Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/27/1988

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich eines bedeutenden Ereignisses zu gedenken. Der Abgeordnete Rudi Walther hat am 22. Oktober 1988 seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf ihm die besten Wünsche des Hauses übermitteln. ({0}) Weiter darf ich bekanntgeben, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die verbundene Tagesordnung erweitert werden soll. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. 1. Aktuelle Stunde: Jüngste öffentliche Äußerungen über die deutschen Aussiedler ({1}) 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Gesundheitsreform - Drucksache 11/3138 3. Aktuelle Stunde: Hochtemperaturreaktor-Geschäft mit der Sowjetunion 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Brauer, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN:Maßnahmen gegen Luftverschmutzung und Gesundheitsgefährdung durch photochemischen Smog - Drucksache 11/2872 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Bachmaier, Blunck, Conrad, Conradi, Fischer ({2}), Dr. Hauff, Jansen, Kiehm, Koltzsch, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Müller ({3}), Reimann, Reuter, Schäfer ({4}), Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl ({5}), Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Abgasentgiftung der Kraftfahrzeuge - Drucksache 11/2009 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/220/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Abgase von Kraftfahrzeugmotoren ({7}) - KOM ({8}) 261 endg. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Emission gasförmiger Schadstoffe aus Dieselmotoren zum Antrieb von Fahrzeugen - KOM ({9}) 273 engd -- Rats-Dok. Nr. 7969/86 -- Drucksachen 11/883 Nr. 135, 11/1103 - 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss ({10}), Frau Rock und der Fraktion DIE GRÜNEN: Vorschläge der Koalitionsarbeitsgruppe Bahn zur Sanierung der Deutschen Bundesbahn - Drucksache 11/3162 - Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, Tagesordnungspunkt 17 im vereinfachten Verfahren ohne Aussprache zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Punkte 3 und 17 der Tagesordnung auf: 3. Überweisung im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 11. April 1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf sowie zur Änderung des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 19. Mai 1956 über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr ({11}) - Drucksache 11/3076 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der EG-Richtlinie zur Koordinierung des Rechts der Handelsvertreter - Drucksache 11/3077 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({12}) Ausschuß für Wirtschaft c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Präsident Dr. Jenninger der Unternehmen der Luftfahrt und der Seeschiffahrt - Drucksache 11/3091 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß ({13}) Ausschuß für Verkehr d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Flüchtlings- und Asylkonzeption - Drucksache 11/3055 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({14}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung gemeinschaftlicher Wohnungsunternehmen ({15}) - Drucksache 11/2199 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({16}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß 17. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften - Drucksache 11/2218 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({17}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO ({18}) - Herr Kollege, lassen Sie mich zunächst einmal den jetzt begonnenen Aufruf der Tagesordnungspunkte fortsetzen. Dann können Sie sich ordnungsgemäß zur Geschäftsordnung melden. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage zu Tagesordnungspunkt 3 d soll zusätzlich zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem Herrn Abgeordneten Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich halte einen Geschäftsordnungsbeitrag nach § 20 Abs. 2 unserer - wahrscheinlich verfassungswidrigen, aber dennoch gültigen - Geschäftsordnung, wonach jedes Mitglied - jedes; das muß bei Abfassung der Geschäftsordnung ein Fehler gewesen sein - einen Antrag auf Änderung der Tagesordnung vor Eintritt in die jeweilige Tagesordnung stellen kann, wenn es diesen Änderungsantrag bis 18 Uhr des Vortages beim Präsidenten eingereicht hat. Das habe ich getan und stelle hiermit den Antrag: Der Abgeordnete Thomas Wüppesahl ({0}) erhält einen mit einer Schreibmöglichkeit und einem Telefonanschluß ausgestatteten Sitzplatz innerhalb der ersten zwei Bankreihen des Plenums des Deutschen Bundestages zugewiesen. ({1}) Das ist einer der Anträge, die ich in Karlsruhe gestellt habe. Nachdem wir von dem Berichterstatter des Zweiten Senats, Herrn Mahrenholz, signalisiert bekommen haben, daß mir nicht der Präsident des Deutschen Bundestages einen Platz zuweisen kann, sondern das Plenum darüber befinden muß, habe ich diesen Antrag an Herrn Jenninger gerichtet mit der Bitte, ihn auf die Tagesordnung zu setzen. Dem ist nicht nachgekommen worden mit dem Hinweis darauf, daß ich mich bislang als „fraktionslos" und „fraktionsbefreit" bezeichnet habe. ({2}) Außerdem argumentiert der Präsident - ich zitiere - : Die Formulierung „unabhängig" stellt in diesem Zusammenhang eine Herabsetzung der anderen Mitglieder des Bundestages dar. Sie wollen mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen, daß die anderen Mitglieder des Bundestages entgegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes nicht unabhängig sind. Dazu ist folgendes zu bemerken: Gerade auf Grund der ungeheuren Interpretationsbreite, der Vielfalt und des Reichtums der deutschen Sprache ist es natürlich immer möglich, einem Redner oder einem Schreiber bösartig eine mißliebige Interpretation zu unterstellen. ({3}) - Davon gehe ich im Grundsatz aus. Ob es in diesem Fall geschehen ist, werden wir am Ende vielleicht jeder für sich selbst erkennen können. Gerade weil die deutsche Sprache so vielfältig ist, würde die Möglichkeit, eine Interpretation gegen einen Redner oder Schreiber bösartig auslegen zu dürfen, mit sich bringen, daß er ständig irgendwelchen Repressionen unterliegt - bis hin zu strafrechtlichen Sanktionen. Deswegen - und das ist in der Sprachwissenschaft unbestritten - ist natürlich die Interpretation - wenn es, wie in diesem Fall, mehrere gibt -, die der Redner und Schreiber aufstellt, die gültige, und zwar die allein gültige. Und zu dem Begriff „unabhängig" möchte ich Ihnen nur zwei Lexika-Stellen zitieren. Da heißt es, bezogen auf die völkerrechtliche Unabhängigkeit, einmal: Ist die absolute rechtliche Unabhängigkeit eine contradictio in adiecto, so bedeutet die Souveränität noch weniger eine faktische Möglichkeit der absoluten Unabhängigkeit. Und genau das, meine Damen und Herren, nehme ich für mich in Anspruch, wenngleich keine faktische Unabhängigkeit. Und ich könnte - ich denke, das ist zitabel - aus dem Evangelischen Staatslexikon weiter zitieren: Andernfalls wären nur noch ({4}) - bezogen auf die staatliche Unabhängigkeit - die Atommächte souverän. ({5}) Also, ich glaube, es ist deutlich geworden, daß allein mit dieser Interpretation die Möglichkeit bestehen muß, eine solche Formulierung für mich in Anspruch zu nehmen. Ein letztes Zitat aus dem Brockhaus/Wahrig: „Eine unabhängige Zeitung ist eine Zeitung, die an keine Partei gebunden ist." - Dieses Beispiel trifft auf mich ja nun wirklich par excellence zu. ({6}) Meine Damen und Herren, das Problem ist, daß durch die Interpretation unseres Bundestagspräsidenten - der damit praktisch stellvertretend für den gesamten Bundestag spricht - Ihnen dieser Schuh angezogen worden ist: daß Sie, wenn ich eine solche Formulierung benutze, alle abhängig sind. Das ist das eigentlich Gravierende daran, meine Damen und Herren. ({7}) Dadurch kommt zum Ausdruck, daß Sie tatsächlich abhängig sind. ({8}) Und es stimmt ja auch: Bei den GRÜNEN herrscht ein imperatives Mandat, das teilweise auf perfide Art und Weise ausgeübt wird, ({9}) z. B. gegen meine Person. Und bei Ihnen kennen wir eine andere Spielart eines imperativen Mandats, nämlich z. B. den Fraktionszwang und das Abgeben des Gewissens bei bestimmten Entscheidungen und anderes mehr. ({10}) Ich kann mich in der Tat hier hinstellen und sagen: Ich bin in diesem Sinne unabhängig. ({11})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Im übrigen muß ich den Vorwurf eines Fraktionszwangs in diesem Hause zurückweisen. ({0}) Bitte, kommen Sie zum Schluß!

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich mache meinen Schlußsatz. - Von daher halte ich es wirklich für ungeheuerlich, wenn man mir jetzt auch noch vorschreiben will, wie ich mich zu bezeichnen habe: ob als fraktionslos, fraktionsbefreit oder unabhängig. Wenn Herr Vogel sagen möchte „Ich, Vogel ({0}), unabhängig", dann machen Sie das doch! ({1}) Ich sage: Thomas Wüppesahl, MdB, unabhängig. Meine Damen und Herren, ich bitte darum, daß dieser an Herrn Jenninger gerichtete Antrag auf die Tagesordnung kommt ({2}) - habe ich doch vorhin vorgelesen, Herr Jahn, da haben Sie nicht zugehört - , daß mir ein Sitzplatz in den ersten zwei Reihen zugewiesen werden möge, ({3}) und zwar entweder heute morgen oder morgen vormittag, ({4}) damit wir sachgerecht darüber diskutieren können. Denn mit solchen Tricks kann man nicht irgendwelche Prozeßgrundlagen wegzudrücken versuchen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß dies eine wesentliche Voraussetzung ist, damit Karlsruhe auch über diese Frage entscheiden kann. ({5}) Sie können versuchen, sich darüber lustig zu machen, wie Sie wollen.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, bitte, kommen Sie zum Schluß. Die fünf Minuten sind abgelaufen.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Aber das ist der sachliche und in diesem Fall auch juristische Hintergrund für diese Antragstellung. Ich bitte um Zustimmung.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Meine Damen und Herren, Herr Kollege Wüppesahl, wie immer Sie sich auch bezeichnen wollen: Auch für Sie ist die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages maßgebend. ({0}) Sie haben zwar in der Tat einen Antrag gestellt. ({1}) Sie haben aber keinen Antrag zur Geschäftsordnung, zur Abänderung der Tagesordnung des Bundestages gestellt, auf den Sie hingewiesen haben. ({2}) Der Antrag, den Sie gestellt haben, wird im Ältestenrat erörtert und - wie alle anderen Initiativen auch - zu gegebener Zeit auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt. ({3}) Es gibt noch viele andere Sachanträge, die aus zeitlichen Gründen auch noch nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden sind. Im übrigen wird Ihr Anliegen selbst im Ältestenrat erörtert. Wird denn zur Geschäftsordnung noch weiter das Wort gewünscht? ({4}) - Das ist nicht der Fall. Ich rufe dann den Tagesordnungspunkt 4 auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1988 - Drucksache 11/2032 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({5}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Odendahl, Dr. Penner, Dr. Böhme ({6}), Kastning, Kuhlwein, Dr. Niehuis, Rixe, Weisskirchen ({7}), Andres, Bernrath, Gerster ({8}), Dr. Pick, Schanz, Seidenthal, Bulmahn, Ibrügger, Westphal, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten - Drucksache 11/2728 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({9}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß c) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung - Drucksache 11/2739 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({10}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Konzeption für die Förderung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungsstätten - Drucksache 11/2824 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({11}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hillerich, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNEN Kooperation der Lernorte in der über- und außerbetrieblichen Berufsbildung beim Lernen mit neuen Technologien - Drucksache 11/3075 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({12}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung und Technologie Zum Berufsbildungsbericht liegt mit Drucksache 11/3177 ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausbildungsplatzbilanz zum 30. September dieses Jahres bestätigt erneut den Erfolg unserer Berufsbildungspolitik. Wir können davon ausgehen, daß in diesem Jahr knapp 600 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden. Fast 62 000 Ausbildungsplätze waren am Stichtag noch unbesetzt. Die Zahl der noch unvermittelten Bewerber lag unter 25 000. Das bedeutet, daß der bundesweite Angebotsüberschuß von 1,6 % im vergangenen Jahr auf nunmehr knapp 6 % angewachsen ist. Das ist die beste Bilanz seit 12 Jahren, dem Beginn der Berichterstattung durch die Bundesregierung. ({0}) Die Zahlen sprechen für sich. Ich bedauere deshalb, daß die Stellungnahme des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung zum Beruf sbildungsbericht 1988 durch ein wenig überzeugendes Minderheitenvotum relativiert wird. Ich denke, daß auf diesen Vorgang die Bemerkung der Kollegin Odendahl zutrifft, die am 15. April dieses Jahres an dieser Stelle gesagt hat, daß wir aufhören sollten, die alten Strickmuster weiterzustricken, weil die Berufsbildungspolitik neue Perspektiven brauche. Dem kann ich nur zustimmen. ({1}) Das sehr gute Ergebnis dieses Ausbildungsjahres ist auch ein Erfolg der engagierten Berufsbildungspolitik der Bundesregierung und einer Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, die die gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten spürbar verbessert hat und die jetzt auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt Wirkung zeigt. Die anhaltend hohe Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft ist ein deutliches Zeichen einer optimistischen Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung und des mittelfristigen Fachkräftebedarfs. Die Ausbildungsplatzkampagne muß jetzt mit den Zielen eines regionalen Ausgleichs von Angebot und Nachfrage sowie der Chancengleichheit zwischen den Bewerbergruppen der Jungen und Mädchen, der Ausländer und Deutschen, der leistungsschwächeren und leistungsstärkeren Jugendlichen fortgesetzt werden. Dazu gehört auch, daß Beratung und Information über die Chancen in den Produktions- und Handwerksberufen weiter verbessert werden, damit nicht auf der einen Seite Jugendliche ohne Ausbildung und auf der anderen Seite attraktive Ausbildungsplätze ohne Lehrlinge bleiben. ({2}) Ferner müssen die Möglichkeiten zur Differenzierung und Individualisierung genutzt werden, die das Berufsbildungsgesetz eröffnet. Längere Ausbildungszeiten, intensivere Betreuung und stärkere Nutzung der ausbildungsbegleitenden Hilfen für die schwächeren Jugendlichen, kürzere Ausbildungszeiten und attraktive Zusatzqualifikationen für die leistungsfähigeren sind hier die Stichworte. Es müssen Lösungen für Jugendliche gefunden werden, die trotz aller Hilfen an den theoretischen Anforderungen einer herkömmlichen Berufsausbildung scheitern. Die Frage nach stärker praxisorientierten Ausbildungsgängen unterhalb des Facharbeiterniveaus darf nicht länger tabuisiert werden. Aber mit der gleichen Dringlichkeit stellt sich die Aufgabe, besonders leistungsfähige und begabte Jugendliche stärker als bisher zu fördern. Begabte junge Menschen müssen neue Möglichkeiten für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten erhalten. Wir können es uns nicht leisten, gerade die Kreativität der jungen Nachwuchskräfte ungenutzt zu lassen. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß es in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Fördermaßnahmen für begabte Schüler und Studenten gibt. Ich denke hier besonders an die Schülerwettbewerbe und die Begabtenförderungswerke. Aber es gibt keine im Volumen und in der Bedeutung entsprechenden Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung. Ich sehe hier eine vordringliche Aufgabe, der wir uns jetzt stellen müssen. Eine andere Entwicklung, meine Damen und Herren, die zum Nachdenken zwingt, ist die Altersstruktur der Auszubildenden. Heute sind zwei Drittel aller Lehrlinge 18 Jahre alt und älter. ({3}) - Ja, bereits am Anfang. Mit Blick auf den Binnenmarkt 1992 und die wesentlich früher ins Berufsleben tretenden jungen Menschen aus unseren Nachbarländern ist dies ein Anlaß, alles zu vermeiden, was zur weiteren Verlängerung der Bildungszeiten in Schule und Berufsbildung führen kann. Die Länge der Ausbildungszeiten darf nicht zum Kriterium für die Ausbildungsqualität werden. Vielmehr wird es in Zukunft darauf ankommen, das Verhältnis von Erstausbildung zur Weiterbildung neu zu überdenken und bestimmte Ausbildungsinhalte der Weiterbildung zuzuweisen. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die qualitative Weiterentwicklung des dualen Systems ist der Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Dies gilt besonders für die Ausbildungsleistungen der Klein- und Mittelbetriebe. Sie stellen den Kernbereich unseres Systems der dualen Berufsausbildung. In ihnen werden drei Viertel des Berufsnachwuchses ausgebildet, und ihnen gilt auch an dieser Stelle erneut der Dank der Bundesregierung für die Bereitschaft, über den Bedarf hinaus auszubilden und damit den Angehörigen der starken Jahrgänge eine Berufsperspektive zu geben. ({4}) Diese Betriebe, meine Damen und Herren, sind auf die überbetrieblichen ergänzenden Ausbildungsangebote zunehmend angewiesen, um ein Qualitätsgefälle gegenüber den Großbetrieben auch in Zukunft zu vermeiden und die neuen Techniken in vollem Umfang in die Ausbildung einbeziehen zu können. Die Bundesregierung mißt diesen Ausbildungsangeboten eine besondere Rolle zu und hat auf meinen Vorschlag hin beschlossen, in den nächsten vier Jahren 300 Millionen DM für den Ausbau und die Modernisierung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten zur Verfügung zu stellen. Der Haushaltsausschuß ist diesem Vorschlag mit der Bereitstellung von 100 Millionen DM für 1989 gefolgt. Dafür danke ich den Kollegen. Auch die SPD-Fraktion hat mit ihrem am 2. August 1988 im Deutschen Bundestag eingebrachten Antrag deutlich gemacht, daß sie eine weitere Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten für notwendig hält. Ich begrüße das ausdrücklich. Aber ich möchte vor falschen Akzenten warnen. Für mich steht z. B. ein Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten über das Ausbauziel von 77 100 Plätzen hinaus ebensowenig zur Debatte wie die Finanzierung der laufenden Betriebskosten auf Dauer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Engagement für die überbetrieblichen Ausbildungsstätten, das wir hier im Hause ja gemeinsam haben: Wir können nicht darüber hinwegsehen, daß die Kapazitätsfragen sich angesichts der jetzt sinkenden Jahrgangszahlen ganz erheblich anders darstellen. Wir haben im Ausschuß sogar vorgetragen bekommen, daß es in bestimmten Regionen den Kammern bereits Schwierigkeiten mache, diese Stätten voll auszulasten. Das ist eine problematische Entwicklung. Wir müssen hier sehr genau sehen, daß wir alle Ressourcen - die privaten wie die staatlichen - optimal nutzen und jetzt nicht aus lauter gutem Willen Geld an der falschen Stelle ausgeben.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Natürlich.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr, Herr Kollege Penner.

Dr. Willfried Penner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, wenn wir von Zahlen reden, müssen wir natürlich auch berücksichtigen, daß die Universitäten jetzt schon damit gerechnet hatten, daß sie leerer werden. Sind Sie bereit zu akzeptieren, daß sich diese Erwartungen nicht erfüllt haben und sich demzufolge auch Erwartungen im Bereich der beruflichen Ausbildung möglicherweise ins Gegenteil von dem verkehren können, was Sie angenommen haben?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Daß wir hier schon des öfteren erlebt haben, daß Prognosen und Annahmen hinterher nicht der Realität entsprachen, kann ja kein Mensch leugnen. Aber die von Ihnen angesprochene Tendenz, Herr Kollege Dr. Penner, könnte ja meine Annahme eher noch stützen. Es scheint so zu sein, daß im Gegensatz zu der Entwicklung vor vier Jahren, als plötzlich ein höherer Anteil von Abiturienten zunächst in eine Berufsausbildung ging, jetzt doch wieder mehr Abiturienten unmittelbar nach dem Abitur ins Studium gehen. Das wird dann den Ausbildungsstellenmarkt entlasten. Ich will gar nicht leugnen, daß das möglicherweise die vorhin am Eingang von mir genannten Zahlen auch in dieser Richtung beeinflußt hat. Es ist ja nicht so, daß die positive Entwicklung allein das Verdienst dieser engagierten Bundesregierung wäre. Wir haben auch demographische Trends, die uns unterstützen. Das weiß jeder. Es hat aber keinen Sinn, davon auszugehen, daß die Wahrscheinlichkeit in die Richtung tendiere, man brauche mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze. Wir müssen sie effektiver nutzen. Der von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachte Antrag vom 7. Oktober 1988 zur Kooperation der Lernorte in der über- und außerbetrieblichen Berufsbildung beim Lernen mit neuen Technologien beschränkt sich im wesentlichen auf die Einführung eines Regionalfonds. Sie greift damit auf Vorstellungen zurück, die bereits in der letzten Legislaturperiode von der Mehrheit des Hauses zurückgewiesen wurden. Im übrigen ließe sich die dort angesprochene Finanzierung von Berufsschulen durch den Bund schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht durchführen. Das ist Ihnen bekannt. Dafür sind nun einmal ausschließlich die Länder zuständig. Worauf es vielmehr ankommt, ist, die finanziellen Hilfen auf solche Felder einzugrenzen, auf denen die Klein- und Mittelbetriebe allein nicht in der Lage sind, den vorgesehenen Ausbaustand zu erreichen und eine optimale Nutzung modern gehaltener Berufsbildungsstätten sicherzustellen. Im einzelnen sind dies die Finanzierung der 77 100 Ausbildungsplätze. Hierfür müssen noch rund 2 000 Plätze gebaut werden. Die entsprechenden Projekte sind von mir mittlerweile genehmigt worden. Darüber hinausgehende Förderanträge auf Neu- oder Erweiterungsbauten müssen abgelehnt werden. Als nächstes ist die Modernisierung überbetrieblicher Ausbildungsstätten - das ist eher noch wichtiger - zu nennen, insbesondere die Ausstattung mit modernen Maschinen und Geräten, solchen z. B., die nicht jeder Handwerksbetrieb zur Ausbildung selber anschaffen kann, ferner die Anlaufunterstützung für neue überbetriebliche Ausbildungsstätten im Jahr der Eröffnung und den folgenden vier Jahren durch Zuschüsse zu den Betriebskosten. Bei der Finanzierung der bereits laufenden Programme werden die bisherigen Förderbedingungen bis zu 65 % der investiven Kosten aufrechterhalten. Für das neue Modernisierungsprogramm sollen bis zu 50 % der anerkannten Investitionskosten übernommen werden können. Das ist ein Abwägungsprozeß, wieviel man beim Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft durch den Staat bringen muß. Ich finde schon, daß die Eigenhilfeorganisationen der Wirtschaft, die Kammern, auch ihren Beitrag leisten müssen. Meine Damen und Herren, die Bemühungen um die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung müssen auch vor dem europäischen Hintergrund gesehen werden. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Anerkennung von Ausbildungsinhalten. Unter der deutschen Präsidentschaft konnte einiges auf den Weg gebracht werden, und ich bin sehr froh, daß das Europäische Parlament jetzt beschlossen hat, die entsprechende Richtlinie, die wir ausgehandelt haben, zu billigen, so daß wir demnächst eine weitestgehende Anerkennung von Abschlüssen bei Studiengängen von mehr als drei Jahren Dauer europaweit haben werden. Ich halte das für einen großen Fortschritt. Es geht auch um die Mobilisierung der Begabungsreserven, über die Europa verfügt. Hierzu gehört z. B., bestehende Benachteiligungen von Mädchen und jungen Frauen im Bildungssystem abzubauen und keine neuen Benachteiligungen zuzulassen. Das ist seit Jahren ein erklärtes Ziel der Bundesregierung und der Länderregierungen. Wir sind froh darüber, daß der Bildungsrückstand von Mädchen in allgemeinbildenden Schulen weitgehend ausgeglichen worden ist und ihre Entfaltungsmöglichkeiten sowohl in der beruflichen Ausbildung wie in den beruflichen Tätigkeitsmöglichkeiten zunehmen. Ich appelliere noch einmal sowohl an die Mädchen und jungen Frauen, ihr Berufswahlspektrum bei einem Angebot von 380 Ausbildungsberufen über jene zehn Berufe, auf die sie sich heute im wesentlichen konzentrieren, hinaus auszuweiten, ich appelliere aber auch an die Arbeitgeber, nicht noch dem tradierten Rollenklischee anzuhängen, daß in vielen Berufen nur Männer die Aufgaben erfüllen könnten. Das ist einfach unzutreffend. Ich begrüße es deshalb, daß nun das Europäische Parlament diese Aufgabe auf die europäische TagesBundesminister Möllemann ordnung gesetzt hat, eine Initiative, die unseren bildungspolitischen Kurs bestätigt und einmal mehr deutlich macht, welcher Stellenwert der Bildungspolitik und hier speziell der beruflichen Bildung in den kommenden Jahren bei der Lösung der europäischen Probleme zukommt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Kastning.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren den Berufsbildungsbericht 1988, also für das vorige Jahr, zu einer Zeit, da bereits die Zahlen der Arbeitsverwaltung für den Ausbildungsstellenmarkt per 30. September 1988 vorliegen. Mir ist schleierhaft, Herr Minister, worauf Sie hierzu Ihre vorherige Aussage und auch die in der Presse von der günstigsten Bilanz seit zwölf Jahren gründen. Denn die Tatsache, daß die Zahl der Bewerber in diesem Jahr um 10 % zurückging, während zugleich die Zahl der gemeldeten Stellen um 4 % anstieg, rechtfertigt Ihre Aussage nicht. Zwar bleiben am 30. September 1988 10,9 % der angebotenen Stellen unbesetzt, aber 4,7 % der gemeldeten Bewerber - das sind immerhin 24 900 - waren noch nicht vermittelt. Das ist ein Anteil, der weit über dem in den letzten zehn Jahren niedrigsten Stand von 3,8 %, nämlich in 1979/80, lag. ({0}) - Das können auch Sie, Herr Schemken, nicht einfach wegdrücken. Auch der Minister sprach jeweils vom 30. September; davon gehe ich aus. Die Realität dürfte auch insofern etwas vorsichtiger einzuschätzen sein, als die Bundesanstalt für Arbeit darauf hinweist - Herr Schemken, das müssen Sie wirklich auch einmal lesen -, daß der Einschaltungsgrad auf der Seite der Stellenangebote erneut merklich zugenommen hat, daß er sich auf der Seite der Bewerbernachfrage dagegen weiterhin leicht rückläufig entwickelt hat. So täuschen die Zahlen, und so ist der Jubel des Herrn Ministers auch wohl etwas vorsichtiger zu sehen. ({1}) Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht 1988 weist aus, daß die regionalen Unterschiede 1987 ausgeprägter waren als zuvor. In diesem Jahr, Herr Minister, haben in den Ländern Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen viele Jugendliche noch immer allein rechnerisch keine Chance auf eine betriebliche Berufsausbildung. Der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung empfiehlt der Bundesregierung deshalb zu Recht - ich zitiere regional differenzierte Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungssituation bei rückläufiger Nachfrage, um Disparitäten, wie sie in dem zunehmenden Nord-Süd-Gefälle sichtbar werden, deutlich abzubauen. Ich denke, das ist eine klare Empfehlung. Da reicht nicht die allgemeine Mobilitätsforderung an die jungen Menschen, ihren Wohnort zu verlassen und sich beispielsweise in Baden-Württemberg niederzulassen. Die Erhöhung der Wanderungsverluste in ohnehin schon schwierigen ländlichen und strukturschwachen Räumen ist genau das Gegenteil von notwendiger Strukturpolitik. Meine Damen und Herren, der Hinweis des Ministers auf die Wirtschafts- und Steuerpolitik kann hier wohl nicht ziehen. Diese berücksichtigt nicht die regionalpolitischen Disparitäten. Ich denke, bislang jedenfalls ist auch nicht erkennbar, daß Sie, Herr Minister, bei Ihrem Konzept über die künftige Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten diese regionale Problematik zur Genüge berücksichtigen. Dazu wird sicher noch jemand anders aus meiner Fraktion hier Stellung nehmen. Zugenommen hat auch das Ungleichgewicht zwischen den Berufswünschen der Jugendlichen und den beruflichen Angeboten der Betriebe. Der Angebotsüberhang in gewerblich-technischen Berufen könnte meines Erachtens weit besser für junge Frauen genutzt werden. Denn diese sind leider nach wie vor mit rund zwei Dritteln an der Zahl der jungen Menschen ohne Berufsausbildung beteiligt. Auch wenn die Koalition weiterhin die Augen vor diesem Problem verschließt, bleibt ein Sonderprogramm zur Erweiterung der Ausbildungschancen junger Frauen dringend notwendig. ({2}) Es kann doch wohl nicht länger hingenommen werden, daß selbst junge Frauen mit ausgezeichneten Schulabschlußzeugnissen dem Arbeitsmarkt der Zukunft als mögliche qualifizierte Fachkräfte verlorengehen. Meine Damen und Herren, Sie denken doch immer sehr volkswirtschaftlich - Sie geben das jedenfalls vor -; dann müßte Ihnen auch das zu denken geben. Seit einigen Jahren - auch darüber haben wir hier schon gesprochen - tritt zusätzlich das Problem der sogenannten zweiten Schwelle, also des Übergangs von der Berufsausbildung in die Beschäftigung, in den Vordergrund. Die passive Haltung der Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik war in diesem Bereich nicht gerade hilfreich. Zum anderen, meine Damen und Herren, müssen wir feststellen, daß es bestimmte Berufe gibt, in denen Ausgebildete in überdurchschnittlich hohem Maße arbeitslos werden oder unmittelbar nach Abschluß ihrer Berufsausbildung schon wieder umschulen müssen; manche sagen: umschulen dürfen. ({3}) Bei dem leider auch aus diesem Grunde steigenden Bedarf an Fortbildung und Umschulung halte ich es - ich will es ruhig einmal so drastisch sagen - für politischen Frevel, was die Koalition jetzt mit der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz treibt. ({4}) Herr Minister, Sie haben zwar vorhin etwas angedeutet, aber Sie müssen sich auch konkret schon et7028 was mehr einfallen lassen, um den Zusammenhang zwischen beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung weiterzuentwickeln. Die verfassungsmäßige Zuständigkeit, glaube ich, ist hierfür eindeutig gegeben. Der Bund kann hier weit mehr tun als bisher. Ich meine, der Bund sollte auch Kompetenzen stärker wahrnehmen, wenn es darum geht, neue Ausbildungsordnungen umzusetzen, entsprechende Lernformen zu entwickeln und zu erproben und vor allen Dingen Ausbilder und Lehrer auf neue Ausbildungsinhalte und -methoden vorzubereiten. Wir haben gerade den Entwurf des Bundeshaushalts 1989 im Ausschuß beraten. Die Ansätze für diesen Bereich sind leider Ausdruck großer Zurückhaltung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Mir gefällt auch nicht Ihre Gleichgültigkeit, Herr Minister, gegenüber der Frage - darüber ist hier im Bundestag ebenfalls schon gesprochen worden - , ob die mit viel Mühe von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden erarbeiteten neuen Ausbildungsordnungen ihren Niederschlag auch in der Prüfungspraxis finden. Es wäre ja wohl eine logische Konsequenz, daß die Prüfungen auf die neuen Inhalte ausgerichtet werden. Meine Damen und Herren, alle Welt redet von der ständigen Zunahme fachtheoretischer und fachpraktischer Ansprüche an die berufliche Bildung. Wenn das so ist - ich will das nicht in Zweifel ziehen -, müssen die Maßnahmen für lernschwache Jugendliche weiter ausgebaut werden. Ich sage hier vorsorglich - man kann ja nicht mißtrauisch genug sein - : Hände weg von allem, was das Benachteiligtenprogramm negativ berühren könnte, ({5}) und prüfen, inwieweit darüber hinaus personelle und organisatorische Maßnahmen erforderlich sind, z. B. die Verbesserung der Information und Beratung der Jugendlichen und der Betriebe. Es wäre, Herr Minister, unvertretbar, würden wir den für die Zukunft prognostizierten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auch noch durch politische Unterlassung verschärfen. Der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung, meine Damen und Herren, bekanntlich zu jeweils einem Viertel paritätisch besetzt aus Beauftragten der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften, von Bund und Ländern, hat Ihnen, Herr Minister, im Frühjahr dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben, er erwarte - ich spreche hier von dem Hauptvotum, nicht vom Minderheitenvotum - , daß neben der Bestandsaufnahme verstärkt Folgerungen gezogen würden. Gehen Sie bitte nicht einfach darüber hinweg. Da die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt trotz großer Anstrengungen der Ausbildungsbetriebe und trotz gestiegener Ausbildungszahlen in berufsbildenden Schulen in vielerlei Hinsicht unbefriedigend ist, haben wir unseren Entschließungsantrag zum Berufsbildungsbericht 1988 vorgelegt. Meine Damen und Herren, dieser Antrag bedarf einer zügigen Beratung in den Ausschüssen, da die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen längst überfällig sind. ({6})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnewte Daweke.

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, bei allen Problemen, über die wir hier im Zusammenhang mit der Berufsbildung reden, müßte der erste Satz eines jeden, der hier redet, eigentlich lauten, daß wir heute zum erstenmal vor einer völlig entspannten und eigentlich umgekehrten Lage diskutieren, als wir sie hier jahrelang zu beschreiben hatten und teilweise ja auch vehement beklagt haben. Es ist nämlich so, daß mit der Zahl von 30 000 Plätzen, die jetzt im September mehr angeboten worden sind, als nachgefragt wurden, zum erstenmal auch wieder die Auswahlmöglichkeit junger Leute steigt. Wenn wir in der nächsten Zeit noch regionale, geschlechtsspezifische und sektorale Probleme lösen können, dann wird sich für junge Leute tatsächlich eine Wende zum Besseren ergeben. Dazu werden meine Kollegen gleich noch im Detail sprechen. Ich will nur einen Hinweis machen, Herr Kastning, weil ich schon glaube, daß Sie recht haben. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, daß z. B. Ihr Wahlkreis in Niedersachsen oder mein Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen oder unser Oberzentrum Bielefeld von jungen Leuten völlig entleert werden, weil dort nichts läuft und sie sich alle in Richtung Süden der Republik begeben. ({0}) - Nein, das kann nicht unser Ziel sein. Ich glaube auch nicht, daß der Bildungsminister so etwas befürwortet. ({1}) Ich habe auch das Programm des Bundesbildungsministers, das er zusammen mit dem Kanzler und mit Herrn Rau für das Ruhrgebiet verabredet hat, als ein solches regionales Ausgleichsprogramm verstanden. Sie müßten doch auch anerkennen, daß hier der Versuch gemacht wird, mit vielen zig Millionen DM die Leute in der Region auszubilden und in einem allerdings von in der Art eines Dinosauriers unbeweglichen Großbetriebes geprägtem Gebiet neue attraktive Ausbildungsangebote zu machen. Ich möchte mich zwei Spezialfragen zuwenden, nämlich zum einen der Qualitätsfrage, von der ich glaube, daß sie uns in Zukunft in größerem Maße beschäftigen wird, und zum anderen der Frage der europäischen Dimension der Berufsbildung. Im Berufsbildungsbericht 1988 steht ein wichtiger Satz, den ich zitieren will: „Die Zukunftschancen der jungen Generation werden nachhaltig durch eine qualifizierte Berufsausbildung geprägt." - Das, denke ich, unterschreiben wir alle. ({2}) Es heißt dort weiter: „Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik wird auf Dauer nur bestehenbleiben, wenn es gelingt, den hohen Stand der Qualifikation der arbeitenden Menschen zu erhalten und weiterzuentwickeln und wenn modern ausgebildete Fachkräfte nachwachsen. " Ich will damit sagen: Wenn die Zahlen jetzt stimmen, können wir tief Luft holen; denn wir brauchen auch viel Kraft, um die Qualität der Berufsausbildung zu verbessern. Diejenigen von uns, die in der letzten Woche bei einem großen Betrieb in Süddeutschland gewesen sind, werden sich gefragt haben, ob das Handwerk auch in Zukunft tatsächlich den Ausbildungsstand dieser Großbetriebe erreichen kann, ob da nicht neue Ungleichgewichte mit Wettbewerbsverzerrungen auftreten und wie die kleinen und mittleren Betriebe diese Qualität erreichen können. Zu diesem Problem kommt ein zweites hinzu. Wenn Sie sich die Modellrechnung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung ansehen, werden Sie feststellen, daß die Zahl der Absolventen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in dem Zeitraum von 1986 bis 1990 auf Grund der geburtenstarken Jahrgänge noch knapp 3,5 Millionen beträgt. Diese Zahl sinkt in dem Zeitraum von 1991 bis 1995 auf mehr als drei Viertel, und in dem Zeitraum von 1996 bis 2000 wird sie noch weiter absinken. Das heißt: Immer weniger Leute müssen die Qualität der Erstausbildung und der Weiterbildung gewährleisten. Ich meine, daß das im Zusammenhang gesehen werden muß. Ich will mich jetzt der Frage zuwenden, ob die Qualität der Berufsausbildung angesichts der gewaltigen zahlenmäßigen Leistung gesunken ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit dabei auf eine Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung lenken. Das Institut hat im Sommer dieses Jahres eine Untersuchung veröffentlicht. Es wurden über 10 000 Betriebe angeschrieben; es gab einen Rücklauf aus über 4 000 Betrieben. Qualitätsmerkmale waren die Planmäßigkeit der Ausbildung und die Pluralität der Lernorte. Übrigens, sehr geehrte Frau Hillerich, wir kennen zwei Lernorte: den Betrieb und die Schule. Sie beginnen hier eine Diskussion, die eigentlich von gestern ist, nämlich die Diskussion über drei Lernorte. Der dritte Lernort - die überbetriebliche Ausbildung - ist der zeitweilige - aber nur dort, wo es nötig ist - Ersatz für den Lernort Betrieb. Ich meine, Sie dürfen hier nicht mit einer Art Krieg der Worte eine neue Politik zu betreiben versuchen. Dann müssen Sie ehrlich sagen, daß Sie den Betrieb als Ausbildungsstätte nicht mehr wollen, und darüber können wir dann streiten. Das Institut hat also untersucht, wie die Pluralität der Lernorte gesichert war, hat Ausbildungseinsatz, Kooperation mit der Berufsschule, Übertragung praktischer Arbeiten unter pädagogischen Gesichtspunkten, Teamarbeit, selbständiges Arbeiten, Flexibilität und dergleichen mehr untersucht. Das Bundesinstitut sagt - man höre und staune -, daß während der Zeit der großen Ausdehnung der Ausbildungszahlen - auch mit neuen Betrieben, die in die Ausbildung eingestiegen sind - als Fazit seiner Erhebung festzustellen ist, daß sich das qualitative Niveau der Ausbildung, wenn man es an diesen Kriterien mißt, trotz der quantitativen Belastungen weiter erhöht hat, auch wenn es da Unterschiede zwischen den Kammern bzw. zwischen Handwerk und IHK-Betrieben gibt. Immerhin geben z. B. 27 % aller befragten Ausbildungsbetriebe den Jugendlichen Gelegenheit, selbständig zu lernen. 64 % aller Betriebe achten in der Ausbildung darauf, daß die Auszubildenden auch mit der Lösung schwieriger Aufgaben betraut werden. In 87 % der Ausbildungsbetriebe entscheidet das Lerntempo der Ausbildung mit darüber, wie die Beschäftigung der Jugendlichen mit Arbeiten vor sich geht. Das heißt, alle von mir vorhin vorgetragenen Kriterien sprechen dafür, daß wir trotz der großen Zahlen die Qualität erhalten und teilweise sogar gesteigert haben. Ich finde, das ist bemerkenswert, weil es unser Berufsausbildungssystem als ein sehr flexibles und auch als eines darstellt, das die Herausforderungen, von denen ich vorhin gesprochen habe, voll angenommen hat. Ich meine, da muß man den Betrieben gelegentlich auch einmal ein großes Kompliment machen; die werden wir nämlich auch in Zukunft brauchen. Natürlich weiß ich, daß die Betriebe das auch zur Sicherung ihrer eigenen Zukunft tun; aber sie machen es eben auch aus Verantwortung für die jungen Menschen. Den zweiten Teil meiner Rede darf ich jetzt der Frage „Europa und Berufsausbildung" widmen. ({3}) - Herr Penner, Sie werden sich wundern; ich komme wirklich gleich noch einmal darauf. ({4}) Mir scheint, daß wir beim Thema „Europa" zunächst alle begeistert sind, dann aber, wenn es ans Detail geht, doch merken, daß wir uns da sehr, sehr viel vorgenommen haben. Was unser Gebiet angeht, stellt sich als erstes die Frage, ob wir denn, wenn wir alle schon davon überzeugt sind - inzwischen ist das ja sogar die SPD -, daß wir ein Berufsausbildungssystem haben, das sich in Europa sehen lassen kann und von dem wir glauben, daß es auch zu den besten der Welt gehört, dieses System in dem Sinne exportieren können, daß sich andere uns möglicherweise anschließen. Ich behaupte, daß das sehr schwierig ist, weil man solche Systeme, die über Jahrhunderte gewachsen sind, ja nicht einfach einer anderen Nation andienen kann. Umgekehrt müßte es aber auch so sein, daß nicht andere versuchen, uns etwa ihre Berufsbildungssysteme aufzudrängen. Das bedeutet, daß wir eigentlich eine Philosophie der gegenseitigen Anerkennung in dem Sinne brauchen, daß jeder zunächst einmal unterstellt, daß die Ausbildung in dem jeweils anderen Land als eine qualifizierte Ausbildung anerkannt wird. Wenn sie denn tatsächlich mit der unseren vergleichbar ist. ({5}) - Dazu äußere ich mich jetzt nicht, aber im Grunde genommen sind auch dort alle Anerkennungsstreitigkeiten nach dem gleichen Prinzip gelöst worden. Egal, ob A oder B, noch hat niemand versucht, den anderen etwas aufzudrängen. Man weiß ja, daß beispielsweise selbst gestandene Kultusminister der Union große Schwierigkeiten hatten, ihren Landtagen zu erklären, weshalb sie plötzlich den Kollegschulabschluß in einem anderen Bundesland anzuerkennen bereit waren. ({6}) Ich will nur sagen: Die Frage des Exports oder des Imports von Bildungssystemen kann sich so für uns nicht stellen, sondern es kann nur um die Frage der Vergleichbarkeit gehen. Da allerdings, Herr Penner, komme ich jetzt doch noch einmal zu den Aussiedlern, denn eigentlich kann man all das, was man im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland oder zwischen Deutschland und Großbritannien angewandt hat, jetzt auch bei der Ausstellung von Bescheinigungen für die Aussiedler erleben. Auch dort wird ja versucht, durch einen Vergleich mit dem, was in dem Land, aus dem sie kommen, geleistet worden ist, festzustellen, ob denn deren Ausbildung und beruflicher Werdegang in etwa mit dem vergleichbar ist, was wir fordern. Im Grund genommen ist das ein Ansatz, der, wie ich finde, auch für unsere nationale Diskussion ganz gut ist. Man sagt hier nämlich: Ich gebe dir eine Bescheinigung - manche reden ja darüber, daß man das möglicherweise mit einer Art Berufspaß in Europa machen könnte - über das, was du bis jetzt, nach meiner Auffassung vergleichbar mit unseren Anforderungen, geleistet hast. ({7}) Ich gebe dir keine Bescheinigung etwa darüber, was das für Ansprüche möglich macht. Beispielsweise sage ich: Ich erkenne an, daß du an einer Hochschule ein Diplom erreicht hast. Ich denke manchmal daran, was das für eine nationale Wirkung hat. Es hat nämlich, glaube ich, die Wirkung, daß jemand mit einem Diplom nicht unbedingt auf eine A-13-Stelle reflektieren soll. Vielmehr heißt es: Ich erkenne zunächst einmal nur das an, was du bis jetzt getan hast; das befähigt dich, bei uns in folgende Berufe einzusteigen - mehr nicht. Ich finde, das ist zwar ein mühsamer Weg, weil er ja nur von Berufsfeld zu Berufsfeld denkbar ist oder von Beruf zu Beruf geleistet werden kann, aber er muß, wenn wir dies mit einer gewissen Großzügigkeit handhaben - was zwar nicht typisch deutsch ist, was wir uns vielleicht aber angewöhnen sollten - , zum Schluß dazu führen, daß wir in den Jahren von 1992 bis 1996 alle Berufe vergleichbar gemacht haben.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Odendahl?

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Daweke, Sie sind schon wieder beim großen europäischen Vergleich angekommen. Darf ich auf die Frage der Aussiedler zurückkommen, weil es von ganz großer Bedeutung ist, was wir hier sagen? Sie haben das Problem mit der Frage der Vergleichbarkeit und auch der Bildungsabschlüsse der Aussiedler durchaus zu lösen versucht. Nun muß ich Sie aber detailliert fragen: Was stellen Sie sich als Lösung vor, wenn der Vergleich für die Aussiedler negativ ausfällt? Das wird in vielen Fällen der Fall sein. Sind Sie der Meinung, daß das durch eine Bescheinigung zu lösen ist?

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nehmen Sie einmal das Beispiel des Kfz-Schlossers. Wenn jemand in der Sowjetunion oder in Polen Fahrer war und dort jahrelang Lkw über die Straßen gefahren hat, dann können Sie davon ausgehen, daß er hinsichtlich der praktischen Tätigkeiten und der Erfordernisse an den Beruf des Kfz-Schlossers so gut ist, daß er jedem unserer Fahrer pari ist. Da, wo er Defizite hat, im Bereich der Elektronik im Auto usw., kann man ihn sozusagen nachqualifizieren. Das ist gar kein Problem. Die Anerkennungsphilosophie ist folgende: Wenn er qualifiziert ist, den Beruf des Kfz-Schlossers auszuüben, soll er bei uns die Möglichkeit der Berufsausbildung haben. Ich habe extra das Beispiel der Fahrer und des Kfz-Schlossers genommen, weil die wirklich alles machen können. ({0}) - Nein, ich werde doch nicht das Beispiel des polnischen Juristen oder desjenigen nehmen, der in Breslau Jura studiert hat. Das ist mir schon klar. Übrigens, wir kommen nicht einmal mit einem Vergleich zwischen der Sorbonne und der Universität in Bonn klar. Ich habe extra dieses Beispiel ausgewählt, weil es eines ist, an dem man gut zeigen kann, daß wir in der gleichen Weise in Europa vorgehen sollten. Meine Damen und Herren, ich wollte noch einen letzten Aspekt dieses Themas nennen. In der Diskussion insbesondere mit Handwerkern und Gesellen - übrigens auch mit Gewerkschaftern und Arbeitgeberverbänden - fällt auf, daß das Thema Berufsausbildung vor dem Hintergrund Europa zwar im Prinzip immer als ein wichtiges angesehen wird, aber in der Regel in seinen Dimensionen, glaube ich, nicht richtig eingeschätzt wird, auch hinsichtlich der Folgewirkungen, die es auf unsere eigenen Probleme hat. Einen Aspekt wollte ich nennen, von dem ich glaube, daß er überhaupt nicht gesehen wird, daß wir nämlich intern eine neue Qualität des Wettbewerbs bekommen werden. Ich denke, daß wir ihn gut durchhalten werden. Die Art und Weise, wie hier seit vielen hundert Jahren ausgebildet wird, ist doch so, daß wir damit, glaube ich, ganz beruhigt auch in den Wettbewerb mit den Franzosen und Briten treten können. Nur wird dies bedeuten, daß wir in einigen Berufen, wo wir nicht nur eine attraktive Ausbildung, sondern hinterher auch attraktive Arbeitsplätze haben, mehr Wettbewerb erleben werden. Ich denke jetzt an das ganze Feld der Ausbildung für akademische Berufe, wo die Leute hier um attraktive Arbeitsplätze nachsuchen werden. Um so wichtiger ist es, denke ich, vor diesem Hintergrund die Frage der Qualifizierung, von der ich zuerst gesprochen habe, neu zu überdenken. Sie erhält dadurch einen zusätzlichen Stellenwert, nämlich den, daß wir unsere jungen Leute für die Auseinandersetzung mit den Jahrgangskameraden aus anderen Ländern fit machen. Ich bin eigentlich ganz optimistisch; ich habe schon vorhin folgendes gesagt: Unser System hat sich als außerordentlich flexibel erwiesen und wird auch diese Herausforderung meistern. Schönen Dank. ({1})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein erster Satz lautet anders, als Herr Daweke sich gewünscht hat. Ich meine, wir und vor allem Sie, Herr Möllemann, als verantwortlicher Minister können dem Himmel oder ähnlichen Instanzen danken, ({0}) daß in der ersten Hälfte der 70er Jahre so wenig Kinder geboren wurden. Die dadurch sinkende Zahl von Ausbildungssuchenden bietet Luft und Chance, sich intensiver mit den eigentlichen, den qualitativen Problemen der beruflichen Bildung zu beschäftigen. ({1}) Die quantitative Belastung des Ausbildungsstellenmarkts hat einerseits von ihnen abgelenkt, sie andererseits aber verschärft. Die regionalen und berufsstrukturellen Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen und die dadurch bedingten Benachteiligungen treten jetzt schärfer hervor, und dies gilt auch und gerade für die Bewertung der diesjährigen Lehrstellenbilanz. Unseres Erachtens weist dies darauf hin, daß der Marktmechanismus für die Verteilung der beruflichen Bildung äußerst unzulänglich funktioniert. Bildung hat eben einen längerfristigen Zukunftsbezug. Das marktorientierte Ausbildungsplatzangebot richtet sich aber nach kurzfristigen und betriebsbezogenen Rentabilitätsgesichtspunkten, obwohl es insgesamt zu ca. einem Drittel öffentlich finanziert wird. Zum Berufsbildungsbericht. Auf einige Punkte im ersten Teil will ich eingehen. Ausbildung über Bedarf wird nach wie vor als sinnvolle bildungspolitische Leitlinie angesehen. Das ist unverantwortlich und bildungspolitisch mehrfach absurd. Ausbildung über Bedarf hat insbesondere im Handwerk, wo sie größtenteils stattfand und stattfindet, mit Rentabilitätskalkül - und nicht mit bildungspolitischen Erwägungen - im Hinblick auf die Arbeitsleistung der Auszubildenden während der Ausbildungszeit zu tun, anschließend mit Arbeitslosigkeit und Fehlqualifikation, wodurch erstens die vorherige Ausbildung entwertet, zweitens die persönliche Situation der jungen Erwachsenen gravierend belastet und drittens zusätzliche Mittel und Anstrengungen für Umschulungen nötig werden, die viertens mit der 9. AFG-Novelle eingeschränkt werden. Das sind die Absurditäten dieser Leitlinie. Die angeblich so niedrige Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik ist eine der vielen statistischen Lügen. Die Statistik muß im Zusammenhang mit beruflicher Bildung auf Grund des gestiegenen Alters der Auszubildenden auch die 20- bis 25jährigen erfassen, wenn man ernsthaft die Probleme der zweiten Schwelle abbilden will. ({2}) Ich habe nur die Zahlen für 1985. Da waren 8 % der 15- bis 20jährigen, aber über 12 % der 20- bis 25jährigen arbeitslos. Die Relationen in den letzten Jahren und in diesem Jahr werden ganz ähnlich sein. Die Empfehlung zur Lehre auswärts ist und bleibt zynisch, nicht nur wegen der damit verbundenen persönlichen und sozialen Probleme bis hin zum nicht vorhandenen preiswerten Wohnraum. Da haben Sie Gespräche angekündigt, Herr Minister. Wir wüßten gern einmal die Ergebnisse. Sie ist auch zynisch wegen der damit verbundenen Perspektiven für die betroffene Region. Jugendliche haben ein Recht auf zukunftsfeste Ausbildung in ihrer Region. Das schon erwähnte Programm für das Ruhrgebiet ist da ein erstes richtiges Schrittchen, allerdings durch den Druck des Rheinhausener Arbeitskampfes zustande gekommen. Für ausreichende qualifizierte Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen ist es noch ein Tropfen auf den heißen Stein; vielleicht wird ein Kran daraus. Zum erstenmal ist im Berufsbildungsbericht vom Wert einer pädagogisch angelegten Berufsausbildung die Rede, erfahren wir von der Bundesregierung, daß sie Bildung und Ausbildung als Einheit verstehen will. Wenn Sie das ernst meinen, Herr Minister, werden Ihre Loblieder auf das duale System äußerst fragwürdig - oder umgekehrt. Gerade in berufspädagogischer Sicht, auf die Sie dann ja Wert legen müßten, hat die existierende Arbeitsteilung zwischen Betrieb und Berufsschule zu einer beziehungslosen Aufspaltung von Lernprozessen geführt. Nur eine wechselseitige fruchtbare Perspektivenverschränkung der beiden Lernorte, die organisatorisch und inhaltlich eine integrierte Gestaltung der beruflichen Bildung erfordert, könnte die gewünschte Einheit von Bildung und Ausbildung gewährleisten. ({3}) - Es wird sich noch zeigen, wer hier Ahnung hat. Erfreulich ist die Aufnahme des Themas Umweltschutz in der beruflichen Bildung im zweiten Teil des Berufsbildungsberichts und seine relativ differenzierte Darstellung. Dazu will ich ein paar Anmerkungen machen. Bei der Umwelterziehung ist das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie zu harmonisch dargestellt. Ökologie und Ökonomie sind nicht gleichwertig. Beim Umdenken und Entwickeln ökologischer Überlebensstrategien müssen ökologische Gesichtspunkte Priorität haben; das gilt auch in der beruflichen Bildung. ({4}) Das kann und muß auch heißen, daß ganze Produktionsbereiche, Techniken und Produkte in Frage gestellt werden. Es reicht nicht, zu lernen, wie eine im Prinzip schädliche Produktion möglichst umweltschonend durchgeführt werden kann. Umweltschutz muß in alle Ausbildungsordnungen aufgenommen werden. Hierfür muß der Bund seine Gesetzgebungskompetenz in Anspruch nehmen, zumindest feste Fristen als Auflage vorsehen. Umweltwissen muß darüber hinaus in die Lehrpläne der Berufsschulen und in die Kammerprüfungen aufgenommen werden. Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, wie das nach dem vernünftigen methodischen Prinzip „erfahren - lernen - handeln" Gelernte in Multiple-choice-Prüfungsbögen abgetestet werden kann. ({5}) Auch wir sind der Auffassung, daß die Schaffung besonderer Berufe für Umweltschutz nur in begründeten Ausnahmefällen sinnvoll ist. Umweltschutz, ökologisches Denken und Handeln müssen ausnahmslos Bestandteil aller Ausbildungsordnungen und aller Berufstätigkeit werden. Die Forschungsaktivitäten des Bundesinstituts für berufliche Bildung auf diesem Feld begrüßen wir und hoffen sehr, daß dort genügend Mittel auf diesen Forschungsschwerpunkt konzentriert werden. Die aufgeführten Forschungsaktivitäten machen nämlich deutlich, daß ökologische Berufsbildungsforschung noch in den Kinderschuhen steckt. Ihr Ziel sollte die Erarbeitung eines handlungsbezogenen ökologischen Qualifikationsbegriffs sein, der in Schlüsselqualifikationen für Ausbildungsordnungen und Lernprojekte umsetzbar ist. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erster Satz: Lieber Ernst Kastning - du kommst gerade wieder herein - , gegen eine realistische Analyse der Zahlen ist nichts einzuwenden. Aber wenn man einfach darüber hinweggeht, daß in den Jahren 1976/77, als wir die Statistik begannen, noch nicht vermittelte Bewerber eine Zahl von rund 27 000 umfaßten, daß zum Höhepunkt der Entwicklung, nämlich 1984/85, 58 000 nicht vermittelte Bewerber zu unserem statistischen Stichtag zu vermerken waren und es sich jetzt um 24 900 handelt, dann ist der Hinweis von Klaus Daweke mehr als berechtigt, dies an den Anfang jeden Beitrages hier zu stellen, auch wenn uns, wie Sie zu Recht sagen, Frau Hillerich, der Himmel oder wer weiß, wer dabei mitgeholfen hat. ({0}) Wir sind ja nicht so eitel, das alles auf uns zu beziehen. Um so mehr, meine Damen und Herren, verwundert mich der Duktus und die einseitige Zahlenauswahl des Entschließungsantrags der SPD. Man hätte als unbefangener Leser den Eindruck, als sei eine Katastrophe soeben und gerade und plötzlich über uns hereingebrochen, wo doch genau das Gegenteil vor diesem Gesamthintergrund der Fall ist. ({1}) Es hat nur in den Jahren 1979/80/81 und weder davor noch danach einen so hohen Überhang an unbesetzten Ausbildungsplätzen gegeben. Das müssen wir einfach vermerken. Daß es daneben - das ist der realistische Teil der Betrachtung, dem ja zuzustimmen ist; wir verschweigen das nicht - trotz ihrer deutlich abnehmenden Zahl immer noch eine zu hohe Zahl an Bewerbern gibt, deren Wünsche nicht befriedigt werden können, und daß das auf regionale und branchenspezifische Gründe zurückzuführen ist, ist selbstverständlich. Das ist auch das Motiv unseres Handelns und unseres weiteren Diskutierens. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, grundsätzlich ist zu sagen - und heute ist der Zeitpunkt der Bilanzziehung - : In dem Ansteigen der Bewerberzahlen von 1976 bis zum Höhepunkt der Nachfrage 1984 und darüber hinaus lag eine ganz große Herausforderung an das duale System insgesamt. Diese Herausforderung ist nicht nur angenommen, sondern, wie ich meine, auch mit einigem Erfolg bestanden worden. ({3}) Das war, meine Damen und Herren - das zu sagen gebietet doch die Ehrlichkeit - , nicht selbstverständlich. ({4}) Wenn ich jetzt die kleineren und mittleren Betriebe, insbesondere des Handwerks, hervorhebe, dann bedeutet das nicht, daß die anderen - Verwaltungen, Großbetriebe usw. - nicht beteiligt gewesen seien. Allen ist zu danken, und alle haben ihren Teil beigetragen. Es war das Ergebnis von Anstrengungen. Es fiel eben nicht vom Himmel und kam nicht aus der Luft. Meine Damen und Herren, ich muß die SPD loben, daß sie diese Entwicklung, was das duale System betrifft, in ihrem Antrag zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten im Grunde positiv unterstreicht, wenn auch die eine oder andere Passage in den Papieren und auch im Entschließungsantrag immer wieder zu Verunsicherungen führen kann. Ich lese etwa in einem Ankündigungspapier der niedersächsischen Jungsozialisten, Ernst Kastning, daß sie so ähnlich, wie Frau Hillerich das ausgeführt hat, als Ziel die Überwindung der Trennung von Hand- und KopfarNeuhausen beit in der privatwirtschaftlich organisierten Ausbildung proklamieren. ({5}) So etwas verunsichert einen immer wieder. Man weiß nicht genau, was mit Weiterbildung des dualen Systems hier gemeint ist. ({6}) Aber insgesamt muß ich sagen: Sie unterscheiden sich doch sehr deutlich von dem - auch Sie, Herr Kuhlwein - , was Frau Hillerich hier vorträgt. Denn kürzlich entnahm ich einer Presseerklärung der GRÜNEN, daß es sich beim dualen System um eine glänzende Fata Morgana handelt und von der Dominanz unternehmerischer Verwertungsinteressen gesprochen wird. Auch in ihrem Antrag charakterisieren die GRÜNEN das duale System durch die eben zitierte angebliche organisatorische, zeitliche und personelle Zerrissenheit durch die unterschiedlichen Lernorte. Sie stellen es also grundsätzlich in Frage. ({7}) Auch daß Frau Hillerich jetzt den Begriff von den beiden Lernorten aufgreift, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Das müssen wir hier einmal ganz deutlich sagen. Meine Damen und Herren, daß Sorgen leichter werden, wie ich zu Anfang sagte, bedeutet nicht, daß sie verschwunden sind. Natürlich bestehen noch immer Ungleichgewichte im Hinblick auf fehlende Ausbildungsplätze, zunehmend aber eben auch umgekehrt. Das Interessante und auch Schwierige ist, daß oft beide Defizite sozusagen parallel gehen, nämlich vor allen Dingen auch da, wo sich individuelle Wünsche und regionale oder auch berufsspezifische Möglichkeiten nicht ohne weiteres in Übereinstimmung bringen lassen. Wir müssen diese beiden Seiten in unserer künftigen Diskussion sehen. Betriebe haben eben zunehmend Schwierigkeiten, die zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze zu besetzen. Ein Blick in eine Auswahl von Regionalzeitungen zeigt das doch ganz deutlich. Auf der anderen Seite haben junge Mädchen und Frauen nach wie vor ihre besonderen Probleme, auch junge Ausländer und junge Menschen, denen persönliche Benachteiligungen den Einstieg ins Berufsleben schwermachen. Hier sind - darin sind wir uns alle einig - weitere Anstrengungen erforderlich. Ich möchte in diesem Zusammenhang die ja auch vor allen Dingen im Antrag der GRÜNEN vorkommenden außerbetrieblichen Einrichtungen erwähnen. Sie haben sich wirklich gerade im Zusammenhang mit den zuletzt genannten Personengruppen in der Vergangenheit mit neuen und alternativen Ansätzen große Verdienste erworben. ({8}) Aber ich bin doch der Meinung, Frau Hillerich, daß es eine Sache ist, dies anzuerkennen, und eine ganz andere, die dort gewonnenen Erfahrungen und Möglichkeiten so zu verallgemeinern, daß das als eine Art Gegenmodell zum dualen System erscheint. Man kann ja Wettbewerb und Markt ablehnen, man kann der ganzen Wirtschaftsordnung gegenüber kritisch eingestellt sein, aber ich finde, man handelt fahrlässig, wenn man nicht junge Menschen auf eine Berufs- und Arbeitswelt vorbereitet, in der sie leben werden, leben müssen, es sei denn, man wollte lauter kleine Trojanische Pferde instrumentell in das Wirtschaftssystem einsetzen. ({9}) Ich finde, diese Einrichtungen haben einen wertvollen Beitrag geleistet. ({10}) - Ich spreche ja dafür. Es ist aber keine gute Fürsprache, sie zu einem Gegenmodell aufzubauen. Meine Damen und Herren, es ist mir überhaupt unklar, was die in den Anträgen der GRÜNEN - ich beschäftige mich damit - zitierten unkritischen betriebsfunktionalen Anwendungsfertigkeiten als Ziele berufsbildungspolitischer und berufspädagogischer Konzepte sagen wollen, wenn sich doch, wie alle unsere Gespräche zeigen, alle in der beruflichen Bildung Verantwortlichen - auf allen Bänken - darin einig sind, daß es in der beruflichen Bildung vermehrt auf die sogenannten Schlüsselqualifikationen ankommt, auf die Fähigkeiten, selbständig zu planen und verantwortlich zu handeln, Kreativität zu entwickeln, sich kooperativ zu verhalten und wenn, wiederum übereinstimmend und ausdrücklich, die Abkehr vom Taylorismus, von der Beschränkung auf einzelne eingeengte Arbeitsschritte unterstrichen wird. Gerade eine solche neue berufliche Bildung, ein solcher neuer Ansatz öffnet den jungen Menschen Optionen, Optionen auch individueller, freier Weiterentwicklung und Bildung jenseits von Verwertung, aber eben auch jenseits von Verplanung, wie basisdemokratisch sie sich, wie in Ihrem Antrag, auch geben mag, als Mittelverteilungs- oder vielleicht sogar Vormundschaftsgremien, wogegen ich schon aus Prinzip etwas habe. Natürlich bedarf es der Kooperation der Lernorte und nicht nur dieser. Natürlich ist im dualen System nicht immer und alles heile Welt. Das ist doch ganz selbstverständlich. Wenn - Klaus Daweke hat es gesagt - in diesem Zusammenhang mit Recht oft die qualitative Seite der beruflichen Erstausbildung etwas problematisiert wird, so weiß doch jeder, daß sich aus der demographischen Entwicklung ein Spannungsverhältnis zwischen der von allen Seiten erhobenen Forderung nach so viel Ausbildungsplätzen wie irgend möglich und andererseits den Veränderungen in der Berufs- und Arbeitswelt ergeben mußte, ohne daß man, wenn man in die Landschaft schaut, so pauschal von einer Vernachlässigung des qualitativen Aspektes sprechen könnte. Herr Daweke hat darauf aufmerksam gemacht. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ganz ausdrücklich das Konzept der Bundesregierung für die Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten, das eben die Gewährleistung ihrer Modernisierung zum Ziel hat, damit gerade für Auszubildende in kleineren und mittleren Betrieben einerseits die Breite der Grundausbildung, die ja viel mit den genannten Schlüsselqualifikationen zu tun haben kann, und andererseits eine Vorbereitung auf den Umgang mit modernen Arbeitsmitteln und -techniken erfolgen kann, was eben die kleinen und mittleren Betriebe so oft nicht leisten können. Meine Damen und Herren, ich kann jetzt leider meine Ausführungen über ein weiter bestehendes Defizit der jungen Frauen und Mädchen, das auch in dem europäischen Papier angesprochen ist, hier nicht weiter vertiefen. Wir haben keinen Entschließungsantrag eingebracht. Ich meine aber: Wenn es einer Entschließung bedarf, dann der, alle für die berufliche Bildung Verantwortlichen und die Bundesregierung aufzufordern, ihre Anstrengungen und Initiativen ebenso intensiv und offen für neue Aufgaben und Entwicklungen fortzusetzen, wie sie das bisher mit einigem Erfolg, mit gutem Erfolg getan haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rixe.

