilemma an. Der Brief des Präsidenten des Roten Kreuzes, unseres früheren Kollegen Botho Prinz zu Sayn-Wittgenstein, den wohl manche von uns erhalten haben, spricht im Zusammenhang mit der abwartenden Haltung der Bundesregierung von einem legitimen Anliegen. Er kommt zu einem anderen Schluß. Aber auch hier muß ich wieder mit dem erwidern, was Alois Mertes bereits 1983 gesagt hat - ich zitiere - : Auch die humanitären Ideale des Roten Kreuzes stoßen an die Grenzen, die von den Notwendigkeiten der politischen und militärischen Sicherung des Friedens gesetzt werden. Ich wiederhole: Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt vorbehaltlos das beabsichtigte Vorgehen der Bundesregierung. Es besteht für uns keinerlei Anlaß, Maßnahmen zu beschließen, die die Haltung unserer wichtigsten Verbündeten präjudizieren müssen. Wir sind keine Nuklearmacht, aber Sicherheit und Frieden in unserem Lande sind abhängig von den Entscheidungen der drei westlichen Nuklearmächte. In den zentralen Fragen unserer Sicherheit kann es nur eine gemeinsam abgestimmte Haltung geben. Lassen Sie mich zusammenfassend noch einmal in drei Punkten das sagen, was ich bereits am 3. Oktober 1986 in diesem Hause zu diesem Thema gesagt habe. Erstens. Auch beim Einsatz von Nuklearwaffen sind unterschiedslose Angriffe auf die Zivilbevölkerung bereits heute untersagt. Ein dringender Handlungs- und Ratifizierungsbedarf ist insoweit also nicht gegeben. ({2}) Zweitens. Nach der rein defensiven Strategie, die unser Bündnis vertritt, bisher praktiziert hat und in Zukunft praktizieren wird, werden Waffen nur als Antwort auf einen Angriff eingesetzt. Drittens. Es bleibt Pflicht der Völkergemeinschaft, das Kriegsvölkerrecht auch hinsichtlich der Nuklearwaffen zum größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung weiterzuentwickeln.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheugen?

Hans Huyn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000987, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bin beim letzten Satz. Ich bitte um Nachsicht. Ich beantrage daher, den Antrag der SPD zum humanitären Kriegsvölkerrecht sowie den inhaltlich ähnlichen Antrag der Fraktion der GRÜNEN an die Ausschüsse zur Beratung zu überweisen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schilling.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Lieber Herr Ronneburger - damit Sie auch sehen, wofür ich außerdem noch bin! Bei der Behandlung dieses Themas muß mensch sich klarmachen: Kriege werden nicht durch ein humanitäres Kriegsvölkerrecht verhindert. Der Name ist schon ein Widerspruch in sich; denn jeder Krieg ist zutiefst inhuman. Es gibt etliche Regelungen in diesen Zusatzprotokollen, die DIE GRÜNEN nicht akzeptieren können. Aber es ist uns wichtig, an den Inhalten der Protokolle folgende drei Punkte zu überprüfen und zu messen: erstens die gültige Militärstrategie der NATO, zweitens die Waffenbeschaffungsprogramme der Bundeswehr, die Bundeswehrplanung, drittens die Zivilschutzpolitik. Seit elf Jahren wiederholt die Bundesregierung ihre Absicht, noch in dieser Legislaturperiode das Ratifizierungsverfahren einzuleiten. Dabei hat sie am Zustandekommen der Protokolle entscheidend mitgewirkt. Sie hat aber Angst vor der eigenen Courage bekommen; denn die Bundesregierung weiß sehr wohl, daß Einsatz und Androhung des Einsatzes atomarer, bakteriologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen nicht mit den Bestimmungen des Zusatzprotokolls vereinbar sind. Würde also ratifiziert, dann wäre die Bundesregierung dazu gezwungen, ihre NATO-Mitgliedschaft daraufhin zu überprüfen, ob die gültigen Militärstrategien, die Doktrin der nuklearen Abschreckung, mit Grundgesetz und Völkerrecht vereinbar wären. Und das sind sie nicht. Genau deshalb macht sie Abstimmungsbedarf mit den NATO-Partnern geltend und fordert den sogenannten Nuklearvorbehalt, d. h. Einsatz atomarer Waffen soll erlaubt sein. Statt die Bevölkerung zu schützen, kämpft die Bundesregierung für Optionen der atomaren Kriegsführung. Dieser Nuklearvorbehalt würde aber die Genfer Zusatzprotokolle, wonach nicht nur bestimmte Waffenarten, sondern auch bestimmte Waffenwirkungen verboten sind, ad absurdum führen. Deshalb regelt z. B. Art. 55 des ersten Zusatzprotokolls den Schutz der natürlichen Umwelt, wonach verboten ist, Waffen anzuwenden, die Mensch und Natur ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden zufügen oder von denen das erwartet werden kann. „Angriffe gegen die natürliche Umwelt als Repressalie sind verboten", heißt es da wörtlich. Aber im Weißbuch der Bundesregierung von 1983 steht, daß diese C-Waffen als - ich zitiere wörtlich - „Repressalienkapazität" auf deutschem Boden bereitgehalten werden müssen. Durch Art. 36 des ersten Zusatzprotokolls soll sichergestellt werden, daß schon im Planungs- und Entwicklungsstadium einer neuen Waffe, Militärtechnik oder Kampfmethode das Völkerrecht gilt. Praktisch jede neue Waffengeneration - Cruise Missiles, Pershing, Tornado, Kampfflugzeuge, Jäger 90 - verstößt dagegen. „Modernisierung", wie die Aufrüstung auf NATO-deutsch jetzt heißt, wäre ebenfalls nicht erlaubt, und das weiß die Bundesregierung ganz genau. Angesichts der Pläne, die von dieser Regierung mit der Verabschiedung ihres Zivilschutzgesetzentwurfes verfolgt werden, ist es zwingend, auf den engen Zusammenhang zwischen dem ersten Zusatzprotokoll und dem Zivilschutz hinzuweisen. Das erste Zusatzprotokoll bietet mit seinen Prinzipien - ich zitiere - der „unverteidigten Orte" - Art. 59 - und „entmilitarisierter Zonen" - Art. 60 - das programmatische Gegenkonzept zur regierungsamtlich begründeten Zivilschutzplanung, wie sie seit 1986 in den sogenannten Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung verfolgt wird. Wie selbstverständlich geht das federführende Innenministerium davon aus, daß ein Krieg in Europa denkbar und planbar ist, ein Krieg in Europa planbar und führbar ist, ein Krieg in Europa führbar und gewinnbar ist und ein solcher Krieg die Zivilbevölkerung und die Natur überleben läßt. Beispiel - Zitat - : Gegen Wirkungen konventioneller einschließlich chemischer sowie selektiv eingesetzter nuklearer Waffen außerhalb der unmittelbaren Umgebung ist Schutz möglich. Da kann ich nur fragen: Und wer schützt uns vor den Wirkungen solcher Wahnvorstellungen? Das müssen wir schon selber machen - und der Bundestag heute bzw. in den Ausschüssen für die Bevölkerung. Die Verantwortung, das nicht zu tun, kann niemand hier tragen. 75 Staaten haben bereits ratifiziert. Die Bundesregierung betont, daß darunter sechs NATO-Länder seien, aber noch kein Staat der Warschauer Vertragsorganisationen. Mein Vorschlag: Ratifizieren Sie als siebtes NATO-Land; dann sind es 76 Staaten. Ratifizieren Sie ohne irgendeinen Vorbehalt, und konfrontieren Sie Herrn Gorbatschow nächstes Jahr bei seinem Besuch in der BRD damit. Ich bin mir sicher, das macht Geschichte und findet dort und in vielen weiteren östlichen Ländern Nachahmung. Außerdem wäre die Ratifizierung ein langersehntes und im wahrsten Sinne des Wortes „notwendiges" Geburtstagsgeschenk zum 40jährigen Bestehen und Bestehenbleiben dieser Republik. Ich möchte mit einem Zitat von Brecht aus der „Rede für den Frieden" von 1952 schließen: Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer ... Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzuviele kommen uns heute schon vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Und doch wird nichts mich davon überzeugen, daß es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Laßt uns die Warnungen erneuern und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind. Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Beifall eben auch so interpretiert, daß er dem Zitat von Brecht galt, dem man wirklich nur Beifall zollen kann. Meine Damen und Herren, das, was hier heute abend beantragt ist, ist an sich schon beschlossen, und zwar am 13. Oktober dieses Jahres, als nach einer Debatte zu einer Petition hier bereits Beschluß gefaßt wurde. Alle Fraktionen haben gesagt: Wir sind dafür, daß diese Protokolle ratifiziert werden. - Ich finde es trotzdem gut, daß die Anträge hier noch einmal zur Debatte stehen, vor allem, daß sie jetzt in die Ausschüsse verwiesen werden. Es ist ja wahrhaftig eine mißliche Situation, daß Protokolle, die vor elf Jahren gezeichnet wurden, noch immer nicht ratifiziert sind; das kann niemanden freuen. Aber ich möchte ausdrücklich betonen: Die Bundesregierung, und zwar weder die vorherige noch die jetzige, trifft deswegen ein Vorwurf. Die Situation war halt sehr kompliziert. Nur bin ich der Meinung, daß jetzt doch etwas andere Voraussetzungen geschaffen sind, die es möglich machen müßten, zur Ratifizierung zu kommen, wie es alle Fraktionen hier im Hause auch wünschen. Es ist in unserer Situation sicher notwendig, eine Abstimmung mit den NATO-Partnern zu suchen, denn deren Truppen sind ja auch bei uns stationiert. Es wäre also geradezu leichtfertig, wenn man sich nicht um eine entsprechende Abstimmung bemühen würde. Aber es ist ja nun zweierlei klar. Erstens. Eine hundertprozentige Übereinstimmung mit den NATO-Partnern ist heute offensichtlich nicht erreichbar. Sechs haben bereits ratifiziert. Die USA und Frankreich haben erklärt, daß sie nicht ratifizieren werden; ich beziehe Frankreich hier mit ein. Die USA haben erklärt, sie werden nicht ratifizieren, aus den von Ihnen, Herr Verheugen, genannten Gründen. Deshalb werden wir eine Einheitlichkeit aller Voraussicht nach nicht bekommen. Die Uneinheitlichkeit, was die Ratifizierung - ja oder nein? - angeht, existiert bereits, und da macht es keinen großen Unterschied, ob wir zu diesen sechs Ländern noch als siebtes Land hinzutreten, das ratifiziert. ({0}) Zweitens. Was die Nuklearerklärung angeht, so ist diese von zahlreichen Ländern, darunter Italien, bei der Ratifizierung abgegeben worden. Wer die Entstehungsgeschichte der Protokolle verfolgt, weiß ganz genau, daß die Nukklearerklärung lediglich deklaratorischen Charakter hätte, weil sich die Protokolle ausdrücklich lediglich auf konventionelle Kriege beziehen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, natürlich.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Verheugen.