Günter Rixe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001861, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht 1988 beginnt mit der Feststellung: „Die Ausbildung im dualen System ist der berufliche Bildungsweg für die große Mehrheit der Jugendlichen." Gesellschafts- und bildungspolitisch ist unsere Diskussion und sind die Konsequenzen, die die Politik für die berufliche Bildung vorgeben muß, aber gerade für die Jugendlichen wichtig, die eben nicht zu dieser Mehrheit gehören. Ich verweise nur auf die großen Zahlen in dem Minderheitenvotum des Berufsbildungsberichts auf den letzten Seiten, wo ganz andere Zahlen als auf den ersten Seiten genannt werden. Bis zum Jahre 2000 werden über eine Million Jugendliche als Ungelernte ins Erwerbsleben treten. Die Chancen dieser Jugendlichen auf eine dauerhafte Beschäftigung sind außerordentlich schlecht. Das Überschreiten der zweiten Schwelle, die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis nach der Ausbildung, ist zunehmend schwieriger geworden. Aber die geplanten Leistungskürzungen beim Arbeitsförderungsgesetz zeigen, daß die Bundesregierung diese Problemlage nicht wirklich abschaffen will. Jugendliche unter 25 Jahren werden weiter an den Rand gedrängt, wenn sie arbeitslos sind. Beim Berufseinstieg werden sie doppelt bestraft, weil auch die Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld drastisch gekürzt wird. Jeder siebte Jugendliche ist nämlich nach erfolgreicher Ausbildung erst einmal für einige Zeit arbeitslos. ({0}) Ich habe gesagt: „einige Zeit", zwei Monate, ein Monat, das ist je nach Ländern, je nach Regionen in diesem Land unterschiedlich. ({1}) Soweit die Zahlen. Ich teile die Einschätzung des Berufsbildungsberichts, berufliche Bildung sei eine Zukunftsinvestition. Nur fordern die von mir genannten Zahlen von Wirtschaft und Politik, daß tatsächlich in diese Zukunft investiert wird. Die von der Bundesregierung und dem Bundesbildungsminister aufgezeigten Maßnahmen hierfür lassen allerdings keine besonderen Anstrengungen erkennen. Derzeit ist die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt trotz großer Anstrengungen der Ausbildungsbetriebe nach wie vor unbefriedigend, wenn sich auch die Lage gegenüber den Vorjahren in regional sehr unterschiedlichem Ausmaß zahlenmäßig etwas entspannt hat. Hier liegt die Aufgabe der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten im dualen System der Berufsausbildung. Nach der letzten Erhebung von Ende 1984 gab es 599 überbetriebliche Aus- und Weiterbildungsstätten. Schaut man sich die Verteilung an, so sieht man, daß das Handwerk fast 50 000 und die Industrie nur 10 000 Plätze stellt. In manchen Landesteilen, wie Baden-Württemberg, hat die Industrie die Notwendigkeit dieser Bildungsstätten erkannt. Mehr als die Hälfte des Antragsvolumens für das laufende Jahr kamen aus diesem Lande. Der „Arbeitskreis Berufsbildung " der IG Metall in meiner Heimatstadt kritisierte noch vor einer Woche in einem Gespräch, daß dort die Industrie die Chancen und die Notwendigkeiten überbetrieblicher Ausbildungsstätten für eine breite, qualifizierte Ausbildung offensichtlich nicht erkenne. Im Interesse der Jugendlichen und der Abstimmung zwischen Ausbildung und Beschäftigung heißt es deshalb im SPD-Antrag auch: „In überbetrieblichen Berufsbildungsstätten werden vorrangig Angebote zukunftsorientierter Berufsbildung gefördert, um die Arbeitsmarktchancen junger Menschen zu verbessern. " Meine Damen und Herren, an die Stelle der rein quantitativen Problematik des Ausbildungssektors tritt die Frage nach der Qualität der Ausbildung und der Gewährleistung des Übergangs in das Beschäftigungssystem. Oberstes Ziel muß es bleiben, daß alle Jugendlichen eine Beschäftigung im erlernten Beruf nach der Ausbildung erhalten. ({2}) Die laufende Neuordnung der Berufe erfordert mehr überbetriebliche Ausbildung. Werkzeugmacher, Mechaniker und Dreher brauchen die CNCTechnik, die heute kaum ein kleiner Betrieb vermitteln kann. Hier hat die Ausbildungsberatung der Kammern die wichtige Aufgabe, mit der Qualität ihrer Beratung und durch das Mittel der überbetrieblichen Ausbildungsstätten die Qualität der beruflichen Ausbildung abzusichern. Die SPD-Fraktion hat in ihrem Antrag vom 2. August 1988 zur Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten diese Aufgabe aufgegriffen. Meine Fraktion fordert den Ausbau und die langfristige Sicherung der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten. Unser Antrag beinhaltet auch die Aufforderung an die Bundesregierung, unverzüglich ein Konzept vorzulegen. ({3}) Herr Minister Möllemann, Ende August haben Sie dann endlich, mi t etwas Verspätung, Ihre Konzeption vorgelegt. Darin bestätigen Sie das Ausbauziel von 77 100 Ausbildungsplätzen. Sie erkennen auch die Investitionen für eine ständige Modernisierung und die Kosten der Ausstattung mit neuen Technologien an. Aber dann verfahren Sie wie bei der Steuerreform: Sie verteilen die Wohltaten, andere sollen zahlen. Bei Ihnen heißt das dann: Hierfür wird eine angemessene Beteiligung der Länder angestrebt. Der Förderungsanteil des Bundes kann dann bis zu 50 % betragen. Schließlich berufen Sie sich bei Ihrer Beschränkung auf die Zahl von 77 100 Ausbildungsplätzen auf einen Beschluß vom 17. Februar 1978. Eigentlich müßten wir überprüfen, ob der noch stimmt. Über Ihre Statistiken zur aktuellen Nutzung hinaus sagt Ihre angebliche Konzeption nichts darüber, welche Anforderungen sich hier aus der demographischen und technologischen Entwicklung ergeben. Werden 2 000 Plätze in den nächsten Jahren reichen? Unbeantwortet bleibt dann noch neben der Frage nach der notwendigen Zahl von Plätzen in überbetrieblichen Ausbildungsstätten die Frage der Folgekostenförderung. Die Kosten für den Betrieb überbetrieblicher Berufsbildungsstätten erreichen nach Modellrechnungen des Bundesinstituts für Berufsbildung allein bei den Aufwendungen für die Durchführung des Lehrbetriebes im Bereich der beruflichen Erstausbildung ein jährliches Gesamtvolumen von 500 Millionen DM. Hinzu kommen die Abschreibungen für die Gebäude und Maschinen in Höhe von rund 250 Millionen DM jährlich. Diese hohen Kosten sind von den ausbildenden Klein- und Mittelbetrieben nicht aufzubringen. Der weiterhin bestehende Bedarf der Förderung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten zeigt sich im Antragsvolumen für 1988 von rund 270 Millionen DM. Herr Möllemann, wir erkennen ja an, daß Sie sich nach Jahren des Kürzens bei diesem Haushaltstitel jetzt bei Bundesfinanzminister Stoltenberg durchgesetzt haben und für die nächsten drei Jahre 300 Millionen DM bereitstellen. Das wollen wir gerne anerkennen. Aber es reicht nicht aus, wenn man schon für ein Jahr, nämlich für das Jahr 1988, 270 Millionen DM benötigt. Die Mitverantwortung des Bundes für die Sicherstellung eines qualitativ und quantitativ ausreichenden betrieblichen Ausbildungsplatzangebotes schließt den Erhalt überbetrieblicher Ausbildungsstätten und damit die Förderung auf Dauer ein. Die Einstellung der Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten hätte eine fast vollständige Verlagerung der beruflichen Erstausbildung in Großbetrieben zur Folge. Dementgegen ist der Bundesrat dem einstimmigen Votum des BIBB-Hauptausschusses gefolgt und wünscht keine Fristsetzung auf das Jahr 1992. In unserem Antrag heißt es: Die Bundesregierung sichert mit der Finanzierung auf Dauer auch den Bundesanteil für die Förderung überbetrieblicher Beruf sbildungsstätten in bisheriger prozentualer Höhe ({4}); . . . Wir wollen keine erneute Abwälzung von Lasten auf die Länder. ({5}) Ich wende mich entschieden gegen Ihre Absicht, Herr Minister Möllemann, die Bezuschussung der Kosten für die laufende Unterhaltung von überbetrieblichen Ausbildungsstätten bis 1992 auf ganze 2 Millionen DM zurückzufahren. Und ab 1993 wollen Sie hierfür wohl überhaupt keine Fördermittel mehr bereitstellen? Die Konzeption sollte auch die multifunktionale Nutzung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten sichern. Neben der überbetrieblichen Ausbildung sollen sie künftig auch für die Weiterbildung, die Umschulung, die Ausbildung von Ausbildern und sonstige Maßnahmen der beruflichen Bildung zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang sind dann weiterhin die wichtigsten Strukturdaten dieser Bildungsstätten zu erheben und zu veröffentlichen. Der Bundesbildungsminister benennt als Schwerpunkte der überbetrieblichen beruflichen Bildungsmaßnahmen zwar die überbetriebliche Ausbildung mit gut zwei Dritteln Anteil und die berufliche Weiterbildung mit einem Anteil von nur 17 %. Er spricht auch vom Funktionswandel und begründet den Bedarf. Aber zum Antrag der SPD - „Die Bundesregierung sichert die multifunktionale Nutzung ..." - gibt es keine Vorschläge in Ihrem Konzept. Meine Damen und Herren, es geht um die zukünftige Qualität der beruflichen Bildung, um das Humankapital des Jahres 2000, das den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland in Zukunft noch stärker bestimmen wird. So folge ich dem Zentralverband des Deutschen Handwerks in der Auffassung, daß die berufliche Weiterbildung eine neue Dimension und eine andere Qualität gewinnt. Dabei müssen überbetriebliche Ausbildungsstätten folgenden Beitrag leisten: Sicherung eines gut ausgebildeten Nachwuchses von Fachkräften; Vermittlung von Zusatzqualifikationen beim Übergang von Ausbildung in das Beschäftigungssystem; Wiedereingliederung von Frauen; Neuorientierung von Fachkräften in zukunftsträchtigen Bereichen; Umschulung und Anpassungsfortbildung; Schulung von Fachkräften im Bereich neuer Technologien; Fort- und Weiterbildungslehrgänge für Ausbilder; Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Meisterprüfung. Die weitere Entwicklung dieses Leistungsangebots wollen wir weiterhin qualitativ, inhaltlich, fachlich und mit einer gesicherten Förderung aus Bundesmitteln, Herr Minister, begleiten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Oswald.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rixe, wir kommen auf die einzelnen Punkte später noch zu sprechen. Aber man kann es ja gar nicht oft genug wiederholen: Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt hat sich in den Jahren 1987 und 1988 weiter entspannt. Herr Minister, Sie haben heute von der günstigsten Bilanz seit zwölf Jahren gesprochen. Der letzte Bilanzstichtag, 30. September 1988, hat erneut deutlich gemacht, auf welche berufsbildungspolitischen Fakten wir uns in den 90er Jahren einzurichten haben. Dem noch eher steigenden Bedarf an qualifizierten und leistungsfähigen Arbeitskräften in allen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung steht eine von Jahr zu Jahr abnehmende Zahl von Jugendlichen in den ausbildungsfähigen Jahrgängen gegenüber. 1988 gilt unter den Experten als das letzte Jahr, in dem Verwaltungen, freie Berufe und Betriebe die Chance haben, deutlich mehr als 600 000 Ausbildungsverträge abzuschließen. Der Wandel auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist unübersehbar: vom Wettbewerb der Jugendlichen um Ausbildungsplätze zum Wettbewerb der Betriebe, Praxen und Verwaltungen um Auszubildende. Wo heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können, fehlen morgen Fachkräfte. ({0}) Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurden so viele Lehrlinge so qualifiziert ausgebildet wie in den 80er Jahren. Noch nie sind einer Generation so vielfältige Möglichkeiten im Bereich unserer Ausbildung und Beschäftigung angeboten worden wie den jetzt zur Ausbildung anstehenden Jahrgängen. Und wohl noch zu keiner Zeit hat man sich in der Wirtschaft, in der Industrie ebenso wie im Handwerk, Handel und Gewerbe so intensiv darum bemüht, qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der technisch-gewerblichen Ausbildungsberufe, in denen selbst für ihre hochwertige Ausbildung bekannte Industriebetriebe die Veränderung zu spüren bekommen. Das Beispiel eines großen Chemieunternehmens - Herr Kollege Daweke, wir haben uns darüber unterhalten - zeigt, daß hier zum erstenmal seit fünf Jahren 50 Ausbildungsstellen im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich nicht besetzt werden konnten. ({1}) Noch dramatischer stellt sich die Situation im Handwerk dar, wo im letzten Jahr rund 50 000 und in diesem Jahr mehr als 80 000 angebotene Lehrstellen unbesetzt geblieben sind. Wie sich die Situation dabei zugespitzt hat, läßt sich mit den Zahlen meiner Heimatregion im Regierungsbezirk Schwaben in Bayern vom 30. September belegen: Hier standen 2 753 offenen Stellen 368 noch nicht vermittelte Bewerber gegenüber, wobei ein Großteil dieser noch nicht Vermittelten in Lehrgänge gehen wird. ({2}) In meinem Arbeitsamtsbezirk Augsburg herrscht in einigen Branchen akuter Nachwuchs- und damit auch Fachkräftemangel, so am Bau, bei den Baunebenberufen mit Relationen von 1 : 10 bis 1 : 25. ({3}) Selbst im Bereich der Kfz-Mechaniker sind 75 offene Stellen vorhanden, im Einzelhandel sind 200 Stellen nicht besetzt. Ich weiß, Frau Kollegin Odendahl, daß sich diese Zahlen aus meiner Heimatregion nicht verallgemeinern lassen. ({4}) Wir alle wissen um die nach wie vor bestehenden regionalen und sektoralen Unterschiede in der Lehrstellenbilanz. ({5}) - Herr Kollege Kastning, ich komme gleich noch auf Ihren Zwischenruf von vorhin zurück. Aber bitte, Sie wollen eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Lassen Sie die Zwischenfrage zu?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr, Herr Kollege Kastning.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie den Einzelhandel, also den Bereich der Verkäuferinnen, ansprachen: Herr Kollege Oswald, können Sie sich vorstellen, daß gerade in diesem Bereich auch Auszubildende in sehr hohem Maße gesucht werden, weil Auszubildende zugleich auch willkommene Arbeitskräfte sind?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kastning, ich kenne diesen Bereich sehr gut, da ich gelernter Einzelhandelskaufmann bin, selber eine kaufmännische Lehre gemacht habe. Ich meine, wir haben insgesamt immer erkennen können, daß eine Ausbildung sehr wohl besser ist als keine Ausbildung. Das sollten wir niemals vergessen. Daß es Fälle gibt, bei denen das, was Sie eben gesagt haben, zutrifft, wollen wir alle miteinander nicht bestreiten. Aber wir müssen uns hinsichtlich der qualifizierten Ausbildung natürlich auch über die Formen der Ausbildung unterhalten, z. B. darüber, ob jeder, der verkaufen will, auch alle Kenntnisse der Buchhaltung benötigt. Das mußten wir in diesem Zusammenhang auch miteinander besprechen. ({0})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr, Herr Kollege.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist Ihnen bekannt, daß in dem Bereich, von dem wir eben sprachen, der Anteil derjenigen besonders hoch ist, die nach Abschluß der Ausbildung nicht in das Beschäftigungsverhältnis übernommen werden, weil wieder neue Auszubildende eingestellt werden?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kastning, mir geht es vor allem darum, daß Ausbildung nach Abschluß jeweils in ein Beschäftigungsverhältnis münOswald det. In dieser Frage und in deren Beurteilung gibt es zwischen uns beiden wohl keinen Unterschied. Ich komme noch einmal auf den Punkt zurück, daß sich die Lehrstellensituation für die Jugendlichen um so besser darstellt, je besser es um die Situation der Wirtschaft und der Arbeitsplätze in den einzelnen Regionen und Bundesländern bestellt ist. Auf diese Tatsache sollten wir immer wieder hinweisen. Es wird niemals möglich sein, jeden gewünschten Ausbildungsplatz in täglich erreichbarer Nähe der elterlichen Wohnung anzubieten. Andererseits muß jedoch vermieden werden, Herr Kollege Kastning, daß strukturschwachen Regionen auf Dauer Fachkräfte in großem Umfang entzogen werden. Auch das ist ein Punkt unserer Politik. Es läßt sich feststellen, daß sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt auch für die benachteiligten Gruppen und Regionen in dem Maße verbessert, in dem Lehrlinge, bundesweit gesehen, zur Mangelware werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Bemühungen des Handwerks, Mädchen und ausländische Jugendliche als Nachwuchskräfte zu gewinnen. Alle verantwortlichen Instanzen sind auch weiterhin aufgerufen, durch alle nur denkbaren, regional differenzierten Maßnahmen zu einer Verbesserung der Situation in diesen Bereichen beizutragen. Aber auch ein Blick auf die Ausbildungssituation der Mädchen verdeutlicht doch, daß sich immer noch rund drei Viertel aller Mädchen auf rund 15 Berufe konzentrieren. Dabei könnten sie unter 355 von 385 Ausbildungsberufen wählen. ({0}) Hier ist deshalb auf allen Seiten noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Ebenso muß bei den Betroffenen eine Anpassungsbereitschaft vorhanden sein. Vielleicht sollten sich auch die Betriebe überlegen, wie sie ihre Berufe in der Öffentlichkeit attraktiv darstellen. Immer wieder ist die Ich-will-nur-noch-jobbenMentalität anzutreffen. Ihr muß durch sachgerechte Aufklärung rechtzeitig entgegengewirkt werden. Wir müssen das gemeinsam tun. ({1}) Es kann nicht deutlich und oft genug gesagt werden: Die Wirtschaft hat infolge der technischen Entwicklung künftig wesentlich geringeren Bedarf an weniger qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften. Gerade die Schwierigkeiten mit den ungelernten und nicht hinreichend qualifizierten Arbeitskräften bilden später das Hauptproblem bei der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Frau Hillerich?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Oswald, können Sie mir sagen, da Sie gerade von der vorhandenen „Nur-noch-jobben-Mentalität" gesprochen haben, in welcher Breite diese Mentalität bei den heutigen Jugendlichen vorzufinden ist und weshalb Sie sie in diesem Zusammenhang erwähnen?

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe sie erwähnt, Frau Kollegin Hillerich, weil ich der Meinung bin, daß sie da und dort in wenigen Bereichen noch anzutreffen ist. Wir sollten nicht ganz vergessen, daß einige sagen: Ich möchte keine Ausbildung machen; ich möchte nur zum schnellen Geld kommen. Gerade die Schwierigkeiten mit den ungelernten und nicht hinreichend qualifizierten Arbeitskräften bilden später, wie ich sagte, das Hauptproblem bei der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hitschler? - Bitte schön.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Oswald, ist Ihnen eine statistische Zahl darüber bekannt, wieviel ausbildungsunfähige und ausbildungsunwillige Jugendliche es gibt? ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir liegt eine solche Zahl im Augenblick nicht vor. Aber wir sollten den Minister bitten, uns zu dieser Frage etwas vorzulegen. ({0}) Für die benachteiligten und lernschwachen Jugendlichen müssen wir aber auch weiterhin über unkonventionelle Hilfen und Wegweisungen nachdenken. Die von Bundesminister Möllemann in dieser Richtung gegebenen Anregungen möchte ich nachdrücklich unterstreichen. Hier darf es auf keiner Seite unüberwindliche Tabus geben. Wenn es richtig ist, daß jede berufsqualifizierende Maßnahme besser ist als keine Ausbildung, dann muß es auch erlaubt sein, über Ausbildungsabschlüsse jenseits gewisser Normen nachzudenken. Ich erwähne hier nur das Stichwort der Anlernberufe, wie es sie im technisch-gewerblichen Bereich gibt. In diesem Zusammenhang möchte ich aus einer schriftlichen Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen, Vereinigungen und Verbände gemeinnütziger Schulen in freier Trägerschaft zitieren, die zum Fragenkatalog der Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik - Bildung 2000" angemerkt hat: „Um Abbrecherquoten zu vermeiden und eine Stigmatisierung der Abbrecher zu verhindern, empfehlen wir auch, über durch Prüfung und Zeugnis zu bescheinigende Teilfeldqualifikationen in vielen Berufen nachzudenken. " Es heißt in der Stellungnahme weiter: „Muß ein handwerklich geschickter, sorgfältig arbeitender Tapezierer unbedingt den Tapetenbedarf selbst ausrechnen können? Muß er, wenn er es nicht kann, deswegen durch die Berufsprüfung fallen und lebenslang ohne Abschluß dastehen? ({1}) Es sollten Abschlüsse auf theoretisch entfrachtetem Niveau eingeführt werden. " Ich meine, wer die Berufsnot vieler praktisch begabter, aber lernschwacher und theorieüberdrüssiger Jugendlicher sieht, muß sich diesen Überlegungen stellen. Deshalb, so meine ich, sollten auch die Tarifparteien Mittel und Wege finden, um den Jugendlichen durch angemessene Abschlüsse zu helfen, und über Teilqualifikationen nachdenken. Ich möchte aber auch daran erinnern, daß Nachwuchsmangel häufig selbst produziert wird, weil sich Betriebe in den Jahren starken Bewerberandrangs angewöhnt haben, überzogene Erwartungen an die schulische Qualifikation ihrer Bewerber zu stellen. Es ist zu begrüßen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß im Berufsbildungsbericht fortlaufend neue Aspekte und Fragestellungen aufgenommen werden und verstärkt qualitative und strukturelle Faktoren angesprochen werden. Dabei muß zukünftig gerade dem Aspekt des Zusammenhangs zwischen beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung und der Weiterentwicklung von Verbundsystemen Aufmerksamkeit geschenkt werden. Meine Damen und Herren, die Qualität der Berufsausbildung von heute bestimmt die Qualität der Produkte von morgen und entscheidet darüber, wie wir im internationalen Wettbewerb abschneiden. Hier ist das duale System in unserem Berufsbildungswesen eine ganz wichtige Säule. Ich bin überzeugt, daß dieses duale System weiterhin erfolgreich sein wird; denn in unserer gesamten Gesellschaft wird es in den kommenden Jahren darauf ankommen, weiter eine hohe Flexibilität und Mobilität zu zeigen. Den jungen Menschen müssen wir sagen: Nur Flexibilität in der Berufsorientierung, der Weiterbildungsbereitschaft sowie bei den Ansprüchen an Status und Einkommen bietet die Gewähr, sich in der immer schneller ändernden Arbeits- und Wirtschafts- und Lebenswelt zurechtzufinden und damit auch gesicherte Berufschancen zu erhalten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Zahlen vom 30. September dieses Jahres ausweisen, daß die Jahre der großen Knappheit von Ausbildungsplätzen vorbei sind, dann freuen wir uns für die jungen Menschen. Aber wir können dabei auch nicht verdrängen, daß es immer noch Regionen mit Defiziten gibt, daß es Regionen gibt, in denen von einem auswahlfähigen Angebot bei weitem noch nicht die Rede sein kann. Wir können auch nicht so jubeln, daß wir bei einem Überhang des Angebots über die Nachfrage von wenigen Prozenten schon feststellen könnten, dies sei nun die Chance, daß jeder junge Mensch nach Eignung und Neigung den Ausbildungsplatz seiner Wahl finden könne. Herr Minister Möllemann, wir hatten uns in den 70er Jahren einmal darüber verständigt, daß, wenn man von einer Auswahlfähigkeit reden wolle, das Angebot mindestens etwa 12 % über der Nachfrage liegen müsse ; dann sei regional und sektoral in etwa ein Ausgleich hergestellt. Wir können auch nicht verdrängen, daß noch immer viele Jugendliche mit ihrer Ausbildung anschließend auf dem Arbeitsmarkt wenig anfangen können. Das letztere sollte Anlaß sein, intensiver über die Qualität der Ausbildung, wie der Kollege Daweke das getan hat, und die Qualifikationen für die Zukunft nachzudenken, als es der Berufsbildungsbericht 1988 tut. Dabei leugne ich gar nicht, daß es in den letzten Jahren dank der Bemühungen der Tarifparteien und des Bundesinstituts für Berufsbildung erhebliche Fortschritte bei der Neuordnung von Ausbildungsberufen gegeben hat. In vielen Berufen war das allerdings auch allerhöchste Zeit. Nun gibt es im Zusammenhang mit der Neuordnung eine bemerkenswerte Diskussion um sogenannte Schlüsselqualifikationen, die künftig Voraussetzung für erfolgreiche berufliche Tätigkeit seien, bemerkenswert deshalb, weil viele der damit gemeinten Fähigkeiten wie Kreativität, Teamfähigkeit, Flexibilität, Systemdenken, soziale Kompetenz, Handlungskompetenz und wie die Begriffe alle heißen, nicht sehr weit von dem entfernt sind, was traditionell eher als allgemeine Bildung verstanden wurde. ({0}) Ich bin allerdings skeptisch, ob diese Art der allgemeinen Bildung in erster Linie oder gar ausschließlich in der betrieblichen Ausbildung erworben werden kann, auch wenn es in die Ausbildungsordnungen hineingeschrieben wird. Meine Damen und Herren, mir scheint deshalb eine Stärkung der Berufsschule unverzichtbar zu sein. Sie wird auch deshalb an Bedeutung gewinnen müssen, weil die Theorieanteile in den Ausbildungsordnungen zunehmen und Systemdenken vielleicht noch in der Lehrwerkstatt eines Großbetriebes, aber nicht immer im Handwerksbetrieb gelernt werden kann. Der Bundesbildungsminister sollte sich deshalb durchaus auch einmal mit den Problemen des Berufschulunterrichts, hier speziell der Teilzeitberufsschule beschäftigen. ({1}) - Da die Länder mit im Hauptausschuß des Bundesinstituts sitzen und wir hier im Zusammenhang auch über eine Vorlage des Europäischen Parlaments über schulische Möglichkeiten für Mädchen und junge Frauen diskutieren, wird es wohl möglich sein, daß sich der Bundesbildungsminister gemeinsam mit dem Parlament das Problembewußtsein verschafft und Handlungsmöglichkeiten entwickelt.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie das mit Herrn Franke abgestimmt, was Sie hier sagen?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Daweke, anders als Sie klebe ich nicht immer am Rockschoß meiner Landesregierungen. ({0}) - „Ein Glück, daß wir Herrn Möllemann haben" : So wird durch das Wechselspiel der Fraktionen, des Ministers und der Kultusministerkonferenz und der BLK auf der anderen Seite doch eine sehr interessante Szene entwickelt. Die wachsende Bedeutung der allgemeinen Bildung für die Berufsausbildung wird auch in den steigenden Zahlen von Realschulabsolventen und Abiturienten im dualen System deutlich. Offenbar ist es kein Schaden für den Lernerfolg in der betrieblichen Berufsausbildung, wenn man vorher länger weiterführende Schulen besucht hat. Das sollte auch denjenigen zu denken geben, die immer noch glauben, auf ein 10. Hauptschuljahr verzichten zu können, oder die Hauptschule mit wenig Aussicht auf Erfolg als eine besondere Form der weiterführenden Schule anpreisen. Herr Möllemann, zu Ihrer Bemerkung vorhin: Wer beweist eigentlich, daß es ökonomisch sinnvoller wäre, auch im europäischen Wettbewerb, Kinder, wie früher, schon mit 14 oder 15 Jahren ihre Ausbildung im Betrieb anfangen zu lassen? Ist nicht vielmehr die hohe Qualität unserer Facharbeiter mit einem Berufseintritt von in den letzten Jahren in der Regel 16 oder 17 Jahren, neuerdings von 18 Jahren, ein Standortvorteil, gerade weil bei uns nicht so schmalspurig und im Schnellverfahren ausgebildet wird, wie in den europäischen Partnerländern? Die Eltern wissen übrigens sehr wohl, warum sie ihre Kinder nach Möglichkeit auf Gymnasium, Realschule oder Gesamtschule schicken, um ihnen bessere Chancen auf einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu eröffnen. ({1}) - Sie haben ja keine, Sie können darüber nicht reden. Kommen Sie aus einem Land mit Gesamtschulen? - Dann sagen Sie nachher etwas mal darüber. Herr Neuhausen vertritt übrigens eine Einrichtung, in der in Niedersachsen Gesamtschulen eines besonderen Typus organisiert sind. Unterhalten Sie sich einmal mit ihm über die Vorzüge dieses Systems! ({2}) Der Bundesbildungsminister hat im Berufsbildungsbericht 1988 den Bericht der Bund-LänderKommission für Bildungsplanung vom Herbst 1987 über künftige Perspektiven von Absolventen der beruflichen Bildung im Beschäftigungssystem heruntergespielt. Der BLK-Bericht hatte auf besondere Beschäftigungsrisiken einer Reihe von Ausbildungsberufen hingewiesen. Nun gibt die Bundesregierung „zu bedenken, daß eine rein auf berufsstrukturelle Anpassung der Ausbildungs- an die Beschäftigungsstrukturen gerichtete Strategie die Jugendlichen völlig den Bedürfnissen des jeweiligen aktuellen Arbeitsmarkts unterwerfen würde". Dann heißt es weiter, damit würde „die Entscheidungsfreiheit der betroffenen Jugendlichen erheblich eingeschränkt, es wäre letztlich die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigt" . Nun will, Herr Möllemann, ja niemand die Entscheidungsfreiheit der Jugendlichen einschränken, auch wenn dies tagtäglich dort geschieht, wo Angebot und Nachfrage nach bestimmten Ausbildungsplätzen noch immer weit auseinanderklaffen. Aber ob die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigt wird, wenn weniger junge Leute Bäcker oder Bäckerinnen, Sprechstundenhelfer oder Sprechstundenhelferinnen, Frisör oder Frisörinnen, Apothekenhelfer oder Apothekenhelferinnen lernen, scheint mir doch etwas fraglich zu sein. Das duale System, das doch gerade den Vorzug der besonderen Verknüpfung von Bildungs- und Beschäftigungssystem haben soll, kann doch jetzt nicht plötzlich amtlich im Berufsbildungsbericht den Berufsbezug der Ausbildung aufkündigen und sagen: Egal, was man lernt, man kann ja später weiterlernen, wenn es nicht unmittelbar in den Beruf einmündet. Herr Daweke, ich weiß, eine Fehlerquote werden wir immer haben; planen und lenken kann man das System nie bis zum letzten. Aber etwas mehr Annäherung würde ich mir schon wünschen. ({3}) Da ist ein Schaubild ganz aufschlußreich, das sich im Teil II des Berufsbildungsberichts findet. Von einer Gruppe von Absolventen betrieblicher Berufsausbildung waren drei Jahre danach nur 52 % im erlernten Beruf tätig. Die Übereinstimmung von Ausbildungs- und Beschäftigungssystem scheint mir da doch erheblich gestört zu sein. Nur so wird erklärbar, warum trotz Mangel an Facharbeitern in vielen Betrieben immer noch einige hunderttausend ausgebildete Jugendliche ohne Arbeit sind. Diese sind ja wohl nicht alle arbeitsunwillig und faul; sonst hätten sie sich kaum einer betrieblichen Berufsausbildung unterzogen. Diese Verwerfung hat auch damit zu tun, daß in Industrie und Handel immer noch viel zuwenig ausgebildet wird, während das Handwerk nach wie vor Übersoll leistet. Das kann doch auf Dauer nicht vernünftig sein, daß in einem Sektor der Volkswirtschaft ständig über den eigenen Bedarf hinaus ausgebildet wird, während andere und viel kapitalkräftigere Sektoren sich vornehm zurückhalten. Statt weiterhin Ausbildung über Bedarf zu predigen, sollte der Bundesbildungsminister einmal ein ernstes Wort mit denjenigen reden, die glauben, sie hätten mit 4 oder 5 % Ausbildungsquote ihrer Ausbildungsverpflichtung bereits Genüge getan. Das reicht nicht, um allen jungen Menschen eine zukunftsträchtige Ausbildung zu sichern, und das reicht gesamtwirtschaftlich auch nicht, um den Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs zu decken. Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zum Kapitel „Berufliche Weiterbildung" des Berufsbildungsberichts machen: Danach hat sich die Chancenungleichheit weiter verschärft. Manager, höhere Beamte, Mitarbeiter in Großbetrieben, Männer nehmen überdurchschnittlich häufig an organisierter Weiterbildung teil. Dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande, das wir 1965 als Kunstfigur entwikkelt hatten, um darzustellen, welche Benachteiligun7040 gen zusammenkommen können und welche Gruppen der Bevölkerung im Bildungsbereich der allgemeinbildenden Schule besonders benachteiligt sind, entspricht heute die ungelernte Arbeiterin im Kleinbetrieb, was die Weiterbildung anbetrifft. Sie ist bildungspolitisch mehrfach benachteiligt. Hier gibt es erheblichen Handlungsbedarf. Wer diesen Handlungsbedarf erkannt hat, darf die Lösung der Probleme nicht in einer konzertierten Aktion vertagen. ({4}) Er darf schon gar nicht zulassen, daß die Möglichkeiten der beruflichen Bildung im Arbeitsförderungsgesetz weiter beschnitten werden, wie es jetzt mit Zustimmung von Herrn Möllemann in der neunten Novelle geplant ist. Wir sollten vielmehr für diese Gruppen der un- und angelernten Arbeitnehmer und Arbeitslosen darüber nachdenken, ob man nicht so etwas wie ein Benachteiligtenprogramm für Erwachsene entwickeln könnte, das auch sicherstellt, daß kulturelle Defizite und soziale Probleme dieses Personenkreises in Bildungsmaßnahmen mit aufgearbeitet werden können. Lassen Sie mich zusammenfassen: Erstens. Die Neuordnung der Berufe muß energischer vorangetrieben werden. Das gilt jetzt vor allem für die Büroberufe. Die Weiterentwicklung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten, der Berufsschulen und der Qualifikationen der Lehrenden muß damit zumindest Schritt halten. Zweitens. Wir sollten auch berufsbildungspolitisch begrüßen, daß immer mehr junge Leute immer länger auf weiterführende Schulen gehen. Der Bildungsminister sollte nicht zögern, dem BAföG-Beirat zu folgen und für die Sekundarstufe II wieder SchülerBAföG zu zahlen. ({5}) Drittens. Industrie und Handel müssen stärker als bisher an der Ausbildung beteiligt werden. Wenn dies nicht von allein geschieht, bleibt nur der Weg zu einer Ausbildungsplatzabgabe. ({6}) Viertens. Wir müssen schließlich aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen Möglichkeiten schaffen, allen Arbeitnehmern und Arbeitslosen die Chance zur Weiterbildung zu bieten. Die Schlußfolgerungen der Bundesregierung aus dem Berufsbildungsbericht reichen nicht aus, die Vorschläge der Koalitionsfraktionen genausowenig. Wir erwarten vom Bundesbildungsminister, daß er sich dieser Probleme annimmt, statt sich ständig selber auf die Schulter zu klopfen. Schönen Dank. ({7})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Schemken.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wäre falsch, in dieser Stunde nicht anzuerkennen, daß die quantitative Aufgabe gelöst ist. ({0}) Dies ist deshalb wichtig, um eine gezielte Akzentverschiebung auf die qualitativen Herausforderungen vorzunehmen. Da gibt es einige Gesichtspunkte oder Zielgruppen. Ich möchte sie nicht als Sondergruppen bezeichnen. Ich halte es für falsch, daß jetzt z. B. ein Sonderprogramm für Mädchen aufgelegt wird. Das ist keine Randgruppe; das ist für mich und für uns eine Zielgruppe, ({1}) ebenso wie die Aussiedler und diejenigen, die nicht den Hauptschulabschluß erreicht haben. ({2}) - Frau Hillerich, Sie melden sich gerade schon. Vielleicht können Sie die Frage mit beantworten. Warum hat sich eigentlich der dritte Ort der Bildung, nämlich vor der dualen Ausbildung, die Schule, nicht bewährt? Denn 14 bis 16 % schaffen nicht den Hauptschulabschluß. Das ist ja ein beachtenswerter Vorgang in einem Land, in dem wir auf Grundqualität und auf Grundqualifizierung angewiesen sind. Vielleicht - ich gebe Ihnen gerne die Chance zu fragen - können Sie dann auch diese Frage mit beantworten.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, ich nehme an, daß die Kollegin eine Zwischenfrage stellen und keine Zwischenantwort geben wird. Sie haben die Bereitschaft, die Zwischenfrage zuzulassen?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön; ich hatte sie ja gerade dazu aufgefordert.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. Aber meine Zwischenfrage bezieht sich auf einen Satz davor, Herr Schemken. Mir ist einfach nicht klar, wie Sie von der Lösung einer Aufgabe sprechen können, wenn die quantitativ entspannte Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt einzig und allein auf den Rückgang geburtenstarker Jahrgänge zurückzuführen ist. Wo ist da eine Aufgabe, vor allen Dingen in bildungspolitischer Hinsicht, gelöst? Das ist mir schleierhaft. Können Sie mir das beantworten?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ich Ihnen wie folgt beantworten: Aufgaben löst man immer in der Gegenwart, und man kann sich dann darauf besinnen, welche Erfahrungen man aus der Vergangenheit für die Lösung der Aufgaben in der Gegenwart einbringen kann. Wir haben erfahren, daß wir in fünf Jahren schwieriger Zeiten um die 100 000 mehr Ausbildungsstellen verfügbar hatten und damit die quantitative Frage gelöst haben. Somit ist mein Gedanke, von der quantitativen in die qualitative Ebene zu gehen, völlig logisch und richtig. Diese Aufgabe bleibt, was Bildung angeht, in dieser Dimension. Sehen Sie, Frau Hillerich, da sind wir uns vielleicht nicht einig. Ich halte es z. B. für einen herausragenden Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft ja für das Sozialste in einer Marktwirtschaft, daß die Investition Bildung einem jungen Menschen die Chance bietet, an dieser Marktwirtschaft teilzuhaben.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter Schemken, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Abgeordneten Kastning?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schemken, ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß noch nicht einmal Herr Minister Möllemann so mutig war, hier die These aufzustellen, die quantitative Frage sei gelöst? Er hat aus seiner Sachkenntnis heraus davon gesprochen, daß die Bilanz günstiger war als je zuvor. Aber er hat nicht von einer Lösung gesprochen. Ist Ihnen das auf gefallen?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man sollte nicht so früh Zwischenfragen zulassen. Ich hätte jetzt nämlich einiges zur Differenzierung gesagt.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Die Zwischenfragen lassen Sie zu, Herr Kollege.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Insofern teile ich durchaus die Auffassung des Ministers, der im übrigen in eigentlich allen Punkten Wesentliches und Wichtiges gesagt hat. Aber es bleibt dabei: Wir haben 24 900 Ausbildungsplatzsuchende in der Bundesrepublik. ({0}) Dem stehen zum 30. September 61 900 offene Stellen gegenüber. Unter der Summe von 24 900 befinden sich 14 900 Einzelschicksale von Mädchen. ({1}) Deshalb brachte ich diese Zielgruppe. Das ist die qualitative Aufgabe. Jetzt werde ich der Bedürftigkeit nachgehen. Diese Bedürftigkeit liegt nach meiner Meinung auch in den Regionen. Es ist selbstverständlich, daß es in Südbayern und Baden-Württemberg völlig anders aussieht als z. B. in Papenburg oder in Niedersachsen, obwohl ich hier sagen muß: Wir wären falsch bedient, wenn wir in dieser Stunde die schwarzen Gemälde weiter vervollständigen würden, die Sie in fünf Jahren der Vergangenheit ständig gemalt haben; ich sage das ganz bewußt. Wir sollten jetzt endlich den Jugendlichen Mut machen. Es stimmt nicht, daß die zweite Schwelle das Problem ist. Ich kann Ihnen sagen, daß sich die Lage hier nach und nach bessert. Nach einem Bericht der Bundesanstalt für Arbeit sank die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen stärker als in den Vorjahren, von Juli bis August um 31 000. Das sind 22 % weniger. Die Arbeitslosenquote dieser Gruppe lag bei 6 %; im Vorjahr waren es 7,3 %, und im Jahre 1983 waren es sogar 10 %. Sie können daran erkennen, daß die Ausbildungsplatzoffensive und die Ausbildung Früchte getragen haben und jungen Menschen Hoffnung gemacht und wirklich auch die Chance eröffnet haben, sich mit dieser Ausbildung zunehmend besser am Arbeitsmarkt zu bewähren. Bei den fast 60 % von den insgesamt 2 Millionen Arbeitslosen ist dies nicht der Fall, sie sind ohne Ausbildung. Dies ist eben bei den jungen Menschen mittlerweile anders. Das müssen wir doch registrieren, und deshalb müssen wir den jungen Menschen Mut machen und hier nicht ständig dramatische Vorgänge inszenieren. ({2}) - Bitte schön, Frau Hillerich.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schemken, da Sie gerade von der Jugendarbeitslosigkeit sprechen, auf die auch ich vorhin Bezug genommen habe, frage ich Sie: Können Sie mir sagen, ob Ihre Zahlen die 20- bis 25jährigen einbeziehen? Ich möchte Ihnen sagen, warum ich diese Frage stelle: weil in dieser Altersgruppe das Problem der zweiten Schwelle deutlich wird; aber es wird eigentlich auch noch danach deutlich. Können Sie mir darüber bitte Auskunft geben?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Bericht der Bundesanstalt für Arbeit hat dies nicht ausdrücklich ausgewiesen. Wenn Sie bessere Zahlen haben, können Sie mir das sagen. Es geht hier um die Jugendlichen insgesamt. Es geht vor allen Dingen um diejenigen, die nach der Ausbildung vermittelt werden sollen. Dies ist der Titel in diesem Bericht. ({0}) - Hier geht es um diejenigen, die an der zweiten Schwelle stehen und eine größere Chance erhalten, als das noch 1983 und auch noch im vergangenen Jahr der Fall war. Hier geht es ja gar nicht um unterschiedliche Koalitionen, sondern hier geht es um diese Frage, die sich am Arbeitsmarkt so darstellt. Ich begrüße im übrigen - das muß ich Ihnen sagen - Ziffer 8 des Antrages der SPD. Ich begrüße es sehr, daß Sie eine Umstrukturierung der Arbeitsverwaltung fordern. Auch dies ist eine Herausforderung in bezug auf diese qualitative Aufgabe, die hier vor uns steht. Das ist eindeutig. Wir müssen im 8. Schuljahr beginnen, die Mädchen auf den richtigen Berufsweg vorzubereiten, und nicht mit drei Stunden irgendwann im 9. Schuljahr. Es gibt hier große Chancen. Das Ungleichgewicht, welches darin besteht, daß wir mehr Stellen verfügbar haben und Mädchen zu einem höheren Anteil nicht vermittelt werden können, macht das doch deutlich. Das zeigt, daß Berufsberatung in Zukunft in einer völlig anderen Art durchgeführt werden muß, als das in der Vergangenheit noch der Fall war. Wir begrüßen sehr die Initiative des Ministers im Hinblick auf die überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Wir sind der Meinung, daß überbetriebliche Ausbildungsstätten, obwohl sie in der Vergangenheit nachdrücklich helfen mußten, auch den Verwerfungen in den Regionen zu begegnen, auch in Zukunft im Hinblick auf die fortschreitende Entwicklung auf dem Gebiet der Technologie eine wichtige Lernstätte sind; ich sage allerdings: im dualen System. Wir begrüßen auch sehr, daß in diesen Werkstätten in der Vergan7042 genheit auch die Frage der geburtenstarken Jahrgänge geregelt werden konnte. Wir möchten aber hier mit Nachdruck klarstellen - das sage ich auch ganz deutlich -, daß die Reinvestierung, wie sie hier mit 300 Millionen DM vorgesehen ist, und zwar in den Jahresraten, Herr Minister, die Sie auch vorgeschlagen haben, sicherlich Komplementärmittel erforderlich macht. Dazu muß ich sagen: Die Wirtschaft soll jetzt, wenn sie in der Vergangenheit die hohe Zahl der Ausbildungswilligen untergebracht hat, auch einmal imstande sein, dieser qualitativen Aufgabe nachzugehen. Ich meine den Eigenanteil. Ich meine aber auch - da hat Herr Minister völlig recht - , daß die Verpflichtung der Länder besteht, diese Komplementärmittel zur Verfügung zu stellen. Ich glaube, dann können wir diese Kraftanstrengung auch gemeinsam vollbringen, und wir werden im Hinblick auf die fortschreitenden Anforderungen auch erfolgreich sein. 60 % der Arbeitnehmer, der Beschäftigten kommen aus diesen Einrichtungen des Handwerks. Ich muß auch noch einmal ausdrücklich sagen: Wir sind den Ausbildern dankbar, die in einer schwierigen Lage angesichts einer großen Zahl von Auszubildenden Hervorragendes geleistet haben, den Betrieben und den Ausbildern. ({1}) Ich beziehe auch die Betriebsräte mit ein, die mit angefaßt haben, als es darum ging, den jungen Menschen Zuversicht zu vermitteln, indem Ausbildungsplätze über den Bedarf hinaus bereitgestellt wurden. Und machen wir uns doch nichts vor: Wenn ich über den Bedarf hinaus ausbilde - und das wollten wir alle - , dann müssen wir auch einen Moment einmal darüber nachdenken, daß die zweite Schwelle eben Schwierigkeiten bereitet. Das müssen wir doch ehrlich sagen; sonst sind wir nicht aufrichtig. Wir können dann doch nicht, wie Sie, Frau Hillerich, es tun, sagen - ich will es einmal in meine Worte umsetzen - : Das ist der Kapitalismus, und der nutzt die Auszubildenden aus. Das ist doch wohl nicht richtig! ({2}) Das ist eine völlig verkehrte Blickrichtung. Wir haben sie doch alle angehalten, das Handwerk, den Handel, die Kaufmannschaft und die Wirtschaft. Sie haben doch geholfen! Das sind fünfmal 100 000 Einzelschicksale gewesen. Das ist doch wirklich eine Leistung gewesen, die gemeinsam vollbracht wurde. Machen wir uns doch hier nichts vor! Herzlichen Dank noch einmal denen, die mitgeholfen haben! ({3}) Eines bereitet uns große Sorge, und darüber müssen wir uns in nächster Zeit sicherlich einmal grundsätzlich unterhalten. Ich meine die Frage, wie weit das Weiterbildungsbedürfnis in die Mentalität der Bevölkerung eingeht und wie wir dahin kommen, daß die Betroffenen diesem Bedürfnis starker Rechnung tragen. Es ist noch nicht erkannt: Mit drei Jahren Ausbildung für 40 Jahre Beruf ist heute nichts mehr zu bewegen. ({4}) Ich sage das noch einmal ganz deutlich: Deshalb ist eine überzogen lange Ausbildung nicht der richtige Weg. Wir müssen Grundlagen schaffen und darauf ein lebenslanges Lernen aufbauen. ({5}) Wenn nur 20 % - es sind sogar nur 17,1 % - in den beruflichen Ausbildungseinrichtungen für Weiterbildung verfügbar sind, ist das doch, wenn ich den Arbeitsmarkt sehe, ein Manko. Ich habe soeben darauf hingewiesen, daß bis zu 60 % der Arbeitslosen nicht qualifiziert sind. Hier muß nachqualifiziert werden. ({6}) Denn das Beispiel der jungen Menschen - ich komme noch einmal darauf zurück - zeigt doch, daß sich der, der qualifiziert ist, besser in den Arbeitsmarkt einfügen kann. ({7}) - Herr Kastning, Sie wissen sehr wohl, daß die Kapazitäten fast überausgeschöpft sind. ({8}) - Frau Odendahl, ich will nur einige Zahlen nennen: An ABM-Maßnahmen gab es zu Ihrer Zeit 20 000, heute gibt es 124 000. ({9}) Ich nenne die Maßnahmen der Fortbildung und Qualifizierung; bis zu 600 000. Zu Ihrer Zeit waren es knapp über 5 Milliarden DM, heute sind es 14,4 Milliarden DM in diesen Maßnahmen ({10}) der Solidargemeinschaft der Bundesanstalt für Arbeit. Das wollen wir, das haben wir getan, und dazu tut der Bund im nächsten Jahr im übrigen 3,3 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt dazu. Hier ducken wir nicht ab, sondern pfeifen in der Tat auch, wenn wir den Mund spitzen. Eines möchte ich abschließend sagen. Wir werden auch gemeinsam darüber reden müssen, ob nicht jetzt die Wirtschaft animiert werden muß, diesem Weiterbildungsbedarf noch nachdrücklicher nachzukommen, als es bisher der Fall war. ({11}) Bisher war sie mit der quantitativen Aufgabe beschäftigt, mit den hohen Zahlen der Auszubildenden. Frau Hillerich, damit Sie wissen, wie ich es meine, sage ich noch einmal: Jetzt hat die qualitative Aufgabe die gleiche Dimension, und sie hat vielleicht sogar eine höhere Priorität, als es in der Vergangenheit bei den Zahlen der Fall war. Wir müssen qualifizieren, denn der, der den Einstieg erfährt, wird sicher sein, daß er nicht der Langzeitarbeitslose von morgen ist. Es geht uns um das Einzelschicksal, nicht um die große Zahl. Wenn wir viele Einzelschicksale regeln, regeln wir auch die große Zahl. Schönen Dank. ({12})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß ich ein zweites Mal Ihre Aufmerksamkeit habe. ({0}) - Ich freue mich jedenfalls. In der von allen übrigen Parteien angestimmten Euphorie über die angebliche Bewährung des dualen Systems - hier und da nicht so laut angestimmt - und der überbetrieblichen Ausbildungsstätten als unverzichtbarer und mit Steuermitteln zu fördernder Ergänzung seiner Ausbildungsleistungen stellen die GRÜNEN im Bundestag einen Antrag, der eine andere Verwendung der vorgesehenen Fördermittel vorsieht, nämlich für die Kooperation der Lernorte in der über- und außerbetrieblichen Berufsbildung beim Lernen mit neuen Technologien. Er ist von Ihnen, Herr Möllemann, offensichtlich falsch verstanden worden. Wir sehen in der Förderkonzeption und -praxis für überbetriebliche Ausbildungsstätten weniger eine den strukturellen Mängeln der dualen Berufsausbildung sinnvoll entgegenwirkende bildungspolitische Maßnahme; wir sehen darin in erster Linie eine bildungspolitisch verbrämte Subventionierung der Klein- und Mittelbetriebe, indem versucht wird, deren Qualifikationsdefizite im Hinblick auf die betriebliche Akzeptanz und Anwendung von neuen Technologien kostengünstig auszugleichen. Ein weiterer Subventionseffekt ergibt sich durch die öffentlich geförderte Ausstattung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten mit CNC-Maschinen, Industrierobotern und sonstiger moderner Technologie, wie wir sie kürzlich bewundern durften. Das ist ein lukrativer Absatzmarkt für die in dieser Branche tätigen Großunternehmen. Mit den überbetrieblichen Ausbildungsstätten ist ein dritter Lernort neben Betrieb und Berufsschule entstanden. Er wird im übrigen auch von Großbetrieben - wenn auch von einem wesentlich kleineren Anteil - genutzt. Zwar sind dort die Auszubildenden der Fuchtel der Handwerksmeister entzogen, ({1}) aber von seiten der Industrie hört man warnende Stimmen gegenüber einer in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten stattfindenden Pädagogisierung der betrieblichen Ausbildung. Uns ist die Pädagogisierung der betrieblichen Ausbildung ein dringendes bildungspolitisches Anliegen. Beschränkt auf überbetriebliche Ausbildungsstätten, bleibt sie allerdings sehr randständig und insofern unzureichend.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn sie mir nicht angerechnet wird, ja.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Ich rechne Zwischenfragen grundsätzlich nie an.

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hillerich, eingedenk Ihrer Wortwahl: Kann es sein, daß Sie, die Sie die Schule verlassen haben, danach zur Hochschule und als Lehrerin wieder zur Schule gegangen sind, die Worte, die Sie über den Betrieb wählen, so wählen, weil Sie einen Betrieb noch nie von innen gesehen haben?

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte das, was ich gesagt habe, nicht in Beziehung zu meiner eigenen Lebenserfahrung setzen. ({0}) Ich habe Betriebe durchaus schon von innen gesehen. ({1}) - Was wissen Sie eigentlich von mir? Was nehmen Sie sich eigentlich heraus, Herr Daweke, so etwas zu sagen. Das ist eine Unverschämtheit! ({2}) Was die möglicherweise in überbetrieblichen Ausbildungsstätten stattfindende Pädagogisierung für die Entwicklung personaler Kompetenzen an möglichen förderlichen Wirkungen einbringen kann, wird dadurch wieder abgebaut, daß sie als dritter Lernort die schon vorhandene Zerrissenheit in der Berufsausbildung zwischen Betrieb und Berufsschule, die auf Grund mangelnder organisatorischer und pädagogischer Abstimmung existiert, zusätzlich verschärft. Das ist der Grund, weshalb wir eine aufeinander abgestimmte und gleichberechtigte Kooperation der Lernorte und ihrer jeweiligen Träger fordern. Wir wollen die verschiedenen Lernorte durchaus erhalten; aber wir fordern eine gleichberechtigte Kooperation. ({3}) Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit dieser Kooperation liegt vor allem in der Aufgabe, die den überbetrieblichen Ausbildungsstätten bisher vordringlich zugewiesen war und in Zukunft zugewiesen wird. „Lehrlingsunterweisung zur Anpassung an den technischen Fortschritt" heißt die in der Konzeption der Bundesregierung erwähnte Aufgabe für überbetriebliche Ausbildungsstätten aus Sicht des Bundesministers für Wirtschaft. Die bündige Sprache der Ökonomie sagt, worum es in der beruflichen Ausbildung nach wie vor geht, nämlich um die Anpassung an vorgegebene Arbeits7044 organisation und Arbeitstechnik. Flexibilität bedeutet hier nichts anderes als ebenfalls Anpassung an vorgegebene durch technologische Modernisierungen bedingte Veränderungen. Auch wir halten den Einbezug neuer Technologien in die berufliche Bildung für notwendig, um auf technologische Veränderungen in der Erwerbsarbeit angemessen vorzubereiten. Im Unterschied zu denen, die - auch in der Bildungspolitik - um das goldene Kalb der internationalen Konkurrenzfähigkeit herumtanzen, ist für uns technologische Modernisierung kein Wert an sich. Sie bringt weitreichende Veränderungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen, gerade in sozialer, psychischer und physischer Hinsicht. Sie ist mehr und mehr mit stofflichen Veränderungen verbunden. Die Chemisierung und Synthetisierung der stofflichen Grundlagen der industriellen Produktion schreiten voran, ein ökologisch äußerst bedenklicher und in seinen Risiken bei weitem noch nicht einschätzbarer Prozeß. Andererseits bewirkt die Computerisierung der Arbeitsabläufe in allen Branchen auch eine sinnliche Entleerung. Die sinnliche Wahrnehmung von Materialeigenschaften, von Größe, Form und Zusammensetzung der bearbeiteten Gegenstände geht verloren, wird durch Abstraktes, durch Formeln auf dem Bildschirm, ersetzt. Auch hierin sehen wir ein Problem für das Einführen ökologischer Verantwortung in allen Arbeitsprozessen und -abläufen. Angesichts der weitreichenden Folgen und Risiken technologischer Modernisierung müssen das Wissen und die Kompetenz, die für die Arbeit mit neuen Techniken nötig sind, erweitert werden, weit über deren betriebsfunktionale Handhabung hinaus. Ökologische und soziale Folgen und Risiken dürfen nicht erst nachträglich und damit in der Regel zu spät oder nur als fortgesetzte Reparaturmaßnahme berücksichtigt werden. Das muß im Technikeinsatz selbst geschehen. Deswegen müssen neue Techniken als gestaltbar erfahren werden, bzw. die Auszubildenden und Beschäftigten müssen sich selber als Gestaltende von Technik erfahren und erproben. Nur so kann soziale und ökologische Verantwortung wirksamer Bestandteil und Faktor in der technischen Entwicklung und Veränderung der Erwerbsarbeit werden. Ich habe hiermit das Ziel dessen umrissen, was in unserem Antrag als Lernen respektive Arbeiten mit neuen Technologien im Sinne einer ökologisch und sozial verantwortlichen Technikgestaltung bezeichnet wird. ({4}) Dies als Lernkonzept zu entwickeln und umzusetzen halten wir, auch wenn es angesichts der vorherrschenden Ausbildungspraxis utopisch anmutet, ab sofort für unerläßlich. Dies zu ermöglichen ist daher eine zentrale bildungspolitische Aufgabe. Sie kann nur in einem integrierten Lernkonzept sinnvoll gelöst werden, welches inhaltlich praktisches, theoretisches und allgemeinbildendes Lernen zusammenführt und dies im Hinblick auf Lernorte, Lerngruppen einschließlich Lehrer und Ausbilder, Praxis und Theorie, fachliche und persönlichkeitsentwickelnde Anteile auch organisatorisch umsetzt. Integration heißt Ganzheitlichkeit von Lernprozessen und Kontinuität von personellen und inhaltlichen Bezügen, heißt auch gemeinsames Lernen von sogenannten Benachteiligten und anderen Auszubildenden, heißt auch gemeinsames Lehren von Ausbildern, Berufsschullehrern und Sozialpädagogen in Teams. In unserem Vorschlag, ein solches integratives Konzept in einer Kooperation der Lernorte Berufsschulen, überbetriebliche Ausbildungsstätten und außerbetriebliche Ausbildungsinitiativen bei gleichberechtigter Mitwirkung ihrer jeweiligen Träger umzusetzen, wollen wir auch der bisher stattfindenden Diskriminierung von Berufsschulen und außerbetrieblichen Ausbildungsinitiativen als Lernorte entgegenwirken. Diskriminiert wird die Berufsschule nicht nur durch ihre miserable personelle Ausstattung, die im übrigen dazu führt, daß sie durch den hohen Ausfall von Deutsch- und sozialkundlichem Unterricht ihrer allgemeinbildenden Aufgabe kaum nachkommen kann. Diskriminiert wird sie insbesondere durch ihre faktische Degradierung zum fachtheoretischen Anhängsel der betrieblichen Ausbildung. Diskriminiert werden außerbetriebliche Ausbildungsstätten und -initiativen durch Vorurteile gegenüber der Qualität ihrer Ausbildung, die sich massiv auswirken bei den Schwierigkeiten der dort Ausgebildeten, in ausbildungsangemessene Beschäftigung übernommen zu werden. Diese Diskriminierungen aufzuheben und die spezifischen und wertvollen Beiträge von Berufsschulen und außerbetrieblichen Ausbildungsinitiativen ({5}) - nein, meine - in gleichberechtigter Kooperation mit übertrieblichen Ausbildungsstätten aufzunehmen, ist auch ein Gebot der Chancengleichheit. Kurz zu den Regionalfonds. Diese dienen dazu, die Mittelvergabe zu organisieren und insbesondere vorher den Abstimmungsprozeß auf regionaler und kommunaler Ebene im Hinblick auf Beschäftigungssituation und -struktur und künftigen Qualifikationsbedarf als Orientierung für politische Entscheidungen vorzunehmen. Selbstverständlich brauchen wir hier Kooperation und Abstimmung mit Einrichtungen regionaler Wirtschaftsförderung und Arbeitsmarktpolitik. Unseres Erachtens soll dies ein Beitrag für die demokratische Stärkung der regionalen Ebene sein, um die dort vorhandene Betroffenheit und Kompetenz im Hinblick auf infrastrukturelle Belange der regionalen Wirtschaftsstruktur und Arbeitsmarktpolitik politisch wirksam zu machen. Ich habe leider keine Zeit mehr für den Antrag betreffend Chancengleichheit, aber ich hoffe, wir werden hier öfter Gelegenheit haben, dieses Thema konzentriert zu diskutieren. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Herr Präsident! Ich möchte in der knappen Zeit gern auf einige Fragen kurz eingehen, die an mich gerichtet worden sind. Erstens. Wir haben zum Stichtag 62 000 unbesetzte Ausbildungsplätze und 25 000 gemeldete unvermittelte Lehrstellenbewerber gehabt. Wir hatten im letzten Jahr zum gleichen Zeitpunkt 33 900 Lehrstellensuchende. Am Ende des Jahres - das erwähne ich jetzt, weil es wichtig ist, daß der Prozeß weitergeht - hatten wir noch ganze 1 700 unvermittelte Bewerber, ({0}) Das heißt, es spricht alles dafür, Herr Kastning, daß wir am Ende dieses Jahres wohl keinen Bewerber mehr haben werden, der keine Lehrstelle bekommen hat. Daß es trotzdem Probleme regionaler und struktureller Art und vor allen Dingen derart gibt, daß von diesen jungen Menschen nicht jeder den Beruf seiner eigentlichen Wahl bekommen hat, kann ja keiner leugnen; manch einer hat einen Ausbildungsplatz genommen, den er - hätte er Wahlfreiheit - sonst vielleicht nicht genommen hätte. Deswegen ist es richtig - ({1}) - Ich habe zu wenig Zeit, es sei denn, die Frage wird nicht angerechnet.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ja, bitte.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich wollte Sie nur fragen: Sie kennen doch sicher das Problem, daß es auch nicht gemeldete junge Menschen, zum Teil auch, ich sage einmal: Altwarter gibt, die gerne noch eine Ausbildung machen würden.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ich kann mich nur mit den gemeldeten Zahlen beschäftigen. ({0}) - Nein, das tue ich nicht. Mir sind die nicht gemeldeten Lehrstellen genauso wenig bekannt - schließlich gehen nicht alle Vermittlungen übers Arbeitsamt - wie die noch nicht gemeldeten Ausbildungsplatzbewerber. Also, regionale Strukturpolitik ist notwendig. Nur es bleibt dabei: Sie können nicht, je spezieller die Berufswünsche sind, jeden Ausbildungsplatz in jede Region bringen. Daran hat man sich aber in bestimmten Berufen wie selbstverständlich gewöhnt. Wenn jemand Fernsehjournalist werden will, weiß er ganz genau: Er muß in die Städte gehen, wo Fernsehstudios sind. ({1}) - Das ist kein irgendwie negativ besetzter Beruf. Und so gibt es viele von dieser Art. ({2}) Wir haben vorhin davon gesprochen, meine Kolleginnen und Kollegen: mehr als die Hälfte der Lehrlinge sind bei Beginn ihrer Lehre älter als 18, 19 Jahre. Von Studenten in diesem Alter erwartet man wie selbstverständlich, daß sie an einen Universitätsort gehen, ohne daß sie deswegen sozialen Problemen unterliegen. Ich fand es schön, als ich mit 19 Jahren von zu Hause in eine Universitätsstadt gehen konnte. Warum soll ein 19jähriger Lehrling das so furchtbar negativ empfinden? ({3}) Sie argumentieren ein bißchen so, als seien das noch die 15-, 16jährigen. ({4}) Zweiter Punkt. Wir bereiten ein Sonderprogramm „Frauen in gewerblich-technischen Berufen" vor. Wir haben darüber gesprochen. Das soll allerdings nicht die Schaffung von Plätzen beinhalten, sondern ein Informationssystem, das auf beiden Seiten, bei den Arbeitgebern wie bei den Frauen und Mädchen, zu Verhaltensänderungen führen kann. Dritter Punkt. Ich teile ausdrücklich Ihre Auffassung, daß die Inhalte der neuen Ausbildungsordnungen, der neu geordneten Ausbildungsberufe ihren Niederschlag in den Prüfungen finden müssen. Aber das kann natürlich erst dann geschehen, wenn die solchermaßen neu Ausgebildeten ihre Ausbildung beendet haben werden. Vierter Punkt: Anerkennungsphilosophie in der EG. Ich teile Herrn Dawekes Auffassung, daß wir von der totalen Harmonisierung, der Gleichstellerei herunterkommen müssen. Wir müssen mehr zum Vertrauensprinzip übergehen. Das, was zur Ausübung eines bestimmten Berufes in dem einen Land reicht, sollte prinzipiell, wenn nicht gravierende Abweichungen bestehen, auch im anderen Land reichen. Im akademischen Bereich haben wir das jetzt gerade geregelt. Es wird sicherlich im Sicherheitsbereich besondere Probleme geben, aber im allgemeinen Berufsbereich nicht. Fünfter Punkt. Meisterbrief/großer Befähigungsnachweis steht weder unter dem Stichtwort Deregulierung noch unter dem Stichwort EG zur Disposition. ({5}) Sechster Punkt: überbetriebliche Ausbildungsstätten. Herr Rixe, Sie hatten von einem Antragsvolumen von 270 Millionen - glaube ich - gesprochen. Das ist aber nicht auf das kommende Jahr bezogen, sondern alle Anträge zusammengefügt erreichen dieses Volumen. Das können Sie nie in einem Jahr abwikkeln. Das haben Sie auch früher nicht gemacht. Deswegen sind die 300 Millionen DM, die wir bekommen haben, eine gute Grundlage. ({6}) Sie wissen ja, daß ich einen etwas höheren Betrag verlangt und versucht hatte zu bekommen. Das war nicht möglich. ({7}) - Bei den Betriebskosten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die prinzipielle Position, die wir ordnungspolitisch haben, ist: Die Berufsausbildung erfolgt im Betrieb und die überbetrieblichen Ausbildungsstätten ergänzen das Lernen im Betrieb, also ist auch das Sache der Wirtschaft. Sie muß auch hier für die Kosten aufkommen. Wir unterstützen im Wege des Subsidiaritätsprinzips im Augenblick ihre Anstrengungen. Aber eine Dauersubventionierung - hier bin ich fast geneigt, ({8}) der Position der Kollegin Hillerich zu folgen - können wir nicht vornehmen. ({9}) - Nein. Herr Rixe, es gibt einen Punkt, wo wir etwas ändern müssen. Da bin ich noch nicht so weit, wie ich das gerne möchte. Ich glaube, daß in der Tat die Funktion der Einrichtungen für den Komplex Weiterbildung noch nicht hinreichend erkannt worden ist. Das kann man nicht allein - das ist auch meine Auffassung - der Wirtschaft zurechnen. Das wird eine Gemeinschaftsanstrengung sein müssen. ({10}) Siebter Punkt. Zu dem Thema, ich sollte mich um Berufsschulen und duale Berufsausbildung kümmern, Herr Kuhlwein: Das verlangt eine Art fruchtbaren Dualismus zwischen Ländern und Bundesminister. ({11}) Ich versuche das. Wenn ich Ihre Unterstützung dabei habe, ist das um so besser. Ich fand es nicht in Ordnung, wie Sie den Kollegen Hitschler angesprochen haben. Er hat das sagen wollen, was auch ich vorhin angesprochen habe - das können Sie in einem Zwischenruf nie so tun, wie wenn Sie hier vorne stehen - : Was machen wir mit jenen Jugendlichen, die angesichts immer komplizierter werdender Ausbildungsinhalte - tendenziell werden die Ausbildungsordnungen immer schwieriger - bei allen Förderungsmaßnahmen die Ausbildung nicht mehr schaffen? Sollen wir denen einfach sagen: Ihr seid gescheitert? Oder müssen wir denen nicht Möglichkeiten geben, sich auch zu verwirklichen und etwas zu werden? So war das gemeint. ({12}) - Das ist hervorragend. Achter Punkt: Gesamtschulen und deren hervorragende Würdigung. Ich überlasse das getrost den Eltern, Herr Kollege Kuhlwein. Ich wundere mich nur darüber, daß so viele SPD-Politiker ihre eigenen Kinder auch dann nicht auf Gesamtschulen schicken, wenn sie das tun könnten. Ich frage mich immer, was dafür der Hintergrund sein könnte. ({13}) Vorletzter Punkt: BAföG. Ich werde Ihnen die politischen Schlußfolgerungen aus dem Beiratsbericht im ersten Halbjahr des kommenden Jahres vorlegen. ({14}) - Nein, das geht nicht schneller. Sie wissen genau, Frau Odendahl, das Inkrafttreten ist erst zum 1. Juli 1990 erreichbar; so sind die gesetzlichen Bestimmungen. Sie wissen, hierüber muß mit den Ländern geredet werden. Das ist ein hochinteressantes Datum. Dem sollten Sie mit Interesse entgegensehen. ({15}) - Das ist ein BaföG-Datum. Schließlich: Ich habe, Frau Hillerich, jetzt mehrfach gehört, daß Sie von Schlüsselqualifikationen gesprochen haben, die auch bei handwerklichen Berufen dringend erforderlich seien. Ich stimme da ausdrücklich zu. Das sind Qualifikationen, die in allen Ausbildungsbereichen vermittelt werden sollen. Aber ich möchte dem Eindruck entgegenwirken, als sei es nicht zuallererst die Aufgabe einer handwerklichen Ausbildung, den Leuten das Handwerk beizubringen. Wenn in meiner Wohnung der Wasserhahn tropft, erwarte ich nicht, daß der Geselle des Handwerksmeisters kommt und mich über die umweltpolitischen Spätfolgen des Wassertropfens aufklärt, sondern ich erwarte, daß er das abstellt und den Wasserhahn repariert. Die Leute müssen auf den Beruf vorbereitet werden. ({16}) Sie sollen dabei auch alle anderen Kompetenzen erwerben. Aber Sie sollten nicht hier eine Überhöhung und damit eine Geringschätzung handwerklicher Kompetenz vornehmen. Das drückt sich nämlich in dem aus, was Sie hier vorgetragen haben. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat den Bereich der beruflichen Bildung von vielen Seiten beleuchtet. Da waren sogar ein paar philosophische - also Höhenflüge waren es nicht - , sagen wir, Tiefflüge dabei. Ich möchte noch einmal die Erwartungen und Forderungen der SPD an die Politik der BundesFrau Odendahl regierung im Bereich der beruflichen Bildung zusammenfassen. Schon in der Debatte um den Bildungshaushalt haben wir danach gefragt, ob die gegenwärtigen Bildungsziele, Bildungsinhalte und die Strukturen ihrer Vermittlung ausreichen, um den Erfordernissen der Gesellschaft gerecht zu werden. Gerade in der beruflichen Bildung zeigt sich die Politik der Bundesregierung als sehr restriktiv. Die Aussichten unserer Jugend auf eine zukunftsorientierte Berufsausbildung und auf einen Arbeitsplatz sind nach wie vor nicht rosig. Deshalb waren wir sehr dankbar, Herr Möllemann, daß Sie nicht versucht haben, alles in eine Erfolgsbilanz umzufrisieren. Dies machen der Berufsbildungsbericht 1988 und die neuesten Zahlen deutlich. Auch wenn Sie mit aller Eindringlichkeit noch einmal diese positiven Zahlen beschwören, eine Gruppe ist eben nicht enthalten. Die wird auch hier immer dezent verschwiegen. Das ist nämlich die der Abbrecher, die eben auch auf Grund ungenügender Beratung in die falsche Ausbildung kommen und dann irgendwo wegsacken. Sie sacken nur dann nicht weg, wenn sie sich erneut beraten lassen. Wenn ihnen aber der erste Schock schon so einen Schlag versetzt hat, sind sie wirklich weg. Das Bundesinstitut für Berufsbildung, dem ich an dieser Stelle für die ausgezeichnete Analyse danken möchte, ({0}) weist sowohl auf die festzustellenden Ursachen für diese heutige Ausbildungssituation wie auch auf Maßnahmen zur Verbesserung der Zukunftsaussichten der Jugendlichen hin. Die Analyse zeigt, daß das BIBB seine Funktion in der beruflichen Bildung in bewährter Weise erfüllt. In der Bundesrepublik hat sich die Ausbildung im dualen System bewährt. Allerdings ist festzustellen, daß die Industrie, vor allem die Großindustrie, weit unter Bedarf ausbildet, ({1}) die Ansprüche an die Vorbildung der Auszubildenden dagegen ständig höherschraubt und deshalb Ausbildungsplätze unbesetzt läßt, gleichzeitig aber den Mangel an Facharbeiternachwuchs beklagt. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Beispielen namentlich aufführen. Da geht die Palette von Hoechst bis Daimler-Benz. Sie überläßt die Ausbildungsverpflichtung der Wirtschaft zum großen Teil dem Handwerk, das über Bedarf ausbildet und damit unter großen Anstrengungen auch den Facharbeiternachwuchs für die Industrie sicherstellt. ({2}) - Also, wenn wir jetzt Reklame für einzelne Regionen machen, Herr Kollege Oswald, kann auch ich einige Reklame für Baden-Württemberg und die Region mittlerer Neckar machen. Die Überschriften kenne ich. Aber weil dort die Vorgaben durch die Wirtschaft eben ganz anders sind als in anderen Ländern mit anderen Strukturen, kann ich Ihnen auch heute schon eine sichere Prognose stellen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich diesen Satz zu Ende geführt habe und die Zeit dafür nicht auf meine Redezeit angerechnet wird. Ich kann auch heute für den Bereich des mittleren Neckarraums eine sichere Prognose stellen, nämlich die Zunahme an Umschulung wegen bereits vorhandener Fehlqualifizierung. ({0})

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Odendahl, ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie einerseits darauf hinweisen, daß das Handwerk, der Handel und die Klein-und Mittelbetriebe über ihren Bedarf hinaus ausgebildet haben und sich dann allerdings das Problem der zweiten Schwelle stellt, und andererseits sagen: Wir werfen den Großen vor, daß sie immer nur so viel ausbilden, wie sie tatsächlich brauchen. ({0})

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben mir nicht zugehört, Herr Daweke. Ich habe ausgeführt, daß die Großen überhaupt nicht das ausbilden, was sie wirklich brauchen. ({0}) - Herr Daweke, Sie haben nicht zugehört. Sie kriegen nachher meine Rede gedruckt; dann können Sie es nochmal verinnerlichen. ({1}) Nun machen wir mal weiter. Jetzt kommen wir wieder auf die Handwerks-, Klein- und Mittelbetriebe. Viele von ihnen können einen zukunftsorientierten Ausbildungsstandard nur über überbetriebliche Ausbildungsstätten erreichen. Mit unserem Antrag zur Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten wollten wir dem Bildungsminister auf die Sprünge helfen, endlich ein Konzept zur Sicherung der Zukunft dieser Bildungsstätten vorzulegen. ({2}) Nach mehrmaligem Mahnen legt er nun seine - Herr Möllemann, das muß ich sagen - eher dürftige Konzeption heute auch vor. Sie haben auch vorher darauf hingewiesen: Da muß man nachbessern; die Weiterbildung usw. sei noch nicht drin. Ihr Konzept hat zwei ganz entscheidende Mängel. Erstens hält es starr an den im Jahr 1975 ermittelten Bedarfsdaten fest, obwohl wir gegenwärtig bei den Universitäten eine Lektion erhalten, wie unzuverlässig Daten und Prognosen im Bildungsbereich sein können. Zweitens senkt der Bund seinen Finanzierungsanteil und gefährdet so den Bestand und die Vielfalt zukunftsorientierter und überbetrieblicher Aus- und Weiterbildungsangebote. Ihr System hat ja durchaus Methode: Die Verantwortung des Bundes geben Sie überall da preis, wo es sich um das Bezahlen handelt. Deshalb haben Sie auch den Bundesanteil verändert. Auch der Berufsbildungsbericht 1988 belegt, daß Mädchen und junge Frauen nach wie vor weitaus geringere Chancen ha7048 ben. Ich bedanke mich insbesondere bei allen Kollegen dafür, wie sehr sie das angesprochen haben. Eine zukunftsorientierte und qualifizierte Ausbildung ist für sie noch schwer zu bekommen. Das zeigt auch der hohe Anteil der nach der Ausbildung arbeitslosen Frauen. Die erfassen Sie wiederum nicht in der Statistik für Jugendarbeitslosigkeit, denn die sind in der Tat dann 22 bis 25 Jahre alt, weil sie auch als Frauen, als Mädchen später einen Ausbildungsplatz bekommen haben. Trotzdem halten Sie Sonderprogramme zur Ausbildung junger Frauen in gewerblich-technischen Berufen für überflüssig. Trotzdem gibt es kein zielgerichtetes Sonderprogramm, damit auch die seit vielen Jahren leer Ausgegangenen endlich eine gute Ausbildung bekommen können. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Möllemann, verstehen Sie unter „Sonderprogramm" eine zusätzliche Informationsbroschüre. Das haben wir in der Tat genug.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich möchte aber darauf hinweisen, ich habe mehr Redezeit, als hier eingestellt war.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Sie haben bei uns sieben Minuten angemeldet.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Das wurde auf zehn Minuten verändert.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Sie gestatten also eine Zwischenfrage?

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn sie auf meine Redezeit nicht angerechnet wird.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Odendahl, Sie sprachen gerade noch einmal im Hinblick auf das Sonderprogramm über die Frage, wie weit man Frauen in den Arbeitsmarkt bzw. in den Ausbildungsstellenmarkt einführen kann. Halten Sie es nicht für richtig, daß wir nach entspannter Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt, was die Zahl angeht, dem Problem der Heranführung der Mädchen zu den richtigen Berufsbildern über den Arbeitsmarkt insgesamt besser Rechnung tragen, als wenn wir über Sondermaßnahmen eine zweite Schwelle einbauen, wo es dann möglicherweise schwierig ist, sie in einen Betrieb zu vermitteln?

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem große Einmütigkeit im Plenum darüber herrscht, daß genau das Problem der Mädchen und Frauen eben nicht gelöst und auch nicht entspannt ist, halte ich es nicht für gut, Frauen wiederum nur etwas anzubieten, was sie „hinführt" Wir Frauen sind über die Phase, daß wir nur geführt werden müssen, längst hinaus. Wir wollen konkrete Angebote, Herr Kollege Schemken. ({0}) Auf Grund der immer höher geschraubten Anforderungen an die schulische Vorbildung der ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen wird es trotz rückläufiger Schulabgängerzahlen weiterhin einen erheblichen Anteil junger Menschen geben, die vom Ausbildungsmarkt abgedrängt werden. Das Benachteiligtenprogramm konnte diesen jungen Menschen bisher helfen. Aber auch hier ist die Bundesregierung dabei, sich aus der Verantwortung zu mogeln. Wer heute schon - wie mit der 9. AFG-Novelle dieser Bundesregierung vorgesehen - von der Qualifizierungsoffensive in die -defensive geht - Herr Möllemann, da waren Sie offensichtlich anderweitig sehr beschäftigt; der Bundeskanzler hat Sie ja gemahnt, sich um Ihren Bereich zu kümmern -, zeigt eben seine Einstellung. Da hätte ich gern Ihren Protest gehört und erfahren, wie es denn mit der Weiterbildung, den Fortbildungsmaßnahmen in Zukunft aussehen wird. ({1}) Wer das tut, der macht auf Dauer auch vor dem Benachteiligtenprogramm nicht halt. Wenn Minister Blüm seine fehlenden 1,8 Milliarden DM heute schon weitgehend bei den Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt zusammenscharrt, sind diese Befürchtungen berechtigt. Gestern fand hier auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion eine Aktuelle Stunde zu den Problemen der Aussiedler statt. Ich hätte sehr gerne gehabt, daß die Kollegen, die dabei auf Ihrer Seite gestern das Wort ergriffen haben, heute auch dagewesen wären, um auch den Bildungsminister zu ermahnen, ({2}) daß trotz ständiger gegenteiliger Versicherungen die Bundesregierung nicht bereit ist, zusätzlich ausreichende Mittel für die Sprachförderung, Ausbildung oder ergänzende Ausbildung dieser Aussiedler zur Verfügung zu stellen. ({3}) In der Berufsbildungspolitik ist dieses Problem bis heute nicht berücksichtigt. Sie sind leider, Herr Minister, jetzt auch nicht darauf eingegangen. Wer die Freizügigkeit und den freien Zugang zum Arbeitsmarkt innerhalb Europas durch den europäischen Binnenmarkt als große Chance darstellt - Minister Möllemann versäumt keine Gelegenheit, das zu tun - , muß in der Berufsbildungspolitik die Weichen stellen. Bis heute haben Sie uns nicht sagen können, welche Schritte die Bundesregierung unternimmt, um die Qualität der beruflichen Bildung für die Bewohner der Bundesrepublik wie auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auf einem hohen Standard zu sichern; denn an schlecht ausgebildeten, aber mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kann kein europäischer Staat und auch kein europäischer Arbeitgeber langfristig Interesse haben. ({4}) Nun werden wir ja mit viel Genuß auch im Ausschuß über die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung diskutieren. Ich freue mich, daß da offensichtlich eine Hürde genommen worden ist, an der Herr Möllemann und auch oft der Deutsche Bundestag imFrau Odendahl mer wieder gescheitert sind, nämlich an dem Einspruch der Länder. Nun wird uns ja die Diskussion darüber geradezu auferlegt. Jetzt kommen wir zu den von der SPD seit langem geforderten Maßnahmen. Die vorher erwähnte Lage junger Frauen auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt erfordert die gründliche Beschäftigung mit dieser Entschließung auch des Europäischen Parlaments und die Umsetzung der Forderungen. Nachdem alle Vorlagen dieser Debatte federführend zur Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen werden, möchte ich zusammenfassen: Im Bereich der beruflichen Bildung gibt es eine Fülle ungelöster, aber auch neuer Aufgaben und überhaupt keinen Grund, sich entspannt und mit Eigenlob gut gepolstert im Sessel auszuruhen. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 11/3177 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 8. Mai 1987 und vom 4. Februar 1988 - Drucksache 11/2495 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung und Technologie Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus auch damit einverstanden? - Das ist so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Voigt.

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Immunschwäche AIDS hat sich in den letzten Jahren zu einer Krankheit entwickelt, die weltweit das Leben vieler Menschen bedroht und gegen die es bisher keine ursächlich wirksamen Gegenmittel gibt, die, zumindest was den Bereich des Schutzes, des Impfschutzes angeht, in absehbarer Zeit auch nicht in Sicht sind. Die Bedeutung, die diese Krankheit auch für die Bundesrepublik Deutschland hat, veranlaßte den Deutschen Bundestag auf Anträge aller vier Fraktionen, im Mai 1987 die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" zu beschließen. Damit sollte deutlich gemacht werden, daß die besondere Herausforderung durch diese Krankheit ein gemeinsames Handeln möglichst aller politischen Vertreter im Deutschen Bundestag gebietet. Auf der Grundlage des vom Deutschen Bundestag erteilten Auftrags hat die Kommission zu Beginn ihrer Tätigkeit ein Arbeitsprogramm erstellt und dann - entsprechend diesem Arbeitsprogramm - die gleich aufzuführenden Kapitel überarbeitet. Wir haben versucht, eine Bestandsaufnahme zu erreichen. Wir haben versucht, erste Feststellungen über Wissensdefizite und Handlungsbedarf zu treffen. Und wir haben dann den Versuch unternommen, aus Schlußfolgerungen heraus Empfehlungen auszusprechen, die dem Deutschen Bundestag in dem Zwischenbericht vorliegen. Nach ausführlichen Anhörungen mit externen Sachverständigen - ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei all denjenigen zu bedanken, die bereit waren, uns Rede und Antwort zu stehen, die uns mit ihrem Sachverstand geholfen haben, die ersten Lösungsmodelle aufzuzeigen - haben wir die folgenden Themenbereiche ausgewertet: erstens „AIDS und Gesellschaft", zweitens „Das Krankheitsbild von AIDS", drittens „Übertragungswege aus heutiger Sicht", viertens „Epidemiologie", fünftens „Primärprävention ({0})" und sechstens „Prävention bei intravenös Drogenabhängigen". Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kommission war sich darüber im klaren, vor einer Problematik zu stehen, die medizinisch gegenwärtig nicht lösbar ist und die die Gesellschaft zu Beginn unvorbereitet getroffen hat. Fast täglich werden durch intensive Forschungsarbeiten neue medizinisch-naturwissenschaftliche und psychosoziale Zusammenhänge bekannt. Wir gehen davon aus, daß diese Entwicklung weiterhin stürmisch sein wird und daß die eine oder andere Empfehlung, die wir in dem Zwischenbericht gegeben haben, unter Umständen korrigiert werden muß. Die gesicherte Erkenntnis war das Ziel. Es war das Ziel, das aufzuzeigen, was wir wissen, aufzuzeigen, wo es Forschungsbedarf gibt, wo es Handlungsbedarf gibt. Diese komplexe Materie der Immunschwäche AIDS mit ihrer komplizierten medizinischen Problematik und ihren Auswirkungen auf zahlreiche Lebensbereiche war in der kurzen Zeitspanne, die uns zur Verfügung stand, nur in Teilansätzen auf zuarbeiten, so daß wichtige Bereiche dann im zweiten Teil unserer Kommissionsarbeit aufgearbeitet werden müssen und dann zum gegebenen Zeitpunkt - mit den daraus abzuleitenden Empfehlungen - dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden können. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß bei einem Problembereich, der so tief in der Entwicklung steht, bei dem täglich neue psychosoziale und auch naturwissenschaftlich-medizinische Zusammenhänge bekannt werden, sehr, sehr schnell Korrekturen möglich und von daher Teilaussagen unter Umständen nur sehr kurzlebig sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, AIDS ist eine Krankheit, eine Virusinfektion durch ein Virus Dr. Voigt ({1}) HIV, das im menschlichen Immunsystem eine derartige Schwächung auslöst, daß opportunistische Infektionen und andere Krankheiten durch das Immunsystem des Menschen nicht mehr auf dem natürlichen, normalen Wege abgewehrt werden können. Hier liegt das Charakteristikum dieser Krankheit. Wir haben zum einen ein Stadium, in dem der Mensch infiziert ist, und eine lange Latenzphase, bis dann die ersten deutlichen Symptome auftreten. Ein Virus besteht aus dem Hüllprotein und dem im Virus angelegten Informationsmaterial, dem genetischen Material. So wie es die Naturwissenschaftler nötig haben, ein Virus zu analysieren, indem sie aus der Umgebung heraus in die letztlich notwendige und für die Eigenschaften verantwortliche Informationsvermittlung vordringen, genauso war es Aufgabe der Kommission, unvoreingenommen den gesellschaftlichen Diskussionsprozeß zu durchdringen, um zu den ursprünglichen, den eigentlichen Themen, um zu den Kernthemen des Gesamtbereiches AIDS vorzudringen. Irrationale Angst, Schuldzuweisungen, Diskriminierungen, Projektion von eigenen unbewältigten Problemen, Verharmlosung und Übertreibung verstellen den Blick vor dem eigentlichen Problem. Die Tatsache, daß AIDS zunächst im Bereich der homosexuellen Männer und der Prostitution sowie unter den Drogenabhängigen gefunden und beobachtet wurde, verführt den einen zu einfachen Interpretationen und gibt dem anderen eine Chance, Vorurteile auszuleben. Es war daher die Aufgabe der Kommission, frei von Emotionen einen Beitrag dazu zu leisten, die Diskussion um AIDS auf den nüchternen Boden der Realität zurückzuholen. Die HIV-Infektion und AIDS sind zwar im Ansatz medizinische Probleme, aber die Umstände, unter denen diese Krankheit zuerst beobachtet wurde, sowie die Tatsache, daß es nach wie vor keinen wirksamen Impfschutz und keine Therapie gibt, den Ausbruch der Krankheit zu verhindern, sowie die erschütternde Feststellung, daß vor allem junge Menschen von dieser Krankheit und dem damit verbundenen Tod betroffen sind, lösten eine breite Diskussion in allen Bereichen der Gesellschaft aus und machten AIDS zu einem politischen Problem. Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission versteht sich als ein Beitrag zur Entemotionalisierung der öffentlichen Diskussion. Er will die Grundlage für vorurteilsfreies Handeln ermöglichen. Der Bericht soll deutlich machen, daß es gilt, mit der Vorstellung aufzuräumen, schnelle Lösungen könnten dieses Problem bewältigen. Weder staatliche Aufklärungs- und Präventionsstrategien allein noch medizinische Betreuung für sich, noch ein Netz psychosozialer Versorgung oder der Selbsthilfegedanke, für sich genommen, sind in der Lage, der Ausbreitung der Krankheit zu begegnen. Nur das Zusammenwirken aller dieser Maßnahmen kann Erfolg für die Zukunft bringen. Eine Strategie gegen die Ausbreitung dieser Infektion braucht ein Klima, in dem die Lernfähigkeit aller im Mittelpunkt steht und akzeptiert wird. Alle Menschen müssen verstehen, daß sie eine Eigenverantwortung für sich und eine Mitverantwortung für andere tragen. Sie müssen lernen, mit ihrer Sexualität und mit ihren Eigenschaften verantwortungsbewußt umzugehen, sich entweder zu gegenseitiger Treue zu entschließen oder mögliche Schutzmaßnahmen als verpflichtend in ihr Handeln einzubauen. Der politisch Handelnde muß verstehen, daß er keine Strategie auf der Grundlage vorgegebener rechtlicher Regelungen aufbauen kann, sondern daß er dieser neuen Krankheit nur durch sensible und abgestufte Verfahren begegnen kann. Der Staat muß lernen, das AIDS eine Krankheit ist, die weltweit verbreitet ist und an keiner Grenze haltmacht. Die Medizin muß akzeptieren, daß sie keine einfachen Therapien zur Verfügung hat und einer Krankheit gegenübersteht, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Behandlung in Betreuungszentren, wo erfahrene, im Umgang mit dieser Krankheit geübte Ärzte arbeiten, erfordert. Für die Mediziner ist es darüber hinaus wichtig zu lernen, daß sie zum ersten Mal einer Krankheit gegenüberstehen, bei der der Zeitpunkt der Diagnose sehr, sehr weit - zum Teil Jahre entfernt - von dem Zeitpunkt liegt, wo die ersten deutlichen Symptome auftreten. Mithin müssen Betreuungsformen, die das Zusammenspiel vieler Berufsgruppen notwendig machen, für einen langen Zeitraum entwickelt werden, in dem der Patient ohne Symptome, aber mit der Gewißheit lebt, infiziert zu sein. Jeder einzelne, sie alle müssen überdenken, wo ihre Kompetenzen enden. Sie müssen die eigene Kompetenz in diesem Prozeß richtig einsetzen. Ich warne davor, Ansprüche zu erheben, die nicht aus dem wohl eigentlichen Berufsfeld heraus gerechtfertigt sind. Wir alle müssen lernen, die Diskriminierung als eine gefährliche Krankheit einzustufen, die in ihren Auswirkungen unter Umständen schlimmer sein kann als das Virus selbst. Wir wissen in der Zwischenzeit sehr viel über die HIV-Infektion, auch wenn viele Zusammenhänge noch unerforscht sind und im Dunkeln liegen. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, all denen zu danken, die im Bereich der medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren so aktiv mitgewirkt haben. Ich glaube, die Forschung auf dem Gebiet der HIV-Infektion ist ein Beispiel dafür, wie internationale Kooperation gut arbeiten und funktionieren kann. Wir kennen in der Zwischenzeit die Hauptübertragungswege. Wir wissen, daß es eine schwer übertragbare Krankheit ist, die sich nicht über normale soziale Kontakte verbreitet. Wir wissen, daß die Zuwachsraten der Neuinfektion geringer sind, als es noch vor wenigen Jahren befürchtet worden ist. Wir wissen aber auch, daß die HIV-Infektion aus dem Bereich der Hauptbetroffenengruppen heraus - und in den heterosexuellen Bereich hineingetreten ist. Es gibt keinen Anlaß - ich betone das mit allem Nachdruck - für eine Entwarnung. Die große Gefahr, die ich sehe, liegt darin, daß ein Gewöhnungsprozeß an die Warnungen und Aufklärungsbotschaften, ein Gewöhnungsprozeß an die Hinweise, wie man sich Dr. Voigt ({2}) schützen und wie man verantwortungsvoll mit dieser Infektionskrankheit umgehen und leben kann, in der Zwischenzeit eingesetzt hat. Eine gerade in den letzten Tagen veröffentlichte Studie aus Amerika scheint diese Tendenz zu bestätigen. Es gilt, hier sehr schnell zu reagieren. Eine weitere Gefahr liegt für mich darin, daß sich ein großer Teil der Bevölkerung nicht als betroffen einstuft. Es gibt Menschen, die von sich glauben, durch die Krankheit nicht gefährdet zu sein. Das mag ihrer augenblicklichen Situation entsprechen. Aber durch wie auch immer geartete Veränderungen in ihrem persönlichen Leben kann sehr schnell eine Situation auftreten, wo sie sich plötzlich Risikosituationen ausgesetzt sehen. Darüber hinaus gibt es eine nicht zu unterschätzende Zahl von Menschen, die vor sich selbst leugnen, gefährdet zu sein, obwohl sie gelegentlich Risikosituationen ausgesetzt sind. Diese Menschen leugnen es bewußt, weil sie sonst konsequenterweise Schutzmaßnahmen akzeptieren müßten und somit dem Partner gegenüber eingestehen müßten, daß sie ein Doppelleben führen. Nehmen wir das alles zusammen - das ist nur ein Teil der verschiedenen Gruppen, die wir mit unseren Botschaften ansprechen müssen - , so hat die Politik die Aufgabe, durch eine direkte und deutliche, aber jedem Lebensbereich entsprechende Botschaft auf die Situation hinzuweisen, die durch eine HIV-Infektion eintreten kann. Für die zukünftigen Aufklärungs- und Informationsstrategien erscheinen uns - das war in der Kommission konsensfähig - drei Ebenen notwendig, auf denen wir weiterarbeiten müssen. Erstens. Durch massenmediale globale Aufklärungsbotschaften muß das Ohr aller Menschen geöffnet werden, damit sie durch sachgerechte und glaubwürdige Informationen über die Krankheit, ihre Gefährdung sowie über die Wege, wie sie sich vor dieser Krankheit schützen können, informiert sind und auf persönliche Gespräche, die die letzte Stufe der Informationsstrategie ausmachen müssen, vorbereitet sind. Zweitens. Zielgruppenorientierte Botschaften müssen auf die unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung abgestellt sein und die Interessen dieser Gruppen berücksichtigen. Drittens. Die dritte und wahrscheinlich wichtigste und langfristig notwendigste Ebene ist das persönliche Gespräch, ist die Kommunikation zwischen einzelnen Menschen, damit jeder in seinem Bereich den Partner findet, der auf seine Probleme eingehen kann, der ihn persönlich beraten kann. Es wird noch viel Arbeit geben, um diese Struktur aufzubauen oder sie zu intensivieren. In einigen Großstädten haben wir sehr gute Ansätze dafür. Lassen Sie mich zum Schluß einige Empfehlungen ansprechen, von denen ich glaube, daß sie besonders wichtig sind. Sie werden im Kommissionsbericht aufgeführt. Zur Betreuung durch Fachärzte, durch besonders geschulte Ärzte habe ich mich schon geäußert. Ich möchte aber darüber hinaus noch folgenden Punkt erwähnen. Im Bereich der Epidemiologie brauchen wir mehr Kohortenstudien. Wir brauchen das System des unlinked testing. Zumindest sollten wir prüfen, ob wir dafür eine gesetzliche Grundlage schaffen können. Unlinked testing bedeutet, daß Restblut, das nicht zum Zwecke der Prüfung der HIV-Infektion im normalen Routineverfahren in den Kliniken entnommen ist, nach einer irreversiblen Anonymisierung dem HIV-Test zugeführt wird, um unsere statistischen Daten zu erhärten, die wir im Augenblick haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Ich glaube, daß der Zwischenbericht deutlich gemacht hat, daß nur Sensibilität für Einzelfragen und ein ideologiefreies Handeln mit sehr viel Klugheit die Lösung des Problems möglich machen. Das Virus ist das intelligenteste Virus innerhalb der Evolution. Das Virus hat viele Gesichter. Wir können diesem Problem nicht mit einer einheitlichen Strategie begegnen, wir brauchen Klugheit, um das Virus zu überlisten, und Klugheit bedeutet vielfältige unterschiedliche Angebote. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Conrad-Haase.

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Zunächst einmal möchte ich Herrn Voigt für seinen sehr ausführlichen und fairen Bericht und besonders für die Ausführungen' zu den Bereichen Diskriminierung und notwendige Maßnahmen danken. Ich kann es mir ersparen, dies hier noch einmal anzusprechen. Der vorliegende Zwischenbericht der Enquete-Kommission AIDS ist ein Kompromiß, und zwar ein gewollter Kompromiß. Denn um der Ergebnisse willen wollten wir streiten, wollten aber nach Möglichkeit zu gemeinsamen Empfehlungen finden. Eine Grundlage für diese Haltung war gegeben: Einmal hatte der Bundestag mit breiter Mehrheit, zuletzt im November 1986, seine Haltung zur Immunschwächekrankheit bekundet, für Aufklärung und gegen Zwangsmaßnahmen. Aber auch der Arbeitsauftrag an die Enquete-Kommission war mit breiter Zustimmung im Parlament formuliert worden. Darüber hinaus haben Bund und zehn Bundesländer einschließlich Berlin in den Grundzügen ihrer Strategie zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit bisher eine Linie vertreten. Die Mehrheit der Mitglieder der Enquete-Kommission vertrat die Auffassung, daß es am allerwenigsten den Betroffenen hilft, wenn das Thema zum Parteiengezänk wird. Daß die Arbeit der Enquete-Kommission dann doch schwieriger wurde, als angesichts eines relativ breiten gesellschaftlichen Konsenses zu erwarten war, lag auch an der Zusammensetzung, für die meine Fraktion nicht verantwortlich war. Um es klar zu sagen, die Tatsache, daß in diesem Gremium vier harte Vertreter der strammen bayerischen Linie sitzen - das bei 17 Mitgliedern - schafft diesen ein ungemessenes Gewicht, das bundesweit einmalig ist. Es gibt kein nationales Gremium, in dem die beiden kontroversen Linien so aufeinanderprallen. Dies hat die Arbeit der Enquete belastet, das Leben des Vorsitzenden nicht gerade leicht gemacht, aber um so höher bewerte ich das Ergebnis gerade in seinen Aussagen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Immunschwächekrankheit oder zu den Fragen der Vorbeugung, die mehrheitlich beschlossen wurden. Genaugenommen ist auch das Minderheitenvotum der Fraktion DIE GRÜNEN auf dieser Linie. Es ist entsprechend dem Selbstverständnis der GRÜNEN ein Antipapier, nämlich ein Antibayernpapier. Auf Grund dieser Tatsache halte ich den Zwischenbericht für das bislang problemangemessenste Dokument auf der Ebene zentralstaatlicher Gesundheitspolitik, wie es einer unserer Sachverständigen in einem Interview vor kurzem formuliert hat. Es ist frei von Diskriminierung gegenüber den Betroffenen. Mehr noch, wir gehen davon aus, daß es verschiedene sexuelle Verhaltensweisen und geschlechtliche Ausrichtungen gibt, die von uns weder zu bewerten noch zu hinterfragen sind. Wir machen diese Tatsache vielmehr einfach zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Aussagen wie z. B.: Die Botschaften und die Verhaltensbeeinflussungen müssen sich an den jeweiligen Lebensweisen orientieren, müssen von den Menschen akzeptiert werden können. Oder: Wer erfolgreich Aufklärung betreiben und eine Minimierung von Neuinfektionen erreichen will, muß eine Lernatmosphäre schaffen, die ein hohes Maß an gesellschaftlicher Integration verlangt, die mit sozialer Verelendung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von Randgruppen unverträglich ist. Oder: Es wird für die weitere AIDSAufklärung wichtig sein, daß das Lebensumfeld der Männer mit homosexuellem Geschlechtsverkehr nicht durch unbedachte staatliche Maßnahmen wie grundlose Kontrollen, Razzien und Auflagen gestört wird. - Der Tenor solcher Aussagen zieht sich durch den gesamten Bericht. Dies ist nicht nur eine klare Absage an die bayerische Strategie, solche Aussagen sind auch eine Verpflichtung und, wie ich meine, auch eine Hilfe für alle staatlichen und außerstaatlichen Einrichtungen und Organisationen, für Bund und Länder in ihrer weiteren Arbeit zur Vorbeugung vor Infektion. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Abgeordnete?

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir können es ja einmal versuchen, Herr Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß das, was Sie „bayerische Strategie" nennen, nicht nur in Bayern so praktiziert wird, sondern auch in den Ländern Österreich und Italien sowie neuerdings auch in Nordrhein-Westfalen? Würden Sie mir also zustimmen, daß - wenn man überhaupt einen Unterschied machen will und wenn man den Unterschied nicht nur in der Präsentation sehen will, sondern in der Sache überhaupt sehen kann - dieser Unterschied, wenn man ihn so zwischen Bayern und meinetwegen dem übrigen Bundesgebiet herausstellen will, zumindest nicht zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen sowie zwischen Bayern und beispielsweise Österreich, Italien und auch anderen europäischen Ländern nicht vorhanden ist?

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe davon aus, daß sowohl die Frage wie auch die Antwort nicht auf meine Redezeit angerechnet werden. - Herr Geis, es ist schon ein bißchen plump: Sie sitzen in der Enquete-Kommission und müßten schon die Unterschiede kennen und wissen, was Bayern mit der Anwendung des Bundesseuchengesetzes macht, indem ganze Gruppen - z. B. Prostituierte oder Drogenabhängige - als ansteckungsverdächtig angesehen werden, beschrieben werden und teilweise verfolgt werden. Das ist eine ganz andere Strategie als das, was in Nordrhein-Westfalen und sonst überall gemacht wird. In Nordrhein-Westfalen gibt es keine Razzien in Schwulen-Saunen usw. Ich habe nicht die Zeit - ich glaube, es würde die Debatte sprengen - , um Ihnen das noch begreiflich zu machen. Wir haben ein Jahr lang schon versucht, Ihnen begreiflich zu machen, was die bayerische Strategie ist, insbesondere was die negativen Auswirkungen bayerischer Strategie sind. Wir haben ein weiteres Jahr Zeit, und wir werden uns weiter bemühen. Ich hoffe, Herr Geis, auch Sie gehen irgendwann einmal mit anderen Erkenntnissen aus dieser Enquete-Kommission hinaus. Vielleicht gibt es eine Chance durch die jetzige bayerische Entwicklung, daß Sie vielleicht einmal zu anderen Erkenntnissen kommen. Ich habe da immer noch Hoffnung. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gestatten Sie eine Zusatzfrage zu dieser Zwischenfrage?

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte gerne fortfahren; denn ich kenne die Diskussion zu gut. Ich glaube, das bringt nichts.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gilt das generell nach allen Seiten? ({0}) Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann kann ich das natürlich meinem Kollegen Großmann nicht verwehren.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Also, bitte schön.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. - Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß Minister Heinemann aus Nordrhein-Westfalen mehrfach auf Pressekonferenzen darauf hingewiesen und sich davon distanziert hat, daß das Nordrhein-Westfalen-Papier „AIDS und Recht" auch nur in irgendeiner Weise mit den bayerischen Maßnahmen in Verbindung gebracht werden kann?

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist mir bekannt, und ich denke, es ist auch dem Abgeordneten Herrn Geis bekannt. ({0}) - Es bringt nichts. Also, jetzt hören Sie einmal zu; man sollte die Chance zu lernen nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Der Zwischenbericht stützt grundsätzlich die Strategie aller Bundesländer - bis auf eine Ausnahme - und des Ministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, nämlich Aufklärung und Beratung in den Mittelpunkt zu stellen. Der Zwischenbericht geht darüber hinaus: Er setzt sich kritisch mit den bisherigen Vorbeugungskampagnen auseinander. Wir haben internationale Experten aus Schweden, den Niederlanden, den USA und der Schweiz gehört. Nicht zuletzt die Schweiz hat mit ihrer „Stop AIDS"-Kampagne einen Maßstab gesetzt, wie sinnvoll, zum Teil lustig, aber klar in Sprache und Aussage die Aufklärung sein kann. Daß wir dies von den Informationen der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung nicht sagen können, wurde von uns schon öfter kritisiert. Auch die jüngste Broschüre, die sich an Jugendliche wendet, „Boys + girls", hätte vor der Enquete-Kommission, auch vor dem Zwischenbericht keinen Bestand. Zweifellos ist es sinnvoll, über verschiedene Kommunikationsmedi en und -arten zielgruppenorientiert zu informieren; Bildergeschichten mögen durchaus ansprechend für diese Altersgruppe sein. Ich gebe zu: Unbegründete Ängste vor Ansteckung werden darin gut aufgearbeitet. Aber es kann doch nicht sein - oder es kann anscheinend nur hier sein -, daß seitenweise um das Problem AIDS und HIV-Angst herumfotografiert wird und daß dann, wenn man auf die Information hofft, was man nun machen soll, wenn es zum sexuellen Kontakt kommt - 50 % aller Mädchen von 17 Jahren und 30 % aller Jungen in dem Alter haben nun einmal Sexualerfahrung; daran können wir nicht vorbeireden - in einem Kästchen steht: Der sicherste Schutz vor einer Infektion ist Enthaltsamkeit. Auf der Suche nach einem Lebenspartner ist das jedoch für junge Menschen oft schwer. Dann: Wenn beide Partner nicht infiziert sind - Beratung und Test gibt hier Sicherheit -- jetzt haben wir es schon wieder - ist Treue - das ist dann die nächste Botschaft ein guter Schutz. Auch ein Kondom, richtig angewendet, bietet einen gewissen Schutz. Dies ist nicht lebenspraktisch; dies bezieht die Lebensweisen von Jugendlichen einfach nicht ein. Sie setzen Kondome herab oder verbreiten Unsicherheit. Es heißt dann nämlich auf einer anderen Seite: Kondome, richtig angewendet, bieten einen guten Schutz. Was stimmt denn nun eigentlich: „einen gewissen Schutz" oder „einen guten Schutz"? Was wollen Sie denn eigentlich anbieten? Daß es sieben Jahre nach AIDS in der Bundesrepublik nach wie vor nicht eine einzige Botschaft zentralstaatlicher Art gibt, wie man Kondome anwendet, halte ich schlichtweg für einen Skandal. Ich denke: Auch Unterlassung schafft Verantwortung. Sie haben doch im Prinzip auch gar nichts anzubieten; das ist ja die Crux. Es gibt keine Impfungen. Kondome, richtig angewandt, bieten nun einmal einen hohen Schutz; so steht es auch in dem Zwischenbericht. Es sei denn, Sie wollen die Jugendlichen mit Angst in das Korsett der sexuellen Enthaltsamkeit zwingen. Gefühle, Sehnsüchte und Lust warten aber nicht bis zur Hochzeitsnacht. Ich weiß, Sie verweisen auf die Zwänge, auf die Kirche, konservative Kreise usw., und beruhigen sich, Frau Süssmuth, damit, daß es ja viele Gruppen gibt, die sich hier, weniger verklemmt, verantwortungsvoll dieser Arbeit annehmen. Ein Beispiel, das geradezu erfrischend wirkt und auf das Informationsbedürfnis von jungen Menschen eingeht, ist eine Schülerzeitung der Heinrich-Hertz-Schule in Düsseldorf, die „Positiv" heißt; ich gebe sie Ihnen gerne einmal zur Ansicht. Da wird alles angesprochen: vom Fixen über Petting, Ängste, Wissensfragen, wie man Kondome benutzt bis zu Beratungsangeboten, das Ganze aufgelockert mit witzigen und auch ernsten Karikaturen. Nun will ich aber der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hier nicht ganz unrecht tun. Sie, Frau Süssmuth, können das positive Beispiel im Gegensatz zu mir nicht bringen. Es gibt da eine gar nicht schlechte Broschüre, die unter anderem, am lebenden Modell fotografiert, die korrekte Anwendung eines Kondoms darstellt. Die Broschüre sollte in der Bundeswehr verbreitet werden. Was passiert? Der Verteidigungsminister sieht dies - igitt - und verbietet eine Verteilung, obwohl die Sanitäts- und Medizinaloffiziere einschließlich des evangelischen Geistlichen ihre Zustimmung gegeben haben. Der Verteidigungsminister konnte aber schlichtweg nicht verhindern, daß dieser Schmutzkram schon in der Marine an die Kadetten verteilt war. Ich weiß, Herr Geis, Sie sagen: die arme Marine; ich sage halt: der arme Rest. ({1}) - Nein, es ist mir ernst. Mitglieder der Bundesregierung stehen sich nicht nur selber im Wege; sie stehen auch manchmal einer vorurteilsfreien, verantwortungsvollen und effektiven Vorbeugungspolitik im Wege. Dafür wird aber bei der Bundeswehr gemäß dem Erlaß vom 1. April 1988 massenweise getestet. Auch diese Testkampagnen, die undifferenzierte Aufforderung zum Test und die Verknüpfung von Test und Vorbeugung haben vor dem Zwischenbericht keinen Bestand. Da steht die Beratung im Mittelpunkt. Wir nennen die begrenzten Bedingungen, wann zum Testen zu raten ist. Die Enquete-Kommission hat viele Fachkräfte und Experten aus den Selbsthilfegruppen gehört. Der Zwischenbericht greift viele ihrer Forderungen auf und drückt seine Anerkennung für ihre notwendige Arbeit und die Professionalität, die sie mittlerweile erworben haben, aus. Ich möchte allen, die mit dieser Arbeit befaßt sind, an dieser Stelle danken. ({2}) Ich glaube, daß der Zwischenbericht in Zukunft ihre Situation und ihre Position stärken wird. Und doch gehen wir von der Vielfalt der Beratungseinrichtungen aus; denn nicht jede Einrichtung wird von jedem akzeptiert. Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Bereich Forschung sagen. Die Enquete-Kommission wünscht, daß gerade vom Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit die sozialwissenschaftliche Forschung verstärkt wird. Es ist auch dringend notwendig, die sozialpsychologischen Aspekte in Verbindung mit der Infektionskrankheit und ihre Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf zu untersuchen. Wir brauchen eine bessere Evaluation, d. h. die Überprüfung der Wirksamkeit der Aufklärungsmaßnahmen. Wir sollten auch über die Auswirkungen von AIDS und den damit zusammenhängenden Ängsten auf das Sexualverhalten von Jugendlichen usw. mehr wissen. Dies ist der Grund dafür, daß ich bei den Haushaltsberatungen nicht damit einverstanden sein kann, daß die Forschungsmittel für AIDS um 2 Millionen DM gekürzt werden. In einem letzten Punkt möchte ich auf die iv-Drogenabhängigen, ihre besondere Gefährdung, aber auch auf die schwierige Situation, dort helfend und aufklärend zu arbeiten, eingehen. Wir haben eine Fülle von Forderungen aufgestellt. So haben wir ein Maßnahmenbündel gefordert, das wirksam die Ausbreitung von HIV verringern kann. Ich war sehr erfreut, daß es möglich war, zu diesem Kapitel Vorschläge zu machen, ohne ideologische Verblendung, wie ich sie leider oft im Zusammenhang mit der Frage „Substitutionstherapie" als zusätzliches Angebot für Drogenabhängige kenne. Die Enquete-Kommission hat sich mit Mehrheit für ein breites Angebot von Methadon ausgesprochen, und zwar als zusätzliche Maßnahme, nicht als Ersatz für Entzugstherapie: am Einzelfall orientiert, nur in den Händen von in der Drogenarbeit erfahrenen Medizinern und Medizinerinnen, nicht ohne psychosoziale Betreuung. Ich bitte Sie, Frau Süssmuth, sich mit den Ländern zu verständigen. Ich weiß, daß das schwierig ist. Aber es wäre schädlich, wenn es hier zu unterschiedlichen Versorgungsstrukturen käme. Die wenigen Zentren würden dann die darauf hoffenden Drogenabhängigen anziehen und wären überfordert. Sie wären einer sinn- und verantwortungsvollen Methadonabgabe nicht mehr gewachsen. Ich habe am Anfang gesagt, daß und warum die Arbeit nicht gerade einfach war. Um so mehr muß ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Büros bedanken, daß sie uns trotzdem so gut zugearbeitet haben. Noch ein Wort in die Zukunft. Ich habe sicherlich wenig Gemeinsamkeiten mit der CSU oder gar mit Edmund Stoiber, ({3}) aber es gibt unter den Mitgliedern der Enquete-Kommission eine überwältigende Mehrheit, die mit Stoiber einig ist, daß Gauweiler seine weiteren politischen Erfahrungen besser in der Bauaufsicht und nicht mehr in der Enquete-Kommission macht. ({4}) - Ja, manchmal muß das sein. Ich würde mich aufrichtig freuen, wenn dies etwas ändert, auch im Klima in der Enquete-Kommission, die ja nächsten Sommer noch einen Endbericht vorlegen muß, mehr aber noch für die vielen Betroffenen in Bayern und darüber hinaus. Die Probleme drängen. Ich habe an die Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen die Bitte, den Zwischenbericht zügig zu beraten. Es geht wenig um Ideologie, aber viel um Pragmatismus. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission AIDS ist leider, wie viele andere Berichte auch, die dieses Haus zu bearbeiten hat, nicht so knapp geworden, wie ich mir das ursprünglich vorgestellt und gewünscht habe. Da ist zum einen das umfangreiche Thema, zum anderen aber auch der Versuch, zu einer einheitlichen Aussage zu kommen, die zum Aufblähen des Textes geführt haben und letztlich dennoch umfangreiche Minderheitenvoten nicht verhindern konnte. Ich will deshalb in meinem Beitrag auf einige Differenzen hinweisen, die in der Kommission meiner Meinung nach zunehmend stärker zum Vorschein kommen, und darüber hinaus auf einige Probleme aufmerksam machen, die wir noch behandeln müssen. Einer der Punkte, bei dem sich die Gegensätze im Verlauf der Zeit zunehmend verschärft haben - Gegensätze, die, wie gesagt, nicht so deutlich werden -, ist die Frage des freiwilligen Tests; ich betone ausdrücklich: des freiwilligen Tests und nicht eines Zwangstests. Im Bericht ist der Test sehr ausführlich und dennoch zurückhaltend beschrieben, weil wir versuchten, zu einem einheitlichen Votum zu kommen. Dennoch kam es zu einem Sondervotum von SPD-Kollegen und der von ihnen benannten Sachverständigen. Unter diesen Gesichtspunkten muß ich hier feststellen, daß ich mich dem Sondervotum von Professor Stille anschließe, damit zum einen die Gleichgewichtigkeit der Meinungen im Ausschuß wieder deutlich wird und weil ich mich zum anderen dem ursprünglichen Kompromiß nach dem Sondervotum nicht mehr verpflichtet fühle. Worum geht es? Geht es schlicht und einfach darum, ob man möglichst vielen einen freiwilligen Test empfehlen soll? Ich meine, ja, wir sollten das tun. Wir sollten zum Test ermutigen. Es ist notwendig zu wissen, welchen HIV-Status ich besitze, wenn ich damit rechnen muß, daß ich mich angesteckt haben kann. Nur so kann ich mich verantwortungsbewußt verhalten und durch meine Vorsorge dazu beitragen, Eimer ({0}) daß ich diese tödliche Krankheit nicht weitergebe. Nur so kann die Ansteckungskette unterbrochen werden. Das Rezept - hier vertrete ich eine andere Meinung als Frau Conrad - nur noch Kondome zu verwenden, paßt für denjenigen, der mit häufig wechselnden Partnern verkehrt. Für diejenigen aber, die zumindest auf Dauer einen festen Partner haben, ist diese Empfehlung weltfremd. Da hilft zur Sicherheit nur ein Test. Aber das Wissen um den eigenen HIV-Status hat auch Vorteile für mich persönlich. Der Test erinnert mich, falls er negativ ist, mich weiterhin vorsichtig zu verhalten, und ich kann bei positivem Ergebnis - so jedenfalls die überwiegende Aussage der Mediziner - durch mein persönliches Verhalten dazu beitragen, daß der Ausbruch der Krankheit möglichst weit hinausgeschoben wird. Das fängt z. B. damit an, daß ich mich entsprechend gesundheitsbewußt ernähre und verhalte, nach Möglichkeit Ansteckungen - also auch Risikosituationen - vermeide und z. B. nach Möglichkeit vermeide, mich allzu starker Sonnenbestrahlung auszusetzen. ({1}) Ich gebe zu, daß wir darüber nicht sehr viel wissen, aber es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, den Ausbruch der Krankheit hinauszuzögern, und warum sollten wir danach nicht handeln? ({2}) Ich frage mich auch: Wie sollen wir dem Geheimnis dieser schrecklichen Krankheit auf die Spur kommen, wie will man den Ausbruch dieser Krankheit verhindern, wenn alle Infizierten erst dann erkannt werden, wenn die ersten Symptome auftreten? ({3}) Die Zeit davor dürfte immer wichtiger werden. Als Argument gegen den Test wird angeführt, daß damit die psychischen Probleme für einen HIV-Positiven erst beginnen. Ich frage mich: Was ist da bei anderen tödlichen Krankheiten anders? Auch der Hinweis auf die Unsicherheit, auf die möglichen Fehlerquellen beim Test, halte ich für falsch. Nachdem eine Aussage über den HIV-Status erst dann gemacht wird, wenn mindestens ein Bestätigungstest vorgenommen wurde, sagen uns alle Fachleute, daß der Test wesentlich sicherer ist, als die Gegner angeben. Es hat ja auch in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte gegeben. Als Hauptargument wird angeführt, daß bei sehr geringen Durchseuchungen mehr Falsch-Positive als Richtig-Positive gefunden werden. Ich will noch weitergehen: Wenn es in einer Grundgesamtheit überhaupt keine Positiven gibt, wird es auch Fehler geben. Hier werden von den Testgegnern die Zahlen in ein falsches Verhältnis gesetzt. Es gibt in der Mathematik das Grundgesetz, daß man nicht durch Null teilen darf und auch nicht durch kleine Zahlen, weil dann falsche Ergebnisse herauskommen. Genau diesen Fehler machen die Gegner der Tests. Ich kann allen nur empfehlen, einmal auf einem kleinen Taschenrechner eine Division durch Null zu probieren; dann erscheint die Schrift „error" , Fehler, weil das nicht möglich ist. Mich macht es darüber hinaus mißtrauisch, wenn mir berichtet wird, daß bei einem Seminar über Drogen, Prostitution und AIDS eine Juristin empfiehlt, sich nicht testen zu lassen, denn dann brauche man nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, wenn man andere ansteckt. Ich halte es in höchstem Maße für fahrlässig, wenn man angesichts dieser Bedrohung und der Tatsache, daß man über diese Krankheit so wenig weiß, Testentmutigungskampagnen startet. Wie sollen wir an die Verantwortung des einzelnen appellieren, sich dann testen zu lassen, wenn Zweifel bestehen? Wir sollten dafür sorgen, daß diejenigen, die sich freiwillig testen lassen - ich betone nochmals: sich freiwillig testen lassen - , entsprechend gut beraten werden und im Falle der bösen Nachricht "HIV-positiv" von der Gesellschaft nicht allein gelassen werden. Dazu ist allerdings - das wurde schon betont - ein Klima des Vertrauens notwendig, denn wenn ein Infizierter neben dem biologischen Tod auch noch den gesellschaftlichen Tod befürchten muß, ist eine vernünftige Prävention nicht mehr möglich. ({4}) Die Enquete-Kommission hat in ihrem Bericht das Thema des § 175 angesprochen. Dieser Paragraph hat sicher unmittelbar mit AIDS nichts zu tun, denn AIDS ist nicht eine Krankheit der Homosexuellen, sondern eine Krankheit der promisk Lebenden und der Drogenabhängigen. Aber weil gerade in der Gruppe der Homosexuellen die Zahl der Infizierten heute noch höher ist, weil die Erfahrung der Homosexuellen mit dieser Krankheit, mit der Aufklärung und mit medizinischen Problemen besonders groß ist und weil wir auf diese Erfahrung nicht verzichten können, ist das Vertrauen in diese Gruppe und aus dieser Gruppe besonders wichtig. Ich glaube, daß wir hier das Sexualstrafrecht neu überdenken sollten. Wahrscheinlich ist es nur notwendig, daß wir es neu formulieren, ohne materiell etwas zu ändern. In diesem Zusammenhang will ich auf einen anderen Bereich zu sprechen kommen, der ebenfalls sehr problematisch ist, weil man allzu leicht von bösmeinenden politischen Gegnern in eine falsche Ecke gedrückt werden kann. Ich betone auch ausdrücklich, daß ich das, was ich jetzt ausführe, nicht in Absprache mit meiner Fraktion sage. Ein Bereich, in dem die Verbreitung von AIDS ebenfalls sehr sorgfältig beobachtet werden muß, ist der der Prostitution. Die Anhörungen haben uns gezeigt, daß man an die Freier kaum herankommt, um sie im Sinne einer Prävention vernünftig anzusprechen. Die einzig realistische Chance, die Präventionsbotschaft loszuwerden, bieten die Prostituierten selber, aber auch hier gibt es unterschiedliche Chancen. Wenig Chancen gibt es, so sagen die Fachleute, im sogenannten Straßenstrich und bei der Prostitution in den Bars. In Bars dürfte die Prostitution eigentlich nicht stattfinden, weil sonst die Wirte ihre Konzession loswurden. Bessere Möglichkeiten, Prostituierte anzusprechen, gibt es in den sogenannten Clubs, aber auch hier wird unter den Augen der Ordnungsämter eigentlich gegen geltendes Recht verstoßen, denn an Eimer ({5}) diesen Orten dürfte kein Alkohol ausgeschenkt werden, weil die Clubs keine Konzessionen haben. Beides aber geschieht bei zugedrückten Augen der Ordnungsämter. Es wurde dem Leiter eines Ordnungsamtes bei Strafe angedroht, die Clubs in seinem Bereich zu schließen, weil sie keine Konzession zum Ausschenken von Alkohol besitzen. Wenn diese Berichte stimmen, sind bereits eine Reihe von Clubs geschlossen worden und die Prostitution auf den Straßenstrich verdrängt worden. Das heißt, es gibt eine Verschiebung von dort, wo Prävention und Aufklärung möglich wären, dorthin, wo sie schwerer kontrollierbar und für die Prävention nicht mehr ansprechbar ist. Ich glaube, daß diese Rechtsunsicherheit ein Bereich ist, den wir in der künftigen Arbeit der Kommission behandeln müssen. Auch wenn wir mit dieser Art von Gewerbe nichts zu tun haben wollen, dürfen wir Rechtsunsicherheit nicht zulassen. Wir sollten uns vor allem nicht die Möglichkeit verbauen, auf diesem Wege für mehr Prävention zu sorgen und damit die Zahl der Ansteckungen zu reduzieren. Auch die Aussagen der Kommission zu Methadon geschehen ja nicht deshalb, weil wir überzeugt sind, damit den Drogenabhängigen zu helfen, sondern weil wir glauben, Ansteckungen reduzieren zu können. Lassen Sie mich noch etwas zur Verläßlichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen sagen. Die HIV-Infektion und AIDS sind so neu, daß wir nicht davon ausgehen können, daß das, was wir heute wissen, unumstößliches Wissen auch für die Zukunft ist. Ich jedenfalls habe den begründeten Verdacht, daß wir durch neue Erkenntnisse gezwungen werden könnten, altes Wissen sehr schnell über Bord werfen zu müssen. So sind für mich heute die verschiedenen Wege, sich anzustecken, wissenschaftlich nach wie vor unbefriedigend beschrieben und nicht in Übereinstimmung mit den Zahlen, die uns vorliegen. Ich gehe davon aus, daß uns neue Erkenntnisse über Ansteckungswege früher oder später ins Haus stehen. Alle heutigen Ergebnisse sind nur vorläufig. Wer heute starre Positionen bezieht, ist morgen wahrscheinlich gezwungen, Fehler zuzugeben. Es gibt keinen Grund für Panik, weil normale gesellschaftliche Kontakte nach allem, was wir wissen, nicht die Gefahr einer Ansteckung bedeuten. Es gibt aber auch keinen Grund zur Entwarnung, weil die Zahl der Ansteckungen nach wie vor steigt, und weil wir zu wenig wissen. Ich bewundere alle diejenigen, die glauben, sicheres Wissen zu besitzen und dementsprechend fest ihre Meinungen vertreten. Wir sollten bei der ganzen Diskussion folgendes nicht vergessen: Wir gehen einen sehr, sehr schmalen Weg zwischen Panikmache und Verharmlosung. Wir gehen einen sehr schmalen Weg der Abwägung zwischen zwei Grundrechten: Da ist auf der einen Seite das Recht auf Datenschutz und auf der anderen Seite das Recht auf Leben und Gesundheit. Das Recht auf Leben und Gesundheit ist für mich höherwertig. Wir dürfen aber nicht vergessen: Nur in einem Klima der Toleranz, des Mitgefühls, der persönlichen und gesellschaftlichen Hilfen für die Betroffenen kann sich auch der Nichtinfizierte langfristig sicher fühlen. Ausgrenzung bedroht auch die Sicherheit der Gesunden. Das Klima der Offenheit muß für alle Seiten gelten. Ich sage nochmals: Wer die Krankheit durch Testentmutigungskampagnen verstecken will, wird später möglicherweise in Panik enden. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Wilms-Kegel.