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verzeihen Sie, Herr Kollege, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Haben Sie sich wirklich mit der Literatur zu diesem Thema beschäftigt? Dann hätten Sie diese Behauptung nicht aufstellen können. Es ist eindeutig erwiesen - ich frage Sie, ob Sie mir zustimmen können - , daß von Anfang an die Anwendung der Protokolle auf alle Waffenarten die Absicht der Vertragsstaaten gewesen ist.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Verheugen, es gibt hier offensichtlich auch bei dem Studium der Vorgeschichte unterschiedliche Auffassungen und unterschiedliche Meinungen. Aber Tatsache ist ja: Einige der NATO-Länder, die ratifiziert haben, haben eine derartige Nuklearerklärung abgegeben. Darauf ist hingewiesen worden. ({0}) - Wird mir das auf die Redezeit angerechnet?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ja. Ich bitte zu verstehen, daß man um diese abendliche Zeit nicht auch noch auf Verlängerung ausgehen kann. Das muß der Kollege in zehn Minuten unterbringen können.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Scheer, es tut mir leid. Dann muß ich jetzt weitersprechen. ({0}) Es ist ja doch so, daß für diesen Bereich die Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts in jedem Fall gelten. Es würde auch in den Nuklearerklärungen deutlich zum Ausdruck kommen, daß hier keinerlei Einschränkung erfolgt. Frau Kollegin, wenn die Welt so schön und so einfach wäre, wie Sie es sagen, mein Gott, wäre das eine herrliche Welt. Sie haben es ungefähr so dargestellt: Jetzt ratifizieren wir einmal diese Protokolle, und dann sind plötzlich alle Waffen weg. ({1}) Es geht doch nicht an, die Frage der nuklearen oder auch der konventionellen Abrüstung hier mit hineinzupacken. Es geht doch gar nicht darum, daß der Frieden hierdurch gesichert werden soll; das müssen wir durch unsere Abrüstungspolitik erreichen, und da sind wir doch auf einem guten Wege. Das erreicht man doch nicht dadurch, daß man Protokolle ratifiziert. ({2}) - Ich bin selbstverständlich für das Völkerrecht. Ich warne nur davor, der Illusion zu erliegen, daß man durch völkerrechtliche Verträge etwa das überflüssig machen könnte, woran wir arbeiten, ({3}) nämlich eine Abrüstungspolitik zu betreiben - wie diese Bundesregierung es tut - , die dazu führt, daß Kriege eben nicht mehr führbar werden. Solange es nicht möglich ist, auf die nukleare Abschreckung zu verzichten, weil wir sonst den Frieden gefährden würden, ({4}) sind solche Argumente außerordentlich bedenklich und irreführend. ({5}) Meine Damen und Herren, ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß die Argumentation, die gegen die Ratifizierung bisher vorgebracht wurde, mir nicht mehr hundertprozentig schlüssig erscheint, weshalb es nützlich ist, daß wir uns in den Ausschüssen damit eingehend beschäftigen. Gerade wenn es so ist, daß die Protokolle den Nuklearbereich nicht betreffen, dann vermag ich nicht einzusehen, wieso wir dann warten sollten, bis eine NATO-Nuklearmacht ratifiziert hat. Das will mir nicht einleuchten; vielleicht kann ich darauf eine Antwort bekommen. Ich möchte hier sagen, es wird Zeit, daß wir nach elf Jahren, die wir gewartet haben, obwohl immer erklärt wurde: Wir wollen ratifizieren, der Ratifizierung wirklich näherkommen. Ich wünsche mir, daß das in dieser Legislaturperiode erfolgt. Dieser Antrag ist ein guter Einstieg dafür. In den Ausschüssen wird man darüber reden, in welcher Form es zu geschehen hat. Vielen Dank. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf die Debattenbeiträge des Kollegen Irmer und des Kollegen Graf Huyn eingehen, weil diese Aussagen nach meiner Auffassung und auch nach Auffassung der SPD sachlich so nicht haltbar sind. Ich möchte mit dem letzten beginnen. Wir kennen die Debatte seit Jahren. Es ist unstreitig diskutiert worden - auch im Auswärtigen Ausschuß -, daß wir für den Fall der Abgabe einer Nuklearerklärung speziell in der Bundesrepublik vor dem Risiko stehen würden, daß eine Klage wegen Völkerrechts- bzw. Verfassungsrechtswidrigkeit Erfolg haben könnte. Will sich die Bundesrepublik Deutschland diesem Risiko aussetzen? Ich kann es mir kaum vorstellen. Gerade weil hier ein Problem steckt, haben ja so viele Staaten, und zwar insbesondere Nuklearstaaten oder auch verbündete Staaten in der NATO, gezögert und sind den Weg einer Nuklearerklärung gegangen. Dies aber ist kein Beleg dafür, daß dies von unserer Seite aus möglich wäre; denn wir haben die einzige Verfassung der Welt, die einen eindeutigen expliziten Völkerrechtsbezug hat. Art. 25 des Grundgesetzes besagt, daß bei uns die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu gelten haben. So stehen wir also vor der Alternative, diese Nuklearerklärung abzugeben - denn in diese Richtung zielte ja Ihr Argument, Herr Irmer; wenn es ohne Belang wäre, dann könnte man es ja machen, das ist doch Ihre These; dann hätte es die Bundesregierung ja seit Jahren machen können, aber sie wußte ja, warum sie gezögert hat, weil sie das Problem sieht - und sich diesem Risiko auszusetzen, das ich soeben beschrieben habe, oder überhaupt nicht zu ratifizieren. Was wäre das? Soll die Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht ratifizieren? Ich kann mir das nicht vorstellen. Immerhin, es dauert ja schon elf Jahre. Sie können doch, Herr Staatsminister Schäfer, die Probleme, die Sie mit der Einleitung der Ratifizierung haben, jetzt nicht zu lapidaren Problemen herunterspielen. Es gibt doch Gründe, warum die Entscheidung seit Jahren verschleppt wird. Die Gründe liegen exakt in dem von mir aufgezeigten Problem. Wenn man in Richtung einer Nuklearerklärung zielt - was jetzt offensichtlich diskutiert wird; das haben wir erstmals gehört; es war vorher nicht zu hören -, dann ist die dritte Alternative, weil die beiden anderen nicht gehen, die Ratifizierung ohne Nuklearvorbehalt. Das ist der von den Sozialdemokraten empfohlene Weg und der Weg, der letztlich auch von dem Zusatzprotokoll vorgezeichnet ist. Daran besteht überhaupt kein Zweifel, insbesondere angesichts der Grundgesetzlage und der eindeutigen Fixierung in Art. 25, was zum historischen Selbstverständnis des Grundgesetzes zählt. Das darf man nicht vergessen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Herr Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Scheer, wenn es so wäre, daß die Nuklearerklärung, falls sie denn abgegeben würde, für verfassungswidrig erklärt würde, dann hätten Sie doch wohl, was Sie wollten, nämlich eine Ratifizierung ohne Nuklearerklärung. Denn eine solche Verfassungswidrigkeitserklärung könnte sich doch nicht auf den Ratifizierungsvorgang insgesamt, sondern nur auf die Nuklearerklärung beziehen.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Entschuldigung, Herr Kollege Irmer, dieses ist parteipolitisch gedacht. Wir denken staatspolitisch. Uns geht es doch nicht darum, hier eine Falle zu stellen und zu sagen: Da könnten wir die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht schnappen. Uns geht es darum, zu gewährleisten, daß die Bundesrepublik Deutschland dieses Zusatzprotokoll mit der Mehrheit des Bundestages ratifiziert, und zwar ohne Nuklearvorbehalt. Das ist unser Ziel: ohne Nuklearerklärung. Jetzt möchte ich auf Graf Huyn eingehen: Was Sie eben ausgeführt haben, ist wesentlich gravierender. Es ist im Klartext die Absage an das Kriegsvölkerrecht. Wenn Sie eine Risiko-Wert-Abwägung vornehmen und sagen, daß die nukleare Abschreckung, weil sie im Sinne der Kriegsverhütung das bessere Mittel sei, das geringere Risiko darstelle, dann kommen Sie zwangsläufig zu einer Absage an das Kriegsvölkerrecht. Das Kriegsvölkerrecht greift erst in einem Zustand, den wir alle natürlich verhindern wollen und müssen. Aber für den Fall, daß dieser Zustand eintritt - er ist ja seit der Geltung des Kriegsvölkerrechts auch oft eingetreten - , soll es zumindest die Kriegsbevölkerung schützen. Deswegen wird zwischen Kombattantenstatus und Nicht-Kombattantenstatus unterschieden. Gerade diese Unterscheidung hat Millionen Menschen das Leben gerettet und auch die persönliche Integrität von Soldaten, die Kriegsgefangene wurden, geschützt. ({0}) - Entschuldigung, Sie stellen das Kriegsvölkerrecht in Frage, indem Sie das Prinzip „alles oder nichts" voranstellen. Das ist die Schlußfolgerung: alles oder nichts! ({1}) - Doch, das haben Sie letztlich getan. Wenn ich jetzt mehr Zeit hätte, könnte ich Ihnen das ausführlicher darlegen. Aber wir werden dazu Zeit in den Ausschüssen haben. Wir wollen die Überweisung in die Ausschüsse, aber nicht erst zu einem Zeitpunkt in der nächsten Legislaturperiode oder irgendwann einmal. Wir werden es nicht mehr zulassen, daß die Sache länger als vielleicht ein halbes Jahr - mit der entsprechenden Beratungszeit in den Sitzungswochen, die darin liegen - aufgeschoben wird. Ich darf einen abschließenden Satz sagen, Herr Präsident, weil es schon klingelt. Hier ist eine Bemerkung angebracht, die nicht an die Adresse irgendeiner Fraktion geht: Wir tagen zu einer sehr späten Zeit. Wir haben oft in den Zeitungen von einem leeren Plenum gelesen, wo vielleicht nur zwei, drei oder fünf Abgeordnete saßen. Wir haben es hier mit einem sehr schwierigen und wichtigen Thema zu tun. Daß bei diesem Thema nach meinem Überblick nur ein einziger Journalist anwesend ist, ist eine Sache, die auch nicht adäquat ist, diesem Thema nicht und anderen Themen auch nicht. Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl nur ein Journalist da ist, bemühe ich mich, in dieser sehr schwierigen Materie einen einigermaßen klaren Kopf zu behalten. Der Standpunkt der Bundesregierung zur Frage der Ratifizierung der Zusatzprotokolle ist von mir zum letztenmal am 13. Oktober dieses Jahres bei der Diskussion des Antrags des Petitionsausschusses im Bundestag dargelegt worden. Dieser Standpunkt gilt fort. Ich möchte unterstreichen, daß die Ratifizierung der Zusatzprotokolle Ziel der Bundesregierung ist. Es steht außer Frage, daß die Zusatzprotokolle ein Fortschritt im Bereich des humanitären Kriegsvölkerrechts sind - das ist von allen Seiten des Hauses betont worden -; sie enthalten eine Neubestätigung des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts und schaffen darüber hinaus eine Reihe bedeutsamer neuer Regelungen. Sie verbessern den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, insbesondere der Zivilbevölkerung. Während das 4. Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten nur Personen betrifft, die sich im Falle eines Konfliks oder einer Besetzung im Machtbereich einer fremden Partei oder einer fremden Besatzungsmacht befinden - das ist Art. 4 des 4. Genfer Abkommens -, erstreckt sich das erste Zusatzprotokoll ausdrücklich auf alle Zivilpersonen, insbesondere auch in der Kampfzone oder im Hinterland der Konfliktparteien. Die Bestimmungen des ersten Zusatzprotokolls sind übrigens nicht nur zugunsten der eigenen Zivilbevölkerung einzuhalten. Diese Erwägungen sind nur ein Beispiel für die Weiterentwicklung des Schutzes für die Zivilbevölkerung durch die Zusatzprotokolle. Vor dem Hintergrund der immer wiederkehrenden Konflikte in vielen Teilen der Welt gewinnen sie ihre immense humanitäre Bedeutung. Hier gibt es überhaupt keinen Unterschied in den Auffassungen der Fraktionen. Vor vier Wochen hat sich der Bundestag im Zusammenhang mit einer Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses - Herr Irmer hat darauf hingewiesen - mit der Frage der Ratifizierung der Zusatzprotokolle befaßt. Ich habe damals gesagt, daß die vom Plenum überwiesenen Vorschläge des Petitionsausschusses gründlich geprüft werden. Diese Prüfung ist im Gange. Sie erfolgt ressortübergreifend und umfaßt eine eingehende Untersuchung und Bewertung der Normenmaterie, der politischen Sachlage, der Haltung der Bündnispartner und der Staaten in anderen Lagern. Herr Verheugen, auf Ihre Fragen darf ich sagen, daß es uns gelungen ist, mit den wichtigsten Bündnispartnern inzwischen weitgehende materielle Übereinstimmung zu erzielen. Wir hoffen, daß die Arbeiten, die noch notwendig sind, demnächst zum Abschluß gebracht werden können. Ich darf in dem Zusammenhang sagen, daß wir nun einmal in einem Bündnis sind und nicht über das Bündnis hinaus Entscheidungen treffen können. ({0}) Die letzten trilateralen Konsultationen zwischen der Bundesrepublik, den USA und Großbritannien haben schon im vergangenen Jahr eine Übereinstimmung gebracht. Dazu ist zu sagen, daß gerade heute ein Brief der sogenannten trilateralen Gruppe herausgegangen ist, der sich an das Political Committee der NATO richtet. Es ist mit einer Befassung sowohl im Political Committee als auch im Military Committee der NATO jetzt zu rechnen. Meine Damen und Herren, ich will nicht auf alle Fragen eingehen, die Herr Verheugen hier gestellt hat, weil ich sehr froh darüber bin, daß wir angesichts der späten Stunde und der fehlenden Journalisten, Herr Kollege Scheer, und der fehlenden Aufmerksamkeit der noch anwesenden Abgeordneten uns besser im Ausschuß nochmals sehr intensiv mit dieser Materie befassen sollten. Aber ich muß Ihnen sagen: Es kann keinen Zeifel daran geben, daß wir die Absicht haben zu ratifizieren, allerdings mit einer Nuklearerklärung. Jetzt, Herr Kollege Scheer, muß ich Sie doch einmal ernsthaft fragen: Was soll eigentlich ein Weglassen der Nuklearerklärung, wenn Sie das weder im Bündnis noch mit der Sowjetunion erreichen können? Die Sowjetunion hat ihre Verhandlungsposition nicht geändert. Sie hat zwar keine Erklärung abgegeben, aber sie hat gesagt, sie legt die Zusatzprotokolle genauso aus wie wir. Auch sie gibt damit nicht ihre Strategie und ihre Vorstellungen auf. Lassen Sie mich bitte noch etwas sagen; hier muß nämlich folgendes zum erstenmal positiv herausgestellt werden. Während ich vor drei Wochen hier noch festgestellt habe, daß seitens der Staaten des Warschauer Pakts bislang nichts erfolgt sei, kann ich Ihnen heute sagen, daß nach unseren neuesten Informationen das interne Abstimmungs- und Zustimmungsverfahren in Ungarn abgeschlossen ist, daß es in Polen läuft und daß es in der Tschechoslowakei nach noch nicht bestätigten Meldungen ebenfalls abgeschlossen sein soll. Das ist ein Fortschritt. Das heißt, es gibt jetzt auch Bewegung im Osten. Wir haben ja immer gesagt: Was nutzt denn die Ratifizierung hier - Frau Kollegin, es kommt nicht auf einen Staat mehr oder weniger an -, wenn die gesamten Staaten des Warschauer Pakts bislang eine solche Politik nicht verfolgt haben? Wir sind sehr froh. Es hat ja gar keinen Sinn, solche Zusatzprotokolle zu verabschieden, wenn sie einen großen Teil der Welt von vornherein auslassen. Es ist nun einmal zwischen Theorie und Praxis und den Ergebnissen, die Sie damit erreichen wollen, ein Unterschied. Das muß Ihnen doch klar werden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer?

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Ja, Herr Kollege Scheer.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie zugeben, daß Sie soeben einen Satz, der doppeldeutig ist, ({0}) in eindeutiger Richtung interpretiert haben, nämlich den Satz, daß die Sowjetunion das Zusatzprotokoll so auslegt wie wir? Das klingt so, als würde sie ebenfalls auf einer Nuklearerklärung bestehen. Tatsächlich - würden Sie das zugeben? - ist es doch so, daß sie mit dem „so auslegen wie wir" meint: Wenn es bei uns mit einer Nuklearerklärung versehen ist, dann bei ihr auch; das heißt, wenn wir darauf verzichten, dann auch bei ihr nicht.

Not found (Gast)

Also, Herr Kollege, ich kann nur sagen, daß die Nuklearerklärung bei uns nicht zur Diskussion steht. Soweit ich weiß, hat die Bundesregierung und haben frühere Bundesregierungen keinerlei Zweifel daran gelassen, daß wir auch in Gemeinsamkeit mit unseren Bündnispartnern an dieser Erklärung festhalten müssen. Ich weise darauf hin, daß auch der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes neuerlich eine Interpretationserklärung - so haben wir es wenigstens verstanden Staatsminister Schäfer zum Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls I abgegeben hat, die sagt, es gelte nur für konventionelle Kampfführung. Aber ich will jetzt dieses Thema nicht vertiefen, weil ich glaube, wir sollten uns im Ausschuß noch einmal sehr gründlich unterhalten. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir sind der Meinung, daß eine Ratifizierung der Zusatzprotokolle durch die Bundesregierung erfolgen muß. Wir sind auch der Auffassung, daß nach den Vorstellungen des Petitionsausschusses, zu denen ich hier gesprochen habe, dem ganzen Verfahren eine zusätzliche Beschleunigung gegeben wird; auch innerhalb der Bundesregierung. Das kann ich Ihnen versichern. Insofern, meine ich, ist diese Debatte, Herr Verheugen, nicht eine Fortsetzung der Debatten von elf Jahren, ohne daß ein Ende dieser Dinge vorauszusehen ist, sondern sie sind auf einem guten Weg, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil wir gerade in letzter Zeit im Zusammenhang mit dem Petitionsausschuß die Fraktionen des Deutschen Bundestages so verstanden haben, daß die Bundesregierung in dieser Angelegenheit jetzt zu endgültigen Beschlüssen kommt. Vielen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/2118 und 11/3295 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen. Ich glaube, es ist Einverständnis darüber erreicht, daß die früher vorgesehene Überweisung an zwei weitere Ausschüsse entfallen soll. - Ich kann Einverständnis feststellen. Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 und den Tagesordnungszusatzpunkt 6 auf: 12. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP Humanitäre Hilfeleistungen der Bundesrepublik Deutschland an Afghanistan im Zusammenhang mit dem Abzug der sowjetischen Truppen - Drucksache 11/2437 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Das Genfer Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan vom 14. April 1988 und humanitäre Hilfeleistungen der Bundesrepublik Deutschland an Afghanistan - Drucksache 11/3272 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. Das muß zu einer frühen Tageszeit gewesen sein, als das vereinbart wurde. - Ich stelle Widerspruch fest. Und es ist trotzdem so beschlossen? ({2}) - Ich hoffe also auf Ihr Verständnis und gebe in der Aussprache Herrn Vogel ({3}) das Wort.

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tagesordnungspunkt gibt uns Gelegenheit, unsere Zufriedenheit darüber zu äußern, daß der deutsche Arzt Dr. Splieth und die Krankenschwester Frau Lea Hackstedt nach über vier Wochen Haft in Afghanistan freigelassen worden sind ({0}) und sich auf dem Rückweg in die Bundesrepublik Deutschland befinden. Das sollte uns auch Veranlassung sein, ein Wort des Dankes an alle diejenigen zu richten, die sich im In- und Ausland in den letzten Wochen um die Freilassung dieser beiden Menschen bemüht haben. Ich möchte in diesen Dank ausdrücklich den Geschäftsträger der Bundesrepublik Deutschland in Kabul einbeziehen. Wir haben hier einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP vorliegen. Das macht es mir möglich, meine Ausführungen knapp zu halten, Sie darauf hinzuweisen, daß dem Bundestag empfohlen wird, folgendes zu beschließen: Die Bundesregierung wird aufgefordert, 1. die Bemühungen der Vereinten Nationen um Repatriierung der mehr als 5 Millionen Flüchtlinge nach Kräften zu unterstützen in Abstimmung mit der EG und im Rahmen der politischen Zusammenarbeit mit den übrigen EG-Mitgliedstaaten; 2. durch großzügige humanitäre Hilfe im Zusammenhang mit dem sowjetischen Truppenabzug die akute Notlage der afghanischen Bevölkerung zu lindern und die schlimmsten Folgen des fast neun Jahre dauernden Kriegs, der über 1 Million Tote und Verletzte forderte, zu beheben. II. Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Zuge der innenpolitischen Normalisierung Afghanistans wirkungsvoll Entwicklungshilfe zu leisten, sobald die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Wir haben zusätzlich einen Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN vorliegen. Aus den Vorberatungen über den Antrag weiß ich, daß das, was in dem Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP steht, auch die Zustimmung der Fraktion DIE GRÜNEN findet, die Fraktion DIE GRÜNEN mit ihrem Antrag aber darüber hinausge7352 Vogel ({1}) hen möchte. Ich rege deshalb an, daß wir entgegen dem Vorschlag des Ältestenrates nicht überweisen, sondern den Antrag hier durch Abstimmung annehmen und den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, der darüber hinausgeht, entsprechend dem Vorschlag überweisen. Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Professor Holtz.