Heike Wilms-Kegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute den Zwischenbericht der Enquete-Kommission AIDS. Das Thema stand in den letzten Monaten nicht mehr sehr im Mittelpunkt der Diskussion, sicherlich auch bedingt durch das unsägliche und unsoziale Gesundheits-Reformgesetz der Bundesregierung. Tatsache ist jedoch, daß sich, obwohl das Thema nicht mehr so sehr die Schlagzeilen beherrscht, ein grundsätzlicher Gesinnungswandel gegenüber HIVInfizierten und AIDS-Erkrankten nicht vollzogen hat. Bereits bei der Vorstellung dieses Berichtes durch die Mitglieder der Enquete-Kommission hat sich durch die Ausfälle von Herrn Geis gezeigt, mit welchem Minimum an Sensibilität und Toleranz, vor allem in der CSU, über diese Problematik gesprochen wird. Daran hat sich leider auch nach der Entmachtung des bayerischen Chefdiskriminierers Peter Gauweiler nichts geändert. Die bayerische AIDS-Politik ist auch in der Zeit nach Gauweiler unverändert diskriminierend, ausgrenzend, bestrafend und kriminalisierend. ({0}) Eine Gesinnungsänderung hat in Bayern nicht stattgefunden. Keine einzige Verordnung wurde seit Gauweilers politischem Abstieg zurückgenommen. ({1}) Die Jagd auf HIV-Positive geht in unverminderter Härte weiter, ({2}) während den bayerischen AIDS-Hilfen systematisch der Geldhahn zugedreht wird. ({3}) - Ich lasse keine Zwischenfrage zu, Herr Geis. Ich habe so wenig Redezeit, daß ich im Zusammenhang reden möchte. ({4}) Die AIDS-Politik der Bundesregierung ist nach wie vor unkoordiniert. Moderate Vermittlungsversuche von Frau Ministerin Süssmuth stehen bayerischen Realitäten in der gesamten Bundesrepublik gegenüber. Daran ändern auch die Beratungsergebnisse der Enquete-Kommission nichts, zu denen die GRÜNEN insgesamt 28 Sondervoten eingebracht haben. Auf zwei besonders wichtige dieser Sondervoten möchte ich kurz eingehen. Von interessierten Kreisen wird im Zusammenhang mit der AIDS-Problematik immer wieder die Bedeutung epidemiologischer Untersuchungen betont. Wir GRÜNEN geben dem individuellen Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundsätzlich Vorrang vor Datensammlung zur bloßen Wissensmehrung. Unter dem Deckmantel der Forschungserfordernisse der Epidemiologie wurden schon Tausende, ja Zehntausende von illegalen HIVTests bei Einstellungsuntersuchungen, bei Aufnahmen im Krankenhaus und anderswo gemacht. Darüber hinaus bietet gerade das in der Diskussion befindliche Gesundheits-Reformgesetz einen idealen Nährboden durch die geplanten Verdatungsmaßnahmen im Gesundheitswesen, denen ich insbesondere im Hinblick auf die Datensammelwut vieler derzeitig agitierender AIDS-Politiker und AIDS-Politikerinnen mit großem Schrecken entgegensehe. Schon heute sind Indiskretionen und Dateien an der AIDS-politischen Tagesordnung. Dies wird durch zahlreiche der Paragraphen, die im neu geschaffenen GesundheitsReformgesetz vorgesehen sind, erleichtert und sogar legalisiert. Die GRÜNEN sind der Auffassung, daß anonyme Fallstatistiken zur Abschätzung der Verbreitung der Erkrankung und Infektion und zur Überprüfung der Wirksamkeit von Aufklärungsmaßnahmen völlig ausreichen. Ein weiteres umfassendes Sondervotum haben wir auch zum Thema Prävention formuliert. Die GRÜNEN widersprechen jeder Form von Panikmache, Hysterie und allen Versuchen, ein unausweichliches, allgegenwärtiges Infektionsrisiko zu suggerieren. Die Übertragungswege für HIV-Infektionen sind bekannt, also gibt es Möglichkeiten, sich gegen die Infektion zu schützen. Auch über die Schutzmöglichkeiten gibt es Informationsmöglichkeiten, wenn auch nicht in ausreichendem Umfang, insbesondere fehlt es an tabufreier Aufklärung. Dies alles scheint jedoch bislang an der Bundesregierung, insbesondere am Verkehrsminister Dr. Jürgen Warnke, vorbeigegangen zu sein. Wie sonst ist es erklärlich, daß seit drei Wochen eine Verordnung aus seinem Ministerium in Kraft ist, die - allein bei dem Begriff sträubt sich alles in mir - „Anti-AIDS-Handschuhe", zwei Paar an der Zahl, für jeden Verbandskasten in jedem Auto vorschreibt. Herr Warnke weiß nicht, daß es weltweit bislang keine einzige HIVInfektion bei erster Hilfe am Unfallort gegeben hat. Herr Warnke weiß nicht, daß eine HIV-Infektion in solchen Fällen nur durch Blut-zu-Blut-Kontakte, wenn überhaupt, möglich ist, daß so etwas aber durch seine Maßnahme natürlich nicht verhindert wird. Herr Warnke weiß nicht, daß die von ihm bevorzugten Einmalhandschuhe im Durchschnitt mit zwei Löchern pro Stück die Fabrik verlassen, um dann im Laufe von einigen Monaten immer poröser und unzuverlässiger zu werden. Meine Damen und Herren, wenn mit derartigem Dilettantismus in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin AIDS-Politik gemacht wird, ganz zu schweigen von dem umweltpolitischen Skandal, der uns tonnenweise PVC-Müll bescheren wird, denn es ist ausdrücklich vorgesehen, daß nur PVC-Handschuhe zugelassen sind, ({5}) dann brauchen wir uns allerdings über mangelndes Wissen in der Bevölkerung und deren Ursachen in der Enquete-Kommission auch nicht länger den Kopf zu zerbrechen. ({6}) Die GRÜNEN im Bundestag fordern umfassende und tabufreie Aufklärungsmaßnahmen, die allein das Ziel haben dürfen, eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dies ist allerdings nur in einem gesellschaftlichen Klima möglich, das durch gegenseitige Toleranz und Akzeptanz unterschiedlicher Lebensstile und Gewohnheiten geprägt ist. Nur in einem solchen Klima können AIDS-Kranke, HIV-Positive und nicht infizierte Menschen miteinander leben. Der Slogan „Gib AIDS keine Chance" hat nur dann eine Chance, umgesetzt zu werden, wenn wir endlich begreifen, daß nur eine uneingeschränkte Solidarität gegenüber einer politischen Maxime Platz greifen muß, die da heißt: Ausgrenzung, Verfolgung und Diskriminierung außerhalb unserer Grenzen. Trotz AIDS: Ja zu Lust und grenzenloser Liebe. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort Frau Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach eingehenden Anhörungen und Beratungen hat die Enquete-Kommission des Bundestages „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" ihren Zwischenbericht vorgelegt. Ich möchte zu Beginn insbesondere dem Vorsitzenden und allen Mitgliedern, auch denen, die zu den Anhörungen gekommen sind, ganz herzlich danken. Denn aus meiner Sicht hat gerade die Tätigkeit der Enquete-Kommission entscheidend dazu beigetragen, daß wir einen Weg der Vernunft und der Menschlichkeit gehen und, wie ich hoffe, auch weiterhin gehen werden. ({0}) Daß die Meinungen aufeinanderprallen, daß sie auch heute wieder unterschiedlich sind, wird uns auch in Zukunft begleiten. Denn ich gehe nicht davon aus, daß bei aller Annäherung Übereinstimmung in allen Teilen herrscht. Entscheidend ist aber - lassen Sie mich das von dieser Stelle aus sagen - , daß wir miteinander im Gespräch bleiben. Denn wir sind nur dann in der Lage, uns im menschlichen Kampf gegen AIDS zu bewähren, wenn wir uns auch als Politiker in den Kommissionen bewähren. Sonst wird alles überflüssig, was wir draußen sagen und selbst nicht einhalten. Deswegen ist dies meine Bitte. 7058 Deutschei Bundestag - 11. Wahlperiode Bundesminister Frau Dr. Süssmuth Ich bin nicht nur für das dankbar, was Sie als Bestätigung bringen, sondern auch für das, was Sie kritisch äußern. Ihr mehrfach ausgesprochener Gedanke des Lernens gilt gerade auch für die Regierung. Wir befinden uns im AIDSBereich in einem ständigen Lernprozeß. Dabei möchte ich allerdings auch an den Anfang stellen, was in der Bundesrepublik Entscheidendes erreicht worden ist. Ich sehe es nicht einseitig negativ und möchte mit dem Positiven beginnen. Als wir mit der AIDSAufklärung anfingen, stellte sich ein breiter Strom der Bevölkerung gegen das, was wir in Regierung und Fraktionen taten. Dies hat sich nach intensiver Aufklärungsarbeit nach einem halben Jahr bereits entscheidend verändert. Heute wird in der Bundesrepublik dieses Thema anders behandelt. Das sehe ich als Positivum an. Ich sehe zweitens als Positivum an, daß die Daten, die uns heute zur Verfügung stehen, zeigen, daß wir im Vergleich zu Ländern in unserer Nachbarschaft eine geringere Rate an Neuinfektionen haben. Das zeigt auch der jüngste Bericht innerhalb der EG-Staaten und der WHO-Staaten. Das zeigen auch die uns zugänglichen Zahlen über die Laborberichtspflicht. Diese Zahlen umfassen die Neuinfektionsraten - soweit uns dort überhaupt Zahlen vorliegen - bei den intravenös Drogenabhängigen. Ich denke, das sind wichtige Daten. Das kann nicht dazu veranlassen, zu sagen, wir könnten hier in irgendeiner Weise Entwarnung geben. Wir haben ganz im Gegenteil die Gefahr, daß bei Überaufklärung, d. h. bei einem Zuviel, oder bei einem falschen Zugang die Abstumpfung immer wieder das Problem ist, das uns entgegentritt. Wir sind auch noch nicht in allen Bereichen mit der Botschaft durchgedrungen: AIDS geht alle an. Es bleibt immer noch die Gegenantwort: Aber mich geht es nicht an; ich lebe doch ganz normal. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang folgendes sagen. Sie haben uns in den Zielen bestätigt: Unsere Aufgabe ist es, Neuinfektionen zu verhindern, Infizierte und Kranke zu unterstützen und zu betreuen, Panik und Hysterie in unserer Bevölkerung zu vermeiden sowie ein solidarisches Klima zu schaffen, in dem Gesunde und Kranke miteinander statt gegeneinander leben. Lassen Sie mich gerade zu dem Punkt AIDS und Gesellschaft das wiederholen, was ich eben schon gesagt habe. Den Dank, den ich der Enquete-Kommission schulde, möchte ich gerade auf jene medizinischen Forscher ausdehnen, die sich über das Gebiet der Medizin hinaus gesellschaftlich eingelassen und engagiert haben, um gesellschaftliche Folgen dieser Krankheit mit harten Konsequenzen für den einzelnen zu vermeiden. Denn das ist weit mehr als ein medizinisches Problem. Die Forschung hat Hochkonjunktur. Wir brauchen sie auch. Aber wir müssen uns sehr wohl im klaren sein, daß wir nach heutigem Erkenntnisstand noch auf Jahre hinaus nicht sagen können, wie wir dieser Krankheit per Impfstoff vorbeugend oder per Kausaltherapie heilend begegnen können. Deswegen sind wir aufgefordert, auf dem Weg der Prävention fortzuschreiten und dort Gutes fortzusetzen, Mangelhaftes zu verbessern. Lassen Sie mich des weiteren ein Wort zu der, auch von Ihnen, Frau Conrad, kritisierten Prävention sagen. Ich hoffe, daß wir darin übereinstimmen, daß der Mensch mehr braucht als technische Anleitung. ({1}) Wenn wir das vorausschicken, können wir mit den für Jugendliche und Erwachsene komplizierten Fragen: Könnte sich mein Partner irgendwo anders infiziert haben, welche Vorkontakte hat er gehabt? ein schwieriges psychologisches und auch ethisches Feld angehen. Ich möchte aber auch noch einmal in diesem Bundestag - Sie haben es am Beispiel der Bundeswehr angesprochen - um das Nachvollziehen folgender Probleme bitten: Es ist für Aufklärung, die über staatliche Instanzen erfolgt, wahnsinnig schwierig, einen Weg zu gehen, der unwidersprochen bleibt. Wenn ich mir die AIDSAufklärung in den Staaten ansehe, muß ich sagen: Zum heutigen Zeitpunkt wäre es niemals möglich, das gleiche in der Bundesrepublik zu tun. Wir haben es eben mit unterschiedlichen Mentalitäten zu tun. Deswegen können wir nur schrittweise auf dem Weg einer guten Aufklärung in diesem Feld voranschreiten. Wir haben diese Debatte ja seit Jahren. - Das ist das, was ich auch zum Verständnis der Regierungstätigkeit auf diesem Gebiet einfach anführen muß. Ich kenne alle diese Verleumdungen, auch weil sie mir selbst passieren, so unlängst wieder aus maßgeblichen Kirchenkreisen, wo gesagt wurde, ich scheute mich nicht, mir ein Kondom überzuhängen, um für Kondome zu werben. Was dieser Unsinn angesichts einer Problematik soll, bei der es wirklich darum geht, daß wir Menschen sagen: Ihr müßt euch schützen, und daß zu diesem Schutz sehr unterschiedliche Verhaltensweisen gehören, das Miteinander sprechen, auch die Frage: Gehen wir beide zum Test?, weiß ich nicht. Ich finde, es wäre das Verhängnisvollste, was wir machen könnten, den freiwilligen Test dadurch zu boykottieren, daß wir sagten: Laßt das! ({2}) Es geht hier nicht um ein statistisches Problem, sondern es geht auch darum - auch ich habe eine Anzeige zurücknehmen müssen, Herr Eimer - , daß wir das immer mit dem wichtigen Teil der Beratung verbinden. Wenn die Beratung fehlt, ist es verhängnisvoll; ({3}) denn es ist eben nicht wie bei der Information über irgendeine andere Krankheit. AIDS ist eine andere Art von Krankheit, auch mit Ausgrenzungen verbunden. Das ist mein Hauptproblem. Es wird auch die Enquete-Kommission beschäftigen, in welcher Weise es uns gelingt, Ausgrenzungen entgegenzuwirken. ({4}) Deshalb ist die Beratung vorher und nachher ganz entscheidend. Es ist uns nicht gelungen - das möchte ich hier sagen - , dort, wo AIDS die Menschen hautnah betrifft, schon durchgängig bessere Verhaltensweisen zu bewirken, angefangen bei der Pflegebereitschaft bis hin zum Miteinanderwohnen, dem Hautnahbeisichhaben dieser Menschen. In all diesen Bereichen ist noch eine Menge zu tun. Das gilt auch im Hinblick auf zügige Hilfen über unsere Sozialbehörden. Oft warten die Betroffenen monatelang, bis sie die Bescheinigung haben, um dann Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu können. Ich denke, hier sollten wir gemeinsam weiterarbeiten. Viele der Anregungen, die Sie gegeben haben, sind im Feld der medizinischen Forschung schon aufgenommen. Dies gilt auch für die Bereiche „AIDS und Frauen", „Behinderte". Ich bin zur Zeit dabei, mit Blick auf eine Verstärkung des Drogen-Programms zu prüfen, wie wir Methadon verantwortlich handhaben können; denn wir haben bereits eine unterschiedliche Praxis in den Ländern. Abschließend danke ich noch einmal und wünsche, daß die Phase bis zu ihrem Endbericht von Lern- und Dialogbereitschaft und von Hilfen bestimmt sein wird, die wir gegenseitig brauchen, um diesen Kampf gut bestehen zu können. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Großmann.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will vorweg ein paar Worte zu der Testproblematik sagen, die wir sicherlich heute nicht ausdiskutieren können. Herr Eimer hat sie ausführlich angesprochen, und ich meine, es wären dazu zwei Zitate nachzuliefern, die die Positionen, einmal das Mehrheitsvotum und dann auch die Ergänzung durch einige Abgeordnete, noch einmal klarmachen. Da heißt es im Mehrheitsvotum im Bericht - ich zitiere - : „Das legt einen eher vorsichtigen, in jedem Falle aber bedachtsamen Umgang mit dem HIV-Antikörpertest nahe. " Wir haben dann zusätzlich formuliert, um auch die Zeitvariante hineinzubringen, um auch mehr darüber zu sagen, zu welchem Zeitpunkt wir diese Aussage machen: Solange es keine kontrollierte, geprüft wirksame und sichere medizinische Intervention in der Phase der Symptomlosigkeit gibt, mit der der Ausbruch der Krankheit im Einzelfall unwahrscheinlicher oder der Zeitpunkt hinausgeschoben wird, gibt es auch keine allgemeingültige individualmedizinische Indikation für den HIV-Antikörpertest im Sinne einer Früherkennung zur Frühbehandlung .. . Ich denke, es ist wichtig, das noch einmal zu sagen, weil daraus hervorgeht, daß nicht das Instrument des Testes insgesamt verteufelt oder in Frage gestellt werden soll, sondern er muß genau plaziert werden in die Arbeit, in die Aufklärung, in die Beratung, in die Erkennung. Zum jetzigen Zeitpunkt mit dem Wissensstand, den wir jetzt haben, können wir nicht dazu aufrufen, daß sich möglichst viele testen lassen, sondern es ist ganz wichtig, daß sich jeder einzelne genau überlegt und genau beraten wird, wann und ob ein Test angewandt werden soll. ({0}) Wesentlicher Gradmesser für die Arbeit der Enquete-Kommission und die Bewertung des Zwischenberichts müssen der Einsetzungsbeschluß des Deutschen Bundestages vom 8. Mai 1987 und die darin formulierten Ziele sein. Darin heißt es, daß es Aufgabe der Kommission ist - ich zitiere - , „durch Verbesserung des Informations- und Wissensstandes des Deutschen Bundestages ... seine politischen Beratungen und Entscheidungen vorzubereiten und wissenschaftlich abgesichert zu fundieren". Diese Aufgabenstellung scheint auf den ersten Blick sehr weit gefaßt, ist aber in einer Hinsicht ganz deutlich. Ihrer Definition und diesem Auftrag gemäß kann die Enquete-Kommission nur vorbereitende Arbeit leisten und kann keine politischen Entscheidungen vorwegnehmen. Dies hier noch einmal zu unterstreichen, scheint mir wichtig zu sein, da einzelne Mitglieder die Arbeit der Kommission immer wieder behinderten, indem sie sie zu politisieren versuchten, und das hat manchmal doch dazu geführt, daß wir viel Zeit vertan haben. ({1}) Anders als in anderen Ländern ist die Diskussion um und über AIDS in der Bundesrepublik lange Zeit sehr emotional geführt worden. Dazu will ich einige Fakten liefern. Die Sensationspresse versuchte mit reißerischen Aufmachern, die Auflagenhöhe zu steigern. In der Politik unterlagen einige der Gefahr, durch harte Maßnahmen, durch undurchdachte Schnellschüsse die Krankheit AIDS geradewegs wegadministrieren zu wollen. Schließlich führten mangelnde Information, falsche Information, Sensationsmache und ein Bündel von Angsten und Vorurteilen zu der ersten schlimmen Diskriminierung von Infizierten und AIDS-Kranken. In genau diesem Umfeld wurde der Auftrag der Kommission formuliert, unter diesen Rahmenbedingungen haben wir unsere Arbeit aufgenommen. Hinzu kommt, daß unser Thema in Bereiche führt, die verfestigte Tabus unserer Gesellschaft zentral berühren, vor allem die Sexualität mit ihren vielfältigen Formen und den Tod. Es war klar, daß dies zu Problemen in unserer Arbeit führen würde. Die Beschäftigung mit der Krankheit AIDS war und ist für jeden von uns auch die Auseinandersetzung mit eigenen Tabus, mit eigenen Vorurteilen, mit eigenen Ängsten, mit eigener Verdrängung. Das kann zu persönlichen Lernprozessen führen, die Angst vor der Auseinandersetzung kann aber auch zur persönlichen Blockade und damit zur Unfähigkeit führen, die eigenen Tabus zu überwinden. Wir sollten so ehrlich sein, einzugestehen, daß wir beides in der Arbeit erlebt haben. Der Zwischenbericht ist in einigen Teilen ein Kompromißpapier - darauf wurde bereits hingewiesen -, aber kein schlechtes, wie ich denke. Er leistet eine erste Bestandsaufnahme, zeigt Handlungs- und Forschungsbedarf auf, dies alles nach sehr vielen An7060 hörungen von internationalen Fachleuten und, was wichtig ist, auf einer breiten interdisziplinären Grundlage. Er ist, schaut man sich die Berichterstattung an, ein guter Bericht, auch von außen so bewertet. Manche haben uns zuviel Detailfreude vorgeworfen, aber ich denke, daß es beser ist, detailliert und fundiert an die Arbeit zu gehen, als oberflächlich und lückenhaft zu arbeiten. Dieser Bericht kann und sollte zur Versachlichung der Debatte beitragen. Wer über AIDS redet, muß über Homosexualität, Bisexualität und andere Formen sexuellen Verhaltens reden. Wer über AIDS redet, kann Prostitution, Drogenabhängigkeit, Strafvollzug nicht ausklammern. Es nutzt nichts, sich an der eigenen Vorstellung von einer möglichst heilen Welt zu orientieren. Wer nicht bereits ist, sich mit allen Facetten der Wirklichkeit zu beschäftigen, auch und gerade mit dem, was uns schockiert, was manchen von uns sogar abstößt, was uns angst oder ratlos macht, der kann zur Lösung des Problems nur wenig beitragen. ({2}) Dabei geht es nicht um die Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen in dem Sinn, daß man eigene Werte über Bord wirft. Es geht um das Zurkenntnisnehmen der realen Welt in unserem Land mit all den Gegebenheiten, die wir bei der Bekämpfung von AIDS berücksichtigen müssen. Das sind die gesellschaftlichen Aspekte, die klar im Kommissionsauftrag stehen. Mir geht es darum, das noch einmal klar herauszuarbeiten. Erst auf der Grundlage einer guten Analyse können Vorschläge z. B. zur Prävention gemacht werden. Deshalb ist es gut - ich freue mich, daß auch Ministerin Süssmuth darauf hingewiesen hat - , daß gerade das Kapitel „AIDS und Gesellschaft" am Anfang unseres Zwischenberichts steht, weil sich darauf vieles beziehen muß und weil es sich intensiv mit den Prozessen befaßt, die AIDS bei den Betroffenen, im Freundes- und Familienkreis, aber auch gesamtgesellschaftlich auslöst. Weitere Kapitel tragen - das ist schon erwähnt worden - die Überschrift „Das Krankheitsbild von AIDS", „Übertragungswege aus heutiger Sicht", „Epidemiologie", „Primärprävention" und „Prävention bei intravenös Drogenabhängigen". Fast 100 Vorschläge hat die Kommission zu diesen verschiedenen Bereichen erarbeitet. Da wird es dann auch spannend; denn diese Vorschläge müssen von der Bundesregierung und vom Bundestag beraten und umgesetzt werden, und zwar möglichst zügig. Ich denke, wir sind uns alle darin einig, daß wir dabei keine Zeit zu verlieren haben. Die bisherigen Erfahrungen stimmen mich ein bißchen skeptisch. Präventionskampagnen - darüber ist bereits gesprochen worden - starten spät und gehen oft an Zielgruppen vorbei. Es ist halt die Frage, ob das Bundesamt für gesundheitliche Aufklärung oder eine Serie der „Lindenstraße" mehr bewirkt. Ich denke, wir müssen weiter darüber nachdenken, wie wir die Präventions- und Aufklärungsarbeit ständig verbessern können. Mir fallen noch einige andere Beispiele ein. Ich denke z. B. an die beiden Broschüren, die herausgegeben worden sind. Auf der einen steht vorne drauf, daß es um AIDS geht. Auf der zweiten Broschüre steht - wir als Kommissionsmitglieder müßten ja sehr froh darüber sein - : „Was jeder über den HIV-Antikörpertest wissen sollte." Nur, wer weiß in der Normalbevölkerung - sage ich jetzt einmal - , daß der Test, mit dem man seine Infektion erfahren kann, „HIVAntikörpertest" heißt? Es wäre ganz gut, schon auf der Titelseite in irgendeiner Form darauf aufmerksam zu machen, daß es ein Heft ist, das Aufklärung über AIDS leistet. Oder ich denke an Berichte in den Zeitungen der letzten Tage, nach denen ein Programm, AIDS-Aufklärung in Diskotheken, zu betreiben - ich zitiere aus der „Aachener Volkszeitung" - , „monatelang in der Bürokratie steckenblieb". Ich weiß nicht, ob das so korrekt ist oder nicht. Aber man sieht daran: Es gibt, gerade was die Prävention anbetrifft, eine ganze Menge Ungereimtheiten. Es fragt sich, ob das eine Mentalitätsfrage unserer Bevölkerung oder unserer Bürokratie ist. Ich meine, wir sollten versuchen, möglichst vorne zu sein, wenn es um Präventionsstrategien und Aufklärung geht. Es gibt genug Modelle in anderen Ländern, wo wir - ich sage es einmal ein bißchen flapsig - abkupfern können und die wir auch auf unser Land übertragen können. Es dauert noch zu lange, bis Forschungsprojekte grünes Licht erhalten. Wir haben sicherlich Gelegenheit, im zweiten Bereich, also bis zum Endbericht gerade über das Thema Forschung noch weiter zu sprechen. AIDS-Hilfen und andere Beratungs- und Betreuungsdienste leiden unter dem Kompetenzgerangel zwischen Bund, Arbeitsamt und Ländern, ich denke nur an die Diskussion, die wir über die Frage führen mußten, ob ABM-Kräfte in AIDS-Hilfen arbeiten dürfen oder nicht. Ich denke, bei diesem Gerangel wird sehr viel Energie und Zeit verschwendet, die wir fruchtbringender einsetzen könnten. Ich habe auch ein bißchen Angst davor, daß eine regelrechte AIDSBürokratie entsteht. Auch insoweit müssen wir Vorsorge treffen, damit das nicht der Fall sein wird und damit wir möglichst unbürokratisch arbeiten. Es ist ja schon verwunderlich, daß man Stiftungen, AIDS-Stiftungen gründen muß, um eben unbürokratische Arbeit leisten zu können, um da zu helfen. Sie haben selber darauf hingewiesen, daß es in Bürokratien teilweise sehr lange dauert, bis Hilfe kommt. Ich denke, daß da viel bewegt werden muß und daß das auch ein Stück Solidarität ist, die wir für die erarbeiten müssen, die infiziert oder von AIDS betroffen sind. Ihnen, Frau Süssmuth, wird manchmal die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit vorgeworfen. Wir als SPD sind in der Kommissionsarbeit Kompromisse auch deshalb eingegangen, um Ihren Politikansatz von Aufklärung und Beratung zu stützen - übrigens manchmal gegen Angriffe aus Ihrer eigenen Partei. Wir müssen Ihre Politik jetzt an der Realität messen. Das heißt, unser Appell ist: Helfen Sie mit, daß das, was wir in der Kommission erarbeitet haben, umgesetzt werden kann! Es ist klar, daß ich Sie deshalb auffordere, möglichst unverzüglich an die Arbeit zu gehen, die Vorschläge der Kommission in reales Handeln umzusetzen. Leider haben Sie heute keine konkreten Aussagen dazu gemacht. Es hätte mich gefreut, wenn wir zu dem Zeitplan auch aus Ihrer Sicht etwas gehört hätten. Die Frage wird sein, wie Sie sich gegen Teile der eigenen Partei und - vielleicht - auch noch gegen die CSU durchsetzen. Über Herrn Gauweiler ist schon gesprochen worden; er soll, muß sich jetzt um Gebirgsbäche kümmern. ({3}) Ich weiß nicht, ob damit ein Teil des Störfeuers bei Ihrer Arbeit wegfällt. Sie können auf jeden Fall sicher sein, daß wir Ihren Politikansatz in dieser Hinsicht unterstützen. Die Kommission hat ihre Arbeit wieder aufgenommen; der Zwischenbericht ist veröffentlicht worden. Ganz wesentliche Kapitel müssen noch erarbeitet werden. Dazu zählen - ich will das einmal plakativ formulieren - die Betreuung und Versorgung der Erkrankten, die Beratung, die Betreuung und Versorgung von symptomlos HIV-Infizierten. Wir müssen uns mit dem Thema „AIDS und Kinder" beschäftigen. Wir werden eine eigene Anhörung zum Thema „AIDS und Frauen" haben. Ein ganz schwieriges und ganz umfangreiches Kapitel wird das Thema „AIDS und Recht" sein. ({4}) Was die Forschung angeht, so habe ich schon gesagt, daß wir da einiges aufarbeiten müssen. Ich zitiere da nur aus einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom Juli dieses Jahres, in der es heißt - ich zitiere - : ... daß es in Europa an einer einheitlichen Strategie zur Finanzierung der Forschungsanstrengungen und der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen mangelt. Man könnte hier noch einige andere Zitate anschließen. Das heißt also: Internationale Zusammenarbeit muß auch hier noch verbessert werden. Wir werden über AIDS in anderen Ländern, besonders in der Dritten Welt, sprechen, in denen diese Krankheit ein ziemlich anderes Erscheinungsbild hat. Wir sind gefordert, auch da zu helfen. Man muß z. B. Ärzten, medizinischem Betreuungspersonal dort helfen. Sie sind teilweise furchtbar überfordert, sie haben keine Strategien entwickelt und sind, wie wir es von einigen Ländern gehört haben, gar nicht in der Lage, den Leuten, die infiziert sind, das zu sagen, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ihre Aufklärungskampagnen scheitern teilweise deshalb, weil keine Ressourcen da sind. Man hat also noch nicht einmal die Möglichkeit, Plakate oder Broschüren zu drucken, ganz abgesehen davon, daß viele die noch nicht einmal lesen könnten. Das heißt also: Wir haben vielfältige Probleme zu lösen oder dabei zu helfen, Probleme in diesen Ländern zu lösen. Man redet zwar so leicht von Dritter Welt, vergißt dabei aber manchmal, daß wir nur eine Welt haben und miteinander Verantwortung tragen. Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, daß wir aus den Fehlern, die wir gemacht haben, in der Kommissionsarbeit lernen, daß wir Umgang miteinander in größerer Gelassenheit haben, ({5}) daß wir uns besser zuhören, als das manchmal der Fall war. Trotzdem denke ich, daß wir einen guten Zwischenbericht vorgelegt haben. Wir sollten unsere weitere Arbeit nicht durch Probleme gefährden, die wir uns selber schaffen, sondern uns auf das Wesentliche konzentrieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blank.

Prof. Dr. Joseph Theodor Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir nach einjähriger Beratungszeit im Juni dieses Jahres den Zwischenbericht der AIDS-Enquete-Kommission der Öffentlichkeit vorstellten, fand dieser entsprechend der Bedeutung des Themas große Resonanz. Das Ergebnis unserer Arbeit, der hier heute zu diskutierende Zwischenbericht, wurde durchweg als eine weitgehend gelungene Bestandsaufnahme des AIDS-Problems in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. ({0}) Ich teile diese Bewertung - nicht nur aus dem Selbstverständnis eines Kommissionsmitglieds heraus, sondern auch weil ich mir vom Beginn unserer gemeinsamen Arbeit an darüber klar war, daß es einer Kommission aus 17 Personen unterschiedlichster politischer und fachlicher Herkunft nicht leichtfallen konnte, sich auf Gemeinsames zu verständigen. Als Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der AIDS-Kommission habe ich zunächst allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere auch den diesem Hause als Parlamentarier nicht angehörenden acht sachverständigen Kommissionsmitgliedern, für Engagement und Leidenschaft, für Konsensbereitschaft ebenso wie für das Deutlichmachen unterschiedlicher Standpunkte zu danken. Ich danke aber ebenso dem Sekretär der Kommission und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die unsere Arbeit in vielfältiger Hinsicht erleichtert und gefördert haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch unserem Vorsitzenden, dem Kollegen Dr. Voigt, der das Enquete-Kommissions-Schiff nicht selten durch stürmische Gewässer zu leiten hatte. ({1}) - Jawohl, Herr Kollege Bötsch, wenn Sie dabei gewesen wären, hätten Sie mitgelitten. Dieser Zwischenbericht ist in der Tat eine Bestätigung der bisherigen AIDS-Politik der Bundesregierung und für das insbesondere von Bundesministerin Rita Süssmuth verfolgte Konzept der Aufklärung, der Beratung, der Vorbeugung und der Intensivierung der Forschung. Bei der Gelegenheit, Frau Conrad: Die 2 Millionen DM im Forschungsbereich sind nicht gestrichen, sondern nur in das Programm „AIDS und Drogen" umgeschichtet worden. Frau Ministerin, Ihre Politik wird nicht nur durch den Zwischenbericht bestätigt, Sie verfügen bei Ihrer Politik auch über eine breite parlamentarische Unterstützung in diesem Haus, und zwar über die Regierungsfraktionen hinaus. Beraten statt bestrafen, vorbeugen statt nachkarten: Diese Strategie einer breiten Aufklärung bei weitgehendem Verzicht auf Zwangsmaßnahmen oder Isolierung Infizierter bzw. Erkrankter ist nach meiner tiefen Überzeugung der richtige Weg, um dieser furchtbaren Krankheit und ihren Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft zu begegnen. Ich weiß: Fast alles, was mit AIDS zusammenhängt, stößt in unserer Gesellschaft nach wie vor auf vielfältige Vorbehalte und wird entsprechend kontrovers diskutiert. Das war bei der Arbeit unserer Kommission nicht anders. Es ist nicht nur ehrlich, dies hier auszusprechen, sondern es war auch wichtig, die unterschiedlichen Standpunkte dort, wo kein Konsens möglich war, in Mehrheits- und Minderheitsvoten deutlich zu machen. Doch manche Diskussion in der Öffentlichkeit, aber auch in unserer Kommission war und bleibt mir unverständlich. An der heftigen Debatte, die um die AIDSKrankheit herum stattfindet und die so lange weitergehen wird, wie wir mit ihr zu tun haben, beteiligen sich sowohl hellhörige als auch träge, sowohl vorsichtige als auch unachtsame Menschen; zwischen Untergangspropheten und Bagatellisierern kann sich jeder seinen Standpunkt aussuchen, gegen den er Schattenboxen möchte. Die zum Teil heftigen Diskussionen zum Thema AIDS sind nicht selten auch von persönlichen Angriffen begleitet gewesen, von markigen Worten und Behauptungen auch wissenschaftlich ausgewiesener Zeitgenossen. Bagatellisierungen wie etwa die: in Kürze werden wir den Erreger kennen; dann spricht keiner mehr von AIDS, haben die Debatte ebenso wie hysterische und panische Beiträge unangemessen belastet. Unnötig geschürte Ängste wie unangemessene Beschwichtigungen sind und werden leider immer noch durch bestimmte Darstellungsweisen in den Medien gestärkt. Wir alle kennen die zum Teil reißerisch aufgemachten irreführenden Berichte und Kommentare zu AIDS, Sensationsmeldungen über epidemisch irrelevante oder mit Sicherheit inexistente Übertragungswege - ich sage nur das Stichwort: AIDS durch Mücken - , die die Menschen durch konstruierte Situationen unnötig ängstigen, die letztlich jeden Begrüßungskuß unter tödliches Risiko stellen, statt darüber aufzuklären, daß AIDS bei Alltagskontakten nicht ansteckend ist. Diese Beiträge waren und sind ebenso unerträglich wie Meldungen, die Krankheit sei zum Stillstand gekommen, Entwarnung sei zu vermelden, es sei alles gar nicht so schlimm, wie man vermutet habe. Ich will aber nicht verkennen und möchte das ausdrücklich positiv hervorheben, daß uns allerdings zahlreiche Medien durch sachlich fundierte Berichte geholfen haben, die notwendigen Informationen für die Bevölkerung zu transportieren und damit Untergangsprophezeiungen und Bagatellisierungen gleichermaßen ad absurdum zu führen. Es kann verständlicherweise keine Diskussion über AIDS stattfinden, ohne daß auch die Gesetzeslage, Gesetzesvorschläge, Gesetzesänderungen oder die Auslegung und Anwendung von geltenden Gesetzen diskutiert wird. Ich halte dabei überhaupt nichts von der Behauptung, es sei prinzipiell falsch, ein solches Problem mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen anzupacken. Ich wende mich aber ebenso entschieden dagegen, zu behaupten, man könne auf Gesetze und Verordnungen in diesem Zusammenhang völlig und unter allen Umständen verzichten. Nicht ein Entweder-oder ist gefragt, sondern ein Sowohl-als-auch. Meine Damen und Herren, eine Gesundheitspolitik, die auf eine Vermeidung weiterer Ansteckung zielt, muß nach meinem Dafürhalten von zwei Prämissen ausgehen. Erstens. Sie darf nicht die Illusion erzeugen, daß sie den einzelnen durch staatliche Maßnahmen von der Verantwortung dafür befreit, was er sexuell tut. Zweitens. Sexuelles Verhalten ist durch Angst nur kurzfristig veränderbar. Daraus folgen für mich sieben Punkte: Erstens. Präventiv orientierte Gesundheitspolitik kann nur zusammen mit sexueller Selbstverantwortung und nicht gegen sie arbeiten. Zweitens. Eine weitere und intensivere Aufklärung in der AIDS-Politik ist richtig und notwendig. Drittens. Wegen der Vielfalt sexueller Lebensformen muß eine entsprechende Vielfalt von Aufklärungs- und Beratungsmöglichkeiten gewährleistet werden. Viertens. Das Netz der Beratungsdienste muß daher weiter ausgebaut werden. Fünftens. Ärzte und Pflegepersonal müssen stärker fortgebildet werden. Sechstens. Auf ein mehr symbolisch als praktisch wirksames Kampfprogramm gegen AIDS sollte auch weiterhin verzichtet werden, da sich ansonsten Mißtrauen und Ablehnungsgefühle gegen Risikogruppen, Testpositive und erst recht manifest Kranke verstärken würden. Siebtens. Es ist, so denke ich, weiterhin die Erkenntnis zu fördern, daß alle Verantwortung füreinander tragen: der Gesunde für den Kranken und der Kranke für den Gesunden. Meine Damen und Herren, ich begrüße in diesem Zusammenhang auch die Einstellung der beiden großen christlichen Kirchen zur AIDS-Problematik, die sich offensichtlich - jedenfalls nach dem, was wir in der Kommission gehört haben - wohltuend von dem unterscheidet, was man sonst manchmal aus diesem Bereich hört. Die katholische Kirche sagt zu Recht - ich zitiere - : AIDS ist ein Prüfstein für die Solidarität und Humanität unserer Gesellschaft sowie ihrer Fähigkeit, in ethisch angemessener Weise auf eine schwerwiegende Bedrohung einzugehen. Das Gebot der Nächstenliebe und die Verantwortung für den Mitmenschen verpflichten die Gesunden, den Betroffenen Hilfe und Zuwendung zukommen zu lassen und sie nicht als Gefahrenquellen auszustoßen oder als Schuldige zu diskriminieren. Gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von AIDS haben auch nach Auffassung der katholischen Kirche selbstverständlich die Menschenwürde der Betroffenen sowie das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten. Dei Staat muß Tendenzen zur Entsolidarisierung entgegentreten. Er soll sich selber aller gesetzlichen Maßnahmen enthalten, durch die Träger der HIV-Infektion gebrandmarkt oder ausgestoßen werden. Deshalb ist z. B. eine HIV-Infektion einer werdenden Mutter nach Auffassung der katholischen Kirche kein Grund für eine Abtreibung, die Erkrankung an AIDS kein Anlaß für Sterbehilfe. Auch dies scheint mir richtig. Deshalb rufe ich es in Erinnerung. Das Thema AIDS eignet sich in der öffentlichen Diskussion nach Meinung der katholischen Kirche nicht zur Verfolgung politischer Ziele. Sachfremde Verharmlosung oder aber Dramatisierung würden dem Anliegen, die Krankheit zu stoppen, immer nur schaden und angesichts der Schwere des Schicksals von Betroffenen auf Unverständnis stoßen. Auch die evangelische Kirche erklärt, daß bei allen Maßnahmen zur Bekämpfung von AIDS der Zielkonflikt zwischen bürgerlichen Freiheitsrechten und gesundheitspolitischen Erfordernissen der Gesellschaft gesehen werden muß. Beide Kirchen halten es für verfehlt, die Angst vor AIDS für eine Änderung der Moralvorstellungen in der Gesellschaft zu nutzen, da generell eine durch Angst erzwungene Normenerfüllung eine positive Wertausrichtung und Sinnerfahrung sowie ein entsprechendes Handeln auf Dauer ohnehin nicht gewährleisten kann. Sachgerechte und permanente Aufklärung und Information sind deshalb auch nach Auffassung beider Kirchen am ehesten geeignet, Verhaltensänderungen zu bewirken und so die Ausbreitung der Infektion einzudämmen. Verantwortungsvolles Verhalten verträgt sich aber weder mit einer Verdrängung der AIDSBedrohung noch mit Panik und Hysterie. Meine Damen und Herren, um aber auch das deutlich zu machen: Ich stimme allerdings der katholischen Kirche auch zu, wenn sie die bloße Parole vom Safer Sex als höchst fragwürdig ansieht, soweit dadurch der mit der Menschenwürde unvereinbare Eindruck erweckt wird, daß sich die Geschlechtsbeziehungen auf freien Sexkonsum reduzieren ließen. Auch ich sehe keinen Anlaß, für eine bloße Kondommoral zu plädieren, einer Konsum- und Wegwerfsexualität das Wort zu reden. Sofern die Aufklärungsbotschaft aber lautet, daß, wenn ich nicht in einer festen Zweierbeziehung lebe, Kondome die zweitbeste Möglichkeit zur Infektionsvermeidung sind, dann hat selbst die katholische Kirche nach eigener Aussage mit dieser Form der Aufklärung keine Schwierigkeiten. Ich begrüße das. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Worte zum Mehrheits- und Minderheitsvotum zum Thema Prävention verlieren. Die AIDS-Bekämpfung in der Bundesrepublik ist von zwei konkurrierenden Auffassungen geprägt, die eine: Bekämpfung der weiteren Ausbreitung von AIDS vorrangig auf der Grundlage von Aufklärung, Beratung, sozialmedizinischen Hilfen und freiwilligem Selbstschutz und nur in Ausnahmefällen zu definierender Verantwortungslosigkeit, z. B. Böswilligkeit, Vorsatz, gegen die Betroffenen mit hoheitlichen Mitteln einzuschreiten. Das Gegenkonzept: Bekämpfung der weiteren Ausbreitung, wie gerade gesagt, und daneben ein spezieller Maßnahmenkatalog. Die Mehrheit der Kommission hat sich in diesem Zwischenbericht nur mit dem Teil der Prävention beschäftigt, der sich mit Aufklärung und Beratung befaßt. Dem Endbericht ist vorbehalten, zum Thema „AIDS und Ethik" sowie zu den rechtlichen Maßnahmen bei der Umsetzung von Präventionsstrategien gegen AIDS Stellung zu nehmen. Die Kommissionsmehrheit hat hierzu ausdrücklich festgestellt: „Bei Unverantwortlichen ist in Einzelfällen eine Aktivierung der rechtlichen Gegebenheiten bis hin zu strafrechtlichen Mitteln des Staates nicht auszuschließen." Aber auch hier gilt: Der einzelne kann seine Eigenverantwortung nicht an den Staat delegieren, und der Staat darf nicht zulassen, daß sich der einzelne seiner Eigenverantwortung entzieht. Das Minderheitenvotum zum Kapitel Prävention gibt schon jetzt Empfehlungen zur kurz- und mittelfristigen Orientierung staatlichen Handelns. Die Minderheit ist der Auffassung, daß staatliche Gesundheitspolitik nicht generell auf interventionistische Maßnahmen verzichten kann. Das ist für mich unbestritten. Ein Schwerpunkt unserer Überlegungen über die Prävention muß deshalb im Endbericht notwendigerweise bei den Fragen nach dem Interventionsinstrumentarium und nach den Interventionsschwellen liegen. Auch das ist für mich unstrittig. Ob allerdings die im Minderheitenvotum schon jetzt im einzelnen gemachten Vorschläge so oder anders Grundlage der Empfehlungen der Gesamtkommission sein können, bleibt unseren weiteren Beratungen vorbehalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend einen Wunsch äußern, nämlich daß es uns im Interesse der betroffenen Menschen gelingen möge, auch den Abschlußbericht mit dem Willen zum Konsens zu erstellen und unterschiedliche Auffassungen mit Respekt vor der Meinung Andersdenkender nicht nur passiv zu ertragen, sondern sie als eine Bereicherung zu empfinden zu einer Frage, zu der wir Patentrezepte nicht anzubieten haben und wo wir allesamt, Politiker und Wissenschaftler, der einzelne wie die Gesellschaft, immer wieder die unterschiedlichsten Lernprozesse zu durchlaufen haben. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kolleginnen und Kollegen! AIDS ist eine schwer übertragbare Krankheit, vor der sich Mann und Frau schützen können. Vor den vielen Tonnen Dioxin, die durch die Verbrennung von 100 Millionen PVC-Handschuhen zusätzlich in die Luft gehen werden, werden wir uns nicht schützen können. Das aber nur nebenbei. Ich wollte eigentlich heute hier an etwas anderes erinnern. Als mein Kollege Herbert Rusche in der letzten Legislaturperiode einen Antrag auf Streichung des Schwulensonderparagraphen 175 im Bundestag einbrachte, wurde in der Öffentlichkeit Gift und Galle über die GRÜNEN ausgespuckt. Eine sachliche Diskussion über die diskriminierende Funktion einer strafrechtlichen Kategorie Homosexualität oder über die Frage der sexuellen Selbstbestimmung schwuler Jugendlicher war damals überhaupt nicht möglich. Statt dessen wurde mit irrationalen Ängsten und wirklichkeitsfernen Vorstellungen über Sexualität versucht, die Debatte abzuwürgen. Herr Wittmann von der CSU, dem schon das Wort „schwul" so zuwider ist, daß er befürchtet, durch die bloße Verwendung dieses Wortes hier könnte die Würde des Hohen Hauses Schaden nehmen, hielt gar schon die Reform des Paragraphen von 1973 für zu weitgehend. Frau Hürland von der CDU setzte damals noch eins drauf, indem sie das Wort „AIDS-Kranker" als Beschimpfung gegenüber meinem offen schwulen Kollegen Herbert Rusche benutzt hat. ({0}) - Das kommt, Kollege, das kommt. - Schon deshalb ist es ein großer Fortschritt in der Debatte, daß die AIDS-Enquete-Kommission mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der SPD nun vorgeschlagen hat, „den Tatbestand der Homosexualität aus dem Strafgesetzbuch zu streichen". Damit wurde endlich eingestanden, daß dieser Paragraph auch nach seiner Reform alle Homosexuellen diskriminiert und kriminalisiert. ({1}) Der konkrete Vorschlag der AIDS-Enquete-Kommission, eine einheitliche sogenannte Jugendschutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche im § 182 StGB einzuführen, ist für uns allerdings völlig unakzeptabel. Dieser Vorschlag ist ja nicht neu: In der Strafrechtsreformdiskussion wurde dies bereits diskutiert. Von der FDP wurde dieser Vorschlag damals wegen der Ausweitung der Strafbarkeit im heterosexuellen Bereich meiner Meinung nach völlig zu Recht abgelehnt. In der Debatte um den § 175 wird viel von Jugendschutz fabuliert; scheinheilig, wie ich meine. Denn außer dem Sonderparagraphen 175 gibt es keinen speziellen Jugendschutz für sexuelle Betätigung. Der § 182 StGB ist nichts als ein Überrest der strafrechtlichen Absicherung des Kranzgeldparagraphen im BGB, der in der Rechtsrealität mit zehn Verurteilungen im Jahr kaum mehr eine Rolle spielt und den viele Juristinnen und Juristen überhaupt nicht mehr kennen. Deswegen werden wir noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des § 175 einbringen. In unserer Forderung nach ersatzloser Streichung wissen wir uns einig nicht nur mit der Schwulen- und Lesbenbewegung, mit Fachleuten aus allen relevanten Bereichen und mit großen Teilen der Gewerkschaften ÖTV, GEW und HBV. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache angekommen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Zwischenbericht der Enquete-Kommission an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Berufssport - Drucksache 11/2669 Überweisungsvorschlag des Ältestenrats: Sportausschuß ({0}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Dadurch verkürzt sich die Mittagspause um eine halbe Stunde; denn die Fragestunde wird trotzdem um 14 Uhr beginnen. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Es ist so beschlossen. Das Wort hat der Abgeordnete Büchner.

Peter Büchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sport hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, daß über die Veränderung der derzeitigen Rahmenbedingungen nachgedacht werden muß. Die Schere zwischen dem gemeinnützigen Freizeit- und Breitensport und dem Sport, der als Beruf oder vorwiegend zur Erzielung wirtschaftlichen Gewinns betrieben wird, hat sich weiter geöffnet. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen und aller Voraussicht nach noch verstärken. Die meist ehrenamtlich geführten Sportorganisationen und auch die öffentliche Sportverwaltung wurden von der Kommerzialisierung und der medienpolitischen Einflußnahme überrollt. Erforderlich ist es desBüchner ({0}) halb, die jeweilig unterschiedlichen Kriterien sauber zu analysieren und die Organisationsform, das Rechtssystem und die Finanzierungsregelungen neu zu fassen. Würde dies versäumt, bliebe Schaden für den gesamten Sport nicht aus. Die getroffenen Feststellungen bedeuten keineswegs, die Einheit des Sports aufzugeben. Im Gegenteil: Diese wird nur zu erhalten sein, wenn man die aufgetretene Vielfalt akzeptiert und daraus die richtigen Konsequenzen zieht. Breiten- und Spitzensport sind immer noch miteinander verbunden. Der Verein und der Verband können für beide auch in Zukunft den organisatorischen Rahmen bilden. ({1}) Wir Sozialdemokraten befürworten den Leistungssport, ({2}) wenn er sich nicht nur in Entschließungen der Verbände, sondern auch in der Praxis humanen Gesichtspunkten verpflichtet fühlt. Der Hochleistungssportler, der Berufsathlet, darf nicht zu einem Menschen minderen Rechts werden, weil er sich in einen von kommerziellen Interessen bestimmten Bereich begeben hat. Auch seine Würde als Mensch ist unantastbar. Es erhebt sich zumindest die Frage der Sittenwidrigkeit, wenn Verträge eine Berufsausübung verhindern oder die Wahl des Arbeitsplatzes unzumutbar einschränken. Daß die Ausübung seines Berufs zeitlich besonders beschränkt und durch viele Faktoren gefährdet ist, begründet beim Berufssportler eher eine besondere Schutzwürdigkeit. Wir können uns nicht damit abfinden, und humanen Gesichtspunkten entspricht es jedenfalls nicht, wenn Menschen als Ware verschoben, zu Bilanzposten degradiert und bei Zahlungsunfähigkeit von Klubs schließlich an Banken verpfändet werden. ({3}) Das sind Praktiken des Sklavenhandels, wenn heutzutage die Ketten auch vergoldet sein mögen. Meine Damen und Herren, Berufssport muß sich selbst finanzieren. Die SPD hat dies schon in ihren sportpolitischen Leitsätzen 1965, also vor nunmehr fast 25 Jahren, gefordert. Staatliche Unterstützung rechtfertigt sich im Einzelfall aus den Gründen der staatlichen Repräsentanz. Die Finanzierung des Berufssports durch Preisgelder, Zuschauereinnahmen, Übertragungsrechte, Sponsoren oder Werbung hat den allgemeinen Steuergesetzen zu unterliegen. Dabei müssen freilich Regelungen verbessert werden, die die steuerliche Anerkennung des Aufwands für die Ausbildung und die Durchführung des Sports in diesem Bereich betreffen. Grauzonen müssen beseitigt werden; eine Offenlegung der Rechnungen ist erforderlich; die Nettoliga muß weg. Im Blick auf diese Ziele sprechen wir uns durchaus für angemessene Pauschalisierungen aus, die im heutigen System jedenfalls zu gering sind. Wir fordern weiter eine vereinfachte, unbürokratische Handhabung der Bestimmungen. Meine Damen und Herren, der Zusammenarbeit zwischen Sport und Wirtschaft, die wir grundsätzlich befürworten, müssen eindeutige Regelungen zugrunde gelegt werden. Zur Sicherung seiner finanziellen Bedürfnisse wird der Sport in Zukunft wohl noch mehr auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft angewiesen sein. Das große öffentliche Interesse am Sport macht diesen wiederum für die Wirtschaft zu einem attraktiven Partner. Heute vollzieht sich diese Zusammenarbeit oft noch im unklaren, häufig am Rande der Legalität und manchmal auch außerhalb. Dies widerspricht der Ethik des Sports. Es schadet seinem Ansehen und stellt außerdem für die Wirtschaft keine solide Geschäftsgrundlage dar. Wer daran interessiert ist, daß sich die Zusammenarbeit zwischen Sport und Wirtschaft für beide positiv auswirkt, und wer eine Sicherung dieser Zusammenarbeit für die Zukunft garantieren will, der muß für Klarheit und Wahrheit in diesem Bereich sorgen. Dazu fehlt bisher beim Sport das Konzept und beim Staat die geeignete Steuergesetzgebung. Der Hochleistungssport im internationalen Bereich und in vielen Sportarten auch schon auf nationaler Ebene hat sich so entwickelt, daß nur noch Berufssportler in der Spitze mithalten können. Wer die Augen offenhält und wer ehrlich ist, wird an dieser Feststellung nicht vorbeikommen. Wenn es aber darum geht, die Folgerungen aus dieser Entwicklung zu ziehen, tun sich manche Verbände und Funktionäre ebenso schwer wie die öffentliche Hand. Es kann aber nicht gelingen, einen Sportler, der für eine gewisse Zeit den Sport zur Sicherung seines Lebensunterhalts und vielleicht auch seiner Zukunft gewählt hat, ebenso zu behandeln wie den Jogger auf dem Trimm-dich-Pfad oder den Freizeittennisspieler am Wochenende. Natürlich ist beides Sport, und manchmal ist man auch gar nicht sicher, wo der Ehrgeiz größer ist. Für jeden ist allerdings offensichtlich, daß die Erfordernisse in diesen Bereichen so verschieden sind, daß der Berufssport und der Sport, der vorwiegend mit finanziellen Gewinnabsichten betrieben wird, im gemeinnützigen Sport jedenfalls keinen Platz finden. Dieser Schluß muß auch schon deswegen gezogen werden, um die Gemeinnützigkeit des Breitensports nicht in Frage zu stellen. Sie merken, meine Damen und Herren, die Geister, die die Bundesregierung durch die sogenannte Gemeinnützigkeits-Kommission rief, haben trotz der Absatzbewegung ihrer ehemaligen Beschwörer das Spuken nicht aufgegeben. ({4}) Wer den Sport in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin unter einem Dach organisieren will, muß das Haus umbauen. Wenn Sport und Staat dies in vertrauensvoller Zusammenarbeit nicht schaffen, werden bisherige Mieter ausziehen und sich eine Eigentumswohnung nehmen. Die Kündigungsfrist läuft schon, wie man bei manchen - allerdings nicht sehr erfolgreichen - Unternehmen in der jüngsten Zeit gesehen hat. Aus der Kommerzialisierung eines Teils der Freizeitsportbewegung in über 4 000 Fitneß-Studios und anderen Einrichtungen sollte der Sport Lehren ziehen. Büchner ({5}) Der Hochleistungssport könnte dort, wo er zum Berufssport geworden ist, ähnliche Wege gehen. Ziel unserer Initiative, meine Damen und Herren, ist es, angesichts der erkennbaren Tatsachen notwendige Schlußfolgerungen zu ziehen. Es geht um die Neugestaltung der organisatorischen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen im Sport. Es muß jetzt gehandelt werden, wenn es nicht zu spät sein soll. Für manche in Sport und Staat mag dies freilich nicht bequem sein, weil sie sich im bisherigen System eingerichtet haben und Veränderungen gegenüber ohnehin abgeneigt sind. Andere wiegen sich in der Illusion, das Vereinsrecht, das in den §§ 21 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs normiert ist und noch auf reichsgesetzliche Bestimmungen zurückgeht, reiche auch noch für die Jahrtausendwende. Die Regierungsparteien mögen auf den angekündigten Steuergesetzentwurf verweisen, der allerdings trotz jahrelanger Versprechungen immer noch nicht vorliegt. Aber schon aus den zahlreichen Ankündigungen ist zu ersehen, daß er jedenfalls für diese Problematik unbrauchbar sein wird. ({6}) Erfreulicherweise gibt es aber auch andere Stimmen. Der Generalsekretär des Deutschen Sportbundes, Karlheinz Gieseler, hat erst jüngst wieder an seine Forderung nach einem sogenannten Vertragsathleten, also einem Berufssportler, erinnert. ({7}) Wie sollen dabei aber die arbeits- und versicherungsrechtlichen Bedingungen aussehen? Fragen über Fragen, die völlig offen sind. ({8}) Der langjährige Präsident des Bundesligaklubs Borussia Dortmund, der Rechtsanwalt Dr. Reinhard Rauball, fordert seit langem eine andere Rechts- und Gesellschaftsform für den bezahlten Sport, und der Manager von Werder Bremen, Willi Lemke, schließt sich dieser Einschätzung an. In den Fußball-Bundesligen werden in der laufenden Saison immerhin ca. 380 Millionen DM bewegt. Warum, meine Damen und Herren, sollte man nicht Systeme prüfen, wie sie in England und Spanien bestehen, wenn man zu neuen Gesellschaftsformen für die Vereine kommen muß, die auch bezahlten Sport betreiben? ({9}) Welche Probleme stellen sich in diesem Bereich bei der Einführung des europäischen Binnenmarkts 1992? Unter der Überschrift „Wird Sport zur Arbeit, darf Entlohnung nicht verboten werden" zitiert die FAZ vom 26. Oktober, also von gestern, den Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Hans Hansen, mit seiner Aussage auf dem DSB-Bundestag im Juni in Würzburg: „Spitzensport von heute mit Wirtschaft und Werbung, mit Medien, Marketing und Managern, der vermarktete Sport im Unterhaltungsgeschäft mit sozial abgesicherten Athleten und mit offenen Spielen, verlangt jetzt von uns unmißverständliche Entscheidungen." ({10}) Bei diesen notwendigen Entscheidungen, meine Damen und Herren, muß der Staat dem Sport ein fairer Partner sein. Dies ist der Sinn unseres Antrages. Sie sehen: Es besteht Handlungsbedarf. ({11})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Büchner, ich habe diesen Antrag mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen. Die Bundesregierung soll aufgefordert werden, Vorschläge zu unterbreiten, wie eine eindeutige vereinsrechtliche und steuerrechtliche Trennung zwischen den ideellen und gemeinnützigen Sportvereinen hergestellt werden kann. Nach meiner Kenntnis wird das, was kommerziell ist, heute anders behandelt als das, was gemeinnützig ist. Es gibt im Steuerrecht eine Vorschrift, die ganz klar zwischen gemeinnützigen und nicht gemeinnützigen Tätigkeiten des deutschen Sports trennt, und das ist auch richtig so, und das soll auch beibehalten werden. Für Ihren Antrag gibt es also überhaupt keine Grundlage. Außerdem, Herr Kollege Büchner: Haben Sie sich im deutschen Sport einmal umgetan? Alles, was Sie eben zitiert haben, sind ja Äußerungen, die nicht hinter Ihrem Antrag stehen. Da wurde hingewiesen auf Veränderungen im deutschen Sport, hin zu mehr Kommerzialisierung, zu mehr bezahltem Sport, aber es wurde doch nicht gesagt, daß eine neue Gesetzgebung und damit eine Spaltung dieser Art stattfinden soll. Ich verweise hier mit Nachdruck auf die Autonomie des Sports. Der Sport muß doch selbst entscheiden, in welcher Organisationsform er betrieben wird. Wenn er in den kommerziellen Bereich geht, muß er eben - wie jeder andere Steuerbürger auch - bezahlen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Baum, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Heinrich Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001116, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Baum, ist Ihnen entgangen, daß es Grauzonen zwischen dem kommerziellen Sport und dem gemeinnützigen Sport gibt und daß eine ganze Reihe von Vereinen, die auf der Trennlinie liegen, schon wiederholt das Finanzamt im Hause hatten und dann bezahlen mußten?

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, natürlich gibt es diese Grauzonen, aber diese müssen Sie im geltenden Recht aufhellen. ({0}) Sie brauchen doch deswegen nicht ein ganz neues System einzuführen und dem Sport überzustülpen. Haben Sie sich denn wirklich einmal ernsthaft mit dem deutschen Sport darüber unterhalten, ob er überBaum haupt bereit ist, diese Organisationsform zu akzeptieren? Das ist eben nicht der Fall. Ich weiß wie Sie, daß sich der Sport der Kommerzialisierung und der Leistungsgesellschaft nicht entziehen kann. Das wäre weltfremd. Er muß daran teilnehmen. Es gibt Unsicherheiten, und es gibt auch Auswüchse dieser Kommerzialisierung. Diese will ich bekämpfen. Darüber haben wir hier schon einmal debattiert, und dazu hat auch der Bundespräsident, wie ich meine, Wichtiges gesagt. Aber das alles können Sie nicht auf diese Weise machen. Ich stehe voll hinter den Ergebnissen, die in der Koalition erzielt worden sind. Der Herr Kollege Häfele hat die zur Vereinsbesteuerung kürzlich gefaßten Beschlüsse ja bekanntgegeben. Es wird im November ein Gesetzentwurf vorliegen. ({1}) Wir kommen zu einer erheblichen Steuervereinfachung für unsere Vereine; sie werden steuerlich und bürokratisch erheblich entlastet. ({2}) Manchen geht das schon zu weit. Das ist das eigentliche Thema. ({3}) Hier liefert die Koalition dem Sport etwas, ({4}) was der Sport selbst akzeptiert. Herr Hansen hat diese Vorschläge uneingeschränkt begrüßt. Diese Debatte ist mit diesem neuen Gesetz also zu Ende, und auch Ihre Klagemauer, Herr Kollege Büchner, fällt weg. Dieser Antrag ist völlig ungeeignet und überflüssig. Es tut mir leid, daß ich das sagen muß. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brauer.

Hans Jochim Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000248, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr verehrte Herren! Aus den Redebeiträgen der Sozialdemokraten habe ich den Eindruck gewonnen, daß die SPD ihren Antrag eigentlich auf Fragen der Fußballprofiabteilungen reduziert sehen möchte, ({0}) um sich damit von den Forderungen nach eindeutiger vereinsrechtlicher Trennung der gemeinnützigen Vereine vom Berufssport und von der Frage, in welcher Rechtsform zukünftig der professionelle Sport organisiert werden soll, zu distanzieren. Das betrifft z. B. die Frage, ob der Spitzensport als GmbH, als Aktiengesellschaft, als Ein-Mensch-Unternehmen oder als eine Unterabteilung der Werbeabteilung der Wirtschaft organisiert werden soll. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die SPD diesen Antrag am liebsten zurückziehen möchte oder in den Ausschüssen vergraben möchte. ({1}) - Ja? Ich hatte diesen Eindruck aber wirklich. ({2}) Es ist eine Tatsache, daß sich innerhalb der Sportorganisationen ein duales System gegensätzlicher Interessen etabliert hat. Da ist der gemeinnützige, überwiegend ehrenamtlich betreute Sport auf der einen Seite, und da ist der professionelle, an der Vermarktungsfähigkeit und am Profit orientierte Berufssport auf der anderen Seite. Dies trifft sowohl für die Profifußballabteilungen als auch für die Hochleistungssportler und -sportlerinnen in der Leichtathletik, im Tennis, im Schwimmen, im Boxen und im Schießsport - Sie alle wissen das - zu. Die hier von der CDU beschworene Einheit des Sports - es gab ja auch gerade einen Zwischenruf in dieser Richtung - existiert schon längst nicht mehr. ({3}) Meine Damen und Herren von der CDU, was ist denn gerade nach Ihrem Selbstverständnis so schlimm, wenn Spitzensport aus wirtschaftlichen Gründen betrieben wird? Längst wird doch öffentlich diskutiert, ob Olympiastützpunkte als Aktiengesellschaften geführt werden sollen, daß Profifußballer an Olympiaden teilnehmen sollen, daß privatrechtliche Vermarktungsgesellschaften der Sportlerinnen und Sportler leistungsfähiger arbeiten könnten. Sind Sie nur Apologeten konservativer Organisationsstrukturen - ähnliches hat ja auch der Kollege Büchner gesagt - , oder wollen Sie die eigentlichen Verhältnisse im Spitzensport bzw. im Berufssport verschleiern, weil sich der Spitzensport in der augenblicklichen gesellschaftlichen Situation nur so am besten vermarkten läßt. Die Entwicklung wird aber dahin gehen, daß - da stimme ich Herrn Büchner zu - sich der Berufssport weiter etabliert. Spitzensport ist Kommerz. ({4}) Organisatorisch wird nur das in den nächsten Jahren nachvollzogen werden, was längst Praxis ist. Der Sport wird dies in seiner angeblichen Autonomie, Herr Baum, nicht selber entscheiden, sondern die Entwicklung wird von außen durch Wirtschaft und Medien bestimmt. ({5}) Ob das dann noch unter dem gemeinsamen organisatorischen Dach des Sportbundes fortgesetzt werden kann, bezweifle ich. Viel brisanter wird es dann doch bei dem eigentlichen Problem, nämlich der Frage, ob und wie das Modell Berufssport moralisch verantwortbar umgesetzt werden kann. Dazu, meine Damen und Herren, habe ich bisher nur sehr wenig gehört. Lassen Sie mich das nachholen. ({6}) Wir GRÜNEN sind selbstverständlich für eine Abtrennung des Höchstleistungssports zu einem eigenen Berufszweig. ({7}) Das drückt die sportliche Realität nicht nur ehrlicher aus, sondern bietet endlich auch die Möglichkeit, die staatlichen Zuwendungen und die öffentlichen Gelder dahin zu lenken, wo sie hingehören: in das sportliche Angebot für die breite Bevölkerung, in Bewegungs- und Sportmöglichkeiten für ältere Menschen, eben für den Großteil der Sporttreibenden und nicht nur für diese kleine, noch nicht einmal 1 % umfassende Höchstleistungselite. Diese ca. 508 Kaderathletinnen und -athleten sollen ruhig Profis werden, dann aber auch mit allen Rechten, wie sie für andere Arbeitnehmer gelten. Es geht dann nicht nur um soziale Absicherung - das ist ohnehin selbstverständlich - , vielmehr geht es auch um die gewerkschaftliche Organisation, Arbeits- und Kündigungsschutz, Personalvertretung, weitestgehende Mitbestimmung und natürlich auch um das Streikrecht. ({8}) Denn eines ist doch klar: Wenn bei den nächsten Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften der Sportler A mit dem Bayer-Kreuz und nicht mehr mit dem Bundesadler auf dem Trikot gegen Carl Lewis oder wen auch immer verliert, sein Wert auf dem Arbeitsmarkt also sinkt, dann kann er nicht einfach auf den Bayer-Kreuzweg geschickt werden. Dem Prinzip „hire and fire " können die GRÜNEN niemals zustimmen. Ich danke Ihnen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Clemens.

Joachim Clemens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000330, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD ist überflüssig wie ein Kropf. ({0}) Er löst überall, auch bei den Sportfunktionären, die in der SPD sind oder ihr nahestehen, nur Kopfschütteln aus, so gestern abend beim Deutschen Sportbund. ({1}) Sie zerschlagen, wenn Sie so weitermachen, Traditionsvereine. Ich will das hier gar nicht weiter ausführen. Auch unser Herz schlägt für den Amateursport. Es ist soeben richtig angeklungen - nicht bei den GRÜNEN, von denen kann man in dieser Richtung sowieso nichts erwarten; sie haben keine Ahnung -, ({2}) daß der Spitzensport nicht nur Kommerz ist. Denken Sie einmal an Rudern, Boxen, Schießen, Bobfahren und Schlittenfahren. Wer will denn da irgendeine Mark verdienen? Das sind zu einem großen Teil lupenreine Amateure. Zu den anderen Bereichen sagen Sie, daß Sie die Nettoliga abschaffen wollen? ({3}) Es ist doch ein absoluter Witz, dieses hier zu vertreten.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Clemens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Brauer?

Joachim Clemens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000330, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Brauer, bitte sehr.

Hans Jochim Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000248, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sind Sie mit mir der Meinung, daß die Sparten und die Abteilungen, die sich gut vermarkten lassen und einen hohen Medienwert haben, den Weg in den Berufssport gehen werden?

Joachim Clemens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000330, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In einem Teil bin ich nicht dieser Meinung. Ich werde Ihnen das gleich ausführen, wenn ich darf. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, das gebrochene Verhältnis der SPD von heute zu den gewachsenen Strukturen des Sports in der Bundesrepublik Deutschland zu dokumentieren, ({0}) läge er mit dem heute zur Debatte stehenden Antrag der SPD vor. Die großen Führer des Arbeitersports, Drees und Wildung, würden sich im Grabe herumdrehen, müßten sie jetzt erleben, wie ihre sportpolitischen Nachfahren parlamentarisch den Versuch unternehmen, regelnd, ja vorschreibend in die organisatorischen Belange der freien und unabhängigen Sportbewegung einzugreifen. ({1}) Die Einheit des Sports wird dadurch gefährdet, und zwar auf das höchste. Ich sage es hier sehr deutlich: Es gilt den Anfängen zu wehren, die innerverbandliche Autonomie des Sports auszuhöhlen. Wir vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Sports ({2}) und auf die beispielhafte Partnerschaft auch von Sport und Politik, die dazu geführt hat, daß die Sportvereine heute nicht nur der preisgünstigste, sondern auch der beste Sportanbieter in unserem Lande sind. ({3}) Dabei verschließen wir nicht die Augen vor notwendigen Strukturreformen. Diese müssen sich aber aus dem Sport, aus den Vereinen und aus den Verbänden heraus entwickeln. Das ist der entscheidende Unterschied zu dem, was Sie wollen. Sie wollen regeln, und dazu sind wir nicht bereit. Deswegen werden wir diesen Antrag auch ganz bestimmt ablehnen. Aufgabe der Politik ist es, nicht als stiller Beobachter dabeizustehen, sondern die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen, ihre Hilfen anzubieten, wenn es gilt, die Rahmenbedingungen neu zu beschreiben. ({4}) Uns sind keine ernsthaften Überlegungen in den Vereinen und Verbänden bekannt, über die jetzt praktizierte Trennung von Berufs-, Amateur- und bezahltem Sport hinaus weitere Regelungen anzustreben. Dies gilt auch für die immer wieder öffentlich diskutierte Frage, ob nicht Profiabteilungen aus den Vereinen ausgegliedert werden und z. B. als Aktiengesellschaften oder in der GmbH-Form geführt werden. Dies gilt auch und vor allem im Bereich der Steuergesetzgebung. Wir sind also nicht bereit, hier das Parlament als Transmissionsriemen für die Spaltung des Sports mißbrauchen zu lassen. ({5}) Daher werden wir - das habe ich schon gesagt - diesen Antrag ablehnen. Wir bedauern, daß wir ihn noch im Detail im Sportausschuß beraten müssen. Er ist überflüssig; ich sagte es zu Beginn. Wir sind nicht bereit, hier reglementierend in die Verbandsstruktur des Sports einzugreifen. Deswegen, wie gesagt, bedurfte es dieser Diskussion eigentlich nicht. Wir machen eine andere Reform. Das ist schon angeklungen; Herr Baum hat darauf hingewiesen. Kernstück dieser Reform ist die Einführung einer Besteuerungsgrenze und einer Zweckbetriebsgrenze ({6}) für sportliche Veranstaltungen von jeweils 60 000 DM Einnahmen im Jahr. ({7}) Die Besteuerungsgrenze besagt, daß gemeinnützige Körperschaften keine Körperschaft- und Gewerbesteuer zu zahlen brauchen, wenn ihre Einnahmen aus steuerpflichtigen, wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben den Betrag von insgesamt 60 000 DM nicht übersteigen. Die Zweckbetriebsgrenze bedeutet, daß sportliche Veranstaltungen als steuerbegünstigte Zweckbetriebe behandelt werden, wenn die Einnahmen aus Sportveranstaltungen insgesamt 60 000 DM nicht übersteigen. ({8}) Damit sind erst einmal 95 % aller Sportvereine betroffen. Nun kommt der Punkt, auf den Sie hinweisen wollen. Damit nun aber die großen und Mehrspartenvereine sowie die Verbände nicht benachteiligt werden, können diese zwischen der Gewichtigkeitsgrenze und den Vorgaben des § 67a der Abgabenordnung wählen. ({9}) So bleiben ihnen in jedem Fall die Gemeinnützigkeit und die Möglichkeit erhalten, Verluste im sportlichen Bereich mit Überschüssen aus anderen Betätigungen auszugleichen. § 67 a der Abgabenordnung - das sollte auch Ihnen, Herr Büchner, inzwischen eigentlich bekannt sein - stellt ja die Gemeinnützigkeit sicher, auch wenn an einzelne Sportler mehr als die zulässige Aufwandsentschädigung von derzeit 700 DM im Monat gezahlt wird und wenn wegen Überschreitens der Gewichtigkeitsgrenze aus einem Zweckbetrieb ein wirtschaftlicher Betrieb wird. ({10}) Hier werden also in Gesetzesform in Kürze Maßnahmen von der Mehrheit beschlossen, die die Vereine unterstützen. Ihren Antrag müssen wir leider im Ausschuß beraten. Er ist eigentlich völlig überflüssig. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herrn Dr. Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000774

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Auffassung der Bundesregierung gewährt unsere Verfassungsordnung dem Sport und den Vereinen einen weitgehenden Freiheitsraum. ({0}) Dieser Freiheitsraum soll in Unabhängigkeit und in Selbstverantwortung durch den Sport und durch die Vereine selbst ausgefüllt werden und nicht durch den Staat. ({1}) Ein Antrag, daß der Staat mit Gesetzen eine vereinsrechtliche Trennung vornehmen soll, verstößt vollkommen gegen diesen Grundgedanken und kann nicht in Betracht kommen. ({2}) Auch eine Prüfung, welche Rechts- oder Gesellschaftsform vom Sport gewählt werden soll, obliegt nicht dem Staat, dem Gesetzgeber, sondern ist Sache der Vereine. Sie füllen selbst ihren Freiheitsraum aus. Auch der Deutsche Sportbund ist immer der Auffassung gewesen, daß sowohl bezahlter als auch unbezahlter Sport unter einem Vereinsdach gemeinsam ausgeübt werden können. Dafür gibt es auch gute Gründe. Wir wissen, daß Hochleistungssport, auch wenn er nicht berufsmäßig betrieben wird, kaum ohne eine materielle Hilfestellung unter einem solchen Vereinsdach stattfindet. Soweit Sie eine steuerrechtliche Trennung beantragen, geht auch dieser Antrag ins Leere, weil das geltendes Recht ist. Wir haben den § 67 a der Abgabenordnung. Das ist der Kern des Gemeinnützigkeitsrechts. ({3}) Wenn ein bezahlter Sportler mitwirkt, ist das nicht gemeinnützig. Das ist eindeutig. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die Bundesregierung trägt, glaube ich, dem Hauptanliegen unserer Vereine Rechnung, indem demnächst - wir sind völlig im Zeitplan, um das zeitgleich mit der Steuerreform 1990 in Kraft treten zu lassen; wir werden in den kommenden Wochen den Referentenentwurf den Verbänden zuleiten - vor allem die ehrenamtlich Tätigen eine Vereinfachung erfahren. Das ist das entscheidende Problem unserer Vereine draußen. ({4}) Das ist wirklich eine durchgreifende Vereinfachung. Der Kollege Clemens und der Kollege Baum haben das schon ausgeführt. ({5}) Wir werden aus Vereinfachungsgründen eine Zweckbetriebsgrenze von 60 000 DM Einnahmen im Jahr einführen. Was darunter geschieht, prüfen wir nicht mehr nach. Das ist eine wirkliche Vereinfachung für die Vereine. ({6}) Auch Ihre Prüfungsbitte wegen der Bilanzierung von Berufssportlern kann nicht greifen. Ihre Behauptung in diesem Zusammenhang ist unzutreffend. Es gibt nach geltendem Recht keine Bilanzierung von Berufssportlern. Denn natürlich sind Personen nicht aktivierungsfähig. Das sind Rechtssubjekte. Das sind keine Objekte. Es ist nicht richtig, was Sie hier unterstellen. ({7}) - Nein, das ist nicht der Fall. Sie haben etwas verwechselt. Sprechen Sie mit Ihren Steuerrechtlern. Es geht um die Frage der Bilanzierung einer Ablöseentschädigung. Es ist ein Rechtsstreit beim Bundesfinanzhof anhängig, inwieweit das Anschaffungskosten für immaterielle Wirtschaftsgüter sind oder nicht. Aber das ist nicht die Bilanzierung eines Berufssportlers. ({8}) - So steht es aber im Antrag. Machen Sie sich doch bitte sachkundig bei Ihren Kollegen, die vom Steuerrecht etwas verstehen. Jetzt müssen wir das Ende dieses Rechtsstreits abwarten. Die Verwaltungsübung wird entweder so fortbestehen wie bisher oder - wenn der Bundesfinanzhof eine andere Rechtsauffassung hat - es wird dem Rechnung getragen. Zusammengefaßt: Das Hauptanliegen des Sports und der Vereine ist eine durchgreifende Vereinfachung. Der Gesetzentwurf, den wir demnächst vorlegen, wird dem Rechnung tragen. Es wird eine großzügige, durchgreifende Vereinfachung geben. Rund 95 % unserer Vereine werden bezüglich der Gewerbesteuer und bezüglich der Körperschaftsteuer mit dem Finanzamt nichts mehr zu tun haben. ({9}) Bei der Umsatzsteuer wird eine Vorsteuer-Pauschalierung mit einem Wahlrecht eingeführt werden. Das ist ebenfalls ein besonderes Anliegen der Vereine, und auch dem werden wir Rechnung tragen. ({10})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir treten nun in die Mittagspause ein und fahren um 14 Uhr mit der Fragestunde fort. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die Sitzung wird fortgesetzt. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 11/3166 Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Bundesminister persönlich zur Verfügung. Ich rufe die Frage 3 der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß an einigen Hochschulen in Baden-Württemberg und Hessen bei internen Zulassungsverfahren für Fächer, die nicht mehr der zentralen Studienplatzvergabe unterliegen, Bewerberinnen um Studienplätze in erheblich geringerem Umfang berücksichtigt werden als männliche Bewerber? Herr Minister, Sie haben das Wort.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Herr Präsident, ich habe die Bitte an die Abgeordnete, einverstanden zu sein, daß ich die beiden Fragen wegen ihres offenkundigen Zusammenhangs in der Sache auch zusammen beantworte. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Minister, dann müssen wir das Ganze zweimal über uns ergehen lassen.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Dann werde ich das so beantworten, wie mir das möglich ist. Der Bundesregierung liegen bisher endgültige Zahlen zur Zulassung in Studiengängen mit örtlichen Zulassungsbeschränkungen in Baden-Württemberg und Hessen, die nicht mehr der zentralen Studienplatzvergabe durch die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen ({0}) unterliegen, nicht vor. Es handelt sich dabei um die Situation im Studiengang Rechtswissenschaft. Die Zahlen werden erst in einiger Zeit verfügbar sein. Erst dann kann auch zur Frage des Anteils zugelassener Frauen Stellung genommen werden. Die Fragen der Kollegin Jutta Oesterle-Schwerin gehen offenbar von den ersten, inzwischen überholten Zulassungsergebnissen bei den vier Universitäten in Baden-Württemberg mit örtlichen Zulassungsbeschränkungen für den Studiengang Rechtswissenschaft aus. Dort wurden im ersten Durchgang der Studienplatzvergabe zunächst nur wenige Frauen zugelassen. In den vorangegangenen Semestern war in dem damals geltenden bundesweiten Vergabeverfahren jeder Studienbewerberin und jedem Studienbewerber ein Studienplatz garantiert worden. Im Hinblick darauf wurden in Baden-Württemberg Bewerber und Bewerberinnen, die vor der Festlegung der örtlichen Zulassungsbeschränkungen auf Grund eines Dienstes an der Aufnahme eines Studiums gehindert waren - also im wesentlichen Männer - , bevorzugt zugelassen. Rechtsgrundlage dafür sind landesrechtliche Vorschriften, die - unter Berücksichtigung des in § 34 des Hochschulrahmengesetzes enthaltenen Grundsatzes - einen Nachteilsausgleich für die dienstleistenden Personengruppen vorsehen. Durch diese Vorschriften soll sichergestellt werden, daß Studienbewerbern und -bewerberinnen, die Wehr- oder Zivildienst bzw. ein freiwilliges soziales Jahr oder, was beide Geschlechter tun können, Entwicklungshilfedienst geleistet haben, bei der Studienplatzvergabe kein Nachteil gegenüber Bewerbern und Bewerberinnen entsteht, die unmittelbar nach Erwerb ihrer Hochschulzugangsberechtigung ein Studium aufnehmen konnten. Inzwischen haben Nachrückverfahren stattgefunden. Sie haben dazu geführt, daß noch eine größere Zahl von Frauen eine Zulassung erhalten hat. Schon jetzt kann festgestellt werden: Wenn die Länder, wofür die Vertreter der Bundesregierung im zuständigen Verwaltungsausschuß der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen mehrfach plädiert haben, die Studienplätze für den Studiengang Rechtswissenschaft weiterhin in einem bundesweiten Vergabeverfahren vergeben hätten, wären die zum Wintersemester 1988/89 an den vier baden-württembergischen und einigen anderen Hochschulen festgestellten Probleme nicht aufgetreten. Das Studienplatzangebot für den Studiengang Rechtswissenschaft reicht nämlich bundesweit für alle Studienplatzbewerber und alle Studienplatzbewerberinnen aus. Bei einer zentral koordinierten Studienplatzvergabe hätten Mehrfachbewerbungen, die jetzt zu einer rein zahlenmäßigen Vervielfachung der Bewerberzahlen an Hochschulen mit örtlichen Zulassungsbeschränkungen führten, vermieden werden können. Da bei einem solchen Verfahren jeder Studienplatzbewerberin und jedem Studienplatzbewerber ein Studienplatz garantiert wird, wäre eine bevorzugte Zulassung von Bewerbern und Bewerberinnen, die einen Dienst abgeleistet haben, nicht erforderlich gewesen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich nehme an, Sie wünschen, Zusatzfragen zu stellen. Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie wissen doch ganz genau, daß die Ableistung eines sozialen Jahres oder die Teilnahme am Entwicklungsdienst nicht zur Normalbiographie von Frauen gehört und daß deswegen die Bevorzugung von irgendwelchen Dienstleistenden, also Soldaten oder Zivildienstleistenden, zur Benachteiligung von Frauen führen muß. Wir stehen Sie denn dazu?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ich weiß in der Tat genau - das haben Sie zu Recht vermutet -, daß relativ wenige Frauen ein freiwilliges soziales Jahr oder den Entwicklungsdienst ableisten, jedenfalls - das meint das Wort „relativ" ja auch - im Verhältnis zum Prozentanteil der jungen Männer an jedem Jahrgang, die den Wehrdienst oder den Zivildienst ableisten müssen. Aber wenn Sie schon den Begriff „Nachteil" verwenden, würde ich eher akzeptieren, wenn Männer sagen, daß es im Verhältnis zu den Absolventen der Gymnasien weiblichen Geschlechts für sie ein Nachteil ist, daß sie erst mal eineinhalb Jahre Wehrdienst leisten müssen; dieser Nachteil soll offenbar durch die bereits genannten landesrechtlichen Regelungen ausgeglichen werden. ({0}) - Herr Präsident, wenn ich diesen Zwischenruf mal als Zusatzfrage aufnehmen darf: Ich denke nicht, Frau Kollegin, daß wir hier die Frage der Gesellschaftspolitik am Beispiel einer einzelnen Regelung allein werden abhandeln können. Deswegen habe ich auch so geantwortet, wie ich geantwortet habe. Ich empfände es als wohltuend, wenn alle Studienbewerberinnen in einem Fach, das offenkundig bundesweit genug Plätze hat, auch einen Studienplatz bekämen. Ich habe wirklich versucht, deutlich genug zu sagen, daß das meine Meinung ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Auswirkung dieser zitierten Verordnungen mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes, nach dem keine Person wegen ihres Geschlechts benachteiligt werden darf, übereinstimmt, und ist vorgesehen, daß Frauen in Zukunft gefragt werden: Frau Studentin, haben Sie gedient?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ich nehme nicht an, daß irgendeine Zulassungsstelle oder irgendein Kultusminister demnächst eine solche Frage stellen wird, aber mir schwebt vor, Frau Kollegin, das bestehende System der ZVS zu ändern, übrigens völlig unabhängig von diesem Fall. Ich glaube, daß das relativ anonyme Verfahren der Vergabe von Studienplätzen durch eine solche Institution durch ein Verfahren abgelöst werden sollte, das mehr individuelle Wahl- und Entscheidungsfreiheit auf beiden Seiten vorsieht, zunächst auf der Seite dessen, der einen Studienplatz sucht, unabhängig davon, ob Frau oder Mann, und dann auch auf der Seite der Hochschulen. Ich glaube, daß solche Verfahren wie die hier in Rede stehenden, die das landesspezifisch regeln, an7072 gesichts von erhöhter Mobilität und der sich doch sehr über die Landesgrenzen hinweg vollziehenden Studienplatzwahlen von Studierenden nicht zeitgerecht sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Frau Abgeordnete Krieger wünscht eine Zusatzfrage zu stellen.

Verena Krieger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001218, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Habe ich Ihre Ausführungen eben richtig so verstanden, daß Sie der Auffassung sind, daß ein derartiges Zulassungsverfahren sehr gut geeignet ist, um Frauen nahezulegen oder sie unter Druck zu setzen, doch möglichst das freiwillige soziale Jahr zu machen?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Nein, Sie haben mich nicht richtig verstanden.

Verena Krieger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001218, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Habe ich Sie dann richtig verstanden, daß Sie der Auffassung sind -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich muß sie darauf aufmerksam machen, daß Ihnen nur eine Zusatzfrage zur Verfügung steht. Aber ich nehme an, daß die Beantwortung der Frage 4, die jetzt erfolgt, nachdem keine weitere Wortmeldung zu dieser Frage vorliegt, Ihnen erneut Gelegenheit geben wird, eine Zusatzfrage zu stellen. Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin auf: Werden Maßnahmen von der Bundesregierung ergriffen, diese durch die Aufhebung des Zentralen Zulassungsverfahrens für einige Fächer entstandene Situation, die zur geringeren Berücksichtigung von Frauen führt, zu beseitigen? Herr Minister, ich bitte, die Frage zu beantworten.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Wie ich bereits soeben in Beantwortung einer Zusatzfrage sagte, erwägt die Bundesregierung - wir sind derzeit im Abstimmungsprozeß darüber - , den Ländern ein generell verändertes Zulassungsverfahren vorzuschlagen, das künftig an die Stelle der Vergabe von Studienplätzen allein durch eine relativ anonyme Institution wie die ZVS ein Verfahren setzt, bei dem sich der einzelne Studienbewerber für die Hochschule respektive den Fachbereich an der Hochschule seiner Wahl entscheidet und eine Auswahl nur noch dann erfolgt, wenn sich am Fachbereich der Hochschule der entsprechenden Wahl mehr Bewerber anmelden, als auch mit Überlast dort genommen werden können. Dann sollte die Hochschule selbst die Auswahl treffen können, und zwar nicht nach geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Welche darüber hinaus gehenden Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um sicherzustellen, daß Frauen auch gerade in frauenuntypischen Fächern im größeren Maße als bisher studieren können?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Mir ist nicht bekannt, daß Frauen in den von Ihnen angesprochenen, nicht näher spezifizierten frauenuntypischen Fächern nicht studieren dürften.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben die Frage nicht beantwortet. Ich habe gefragt, welche darüber hinaus gehenden Maßnahmen Sie ergreifen wollen, um Frauen dabei zu unterstützen, in sogenannten frauenuntypischen Fächern in stärkerem Maße als bisher studieren zu können.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Wir planen im Augenblick, Frau Kollegin, über den Bereich des akademischen Studiums hinaus - denn das ist ja nur ein schmaler Ausschnitt, der von Berufswahlentscheidungen von Frauen betroffen wird; nach wie vor gehen insgesamt nicht mehr als 30 % aller Jahrgänge auf ein akademisches Studium zu; die anderen wählen einen anderen Beruf - , d. h. für den Gesamtbereich der Berufswahlentscheidungen eine Initiative, die darauf hinzielt, künftig von den tradierten Rollenklischees abgelöste Berufswahlentscheidungen möglich zu machen. Denn wir sehen, daß sich Frauen und Mädchen etwa bei den 380 zugelassenen Ausbildungsberufen derzeit zu 70 % auf ganze 15 % von diesen Berufen konzentrieren. ({0}) - Ja, das ist eine gute Frage, der wir mit Intensität nachgehen. Wir meinen jedenfalls, daß dieser Zustand ein nicht guter ist, und zwar weder aus Sicht der betroffenen Frauen noch aus Sicht des Beschäftigungssystems. Wir wollen versuchen, dafür zu werben, daß es mit Ausnahme von vielleicht 20 von 380 zugelassenen Ausbildungsberufen keine gibt, in denen geschlechtsspezifische Gründe eine Zurückhaltung der Frauen bei der Wahl jeweils dieses Berufes rechtfertigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ihre zweite Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß das Hochschulrahmengesetz dahin gehend geändert werden sollte, daß Studienplatzbewerberinnen in Fächern, in denen Studentinnen unterrepräsentiert sind, bevorzugt werden sollten, und wie begründet die Bundesregierung diese Auffassung?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Nein. Da wir nicht der Auffassung sind, begründen wir sie verständlicherweise auch nicht.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, Sie müssen jetzt begründen, warum Sie nicht der Auffassung sind.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Muß ich? So.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das ist nicht seine Pflicht. Das kann er, wenn er das will, Frau Abgeordnete.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn er es kann, kann er es, ja. Wir werden sehen, ob er das kann.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber nun wollen wir die Diskussion nicht ausweiten.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Das ist eine fundamentale Wahrheit, Frau Kollegin, der ich zustimme. Wenn ich kann, kann ich. ({0}) Aber ich wollte jetzt eigentlich noch ernsthaft auf Ihre Frage eingehen und ergänzend sagen: Ich glaube nicht, daß es zweckmäßig ist, daß wir geschlechtsspezifische Quotenregelungen bei Zulassungsverfahren für Studiengänge festlegen. Das würde ja im Umkehrschluß auch heißen, daß wir dann im Grunde sicherstellen müßten, daß bestimmte Prozentanteile von Frauen in bestimmten Studiengängen zu studieren hätten, daß wir sozusagen festzulegen hätten, daß mindestens x Prozent Archäologinnen werden müssen. Ich kann nicht erkennen, daß es Aufgabe des Staates ist, das festzulegen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. - Es liegt jetzt formal keine Wortmeldung vor. Frau Abgeordnete Krieger hat sich zu dieser Frage nicht mehr mit einer Zusatzfrage gemeldet, wenn ich das richtig verstanden habe. - Das ist korrekt. Herr Minister, dann bedanken wir uns für Ihre Mühewaltung. Ich kann dann den nächsten Geschäftsbereich aufrufen, das ist der Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Beantwortung steht uns Staatssekretär Dr. Köhler zur Verfügung. Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Dr. Lammert auf : Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation im brasilianischen Amazonas-Gebiet in bezug auf die anstehende Vergabe des zweiten Energiesektor-Kredits durch die Weltbank, und wird sie durch ihren Exekutivdirektor bei der Weltbank diesem Kredit ihre Zustimmung geben? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, das Direktorium der Weltbank wird frühestens im Dezember dieses Jahres über den zweiten Energiesektor-Kredit für Brasilien entscheiden. Die Meinungsbildung der Bundesregierung hierüber ist noch nicht abgeschlossen, zumal noch eine ganze Reihe von Fragen im Zusammenhang mit diesem Kredit klärungsbedürftig sind. Die Bundesregierung wird zwischen den Bedürfnissen Brasiliens nach langfristiger Sicherung seiner Energieversorgung und der dringenden Notwendigkeit, negative soziale und ökologische Folgen zu vermeiden, sehr sorgfältig abwägen. Ich darf im Sinne Ihrer Frage so ergänzen, daß die Bundesregierung die Situation im brasilianischen Amazonas-Gebiet als außerordentlich ernst beurteilt. Dementsprechend sind ja die Initiativen des Herrn Bundeskanzlers und die eingeleiteten Programme des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf eine intensive Unterstützung der Sicherung und Erhaltung des tropischen Regenwaldes ausgerichtet.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Dr. Lammert, Ihre Zusatzfrage.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nach einer kürzlich vorgelegten Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft werden jedes Jahr rund 11 Millionen Hektar Regenwald gerodet, was pro Minute einer Fläche von 30 Fußballfeldern entspricht - pro Minute! Nun haben Sie selber gerade den Herrn Bundeskanzler zitiert, der ja bei dem letzten Weltwirtschaftsgipfel in Toronto erstmals die Überlegung in die Debatte eingeführt hat, das weitere Prozedere bei der Vergabe neuer Kredite bzw. bei Programmen zur Entschuldung von Ländern der Dritten Welt in Zukunft in einen Zusammenhang mit ökologischen Fortschritten zu bringen. Würden Sie für den hier konkret in Rede stehenden Energiekredit einen solchen Zusammenhang sehen?

Not found (Staatssekretär:in)

Dieser Zusammenhang, Herr Kollege, besteht ohne jeden Zweifel, kann aber in diesem Moment noch nicht abschließend beurteilt werden. Wir haben zunächst einmal jüngste Informationen darüber, daß Brasilien die inhaltlichen Einzelheiten, für die dieser Energiesektor-Kredit in Frage käme, gegenwärtig neu definiert. Deswegen liegen auch der Weltbank, wovon ich mich am vergangenen Donnerstag und Freitag überzeugen konnte, im Moment noch keinerlei prüfungsfähige Einzelheiten vor. Gleichzeitig hat Präsident Sarney - ich halte das für außerordentlich begrüßenswert - am 12. Oktober ein Ökologieprogramm „Unsere Natur" angekündigt und dazu Leitlinien bekanntgegeben, die zur Zeit weiter ausgearbeitet werden. Man darf erwarten, daß diese Ausarbeitung Anfang 1989 so weit gediehen ist, daß man sich darüber eine Meinung bilden kann. Das heißt: Insgesamt gesehen ist - und ich zweifle nicht daran - unter dem Eindruck einer Menge politischer Initiativen, in denen die Bundesregierung eine führende Rolle eingenommen hat, dieser Gesamtzusammenhang zu unserer Genugtuung endlich so weit in die Diskussion geraten, auch in Brasilien und - nach der Tagung von IMF und Weltbank in Berlin - in ganz besonderem Maße auch in den Programmen der Weltbank, daß wir eine gute Chance haben, Fortschritte auf dem Wege zu einer ökologisch verantwortlichen Betrachtung der Dinge und damit auch über ein bloßes Ja oder Nein zu konkreten Maßnahmen hinaus zu machen. Ich glaube, dieser Zusammenhang wird in den nächsten Wochen und Monaten aus Anlaß dieses Kreditprogrammes noch zu diskutieren sein.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer ersten Antwort auf die notwendige Abwägung zwischen ökologischen Gesichtspunkten auf der einen Seite und energiepolitischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite gesprochen. Nun gibt es ja im Bereich der energiepolitischen Notwendigkeiten für Brasilien ein seit vielen Jahren bestehendes Kooperationsabkommen mit der Bundesrepublik auf dem Sektor der Kernenergie. Würden Sie zwischen den beabsichtigten energiepolitischen Aktivitäten im Amazonas-Gebiet und den energiepolitischen Aktivitäten, die auch das Kooperationsabkommen mit der Bundesrepublik betreffen, ein mögliches Konkurrenzverhältnis sehen, und würde in einer möglichen Zustimmung der Bundesrepublik für einen Energiesektor-Kredit für Brasilien in diesem jetzt zur Debatte stehenden Zusammenhang auch die Zustimmung begründet liegen, das Kooperationsvolumen mindestens auf dem Sektor der Kernenergie erheblich zurückzuführen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, auch dies kann in diesem Moment wirklich nicht abschließend beurteilt werden. Wir wissen, daß die brasilianische Regierung - entgegen ihren ursprünglichen Absichten - unter Umständen nun auch die nukleare Option im Zusammenhang mit dem EnergiesektorKredit zu diskutieren wünscht. Es sind uns auch dazu noch keinerlei weitere Einzelheiten bekannt, so daß wir eine solche Abwägung im gegenwärtigen Moment in Ermangelung eines Programmpapiers überhaupt noch nicht vornehmen können. Wir beabsichtigen aber in jedem Falle, mit der Weltbank den Vorschlag zu diskutieren, ob neben dem Energiesektor-Darlehen noch ein komplementäres Umweltschutz-Darlehen gewährt werden sollte und gewährt werden kann, um in Brasilien die großen Sorgen über die ökologischen Auswirkungen eines Sektorkredits zu verringern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete Olms, darf ich Ihre Handbewegung von eben so verstehen, daß Sie eine Zusatzfrage stellen wollen?

Ellen Olms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001648, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, das wollte ich gerne. Herr Köhler, gibt es in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen der zunehmenden Anzahl und Stärke von Wirbelstürmen und der Veränderung des Klimas, das ja auch durch die Abholzung, z. B. im Amazonas-Gebiet - das erstreckt sich aber auch auf andere Regionen, z. B. Asien - , bedingt ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Frau Kollegin, ich kam gerade vor 24 Stunden aus dem Einzugsbereich des Wirbelsturms „Juan" bzw. „Miriam". Auffallend ist, daß die Wirbelstürme in diesem Jahr sehr untypische Verlaufswege genommen haben. Dabei meine ich den den Isthmus in Mittelamerika kreuzenden Weg. Ich hatte in diesen Tagen Gelegenheit, neben der unmittelbaren Information über diesen Wirbelsturm auch eine Menge von Diskussionen darüber zu hören, ob diese Naturphänomene, die dieses Jahr so anders verlaufen, mit der Abholzung des tropischen Regenwaldes zusammenhängen. Ich habe niemanden getroffenen, der das ausschließen kann, obwohl das konkrete Wissen dazu offenbar noch nicht ausreicht, um eine klare Antwort zu geben. Im Zweifelsfall muß man nach meiner Auffassung dieser Vermutung Raum geben, bis man Genaueres weiß. In jedem Fall - unabhängig vom Verlauf der Wirbelstürme und ihrer Stärke - hat die Vernichtung des tropischen Regenwaldes Ausmaße, die in keiner Weise weiter toleriert werden können und denen aktiv entgegengewirkt werden muß.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für diese Antwort und verhehle nicht, daß sie mich sehr interessiert hat. Der Korrektheit halber möchte ich aber darauf hinweisen, Frau Abgeordnete Olms, daß der notwendige Zusammenhang zwischen der Kreditvergabe und der Lage im Amazonas-Gebiet beim besten Willen nicht gegeben war. ({0}) Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für Ihre Mühewaltung. Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen auf. Zur Verfügung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hennig. Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Seidenthal auf: Sind Mitteilungen der Bundesregierung an Mitglieder des Deutschen Bundestages über auf Vorschlag der Zonenrandländer bewilligte Zuschüsse aus Zonenrandmitteln verbindlich, und können Zuschußempfänger davon ausgehen, daß sie entsprechende Beträge dann auch erhalten? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Herr Kollege Seidenthal, die der Bundesregierung für die Förderung kultureller Maßnahmen, Einrichtungen und Veranstaltungen sowie für soziale Einrichtungen des Zonenrandgebietes zur Verfügung stehenden Mittel werden ausschließlich im Benehmen mit den Zonenrandländern vergeben. Diesen kommt dabei die Aufgabe zu, die jährlich eingehenden Förderungsanträge zu prüfen und dem Bund je nach Dringlichkeit und Notwendigkeit Förderungsvorschläge zu unterbreiten. Die zuständigen Ressorts der Bundesregierung entscheiden dann auch im Einzelfall über die Höhe der zu gewährenden Mittel. Mitteilungen der Bundesregierung an Mitglieder des Deutschen Bundestages über bewilligte Bundesmittel sind grundsätzlich verbindlich. Allerdings kann es in Einzelfällen dazu kommen, daß zugesagte Zuschüsse gekürzt oder auch angehoben werden müssen, weil sich ursprünglich veranschlagte Kostenvolumina von förderungsfähigen Projekten verändert haben. Hier bestehen dann natürlich ergänzende Aufklärungs- und Mitteilungspflichten gegenüber interessierten Mitgliedern des Deutschen Bundestages, sofern und sobald feststeht, aus welchen fachlichen und sachlichen Gründen zugesagte Zuschüsse der Höhe nach verändert werden müssen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann ich Ihren Ausführungen zufolge davon ausgehen, daß es bei der Zusage des Bundeszuschusses bleibt und Einigkeit zwischen dem niedersächsischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft und Ihrem Haus besteht, und kann ich weiter davon ausgehen, daß wir beide von der dem Ministerium bekannten Maßnahme Grasleben sprechen?

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Herr Kollege Seidenthal, der Sachverhalt ist ein bißchen komplizierter. Deswegen darf ich dazu noch ein paar Ausführungen machen. Es handelt sich in der Tat um die von Ihnen, aber auch von dem Kollegen Reinemann aus dem niedersächsischen Landtag vorgeschlagene Förderung des Umbaus des Schützenhauses Grasleben im Landkreis Helmstedt. Dem Ministerium ist mit Schreiben vom 17. Februar 1988 ein Förderungsvorschlag vom zuständigen Landesministerium gemacht worden: Über 200 000 DM zugunsten der mit insgesamt 408 000 DM veranschlagten Maßnahme. Dieser Betrag wurde mit Bescheid vom 9. März, also nur etwa drei Wochen später, bewilligt. Unmittelbar danach sind auch Sie sowie Herr Reinemann mit Schreiben vom 31. März über den bewilligten Zuschuß unterrichtet worden. Wir sind dann allerdings etwa vier Wochen später vom zuständigen Landesministerium auf Bericht der Bezirksregierung Braunschweig unterrichtet worden, daß sich die zuwendungsfähigen Kosten des Projekts von 408 000 DM auf 390 000 DM vermindert hätten, so daß nur noch ein Zuschuß von 190 000 DM in Betracht kommen könne. Nähere Einzelheiten sind uns dazu nicht mitgeteilt worden. Wir haben eine detaillierte Begründung aus der Sicht des Zuwendungsempfängers angefordert. Als diese Nachricht bis Anfang Juni 1988 nicht vorlag, hat sich das Ministerium dem Antrag des MWK zur Kürzung des Zuschusses mit Bescheid vom 7. Juni angeschlossen. Das hat die Bezirksregierung offenbar auch formell umgesetzt. Dann haben Sie sich im Juli wiederum an uns gewandt. Wir haben, da wir die Angelegenheit fachlich vor Ort nicht beurteilen können - das ist Angelegenheit des Landes - , einen Zwischenbescheid erteilt und das MWK um Stellungnahme gebeten. Diese Stellungnahme ist bisher nicht eingegangen, obgleich wir daran erinnert haben. Ich gehe allerdings davon aus, daß dies nicht am Landesministerium, sondern am zuständigen Regierungspräsidium Braunschweig liegt. Wir werden der Sache aber weiter nachgehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter Seidenthal.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß Sie mir diese Stellungnahme zuleiten, wenn sie vorliegt?

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Selbstverständlich, Herr Kollege Seidenthal.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann rufe ich die Frage 7 des Abgeordneten Seidenthal auf: Ist der Bundesregierung bekannt, daß Anträge auf Bewilligung von Investitions- oder Beschaffungszuschüssen aus dem sozialen/kulturellen Zonenrandprogramm von der zuständigen Bezirksregierung Braunschweig so zögerlich und bürokratisch bearbeitet werden, daß die Zielsetzung des Zonenrandförderungsgesetzes von 1971 unterlaufen wird?

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Die Abwicklung der kulturellen und sozialen Zonenrandförderung des Bundes im niedersächsischen Zonenrandgebiet obliegt im wesentlichen den zuständigen Bezirksregierungen Braunschweig, Hannover und Lüneburg. Bundesregierung und Landesregierung sind einvernehmlich der Auffassung, daß die jährlichen Förderungsmaßnahmen, insbesondere aber Investitionsmaßnahmen im Zonenrandgebiet mit Priorität zu behandeln sind. Dazu gehören nach unserer Auffassung vor allem eine schnelle und fachkundige Bearbeitung von Förderungsanträgen, zeitnahe Entscheidungen über die Festsetzung von Bau- und Maßnahmenterminen und eine ebenso rasche Umsetzung der getroffenen Förderungsentscheidungen durch den Erlaß von Zuwendungsbescheiden. Die zuständigen Ressorts des Landes Niedersachsen sind im Einvernehmen mit unserem Ministerium darum bemüht, Schwierigkeiten in der Abwicklung der kulturellen Zonenrandförderung, die in der Vergangenheit in Einzelfällen bei einer der genannten Bezirksregierungen aufgetreten sind, für die Zukunft auszuschließen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte sehr.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, gehen Sie in Ihrer Beantwortung nicht von dem Prinzip Hoffnung aus, und hat uns die Vergangenheit nicht eines anderen belehrt?

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Herr Kollege Seidenthal, es hat hier in der Vergangenheit in der Tat mehrfach Beschwerden gegeben, aber über ein nicht zu vertretendes bürokratisches Verwaltungsverfahren der Bezirksregierung Braunschweig. Wir haben diese Angelegenheit mit der Niedersächsischen Landesregierung besprochen. Meine Antwort ist auch insofern mit ihr abgestimmt, und es besteht nicht nur Hoffnung, sondern es besteht die konkrete Erwartung, daß dies in Zukunft abgestellt wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Noch eine Zusatzfrage, bitte schön.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie wollen Sie denn konkret durchsetzen, daß die Bezirksregierung Braunschweig Investitions- und Beschaffungsmittel in Zukunft - wie wir beide festgestellt haben - schneller und zeitgerechter vergeben wird, und haben Sie Erkenntnisse darüber, warum die Bezirksregierung Braunschweig in der Vergangenheit so zögerlich gehandelt hat?

Dr. Ottfried Hennig (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000871

Herr Kollege Seidenthal, ich bin nicht in der Lage und ich glaube, es ist auch nicht sachgerecht, alle diese Fälle über einen Kamm zu scheren. Ich kann nur sagen, daß wir in diesem Fall, in dem uns gesagt worden ist, daß sich die zuwendungsfähigen Kosten des Projekts vermindert haben, auf die fachkundige Stellungnahme angewiesen sind. Wenn eine Begründung im Einzelfall nicht erfolgt, können wir nur nach dem entscheiden, was uns an Aktenlage auf dem Tisch liegt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön, Herr Staatssekretär Dr. Hennig. Damit ist der Bereich erledigt. Den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung brauche ich nicht aufzurufen, Vizepräsident Cronenberg weil der Abgeordnete Hinsken um schriftliche Beantwortung seiner Frage 8 gebeten hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Hier steht uns Herr Staatssekretär Chory zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Reimann auf : Zu welchen Ergebnissen über die Auswirkungen von hormonhaltigem Fleisch auf das Wachstum des kindlichen Körpers ist die Bundesregierung gelangt angesichts der Tatsache, daß bereits vor einigen Jahren einmal unzulässige Hormonbeimengungen im Fleisch, unter anderem auch im Kalbfleisch, von Babynahrung gefunden wurden? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, über die beim Hormonskandal von 1979/80 festgestellten künstlichen Hormone liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, die auf eine gesundheitsschädigende insbesondere krebsauslösende Wirkung dieser Hormone hindeuten. Auf Grund dieser Erkenntnisse hat die Bundesregierung innerhalb der EG ein Anwendungsverbot von Hormonen bei Masttieren durchgesetzt. Dieses Anwendungsverbot gilt auch für natürliche Hormone, weil auch bei natürlichen Hormonen negative Auswirkungen auf den Körper von Kindern nicht ausgeschlossen werden können, wenn Injektions- und Applikationsstellen, in denen hohe Rückstandskonzentrationen auftreten können, verzehrt werden. Die Bundesregierung hält deshalb an dem generellen Hormonverbot fest. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, eine Zusatzfrage. Bitte schön.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt von der EG-Maßnahme gesprochen. Hier drängt sich in der Beantwortung die Frage auf, welche Schritte denn die Bundesregierung unternommen hat, um die Rechtslage der betroffenen Bürger und ihrer betroffenen Kinder gegenüber den Herstellern gesundheitsgefährdender Nahrungsmittel zu verbessern. Gibt es da bei Ihnen Erkenntnisse?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, wenn Schäden durch die Verwendung von Lebensmitteln auftreten, die schädigende Bestandteile enthalten, dann gelten dafür die allgemeinen schadensersatzrechtlichen Vorschriften. Ich glaube, dazu bedarf es, wenn solche Schäden festgestellt werden, keiner besonderen Vorschriften in bezug auf einen ganz bestimmten Stoff, wie Sie ihn hier angesprochen haben.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie dies schon für ausreichend halten, dann stelle ich meine Zusatzfrage.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber selbstverständlich.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Welche Schritte unternimmt denn dann die Bundesregierung, um die in den letzten Wochen bekanntgewordenen illegalen Verhaltensweisen der Schlachttierhaltung zu verhindern und die für die Verbraucher offenbar und bewußt in Kauf genommenen Gefährdungen der Gesundheit zu schützen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat auf den jetzt bekannten Hormonskandal sehr schnell reagiert. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Überwachung der Schlachttiere Sache der Länder ist. Die Bundesregierung hat aber sehr schnell gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen abgesprochen, die einer Wiederholung solcher Vorfälle entgegenwirken. Z. B. ist mit den Ländern abgesprochen worden, daß Kälber aus größeren Stallungen gemeldet werden müssen, bevor es zur Schlachtung kommt, und daß die Länder die Untersuchungen intensivieren. Außerdem hat die Bundesregierung bestimmte Werte festgelegt, die den Ländern die Untersuchung von Kälbern oder auch von anderen Tieren auf die Verwendung von Hormonen erleichtert, indem bei einer bestimmten Überschreitung der Menge an Hormonen im Blut schon der Hinweis gegeben ist, daß hier unerlaubt Hormone angewendet worden sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wenn Sie vom Grundsatz her der Meinung sind bzw. die Meinung der Bundesregierung vertreten, daß Hormone natürlicher oder künstlicher Art krebserzeugend sind: Was hat die Bundesregierung veranlaßt, um bereits in der Futtermittelzusammenstellung darauf zu achten, daß Futtermittel, die dementsprechende Hormone enthalten bzw. denen entsprechende Hormone beigefügt sind, so kontrolliert werden, daß sie überhaupt nicht verfüttert werden können?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, zunächst muß ich darauf hinweisen, daß diese krebserzeugenden Wirkungen bisher für künstliche Hormone nachgewiesen sind, und zwar für das künstliche Hormon, das 1979/80 verwendet worden ist, nämlich DES. Zum zweiten: Die Vorschriften, daß Hormone nicht zur Mast verwendet werden dürfen, gelten natürlich auch für die Zusammensetzung von Futtermitteln. Auch da liegt die Kontrolle bei den Ländern. Die Länder haben in bezug auf bestimmte Stoffe mit uns darüber gesprochen, daß sie auch Futtermittel - in diesem Fall war es kein Hormon, sondern Clenbuterol - daraufhin untersucht haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Michels.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wenn bei uns in Europa die Verfütterung von Hormonen verboten ist: Was tut die Bundesregierung gegen den Import von Fleisch aus Amerika, welches bekanntlich unter Verwendung vor Hormonen erzeugt worden ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, nach den von der EG beschlossenen Richtlinien, die auch umgesetzt worden sind, ist zunächst der Import aus Drittländern auch in andere Staaten der EG späteStaatssekretär Chory stens ab 1. Januar 1989 verboten. Bereits jetzt gilt aber - das galt auch in der Vergangenheit schon - , daß die Verwendung und auch der Import von hormonbehandeltem Fleisch in die Bundesrepublik Deutschland verboten ist. Damit die Überwachung der grenzüberschreitenden Transporte noch verbessert werden kann, wirkt die Bundesregierung seit langem darauf hin, daß auch die Kontrollen in den anderen EG-Ländern nach einheitlichen, und zwar nach möglichst so strengen Maßstäben wie bei uns durchgeführt werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir einer Meinung, daß nur deswegen, weil wir das schärfste Lebensmittelrecht der Welt haben und dadurch die Verbraucher in Deutschland besonders sicher sein können, die allerwertvollsten Nahrungsmittel zu erhalten, ein solcher Skandal aufgedeckt werden konnte? In anderen Ländern ist so etwas erlaubt; bei uns ist es verboten; das ist Wirtschaftskriminalität. Aber die Verbraucher können ganz sicher sein, jeden Tag hervorragende Nahrungsmittel auf den Tisch zu bekommen. Sind Sie da mit mit einer Meinung?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich bestätige gerne, daß unser Lebensmittelrecht und auch seine Anwendung im Vergleich zu anderen Ländern schärfer, strenger und wirkungsvoller ist. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Eigen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Geschäftsordnung nicht so malträtieren würden. ({0}) Herr Abgeordneter de With zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie sagten eben, daß bei der Frage des Schadenersatzes auf die derzeit geltenden Bestimmungen verwiesen werden könne und daß dies ausreiche. Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß dieser Skandal ein gutes Beispiel dafür ist, daß rascher als bisher die Produkthaftung der EG in Form einer Richtlinie umgesetzt werden sollte, und zwar in verbesserter Form gegenüber dem, was die Bundesregierung vorgeschlagen hat?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, hierzu muß ich sagen, daß die Federführung für diese Regelung meines Wissens beim Bundesjustizministerium liegt. Mir ist aber bekannt, daß ein entsprechendes Gesetz, das die EG-Richtlinie umsetzt, sich in der Beratung des Deutschen Bundestages befindet - wenn ich mich nicht irre. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 10 des Abgeordneten Reimann. Zu welchen Ergebnissen haben Reihenuntersuchungen ({0}) über die Folgen des Kalbfleischgenusses bei Kindern im Schulalter geführt? Herr Staatssekretär, Sie haben wieder das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, die Durchführung von Reihenuntersuchungen auch als Schuluntersuchungen fällt in die alleinige Zuständigkeit der Bundesländer. Eine generelle Mitteilungspflicht der Länder bei etwaig durchgeführten Reihenuntersuchungen besteht nicht. Weder der Bundesregierung noch dem Bundesgesundheitsamt sind derartige Reihenuntersuchungen wegen Kalbfleischverzehrs bei Kindern bekannt, auch nicht solche infolge des Hormonskandals 1979/80.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Habe ich das richtig verstanden, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung keinerlei Kenntnisse aus den Ländern vorliegen hat und sich dazu überhaupt nicht äußern kann?

Not found (Staatssekretär:in)

Ja, Herr Abgeordneter. Uns sind keine damals oder in der Folgezeit durchgeführten Reihenuntersuchungen bekannt.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, wenn die Bundesregierung so ahnungslos ist, erübrigt sich meine zweite Frage.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dafür haben wir noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben sicherlich aus Ihren Unterlagen zitiert, als Sie mir vorhin vorgehalten haben, daß bisher nur Krebserkrankungen bei natürlichen Hormonen möglich sind. Darf ich Sie fragen, ob es, wenn es sich um das gleiche Hormon handelt, an sich vom Prinzip her uninteressant ist, ob es natürlich entstanden ist oder künstlich erzeugt wurde, weil die chemische Formel für das Hormon, wenn es anschließend produziert ist, die gleiche ist und weil man davon ausgehen kann, daß der Wirkungsmechanismus dieses Hormons oder grundsätzlich jeder chemischer Substanz unabhängig von der Art ihrer Produktion gleich ist?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Würden Sie dem Hause auch noch erklären, was Ihre Frage mit den Schulreihenuntersuchungen im Zusammenhang mit dem Kalbfleischgenuß zu tun hat?