Prof. Dr. Uwe Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000948, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen uns dem Dank an, den Sie an diejenigen ausgesprochen haben, die sich für die Freilassung der Krankenschwester und des Arztes eingesetzt haben, schließen in den Dank auch die Bundesregierung ein. Ich möchte noch hinzufügen: Wir sollten insgesamt den Hilfsorganisationen von Cap Anamur bis Help, deren Vorsitzender hier sitzt, danken für die wertvolle Hilfe im humanitären Bereich in Afghanistan und für die afghanischen Flüchtlinge. Das ist eine wirklich sehr gute Arbeit. ({0}) Deshalb ist für mich auch nicht der Passus im Antrag der GRÜNEN akzeptabel, der davon spricht, daß die Hilfsleistungen zukünftig ausschließlich über die Vereinten Nationen zu leisten seien. Ich schätze die Vereinten Nationen sehr. Aber darüber, ob dieser Ausschließlichkeitscharakter sinnvoll ist, bitte ich doch noch einmal in den Ausschüssen zu diskutieren. Die erfolgreiche Vermittlung des UN-Generalsekretärs und der Abschluß des Genfer AfghanistanAbkommens vom April 1988 haben zu einem ersten wichtigen Schritt auf dem Wege zu einem befriedeten und souveränen Afghanistan geführt, zu einem befriedeten und souveränen Afghanistan, in dem die soziale Gerechtigkeit gefördert wird und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet ist, wie es in dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU, der SPD und der FDP zur humanitären Hilfe an Afghanistan heißt. Trotzdem erreichten uns auch nach dem April fast täglich Meldungen über fortgesetzte blutige Kampfhandlungen und Bombenanschläge. Weiterhin wurden und werden Waffen von mehreren Seiten, auch von der Sowjetunion, geliefert. Weiterhin starben und sterben Menschen. Deshalb ist es sicher richtig, daß in dem Antrag der anderen Oppositionsfraktion die Bundesregierung aufgefordert wird, an alle Staaten zu appellieren, auf jegliche Waffenlieferungen, die Entsendung von Militärberatern usw. zu verzichten. Schon seit dem Vertragsabschluß gab es gegenseitige Vorwürfe über Nichteinhaltung und Zuwiderhandlungen. Es scheint, daß sich die Sowjetunion mit der nun erfolgten Ankündigung, den Truppenabzug vorläufig auszusetzen, den Zeitplan bis zum 15. Februar 1989 allerdings einhalten zu wollen, im voraus Positionen sichern will. Die Verzögerung kann als Warnung verstanden werden: Wenn in Kabul keine für Moskau akzeptable Regierung eingesetzt wird, könnte man sich das Ganze noch einmal überlegen. US-Präsident Reagan reagierte mit Enttäuschung auf die Entscheidung der Sowjetunion. Gleichzeitig wies er jedoch darauf hin, daß es wichtig sei, daß die Sowjetunion erklärt habe, es handle sich nur um eine Verzögerung. Der neugewählte Präsident Bush drohte, falls die Sowjetunion - woran er allerdings nicht glaube - den Truppenabzug stoppen sollte, dann würde das die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion insgesamt komplizieren. - Meine Damen und Herren, wir sehen also, was auf dem Spiele steht. ({1}) - Nein, auch die Mudjahedin - das weiß jeder - sind bewaffnet. Die Russen sind bewaffnet. Es sind unterschiedliche Allianzen bewaffnet. Sie selbst sagen in Ihrem Antrag: Wenn das so weitergeht, können wir nicht auf ein befriedetes demokratisches, souveränes Afghanistan hoffen. ({2}) Deshalb ist doch wohl diese zweite Forderung doch vorhanden. Es geht um alle Beteiligten in dieser Region und in diesem Konflikt. ({3}) Diese Kämpfe sind eben auch Ausdruck der ungelösten Probleme, die im Genfer Vertrag nicht berücksichtigt worden sind, nämlich die fortgesetzten Waffenlieferungen an beide Seiten, die Tatsache, daß das von Moskau installierte Regime Najibullah nicht abgelöst wurde, und die Nichtbeteiligung des Widerstands an den Friedensverhandlungen. Insofern gehört in der Tat keine hellseherische Kraft zu der Prophezeiung, daß die Mudjahedin so lange weiterkämpfen werden, bis Najibullah abgetreten und die Vormachtstellung der kommunistischen Partei DVPA gebrochen ist. Vielleicht könnten die Vereinten Nationen, die bereits das erste Abkommen vermittelt hatten, bei der Lösung der noch offenstehenden Probleme erneut helfen. Mich wundert immer nur, wenn man selbst zu später Stunde auf dem einen Auge kräftig die Klappe drauf hält und dann noch meint, man würde die Dinge realistisch sehen. Ich bitte da um den vollen Blick, bei jedem von uns. ({4}) Basis einer dauerhaften Friedensregelung muß ein afghanischer Staat sein, der die Eigenheiten einzelner Ethnien, Religionsgemeinschaften und Parteien respektiert und in dem die Menschenrechte verwirklicht werden. Die Zeichen sprechen dafür, daß auch die Sowjetunion zunehmend erkennt, daß das derzeitige Regime auf Dauer nicht zu halten ist. Ihm ist es nie gelungen, eine echte Koalition der Versöhnung zustande zu bringen. Grundvorgabe für ein friedliches und freies Afghanistan ist und bleibt also die Fortsetzung des Abzugs der sowjetischen Truppen bis zum vollständigen Abzug. Zu einem dauerhaften Frieden in Afghanistan gehört vor allem auch die Bewältigung der schwerDr. Holtz wiegenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme des Landes. Denn die blutende Wunde Afghanistan ist zwar durch Genf verarztet worden. Sie ist jedoch noch lange nicht geheilt. Deshalb fordert der Antrag der drei Fraktionen - jetzt kann ich sagen: aller Fraktionen - eine „großzügige humanitäre Hilfe". Es ist zu begrüßen, daß die Bundesregierung - wie sie mir dies auf eine parlamentarische Frage geantwortet hat - die Sofortmaßnahmen des Afghanistan-Hilfsprogramms der Vereinten Nationen mit insgesamt 50 Millionen DM unterstützen wird. Dies kann aber nicht ausreichen. Afghanistan braucht darüber hinaus eine langfristig angelegte Hilfe für den Wiederaufbau, eine langfristig angelegte. Deshalb ist die Verbindung in Ihrem Antrag von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe so auch nicht richtig. Entwicklungshilfe ist langfristiger angelegt. Auch darauf kommt es an. Nach Abzug der sowjetischen Truppen und nach Einstellung der Kampfhandlungen sowie nach Schaffung der inneren Voraussetzungen wie der Bildung einer demokratischen Regierung sollte die Bundesregierung die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Afghanistan wieder aufnehmen. Der Drei-Fraktionen-Antrag fordert die Bundesregierung zu Recht auf, wirkungsvoll Entwicklungshilfe zu leisten. Aus alten Zusagen sind noch über 100 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeit vorhanden. Diese Mittel sollten dem Lande im Zuge der innenpolitischen Normalisierung zugute kommen. Dabei sollten besonders Projekte gefördert werden, die die zerstörte Infrastruktur wiederherstellen und der notleidenden Bevölkerung direkt und langfristig zugute kommen. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung - auch über die vorliegenden Anträge hinaus - einem friedlichen und demokratischen Afghanistan die Schulden erlassen. Die Zinsen und Tilgungen, die Afghanistan wegen früherer Kapitalhilfekredite an die Bundesrepublik zurückzahlt, braucht das geschundene Land dringend als Investition in die eigene Zukunft. Herr Präsident! In den fast neun Jahren Besetzung und Krieg haben wir unsere Solidarität mit dem afghanischen Volk hier mehrfach einmütig bekräftigt. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollen, daß diesen Worten Taten folgen. Wir wollen dabei mithelfen, daß Afghanistan nicht - wie manch andere Länder der Dritten Welt - an einem Krieg zugrunde geht. Danke schön. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinacker.