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieses kann ich natürlich insofern erklären -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich lasse mich auf keine Diskussion ein. Herr Staatssekretär, Sie können die Frage beantworten, müssen es aber nicht. Bitte schön.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich möchte dann noch einmal verdeutlichen: Die Feststellungen, die im Zuge des Hormonskandls 1979/1980 getroffen worden sind, bezogen sich auf ein künstliches Hormon, das meines Wissens eben nur künstlich hergestellt wird. Dessen Untersuchung hat eine krebsauslösende Wirkung ergeben. Bei natürlichen Hormonen gibt es derlei Untersuchungsergebnisse nicht. Gleichwohl ist die Bundesregierung der Meinung, daß solche Hormone bei der Tiermast nicht verwendet werden sollen, weil man Schäden bei nicht sachgerechter Verwendung nicht ausschließen kann und weil man eine sachgerechte Verwendung nicht unbedingt garantieren kann. Wir sind also gegen die Verwendung solcher Hormone, seien sie künstlich erzeugt oder natürlich oder seien es natürliche Hormone, die wirklich natürlich gewonnen worden sind, oder solche, die der Natur nachgebildet sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hat sich die Bundesregierung nicht wenigstens veranlaßt gesehen, sich auf Grund der Frage 10 bei den für Reihenuntersuchungen zuständigen Behörden danach zu erkundigen, ob solche durchgeführt worden sind, und wenn ja, mit welchem Ergebnis, und darf ich annehmen, daß die Bundesregierung, wenn solche Erkundigungen bisher unterblieben sind, nunmehr solche Erkundigungen anstellt?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, wir sind selbstverständlich davon ausgegangen, daß, wenn damals im Anschluß an den Hormonskandal Reihenuntersuchungen durchgeführt worden wären, diese der Bundesregierung auch bekanntgeworden wären. Ich möchte persönlich hinzufügen, daß ich damals in einem Land als Landesbeamter tätig war, und ich bin ganz sicher, daß sie mir dann bekanntgeworden wären. Ich bin aber gerne bereit, demnächst auf der Gesundheitsministerkonferenz höchst vorsorglich noch einmal eine Umfrage zu machen, ob etwa doch ein Land solche Reihenuntersuchungen gemacht hat. Aber ich bin sicher, daß es mir bekanntgeworden wäre, wenn es sie gegeben hätte.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmidt ({0}).

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, meine Frage zielt in eine ähnliche Richtung. Wären Sie bereit, Ihre Ahnungslosigkeit, die Sie in dieser Frage so ein bißchen zum Ausdruck gebracht haben, auch dadurch aufzuarbeiten, daß Sie Forschungsvorhaben in dieser Richtung neu auf den Weg bringen, die das, was wir hier als Frage in den Raum gestellt haben, vielleicht noch ein wenig zusätzlich untermauern?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, um die Wirkung des damals angewendeten Hormons zu beurteilen, braucht man kein Forschungsvorhaben mehr zu vergeben. Denn die Wirkungen dieses Hormons sind auf Grund von Untersuchungen, die in anderen Ländern durchgeführt worden sind, bekannt, nämlich auf Grund der Anwendung dieses Hormons bei Frauen, bei deren Kindern dann entsprechende Wirkungen festgestellt worden sind. Insofern bedarf es solcher Untersuchungen nicht. Bei uns ist die Anwendung solcher Hormone verboten, und sie muß unterbunden werden. Sie wird ja auch durch entsprechende Untersuchungen unterbunden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für Ihre Mühewaltung und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte zur Beantwortung zur Verfügung. Zunächst einmal teile ich dem Haus mit, daß die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Verheugen auf dessen Wunsch hin schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich kann somit die Frage 13 des Abgeordneten Dr. de With aufrufen: Trifft es zu, daß der Bundesbahnhauptvorstand auf Grund des Wachstums des Güterverkehrs in Bamberg und auf Grund dessen gegenüber Hof größeren Umfangs zunächst geplant hatte, die Generalvertretung Güterverkehr in Bamberg zu belassen, die Generalvertretungen Personenverkehr in Bamberg und Hof sowie die Generalvertretung Güterverkehr in Hof aber aufzulösen? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege de With, nach Auskunft der Deutschen Bundesbahn trifft es nicht zu, daß der Vorstand der DB frühere Planungen bei seiner Entscheidung am 10. Oktober 1988 geändert hat. Er hatte unterschiedliche Modellvorschläge des Fachdienstes und der Direktionspräsidenten - darunter auch einer zugunsten von Bamberg als Sitz für eine Generalvertretung Güterverkehr - abzuwägen. Er hat sich schließlich aus folgenden Gründen für Hof als Sitz einer Generalvertretung Güterverkehr entschieden: Erstens. Nach den Rahmenbedingungen kann für den Raum Bamberg-Hof nur e i n Standort für eine Generalvertretung Güterverkehr vorgesehen werden. Zweitens. Die Region Hof liegt sehr weit von der dominierenden Wirtschafts- und Verkehrsachse Würzburg-Nürnberg-Regensburg entfernt und besitzt wichtige Schienenübergänge zur DDR und nach Osteuropa. Es gibt hier viele Grenzspeditionen. Drittens. Bamberg liegt noch im Einzugsbereich der vorstehend genannten Achse und ist von Nürnberg aus schneller erreichbar. Die Generalvertretungen Personenverkehr in Bamberg und in Hof werden aufgelöst.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön, Herr Dr. de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß es eher objektiven Bedingungen entsprochen hätte, wenn man ins Kalkül gezogen hätte, daß das Güterverkehrsaufkommen in Bamberg zunimmt, und zwar entgegen dem gesamten Bundestrend, was in Hof nicht zu verzeichnen ist, und daß außerdem das Güterverkehrsaufkommen in Bamberg insgesamt höher ist als in Hof?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege de With, ich gehe davon aus, daß für die Deutsche BunParl. Staatssekretär Dr. Schulte desbahn, die diese Entscheidungen in eigener Verantwortung trifft, die genannten Argumente in der Abwägung wichtiger waren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Könnte es sein, daß bei der Abwägung auf den einen Teil der Waagschale versehentlich die Tatsache gefallen ist, daß der Bundesminister für Verkehr aus dem Wahlkreis Hof kommt?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich habe keinen Anlaß zu dieser Annahme.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich rufe nunmehr Frage 14 des Herrn Abgeordneten Dr. de With auf: Wenn ja, wieso wurde dann dieses Vorhaben zugunsten von Hof wieder umgestoßen mit der Maßgabe, daß bei Auflösung aller Generalvertretungen in Bamberg allein die Generalvertretung Güterverkehr in Hof verbleiben soll?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, wie Sie meiner Antwort auf Ihre erste Frage entnehmen können, trifft Ihre Vermutung nicht zu.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich darf Sie fragen, ob die Entscheidung, die bisher getroffen worden ist, endgültig ist oder ob nicht Anlaß besteht, sie noch einmal zu revidieren, da, wie ich sagte, allein in Bamberg eine Zunahme gegenüber den hier betroffenen anderen Generalvertretungen zu verzeichnen ist, jedenfalls was den Güterverkehr anlangt, und das Güterverkehrsaufkommen dort deutlich höher ist als in Hof.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, ich habe keinen Anlaß, anzunehmen, daß die Deutsche Bundesbahn eine Entscheidung, die sie gerade erst, im Oktober, getroffen hat, jetzt wieder umwirft. Sie können aber davon ausgehen, daß diese Entscheidungen nicht ewig gelten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie dann bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Leute, die einsehen, daß die Bundesbahn rationalisieren muß, überhaupt nicht verstehen, daß solche Maßstäbe angewandt werden, nicht aber Maßstäbe, die allein als objektiv zu bezeichnen sind?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, ich glaube, daß man die Maßstäbe, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, schon als objektiv bezeichnen kann, wenn man darauf hinweist, daß in Hof auf Grund der Grenznähe besondere Bedingungen bestehen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Daniels hat noch um eine Zusatzfrage gebeten.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß es angesichts der Situation, daß der Güterverkehr auf den Straßen auch unter dem Aspekt der zukünftigen Entwicklung in der EG ein erschreckendes Ausmaß annehmen wird, von seiten der Bundesbahn notwendig ist, den Güterverkehr soweit wie möglich aufrechtzuerhalten und Möglichkeiten zu schaffen, vielleicht auch zukünftigen Kapazitäten gerecht zu werden, und daß es deswegen doch wirklich sehr problematisch ist, wenn jetzt diese Veränderungen vorgenommen werden?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege, die Deutsche Bundesbahn versucht, mit ihrer Neuorganisation ihren Verkaufsdienst schlagkräftiger zu machen. Die Kundennähe bleibt gewährleistet oder wird sogar verbessert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Fragen 15 und 16 des Abgeordneten Engelsberger sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Herr Staatssekretär, wir sind damit am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Damit sind Sie Ihrer Pflichten entbunden. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Die Fragen 17 und 18 des Herrn Abgeordneten Dr. Schroeder ({0}) und die Fragen 19 und 20 des Herrn Abgeordneten Grünbeck sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe Frage 21 des Abgeordneten Brauer auf: Welchen Umfang hat das von der sowjetischen Regierung vorgelegte Angebot zur Entsorgung deutschen Atommülls, und inwieweit beabsichtigt die Bundesregierung, von dieser Offerte Gebrauch zu machen? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Angebot der sowjetischen Regierung zur Entsorgung radioaktiver Abfälle liegt dem Bundesumweltminister nicht vor.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Hans Jochim Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000248, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie können also endgültig und definitiv ausschließen, daß es eine solche Offerte gegeben hat?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich kann nicht ausschließen, daß zwischen Vertretern deutscher Firmen und Vertretern sowjetischer Behörden derartige Gespräche geführt werden. Ich kann ausschließen, daß ein offizielles Angebot der sowjetischen Regierung dem Bundesumweltminister übermittelt wurde.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, kann man grundsätzlich davon ausgehen, daß die Bundesregierung keine Angebote - egal, ob von der Sowjetunion oder von anderen Ländern - anneh7080 Dr. Daniels ({0}) men wird, Atommüll im Ausland zu lagern, oder ist das mit dem Entsorgungskonzept vereinbar?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Dr. Daniels, Sie haben sich dieser Frage schon im Zusammenhang mit unseren Gesprächen mit der Volksrepublik China angenommen und haben die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage vom 5. November 1987 erhalten. An diesem Sachstand hat sich nichts geändert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Wollny.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wäre es möglich, daß Exporte von Atommüll nach Absprache von Firmen mit der Sowjetunion durchgeführt werden, oder muß dazu die Genehmigung der Bundesregierung vorliegen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Frau Kollegin, für den Export von abgebrannten Brennelementen, nach denen Sie gefragt haben - Frau Wollny ({0}): Nein, ich spreche von Atommüll generell. Abgebrannte Brennelemente sind nach Ihrer Terminologie kein Abfall.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Das ist nicht ganz richtig, aber darüber brauchen wir uns in diesem Zusammenhang nicht zu unterhalten. Das Entsorgungskonzept der Bundesregierung, erst kürzlich wieder vorgestellt, geht von einer Entsorgung des Atommülls im Inland aus. Dies ist nach wie vor gültig.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 22 der Abgeordneten Frau Wollny: Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die aus bundesdeutschen Atomkraftwerken nach Schweden verbrachten abgebrannten MOX-Brennelemente dort zur Endlagerung verbleiben, und inwieweit steht diese Tatsache im Widerspruch zum § 9 a des Atomgesetzes?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die aus der Bundesrepublik Deutschland nach Schweden gelieferten bestrahlten MOX-Brennelemente verbleiben in Schweden und sollen dort direkt endgelagert werden. Der Transport bestrahlter MOX-Brennelemente nach Schweden steht nicht im Widerspruch zu § 9 a des Atomgesetzes.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage? - Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir kommen also noch einmal auf genau das zurück, worüber wir eben gesprochen haben. Sie haben bestätigt: Die MOX-Brennelemente bleiben in Schweden. Das heißt, sie sollen dort endgelagert werden. Bestätigen Sie, daß diese Brennelemente nicht wiederaufgearbeitet werden sollen und können?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Es handelt sich um MOX-Brennelemente alter Herstellungsart, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht wiederaufzuarbeiten sind. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die zweite Zusatzfrage.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das würde also heißen, sie sind Abfall. Nach § 9 Abs. 2 ist atomarer Abfall in eine Anlage des Bundes zu verbringen. Herr Gröbl, verstößt also die Verschiffung dieses Abfalls nach Schweden nicht gegen § 326 des Strafgesetzbuches: umweltgefährdende Abfallbeseitigung?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Gnädige Frau, ich kann Sie von Ihrer Sorge entbinden. § 9 a Abs. 2 Satz 2 des Atomgesetzes sieht vor, daß dann, wenn Abweichendes auf Grund des Atomgesetzes genehmigt wurde, Abfälle nicht in Bundesendlagerstätten verbracht werden müssen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Ist also die Bundesregierung der Auffassung, daß ein in Schweden in Planung befindliches Endlager eine Anlage zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle im Sinne des § 9 a Abs. 3 des Atomgesetzes sein kann? Dann kommen wir wieder auf den Punkt zurück, den Sie soeben schon angesprochen hatten: Wie läßt sich ein solches Endlager im Ausland mit dem sogenannten nationalen Entsorgungskonzept vereinbaren?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich habe schon vorhin auf die Bestimmung des § 9 a Abs. 2 Satz 2 des Atomgesetzes hingewiesen. Diese Bestimmung ist dadurch erfüllt, daß in der Ausfuhrgenehmigung nach § 3 des Atomgesetzes als Bestimmungsort Schweden angegeben wurde. Damit ist nach dem Atomgesetz Abweichendes festgesetzt, und damit hat dies seine Ordnung und Gültigkeit.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Brauer.

Hans Jochim Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000248, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist es nach dem Atomgesetz nicht so, daß für diese Ausnahmen, für diese Abweichungen eine Rechtsverordnung vorhanden sein muß? Gibt es diese Rechtsverordnung überhaupt?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Nein, es muß keine Rechtsverordnung vorhanden sein.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich rufe Frage 23 der Abgeordneten Frau Wollny auf: Welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung daraus zu ziehen, daß beim Transport von abgebrannten MOX-Brennelementen am 4. Oktober 1988 über den Hafen Emden nach Schweden die niedersächsischen Behörden von der Deutschen Bundesbahn nicht 48 Stunden vorher über diesen Transport informiert wurden, und sieht sich die Bundesregierung nach wie vor in der Lage, die Zuverlässigkeit bundesdeutscher Atomtransportunternehmen zu garantieren, da bereits bei Atomtransporten am 15. Juli 1988 nach Geesthacht durch die Firma Nuclear Cargo Service die vorgeschriebene Informationspflicht der zuständigen Behörden nicht eingehalten wurde? Bitte sehr, Herr Staatssekretär.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Von den über den Transport zu informierenden Behörden ist das Gewerbeaufsichtsamt Emden nicht 48 Stunden vorher, jedoch rechtzeitig vor Ankunft des Transports benachrichtigt worden. Es hat die atomrechtliche Aufsicht beim Umschlag im Hafen durchgeführt. Die unterbliebene 48-Stunden-Meldung ist derzeit Gegenstand von Ermittlungen der zuständigen Landesbehörde. Dies gilt auch für die Beanstandungen bei dem Transport vom 15. Juli 1988 nach Geesthacht durch die Firma Nuclear Cargo Service. Die Bundesregierung hat die ermittelnden Behörden um einen Bericht gebeten. Die Zuverlässigkeit bundesdeutscher Atomtransportunternehmen ist vor jeder Genehmigung nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 des Atomgesetzes von der Genehmigungsbehörde zu prüfen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Wollny, bitte schön.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundesregierung, speziell das Bundesumweltministerium, ist also davon überzeugt, daß es keine Zweifel an der Zuverlässigkeit von NCS gibt, obgleich es diese zwei Vorfälle gegeben hat und die Staatsanwaltschaft diesbezüglich ermittelt. Übrigens, die Benachrichtigung hat das Umweltministerium in Hannover nachgeholt, weil es die Bundesbahn versäumt hatte. Das sei für das Verständnis der Kollegen dazugesagt.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Gnädige Frau, ich darf auf meine Antwort verweisen. In dieser Antwort habe ich Ihnen berichtet, daß die Bundesregierung die ermittelnden Behörden um Unterrichtung über den Ermittlungsstand gebeten hat. Vorher fällt die Bundesregierung kein Urteil.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Wollny, ist nicht gewünscht. Damit ist dieser Geschäftsbereich erledigt. Ich kann noch eine Frage des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Forschung und Technologie aufrufen. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Probst zur Verfügung. Die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Vosen und die Fragen 26 und 27 des Abgeordneten Fischer ({0}) werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Dr. Daniels ({1}) auf: Trifft es zu, daß Vertreter des Bundesministeriums für Forschung und Technologie erfolgreich dafür gesorgt haben, daß die Mitteilung, daß die Sowjetunion auf den Bau kommerzieller Wiederaufarbeitungsanlagen verzichtet, die sie bei einer Reise im Juni in die UdSSR erfahren haben, aus dem Reisebericht gestrichen wurde, und welche Informationen liegen der Bundesregierung über das Entsorgungskonzept der UdSSR für Atommüll vor? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Herr Abgeordneter Daniels, Ihre Frage 28 beantworte ich wie folgt: Nein, im Juni dieses Jahres besuchten keine Vertreter des Bundesministeriums für Forschung und Technologie die UdSSR. Die auf internationalen Konferenzen vorgetragenen russischen Berichte über das Entsorgungskonzept der UdSSR gehen von einer Entsorgung über die Wiederaufarbeitung aus.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Dr. Daniels, bitte sehr.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist also aus Ihrer Sicht so, daß die Information, daß die Sowjetunion auf die kommerzielle Wiederaufarbeitung verzichtet, nicht richtig ist?

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

So ist es.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Können Sie noch einmal erläutern, aus welcher Quelle Sie diese Information haben, weil ich eine gegenteilige Information habe?

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Ich habe diese Quellen genannt. Es sind die internationalen Konferenzen, auf denen das System vorgetragen worden ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage ist nicht gewünscht. Dann schließe ich pünktlich die Fragestunde *). Die nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen im Plenarprotokoll 104 abgedruckt. Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" , Drucksache 11/3181, zu erweitern. Diese Vorlage soll zusammen mit dem Zusatztagesordnungspunkt 2, also dem nächsten Tagesordnungspunkt unserer ordentlichen Tagesordnung, aufgerufen werden. Ich möchte das Haus zunächst einmal um Zustimmung hierzu bitten. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist so beschlossen. Nun rufe ich Zusatztagesordnungspunkt 2 und den eben genannten Zusatzpunkt auf: ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Gesundheitsreform - Drucksache 11/3138 ZP Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" - Drucksache 11/3181 Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Herr Abgeordnete Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zur Gesundheitsreform, mit dem wir einen den Grundsätzen und den Regeln des Parla- *) Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Dr. Sperling, sowie die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer wurden von den Fragestellern zurückgezogen. mentarismus entsprechenden Beratungsgang des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes, das die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung eingebracht haben, sicherstellen wollen. Dieser Antrag der SPD-Fraktion, meine Damen und Herren, ist ein Akt der parlamentarischen Notwehr. ({0}) Wir, die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag, wehren uns gegen den Versuch der Beschneidung und Verkürzung unserer demokratischen Rechte. ({1}) Damit kein Mißverständnis aufkommt: Wir verkennen nicht die Stimmenverhältnisse in diesem Haus. Wir verkennen nicht, daß Sie von den Koalitionsfraktionen die Mehrheit haben, Ihr unsoziales Machwerk, genannt Gesundheits-Reformgesetz, durchzusetzen. Die Stimmenverhältnisse in diesem Haus sind Ergebnis der Bundestagswahlen vom Januar 1987. Kein Wahlergebnis allerdings gibt Ihnen das Recht, die verfassungsmäßig gesicherten Mitwirkungsmöglichkeiten der Opposition so zu beschneiden, daß aus den Gesetzgebungsberatungen eine pseudoparlamentarische Farce wird. ({2}) Mit Ihrem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz wollen Sie eine Neufassung des gesamten, teilweise über 100 Jahre alten Krankenversicherungsrechtes erreichen. Sie wollen uns zumuten, die damit verbundenen grundlegenden Fragen in nur wenigen Tagen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu beraten. Wir weisen diese Zumutung auf das entschiedenste zurück. ({3}) Ist Ihnen eigentlich klar, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, daß bei der Schaffung des bisherigen Krankenversicherungsrechtes Ende des letzten Jahrhunderts der vordemokratische Reichstag zu Kaisers Zeiten mehr Beratungszeit hatte, als Sie uns heute einräumen wollen? ({4}) Der Kollege Cronenberg, meine Damen und Herren, wird nicht müde zu bekunden, daß ausreichend Beratungszeit zur Verfügung steht. ({5}) Diese für einen Vizepräsidenten dieses Hauses erstaunliche Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. ({6}) Sie gleicht eher dem Pfeifen eines verunsicherten Pfadfinders im dunklen Wald. ({7}) Denn, meine Damen und Herren: Wie sind die Tatsachen? Die Koalitionsfraktionen haben Anfang Mai nach 15 Monaten sich ständig wiederholender Einigungsrituale endlich einen Gesetzentwurf vorgelegt. Bevor Koalition und Bundesregierung dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erläutern konnten, was denn nun im einzelnen mit diesem Gesetzentwurf gemeint sei, hat der Ausschuß eine Serie von Sachverständigenanhörungen durchgeführt. Erst danach fand die Einführung in das Gesetz statt und wurde gestern nachmittag - ich wiederhole: gestern nachmittag! - um 16.28 Uhr endlich abgeschlossen, meine Damen und Herren. Aber zwischenzeitlich war Ihr Gesetzentwurf das Papier nicht mehr wert, auf dem er stand. Sie hatten ihn durch 214 Änderungsanträge grundlegend verändert. ({8}) Die gestern abgeschlossene Einführung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung fand also zu einem Gesetzentwurf statt, der gar nicht mehr gilt, meine Damen und Herren. ({9}) Sie haben uns Anfang dieses Monats ein erstes Paket von fast 150 Abänderungsanträgen überreicht, das sich vorwiegend auf die Verbesserung redaktioneller Fehler und auf sachliche Richtigstellungen beschränkte. Wer will denn eigentlich bezweifeln, daß dieses Änderungspaket ein sicheres Indiz dafür ist, daß auch die Beamten des Arbeitsministeriums infolge des Zeitdrucks nicht in der Lage waren, ein ordentliches Gesetz vorzulegen? Allein das ist schon eine Zumutung. Der Ausschuß ist nicht die Redaktionskommission zur Ausbügelung der Schlampereien, die im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bei der Bearbeitung des Gesetzentwurfs entstanden sind. ({10}) Herr Bundesarbeitsminister, lassen Sie Ihren Beamten genügend Zeit, ein vernünftiges Gesetz vorzulegen. Ihre Beamten können das nämlich. Sie sind zu ordentlicher Arbeit in der Lage, wenn Sie ihnen Zeit lassen, Herr Blüm. Nach den ersten 150 Änderungsanträgen folgten 90 weitere mit wesentlichen politischen Veränderungen. Zur Krönung des ganzen Verfahrens präsentierten Sie uns gestern morgen ein drittes Paket von Änderungsanträgen. Meine Damen und Herren, das sind die Änderungsanträge der Änderungsanträge zu den Änderungsanträgen. Ich halte fest: das ist ein Verfahren, das eines Parlaments unwürdig ist, meine Damen und Herren. ({11}) Für diesen Wust an Änderungen - hinzu kommen nämlich noch 206 Änderungswünsche des Bundesrats, die wir prüfen müssen; hinzu kommen die Änderungsanträge der Oppositionsfraktionen - wollen Sie uns wenige Beratungstage im Ausschuß Zeit geben. Die SPD-Fraktion stellt fest: Wenn Sie sich mit Ihrem Beratungsverfahren durchsetzen, werden weder Sie noch wir wissen, was wir am Ende beschlossen und was wir abgelehnt haben. ({12}) Der Deutsche Bundestag wird zu einer Abstimmungsmaschinerie herabgewürdigt. ({13}) Nun sagt der Kollege Scharrenbroich: Wir wissen das schon. Der Kollege Jung ({14}), CDU/CSUDreßler Fraktion, stellvertretendes Mitglied im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, hat er nicht einen Brief an den Herrn Minister geschrieben, er möge auf das Inkraftsetzen zum 1. Januar verzichten? Herr Jung ({15}) ist nämlich Präsident der Selbstverwaltung der Innungskrankenkassen, meine Damen und Herren. Er sollte einmal hierherkommen und das, was er dort schriftlich niederlegt, hier zu Protokoll geben, meine Damen und Herren. ({16}) Ich sage Ihnen: Sie zerstören das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das den Grundsätzen der Demokratie entsprechende offene und klare Beratungsverfahren des Parlaments. Sie betreiben eine Strategie der parlamentarischen Entmündigung. Der Deutsche Bundestag ist nicht das Akklamationsorgan zur Bestätigung von Abreden, die Sie in Koalitionsrunden und anderen Hintertreppenkränzchen getroffen haben. ({17}) Der Arbeitsminister hat auf den Zeitdruck hingewiesen, der entstanden sei, weil die Kosten der Krankenversicherung in den letzten Monaten so enorm gestiegen seien. Er hat festgestellt, die Versicherten versuchten schnell noch die Krankenkassen zu plündern, ({18}) bevor das neue Gesetz in Kraft trete. Ich stelle fest: Das ist eine empörende Feststellung. Sie stellt die wirklichen Ursachen auf den Kopf. ({19}) Ich will Ihnen, Herr Blüm, zur Kenntnis bringen, wie die „Süddeutsche Zeitung" Ihre Versichertenbeschimpfung qualifiziert: An den Rand des Zusammenbruchs ist das Krankenkassensystem nicht durch die Raffgier der Kranken und Alten geraten, sondern durch die vom Gesetzgeber nicht behinderte Jagd von Ärzten, Zahnärzten, Pharmaindustrie, Gesundheitsgewerbe und Krankenhäusern auf die Beitragsmilliarden der Kassen. Sie lösen mit Ihrem Gesetzentwurf keines der Probleme. Beschimpfen Sie also nicht die Versicherten, sondern packen Sie die Mängel in unserem Gesundheitswesen endlich mit einer wirklichen Gesundheitsreform an, Herr Blüm! ({20}) Die Versichertenbeschimpfung, die Sie derzeit praktizieren, verwechselt in der Tat Ursache mit Wirkung. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, daß die verstärkte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch die Patienten und Versicherten erst durch Ihren Gesetzentwurf verursacht wurde, Herr Blüm? Ist Ihnen eigentlich nicht klar, daß der durch Ihren Gesetzentwurf vorgenommene Anschlag auf die soziale Gerechtigkeit von den Versicherten erkannt wurde und daß die Versicherten jetzt lediglich versuchen, noch zu sozial annehmbareren Bedingungen Leistungen in Anspruch zu nehmen, die sie ohnehin benötigen? ({21}) Deshalb: Herr Blüm, lassen Sie Ihre unqualifizierten Beschimpfungen, und kehren Sie auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Für die SPD-Fraktion erkläre ich verbindlich: Sollten Sie weiterhin an einem Beratungsverfahren festhalten, das die parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Minderheit in diesem Hause zu einer Farce macht, werden wir alles in unseren Kräften Stehende tun, dem entgegenzuwirken. ({22}) Wir werden keine Ruhe geben. Wir behalten uns alle Möglichkeiten vor. Und wenn Sie uns dazu zwingen, werden wir die Ausschußberatungen, die Sie uns verweigert haben, hier im Plenum nachholen. Wenn Sie uns nicht die Chance geben, die Änderungsanträge ordnungsgemäß im Ausschuß zu beraten, werden wir die Beratung dieser Änderungswünsche hier im Plenum erzwingen. Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag dient dazu, meine Damen und Herren, zu den Grundsätzen eines geordneten Parlamentarismus zurückzukehren. ({23})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Becker.

Dr. Karl Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der SPD-Fraktion zur Gesundheitsreform, der das Ziel hat, das schon weit fortgeschrittene Verfahren im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu stoppen und die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" in das Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen. Dabei liegen die Ergebnisse der Enquete-Kommission bisher noch nicht vor. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion weist daher dieses Ansinnen entschieden zurück. Es ist in den relevanten Gruppen unserer Gesellschaft und auch in den Parteien unbestritten, daß eine Strukturreform des Gesundheitswesens notwendig ist; denn das System droht unfinanzierbar zu werden. Die Regierungskoalition hatte daher im Frühjahr 1987 mit der Beratung einer Strukturreform für das Gesundheitswesen begonnen. Als die Opposition dies merkte, machte sie im Mai von ihrem Minderheitsrecht Gebrauch und erreichte die Einsetzung der genannten Enquete-Kommission. Die Kommission erhielt vom Deutschen Bundestag den Auftrag, bis 30. September 1988 Vorschläge für eine Strukturreform vorzulegen, die das Krankenversicherungsrecht im Sozialgesetzbuch kodifizieren. Die Bundesregierung konnte bereits Anfang Dezember 1987 die Eckwerte für die erste Stufe der Reform im Gesundheitswesen vorlegen. ({0}) Dr. Becker ({1}) Das Kabinett verabschiedete im April den Gesetzentwurf. Anfang Mai fand hier im Hause die erste Lesung statt. Bereits vor der Sommerpause gab es fünf ganztägige Anhörungen zu diesem Gesetz. In der Enquete-Kommission hatte sich aber schon im Winter gezeigt, daß nicht anzunehmen sein würde, daß die Ergebnisse rechtzeitig würden vorgelegt werden können. Nachdem die Bundesregierung ihre Eckwerte dargestellt hatte und die ersten Details draußen bekanntgeworden waren, zeigte sich, daß der Steuerungsmechanismus der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr wirkte. Ein Run auf Zahnersatzleistungen, Brillen und Hörgeräte setzte ein, der sich, als Blüm-Bauch bekannt, auf weit über 1 Milliarde DM beziffern läßt. Wenn die Opposition jetzt verlangt, unsere Gesetzesarbeit zu stoppen, dann wird sich bald zu dem Blüm-Bauch ein Dreßler-Sack gesellen, ({2}) der noch milliardenträchtiger sein wird. ({3}) Dies kann und darf doch wohl nicht wahr sein. Daher ist jetzt die Verabschiedung des Gesetzentwurfs notwendig; denn bis die Ergebnisse der Enquete-Kommission ausgewertet und eingebaut sind, wird ein weiteres Jahr vergehen. In der Enquete-Kommission erklärten im Mai 1988 alle Sachverständigen, auch die von der Opposition benannten, daß die Kommission ihre Ergebnisse nicht bis zum 30. September, dem vom Bundestag vorgesehenen Termin, würde vorlegen können. Trotz aller intensiven Mitwirkung - und hier sei allen, auch den Mitarbeitern im Büro der Enquete-Kommission, ein besonderer Dank ausgesprochen ({4}) verstrich der 30. September ohne die Vorlage. Dies war aber der letzte Termin für die Regierungskoalition, um Ergebnisse aus der Enquete-Kommission noch in ihre Überlegungen einzuspeisen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Dr. Becker, Sie lassen heute grundsätzlich keine Zwischenfragen zu?

Dr. Karl Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann bedaure ich.

Dr. Karl Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nur kurz Zeit. Manfred, mir tut es leid. Am 7. und 14. Oktober legte sie ihre Änderungsanträge nach der Auswertung der Anhörungen und Stellungnahmen der Verbände vor, ca. 200 Anträge, davon allerdings 120 mit rein technischen Veränderungen. ({0}) Nun setzte ein Feldgeschrei der Opposition ein, das in seiner propagandistischen Verbrämung und Übertreibung seinesgleichen suchen muß, man habe keine Zeit zu beraten, die Regierung wolle ein Gesetz durchpeitschen und so fort. ({1}) In solchen Dingen ist die Opposition ja kaum zu schlagen. Nur stimmen die Fakten mit den Worten nicht überein. ({2}) Insgesamt hatten wir im Ausschuß für die Einführung in das Gesetz - man höre und staune - zehn Beratungstage. So lange und so gründlich wurde meines Wissens noch kein Gesetz in diesem Bundestag eingeführt. Seit einem halben Jahr ist das Gesetz im Deutschen Bundestag, fürwahr genug Zeit, um sich mit der Materie, auch mit den Ergebnissen der Anhörung, bekannt zu machen. Was soll also das Gezeter, da bis gestern die Opposition, weder die SPD noch die GRÜNEN, weder einen einzigen Antrag vorgelegt hatte ({3}) noch über solche Anträge hatte etwas verlauten lassen. Dies zeigt auch, daß sie nur den unbedingten Willen hatte, das Gesetz zu verhindern. ({4}) Dies zeigt sich aber auch in dem Verhalten und Taktieren im Ausschuß. Gestern mußte die Regierungskoalition zunächst erst einmal mit Mehrheitsbeschluß die Tagesordnung umstoßen, denn das Gesetz war wieder einmal hinter Tagesordnungspunkt 14 angesetzt. ({5}) Danach setzten die üblichen Tricks parlamentarischer Verzögerungstaktik ein: Anträge auf Unterbrechung, Geschäftsordnungsdebatten, zwei Anträge auf neue Anhörungen wurden gestellt, obwohl die Opposition weiß, daß das Minderheitsrecht verbraucht war, weil keine wesentlichen, entscheidenden Veränderungen vorlagen. ({6}) Alle Anträge waren das Ergebnis der vorangegangenen Anhörungen. Endlich um 20 Uhr konnten die ersten Änderungsanträge beraten werden, aber auch dort wurde die Verzögerung benutzt. Meine Damen und Herren, als Beispiel aus der Vergangenheit weise ich auf das erste Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz in der Vorlage damals von dem damaligen Arbeitsminister Ehrenberg hin. Das Gesetz war in der Bedeutung hinsichtlich der Öffentlichkeitswirksamkeit und der Umstellungen dem heutigen ähnlich. Der Bundestag behandelte den Regierungsentwurf am 17. März 1977 in erster Lesung. Bereits am 23., 24. und 25. März 1977 fanden drei Anhörungen statt. Auch damals gab es Sonder- und Nachtsitzungen. Nach mehreren Wochen Osterpause wurden die Beratungen umgehend auf genommen, und bereits am 2. Mai 1977 wurde der Ausschußbericht vorgelegt. Die zweite und dritte Lesung fand schließlich am 12. und 13. Mai 1977 statt. Insgesamt waren dies einschließlich der Osterpause acht Wochen. Dr. Becker ({7}) Damals gab es die genannten Mätzchen nicht. Wir sollten wieder zu einem normalen und des Deutschen Bundestages würdigen Beratungsverfahren zurückkehren. ({8}) Ich muß nun sagen, daß dies heute morgen anscheinend auf dem Wege war. Um genügend Beratungszeit zu haben, haben die Koalitionsfraktionen Sondersitzungen beantragt, die alle gleichermaßen belasten, Opposition wie Koalition, Regierungsbeamte wie Ausschußsekretariat. Es wurden insgesamt von jetzt an noch sechs Tage genehmigt, die ausreichen müßten, um unsere gewiß nicht leichte Arbeit rechtzeitig abzuschließen, damit die zeitgebundenen Gesetze einschließlich des GRG zum 1. Januar 1989 in Kraft treten. Zur Enquete-Kommission ist zu sagen: wir haben nichts dagegen einzuwenden, daß sie ihre Arbeit fortsetzt. Sie soll Vorschläge für die Organisation der Strukturreform, die zweite Stufe der Strukturreform auch unserer Vorstellung nach, für eine sachgerechte Lösung der Überkapazitäten, Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich des Krankenhausgesetzes erarbeiten. Meine Damen und Herren, wir haben viel Arbeit in unserem Ausschuß, aber diese Arbeit ist dann zu meistern, wenn sich alle danach richten, ein parlamentarisches Verfahren, das würdig ist, durchzuführen. Schönen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.

Heike Wilms-Kegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DIE GRÜNEN im Bundestag sind sehr erfreut darüber, daß sich die SPD in dem vorliegenden Antrag so vehement für einen ordnungsgemäßen Beratungsgang beim sogenannten Gesundheits-Reformgesetz einsetzt. Wir begrüßen und unterstützen den Antrag der SPD, da wir auch von ihrer gesundheitspolitischen Trendwende angenehm überrascht sind. Es ist in diesem Zusammenhang sicher nicht verwerflich festzustellen, daß sich das Gesundheitsprogramm der SPD in vielen Punkten mit unseren gesundheitspolitischen Vorstellungen deckt. Das ist nicht zu bedauern. Vielmehr zeigt es, daß in der Sache mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen vorhanden sind. Allerdings müssen wir heute die SPD fragen, warum sie einerseits in ihrem Antrag beklagt, daß die Bundesregierung nicht die Bedingungen erfüllt, die an eine wirksame, den Interessen der Patienten und ihrer Versorgung dienende Reform gestellt werden müssen, während andererseits die sozialliberale Koalition mehr als zehn Jahre Zeit hatte, die heute beklagten Mißstände z. B. in der psychiatrischen Versorgung zu beseitigen. ({0}) Reformbedarf im Gesundheitswesen war zu Ehrenbergs Zeiten, wie Sie selbst zugeben, ebenso vorhanden wie zu Blüms Zeiten. Ehrenberg ist an dieser Reform genauso gescheitert, wie Blüm daran scheitern wird, sollten wir es nicht gemeinsam schaffen, ihn in letzter Minute noch zur Besinnung zu bringen. Wir GRÜNEN haben bereits in unserem Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission zur Strukturreform des Gesundheitswesens darauf hingewiesen, daß ein Reformwerk nur gelingen kann, wenn wirklich das gesamte Gesundheitswesen einbezogen wird. Was wir allerdings heute erleben, ist nach unserer Meinung eine beispiellose undemokratische Aktion: ein Gesetz zu verabschieden, das nicht nur die gravierenden Mängel in unserem Gesundheitssystem bestätigt, sondern darüber hinaus die bestehenden Mängel in Zukunft noch besser honorieren läßt durch die Heranziehung der kranken, chronisch kranken, behinderten und älteren Mitmenschen, durch Neueinführung oder Erhöhung von zusätzlichen Selbstbeteiligungen im Gesundheitswesen. Ihre eigenen Berechnungen weisen nach, daß die Kranken die Einführung einer sogenannten Pflegesicherung bezahlen. Aber zum Verfahren, Herr Dr. Becker: Sie haben eben auf ein anständiges und würdiges Verfahren gedrängt. Das Verfahren, das Sie uns in dem Ausschuß durch Ihre Mehrheit aufzwingen - das ist mir klar - , ist ein Skandal. Sie haben uns gestern, nachdem Sie uns ein dickes Änderungspaket vorgelegt und gesagt haben, das sei identisch mit dem bereits verteilten, es seien nur einige doppelte Sachen herausgenommen worden, 20 Minuten bewilligt, um es durchzusehen. ({1}) Sie wissen das sehr genau; denn wir hatten zwei Stunden lang versucht, bei Ihnen ein Zugeständnis zur Einsicht in diese Unterlagen zu erreichen. Ich habe sie durchgesehen, und zwar heute nacht, Herr Dr. Becker. Ihre Aussage stimmt nicht. 14 Änderungsanträge, die vorher dabei waren, sind zurückgezogen und 41 verändert worden. Es war also nicht das identische Paket, das uns nur korrigiert vorgelegt worden ist. ({2}) Ich halte das Verfahren für wirklich undemokratisch. Es entspricht nicht dem, was Sie eben gesagt haben. Das ist sicherlich nicht mit einer würdigen Beratung zu vereinbaren. ({3}) Ich halte es auch für undemokratisch, daß Sie alles daransetzen, um zu erreichen, daß die Arbeitsergebnisse der Enquete-Kommission völlig außer acht gelassen werden. Die Koalitionsfraktionen wollten nie die Gelegenheit nutzen, die Ergebnisse in ihren Reformvorschlägen zu berücksichtigen. Wir haben ja jetzt den Antrag vorliegen, mit dem Sie erreichen wollen, daß die Enquete-Kommission umfunktioniert wird, um die Aufgaben zu erledigen, die Sie nicht haben erledigen können, und die Aufgaben, die die Enquete-Kommission vom Deutschen Bundestag gestellt bekommen hat, nicht zu erledigen. Ich kann Ihnen zusichern, daß wir GRÜNEN im Bundestag alles tun werden - und zwar innerhalb und außerhalb des Parlamentes -, um dieses - das betone ich deutlich - unsozialste Gesetzeswerk zu verhindern. Wir werden dem Antrag der SPD zustimmen, obwohl wir natürlich wissen, daß er nicht ausreicht, um diese asoziale Krankenausgrenzungsmentalität zu verhindern. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Thomae.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe ja Verständnis dafür, daß die Opposition alle Register zieht, um die Verabschiedung dieses Reformwerkes zu verhindern. Auf Ihr Nein zur Reform haben Sie sich schon festgelegt, da waren die Referentenentwürfe noch nicht einmal geschrieben. Sie beschwören zwar immer den Konsens bei großen sozialen Reformen. Sie meinen damit aber offensichtlich, daß das nur gilt, wenn gemacht wird, was Sie wollen. Ganz abgesehen davon, daß Sie bis heute überhaupt keine umfassende Alternative vorgelegt haben. ({0}) Den Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, lehnen wir ab. Das ist für uns von der ersten bis zur letzten Seite ein einziger Negativantrag. ({1}) Die Reform wurde intensiv vorbereitet; Sie geben es selbst zu. In Ihrem Antrag weisen Sie darauf hin, daß die Bundesregierung - und hier bitte ich auch, die Koalitionsfraktionen mit einzubeziehen - „für die Erstellung dieses Entwurfes eine mehrjährige Vorbereitungszeit in Anspruch genommen hat" . Kaum ein anderes Gesetz wurde intensiver als dieses Reformgesetz im Ausschuß beraten. ({2}) Wir haben tagelang Anhörungen durchgeführt. Wir haben die Vorschläge und Anregungen dieser Anhörungen aufgenommen. Wir haben viele Gespräche geführt, aber auch Anregungen von Ihnen, meine Damen und Herren der Opposition, übernommen. Wir haben Änderungen herbeigeführt. Wenn nun diese Änderungen von Ihnen zum Anlaß für neue Anhörungen genommen werden, dann pervertieren Sie das System der parlamentarischen Beratungen. ({3}) Dafür können Sie von uns keine Zustimmung erwarten. Mit den beantragten Sondersitzungen haben wir Zeit geschaffen, um die Beratungen vernünftig durchzuführen und abzuschließen. ({4}) Die vielen Sondersitzungen und die vielen Nachtstunden sind sicherlich eine Zumutung für uns alle, aber sie liegen noch an der Grenze des Zumutbaren. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Thomae, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Andres, tut mir leid.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn ich genügend Redezeit hätte, würde ich die Spiegelstriche auf Seite 1 Ihres Antrages widerlegen. Ich will mich aber nur auf einige wesentliche Punkte konzentrieren. Sie beklagen, daß eine Neuordnung der Krankenhausfinanzierung und der Pflegesätze nicht vorgenommen wird. Dafür haben wir Verständnis. Sie beklagen, daß auf dem Arzneimittelmarkt zu wenig geschieht. Offensichtlich haben Sie übersehen, welche Auswirkungen die Festbetragsregelung für die pharmazeutische Industrie hat. Die Festbetragsregelung wird den Preiswettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt in besonderer Weise forcieren. ({0}) Richtig ist allerdings, daß wir die Neuordnung, die Sie meinen, nicht machen werden. Der Arzneimittelmarkt soll auch in Zukunft ein freier Markt mit freier Preisbildung sein, ({1}) und es wird keine Positivliste geben. ({2}) Sie beklagen, daß bei den ärztlichen Honoraren nichts geschehe. Dies ist richtig und konsequent. Denn Honorarpolitik, die Bewertung ärztlicher Leistungen und die Bewertung zahnärztlicher Leistungen, ist Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung, ({3}) genauso wie es Aufgabe der Tarifpartner ist, Löhne und Gehälter auszuhandeln. Weder bei den Ärzten, Zahnärzten und sonstigen Heilberufen noch bei den Arbeitnehmern in den Betrieben hat sich der Staat hier einzumischen. Daß wir die Versorgung für psychisch Kranke verbessern, haben Sie offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Daß wir Arbeiter und Angestellte hinsichtlich der Versicherungspflicht gleichstellen, auch das haben Sie bewußt übersehen. Wir werden dies in der Kassenstrukturreform verfeinern. Wir werden auch die Ergebnisse der Enquete-Kommission hier sicherlich mit einbeziehen, die - das möchte ich hier bestätigen - sehr gut gearbeitet hat. ({4}) In den Punkten, über die bei dieser Reform entschieden werden muß, gibt es offensichtlich keinen Konsens: Sie wollen mehr Staat, mehr Planung, mehr Bürokratie und weniger Freiheit. ({5}) Wir wollen weniger Staat, mehr Wettbewerb, mehr wirksame Steuerungselemente und vor allen Dingen Eigenverantwortung. Dazwischen, zwischen Ihrer und unserer Auffassung, liegen Welten. ({6}) Ob wir jetzt oder erst in wenigen Wochen oder Monaten entscheiden - diese grundlegenden, ja ideologischen Unterschiede lassen sich einfach nicht überbrücken. ({7}) Jede Verzögerung würde über den Ausgabenanstieg nur noch beschleunigend wirken und damit die Beiträge noch höher treiben. Dieser Teufelskreis kann mit populären Versprechungen nicht aufgehalten werden. Vielmehr ist hier Verantwortungsbewußtsein für das Ganze gefordert, d. h. vor allem verantwortungsbewußter Umgang mit dem sauer verdienten Geld der Beitragszahler. ({8}) Genausowenig wie Sie 1982 Ihrem Bundeskanzler Helmut Schmidt zu folgen bereit waren, als er unpopuläre, aber notwendige Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme für unerläßlich hielt, genausowenig sind Sie heute, morgen und wann auch immer zu den notwendigen politischen Entscheidungen im Gesundheitswesen bereit. Deshalb sind Sie wahrscheinlich in der Opposition. Deshalb werden wir uns aus der Verantwortung für die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherungen und aus der Verantwortung für erträgliche Sozialversicherungsbeiträge für diese Form entscheiden und diese intensiv vertreten. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ihre freudige Erwartung ist unüberhörbar. Lassen Sie uns also auch gleich beginnen. Zweifelsfrei hat mein Vorredner recht: Die ideologischen Gräben, die bei den unterschiedlichen Auffassungen von Opposition und Regierung bestehen, werden in einer monatelangen Verzögerung nicht beseitigt werden. Was aber beseitigt werden kann, sind die vielen, vielen Fehler, die zum Teil jetzt schon nachweisbar enthalten sind. Dagegen ist das Beispiel, das Sie gerade durchlebt und durchgelitten haben, nämlich die Steuerreform und das Flugbenzin noch eine Lappalie. Ich möchte die Zeit nutzen, um Ihnen anhand eines einzigen Fachbereiches, über den wir gestern im Innenausschuß debattiert haben - den Datenschutz -, diesen Beleg zu geben: Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat in seiner Stellungnahme vom 21. Juni diesen Jahres ausgeführt: Die beabsichtigte Strukturreform des Gesundheitswesens ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes eines der bedeutendsten Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode. Nun vergegenwärtigen Sie sich bitte folgende Situation: Es gab am 6. Juni diesen Jahres eine Zusammenkunft der Landesbeauftragten für Datenschutz und des Bundesbeauftragten für Datenschutz. Anfang Oktober, am 10. Oktober, gab es eine weitere Zusammenkunft. Dort war es nicht möglich, die neuen Erkenntnisse umzusetzen, geschweige denn, sie zu diskutieren. Herr Dr. Einwag hat uns Abgeordneten gestern im Innenausschuß mitteilen müssen, daß er lediglich die neuen Erkenntnisse, die noch bis Freitag letzter Woche mit dem Bundesministerium für Arbeit diskutiert worden waren, den Kollegen in die Hand drücken konnte. Sie konnten nicht diskutiert werden. Gleichzeitig wissen wir aber um massivste Einwände von einzelnen Landesbeauftragten für den Datenschutz, die sehr konkrete Ausführungen gemacht haben. Ohne daß wir in jede Einzelheit einsteigen, wo diese Dollpunkte sind, möchte ich Ihnen doch mit zwei Beispielen die Substantiiertheit dieser Bedenken vor Augen halten: Zum einen gibt es die Krankenversicherungskarte. Sie wissen: Nicht nur wir warnen und haben Angst, daß wir damit doch einen Ausweis für alle Bundesbürger einführen, der überall maschinenlesbar eingesetzt werden kann, obwohl dies sowohl nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts als auch nach den bisherigen Positionen, die die Fraktionen beschrieben haben, verboten sein soll. Wir finden in den Ausführungen zu § 299 Ihres fürchterlichen Gesetzesvorhabens, daß auf dieser Krankenversicherungskarte, die maschinenlesbar sein soll, Name, Vorname, Geburtsdatum, Anschrift, Versicherten-Nummer und Versichertenstatus enthalten sein sollen. Besser kann man das nicht vorbereiten. Nun sagen Sie zur Zeit noch in den Ausführungen zu Abs. 3, daß die Krankenversicherungskarte vor allen Dingen dazu benutzt werden soll, daß der organisatorische Ablauf zwischen Praxen und Kassen verbessert weden soll - daß man das rüberziehen kann. Nach den Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, daß nämlich die verschiedensten Bundesbehörden und auch Landesbehörden im Datenbereich ohne rechtliche Grundlage Daten erheben, wage ich - das ist wirklich nicht von ganz weit unten oder super links hergeholt - folgende Prophetie: In Kürze werden wir erleben, daß aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten heraus, ganz pragmatisch, die Forderung im Raum steht, das jetzt auch entsprechend umzusetzen, und zwar bundesweit, so wie es nach der Begründung in § 299 Abs. 3 vorbereitet ist. Dann geht es nicht nur um organisatorische Vereinfachungen, sondern darum, tatsächlich einen solchen Ausweis zu haben. Dann haben wir diesen Ausweis für sämtliche Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Das ist einer der Gesichtspunkte, der Sie im Bereich des Datenschutzes dazu veranlassen müßte, dem Antrag der SPD zu folgen und eine wirklich qualifizierte Beratung mit dem dafür erforderlichen Zeitaufwand zu ermöglichen. Es entstehen ungeheure Datensätze, und zwar von uns allen, auch von Ihnen. Gut, wir fühlen uns privilegiert, ({0}) aber unterschätzen Sie nicht, was auch in Ihrem Bereich möglich ist. Verfassungsschutzämter haben ja schon Dossiers über Abgeordnete gesammelt. Es werden über jeden Bundesbürger hochsensible Daten in größtem Umfang gespeichert werden. Diese Datensätze sind reanonymisierbar, Herr Ronneburger. Unterschätzen Sie die Gefahr nicht: Wenn zur Zeit nur beabsichtigt ist, manuell zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Kassen eine Reanonymisierung herbeizuführen, so ist das mit einer einfachen Richtlinie zu korrigieren. Wenn Herr Dr. Einwag sagt, er würde seine Zustimmung nicht geben, wenn keine gesetzliche Ermächtigung dafür vorhanden sei, dann möchte ich sehen, was der Bundesbeauftragte für den Datenschutz unternehmen will, wenn eine solche Richtlinie vom Bundesarbeitsministerium oder von wem auch immer erlassen wird. - Er kann ja nur beraten! Das ist aus meiner Sicht in der Tat die Vorstufe zum maschinenlesbaren Ausweis für die gesamte Bundesrepublik. Ich bin der Auffassung, daß auch in Ihrem eigenen Interesse, um Sie auch vor Schaden zu schützen, die Beratungszeit verlängert werden muß, und zwar nicht nur bezüglich der Fragen des Datenschutzes, sondern auch im Zusammenhang mit vielen anderen Einzelfeldern. Das, was hier zur Zeit zum Ausdruck kommt, ist das Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Monetik, das Sie in einer krampfhaften Art und Weise zu lösen versuchen. Ein letzter Gedanke. Herr Staatssekretär Kroppenstedt sagte uns gestern im Innenausschuß auf die Frage, wie es denn nun im Beamtenbereich geregelt werden soll, daß bei der Beihilfe für die Beamten dieselben Einsparungen vorgenommen werden sollen wie für die Versicherungsnehmer bei den Kassen. Ich denke, dies ist eine wichtige Botschaft an den Deutschen Beamtenbund und die ganzen anderen Gewerkschaften, die Beamte in ihren Reihen haben, damit Sie bei den weiteren Beratungen auch noch die Beamtenlobby an den Hals bekommen, damit Sie nicht den Eindruck suggerieren können, Sie könnten zumindest in diesem Bereich Ihr Machwerk in Ruhe zu Ende betreiben. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne meine Rede mit einem Lehrbeispiel, das die Seriosität der Einwände, die hier vorgetragen wurden, schlaglichtartig beleuchtet. Der Abgeordnete Dreßler hat behauptet, daß mein Kollege Jung, der hier sitzt, mir einen Brief des Inhalts geschrieben habe, die Reform solle verschoben werden. Das ist unwahr. ({0}) Herr Kollege Jung sitzt hier und kann Ihnen bestätigen, daß diese Behauptung des Abgeordneten Dreßler unwahr ist. ({1}) Zweiter Punkt, Datenschutz: Meine Damen und Herren, ich kenne in meinem Bereich kein Gesetz, das mehr mit dem Datenschutzbeauftragten abgestimmt wurde als dieses. Der Datenschutzbeauftragte war von Anfang an in die Vorbereitung des Gesetzes eingeschaltet. Ich danke dem Datenschutzbeauftragten für seine Kooperation. Dieses Gesetz ist mit ihm abgestimmt. ({2}) Drittens. Ich kenne kein Gesetz aus meiner Amtszeit, auf das mehr Beratungstage kamen als bei diesem. Es wurde am 6. Mai eingebracht. Bisher gab es 17 Sitzungen, und weitere Sitzungen werden folgen. ({3}) Meine Damen und Herren, es gibt doch im Bereich der Krankenversicherung nichts, was nicht schon diskutiert wurde. Es gibt doch überhaupt nichts Neues mehr. Jahrelang ist diskutiert worden, aber es wurde nicht gehandelt. Meine Damen und Herren, lassen wir einmal das ganze Hin und Her beiseite. Sie haben gesagt, Sie wollten das Gesetz mit allen Mitteln verhindern, und genau darum geht es: Mit allen Mitteln wollen Sie das Gesetz verhindern. ({4}) Deshalb geht es hier in der Debatte um etwas ganz anderes. Es geht darum: Wollen wir eine Reform der Krankenversicherung, oder wollen wir sie nicht? Die Frage muß das Parlament beantworten. ({5}) Meine Damen und Herren, wer die Reform will, der muß sie jetzt wollen, denn ohne Reform verändert sich die Krankenversicherung automatisch. Sie bricht nämlich zusammen. Deshalb gilt: Wer die Reform will, der muß sie jetzt wollen. ({6}) - Meine Damen und Herren, darauf komme ich ja gleich, für die Reform gibt es nur ein einzig handfestes in Paragraphenform gebrachtes Angebot, und das ist der Gesetzentwurf der CDU/CSU und der FDP. Sonst kenne ich überhaupt keine Alternative, die in Paragraphenform gebracht werden kann. ({7}) Ich meine, es wird alles diskutiert. Wir haben überhaupt keinen Mangel an philosophischen Betrachtungen über Gesundheit und Solidarität. Wir haben sehr respektvolle ökonomische Erörterungen über Kosten und Parameter auf hohem Niveau gehabt. Vor allen Dingen haben wir überhaupt keinen Mangel an Einwänden; sachliche, polemische, demagogische. Jede Machart von Einwänden ist bekannt. Ich will jetzt hier einmal etwas aus voller Seele sagen: Mir langt es jetzt mit Einwänden. Ich höre nur noch Einwände, Einwände, Einwände und Einsprüche. ({8}) Wir leben in einer Gesellschaft, die einen Überfluß an Bedenken hat. Wir leben in einem Überfluß von Verhinderungen. Meine Damen und Herren, wir leben in einer Vetogesellschaft. ({9}) Wenn wir in dieser Gesellschaft einmal die Vorschläge bezüglich dessen sammeln, was alles verhindert werden soll, dann brauchen wir Bände. Wenn wir aber einmal die Vorschläge bezüglich dessen sammeln, was gemacht werden soll, die kriegen Sie auf einen Notizblock. Das kriegen Sie auf eine Seite einer Zeitung. Die Sammlung des Neinsagens ist überreich. Jetzt will ich einmal etwas sagen: Das geht über die Krankenversicherung hinaus. Die Neinsager, das sind aus meiner Sicht die neuen Opportunisten der Gesellschaft. Es gehört heute mehr Mut zum Jasagen, zur Bejahung und dazu, einen Vorschlag zu machen, als alle Proteste und Demonstrationen zu formulieren. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, ich habe zwei Wünsche. Sie lassen grundsätzlich keine Zwischenfragen zu?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein! Dem Protest passiert dasselbe, was dem Geld in der Inflation passiert. Er ist billig geworden, und zwar weil wir eine Gesellschaft der Protestierenden geworden sind und weil uns der Mut in Gefahr gerät abhandenzukommen, etwas zu machen. Wir müssen in der Krankenversicherung etwas machen. Geredet worden ist unendlich viel. Jetzt muß gehandelt werden. Viel Intelligenz und Phantasie wird auf die Beschreibung von Gefahren konzentriert. Meine Damen und Herren, ich will ja Gefahren nicht verneinen, aber ich würde mir wünschen, daß ebensoviel Intelligenz und Phantasie darauf konzentriert wird, wo die Chancen der Gesellschaft liegen, was wir machen sollen, und nicht nur, was wir nicht machen sollen. ({0}) Deshalb frage ich die Opposition und auch die Öffentlichkeit: Was sollen wir tun? Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission - hoch angesehen, mein großer Respekt vor ihren Mitgliedern - weiß aber offenbar nach monatelanger Beratung immer noch nicht, was wir machen sollen. Es liegt jedenfalls kein handhabbarer in Paragraphenform zu übersetzender Vorschlag vor. Ich will einmal ein paar Beispiele aus Kommissionberichten vorlesen. Da heißt es in der Arbeitsgruppe der Enquete-Kommission II vom 22. September in der Einleitung - ich zitiere -: Es werden keine Empfehlungen ausgesprochen, auch nicht in Form alternativer Optionen. Die verschiedenen Konzeptionen zur Orientierung und Steuerung der gesetzlichen Krankenversicherung werden nacheinander skizziert. Machen Sie einmal aus einer Skizze ein Gesetz. Und weiter heißt es nach einigen Ausführungen: All dies hat die Arbeitsgruppe II veranlaßt, auf eigene ordnungspolitische Empfehlungen zu verzichten und sich auf eine Darstellung der vorhandenen Denkrichtungen zu beschränken. Also mit Denkrichtungen wird die Krankenversicherung nicht gerettet. Meine Damen und Herren, es tut mir leid, Denkrichtungen langen nicht für Politik. ({1}) Ich habe eine ganze Sammlung: Wie der erweiterte Spielraum der Selbstverwaltung jedoch zu nutzen ist, darüber gehen die Vorstellungen auseinander. Mit auseinandergehenden Vorstellungen kann ich auch nichts anfangen. Wir sind vom Bürger gewählt, um zu handeln. Wir sind keine Versammlung, die sich in unendlicher Diskussion hin- und herbewegt. Wir müssen ein Schiff, das in Gefahr ist, zu sinken, nämlich die Krankenversicherung, retten. Da haben wir uns den Zeitpunkt nicht ausgesucht. Hätten Sie die Reform vorher durchgeführt, bräuchten wir sie jetzt nicht zu beraten. ({2}) Ich glaube, es hängt mit folgendem zusammen: Es ist leichter, Einwände zu formulieren. Es gibt eine Berührungsangst der Fragesteller, eine Berührungsangst gegenüber Antworten. Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Es gibt nämlich keine patenten Antworten; es gibt keine Patentrezepte. Es gibt überhaupt keine Antwort, die einwandfrei wäre. Es gehört ebenfalls zu einem Realismus der Politik, daß man Güterabwägungen betreiben muß, daß man den Mut haben muß, sich festzulegen, auch wenn es Einwände gibt, daß man abwägen muß, wo die größeren Gefahren, wo die größeren Chancen sind. Das halte ich für eine verantwortungsvolle Politik und nicht diese ideologischen Überschläge, von denen die Gesellschaft noch nie gerettet wurde. Soll ich Ihnen ein weiteres Beispiel vorlegen? ({3}) Zur Wirtschaftlichkeit - auch Enquete-Kommission - : Es bedarf geeigneter Instrumente und Mechanismen, um das Verhalten der Anbieter und Konsumenten in einer Weise zu beeinflussen, die es erlaubt, die Globalziele wenigstens approximativ zu verwirklichen. ({4}) Wissen Sie, das ist so etwas ähnliches, wie wenn ein Gemeinderat beschließt: „Neue Straßen müssen gebaut werden. Wir halten allerdings geheim, wo sie gebaut werden; wir wissen nicht, wo sie gebaut werden, " Nein, so kann Politik nicht gestaltet werden. Ich rufe den Bundestag wirklich auf, den Mut zu behalten, nicht nur zu diskutieren. Es ist zwar notwendig, ausführlich zu diskutieren, Probleme hin- und herzuwälzen. Ich glaube auch, es ist die Rolle der Opposition, die Regierung mit Gegenargumenten zu bedrängen. Aber wir müssen doch handlungsfähig bleiben; wir müssen doch Antworten geben auf drängende Probleme. Kommen wir zur Sozialdemokratischen Partei. Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf. Ich kenne Ihren Parteitagsbeschluß; ich habe ihn einmal gelesen: Auf einer halben Seite kommt genau elfmal das Wort „Orientierung" im Sinne von Rahmen vor, und Sie haben eigentlich für die gesamte Gesundheitsreform nichts anderes anzubieten als einen Katalog von Gremien, die über den Bedarf bestimmen sollen, alle möglichen Formen von Gremien: Bundesgremium, regionale Gremien, offenbar geprägt von dem überaus großen Vertrauen in die Funktionäre. Sie meinen, die Funktionäre bestimmen den Bedarf besser als die Bürger selber. ({5}) Das ist das geheime Mißtrauen der Sozialdemokratischen Partei gegenüber freien Bürgern. ({6}) - Doch. Wie nahe die Lobbyisten dem Gemeinsinn sind, haben sie in den letzten Wochen klassisch bewiesen. Da brauche ich eigentlich keinen weiteren Anschauungsunterricht. Hören wir doch einmal, was der Kollege Dreßler dazu meint; er hat ja hier ganz mannhaft gesprochen. Wollen wir doch einmal ein paar Beispiele nennen; zur Transparenz - 11. Januar 1988 - : Dieser Entwurf geht viel weiter als das Volkszählungsgesetz, ja, bis in die Intimsphäre. Hier soll faktisch das Innenleben von Millionen Versicherten durch Plastikkarten und Mikrochips offengelegt werden. Das kann kein Mensch kontrollieren. Ein bißchen später: Damit soll durch die Hintertür der gläserne Patient und eine Gesundheitspolizei eingeführt werden. Dann - ganz neu: 3. Oktober 1988 - : Transparenz heißt Durchblick und muß zur Sache der Patienten werden. Sie haben ein Recht auf Transparenz gegenüber den Leistungserbringern und Kassen. Gegenwärtig ist aber nicht viel zu sehen von einer Weiterentwicklung in diesem wichtigen Bereich der „Gesundheitsreform". Herr Dreßler, entscheiden Sie sich doch erst: Haben wir zu viel Transparenz oder haben wir zu wenig Transparenz? Ordnen Sie doch erst einmal Ihre Argumente, bevor Sie hier zum Sturm blasen. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister - Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Nein. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Er hat nein gesagt. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wieso? Er soll seine Argumente ordnen. Wenn er sie geordnet hat, läßt sich leichter mit ihm diskutieren. ({0}) - Unter der Voraussetzung, wenn Sie meinen, ich hätte Angst: Bitte, Herr Dreßler, ausdrücklich! ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Abgeordneter Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, stimmen Sie mir zu, daß die Kritik an der Datenschutzfrage des Referentenentwurfs vom Januar von allen Datenschützern der Bundesrepublik - Land und Bund - in ihrer Bundeszusammenkunft im Juni ausdrücklich bestätigt, ja in Teilen sogar überlagert, sprich: verschärft wurde? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Abgeordneter Dreßler, kommen Sie über das Argument hinweg, daß der Datenschutzbeauftragte mit uns diesen Gesetzentwurf abgestimmt hat? Ich habe die konkrete Rückfrage, Herr Dreßler, weil Sie so schön stehen: Sagen Sie doch einmal etwas zu dem Abgeordneten Jung und zu der Frage, ob mir der Abgeordnete Jung einen Brief geschrieben hat. Können Sie hier auch dazu vielleicht noch etwas sagen?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist Ihnen aufgefallen, daß ich Sie soeben gefragt habe, ob es stimme, daß Ihnen der Abgeordnete Jung ({0}) in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Selbstverwaltung der IKK einen Brief mit dem von mir zitierten Ziel geschrieben habe? Wenn Ihnen das aufgefallen ist, wieso kommen Sie dann zu der Behauptung, ich hätte gesagt, er hätte? ({1}) Ich habe Sie gefragt, ob Sie bereit sind, das hier zu bestätigen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich bestätige, daß Sie hier den Eindruck erweckt haben, der Abgeordnete Jung habe mir einen Brief geschrieben, was nachweislich falsch ist. Das bestätige ich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Dreßler, würden Sie die Güte haben, in der gebührenden Form die mögliche Antwort entgegenzunehmen?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich will noch einmal sagen: Ich bestätige Ihnen ausdrücklich, daß Sie hier einen Eindruck erweckt haben, der falsch war. ({0}) Hier sitzt der Kollege Jung, und das Gegenteil ist wahr. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, der Abgeordnete Hoss hat sich nun ermutigt gefühlt, die eben abgelehnte Zwischenfrage offensichtlich doch zu stellen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, stimmen Sie mit mir überein, daß das, was Sie bisher gesagt haben, am Kernproblem der Strukturreform vorbeigeht? ({0}) Das Kernproblem Ihrer Strukturreform besteht darin, über Selbstbeteiligung die nötigen Mittel bei den Versicherten herauszuholen, um damit Probleme zu lösen, die nicht im Interesse der Versicherten liegen. Das ist das Kernproblem. Stimmen Sie damit überein?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wenn das so wäre, dann verstehe ich nicht den Protest der Apotheker, der Pharmaindustrie, der Ärzte und der Zahnärzte. ({0}) Diesen Protest verstehe ich dann überhaupt nicht. Ich bedanke mich für Ihre Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, noch einmal darauf hinzuweisen, daß dieses Gesetz eine Härteklausel und soziale Rücksichtsnahmen bietet, wie es sie bisher noch nicht gab. Es fallen sogar Zuzahlungen weg, die bisher geleistet werden mußten. Wenn Sie schon behaupten - das wurde vorhin gesagt - , daß mit diesem Gesetz Ausgrenzungen verbunden seien, entgegne ich Ihnen: Zum erstenmal sind die Pflegebedürftigen in die Solidarität einbezogen, zum erstenmal, meine Damen und Herren. ({1}) - Nein, jetzt nicht mehr; meine Zeit ist beschränkt. Ich will jedem nur ein Stück vorführen: Wenn ich gesagt habe, je später das Gesetz komme, um so mehr werde herausgeholt, zeige ich Ihnen hier zum Beweis: „Achtung Stichtag! Noch alles mitnehmen! Schnell zu Optik Bockhoop!" Was ist das anderes als die Aufforderung, aus der Solidarkasse abzusahnen, meine Damen und Herren? ({2}) Deshalb sage ich Ihnen in der Verantwortung für die Solidargemeinschaft: Jeder Tag - das muß jeder verantworten, auch Sie mit dem Spektakel, das Sie veranstalten -, den dieses Gesetz später kommt, ist ein verlorener Tag für die Solidarkassen. Jeder Tag, an dem das Gesetz nicht in Kraft ist, läßt neuer Mitnahme, neuer Verschwendung und neuer Vergeudung offenen Raum. Jeder Tag, den dieses Gesetz zu spät kommt, ist ein verlorener Tag für die Schwerpflegebedürftigen und für die Schwerstbehinderten. Diesen helfen wir, und diese haben die Hilfen nötiger als alle Demonstranten zusammen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Egert das Wort. Aber ich habe die eindringliche und herzliche Bitte, daß diejenigen, die sich lieber unterhalten als dem Abgeordneten Egert zuhören wollen, augenblicklich den Saal verlassen. Das gilt auch für den Abgeordneten Hauser ({0}) und andere, wie auch für den Abgeordneten Apel ({1}). Herr Abgeordneter, ich erteile Ihnen nicht eher das Wort, als bis die notwendige Ruhe im Saal hergestellt ist. Ich hoffe, Herr Abgeordneter, daß Sie nun beginnen können. Sie haben das Wort.

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin einer der Abgeordneten, die aus einer der ordnungsgemäßen Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung kommen, die diese Regierungsfraktionen uns zumuten. Die Ordnungsgemäßheit sieht so aus, daß wir am Montag gegen 24 Uhr die Ausschußsitzung beendet haben, daß wir am Mittwoch gegen 24 Uhr die Ausschußsitzung beendet haben, daß wir sie heute um 24 Uhr beenden werden, daß wir sie morgen gegen 24 Uhr beenden werden, daß wir sie übermorgen gegen 24 Uhr beenden werden und daß wir sie in der nächsten Woche jeweils gegen 24 Uhr beenden werden, weil das im Verständnis dieser Mehrheit eine ordnungsgemäße Beratung ist. ({0}) Meine Damen und Herren, mein Kollege Dreßler hat schon darauf aufmerksam gemacht, daß der Deutsche Reichstag für die Beratung der Reichsversicherungsordnung ein ganzes Jahr Zeit gehabt hat. Es mag in den Augen der unabhängigen Beschauerinnen und Beschauer dieser Debatte liegen, die Ordnungsgemäßheit der Beratungen, die uns von den Regierungsfraktionen zugemutet werden, zu beurteilen. ({1}) Meine Damen und Herren, Sie unterliegen einem Mißverständnis, Sie glauben, daß die Mehrheit vom 25. Januar 1987, die Ihnen das Recht gegeben hat, Ihre politischen Vorstellungen mit Mehrheit durchzusetzen, Ihnen gleichzeitig das Recht gegeben hat, die Rechte der Oppositionsparteien in diesem Parlament mit Füßen zu treten. Dieses Recht haben Sie am 25. Januar 1987 nicht bekommen! ({2}) Sie unterliegen einem zweiten Mißverständnis. Wie hat der Kollege Dr. Becker gesagt? Er hat gesagt: Die Bedingungen sind für alle gleich. - Dies ist doch eine Verhöhnung der Oppositionsparteien. Herr Kollege Dr. Becker, die Regierung hat sich die Zeit genommen, diesen Gesetzentwurf drei Jahre lang vorzubereiten, drei Jahre lang! Ich weiß nicht, mit wie vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dies steht in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs, wenn Sie ihn wenigstens einmal lesen würden vor der Verabschiedung. Das wäre doch schon eine Hilfe. ({3}) Sie haben sich hinter verschlossenen Türen, in Hinterzimmern über ein Jahr Zeit genommen, sich sachkundig zu machen, und nun haben die Oppositionsparteien seit dem 14. Oktober dieses Jahres - seit dem 14. Oktober dieses Jahres! - die Zeit, nach Ihrer Vorstellung bis zum 10. November - vom 14. Oktober bis 10. November, knapp vier Wochen - über die endgültigen Vorstellungen der Regierungsparteien zu befinden. Das wäre ja noch zu ertragen, wenn das Parlament die Chance hätte, sich bei der Beratungssituation klug zu machen. Gestern haben Sie ein weiteres Minderheitenrecht im Ausschuß mit Füßen getreten: Sie haben den Anhörungsbedarf der Oppositionsparteien mit Ihrer Mehrheit im Ausschuß niedergestimmt. Sie haben erklärt, der Anhörungsbedarf sei erschöpft, und haben gesagt: Das sagen wir stellvertretend für die SPD, für die Fraktion DIE GRÜNEN. Die müssen das eben hinnehmen, weil wir das mit Mehrheit so sehen. - Welches demokratische Verständnis steht denn hinter einem solchen Verhalten? Gleichzeitig bringen Sie die Oppositionsparteien in die Situation, 369 Seiten - Herr Kollege Dreßler, es sind nicht nur die 214 Anträge, es sind 369 Seiten Text - durchzuarbeiten und sich nicht einmal über Anhörungen außerhalb des Parlaments sachkundig zu machen, denn in der Zeit, in der man das machen könnte, sitzen wir hier im Ausschuß von 9.30 Uhr bis 24 Uhr, weil die Damen und Herren der Regierungsfraktionen es so wollen. Herr Minister Blüm, Sie sagen, es sei alles gesagt; man wisse schon alles. Ich erlebe bei diesem Paket mit seinen 369 Seiten jeden Tag eine neue Überraschung. Dazu ist noch längst nicht alles gesagt. Wissen Sie, ich bin seit 1. April des vorigen Jahres der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Meine verehrungswürdigen Vorgänger, Professor Schellenberg, Eugen Glombig, um nur einige zu nennen, haben es geschafft, auch in schwierigen Beratungslagen sicherzustellen - unter anderen Mehrheiten - , daß Oppositionsrechte gewahrt werden. Ich bin am 1. April in dieser Tradition angetreten, auch die Rechte einer Regierung oder der Regierungsfraktionen zu wahren, ihre politischen Absichten umsetzen zu können, und ich bemühe mich, dies nach Kräften auch gegenüber den Oppositionsparteien durchzusetzen. ({4}) - Ja, jetzt bekomme ich anerkennenden Beifall. Meine Bitte ist - und dies ist die andere Seite der Medaille - : Wenn ich diese Funktion wahrnehmen soll, dann brauche ich aber auch das Zugeständnis seitens der Regierungsfraktionen, mit den Rechten der Opposition nicht Schindluder zu treiben und im Schweinsgalopp eine Beratung durchzusetzen, die im Ergebnis unverantwortlich sein muß. ({5}) Meine Damen und Herren, wir bekommen jeden Tag Änderungsanträge auf den Tisch. Ich verstehe, daß die Ministerialbeamten, die ja hier helfen - es ist legitim, daß das passiert; ich habe das gar nicht zu schelten - , jeden Tag feststellen, daß sie bei irgendeinem Paragraphen eine Nummer oder ein Wort vergessen haben. Das ist Technik, sagt der Kollege Dr. Becker. Nur, was hat das mit einem seriösen Beratungsverfahren zu tun? Da schelte ich nicht die Beamten, da schelte ich nicht diejenigen, die gleichsam Tag und Nacht diese Arbeit leisten, sondern ich sage: Dies ist ein Grund mehr, sich die Zeit für eine ordnungsgemäße Beratung zu nehmen, und darum werben wir hier vor dem Bundestag. ({6}) Das ist die eine Seite dieser Debatte, und ich wollte in diesem Zusammenhang auf einige Sachverhalte hinweisen. Daß mein Urteil nicht alleinsteht, mag der Kommentar von Kannengießer in der „FAZ" belegen, und der ist kein eingeschriebenes Mitglied bei den Sozialdemokraten, ({7}) sondern einer der bedeutenden konservativen sozialpolitischen Journalisten in diesem Land. Er sagt „eine verpatzte Reform" und stellt fest, daß Opposition und Bundesrat gleichermaßen durch die Art und Weise dieses Verfahrens in ihren Rechten vergewaltigt werden. Ich kann aber auch Herrn Forster nehmen, der uns nähersteht - damit da gar nicht erst einer kommt und sagt: na ja, klar, ein parteiischer Kommentar - und der auf den gleichen Tatbestand hinweist. Meine Damen und Herren, Sie können mit Ihrer Mehrheit dieses Verfahren durchsetzen. Nur, der Schaden für das Ansehen des Parlaments, den Sie anrichten, bleibt stetig, und es schafft Verdrossenheit, wenn wir dann im nächsten Vierteljahr die Änderungsanträge zu den Änderungsanträgen als ein Korrekturgesetz im Ausschuß beraten müssen, weil die Schlampigkeit im Verfahren von der Zeit her, durch die Hektik, angelegt war, eine Schlampigkeit, die nicht absichtlich ist, sondern eine notwendige Folge, ein zwangsläufiges Ergebnis dessen, was Sie uns zumuten. ({8}) Lassen Sie mich nun noch auf zwei Dinge eingehen. Minister Blüm hat hier zu manchem etwas gesagt. Er hat u. a. gesagt, er sei nicht einer der Protestierer. Ja, das stimmt. Herr Minister Blüm ist nicht einer der Protestierer, er ist einer der Umfaller in dieser Republik! ({9}) Er ist nämlich in der Frage des Solidarbeitrags der Pharmaindustrie umgefallen. Dazu hatte er nicht in irgendeinem Presseinterview, sondern hier vor dem Deutschen Bundestag gesagt: Dieses Gesetz wird nicht ins Gesetzblatt kommen, wenn nicht dieses Solidaropfer da ist. Dazu gibt es keinen Änderungsantrag, aber die Versicherten werden mit einer Milliarde Mark zusätzlich für diesen Wortbruch des Ministers zur Kasse gebeten. Dies ist die Realität, Herr Minister Blüm! ({10}) Wissen Sie, in der letzten Minute, die mir bleibt, will ich Ihnen noch zwei Dinge zu bedenken geben. Es mag ja andere Gründe für die Hektik des Verfahrens geben, nicht die Notwendigkeit, gesetzliche Regelungen jetzt zu treffen - bei den Vorschriften ist dafür nicht ein einziger sachlicher Grund erkennbar -, aber das Schicksal des Ministers Blüm, des Ministers und Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen, das ist schon ein Motiv dafür, dieses Gesetz durchzupeitschen. Der zweite Grund ist: Vielleicht könnten die Betroffenen in einer längeren Beratungszeit mitbekommen, was da an zusätzlichen Belastungen auf sie zukommt. Herr Minister, es ist zynisch, wenn Sie hier die Schwerstpflegebedürftigen gegen die anderen kranken Menschen ins Feld führen wollen. ({11}) Wenn die chronisch Kranken, die Behinderten und die Rentnerinnen und Rentner diese Reform bezahlen müssen, dann ist das, was Sie da machen, ein asoziales Machwerk. ({12}) Wenn Sie mit den Geschicken behinderter Menschen und kranker Menschen auf diese Art und Weise umgehen, ist kein anderes Urteil möglich! ({13}) Deswegen bitten wir darum, daß über unseren Antrag hier in namentlicher Abstimmung befunden wird. Wir werden jeden Widerstand leisten, den diese Ihre Absichten verdienen, nicht weil Sie nicht die Mehrheit hätten, dies in der Sache durchzusetzen, sondern weil wir im Interesse der Würde des ganzen Parlaments für ein ordnungsgemäßes Verfahren eintreten müssen. Mein Appell ist: Auch Ihre Selbstachtung sollte es Ihnen nicht erlauben, zu dem ja zu sagen, was hier gegenwärtig passiert. Vielen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort zur Abstimmung hat nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Abgeordnete Dreßler. Meine Damen und Herren, ich appelliere noch einmal an Ihre Einsicht, die notwendige Ruhe im Hause herzustellen. Ich werde die Sitzung unterbrechen, wenn diese Ruhe nicht hergestellt wird. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt ein Antrag der Koalitionsfraktionen vor, den Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission Krankenversicherungsreform zu verlängern. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich an der Abstimmung über diesen Antrag nicht beteiligen. Erstens. Die CDU/CSU und die FDP waren von Anfang an gegen diese Enquete-Kommission. In der Einsetzungsdebatte am 4. Juni 1987 sagte der Kollege Seehofer von der CDU/CSU ausweislich des Protokolls: Die Einsetzung einer solchen Kommission entspricht keinem Beratungsbedürfnis der Koalition. Er sagte ferner: Ein solches Gremium brauchen wir zur Vorbereitung der Strukturreform nicht mehr. Zweitens. Der Kollege Thomae von der FDP-Fraktion erklärte: Eine Enquete-Kommission wäre ... nicht notwendig gewesen. Da Sie die Enquete-Kommission nicht wollten, beantragen Sie trotzdem jetzt ihre Verlängerung. Wir sagen und glauben, sind davon überzeugt, daß Sie mit diesem Verlängerungsantrag lediglich verhindern wollen, daß die Ergebnisse der Enquete-Kommission vor der von Ihnen erzwungenen dritten Lesung am 10. oder 11. November der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden können. ({0}) Ich stelle fest, meine Damen und Herren: Die Enquete-Kommission ist am 30. September fertig, sogar fristgerecht. Sie redigiert derzeit lediglich ihren Bericht. Die Kommission hat einmütig, also mit den Stimmen der Mitglieder der CDU/CSU und der FDP beschlossen, den Bericht am 8. November dem Präsidenten zu übergeben. Davon wollen die Damen und Herren jetzt weg. Sie wollen die Veröffentlichung verhindern. Deshalb wird sich die SPD-Fraktion an der Abstimmung nicht beteiligen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. Wie bekannt, hat die Fraktion der SPD gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne somit die namentliche Abstimmung. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß nach dieser namentlichen Abstimmung noch eine weitere Abstimmung stattfindet, an der, so wünschen es jedenfalls die Geschäftsführer, die Damen und Herren Abgeordneten teilnehmen sollten. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sind alle Stimmkarten abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung. Meine Damen und Herren, ich bitte wieder Platz zu nehmen. Wir können gleich mit den Beratungen fortfahren. ({0}) Ich bitte die Damen und Herren, wirklich Platz zu nehmen. Wir haben eine weitere Abstimmung. Das Ergebnis der Auszählung geben wir nachher bekannt. ) Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3181 ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Nichtbeteiligung der SPD und der GRÜNEN ist dieser Antrag angenommen. Meine Damen und Herren, können wir mit der Aktuellen Stunde fortfahren? ({1}) Ist das die Meinung? - Dann bitte ich diejenigen, die an der Aktuellen Stunde nicht teilzunehmen wünschen, nach Möglichkeit den Saal zu verlassen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde Hochtemperaturreaktor-Geschäft mit der Sowjetunion Die Fraktion der GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem s) Ergebnis Seite 7108 A Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels ({2}).

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler Kohl besucht die Sowjetunion. ({0}) Wir begrüßen das. ({1}) Industrievertreter besuchen die Sowjetunion. Auch das begrüßen wir. Wir hätten aber erwartet, daß Herr Kohl neue Abrüstungsvorschläge vorlegt, daß Herr Riesenhuber ein Abkommen über den Technologieaustausch zur Energieeinsparung unterzeichnet, ({2}) daß Klein- und Mittelbetriebe Kaufverträge über die Lieferung neuer Wind- und Sonnenkraftwerke abschließen. Statt dieser Verträge haben sie der Sowjetunion den gefährlichen Hochtemperaturreaktor verkauft. Entschuldigen Sie, meine Kollegen von der SPD, daß ich hier die Jusos zitiere. Aber sie haben recht, wenn sie erklären: In einem gemeinsamen europäischen Haus, das im Interesse der Menschen und der Natur in Ost und West sein soll, ist kein Platz für einen atomaren Pakt zwischen Moskau und Bonn. ({3}) Anstatt die Chancen für eine friedliche Zusammenarbeit zu nutzen, geht die Bundesregierung eine bedrohliche nukleare Risikogemeinschaft ein. Dieser Reaktor, der hier in der Bundesrepublik wegen des Widerstandes so vieler Menschen nicht mehr durchsetzbar ist, wird nun mit Sicherheitsstandards, die in der BRD nicht genehmigungsfähig sind, ({4}) in die Sowjetunion exportiert, mit dem Ziel, diesen Billigreaktor weltweit weiterzuvertreiben. Diesem Reaktor fehlt die zweite Sicherheitshülle. Es gibt keine Auslegung gegen den Bruch der großen Rohrleitung. Das vierfach redundant ausgelegte Notkühl- und Notstromsystem wird erst gar nicht eingebaut. Obwohl Sie wissen, daß der Graphitbrand in Tschernobyl die bisher folgenreichste Nuklearkatastrophe ausgelöst hat, ({5}) verkaufen Sie nun den HTR, der wiederum auf Graphitbasis arbeiten soll. ({6}) Somit ist eine Wasserstoffexplosion nicht auszuschließen. Ein Konzept für die Entsorgung dieses Reaktors ist weder in der Bundesrepublik noch in der Sowjetunion absehbar. In der kürzlich von der am HTR beteiligten Dr. Daniels ({7}) Atomfirma Elektro-Watt veröffentlichten Studie werden noch zusätzliche Gefährdungen und Mängel aufgezählt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, eine Sekunde. Ich glaube, die Übertragung funktioniert nicht richtig. Ist das zutreffend? ({0}) Sie funktioniert nicht. - Geht es jetzt? - Sie können weitermachen.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der kürzlich von der am HTR beteiligten Atomfirma Elektro-Watt veröffentlichten Studie werden noch zusätzliche Gefährdungen und Mängel aufgezählt. Noch schlimmer ist, daß die Atomindustrie in der Bundesrepublik, deren ökonomische Grundlage schon flötengegangen ist, über das Geschäft mit der Sowjetunion eine neue, für uns alle gefährliche Überlebenschance erhält. In diesem Zusammenhang ist es sicher kein Zufall, daß Siemens und ASEA Brown Boveri für eine neue Graphitkugelbrennelement-Fabrik, die sie in der BRD bauen wollen, von der Bundesregierung eine 150 Million DM fette Risikobürgschaft verlangen. Siemens und ABB wollen sich gegen das politisch unsichere HTR-Konzept schon im vorhinein versichern - auf Kosten der protestierenden Steuerzahler natürlich. Selbst die „FAZ", wie in einem Kommentar vom vergangenen Montag nachzulesen ist, hat längst begriffen, daß die friedliche Nutzung der Kernenergie von der militärischen Nutzung nicht zu trennen ist. Deswegen ist - ich zitiere - „die anhaltende und beliebte Rede von der friedlichen Nutzung der Kernenergie weniger von beschreibendem als vielmehr beschwörendem Charakter" . Mit dem Export dieses sogenannten Wunderwerks deutscher Wertarbeit ({0}) wird die Atomwaffenproduktion der Sowjetunion, besonders die Entwicklung neuerer noch gefährlicherer Atomwaffen nicht nur unterstützt, sondern erst ermöglicht. Erst im August hat das amerikanische Energieministerium beschlossen, einen Hochtemperaturreaktor zur Tritium-Produktion für amerikanische Atomwaffen in Auftrag zu geben. Daraus ergibt sich die Situation, daß die Bundesrepublik sowohl der Sowjetunion als auch möglicherweise den Vereinigten Staaten die Technologie zur Verfügung stellt, die den nuklearen Rüstungswettlauf zwischen den Großmächten vorantreibt, anstatt alles zu unternehmen, um die Abrüstung zu beschleunigen. ({1}) Hinter dem Vorhang von Technologietransfer erweist sich die Bundesrepublik als High-Tech-AtomwaffenLieferant dieser Welt. So haben wir uns die Unterstützung der Perestroika nicht vorgestellt. Die Hoffnung der Menschen in der Sowjetunion gerade nach Tschernobyl, das Land in eine ökologisch bestimmte Zukunft zu entwickeln, gefährdet die Bundesregierung mit ihren unmoralischen Geschäften. ({2}) Da wird uns wohl nichts weiter übrigbleiben, als mit den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land einen Boykott aller Siemens-Produkte zu organisieren. Dem Bündnis der schon fast geschlagenen Atomindustrie mit den technikabergläubigen Funktionären der KPdSU setzen wir die verstärkte Zusammenarbeit mit den ökologischen Bewegungen in der Sowjetunion entgegen. Die Sowjetunion braucht offensichtlich eine eigene grüne Partei. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.

Christian Lenzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Daniels, es hätte mich wirklich sehr gewundert, wenn Sie als Vertreter der Antragsteller zu dieser Aktuellen Stunde sich wirklich einmal sachlich mit der Materie auseinandergesetzt hätten. Sie haben hier in gewohnter Manier eine Fülle von Unterstellungen und Behauptungen in den Raum gestellt, und Sie wissen genau: Es ist sehr schwer, im Rahmen der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit in einer Aktuellen Stunde eine vertiefte Diskussion zu führen. Deswegen will ich nicht auf die von Ihnen hier vorgetragenen technischen Einzelheiten kommen ({0}) sondern ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion folgendes feststellen: Wir sind der Auffassung, daß dieser Besuch der deutschen Delegation unter Führung des Bundeskanzlers als großer Erfolg zu werten ist. ({1}) Es ist ein Abkommen geschlossen worden, das in seiner Bedeutung weit über die technisch-wissenschaftliche bzw. wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausreicht. Dies sollten eigentlich alle Fraktionen dieses Hauses begrüßen. Sie sollten die Dinge nicht zerreden und nicht kleinlich an den Ergebnissen herummäkeln. ({2}) Ich möchte hinzufügen, daß wir auch dem für diesen Geschäftsbereich zuständigen Minister, unserem Kollegen Dr. Riesenhuber, ausdrücklich dankbar sind. Er hat seinen unverwechselbaren Beitrag dazu geleistet, daß es zu diesem Ergebnis kommen konnte. ({3}) Er wird sich in der Debatte auch noch selbst hierzu äußern. Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu den Behauptungen des Kollegen Dr. Daniels ist die Idee dieses Reaktors nicht vom Himmel gefallen, ({4}) sondern ein Reaktor wie der Hochtemperaturreaktor galt schon bei früheren Regierungen als Schwerpunkt der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im BMFT-Bereich. Wir verfügen über die Erfahrungen des AVR mit seinen 15 MW Leistung in Jülich, wir verfügen bereits über Erfahrungen aus zwei Jahren Betrieb des THTR-300 in Hamm-Uentrop-Schmehausen. Von Anfang an sind alle politischen Kräfte damals - auch wir als die damalige Opposition - der Meinung gewesen, daß dieser Reaktor über ein Potential an inhärenter Sicherheit durch sein Reaktorkonzept verfügt, ({5}) aber auch durch die Möglichkeit der Erzeugung der nuklearen Prozeßwärme, was weit über die Bedeutung der reinen Stromerzeugung hinausgeht. ({6}) Bei diesen unbestrittenen Qualitäten sollte es uns alle sehr nachdenklich machen, daß es ausgerechnet mit der Sowjetunion eines Kooperationsübereinkommens bedarf, um einem Reaktorkonzept zum Durchbruch zu verhelfen, ({7}) vielleicht noch nicht, das im eigenen Land nur aus politischen Gründen nicht durchsetzbar war, nicht wegen etwaiger technischer oder sicherheitsbedingter Mängel. ({8}) Meine Damen und Herren, dieses Kooperationsabkommen ruht auf drei Säulen. Bereits im Jahre 1978 hat es unter der damaligen Regierung ein Abkommen über Kooperation im Bereich von Wirtschaft und Industrie gegeben. Dieses Abkommen - dafür muß man sich nur den Art. 1 betrachten - regelt sehr breit angelegt die Kooperation auch auf dem Gebiet der Nukleartechnik, denn es heißt hier z. B. neben vielen anderen Dingen, Fusion, Grundlagenforschung, daß bei Fragen der Ausarbeitung von kerntechnischen Konzeptionen, der Errichtung und des Betriebes von wasser-, gas- und flüssigmetallgekühlten Reaktoren, einschließlich entsprechender Kernkraftwerke, ausgegangen wird. Nunmehr kommt als zweite Vereinbarung die gemeinsame Erklärung hinzu, die diese Hochtemperaturreaktorlinie durch Erhöhung der Kühlmitteltemperatur zur Erzeugung nuklearer Prozeßwärme auf der Basis von 950 Grad weiter verfolgt, bis schließlich die Vereinbarung dann durch das Industrieabkommen zwischen dem deutschen HTR-Konsortium und den zuständigen Stellen in der UdSSR komplettiert wird. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß es außerhalb jeden Zweifels steht, daß durch diese Vereinbarungen in einem wichtigen Bereich der fortgeschrittenen Technologie ein entscheidender Schritt in die Zukunft gesetzt werden konnte, und im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich nur nochmal die Erfolge der Bundesregierung herausstellen und all denjenigen Dank sagen, die in besonderer Weise, wie beispielsweise Herr Minister Riesenhuber, hierzu beigetragen haben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer ({0}).

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten sind für einen Ausstieg aus der Kernenergie, und zwar aus allen Reaktorlinien. Dies bedeutet auch, daß wir uns gegen den Export von kerntechnischen Anlagen wenden. Dies steht im übrigen auch in dem Kernenergieabwicklungsgesetz, das in den Ausschüssen zur Beratung vorliegt. Die Unterzeichnung des Generalvertrags über die industrielle Zusammenarbeit zur Planung und zum Bau eines Hochtemperaturreaktors kleiner Leistung in der Sowjetunion ist offensichtlich der letzte Strohhalm, an den sich die deutsche Kernenergiewirtschaft klammert, um das atomare Exportgeschäft, das weltweit zusammengebrochen ist, wieder in Gang zu bringen. Dies ist der einzige und eigentliche Beweggrund dieses Geschäftes, meine Damen und Herren. ({0}) Ob dieser Strohhalm geeignet ist, der deutschen Kernenergieexportwirtschaft neue Lebenskraft einzuhauchen, ist aber mehr als fraglich, denn, Herr Kollege Gerstein, wenn wir durch den PR-Nebel im Zusammenhang mit dem HTR-Projekt, den die Unternehmen und die Bundesregierung in Moskau verursacht haben, hindurchschauen, dann stellen wir nüchtern fest, daß das Ei des Kolumbus, das man angeblich gefunden zu haben glaubt, nicht mehr ist als der berühmte Spatz in der Hand. Die Wahrheit ist: Auch der Hochtemperaturreaktor, auch diese Linie ist eine Sackgassentechnologie. ({1}) Schauen wir uns diesen Spatz genauer an. In der Sowjetunion soll ein Hochtemperaturreaktor von 80 MW gebaut werden, vom Typ her vergleichbar mit dem HTR in Hamm-Uentrop. Zur Wärmeauskoppelung ist dieser Reaktor nicht geeignet. Er kann weder chemische Prozeßwärme mit hohen Temperaturen um 1 000 °C liefern noch ist er in der Lage, zur Kohlevergasung benutzt zu werden; denn die Betriebstemperaturen dieses Reaktors liegen, wie Sie wissen, bei maximal 750 °C. Die 80 MW Stromleistung sollen im übrigen die stolze Summe von über 1 Milliarde DM kosten. Es stellen sich folgende Fragen: Erstens. Wie sieht es mit der technologischen Reife des Hochtemperaturreaktors aus? ({2}) Schäfer ({3}) Die hochgelobten Eigenschaften, die diesem Reaktor angedichtet werden, kann er nicht erfüllen. Immer noch steht nur auf dem Papier, daß der Hochtemperaturreaktor Prozeßwärme von 1 000 °C liefern kann oder zur Kohlevergasung geeignet ist. ({4}) Seit 20 Jahren wird dieses Märchen landauf, landab erzählt. Nirgendwo auf der Welt wurde bisher praktisch demonstriert, was immer wieder behauptet wird. Das ist die Wahrheit. ({5}) Bei dem jetzigen Projekt in der Sowjetunion ergibt sich vielmehr, daß die sogenannte technologische Aufrüstung neuen Subventionsbedarf auch aus dem Haushalt des Bundesforschungsministeriums erfordert. Damit wird diese Bundesregierung einem technologisch nicht ausgereiften Projekt der Kernenergie schon wieder Steuergelder hinterherwerfen. Statt Energieeinspartechnologien und erneuerbare Energien zu fördern und Markteinführungshilfen dafür zur Verfügung zu stellen, vergeuden Sie Steuergelder für eine veraltete Sackgassentechnologie. ({6}) Wie sieht es mit der Sicherheit des HTR aus? Die so vielgepriesene inhärente Sicherheit ist eine Sprachschöpfung deutscher Techniker. Auch der HTR hat wie jedes andere technische System Sicherheitsprobleme. Die Auswirkungen eines Unfalls sind durchaus denen eines GAUS in einem Leichtwasserreaktor vergleichbar. Ich frage beispielsweise - darauf hätte ich gerne eine Antwort von Ihnen, Herr Riesenhuber - : Können wir beim Ausfall der Kühlsysteme beim HTR wirklich mit letzter Sicherheit ausschließen, daß der Reaktor nicht durchgehen kann? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Diese absolute Garantie kann niemand geben. Es gibt nicht einmal umfassende Reaktorsicherheitsstudien zum HTR, wie sie immerhin für den Leichtwasserreaktortyp Biblis B vorliegen. Nächste Frage: Wie sieht es mit der Entsorgung des HTR aus? Wir müssen feststellen - und Sie wissen es - : Für den HTR gibt es weltweit kein Entsorgungskonzept. Wir sagen: Es ist nicht zu verantworten, noch einmal eine Reaktorlinie in die Welt zu setzen, ohne daß wir wissen, was wir mit dem radioaktiven Abfall machen sollen. Wer diesen Weg geht, handelt unverantwortlich und hat aus der prekären Entsorgungssituation der anderen Reaktorlinien buchstäblich nichts gelernt. Die letzte Frage.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Verzeihung, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon überschritten. Es tut mir leid.

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Timm.

Jürgen Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002329, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Folge der Ereignisse des Reaktorunfalls in Tschernobyl am 26. April 1986 - und nicht zuletzt gerade deswegen - wurde deutlich, wie notwendig es ist, daß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion eine wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Reaktortechnik erforderlich, ja, geradezu unumgänglich ist. ({0}) Wenn man das richtig bewertet, dann muß man doch auch das Interesse der Sowjetunion dabei berücksichtigen, die natürlich aus den Gefahrenpotentialen, die sie in ihrem Land hat, gelernt hat und darauf angewiesen ist, auch mit anderen zusammenarbeiten zu können, z. B. mit der Bundesrepublik Deutschland; denn keiner von Ihnen wird uns erklären bzw. beweisen können, daß die Sowjetunion in absehbarer Zeit auf Kernenergie vielleicht wird verzichten können. Sie wird es nicht, sie wird - im Gegenteil - in der Zukunft einen viel größeren Energiebedarf haben als bereits jetzt. Es muß also in unserem ureigensten Interesse liegen, daß wir hier die Möglichkeit zu einer bilateralen Zusammenarbeit, zu einer internationalen Zusammenarbeit, z. B. auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit, erreichen. ({1}) Tschernobyl hat nämlich auch gezeigt, daß es gravierende Unterschiede in der Sicherheitsauffassung gegeben hat und noch gibt und daß diese Unterschiede auch bestimmte Techniken erheblich beeinflußt haben. Daran, Herr Kollege Schäfer, können Sie den Hochtemperaturreaktor durchaus messen. Es war dann nämlich folgerichtig, daß sich die Regierung der UdSSR darum bemüht hat, mit der Bundesrepublik eine Zusammenarbeit gerade auf diesem Gebiet zu erreichen. Denn die UdSSR weiß sehr wohl, wo die Probleme in einem Reaktortyp wie dem von Tschernobyl liegen. Der Hochtemperaturreaktor ist ein Weg in eine gefahrlosere oder gefahrlose Kernenergie, ({2}) den wir herausgefunden haben. Sie haben mit Ihren bisherigen Reden den gegenteiligen Beweis dafür überhaupt nicht erbracht. ({3}) Wir müssen hier aus eigenem Sicherheitsbedürfnis heraus den Weg nach vorne antreten, um in dieser Technik voranzukommen. In dem Abkommen mit der UdSSR steht ja auch wesentlich mehr drin als nun gerade nur dies. Hier geht es um einen Teil des Abkommens, das die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, und nicht um das ganze Abkommen. Daß in dieser Technik etwas weiterentwickelt werden muß und soll, kann, glaube ich, in Anbetracht der Situation, der Diskussion im eigenen Land durchaus in Anrechnung gebracht werden. ({4}) Noch ein Gedanke zur friedlichen Nutzung oder zum Zweifel an der friedlichen Nutzung, der hier geäußert worden ist: Nehmen Sie doch auch einmal das ernst, was Sie an anderer Stelle immer behaupten: daß sich in der UdSSR ein Wandel hin zur Abrüstung, zu einem friedlichen Zusammenleben mit den anderen Ländern in der Welt vollzieht. ({5}) Wenn Sie das ernst nehmen, was Sie zu diesem Thema immer wieder sagen, können Sie eine Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit der UdSSR in Sachen Reaktortechnik, insbesondere Sicherheitstechnik, überhaupt nicht ablehnen. Ich meine, wir können diesem Abkommen durchaus zustimmen. Wir haben hier eine Chance, unserem eigenen Sicherheitsbedürfnis gerecht zu werden. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie, Herr Dr. Riesenhuber. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Besuch des Bundeskanzlers in der Sowjetunion hat eine Reihe von neuen Möglichkeiten eröffnet. Die Zusammenarbeit in Wissenschaft, aber auch beim Umweltschutz ist auf neue Grundlagen gestellt worden. Die Zusammenarbeit in sehr grundsätzlichen politischen Fragen, die Zusammenarbeit in der Wirtschaft ist weitergeführt worden. Die Möglichkeit, auf einer neuen Basis aus einem tieferen gegenseitigen Verständnis gemeinsam an der Zukunft zu bauen, ist gewachsen. In diesem Zusammenhang steht auch das Abkommen zum Hochtemperaturreaktor. Es handelt sich hier um zwei Abkommen: um ein Abkommen der Industrie, das in der Verantwortung der Wirtschaft steht. Es wird in seinen Einzelheiten weiter ausgehandelt, und es wird von der Industrie in ihrer Verantwortung durchgeführt werden. ({0}) Und es handelt sich weiter um ein flankierendes Abkommen zur Forschung an diesem Reaktor, bei dem die Bundesregierung als Partner bereit ist, zu helfen: zusammen mit sowjetischen Partnern, zusammen mit den Partnern aus der Industrie. Dabei sind wir der Überzeugung, daß der Hochtemperaturreaktor in einer besonderen Weise ein richtiges, hilfreiches und nützliches Projekt darstellt. ({1}) Wir haben hier eine einzigartige deutsche Entwicklung, eine Entwicklung, die das Ziel hatte, einen Reaktor mit hohen Sicherheitseigenschaften im System selbst aufzubauen, eine Entwicklung, die das Ziel hatte und hat, einen Reaktor aufzubauen, der auch hohe Temperaturen erschließt. Dieser Reaktor wird hier seit 20 Jahren weiterentwickelt und in Form des AVR in Jülich betrieben. Er hat diese Erwartungen erfüllt. Er ist von der Landesregierung in NordrheinWestfalen über die gesamte Zeit unterstützt worden, ({2}) auch mit finanziellen Zusagen. ({3}) Er ist von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, ebenso wie von der Bundesregierung, unterstützt worden, was ich für eine richtige und gute Entscheidung halte. Der THTR 300 in Schmehausen läuft jetzt seit fast zwei Jahren. Er erfüllt die Erwartungen, die wir in ihn gesetzt haben. Nach dem Gutachten, das Herr Jochimsen in Auftrag gegeben hat und das vorgelegt worden ist, wird dem Hochtemperaturreaktor in Hamm-Schmehausen besonders gutmütiges sicherheitstechnisches Verhalten zugeschrieben. Dies alles bedeutet natürlich niemals, Herr Schäfer, daß es absolute Sicherheit gibt. Die gibt es bei keiner Technik und bei keinem menschlichen Verhalten. Das aber heißt, daß das eine Antwort auf unsere ständige Aufgabe ist, Sicherheit bei jeder Technik, die wir haben, weiterzuentwickeln und die sicherstmöglichen Techniken weiter auszubauen. Wir haben in Moskau zwei Abkommen unterzeichnet. Das begleitende Abkommen zur Forschung wird in den nächsten Jahren Schritt um Schritt gemeinsam mit der Verwirklichung des Industrieabkommens in die Tat umgesetzt. Hierbei ist es Ziel, hohe Temperaturen zu erschließen. In der Tat trifft es zu, daß wir bis jetzt nur bei einer Temperatur von etwa 700 Grad arbeiten. Dies erlaubt bestimmte chemische Prozesse. Es erlaubt noch nicht die Kohleveredelung. Was wir aber hier mit einem Arbeitsprogramm vereinbart haben, bedeutet, daß mit diesem Reaktor, den die Industrie verantwortet, aufbaut und finanziert, Versuche zu hohen Temperaturen - bis etwa 950 Grad - aufgebaut und durchgeführt werden sollen und daß wir damit den Schritt zur Kohleveredelung schaffen, und zwar nicht nur in dem Bereich der Chemie, den wir jetzt schon haben. Das Konzept dahinter ist, daß auch in entlegenen Städten und Industriekomplexen Technik zur Verfügung steht, die Wärme und Strom liefern kann, die Prozeßwärme für hohe Temperaturen, ja, die auch die Kohleveredelung ermöglichen kann. ({4}) Dadurch haben wir hier die Möglichkeit, Kohle, die sonst, da entlegen, nicht transportiert werden kann, in Form von Gas durch Rohre zu transportieren und so begrenzte Energieressourcen sinnvoll zu erschließen. Das Interesse der Sowjetunion hieran ist groß, ebenso aber auch an dem hohen Sicherheitspotential. Ich bin sehr froh darüber, daß zumindest seit Tschernobyl Sicherheitstechnik für die Sowjetunion eine außerordentliche und wachsende Rolle spielt. Die Bundesregierung hat alles Interesse daran, diese Bemühungen der Sowjetunion zur höchstmöglichen Sicherheitstechnik zu unterstützen. Wenn die Frage der Reaktorsicherheit in der Durchführung unseres Nuklearabkommens eine ganz besonders herausragende Rolle spielt, ({5}) wenn wir bei den Seminaren und Tagungen, die wir durchgeführt haben, wenn ich bei meinen Gesprächen mit der Regierung der Sowjetunion in diesen Tagen immer wieder Reaktorsicherheitstechnik in den Mittelpukt der Verhandlungen gestellt habe, liegt das daran, daß wir hier eine vorrangige Aufgabe im eigenen Interesse und in der gemeinsamen Verantwortung haben, und zwar in einer Situation, in der es offenkundig ist, daß die Sowjetunion in den kommenden Jahren ihre Nuklearkapazität vervielfachen wird, wobei dies von außen niemand gestalten kann. Gestalten können wir allerdings die höchstmögliche Sicherheitstechnik. Wenn wir da nicht einbringen, was wir können, werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht. Wir haben insofern ein Interesse an diesem Vertrag. Ich halte es für gut, weil eine hervorragende deutsche Technik eine Anwendung findet. Ich halte es für gut, Arbeitsplätze durch neue Technik in Hochtechnologiebereichen zu schaffen. Ich halte es für gut, Sicherheitstechnik und sichere Techik in jeder Form gemeinsam mit der Sowjetunion aufzubauen und weiterzuentwickeln. Ich halte es für richtig, daß wir in der Wissenschaft - dies schreibt unser Vertrag - und in der friedlichen Nutzung der Kernenergie eine Zusammenarbeit suchen. Die Bundesregierung hat seit 1955 entschieden erklärt, daß Kerntechnik für uns nur friedliche Nutzung von Kerntechnik ist und sein kann. ({6}) In dem Abkommen, das wir in der Sowjetunion im Sommer letzten Jahres abgeschlossen haben - Christian Lenzer sprach davon - , ist in Art. 5 Abs. 1 eindeutig festgehalten, daß dies auch für unsere Zusammenarbeit und die Verwendung der Technik gilt, die dort entwickelt und gemeinsam weitergeführt wird. Was wir hier brauchen, ist eine Zusammenarbeit, die in einer Welt begrenzter Ressourcen Techniken nutzt. Es handelt sich um begrenzte Ressourcen der Energie; dies gilt auch angesichts einer verletzlichen Umwelt. Dabei handelt es sich um eine emissionsfreie Technik, eine Technik, die nicht vollkommen ist. Zu tun, was wir tun können, um Technik sicherer zu machen, umweltfreundlicher zu machen, die Belastungen des Klimas niedrig zu halten, Ressourcen zu ersetzen und trotzdem die Menschen mit Energie zu versorgen - eine solche Technik weiterzuentwikkeln, ist unser Verständnis von der Zusammenarbeit zwischen den Völkern, auch und gerade mit der Sowjetunion. ({7}) Daraus entsteht die Möglichkeit, gemeinsame Ziele zu setzen. Ich bin der festen Überzeugung, daß, um Frieden zu entwickeln, die Konflikte überwunden und beseitigt werden müssen. Aber gleichzeitig müssen wir erreichen, daß wir auf gemeinsame Ziele hinarbeiten, wo wir uns als Partner brauchen. ({8}) In dem Maße, wie wir das tun, werden wir wegen der gemeinsamen Ziele und unseres Interesses daran zu einer Zusammenarbeit und damit zu Verständnis und Frieden kommen. - Das ist kein Schwadronieren, sondern das sind die Grundsätze, von denen aus wir Arbeit entwickeln müssen, wenn wir nicht technokratisch im Vordergrund steckenbleiben, sondern aus Verständnis und Menschlichkeit heraus eine gemeinsame Zukunft schaffen wollen. ({9}) Dies ist die Strategie, die wir angelegt haben. Ich bin der Überzeugung und vertraue darauf, daß in diesem Geist eine neue Runde der Zusammenarbeit entstehen kann, die das, was wir an Technik können, für eine friedliche Entwicklung der Völker nutzt, für einen verantwortlichen Umgang mit begrenzten Ressourcen, für die Zukunft einer wachsenden Menschheit. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Jung.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Herr Riesenhuber die Hochtemperaturtechnologien als einen wesentlichen Baustein für die Förderung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen besonders hervorgehoben hat, dann sagen wir dazu: Mit dem HTR hat sich die Bundesregierung ein ungeeignetes Projekt ausgesucht, um diese Wirtschaftsbeziehungen zu fördern; ({0}) denn die zivile Nutzung der Kernenergie hat keine Zukunft mehr, nicht in unserem Land und möglicherweise auf Dauer gesehen auch nicht mehr in der Sowjetunion. ({1}) Wenn hier insbesondere die Sicherheitstechnologie so in den Vordergrund gestellt wird, dann entlarvt das nach meiner Auffassung doch nur die Äußerungen aus der Vergangenheit, als immer davon gesprochen wurde, daß die Leichtwasserreaktoren nahezu hundertprozentig sicher sind. Wenn dies eine wesentlich sicherere Technologie ist, dann sind die anderen Jung ({2}) Reaktoren im Grunde sehr viel unsicherer. Ich halte diesen Vergleich für ganz verräterisch. Wir Sozialdemokraten halten die Kernenergienutzung - das ist schon gesagt worden - aus grundsätzlichen Erwägungen für nicht verantwortbar, weil ihre Risiken weder vollständig auszuschließen noch zeitlich und räumlich zu begrenzen sind. Darum wenden wir uns auch gegen jegliche Art von Nuklearexporten, sei es in der Form von ganzen Kernkraftwerken, in der Form von Kraftwerksteilen oder auch nur in der Form von Blaupausen. Nach unserer Auffassung sollen davon allerdings Sicherheitstechnologien ausgenommen sein sowie Technologien, die das weltweit ungelöste Entsorgungsproblem zu lösen helfen. Aber um neue Sicherheitstechnologien handelt es sich beim HTR eben gerade nicht. Es ist eine neue Reaktorlinie, die bei uns im übrigen keine Chancen mehr hat. Wenn man den Aussagen aus der Energiewirtschaft glauben will, dann wird es in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2000 keinen neuen Auftrag mehr für ein Kernkraftwerk geben. Dann macht es keinen Sinn, bei einer Kernkraftwerkskapazität von insgesamt 100 000 Megawatt und einer maximalen Stromnachfrage von nur 60 000 Megawatt in den Spitzenzeiten weitere Überkapazitäten anzuhäufen. Da heute in der Bundesrepublik niemand mehr einen Auftrag für einen HTR erteilen will, ({3}) da niemand in Sicht ist, der einen Leichtwasserreaktor braucht, muß ein Auslandsauftrag her, um den Niedergang der deutschen Atomwirtschaft zu verschleiern. ({4}) Der häufig beschworene Fadenriß der Kerntechnologie ist da; nicht wegen des Investitionsstaus durch angeblich unberechtigte Bürgerbedenken, sondern aus schieren ökonomischen Gesetzmäßigkeiten heraus: Wenn keine Nachfrage da ist, dann gibt es auch keine Beschäftigung in der Atomwirtschaft. Darum wollen die deutschen Kraftwerksbauer mit Unterstützung staatlicher Forschungsmittel diese Reaktorlinie in der Sowjetunion weiterentwickeln, in der Hoffnung, wir würden in unserem Land eine Renaissance der Kernenergie erleben. Die zunehmende Diskussion über das Klimaproblem gibt dazu offenbar Anlaß. Aber auch dieses Problem verlangt andere Antworten. Das geht nur mit einer konsequenten Energieeinsparung bei uns wie in der Sowjetunion. ({5}) Die Lieferung des Hochtemperaturreaktors fügt sich in die Linie der Sowjetunion ein, das Energieangebot noch auszuweiten. Dies spiegelt sich z. B. in den hohen Zuwachsraten beim Stromverbrauch wider. Wegen ihrer veralteten Energietechniken hat die UdSSR nach den USA die höchsten CO2-Emissionen, die zum Treibhauseffekt nicht unwesentlich beitragen. ({6}) Durch den forcierten Ausbau der Energie glaubt man in der Sowjetunion, daß auf die Nachrüstung und Umstrukturierung des konventionellen Kraftwerkparks verzichtet werden kann. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund täten die Bundesregierung und die deutsche Industrie besser daran, der Sowjetunion andere Energietechniken anzubieten, die sie sehr viel nötiger brauchen als ausgerechnet den Hochtemperaturreaktor. Ich denke dabei an Energiespartechnologien, an Umweltschutztechnologien, an Gasturbinen und an fortgeschrittene Kohletechniken. ({7}) Es ist an der Zeit, daß auch die Sowjetunion ihre Energieeffizienz verbessert. Dabei könnten wir mit unseren modernen Produkten durchaus helfen. Unsere Entschwefelungs- und Entstickungsanlagen sind weltweit Spitze. Warum liefern wir nicht diese Technologien und finanzieren sie mit Hermesbürgschaften? Warum exportiert die KWU ihre Gasturbinen nicht in die Sowjetunion, die der Welt größter Erdgaslieferant ist? Warum werden keine Joint-ventures zur Lieferung modernster Kohletechniken im Kombiprozeß mit Kohlevergasung geschlossen? ({8}) Meine Damen und Herren, damit könnte wirklich ein neues Kapitel in den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen und darüber hinaus in der internationalen Umweltpolitik eingeleitet werden. Damit könnten wir wirklich an einem gemeinsamen europäischen Haus weiterbauen, damit - wie in den letzten Tagen vielfach gesagt wurde - dieses Haus auch noch für unsere Nachkommen bewohnbar ist. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Gerstein.