Sigrid Folz-Steinacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000567, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns in dieser Debatte erneut mit dem Thema Afghanistan befassen, dann verbindet sich damit zum erstenmal die berechtigte Hoffnung, der Lösung eines langandauernden Konflikts endlich nähergekommen zu sein. Die Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion dauert nunmehr seit über acht Jahren an. Sie stellte eine Verletzung des Völkerrechts, einen Verstoß gegen die Gewaltverzichtsforderung der UN-Charta und der Schlußakte von Helsinki dar. Das afghanische Volk hat sich mit Mut und einem großen Selbstbehauptungswillen gegen seine fremden Besatzer zur Wehr gesetzt. Es hat dafür ganz große Opfer bringen müssen. Die Zivilbevölkerung - alte Menschen, Frauen, Kinder - wurde von den Folgen dieses Krieges ganz besonders hart getroffen. Mehr als 1 Million Afghanen - meine Damen und Herren, 1 Million! - haben ihr Leben verloren oder physischen Schaden genommen. Über 5 Millionen haben ihr Heimatland verlassen müssen und Zuflucht in den Nachbarstaaten, vor allem in Pakistan, gefunden. Aber auch innerhalb Afghanistans selbst mußten sich Millionen einen neuen Wohnsitz suchen. Die Bereitschaft, der leidgeprüften afghanischen Bevölkerung in dieser Situation zu helfen, war auch in der Bundesrepublik Deutschland erfreulich groß. Ich begrüße an dieser Stelle den selbstlosen Einsatz nichtstaatlicher Hilfsorganisationen. Ich nenne hier stellvertretend für viele Organisationen die AfghanistanNothilfe e. V., die seit mehreren Jahren mit Spenden der deutschen Bevölkerung und zum Teil mit Zuschüssen der Bundesregierung einen ganz beachtlichen Beitrag zur humanitären Hilfe für das afghanische Volk geleistet hat. Auch die Bundesregierung hat im Rahmen ihres internationalen humanitären Engagements große Anstrengungen unternommen. Sie hat bisher zugunsten afghanischer Flüchtlinge und Konfliktopfer Bundesmittel in Höhe von rund 400 Millionen DM bereitgestellt. Eine Beendigung der sowjetischen Besetzung Afghanistans wurde wiederholt vom Deutschen Bundestag, von der Bundesregierung, von der Europäischen Gemeinschaft, vom Europäischen Parlament und von der überwältigenden Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gefordert. Die Unterzeichnung des Genfer Afghanistan-Abkommens vom 14. April dieses Jahres stellt einen großen Erfolg der umfangreichen Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft und vor allem des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Pérez de Cuéllar, dar. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt dieses Abkommen, das die Grundlagen für den sowjetischen Truppenabzug und eine politische Lösung des Afghanistan-Konflikts geschaffen hat. Meine Damen und Herren, 50 % der sowjetischen Besatzungstruppen haben inzwischen vereinbarungsgemäß das Land verlassen. Es gilt allerdings, die Vereinbarungen des Abkommens in allen Punkten zu erfüllen. Nur durch einen wirklich vollständigen Truppenabzug lassen sich Souveränität, politische Unabhängigkeit und echte Blockfreiheit Afghanistans wiederherstellen. ({0}) Die gestrige Ankündigung der sowjetischen Regierung, den Truppenabzug fortzusetzen und damit die getroffenen Vereinbarungen fristgerecht zu erfüllen, ist daher von uns allen ausdrücklich zu begrüßen. Als ein weiteres positives Zeichen kann die Nachricht über die Freilassung der zwei in Kabul inhaftierten Mediziner vom „Komitee Cap Anamur - Deutsche Notärzte" vermerkt werden. Hier haben die nachhaltigen Bemühungen von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der Bundesregierung und die Appelle von Bundespräsident von Weizsäcker sowie von Mitgliedern des deutschen Bundestages zum Erfolg geführt. Meine Damen und Herren, mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan geht eine Politik zu Ende, die dem afghanischen Volk schwere Opfer und Leiden abverlangt hat und für die die Sowjetunion selbst einen ganz hohen Preis zahlen mußte. ({1}) - Das wissen wir auch. Wir sind uns bewußt, daß die inzwischen erreichten Fortschritte auch das Ergebnis eines positiv veränderten weltpolitischen Klimas und insbesondere einer konstruktiven Entwicklung der Ost-West-Beziehungen sind. Sie schaffen die Voraussetzungen für einen politischen Neubeginn, und diese Möglichkeit sollte von uns allen Beteiligten genutzt werden. Insbesondere die afghanischen Konfliktparteien sind nunmehr aufgefordert, im Dialog miteinander die nationale Aussöhnung herbeizuführen. Wenn das passiert, haben wir es geschafft. Nur so können die Grundlagen für ein befriedetes Afghanistan geschaffen werden. Die internationale Staatengemeinschaft ist gewillt, die Bemühungen um die Rückkehr und Wiedereingliederung der afghanischen Flüchtlinge zu unterstützen sowie umfangreiche Hilfe beim Wiederaufbau ihres Landes zu leisten. Dies stellt eine große Herausforderung für die internationale Gemeinschaft dar. Ich begrüße, daß auf den Hilfsappell des Generalsekretärs der Vereinten Nationen bereits eine Reihe von Geberländern finanzielle Beiträge für ein Soforthilfeprogramm, dem sich ein dreijähriges Reha- und Wiederaufbauprogramm anschließen soll, angekündigt haben. An dieser Stelle verweise ich auf die Erklärung der Bundesregierung und der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, mit humanitärer Hilfe zur Rückführung und Wiedereingliederung der Millionen Flüchtlinge beizutragen und, wenn die inneren Voraussetzungen in Afghanistan dafür gegeben sind, Wiederaufbauhilfe zu leisten. Es ist immer wieder deutlich geworden, daß es in Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Völker hinsichtlich der Notwendigkeit einer weltweiten Verwirklichung der Menschenrechte und der moralischen Verpflichtung zur Leistung humanitärer Hilfe eine große Übereinstimmung zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestages gibt. Dies macht nicht zuletzt auch der dem Hohen Haus vorliegende gemeinsame Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP deutlich. - Die GRÜNEN haben sich jetzt angeschlossen. - Ich bekräftige die darin enthaltenen Forderungen. Die unbedingte Achtung des Völkerrechts muß Grundlage der internationalen Beziehungen bleiben. Auf diese Achtung gründet sich eine Politik, die statt auf Drohung und Gewalt auf Verhandlungen und Vereinbarungen setzt. Lassen Sie uns gemeinsam für eine solche Politik der Zukunftsverantwortung arbeiten, in der Partnerschaft, Zusammenarbeit und Solidarität wesentliche Eckpfeiler sind! Danke. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.

Ellen Olms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001648, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben lange um das Zustandekommen eines interfraktionellen Antrags über die humanitären Hilfeleistungen der Bundesrepublik an Afghanistan gerungen. Dabei stellte sich jedoch heraus, daß die unterschiedlichen Auffassungen über die Bewertung und Interpretation des Genfer Abkommens so groß waren, daß die Fraktion der GRÜNEN Ihrem gemeinsamen Antrag nicht zustimmen konnte. Die wichtigsten Vertragsinhalte des Genfer Abkommens über Afghanistan bestehen aus drei Elementen - ich führe das noch einmal kurz aus, um auch zu begründen, warum wir nicht zustimmen konnten - : Erstens aus der wechselseitigen Verpflichtung zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans und Pakistans, was das Verbot einer Unterstützung bewaffneter Gruppen oder Aufständischer ausdrücklich mit einschließt, zweitens der wechselseitigen Verpflichtung, eine Repatriierung der afghanischen Flüchtlinge in ihre Heimat nach Kräften zu unterstützen, und schließlich - drittens - der Verpflichtung der Sowjetunion, ihre Truppen bis zum 15. Februar des nächsten Jahres vollständig aus Afghanistan abzuziehen. Das Genfer Abkommen ist kein Friedensvertrag, sondern der Versuch, den afghanischen Bürgerkrieg auf seine innerafghanische Dimension zurückzuführen, also den Konflikt zu regionalisieren. Die übrigen Fraktionen dieses Hauses sprechen in ihrem Antrag den USA und Pakistan ihren ausdrücklichen Dank für ihre Friedensbemühungen aus. Wir können das nicht unterschreiben. Der verstorbene pakistanische Diktator Zia ulHuq erklärte bereits eine Woche vor Unterzeichnung des Genfer Abkommens, die Mudjahedin auch weiterhin unterstützen zu wollen, und der amerikanische Außenminister Shultz erklärte anläßlich der Ratifizierung des Abkommens, daß es - ich zitiere ihn hier - im Einklang mit unseren Verpflichtungen als Garantiemacht unser Recht ist, dem Widerstand militärische Hilfe zukommen zu lassen. Es ist wohl ziemlich einmalig in der Geschichte internationaler Abkommen, daß die getroffenen Abmachungen im gleichen Atemzug öffentlich widerrufen wurden. Meine Damen und Herren, wir erleben aktuell eine gewisse Eskalation des Bürgerkrieges in Afghanistan. Die Sowjetunion hat den Abzug ihrer Truppen unterbrochen, hat weitere Waffen geliefert und nimmt verstärkt an den Kampfhandlungen gegen die aufständischen Mudjahedin teil. Infolge der nach wie vor anhaltenden Waffenlieferungen seitens der USA und der militärischen Einmischung Pakistans droht die Sowjetunion den Bruch des Genfer Abkommens an. ({0}) - Ich habe gesagt, daß sie weiter Waffen liefern. Wenn Sie aufmerksam zugehört hätten, hätten Sie das gemerkt. Die Mudjahedin, ausgerüstet mit modernen amerikanischen Waffen und massiv aus Pakistan unterstützt, torpedieren den Abzug der sowjetischen Truppen und greifen die afghanischen Städte mit Raketen an. Die symmetrische, wechselseitige Aufrüstung hält unvermindert an. ({1}) Der dringend notwendige Friedensprozeß in Afghanistan wird jedoch nicht nur durch die wechselseitige Nichtbeachtung des Prinzips der Nichteinmischung behindert. Der Appell an die afghanischen Widerstandskämpfer in der Siebenerallianz, in freier Selbstbestimmung ihren solidarischen Beitrag zum Wiederaufbau und zur Versöhnung im eigenen Land zu leisten, wie es in Ihrem Antrag heißt, ist reine Augenwischerei. ({2}) Teile der Siebenerallianz, insbesondere der islamischfundamentalistische Flügel um Hekmatyar, haben - das haben wir gestern nachmittag auch wieder gehört - wiederholt eine friedliche Lösung des AfghanistanKonflikts abgelehnt und setzen einzig und allein auf den militärischen Sieg. Diese Teile des Widerstands wollen Blutvergießen und Rache, und dies mit massiver Unterstützung aus den USA und aus Pakistan. Unter diesen gegenwärtigen Umständen ist ein Ende des afghanischen Bürgerkrieges nicht in Sicht. Meine Damen und Herren, selbstverständlich entbindet uns das nicht von unserer Verpflichtung, alles zu tun, um der durch den Bürgerkrieg leidenden Zivilbevölkerung jede nur erdenkliche humanitäre Hilfe zuteil werden zu lassen. Die Bundesrepublik sollte sich in angemessener Weise am zustande gekommenen UNO-Hilfsprogramm beteiligen. Nur, was nützt diese humanitäre Hilfe, wenn sie gleichzeitig durch die fortgesetzten Waffenlieferungen und die Eskalation der militärischen Auseinandersetzung wieder zunichte gemacht wird? Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich insbesondere für die strikte Respektierung des völkerrechtlichen Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzusetzen. Nicht humanitäre Hilfe plus Militärhilfe löst die Konflikte, sondern humanitäre Hilfe minus militärische Einmischung. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Kollege Höffkes.

Peter Wilhelm Höffkes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000916, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir lesen in diesen Tagen in der Presse Überschriften wie „Anhaltende Kämpfe in Afghanistan" oder „Sowjets verlegen Einheiten nach Osten und Süden". Westliche Diplomaten in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad berichten, daß sich die Kämpfe im Osten und Süden Afghanistans offenbar verstärkt haben und eine Verlegung sowjetischer Einheiten aus der Hauptstadt Kabul in diese Landesteile nach sich gezogen haben. Beide Seiten melden Verluste an Toten und Verwundeten. Der Krieg in Afghanistan ist also nicht zu Ende, sondern wird erbittert fortgesetzt, und dies, obwohl der Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan als Folge des am 14. April 1988 in Genf von den USA und der UdSSR sowie von Afghanistan und Pakistan unterzeichneten Abkommens den Krieg beenden sollte. Nach Auffassung der Vereinten Nationen erhält die Sowjetunion den Genfer Afghanistan-Vertrag auch nach der Ankündigung aufrecht, obwohl vorläufig der Abzug von Truppen ausgesetzt ist. UNO-Sprecher Giuliani sagte in New York, eine Verzögerung des Abzuges stelle keinen Bruch des Abkommens dar, das den Rückzug der verbleibenden sowjetischen Soldaten aus Afghanistan bis zum 15. Februar vorsieht. Die UdSSR hatte betont, daß sie sich ungeachtet der Unterbrechung an diese Zeitplanung halten wolle. Nach den erst gestern, am 9. November 1988, im Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe anläßlich einer Anhörung von Widerstandskämpfern, von Mudjahedin, bekundeten Darlegungen soll der Kampf des Widerstandes gegen die Truppen der UdSSR kompromißlos fortgesetzt werden, bis alle russischen Soldaten das Land verlassen haben. Dies, meine Damen und Herren, ist die aktuelle Situation. Wenn die Widerstandskämpfer in der sogenannten Allianz gleichzeitig betonen, daß eine Rückkehr der rund 5 Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat nicht möglich sei, solange die Kämpfe anhalten und in Afghanistan infolge Zerstörung der Bewässerungsanlagen zahlreicher Dörfer und Verminung eines großen Teils der Wege und der landwirtschaftlich genutzten Flächen keine Existenzmöglichkeit gegeben ist, so muß uns dies vielleicht zu einem neuen Nachdenken über die gegebene Situation zwingen. Selbstverständlich befürworte ich den Antrag nunmehr aller Fraktionen und bitte um Ihre Zustimmung dazu, möchte aber gleichzeitig sagen, daß wir eine Zwischenlösung suchen müssen, da der Antrag in überschaubarer Zeit leider nicht verwirklicht werden kann, was wir sicher alle bedauern. Die Widerstandskämpfer haben gestern auf die Frage, wie und ab wann der Bevölkerung Afghanistans geholfen werden kann, geantwortet: Wenn der Friede wieder hergestellt ist; dies heiße, wenn die Russen das Land verlassen hätten, eine neue Verfassung erarbeitet und eine demokratische Regierung gebildet sei. Meine Damen und Herren, wann dies der Fall ist, kann, glaube ich, heute niemand verläßlich vorhersagen. Ich meine aber, wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Flüchtlingen sinnvoll beistehen können, die zum Teil seit neun Jahren in Lagern leben. Viele - ich weiß dies aus persönlicher Anschauung - sind in Flüchtlingslagern geboren worden. Es mangelt an Bildung und Ausbildung. Wir können nicht erwarten, daß Jugendliche, die in jungen Jahren ins Lager kamen oder dort erst geboren wurden, ohne Ausbildung später am Wiederaufbau ihrer Heimat mitwirken kön7356 nen. Wir sollten in der „Wartezeit" nach Zwischenlösungen suchen. Auf der Ebene humanitärer Hilfe sollten wir mit angemessenen Mitteln und unter Einschaltung der Europäischen Gemeinschaft und der sonstigen Gebergemeinschaft der freien Staaten Bildungs- und Ausbildungsprogramme für Kinder, Jugendliche und Frauen - zum großen Teil handelt es sich hier um Kriegswaisen und Kriegswitwen - ins Leben rufen und anbieten. ({0}) Dies gilt insbesondere für die in Pakistan befindlichen gut drei Millionen Flüchtlinge. Auch die medizinische Versorgung muß weiter sichergestellt bleiben. Ich möchte abschließend den Dank an die Bundesregierung aussprechen, daß sie den Vereinten Nationen für die Operation Salam, also die Operation Frieden, für den Wiederaufbau Afghanistans bisher 27 Millionen Dollar, das sind rund 50 Millionen DM, zugesagt hat. Zugleich möchte ich für die bisherigen Leistungen im Rahmen der humanitären Hilfe Dank sagen sowohl der Bundesregierung als insbesondere den NGO, den Nichtregierungsorganisationen. In den Ausschußberatungen, die auf Grund des weiteren Antrages der GRÜNEN-Fraktion notwendig sind, hoffe ich auf volle Unterstützung aller Parteien dieses Hauses für die eben von mir vorgeschlagene breite Soforthilfe für die Flüchtlinge in Lagern. Ich bedanke mich. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Schäfer. ({0})

Not found (Gast)

Entschuldigen Sie, Frau Abgeordnete, das dürfen Sie doch mir überlassen. ({0}) - Es geht nicht um die Bedeutung, es geht um die Tatsache, daß hier noch ein paar Zahlen genannt werden sollen. Sie müssen mir nicht sagen: nur kurz, wenn vorher die Fraktionen zwei Sprecher hierherschicken. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst meine Freude und Genugtuung für die Bundesregierung zum Ausdruck bringen, daß die Freilassung unserer Landsleute - Frau Hackstedt und Dr. Splieth - inzwischen erfolgt ist. Ich darf in dem Zusammenhang darauf hinweisen, daß wir von Anfang an der afghanischen Regierung klargemacht haben, daß es sich hierbei um Leute handelt, die aus humanitärer Solidarität nach Afghanistan gegangen sind, um Menschen zu helfen. Es war daher ein Akt selbstverständlicher Humanität, alles zu versuchen, damit die beiden Deutschen freigelassen wurden. Ich danke auch im Namen der Bundesregierung all denen, die dabei wirksam geholfen haben, und darf hier noch einmal herausstellen, daß wir es zu schätzen wissen, daß auch die Machthaber in Kabul bereit waren, auf die dringenden Appelle des Herrn Bundespräsidenten und der Bundesregierung die Freilassung der beiden Deutschen zu verfügen, wie ich das noch vor kurzem in einer Fragestunde als „bald" angekündigt habe. Man freut sich ja auch, wenn einer Ankündigung in einer Fragestunde sehr bald die Realität folgt. Zum vorliegenden Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der FDP kann ich Ihnen für die Bundesregierung versichern, daß wir diese Initiative begrüßen und voll mittragen werden. Es geht zur Zeit vor allem um humanitäre Soforthilfe. Die Bundesregierung ist mit den Antragstellern der Meinung, daß Entwicklungshilfe, d. h. eine wirksame Hilfe zum Wiederaufbau des zerstörten Afghanistan, erst im Zuge der innenpolitischen Normalisierung - so wie es im II. Teil des Antrages formuliert ist - spruchreif wird. Da wir über humanitäre Hilfe sprechen, ist dies der Ort, an alle Beteiligten jetzt zu appellieren: Laßt endlich Frieden in Afghanistan einkehren! Laßt in diesen letzten Monaten vor dem Abzug der sowjetischen Truppen nicht noch mehr Menschen sterben! Stellt Bombardierung und Raketenbeschuß auf schutzlose Zivilbevölkerung ein! Schafft die Voraussetzungen, daß 5 Millionen Flüchtlinge endlich in ihre Heimat zurückkehren können! Das gilt für alle Parteien in diesem Konflikt. Die Bundesregierung geht davon aus, daß der Abzug der sowjetischen Truppen, wie in den Genfer Abmachungen vereinbart und trotz der gegenwärtigen Suspendierung, Mitte Februar abgeschlossen sein wird. Die gesamte Staatengemeinschaft hat die Genfer Abkommen, die einen ersten Schritt in Richtung Frieden darstellen, mit Erleichterung und Hoffnung aufgenommen. Sie sollen und müssen von allen am Konflikt Beteiligten eingehalten werden. Es geht also darum, daß wir alle dazu beitragen, bei allen Beteiligten den Geist der Mäßigung zu fördern, daß der Frieden den Krieg ablöst und daß eine handlungsfähige repräsentative Regierung von solchen Personen gebildet wird, die Afghanistan auf den Weg des Wiederaufbaus führen können. Die Bundesregierung hat sich von Anfang an wiederholt bereit erklärt, zu der Hilfe beizutragen, die notwendig ist, um den Menschen die Rückkehr in gesicherte Verhältnisse in ihrer angestammten Heimat zu erleichtern. Sie setzt damit ihre Hilfe fort, die sie seit Jahren für die Flüchtlinge in den Lagern in Pakistan bereitgestellt hat. Die Bundesregierung begrüßt, daß der Generalsekretär der Vereinten Nationen die Initiative für ein international abgestimmtes Hilfsprogramm ergriffen hat. Die Aufgaben, die sich dem afghanischen Volk, den Hilfsorganisationen und den Geberländern stellen, übersteigen nach neun Jahren Krieg und Verwüstung - Herr Kollege Holtz, Sie haben das sehr plastisch ausgeführt - alle vergleichbaren Hilfsaktionen der jüngsten Vergangenheit. Die Bundesregierung hat mit besonderer Genugtuung zur Kenntnis genommen, daß mit Prinz Sadruddin Aga Khan ein Koordinator bestellt wurde, der aufStaatsminister Schäfer grund seiner früheren Erfahrung als Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge und kraft seiner Persönlichkeit Garant für eine zielorientiert, unpolitische und koordinierte Durchführung der Hilfsmaßnahmen ist. Bundesaußenminister Genscher hat Prinz Sadruddin nach Bonn eingeladen, er wird am 30. dieses Monats hier erwartet. Die Bundesregierung mißt der Koordinierung der vielfältigen Hilfsmaßnahmen größte Bedeutung bei. Sie wird den Koordinator bei der Erfüllung seines Mandats nach Kräften unterstützen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat am 10. Juli dieses Jahres einen Hilfeaufruf in Höhe von rund 2 Milliarden DM für eine 18monatige Soforthilfephase vorgelegt. Dieser Aufruf geht von einem integrierten Programm aus, das von bewährten, spezialisierten Organisationen getragen wird; dies sind insbesondere der UN-Flüchtlingskommissar, das Welternährungsprogramm, die Weltgesundheitsorganisation und UNICEF. Zusammenarbeit und Koordinierung mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen außerhalb der UN-Systeme ist ausdrücklich erwünscht und empfohlen. Am 12. Oktober dieses Jahres hat in New York eine Geberkonferenz stattgefunden. Sie hat insgesamt Beitragszusagen von etwa 1,2 Milliarden DM erbracht. Es ist zu hoffen, daß der Gesamtbedarf für die Soforthilfephase von 2 Milliarden DM noch gedeckt werden kann. Die Bundesregierung hat während des Gebertreffens einen Betrag von 50 Millionen DM für 1988 und 1989 angekündigt; wir gehören damit zu den größten Gebern. Auch wenn wir davon ausgehen, daß eine bedeutende Rückkehrbewegung erst im späten Frühjahr des nächsten Jahres einsetzen dürfte, sind schon jetzt erhebliche finanzielle Anstrengungen für vorbereitende Maßnahmen erforderlich, um für den Tag X gerüstet zu sein. Die Gefährdung der Menschen durch unzählige Minen, die beseitigt werden müssen, die Dringlichkeit flächendeckender Impfprogramme für Frauen und Kinder sowie die Notwendigkeit, ausreichend logistische Mittel bereitzustellen, erfordern Maßnahmen, die keinen Aufschub dulden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bindig?

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Entschuldigen Sie bitte, Sie selbst bitten mich aufzuhören. Ich kann nicht gleichzeitig noch eine Frage beantworten. Daher werden bereits in den nächsten Tagen - in den nächsten Tagen schon! - , 10 Millionen DM an die Programme des UN-Koordinators UNHCR, UNICEF und Internationales Rotes Kreuz gegeben. 1989 sollen vorbehaltlich der Verabschiedung des Bundeshaushaltes 30 Millionen DM Soforthilfe in bar und 10 Millionen DM als Nahrungsmittelhilfe geleistet werden. Die Bundesregierung schließt damit an ihre umfangreichen Hilfsmaßnahmen zugunsten afghanischer Flüchtlinge in Pakistan, im Iran und in den letzten Jahren auch in Afghanistan an, für die seit 1979 rund 400 Millionen DM aufgebracht wurden. Vielen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich schließe die Aussprache. Es ist vorgeschlagen worden, über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/2437 sofort abzustimmen und den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3272 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Es gibt keinen Widerspruch dazu. Dann kann ich also zur Abstimmung kommen. Wer für den Antrag der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/2437 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Zustimmung aller Fraktionen und einer Gegenstimme aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Antrag angenommen. Sind Sie mit der Überweisung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3272 einverstanden? - Ich stelle das fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 13 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1988 ({0}) - Drucksache 11/2742 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 11/3293 - Berichterstatter: Abgeordnete Regenspurger Lutz Richter b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gem. § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/3297 Berichterstatter: Abgeordnete Deres Kühbacher Frau Seiler-Albring ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Herr Regenspurger ist der erste Redner.

Otto Regenspurger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Dienst- und Versorgungsbezüge an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden. Die linearen Verbesserungen folgen den Ergebnissen eines Tarifabschlusses für den öffentlichen Dienst aus dem Frühjahr dieses Jahres. Damit wird zunächst grundsätzlich ein Auseinanderdriften der Bezahlungssysteme innerhalb des öffentlichen Dienstes verhindert. Trotz der weitgehenden Übernahme des Tarifergebnisses bekennen wir uns zur Eigenständigkeit der Beamtenbesoldung und haben das durch verschiedene ergänzende und systemkonforme strukturelle Vorschläge zu dem Gesetzesvorhaben deutlich gemacht. Leider waren uns auch in diesem Jahr durch wirtschaftliche und finanzielle Vorgaben Grenzen gesetzt. Die vorhandenen Spielräume jedoch haben wir ausgenutzt. Das gilt im Hinblick auf die überproportionalen Anhebungen der Mehrarbeitsvergütungssätze und der Erschwerniszulagen, aber insbesondere auch im Hinblick auf Maßnahmen zur strukturellen Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts. Die Entscheidung darüber, welche Vorhaben jetzt und welche Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt umgesetzt werden müssen und sollen, haben wir uns nicht leichtgemacht. Alle Überlegungen waren davon geprägt, Qualität, Funktionsfähigkeit sowie Attraktivität des öffentlichen Dienstes zu wahren und zu fördern. Im Vordergrund standen angesichts des Konkurrenzkampfes um verfügbare Arbeitskräfte Maßnahmen zur Gewinnung von geeignetem Personal. Gerade die Absenkungsregelungen hatten zu Personalengpässen in weiten Bereichen des öffentlichen Dienstes geführt, so daß die Rücknahme der Absenkung der Eingangsbesoldung im gehobenen und höheren Dienst nach § 19 a des Bundesbesoldungsgesetzes unerläßlich erschien. Angesichts des finanziellen Umfangs dieser Maßnahme war es erforderlich, die Einschränkungen nicht in einem Zug, sondern stufenweise zurückzunehmen. Bereits zum 1. Januar 1989 werden Beamte der Besoldungsgruppen A 9 und A 10, ab 1. Januar 1990 alle Beamten des gehobenen und höheren Dienstes wieder die ungekürzte Eingangsbesoldung erhalten. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß bei der Rücknahme der Sparmaßnahme einzelne Gruppen, wie z. B. Lehrer des gehobenen Dienstes, nicht ausgeklammert wurden. Eine derartige Maßnahme hätte - dies hat der bayerische Initiativantrag im Bundesrat deutlich aufgezeigt - neue Unrechtstatbestände geschaffen, das Besoldungsrecht zersplittert und erneut zu einem Mehrklassensystem im öffentlichen Dienst geführt. Neben der Wiederherstellung der früheren Eingangsbesoldung war es geboten, weitere Maßnahmen für den Nachwuchs des öffentlichen Dienstes vorzusehen. Die außerordentlichen Schwierigkeiten, jüngere Mitarbeiter im gehobenen technischen Dienst, im gehobenen Flugverkehrskontrolldienst, aber auch im höheren auswärtigen Dienst zu gewinnen, machen Anwärtersonderzuschläge dringend notwendig. Ebenso überfällig war eine verbesserte Einstufung der unteren Besoldungsgruppen. Nachdem Leistungs- und Funktionsanforderungen im gesamten einfachen Dienst beträchtlich gestiegen sind, ist es mehr als konsequent, das Spitzenamt A 5 plus Zulage auf den gesamten einfachen Dienst auszudehnen und verschiedene Laufbahnen des mittleren Dienstes im Eingangsamt in der Besoldungsgruppe A 6 beginnen zu lassen. Ein Prüfauftrag stellt sicher, daß auch andere vergleichbare Laufbahnen zeitversetzt berücksichtigt werden können. Die Ergänzungsempfehlungen berücksichtigen auch einen Wunsch des Bundesrates nach weiterer Schließung von Versorgungslücken. Der neue § 14 b des Beamtenversorgungsgesetzes bzw. § 26b des Soldatenversorgungsgesetzes hebt den Ruhegehaltssatz vorübergehend in den Fällen an, in denen ein Beamter oder Soldat auf Grund besonderer gesetzlicher Altersgrenzen vorzeitig in den Ruhestand getreten ist und bis zum Beginn des Ruhestandes die Wartezeit von 180 Kalendermonaten für eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt, keine Arbeitseinkünfte bezieht, den Ruhegehaltssatz von 70 v. H. noch nicht erreicht und das 60. Lebensjahr vollendet hat. Ich möchte nicht weiter auf die vielen zusätzlichen sachgerechten Ergänzungen eingehen. Die Fülle der Vorschläge zu dem Gesetzentwurf, die heute noch nicht abgedeckt werden konnten, macht jedoch deutlich, daß noch ein weiter Weg vor uns liegt, um endlich wieder zu ausgewogenen Dienstrechtsstrukturen zu gelangen. Weitere Anregungen erwarten wir demnächst aus den Erörterungen des aufschlußreichen Berichts der Bundesregierung zur strukturellen Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts. Nur andeutungsweise können die anstehenden Problem- und Prüffelder umschrieben werden. Diese sind u. a.: Neubewertung von Ämtern unter Berücksichtigung von Funktionsveränderungen, Fortentwicklung und Harmonisierung des Zulagensystems innerhalb des öffentlichen Dienstes nach einheitlichen Grundsätzen, Schaffung weiterer Anreize zur Personal- und Nachwuchsgewinnung im öffentlichen Dienst. Im einzelnen gehören hierzu auch die besoldungsrechtliche Verzahnung aller Laufbahnen einschließlich Korrekturen in der Besoldungsordnung B, Abbau von Benachteiligungen zwischen den Statusgruppen im öffentlichen Dienst, Anpassung der Anwärterbezüge und neue Gestaltungsformen der Arbeitszeit und Beurlaubung. Wir sind uns darüber im klaren, daß ein besonderes Augenmerk der Situation der Empfänger beamtenrechtlicher Versorgungsbezüge gelten muß. Diese leisten seit Jahren ihren Solidarbeitrag und erwarten endlich Antworten auf drängende Fragen. Dabei dürfen Regelungen über Mindestversorgung und Versorgungsabschläge bei Teilzeitbeschäftigung und Beurlaubung für uns ebenso kein Tabu sein wie eine Beteiligung der Versorgungsempfänger an strukturellen und quasi-strukturellen Verbesserungen des Aktivbereichs. Nicht zuletzt muß auch eine abschließende Entscheidung zu § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes schon deshalb getroffen werden, weil sich die KoaliRegenspurger tionsfraktionen in ihrer Vereinbarung vom Frühjahr 1987 hierauf verbindlich festgelegt haben. Meine Damen und Herren, uns ist bewußt, daß wir auch in Zukunft anstehende Probleme des öffentlichen Dienstrechts nur schrittweise im Einklang mit der Haushaltslage und den Fortschritten in der wirtschaftlichen Entwicklung lösen können. Wenn es auch zur Zeit nur gelingt, einige punktuelle und gruppenbezogene Korrekturen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten, werden wir uns aber auch weiterhin um eine langfristig ausgelegte Gesamtperspektive bemühen. Ich darf in diesem Zusammenhang, wenn ich die Gesamtperspektive anspreche, auch einmal einen Dank an die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes aussprechen, die in der Öffentlichkeit eigentlich immer als Prügelknaben herangezogen werden, wobei derjenige, der den öffentlichen Dienst prügelt, noch des Beifalls aller sicher ist. Ich danke allen Mitarbeitern im öffentlichen Dienst für ihre Arbeit zum Wohle der Bürger. Ich möchte mit diesem Dank aber auch ein Dankeschön an die Mitberichterstatter aussprechen. Bei den Beratungen dieses Gesetzes hat es eine sehr, sehr gute Atmosphäre gegeben. Es sollte in einem Parlament auch einmal wieder ausgesprochen werden, daß nicht nur aufeinander eingehauen, sondern vernünftig miteinander beraten wird. ({0}) Meine Damen und Herren, wenn ich von der Gesamtperspektive gesprochen habe, so ist der hier heute beratene Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich bitte deshalb, dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war nicht Streit im Ausschuß, der meine Stimme heiser macht, sondern eine einfache Erkältung. Spötter könnten nun sagen, der Bundestag stimme nicht ohne Grund zu nächtlicher Stunde über die Beamtenbesoldung ab, etwa weil er bei diesem Gesetz vielleicht das Tageslicht fürchten müsse. Aber dem ist nicht so. Wenn uns eine Furcht beseelte, dann die, daß wir die Schlußberatung im Bundesrat in diesem Jahr verpassen könnten. ({0}) Was wir heute beschließen, ist ein Gesetz, gültig für drei Jahre, orientiert an den maßvollen Tarifabschlüssen des öffentlichen Dienstes Anfang 1988. Für die SPD möchte ich erklären: Wir tragen dieses Gesetz mit. Wir haben der Versuchung widerstanden, durch demonstrative Anträge, von denen man von vornherein hätte annehmen können, daß sie abgelehnt würden, uns bei einigen Verbänden des öffentlichen Dienstes besonders lieb Kind machen zu wollen. Wir akzeptieren auch, daß die Regierung bemüht war, in den Besoldungs- und Versorgungsfragen, die zur Entscheidung anstehen, ein größtmögliches Einvernehmen mit den Ländern herzustellen, denn die finanziellen Auswirkungen auf Länder und Kommunen können auch wir nicht ignorieren. Auch wir wissen, daß Besoldungs- und Versorgungsfragen zum Dauerclinch zwischen Innen- und Finanzminister und all den anderen beteiligten Ressorts führen; wäre es anders, es wäre nicht normal. Nicht normal war dann allerdings, wie das Kabinett Kohl mit dem Parlamentsauftrag, einen Bericht über die Probleme der Besoldungsstruktur vorzulegen, umgegangen ist. Da gingen Monate, da gingen Jahre ins Land, und erst als selbst den Sanftmütigsten in der Koalition die Sache auf die Nerven ging, wurde entschieden. ({1}) - Selbst Ihnen, Herr Hirsch; bestätige ich gerne. - Zwangsläufige Folge: Die notwendige umfassende Reform im strukturellen Bereich muß diesmal unterbleiben. Nur einige Probleme konnten herausgegriffen werden: Frage des Erschwerniszuschlags, Einkommenseinbußen beim Aufstieg in die nächsthöhere Laufbahngruppe wurden vermieden; die Übernahme eines Arbeitnehmers in ein Beamtenverhältnis wird im einfachen und mittleren Dienst nicht mehr zu einem Absinken des Nettoeinkommens führen; die Schaffung eines neuen Spitzenamtes A 5 mit Amtszulage für den einfachen Dienst; für beamtete Meister, staatlich geprüfte Techniker und Lokomotivführer ist ein lang gefordertes Ziel - daß das Eingangsamt künftig A 6 ist - erreicht. Der Bundesgrenzschutz wurde in der Frage des Freizeitausgleichs mit den Länderpolizeien gleichgestellt; die Absenkung der Eingangsbesoldung - davon ist gesprochen worden - einschließlich der Lehrer wird aufgehoben, wenn auch bei den Lehrern zeitversetzt. Schließlich wurden auch Versorgungsprobleme, die immer dann entstanden, wenn ein Polizeibeamter mit Rentenanwartschaften und vergleichsweise geringen Versorgungsansprüchen vorzeitig in den Ruhestand trat, beseitigt. Keiner von uns will behaupten, damit seien alle relevanten Strukturfragen aufgegriffen und gelöst. Im Gegenteil, ich behaupte, jede Verbesserung, die wir heute beschließen, wird Rufe nach Gleichbehandlung, neue Rufe nach Gleichbehandlung auslösen und hat sie schon ausgelöst; bei der Post beispielsweise, bei der Steuerfahndung, beim Wasserzoll, bei Beamtengruppen im B-Bereich. Das heißt, wir werden ernstlich an ein Überdenken der gesamten Besoldungsstruktur herangehen müssen. Wir sollten dies bei den Beratungen des nun endlich vorliegenden Strukturberichts tun. Wir Sozialdemokraten werden darauf drängen, daß diese Beratungen auf die jahrelange Zeitperspektive geschoben werden. Spätestens dann wird das Parlament auch zu prüfen haben, ob und welche Ungereimtheiten im Versorgungsbereich des § 55 zu korrigieren wären. Heute verständigen wir uns notgedrungen auf eine lineare Erhöhung der Besoldung. Man könnte sich auch eine gestaffelte Lösung vorstellen, um Mittel für beschäftigungswirksame Maßnahmen freizubekommen. Auch das wäre eine wichtige Strukturfrage. Die7360 ses Haus sollte sich diesem Problem einmal gemeinsam stellen. Wer mit diesem Anspruch allerdings auftritt, muß höllisch aufpassen, daß er selber glaubwürdig bleibt. Die öffentlichen Arbeitgeber sind es in der diesjährigen Tarif- und Besoldungsrunde nicht gewesen. Die maßvollen Abschlüsse im Tarifbereich waren an die Erwartung geknüpft worden, die öffentlichen Arbeitgeber würden die dadurch freiwerdenden Mittel beschäftigungswirksam einsetzen. Die Tinte unter den Verträgen war noch nicht trokken, ({2}) da erklärten einige der Unterhändler auf Arbeitgeberseite, sie dächten nicht im Traum daran, beschäftigungspolitische Konsequenzen zu ziehen. Die Arbeitszeitverkürzungen im öffentlichen Dienst, ebenfalls an die Erwartung der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen gebunden, lösten einen länderinternen Wettbewerb aus, wer sich wohl am pfiffigsten um eine beschäftigungspolitische Wirkung herummogeln würde. ({3}) - Oh ja, da sind wir alle Sünder, auf allen Seiten des Hauses. Das kann man ja alles tun. Nur, vor einer solchen Strategie kann nicht laut genug gewarnt werden. Wer mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes so umspringt, darf sich nicht wundern, wenn die unvermeidlich wieder ins Haus stehenden Tarifrunden in sehr viel schärferer Tonart ablaufen. Wer gegen die Grundsätze von Treu und Glauben im Tarifpoker und vor allem danach verstößt, handelt schlicht und ergreifend töricht. ({4}) - Gnädige Frau, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe acht Jahre Tarifverhandlungen mit geführt. Da hat man immer nur einmal versucht, den Partner zu löffeln. Das nächste Mal ging es nicht mehr. Wer also das einmal versucht, verbaut sich ein Stück Zukunft. Das gilt übrigens auch für den Bund. Nach eigenen Berechnungen spart der Bund in dieser Tarif- und Besoldungsrunde rund 500 Millionen DM. Gibt er sie für neue Stellen aus? Mitnichten, er macht seinen Deal und kommt sich dabei wahrscheinlich auch noch sehr klug vor. Eine solche Politik ist nicht redlich. Dazu - zu dieser Frage - würden Sie unsere Zustimmung nie erhalten. Ich meine, auch das ganze Haus sollte da nicht mitspielen. Ich bedanke mich. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, eine Rede auf einem Gebiet halten zu können, das nicht nur außerordentlich kompliziert ist, sondern bei dem wir erfreulicherweise mit dem Innenminister vollkommen übereinstimmen, weil in diesem Bereich in der Tat alle innenpolitischen Interessen völlig synchron laufen, im Interesse der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, dem wir viel verdanken, den wir in seiner Struktur erhalten wollen. Herr Regenspurger hat das alles im einzelnen dargestellt, auch die vielfältigen Inhalte dieses Gesetzes bis hin zu dem Dank an die Mitarbeiter, den Sie mir vorweggenommen haben, den man mit Fug und Recht bei einer solchen Gelegenheit natürlich aussprechen sollte. ({0}) Ich finde, Herr Kollege Lutz, daß Ihre Bemerkung von der Unredlichkeit eigentlich bei dieser Materie nicht angemessen ist; denn ein Teil dessen, was wir hier machen, ist ja die Reparatur von Entscheidungen, die wird einmal gemeinsam im Zweiten Haushaltsstrukturgesetz in der früheren Koalition getroffen haben. Ich habe immer gesagt: damals mit Zustimmung der Länder, selbstverständlich. Aber daß die damals notwendigen Entscheidungen nicht auf einen Schlag, sondern in Anbetracht des Volumens nur schrittweise rückgängig gemacht werden können und wir nicht alle Probleme auf einen Schlag lösen können, ist selbstverständlich. Wir haben an den Wirkungen etwas bemerkt, was damals die Finanz- und Haushaltspolitiker vielleicht nicht so gesehen haben, nämlich daß wir in der Tat nicht daran vorbei können, strukturell den öffentlichen Dienst der allgemeinen Einkommensentwicklung folgen zu lassen, weil sonst die Qualität unserer Mitarbeiter, die Möglichkeit, gute Mitarbeiter auf Dauer zu gewinnen, drastisch sinkt. Das kann auch dem Staat nicht gleichgültig sein. Darum können wir in der Tat die Überlegung, etwa die Stellen einfach zu vermehren, weil nun ein bestimmter Betrag bei Tarifverhandlungen erspart worden ist, nicht als eine vernünftige Politik betrachten. Wir haben mit dem Strukturbericht noch viel zu tun. Er ist - das kann ich Ihnen sagen - von den Obleuten im Innenausschuß terminiert worden. Wir werden da keine Zeit anbrennen lassen. Auch wir hätten ihn gerne früher gehabt; aber auf der anderen Seite war es notwendig, durch Verhandlungen mit dem Finanzminister, der in diesem Fall der „steinerne Gast" ist, zu erreichen, daß der Inhalt des Strukturberichtes so ausgestaltet ist, daß wir ihn mit freundlichen Aspekten betrachten können. Zu dem, was hier an Einzelregelungen genannt worden ist, möchte ich noch hervorheben, daß mich insbesondere als ,,Nordrhein-Westfälinger" freut, daß wir das Schicksal der „Weyerlinge" sehr schnell in vernünftiger Weise haben lösen können, daß wir im Interesse dieser bewährten Mitarbeiter dieses Loch, wo sie fürchten mußten, in die Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe zu fallen, vermieden haben. Man kann auch sagen, daß wir die Laufbahnprobleme der Mitarbeiter der Fraktionen haben lösen können - ein notwendiger Schritt - und daß wir uns bei den B-Gruppen der äußersten Zurückhaltung befleißigt haben. Wir haben da die Erfahrungen wie ein Gärtner gemacht: Wenn man einen Stein anhebt, um ein Problem zu lösen, dann wimmelt es plötzlich darunter. Man merkt, wenn man ein Problem aufhebt, daß man sich plötzlich hundert neue einhandelt. Hier gemeinsam die Entscheidung zu treffen, nur bei dem Generalbundesanwalt und bei dem Datenschutzbeauftragten etwas zu tun, war weise und in Anbetracht der gesamten Verhältnisse notwendig. Letzte Bemerkung zum § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes: Wir alle wissen, daß sich der öffentliche Dienst tendenziell den Wirkungen der demographischen Entwicklung nicht entziehen kann, daß wir hier vor schwierigen Entscheidungen stehen. Das ist allen Beteiligten bekannt. Aber um so wichtiger ist es, daß wir gerade im § 55 einen Schritt weiterkommen und hier auch den Mitarbeitern, die sich zu einem Teil überhaupt nicht auf die Veränderungen, die wir ihnen rückwirkend zugemutet haben, in ihrer Lebensplanung einstellen konnten, allmählich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das ist ein Thema, bei dem wir sicherlich gemeinsam etwas tun. Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Das ist einstimmig angenommen worden. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die gibt es nicht. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. November, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.