Ludwig Gerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Trotz der Kritik meines Vorredners finde ich, daß es gute Nachrichten sind, die wir in diesen Tagen aus Moskau erhalten haben; woran ich meine Freude hab'. Woran, ich glaube, auch die Mehrheit dieses Hauses ihre Freude haben sollte. ({0}) Wir sind erfreut darüber, daß der Besuch des Bundeskanzlers in Moskau den Frieden sicherer gemacht hat und verbesserte Voraussetzungen für eine weitgehende Zusammenarbeit auf vielen Gebieten der Technologie mit der Sowjetunion geschaffen hat. Ich finde in der Tat die Nachricht von den abgeschlossenen Vereinbarungen sehr gut, welche die Planung und den Bau des Hochtemperaturreaktors in der UdSSR durch deutsche Unternehmen vorsehen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich meine, daß alle Aussteiger - wir haben das ja gerade hier gehört - nun einmal zur Kenntnis nehmen müssen, daß für die Sowjetunion der Ausstieg aus der Kernenergie ausgeschlossen ist. Im Gegenteil, was passiert denn dort? ({1}) Gerade auch vor dem Hintergrund der Gorbatschowschen Pläne bleibt der verstärkte Kernkraftausbau für die Sowjetunion eine erstrangige Aufgabe. Ich nenne nur zwei Zahlen: Die vorhandene Kernenergiekapazität beträgt in der Sowjetunion 40 000 MW. Sie soll in den kommenden Jahren auf das Doppelte, nämlich auf 80 000 MW, gesteigert werden. ({2}) Zum Vergleich: Wir haben in der Bundesrepublik heute eine Kernkraftkapazität von etwa 24 000 MW. Nun kommt eines hinzu. Dieser Ausbau wird sich vornehmlich in den europäischen Landesteilen der Sowjetunion vollziehen. Hier, meine ich, wird es für die Zusammenarbeit in allen sicherheitstechnischen Fragen, die ja auch vereinbart worden sind, auch Dank der Mithilfe des Bundesforschungsministers, von ganz erheblichem Vorteil sein - das hat er auch verdient -, wenn diese Verträge zur Lieferung von Hochtemperaturreaktoren führen. Lassen Sie mich darauf hinweisen: Schon 1987 hat hierzu der geschätzte Kollege Stahl zusammen mit Herrn Niggemeier gefordert, die interessante Chance, daß die international anerkannte Sicherheitstechnologie deutscher Kernkraftwerke möglicherweise einen bedeutenden Beitrag zur Verminderung von Risiken kerntechnischer Anlagen im Ausland sein könnte, was gleichzeitig einer Risikoverminderung im eigenen Land gleichkäme, sollte mitbedacht und nicht geringgeschätzt werden. In diesem Zusammenhang war auch die Hochtemperaturreaktor-Technologie angesprochen. Ich teile diese positive Einschätzung des deutschen Nuklearexports von den zitierten Kollegen. Ich meine, wir sollten ruhig einmal feststellen, daß letztendlich jeder deutsche Reaktor, der in der Sowjetunion gebaut werden kann, auch ein Mehr an Sicherheit für uns und für die friedliche Nutzung der Kernenergie insgesamt bedeutet. Wir sehen ferner die Chance, daß in absehbarer Zeit mit den hohen Temperaturen - Herr Riesenhuber hat darauf hingewiesen - , die diese Reaktorlinie ermöglicht, auch neue Wege im Bereich der Kohlevergasung beschritten werden können, sicherlich zuerst in der Sowjetunion, aber zu einem späteren Zeitpunkt auch bei uns. Nach Einschätzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt das Abkommen - so wie es ist - sowohl einen Meilenstein in der Geschichte der Kernkraftindustrie als auch eine große Chance für die wirtschaftliche und technologische Zukunft der Bundesrepublik dar. Es ist in höchstem Maße bedauerlich, ({3}) wenn ausgerechnet aus Nordrhein-Westfalen, aber - wie wir gerade hier von Herrn Schäfer gehört haben - und auch aus diesem Hause sich die SPD dieser Erkenntnis verschließt und nach wie vor mit allen Mitteln versucht, jetzt auch den Hochtemperaturreaktor in Schmehausen stillzulegen. Wir müssen die Möglichkeiten und Chancen, die sich für einen Export dieser Reaktorlinie ergeben, auch im Interesse der Arbeitsplätze und der Beschäftigung der deutschen Wirtschaft offensiv nutzen. Schönen Dank. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stahl.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die von Willy Brandt und Helmut Schmidt mit Hans-Dietrich Genscher als Außenminister konzipierte Außenpolitik ist nach dem Abebben der Dummheit des Kanzlers bezüglich seiner Einschätzung zu Herrn Gorbatschow auf eine neue, positive Weise zu betrachten. Diese Entwicklung begrüßen wir Sozialdemokraten. Sie öffnet die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten auf vielen Feldern offener, intensiver und vertrauensvoller zu gestalten. Dies kann den Menschen hüben und drüben helfen. Nun haben solche internationalen Entwicklungen auch Punkte, die den einen erfreuen, den anderen nicht. Dies gilt für den Abschluß der Erklärung, in Moskau zum Bau eines ersten Modulreaktors auf der Basis des bei uns gebauten Hochtemperaturreaktors zur Prozeßwärmeerzeugung. Wir Sozialdemokraten, aber vor allem die GRÜNEN haben heute damit Probleme. Uns alle hat die Katastrophe von Tschernobyl ernüchtert und grundlegende Einschätzungen verschoben. Besonders bei den GRÜNEN gibt es heute gerade in dieser Aktuellen Stunde wieder das Bedürfnis, die Staaten oder auch die Parteien, die weiter auf Kernkraft setzen, vollends in die Ecke zu stellen. Nach ihrer Ansicht müßte es punktum heißen: Stopp! Aus! So nicht! Nun ist die reale Welt in Ost und West komplexer, als es das Denken der GRÜNEN zuläßt. Diese neue technologische Kooperation - ob man sie nun mag oder nicht - basiert auf einem Staatsvertrag. Sie ist darin nur ein neues Segment. Deutsche Wissenschaftler und Forscher haben in langer Arbeit die Grundlage hierfür geschaffen. Der Forschungsreaktor, über anderthalb Jahrzehnte in Betrieb, hat sich bewährt. Der große Bruder in Schmehausen kann nur Strom erzeugen. Die damalige Planung bei Forschung und Entwicklung, sah vor, hier einen Folgetyp zu bauen, der Prozeßwärme für die Industrie und dann zur Kohlevergasung bereitstellen sollte. Die Kooperation mit der UdSSR zielt in diese Richtung. Damit wäre das ursprüngliche Ziel der Forschung, auch Steinkohle zu vergasen, greifbarer. Eine erfolgreiche Kooperation birgt also gewisse Chancen. Auf dem Weg hierher hat sich die Industrie keineswegs mit Ruhm bekleckert, wenn wir an die Gesamtfinanzierung denken. Meine Damen und Herren, es sind auch positive Rückwirkungen auf die internationale Sicherheit der Stahl ({0}) Kernenergienutzung möglich - ich sage ausdrücklich: möglich. Das in den letzten Tagen vieldiskutierte, von Nordrhein-Westfalen vorgestellte Gutachten von „Elektrowatt" bescheinigt diesem Reaktortyp THTR eine hohe Sicherheit. Im Zuge des technisch-wissenschaftlichen Abkommens sind neben dem privatrechtlichen HTR-Vertrag schon früher weitere Verträge mit der UdSSR, auch bezogen auf die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit, unterzeichnet worden. Hier ist in der UdSSR nach Tschernobyl viel nachzuholen. Das ist ein Thema, meine Damen und Herren, an dem wir alle, glaube ich, unabhängig davon, wie wir zur Kernenergie stehen, großes Interesse haben. Wir Sozialdemokraten haben beschlossen, die Kernenergie nur noch für eine Übergangszeit nutzen zu wollen. Für diese Übergangszeit haben wir mit großer Mehrheit zugleich gefordert - jetzt hören Sie einmal zu, Herr Lenzer - : Die internationale Kooperation auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit muß entscheidend verbessert werden. Meine Damen und Herren, Sie alle können das in unserem Offenburger Regierungsprogramm wortwörtlich nachlesen. Nun neigen viele bei Ereignissen wie dem jetzt in Moskau zu Euphorie. Dies haben wir ja von den Regierungsparteien gehört. Der unterzeichnete Vertrag ist von vorläufigem Charakter. Die Fragen im Zusammenhang mit der COCOM-Liste wiegen sehr schwer. Finanzfragen sind noch lange nicht geklärt. Zusammenfassend: Bei unterschiedlichen Positionen zur Nutzung der Kernenergie sollten wir nicht außer acht lassen: Wir wissen nicht am besten, was der UdSSR oder vielleicht der ganzen Welt an Technik fehlt. ({1}) Mir scheint: Bedachtsamkeit ist geboten. Wir sollten nicht schon heute, wie es die GRÜNEN fordern, die Klappe fallen lassen, ohne die künftigen Chancen für Wirtschaft, Wissenschaft, Sicherheit und Politik auszuloten. Lassen Sie mich mit einem kurzen Satz von Helmut Schmidt abschließen: Wer angesichts der Ungewißheiten mit dem Anspruch auftritt, er habe eine für die Energieprobleme Deutschlands und der Welt befriedigende Lösung, der irrt sich im Prinzip. Im schlimmsten Fall ist er ein Scharlatan. Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ich meine, über diese Aussage sollten Sie in Ruhe nachdenken. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dieser Aktuellen Stunde haben die GRÜNEN zweifellos ein Eigentor geschossen. Inzwischen lächelt man nicht mehr bloß bei uns, sondern auch in der ihnen wohl ideologisch näherstehenden Sowjetunion nur noch über die Aussteigermentalität, ({0}) mit der sie sich als seriöser Gesprächspartner auch für die Sowjetunion verabschiedet haben. Meine Damen und Herren, mit diesem Vertrag wird kerntechnische Sicherheit von der Bundesrepublik Deutschland in die Sowjetunion exportiert. Ich wiederhole: Wir exportieren Sicherheit. Das ist in einer Zeit, in der wir Tschernobyl erlebt haben, wichtiger denn je zuvor. Hätte die Sowjetunion vor drei Jahren den Sicherheitsstandard gehabt, den wir in der Bundesrepublik Deutschland ganz selbstverständlich haben, dann hätte es kein Tschernobyl gegeben, und dann wären wir von dieser schrecklichen Katastrophe verschont geblieben. ({1}) Bei dieser Gelegenheit möchte ich freilich eine Anmerkung an die Bundesregierung hinzufügen. Wir bitten die Bundesregierung, das zusätzliche Potential an Einflußnahme, das sie mit diesem Abkommen gewinnen wird, dazu zu nutzen, die sowjetische Seite dazu zu bewegen, daß sie mehr und mehr Abschied von den unzuverlässigen, ja teilweise gefährlichen Technologien nimmt, die heute dort noch gang und gäbe sind. Wenn der Bundesregierung dies gelingt, dann hat sie über alles andere hinaus einen zusätzlichen großen politischen Erfolg errungen. Den Kollegen Schäfer möchte ich einmal fragen: Warum haben Sie in Ihrem Beitrag nicht darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregierung genau auf dem Gebiet des von Ihnen doch so unterstützten, ja von Ihrer Regierung seinerzeit abgeschlossenen Nichtverbreitungsvertrages bewegt? Dort wird doch sowohl in der Präambel als auch im Art. IV ausdrücklich die kerntechnische Zusammenarbeit angesprochen, ja nicht bloß angesprochen, sondern man verpflichtet sich dazu. Ich will mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus Art. IV Abs. 2 zitieren. Dort heißt es: Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen. Herr Kollege Schäfer, das haben Sie - nicht wir - mit der Sowjetunion und mit den anderen Partnern vereinbart, und wenn sich die Bundesregierung jetzt daran hält und das in die politische Praxis umsetzt, dann sind Sie die allerletzten, die das Recht haben, das zu kritisieren. ({2}) Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang ist es ja ohnedies merkwürdig, wenn man die Diskrepanz zwischen Ihrem Beitrag, Herr Schäfer, und dem außerordentlich sachlichen und wertvollen Beitrag des Kollegen Stahl betrachtet, daß die SPD von heute für den Kreml gar kein wirklicher Gesprächspartner mehr wäre. Der Kreml schließt auf dem Gebiet der Kernenergie doch keine Verträge mit Aussteigern, sondern mit Leuten, die konstruktiv zusammenarbeiten. Deswegen, meine Damen und Herren, wären Sie gar kein Partner mehr. Herr Schäfer, wenn Sie es nicht von mir hören wollen, dann lassen Sie es sich doch von Herrn Portugalow sagen. Herr Portugalow hat laut einem Pressebericht, der heute nachzulesen ist, gesagt - ich zitiere wörtlich - : Die vergangenen politischen Mißerfolge der Sozialdemokraten, deren Positionen zweifellos näher an unseren liegen, sind nach meinem Dafürhalten darauf zurückzuführen, daß die SPD erst jetzt nach Antworten auf die Fragen zu suchen beginnt, die die wissenschaftlich-technische Revolution gestellt hat, während die Christdemokraten schon dabei sind, sie auf dem Wege der kapitalistischen Rationalisierung zu lösen. Herr Schäfer, das ist die Situation. ({3}) Herr Portugalow schließt dann damit, daß nach seiner Auffassung die CDU unter Kohl einen beeindruckenden Sieg hinter sich hat und auch Chancen hat, die Wahl 1990 zu gewinnen. Recht hat er, wenn Sie bei Ihrer verheerenden Aussteigermentalität bleiben. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß ein wesentliches Merkmal dieser Aktuellen Stunde ist, daß die Opposition - ich beziehe dabei auch die Antragsteller dieser Aktuellen Stunde mit ein - es zusammen mit der Koalition begrüßen, daß es deutschen Unternehmen und der Bundesregierung gelungen ist, die Sicherheit der Kernkraftwerke international zu erhöhen und daß dies durch das Vertragswerk unterstrichen wird, das vor wenigen Tagen in Moskau unterzeichnet wurde. Der Export eines Hochtemperaturreaktors in die Sowjetunion ist doch unbestrittenermaßen - ich erinnere mich an die Diskussionen über die Sicherheit von Kernreaktoren in den letzten Jahren hier in diesem Hohen Hause - ein Meilenstein, insbesondere im Hinblick auf den Export von Sicherheitstechnik. Dieser Vertragsabschluß beweist, daß in einem Land wie der Sojwetunion, daß 56 Kernkraftwerksblöcke betreibt, weitere 25 baut und sich ganz dezidiert für die weitere Nutzung der Kernenergie ausgesprochen hat, der tragische Unfall von Tschernobyl einen Prozeß des Nachdenkens ausgelöst hat. Was würde eigentlich die Opposition sagen, wenn Bundeskanzler Helmut Kohl in der Sowjetunion gewesen wäre und dieses Abkommen nicht unterzeichnet hätte? ({0}) Das Vertragswerk, meine sehr verehrten Damen und Herren, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die von der Bundesregierung initiierte Sonderkonferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation nach Tschernobyl nunmehr ihre Früchte trägt. Auch international beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß Sicherheit Vorrang vor Wirtschaftlichkeit hat. Wenn sich die Sowjetunion, die ja selbst auch Kernkraftwerke exportiert, für das Konzept eines Hochtemperaturreaktors entscheidet, kann und muß dies Signalwirkung auch für andere potentielle Interessenten haben. Ein derartiger Export von Sicherheitstechnik - ich komme jetzt fast nicht mehr mit, meine Damen und Herren, wenn ich einige Reden von Ihnen höre, vor allen Dingen von den GRÜNEN; ich nehme einmal den Kollegen Stahl ausdrücklich aus - müßte doch auch bei der Opposition Zustimmung finden. Natürlich müssen alle mit diesem Projekt verbundenen Ausfuhren - und ich möchte damit einige Fragen von Ihnen beantworten - im Einklang mit unserem Außenwirtschaftsrecht stehen, d. h. es muß auch für dieses Projekt ein Ausfuhrgenehmigungsantrag beim Bundesamt für Wirtschaft gestellt werden, das dann im einzelnen technisch prüft, ob und in welchem Umfang Genehmigungen national erteilt werden können bzw. dem COCOM in Paris vorgelegt werden müssen. ({1}) - Es kann ja nichts passiert sein, Herr Kollege, weil der Antrag nicht vorliegt. Auch das anläßlich des Kanzlerbesuchs unterzeichnete Regierungsabkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen und den Informationsaustausch bei Kernanlagen bestätigt die gestiegene Bedeutung von Sicherheitsüberlegungen in der Sowjetunion. Ich kann hier nicht den Ergebnissen weiterer Verhandlungen vorgreifen, aber die Bundesregierung hofft, daß es weitere Geschäftsabschlüsse geben wird, die auf einen höheren Sicherheitsstandard sowjetischer Kernkraftwerke abzielen. Im übrigen kann ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, nur empfehlen, einmal über den Tellerrand der nationalen Energiepolitik hinauszublicken und zur Kenntnis zu nehmen, daß heute weltweit über 400 Kernkraftwerke in Betrieb, 127 im Bau und 62 weitere fest bestellt sind. ({2}) - Herr Kollege, die Zahlen der USA habe ich eingangs genannt. - Dies zeigt, daß die Kernenergie weltweit weiter friedlich genutzt wird. Wir haben ein vitales Interesse daran, daß diese Nutzung auf dem höchstmöglichen Sicherheitsniveau erfolgt. Bereits heute trägt die Kernenergie mit rund 500 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten zum weltweiten Energieverbrauch bei. ({3}) Bei einem Verzicht auf Kernenergie würde entsprechend mehr fossile Energie eingesetzt werden; da beißt doch die Maus keinen Faden ab. ({4}) Vor dem Hintergrund der sich infolge der wachsenden Nutzung fossiler Brennstoffe abzeichnenden Probleme - ich verweise hier nur auf die CO2-Problematik ({5}) erscheint es doch absolut unverantwortlich, ({6}) auf die einzige heute in größerem Umfange zur Verfügung stehende Alternative zur fossilen Energie zu verzichten, ({7}) auf eine Alternative, die zudem noch wirtschaftlich ist. Die Energieversorgung der wachsenden Weltbevölkerung und die Beherrschung der Umweltprobleme werden ohne Kernenergie nicht zu bewältigen sein. ({8}) - Ich komme auf Ihre Zwischenrufe jetzt zurück. ({9}) - Herr Kollege Schäfer, wenn Sie bloß etwas mehr Geduld hätten. Ich habe doch alles drin, was Sie gerne wissen möchten. ({10}) Meine Rede ist interessanter, als Sie annehmen. Wir brauchen alle Energien, die fossilen wie Kohle, Öl und Gas, die regenerativen wie Wasser, Sonne, Wind und Biomasse und auch die Kernenergie, und selbstverständlich brauchen wir auch die rationelle Energieverwendung, aber nicht alternativ zur Kernenergie, sondern zusätzlich. ({11}) Ich habe eigentlich nie verstanden, warum die Befürworter eines Kernenergieverzichts die Kernenergie als mit der Energieeinsparung unvereinbar darstellen. Wir brauchen zur Lösung der weltweiten Energieprobleme alle Energiequellen einschließlich der Kernenergie und die Energieeinsparung. ({12}) Darf ich zum Abschluß den Appell des Kollegen Jäger ({13}) aufgreifen, der mir im übrigen heute dadurch außerordentlich imponiert hat, daß er zur Begründung für deutsche Tüchtigkeit ausgerechnet einen sowjetischen Spitzenpolitiker herangezogen hat; Herr Kollege, das war ich bei Ihnen in Ihrer früheren Eigenschaft als Deutschlandpolitiker gar nicht gewohnt. ({14}) - Sie sehen, es gibt auch für die CSU im Deutschen Bundestag immer noch Erstaunliches zu erfahren. Herr Kollege Jäger, ich möchte Ihren Appell aufgreifen, ({15}) das mit diesem Vertragswerk zusätzlich gewonnene Potential an Einfluß auf die UdSSR zu nutzen. Dieser Appell ist richtig. Er wird von der Bundesregierung aufgegriffen. Wir werden dieses Einflußpotential hoffentlich so einsetzen, daß die Gefahr, die von heute noch nicht sicheren Kernkraftwerken im Ostblock ausgeht, ({16}) auf ein Mindestmaß reduziert wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich muß ich mich namens der Bundesregierung bei den GRÜNEN für diese Aktuelle Stunde bedanken. ({17}) Sie haben uns die Gelegenheit gegeben, unsere Politik in dieser Weise deutlich darzustellen. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Riedl, wir sind immer dialogfähig, falls Sie das noch nicht gemerkt haben. Dieser Dialog ist ja auch interessant genug. Das Interessanteste an dieser Stunde sind aber doch eigentlich die ideologischen Purzelbäume der CDU. Herr Lenzer, ich bin Ihnen dafür sehr dankbar, daß Sie bestätigt haben, daß dieses Geschäft nur noch mit der Sowjetunion ging; überall anderwärts geht dieses Geschäft nicht mehr. ({0}) Mit der Sowjetunion geht es noch. Das heißt, die Industrie, die hier ohnehin regionalmonopolistisch organisiert ist, kommt so gerade noch mit dem Staatsmonopol in der Sowjetunion zu Rande. Am Markte geht das alles schon lange nicht mehr. ({1}) Daß nun in der CDU plötzlich die Vertreter der Tonnenideologie sitzen, das ist verblüffend. Zum Sicherheitsargument. Studieren Sie ein bißchen die Schrottreaktoren in Stade oder in Würgassen, bei denen man beim Wiederanfahren nach der jährlichen Prüfung immer nur beten kann, daß die Dinger nicht auseinanderfliegen. ({2}) Über diesen Sicherheitsmythos, über Tschernobyl verkaufen Sie der Sowjetunion die neue Linie. Das ist wahrhaftig eine hervorragende Politik. Das ist eine Politik, zu der sich die Atomfans dieses unseres LanDr. Lippelt ({3}) des mit der Zentralverwaltungswirtschaft zusammentun, während sie uns hier immer den Markt predigen. Das ist es. ({4}) Zum letzten Argument. ({5}) Wir haben mit dem Brasilien-Geschäft dasselbe erlebt. ({6}) Sie versuchten, an den USA vorbei die deutsche Industrie zur Weltgeltung zu bringen, immer mit ein bißchen antiamerikanischem Effekt; ({7}) denn am Markt kann man sich überhaupt nicht mehr behaupten. So geht das hier jetzt auch. Erst zur Militärdiktatur Brasiliens - das waren damals andere - und jetzt Sie zur Sowjetunion an den USA vorbei! Aber über COCOM werden Sie die Probleme wieder ins Haus bekommen. Darauf freuen wir uns alle schon. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Generalsekretär der CDU sagte gestern bei seinem Besuch in Chile in einem ganz anderen Zusammenhang: Politik ist kein Gesangverein von Harmonie. - Damit hat er recht. Aber die Kraft, die Interessen des Gemeinwohls über Parteienstreit zu stellen, sollte im Ansatz doch ab und zu erkennbar sein. Sie von der Opposition haben heute diese Chance leider wieder total verpaßt. ({0}) - Wer sagte eben „Penner"? Ich wollte ihn wenigstens einmal kennenlernen. Wer war es denn? - Noch nicht einmal Mut zum Bekenntnis hat er. Die stark beachtete Reise von Bundeskanzler Helmut Kohl hat große außenwirtschaftliche Erfolge. Es ist ja nicht nur so, daß nur das Thema, über das wir jetzt sprechen, behandelt worden ist. Vielmehr haben deutsche Unternehmen und sowjetische Vertreter rund zwei Dutzend Wirtschaftsverträge im Rahmen dieser Moskauvisite unterzeichnet. Schwerpunkt war hierbei der Rahmenvertrag über einen 3-MilliardenDM-Kredit, den deutsche Banken der Sowjetunion zusagten. Darüber hinaus hat beispielsweise Siemens mit dem sowjetischen Gesundheitsministerium eine Rahmenvereinbarung über die gesamte Weiterentwicklung von medizinischen Geräten und Anlagen unterzeichnet. In Zahlen ist dieser Vertrag vorerst auf rund 500 Millionen DM einzuschätzen. Neben diesen Vereinbarungen wurden sieben Regierungsabkommen unterzeichnet, die sich im wesentlichen auf die Bereiche Umwelt und Strahlenschutz, Raumfahrt, Energie und Landwirtschaft beziehen. Angesichts dieses gewaltigen Volumens - deshalb meine Eingangsbemerkung -, hätte es jedem von Ihnen freigestanden, erst einmal grundsätzlich zu begrüßen - Sie haben bei der Regierungserklärung von Helmut Kohl demnächst dazu noch Gelegenheit -, wie erfolgreich dieser Besuch unseres gemeinsamen Bundeskanzlers war. ({1}) Dann wäre es durchaus auch legitim und berechtigt zu sagen: Aber im einzelnen würden wir hier doch folgendes sagen. - Da Sie dies nicht gemacht haben, verfolgen Sie eine Politik, die Sie in dieser Form hoffentlich noch lange „erfolgreich" fortsetzen, weil wir dann nämlich noch sehr viel länger regieren, als Sie es erahnen: Sie machen mies, Sie sind destruktiv, Sie nehmen einem jede Illusion, daß Sie hier irgendwann einmal alternative Politik vortragen. ({2}) Meine Damen und Herren, die beiden Verträge zum Hochtemperaturreaktor stellen also nur einen kleinen und zugegebenermaßen nicht unwesentlichen Teil des Gesamtverhandlungspakets dar. Dabei scheint Ihnen - das ist aus Ihren Reden zu schließen - immer wieder entgangen zu sein, daß es sich bisher lediglich um einen Rahmen- und Generalvertrag handelt, der mit Leben ausgefüllt werden muß. Nehmen wir doch gemeinsam erfreut zur Kenntnis, daß die Sowjetunion - das ist zu begrüßen - einen immer größeren Wert auf die Sicherheit ihrer Anlagen legt. Ich freue mich auch - unsere Experten einschließlich des Bundesministers haben dies eindeutig dargestellt -, daß unsere Technik über ein höheres Sicherheitsniveau verfügt und wir deshalb gefordert sind. Wir sind in der Pflicht, unserer Verantwortung gerecht zu werden und, wenn die Sowjetunion uns um Hilfe bittet, dem nachzukommen. Es ist beinahe zynisch, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ({3}) und es ist eine große Lüge Ihrer Politik, daß, wenn es sicher und unbestritten ist, daß die Sowjetunion in der Atomenergie weiter auf friedliche Nutzung der Kernenergie setzt, und wir wissen, daß sie in der Technologie nur halb so gut ist wie wir, Sie der Bundesrepublik, der deutschen Industrie verweigern wollen, den sowjetischen Menschen durch eine bessere Technologie mehr Sicherheit zu geben. ({4}) Wenn ich ganz gehässig wäre, würde ich umgekehrt sagen: Ihnen ist es schnurzpiepegal, wie es mit dem Wohl der Menschen ist; Sie sehen Ihre Ideologie im Vordergrund, und das ist schäbig. ({5}) In diesem Zusammenhang spricht Herr Lippold - das ist ja beinahe nett - die COCOM-Regeln an. Sie, die Sie dauernd wünschen, daß COCOM überhaupt abgeschafft wird, klammern sich nun wie an einen Strohhalm daran, daß doch COCOM bitte noch einschränken möchte. Die Bundesregierung wird die getroffenen Vereinbarungen COCOM vortragen, und dann wird zu prüfen sein, ob hier COCOM-relevante Verträge vorliegen oder nicht, und danach wird man entsprechend handeln. Es liegt auch im westlichen Interesse, daß das Sicherheitsniveau sowjetischer Kernkraftwerke drastisch erhöht wird. ({6}) Meine Damen und Herren von der Opposition, den Erfolg der Reise von Bundeskanzler Kohl werden Sie auch durch gezielte Miesmacherei in Einzelfragen nicht zu schmälern vermögen. Dies kann Ihnen nicht gelingen. Mißgunst war noch immer ein schlechter Ratgeber für politische Entscheidungen. Die heutige Aktuelle Stunde hat dies wieder einmal deutlich bewiesen. Gerade Sie, die Sie früher vehement eine OstWest-Annäherung propagierten, wollen jetzt die Perestroika-Politik von Gorbatschow in Frage stellen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, die Redezeit ist leider zu Ende.

Peter Kittelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf den Satz beenden, Frau Präsidentin, und mache dann Schluß. Damit haben Sie den Wesensgehalt Ihrer Politik wieder einmal unter Beweis gestellt: kleinmütig, alternativlos, destruktiv. Wir werden uns deshalb nicht hindern lassen, unsere erfolgreiche Politik fortzusetzen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Vosen.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Die Reaktoren, die uns Herr Riesenhuber immer wieder anbietet, lassen das Parlament nicht zur Ruhe kommen, wie wir feststellen. Nach der unendlichen Geschichte mit dem Schnellen Brüter beginnt nun auch für den Hochtemperaturreaktor ein Abschnitt einer sehr langen weiteren Irrfahrt. Ich darf in Erinnerung bringen, daß sich der HTR in Schmehausen im ersten Teil dieser Irrfahrt finanziell von 0,7 Milliarden DM auf 4,5 Milliarden DM aufgeplustert hat. Das war der erste Teil. ({0}) Der zweite Teil der Irrfahrt ist die Brennstoffversorgung. Die Zwischen- und die Endlagerung der Brennelemente ist nicht geklärt. Auch die Brennelementeerzeugung ist nach Schließung von Nukem am Ende. ({1}) Wie wir gerade gehört haben, möchte die deutsche Kernenergieindustrie vom Bundesminister für Forschung und Technologie eine Risikobeteiligung von über 100 Millionen DM, ({2}) um eine völlig neue Brennelementfabrik zu bauen. Gehört das auch zum Abkommen dazu? Ich stelle hier also fest, daß der Hochtemperaturreaktor neben dem Schnellen Brüter zum zweiten Staatsreaktor werden wird. Mit dem dritten Teil seiner Irrfahrt, dem völlig unverständlichen UdSSR-Geschäft, wird der HTR nun endgültig zum Staatsreaktor. ({3}) Es ist schon gesagt worden: Freie Marktwirtschaft ist nicht da. Es wird ein Staatsreaktor. ({4}) Da die deutsche kerntechnische Industrie nicht einsehen will, daß die Kernenergie keine Zukunft mehr hat, versucht sie krampfhaft, jeden kleinen Zipfel eines Exportgeschäfts zu erhaschen, und spannt deshalb die Bundesregierung auch für unsinnige Projekte vor ihren Wagen. Es ist ein unsinniges Projekt. ({5}) Ein 15-MW- und ein 300-MW-Reaktor sind in der Bundesrepublik Deutschland dank der exzellenten Arbeit der Wissenschaftler und Techniker von KfA und BBC - ich meine das sehr ernst ({6}) erprobt, meine Damen und Herren. ({7}) Diese relativ guten Apparate haben aber wegen der übergreifenden Einwände gegen die Kernenergie im allgemeinen keine Zukunft mehr. Auch der Versuch, den Hochtemperaturreaktor in die UdSSR zu exportieren, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Ein 80MWel-HTR-Reaktor für 1 Milliarde DM ist ja zunächst einmal ökonomisch ein vollständiger Unsinn, wenn man den Vergleichspreis für ein konventionelles Kraftwerk von 80 MW danebensetzt. Das Projekt ist aber auch wegen der COCOM-Situation - das ist mehrmals angesprochen worden - unrealistisch. Denn es ist nicht damit zu rechnen, daß entscheidende Komponenten überhaupt geliefert werden können, z. B. die Sicherheitstechnik über moderne Rechner- und Computersysteme. So wird sich das vollmundige Geschäft gleichzeitig als dritter und letzter Teil der Irrfahrt des Hochtemperaturreaktors herausstellen. ({8}) Es handelt sich um den versuchten Export - das ist auch gesagt worden, durch Herrn Kittelmann; ich zitiere ihn: die haben nur halb so viel Technik wie wir -({9}) in ein Land, welches technologisch - Herr Kittelmann, ich zitiere Sie - rückständig ist. Denen verkaufen wir eine Technik ohne Zukunft und werden der Sowjetunion damit langfristig schweren Schaden zufügen. Das ist die Situation. ({10}) Diese Art von Politik lehnen wir ab. Wir werden im Parlament alle Schritte unternehmen, damit der Haushalt des Forschungsministeriums - das soll ja auch wieder Geld kosten - von diesem Projekt unbehelligt bleibt. Ein Letztes noch, meine Damen und Herren: das Gerücht der Kohleveredelung. Das muß einmal klargestellt werden. 750 Grad werden deshalb gefahren, weil es keinen Wärmetauscher auf dieser Welt gibt, der in der Lage ist, höhere Temperaturen zu ertragen. Fragen Sie Ingenieure, wo die Fließgrenze der Festigkeit von hochlegiertem wärmefesten Stahl anfängt und wo es aufhört. ({11}) Es gibt keinen Wärmetauscher, der in der Lage ist, unter Sicherheitsbedingungen die Wärme des Hochtemperaturreaktors auf die Kohle zu transportieren. Das ist die Wahrheit. ({12}) Herr Riesenhuber, nehmen Sie das zur Kenntnis, bevor Sie solche Gerüchte hier in die Welt setzen. ({13})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.

Christian Lenzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Jupp Vosen, wir sind ja, ich hätte fast gesagt: alte Freunde. Deswegen nimmst du es mir nicht übel, wenn ich das jetzt so salopp sage: Bevor wir dich dumm sterben lassen, möchte ich hier ein Dokument in die Debatte einführen. Wir sind uns, glaube ich, darüber einig, daß sich gegenüber 1982 - der Kollege Stahl hat von der Vorgängerregierung gesprochen - an der grundsätzlichen Bewertung des Hochtemperaturreaktors nichts geändert hat. In der Zwischenzeit sind technisch keine neuen Erkenntnisse hinzugekommen. Nur für das Protokoll darf ich jetzt einmal aus einem Brief der nordrhein-westfälischen Landesregierung zitieren, die immer die besondere Schirmherrschaft für diesen Reaktor ausgeübt hat. Da heißt es, daß die Herren Jochimsen und Farthmann am 26. Mai 1982 in einer Anhörung unseres Ausschusses ihre Position dargestellt hätten. Und jetzt zitiere ich: Zusammenfassend ergibt sich: - die Hochtemperaturreaktortechnologie hat im Blick auf die Nutzung der heimischen Steinkohle und Braunkohle für das Industrie- und Energieland Nordrhein-Westfalen einen zukunftsweisenden Stellenwert. ({0}) - Diese Technologie kann in allen Ausprägungen, also als THTR 300, als Nukleare Prozeßwärme und als Nukleare Fernenergie nur weitergeführt werden, wenn sich die künftigen Nutzer stärker als bisher engagieren. Es folgt ein Appell an die Wirtschaft, sich stärker zu engagieren. ({1}) Dann heißt es weiter: Unabhängig von der auf die Nutzung des heimischen Rohstoffs Kohle gerichteten Bedeutung der HTR-Technologie muß festgehalten werden, daß die besonderen technisch-physikalischen Eigenschaften eines Hochtemperaturreaktors vor allem kleinerer Leistung - man höre und staune, expressiv verbis Bestandteil dieses Abkommens im Blick auch auf die Kraft-Wärme-Kopplung im konventionellen Sinn ({2}) seinen Einsatz auch jetzt schon in der Bundesrepublik als sinnvoll und möglich erscheinen lassen. ({3}) Der Brief schließt mit der bemerkenswerten Erkenntnis: Als Ergebnis der bisherigen Diskussionen über die Nutzungs- und Entwicklungschancen der HTR-Technologie kann aus der Sicht NordrheinWestfalens - und Sie sind doch nordrhein-westfälischer Kollege, kommen sogar aus einer Gegend nicht weit entfernt von der Kernforschungsanlage Jülich, die sich durch Professor Schulten, den wir alle kennen und schätzen, besonders hiermit beschäftigt hat gesagt werden, daß diese unverändert hoch einzuschätzen sind, ({4}) daß aber industriepolitisch die Differenz zwischen dieser positiven Einschätzung seitens der Wirtschaft einerseits und ihrem Attentismus beim finanziellen Engagement andererseits von der Landesregierung nicht aufgefangen werden kann. Dieser Appell der nordrhein-westfälischen Landesregierung ist auch heute noch gültig. Herr Jochimsen hat den Brief unterschrieben. Er ist auch heute noch verantwortlicher Minister in derselben Funktion. Dem ist nichts hinzuzufügen. Lassen Sie sich von ihm ein Privatissimum geben. Lassen Sie uns gemeinsam an dieser Technologie weiterarbeiten! ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3138 bekannt. Abgegebene Stimmen: 448. Keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 201 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 247 Abgeordnete gestimmt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 445; davon ja: 199 nein: 246 Ja SPD Frau Adler Amling Andres Antretter Dr. Apel Bachmaier Bahr Bamberg Becker ({0}) Frau Becker-Inglau Bindig Frau Blunck Dr. Böhme ({1}) Brandt Brück Büchler ({2}) Frau Bulmahn Buschfort Catenhusen Conradi Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Diller Dreßler Duve Dr. Ehmke ({3}) Dr. Ehrenberg Erler Esters Ewen Frau Faße Fischer ({4}) Frau Fuchs ({5}) Frau Fuchs ({6}) Frau Ganseforth Dr. Gautier Gerster ({7}) Frau Dr. Götte Graf Großmann Grunenberg Dr. Haack Haack ({8}) Haar Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Heimann Heistermann Heyenn Hiller ({9}) Dr. Holtz Horn Huonker Ibrügger Jahn ({10}) Jaunich Dr. Jens Jung ({11}) Jungmann Kastning Kiehm Kirschner Kißlinger Klein ({12}) Dr. Klejdzinski Kolbow Koltzsch Kretkowski Kühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Lohmann ({13}) Lutz Frau Luuk Frau Matthäus-Maier Menzel Dr. Mertens ({14}) Müller ({15}) Müller ({16}) Müller ({17}) Müntefering Nagel Nehm Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Dr. Nöbel Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel Dr. Osswald Pauli Dr. Penner Pfuhl Porzner Poß Purps Frau Renger Reschke Reuter Roth Schäfer ({18}) Schanz Dr. Scheer Scherrer Schluckebier Schmidt ({19}) Frau Schmidt ({20}) Schmidt ({21}) Dr. Schmude Dr. Schöfberger Schreiner Schröer ({22}) Schütz Seidenthal Frau Seuster Sielaff Sieler ({23}) Singer Frau Dr. Skarpelis-Sperk Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling Stahl ({24}) Stiegler Stobbe Frau Terborg Toetemeyer Urbaniak Vahlberg Verheugen Voigt ({25}) Waltemathe Walther Wartenberg ({26}) Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Weisskirchen ({27}) Dr. Wernitz Frau Weyel Wieczorek ({28}) Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz Wimmer ({29}) Wischnewski Dr. de With Wittich Würtz Zander Zeitler Zumkley DIE GRÜNEN Frau Beer Brauer Dr. Briefs Dr. Daniels ({30}) Ebermann Frau Flinner Häfner Hoss Hüser Frau Kelly Kleinert ({31}) Dr. Knabe Frau Krieger Dr. Lippelt ({32}) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels Frau Oesterle-Schwerin Frau Olms Frau Rust Frau Saibold Frau Schilling Schily Frau Schmidt-Bott Sellin Stratmann Frau Teubner Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Volmer Weiss ({33}) Wetzel Frau Wollny Fraktionslos Wüppesahl Nein CDU/CSU Austermann Bauer Bayha Dr. Becker ({34}) Frau Berger ({35}) Biehle Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Böhm ({36}) Börnsen ({37}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Borchert Breuer Bühler ({38}) Buschbom Carstens ({39}) Carstensen ({40}) Clemens Dr. Czaja Daweke Deres Dörflinger Dr. Dollinger Doss Echternach Ehrbar Engelsberger Dr. Faltlhauser Feilcke Dr. Fell Fellner Vizepräsident Frau Renger Frau Fischer Fischer ({41}) Francke ({42}) Dr. Friedmann Fuchtel Funk ({43}) Ganz ({44}) Frau Geiger Dr. von Geldern Gerstein Gerster ({45}) Glos Dr. Götz Gröbl Dr. Grünewald Günther Dr. Häfele Hames Frau Hasselfeldt Hauser ({46}) Hauser ({47}) Hedrich Frau Dr. Hellwig Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker Frau Hoffmann ({48}) Dr. Hornhues Frau Hürland-Büning Graf Huyn Dr. Hüsch Jäger Dr. Jahn ({49}) Dr. Jobst Jung ({50}) Jung ({51}) Kalb Kalisch Dr.-Ing. Kansy Dr. Köhler ({52}) Kolb Kossendey Kraus Krey Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({53}) Lamers Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Lenzer Frau Limbach Link ({54}) Link ({55}) Linsmeier Lintner Dr. Lippold ({56}) Louven Lowack Lummer Maaß Frau Männle Magin Marschewski Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Müller ({57}) Müller ({58}) Nelle Dr. Neuling Neumann ({59}) Niegel Dr. Olderog Oswald Pesch Petersen Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Regenspurger Dr. Riedl ({60}) Frau Rönsch ({61}) Frau Roitzsch ({62}) Dr. Rose Rossmanith Roth ({63}) Dr. Rüttgers Ruf Sauer ({64}) Sauer ({65}) Sauter ({66}) Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz ({67}) Schemken Scheu Schmidbauer Schmitz ({68}) Dr. Schneider ({69}) Freiherr von Schorlemer Schreiber Dr. Schroeder ({70}) Schulhoff ({71}) Schulze ({72}) Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer Seehofer Seesing Seiters Spilker Spranger Dr. Sprung Dr. Stark ({73}) Dr. Stercken Straßmeir Strube Frau Dr. Süssmuth Susset Tillmann Dr. Todenhöfer Dr. Uelhoff Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({74}) Vogt ({75}) Dr. Voigt ({76}) Dr. Vondran Dr. Voss Dr. Waffenschmidt Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke Dr. Warrikoff Dr. von Wartenberg Weirich Weiß ({77}) Werner ({78}) Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wilz Wimmer ({79}) Windelen Frau Dr. Wisniewski Dr. Wittmann Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer Dr. Zimmermann Zink FDP Beckmann Bredehorn Cronenberg ({80}) Eimer ({81}) Dr. Feldmann Frau Folz-Steinacker Funke Gallus Gattermann Gries Grüner Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Hoppe Dr. Hoyer Irmer Kleinert ({82}) Kohn Dr. Graf Lambsdorff Lüder Mischnick Neuhausen Nolting Richter Rind Ronneburger Frau Seiler-Albring Dr. Solms Dr. Thomae Timm Dr. Weng ({83}) Wolfgramm ({84}) Frau Würfel Zywietz Der Antrag wurde abgelehnt. Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten ohne Aussprache, die vor der Mittagspause nicht mehr behandelt werden konnten. Ich rufe zuerst Punkt 7 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({85}) zu der Unterrichtung durch den Bundesminister der Finanzen Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Bonn gem. § 64 Abs. 2 Satz 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksachen 11/2820, 11/3050 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Struck Roth ({86}) Zywietz Frau Vennegerts Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Eine Enthaltung und eine Gegenstimme. Ich rufe nunmehr Punkt 8 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({87}) Sammelübersicht 85 zu Petitionen - Drucksache 11/3098 Wer der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen. Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({88}) Vizepräsident Frau Renger Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 11/3111 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Wernitz Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNEN Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor radioaktiven Strahlen - Drucksache 11/2837 Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Kein Widerspruch. So beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Ich möchte mit einigen Meldungen und Schlagzeilen der letzten Tage beginnen: „Radon-Belastung in Häusern, Gefahr von Lungenkrebs", „Strahlenrisiko von Bahnarbeitern bei Atomtransporten, Schutzmaßnahmen nicht vorgesehen", „Beim Pilzesammeln tickt der Geigerzähler, Maronenröhrlinge mit 3 300 Becquerel pro Kilogramm belastet", „Fleichfresserfrust, Reh in Norddeutschland mit 1 357 Becquerel belastet", „Stürzt Kosmos auf die Bundesbürger?", „Es erscheint sinnvoll, Häuser und Schutzräume aufzusuchen", „ 17 000 Kubikmeter radioaktives Abraummaterial bei Eilweiler in Straßen, Häuser und Sportplätze verbaut", „Drei ehemalige TN-Mitarbeiter verhaftet wegen Verklappung von Atommüll in Flüsse und Nordsee". Vor diesem Hintergrund diskutieren wir heute den Antrag der GRÜNEN: Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor radioaktiven Strahlen. Sieht man sich die steten Beteuerungen der Bundesregierung in den letzten Jahren und besonders seit Tschernobyl an und wollte man den verbalen Kraftakten von vorsorgender Strahlenschutzpolitik Glauben schenken, dann könnten wir uns jede weitere Diskussion ersparen. Uns wird weisgemacht, es stünde alles zum besten. Nur sieht die Realität anders aus. Um es von vornherein klar und unmißverständlich zu sagen: Die Bundesregierung betreibt nach Kräften eine Atomanlagenbestandsschutzpolitik, ({0}) und alles, was uns als Strahlenschutzpolitik verkauft wird, dient allein diesem Zweck, hat mit Strahlenschutz so viel zu tun wie der Teufel mit dem Weihwasser. Grundsätzlich ist zu sagen: Atomenergienutzung und Strahlenschutz schließen einander aus. Wer die Bevölkerung und die Umwelt vor ionisierenden Strahlen schützen will, kann nicht gleichzeitig das goldene Kalb der Atomenergie anbeten. ({1}) Der Versuch, Atomkraftnutzung und Strahlenschutz in Einklang zu bringen, gleicht dem Versuch, in einem Drahtkorb Milch zu holen. Nur geht es bei der radioaktiven Strahlung leider nicht um verschüttete Milch, sondern um permanent zunehmende Verseuchung von Mensch und Umwelt, die zu langfristigen Gesundheitsschäden und Tod führt, wobei inzwischen jedem klar ist, daß es keine Schwellenwerte gibt, unterhalb derer Gesundheitsschäden auszuschließen sind. Ich will nicht sagen, daß die Bundesregierung gänzlich untätig ist. Im Gegenteil, neue Gesetze und Verordnungen sollen den Eindruck erwecken, daß hier Vorsorge getroffen wird. Mit Strahlenschutz hat das allerdings wenig zu tun. Im Gegenteil, der Atomindustrie wird der Rücken freigehalten, und der Bevölkerung werden die Verschlechterungen im Strahlenschutzbereich als Wohltaten verkauft. Man muß es Herrn Töpfer lassen, er hat es erreicht, Verwirrung zu stiften. Nehmen wir die Grenzwerte bei Lebensmitteln. Wer glaubte nicht, daß für durch Tschernobyl belastete Lebensmittel die Grenzwerte von 370 und 600 Becquerel gelten? In Wirklichkeit gelten diese Werte aber nur für Importe aus Drittländern. Für EG-Produkte und heimische Produkte gibt es überhaupt keine Grenzwerte, trotz nach wie vor zum Teil hochbelasteter Lebensmittel, wie Pilze und Wildfleisch. Die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf. Sie sah ihn auch nicht im Jahr nach Tschernobyl. Die tausend Mark Strafe, zu der ein türkischer Gemüsehändler in Hannover kürzlich verurteilt wurde, weil er hochbelastete Pilze verkaufte, müßten von der Regierung bezahlt werden. ({2}) Hier wurde wie so oft der Sack statt des Esels geschlagen. Nicht der Händler, sondern die Regierung hat fahrlässig gehandelt, weil es nämlich auch damals keine Grenzwerte gab. Und sie tut das noch immer. Zur Zeit steht die Novellierung der Strahlenschutzverordnung ins Haus. Auch hier schlägt sich dieses Verhalten der Bundesregierung nieder, obgleich hier von Vorsatz, nicht von Fahrlässigkeit gesprochen werden muß. ({3}) Einige Beispiele: Seit längerem sind offizielle amerikanisch-japanische Studien bekannt, nach denen die Wirkung radioaktiver Niedrigstrahlung um den Faktor 4 bis 14 unterschätzt wurde, d. h. die bisherigen Grenzwerte für strahlenexponierte Personen und die Normalbevölkerung müßten um denselben Faktor herabgesetzt werden. Die Bundesregierung nimmt diese Tatsache geflissentlich nicht zur Kenntnis. Die Werte bleiben unverändert. ({4}) - Das stimmt doch nicht, Herr Baum. ({5}) Das wissen Sie genau. So werden die zulässigen Anteile an Kernbrennstoffen in Abfallgebinden um das zirka Sechsfache erhöht, nämlich auf 3 g pro 100-kg-Gebinde, weil es - Zitat - „den praktischen Bedürfnissen entspricht". Das heißt im Klartext: In den sogenannten Mol-Fässern ist Plutonium enthalten, was eigentlich nicht sein darf. Da es aber nun einmal so ist und auch in Zukunft so bleiben wird, wird die entsprechende Verordnung angepaßt. Oder: Plötzlich soll die Einfuhr von Kernbrennstoff bis zu 15 g Plutonium oder 15 g Uran 235, auf 20 und mehr angereichert, genehmigungsfrei sein. So kann beliebig Kernbrennstoff ohne Kontrolle eingeführt werden. Auch das scheint den praktischen Bedürfnissen zu entsprechen. Da wird das Effektivdosismodell mit einem Wichtungsfaktor für die einzelnen Organe eingeführt. Gerechnet wird nur mit Toten. Krebserkrankungen, die Aussicht auf Heilung haben, bleiben unberücksichtigt, was zu einer wesentlichen Erhöhung der zugelassenen Grenzwerte führt. Das bedeutet z. B. für die Schilddrüse folgendes. Da Schilddrüsenkrebs als gut operabel gilt, wird der Mortalitätsfaktor 0,03 eingeführt, d. h. die Schilddrüse darf um ein Vielfaches höher mit radioaktivem Jod belastet werden als bisher. Wenn das Grundgesetz und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 noch Bestand haben - ich zitiere: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" - , dann ist die Einführung dieses Wichtungsfaktors schlicht verfassungswidrig. ({6}) Die natürliche Radioaktivität findet keine Berücksichtigung, obwohl sich auch bei der Bundesregierung inzwischen herumgesprochen haben dürfte, daß jede Strahlung zu Schädigungen führt. Aber das kann man sich nicht erlauben, weil dann bei der Höhe der radioaktiven Belastung durch Atomanlagen der Vergleich mit der angeblich ungefährlichen natürlichen Strahlung nicht mehr möglich wäre. Erwiesen ist auch, daß strahlenexponierte Personen einem besonderen Risiko ausgesetzt sind. Wo wird dem Rechnung getragen? Und wo bleiben die Kriterien für die Anerkennung von strahlenbedingten Berufskrankheiten? Aber die Regierung weiß natürlich genau: Wenn sie die Ergebnisse der Niedrigstrahlungsforschung anwenden würde, wäre es um den Fortbestand der Atomindustrie schlecht bestellt. Eine Senkung der Werte um den Faktor 4 bis 14 würde statt des bisherigen 30-Millirem-Konzeptes ein 2- bis 7Millirem-Konzept bedeuten. Dann wäre es aus mit der schönen, heilen, atomaren Welt. Weil diese Novelle dem Ziel des Gesundheitsschutzes diametral zuwiderläuft, muß sie vom Tisch. Wir fordern eine Strahlenschutzverordnung, die ihren Namen verdient. Was hier vorliegt, ist eine Bestandsschutzverordnung für die Atomindustrie. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Wollny hat uns soeben wieder daran erinnert, daß sie zur Arbeitsgemeinschaft der Freunde eines Ausstiegs aus der Kernenergie gehört. Frau Kollegin Wollny, Sie haben uns hier auch Ihren festen Willen bewußt gemacht, daß Sie die Probleme der Kernenergie mit der Lupe betrachten. Das ist an sich durchaus etwas Lobenswertes, wenn man etwas mit der Lupe untersucht. Dann entsteht ein vergrößertes, aufrechtes Bild, das man mit dem entspannten Auge betrachten kann, und Entspannung wünschen wir Ihnen manchmal, wenn wir Ihre Zwischenrufe hier hören. Aber auch die Lupe sollte in Maßen benutzt werden. Wenn man die nämlich nicht mehr absetzt, dann vergißt man mit der Zeit, daß die vom Auge erfaßte Vergrößerung mit den Maßen des untersuchten Gegenstandes natürlich nicht übereinstimmt. Man vergißt gleichzeitig, daß die Lupe zwar den Untersuchungsgegenstand vergrößert, aber ansonsten die Wirklichkeit natürlich verengt, nämlich einiges andere aus dem Blickfeld herausschiebt. Damit habe ich eigentlich zum Ausdruck gebracht, was wir von Ihrem Antrag halten: Bei den unbestreitbaren Risiken der Kernenergie - dazu komme ich nachher noch - übertreiben Sie, ja, Sie übertreiben maßlos. Da die GRÜNEN total auf das Feindbild einer Atomindustrie fixiert sind, ({0}) die tödliche Strahlen aussendet, nehmen sie die Risiken der Nutzung anderer Energiequellen, die technischen und wirtschaftlichen Probleme überhaupt nicht mehr zur Kenntnis. Ich komme zu den unbestreitbaren Risiken: Auch wir wissen natürlich - das ist übrigens auch bei den Sachverständigen nachweisbar, die Sie in Ausschöpfung Ihres Diffamierungspotentials als „Handlager der Atomindustrie" bezeichnen - , daß ionisierende Strahlung zufallsbedingt und damit auch in kleinen und kleinsten Dosen Zellenveränderungen auslöst, die zu Krebs und Erbschäden führen können. Ihre weitergehende Behauptung, daß Atomanlagen uns „nachhaltig" gefährden, ja, daß ihre Existenz einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Leben und Gesundheit darstellt, haben Sie in Ihrem Antrag in gar keiner Weise präzisiert. ({1}) Es scheint für Sie ein ernstes Problem zu sein, daß Sie - anders als in den Agitationsbroschüren der AntiWAA-Bewegung - in diesem Haus nicht falsch zitieren können, daß Sie in diesem Haus nicht Abf allmengen mit Strahlenmengen gleichsetzen können, daß Sie von Strahlenmengen nicht undifferenziert auf die biologische Wirkung schließen können. Denn wenn Sie das hier tun würden, würde man Sie sofort erwischen. ({2}) Ich möchte deshalb zu Ihrem Antrag einige fehlende Detailinformationen nachtragen, von denen Sie sich aber selbst offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung versprechen. Dabei habe ich auch das Hearing zum Kernenergie-Abwicklungsgesetz der SPD ausgewertet. Ich stütze mich also auch auf die von der SPD und von den GRÜNEN in das Hearing eingeführten Sachverständigen. So hat z. B. der Strahlenbiologe Professor Köhnlein von der Universität Münster in völliger Übereinstimmung mit den Sachverständigen, die aus Ihrer Sicht „Erfüllungsgehilfen unserer Atompolitik" sind, festgestellt, daß man nur bei kleinen Dosen, bei Dosen ab etwa 0,2 Sievert, also 20 Rem, in Studien erhöhte Krebsraten feststellen konnte. Alles, was wir an Erkenntnissen haben, bezieht sich auf Dosen in dieser Größenordnung. Und dann sagt Professor Köhnlein, dessen Mitwirkung ja Sie beantragt haben, Herr Kollege Schäfer: ({3}) Jeder Versuch, daraus rechnerisch die Wirkung niedrigerer Dosen abzuleiten, sei „eine Art Weltanschauung". Ich gebe zu, er hat sich dann an dieser weltanschaulichen Auseinandersetzung beteiligt und einiges gesagt, was uns nicht gefällt, was wir für falsch halten. Aber was von dieser Debatte insgesamt zu halten ist, hat er in einer sehr ehrlichen und anerkennenswerten Weise zum Ausdruck gebracht. Der heftige Streit über die Wirkung ganz kleiner Dosen verliert an Bedeutung, wenn man sich die Bandbreite vor Augen hält, in der sich die Angaben bewegen. Nach den umstrittenen, international aber immer noch anerkannten Berechnungen erhöht sich die normale Sterblichkeitsrate für Leukämie und Krebs, die bei 20 % liegt, dann, wenn ein Mensch einer Ganzkörperdosis von einem Rem ausgesetzt ist, um ein Tausendstel. Wenn wir es mit dem Betrieb von Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland zu tun haben, geht es bei der Belastung der Bevölkerung im Umkreis dieser Anlage nicht um eine Zusatzbelastung von einem Rem, sondern um eine Zusatzbelastung von 30 Millirem. ({4}) Das erhöhte Risiko macht sich also irgendwo an vierter oder fünfter Stelle hinter dem Komma bemerkbar. Wir meinen, wenn man andere Lebensrisiken nicht völlig außer Betracht läßt, kann es doch überhaupt nicht entscheidungserheblich sein, ob man auf Grund neuer Erkenntnisse, die auch wir gelesen haben und die wir im Prinzip sogar anerkennen, das Risiko um zwei- bis dreimal höher ansetzen muß, wie es z. B. das Bundesgesundheitsamt - Institut für Strahlenhygiene - gesagt hat, oder ob man das Risiko um den Faktor zehn höher setzen muß. Mehr habe ich an Forderungen auch bei den sogenannten kritischen Wissenschaftlern nicht gehört. Ich meine auch, daß wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern sagen müssen, daß man schnell falsche Schlüsse zieht, wenn man in Ihrem Antrag liest, daß es neue Erkenntnisse im Bereich der niedrigen Strahlendosen gibt. Wir reden nämlich bei diesen neuen Erkenntnissen von Untersuchungen der Folgen von Atombombenexplosionen in Japan, der Untersuchung und der Verfolgung des Lebensschicksals der etwa 90 000 Überlebenden. Wir wissen, daß sich inzwischen ein etwas niedrigerer Anteil an Neutronenstrahlung herausgestellt hat, der besonders gefährlich gewesen wäre. Wir wissen auch, daß sich zusätzliche Langzeitfolgen bemerkbar machen, mit denen man ursprünglich nicht gerechnet hatte. Wenn man von diesen Strahlendosen der Atombombe ausgeht und diese Dosen drei- bis viermal durch zehn teilt, sind wir noch lange nicht bei den Strahlendosen der Bevölkerung im Umkreis eines Atomkraftwerkes, sondern erst bei den Belastungen der Mitarbeiter in einem Atomkraftwerk. Diese relative Nähe reicht allerdings aus, um im Sinne einer Vorsorgepolitik, wie sie die Bundesregierung betreiben will - wir akzeptieren und unterstützen das -, zugunsten derjenigen, die beruflich belastet sind, Konsequenzen zu ziehen, indem die Lebensobergrenze auf etwa 400 Millisievert begrenzt wird. Das ist immerhin, so habe ich mir sagen lassen, eine Herabsenkung auf etwa ein Fünftel. Mit der Niedrigstrahlung im Umkreis eines Atomkraftwerkes hat diese Niedrigstrahlung von Atombomben in Japan aber beim besten Willen nichts mehr zu tun. In den Anhörungsprotokollen habe ich gefunden, daß der Atomenergiekritiker Dr. Kuni einen weitergehenden Vorschlag gemacht hat. Er meinte: Man muß nicht nur die Risikofaktoren um zehn erhöhen, sondern man muß zusätzlich auch den Grenzwert von 30 Millirem im Umkreis eines Atomkraftwerkes auf ein Zehntel senken. Das haben Sie inhaltlich als Forderung wiederholt. Auch wenn wir Herrn Dr. Kuni noch einmal anhören und wenn wir ihn meinetwegen zum Dauersachverständigen für den Ausstieg machen, bleibt aus meiner Sicht ein logischer Fehler in seiner Argumentation bestehen: Wenn wir auf Grund neuer Erkenntnisse etwas korrigieren müssen, nämlich die Ausgangsdaten und gleichzeitig vielleicht auch etwas an den Ableitungsmethoden, wenn man auf die Wirkung niedriger Dosen schließen will, kann man damit nur Grenzwerte in Frage stellen, die auf solchen Ableitungen beruhen. Frau Kollegin Wollny, ich bitte Sie herzlich, einmal nachzulesen, wie das 30 -Millirem-Konzept der Strahlenschutzverordnung für die Bevölkerung, das ja aus unserer Sicht bleiben soll, zustande kam. Das hat mit diesen Ableitungsversuchen überhaupt nichts zu tun. ({5}) Man hat schlicht und einfach diese berechneten Grenzwerte, die sich z. B. auch in EG-Empfehlungen niederschlagen, in diesem Punkt gar nicht zur Kenntnis genommen. Man hat sie auf die Seite geschoben. Man hat überlegt: Wie sind denn die Menschen von Natur aus belastet, wenn sie sich bei uns irgendwo in der Landschaft bewegen? Man hat gesagt: Das sind etwa 100 Millirem. Das Ganze schwankt stark je nach Höhenverhältnissen und je nach Eßgewohnheiten. In Deutschland beträgt die Abweichung etwa 30 Millirem. Wir muten unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Umkreis einer Atomanlage eine Strahlendosis zu, deren maximale Größe der mittleren Schwankung der natürlichen Strahlenbelastung bei uns in der Bundesrepublik Deutschland entspricht.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege - Dr. Friedrich ({0}): Ich bin beim letzten Satz.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das freut mich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb, Frau Kollegin Wollny, werden wir aus Vorsorgegründen bei den beruflich Exponierten etwas ändern. Aber wir meinen, daß das 30-Millirem-Konzept in dieser Bundesrepublik noch lange haltbar ist. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, die Tatsache, daß ich meiner Freude Ausdruck gegeben habe, bezog sich nur auf die Redezeit, nicht auf den Inhalt. Jetzt hat der Kollege Schütz das Wort.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lenzer ist gerade weggegangen. Ich wollte ihm bezüglich der vorgetragenen Position der Nordrhein-Westfalen sagen: Das war eine Position im Jahre 1982. Wir hatten in der Zwischenzeit Parteitagsbeschlüsse, und wir hatten Regierungserklärungen auch der Nordrhein-Westfalen, die diese Position aufgegeben haben. ({0}) Das soll er zur Kenntnis nehmen. Es gibt Situationen, in denen man lernfähig ist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, meine Damen und Herren, diese Lernfähigkeit ebenfalls zu entwickeln. ({1}) Ich will aber zum Thema Strahlenschutz und nicht zu Lernfähigkeiten reden. Aber vielleicht können Sie auch da Lernfähigkeiten entwickeln. Meine Damen und Herren, wer glaubte, daß die katastrophalen Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl neben der intensiveren Diskussion über die Gefahr radioaktiver Strahlen eine auch im Ergebnis schärfere Grenzwertbestimmung im Strahlenschutz auslöst, sieht sich eines anderen, eines Schlechteren belehrt. Das Gegenteil ist richtig: Der Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung wird eher systematisch aufgeweicht. Die wichtigsten Etappen sind: Das Strahlenschutzvorsorgegesetz erlaubt der Bundesregierung, Grenzwerte in Unfallsituationen zu entschärfen; die EG-Grenzwerte für Lebensmittel liegen zehnfach über den Grenzwerten nach Tschernobyl. Die neue Strahlenschutzverordnung bringt keine substantiellen Verbesserungen und läßt neue Erkenntnisse unberücksichtigt. ({2}) Auch die natürliche Strahlenbelastung trägt zu der heute vorhandenen Zahl der Krebsfälle bei. Das ist unbestritten. Es gibt keine unschädliche Dosis. Jede zusätzliche Belastung erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken und daran zu sterben. Dieses Wissen hat möglicherweise auch die GRÜNEN veranlaßt, in dem hier vorliegenden Entschließungsantrag die Forderungen an die Bundesregierung so merkwürdig vage und unpräzise zu formulieren. Da stimme ich Herrn Friedrich zu. Er hätte sich allerdings auf unser Kernenergieabwicklungsgesetz konzentrieren können; dort stehen konkrete Werte. ({3}) Die GRÜNEN werfen lediglich die bekannten Probleme auf, die eine deutlich andere Bewertung von Grenzwerten erfordern, und wollen die Konkretisierung offensichtlich erst nach einer Expertenanhörung vornehmen. Eine derartige Anhörung ist sicherlich nicht schädlich, Frau Wollny. Sie wird uns aber keine überraschenden neuen Erkenntnisse vermitteln, die wir durch Lektüre oder an anderer Stelle, etwa bei der Anhörung der SPD zum Antrag ihres Kernenergieabwicklungsgesetzes oder jüngst in Münster bei dem Symposium zur Wirkung niedriger Strahlendosis auf den Menschen, nicht bereits gewonnen hätten. ({4}) Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, meine Damen und Herren, daß die entscheidenden Kenntnisse endlich umgesetzt werden. Das ist das Gebot der Stunde. ({5}) Offensichtlich werden beispielsweise die neuen Diskussionsergebnisse der Untersuchungen an den Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki, die heute eine wesentliche Datenbasis zur Abschätzung des Strahlenrisikos darstellen, noch nicht voll zur Kenntnis genommen. ({6}) Weil auf Grund neuerer Bewertung wohl zweifellos von einer wesentlich niedrigeren festgesetzten Strahlendosis bei Atombombenexplosionen auszugehen ist, mußten die daraus abgeleiteten Risikozahlen in Richtung einer Risikoerhöhung korrigiert werden. Bisher hat lediglich die britische Strahlenschutzbehörde Konsequenzen aus den neuen Daten gezogen. Sie hat empfohlen, den Grenzwert für beruflich Strahlenexponierte von fünf Rem pro Jahr auf 1,5 Rem pro Jahr herabzusetzen. Ich frage: Wann werden bei uns endlich Konsequenzen bei der Formulierung der Strahlenschutzverordnung in gleicher Weise gezogen? ({7}) Bei der Frage: Welche Strahlenschutzwerte sind von den Bürgern zu akzeptieren? geht das heutige Individualisierungskonzept des Strahlenschutzes von dem Vergleich mit anderen zivilisatorischen Risiken, denen der einzelne Bürger gemeinhin ausgesetzt ist, aus. ({8}) Danach wären bei erhöhten Zivilisationsrisiken wohl auch höhere, weitere und andere hinzukommende Risiken im Strahlenschutz tolerierbar. Daß eine derartige Risikoakkumulation nicht hinnehmbar ist, versteht sich meines Erachtens von alleine. In einer Abhandlung habe ich den überzeugenden Vergleich gefunden, daß die unfallbedingte Amputation eines Beines nicht zur Rechtfertigung benutzt werden kann, es für gesundheitlich zumutbar zu halten, auch noch den kleinen Finger abzuhacken. ({9}) Das hat mich überzeugt. Wann spielt die Bundesregierung ihre sonst so gerne reklamierte Vorreiterrolle im Strahlenschutz endlich aus. Die Akkumulation von Strahlenrisiken ist also nicht hinnehmbar und muß auch gesetzgeberisch beachtet werden. Die bisherige Restrisikosicherheitsphilosophie der Strahlenschutzverordnung geht indessen noch davon aus, daß große Freisetzungen von Radioaktivität auf Grund von Störfällen selten und eine Risikoakkumulation auf Grund von störfallbedingten Freisetzungen vernachlässigbar sei. Aber spätestens Tschernobyl hat uns gezeigt, daß dieses Restrisiko real ist und somit auch real wirkende Grenzwerte für das zumutbare Strahlenrisiko definiert werden müssen. Wir haben für unser Kernenergieabwicklungsgesetz derartige Überlegungen schon vor Tschernobyl, meine Damen und Herren, angestellt und in den Gesetzentwurf geschrieben. Wir wollen für die Übergangszeit bis zur Abschaltung aller Kernkraftwerke einen optimalen Schutz der Bevölkerung und der Beschäftigten vor dem Risiko radioaktiver Strahlung gewährleisten. Ich will hierzu zwei Hauptelemente nennen: Die bisherige Strahlenschutzverordnung und auch der uns zugängliche Entwurf vom April dieses Jahres kennen Grenzwerte nur für Einzelpersonen, die sogenannte Individualdosis, die zum Teil auch auf Dosen für einzelne Organe konkretisiert bzw. spezialisiert werden. Wir haben in dem schon erwähnten Kernenergieabwicklungsgesetz darüber hinaus die Festlegung eines Grenzwertes für die von der betroffenen Bevölkerung erhaltene Kollektivdosis pro Jahr gefordert. Warum? Nach der Risikoabschätzung der internationalen Strahlenschutzkommission läßt sich die Auswirkung für die Bevölkerung berechnen, die etwa der vorgelegte Entwurf der Strahlenschutzverordnung noch hinnimmt. Was für den einzelnen ein Risiko ist, bedeutet für das Kollektiv der Bevölkerung Gewißheit. Auf der Basis der von der Strahlenschutzverordnung zugelassenen Grenzwerte und vorgelegten Berechnungen erkranken etwa bei einer Bevölkerung von 20 Millionen Menschen nach diesen Grenzwerten etwa 3 000 an Krebs und weitere 1 000 werden in den nachfolgenden Generationen mißgebildet. Dabei orientieren sich diese Beispiele an der unteren Grenze der Berechnung. Durch die Einführung einer Kollektivdosis muß auch für die Bevölkerung insgesamt ein notwendiger Allgemeinschutz gewährleistet werden. Durch eine analog zur Individualdosis bestimmte Kollektivdosis kann so sichergestellt werden, daß Langzeitschäden möglichst verhindert werden. Durch eine Festsetzung der Kollektivdosis wird beispielsweise erreicht, daß Standorte von kerntechnischen Anlagen auf engem Raum nicht möglich werden, weil dort die jeweiligen Individualdosisgrenzwerte eingehalten werden können, nicht aber die Kollektivwerte. Das würde uns nicht betreffen, wenn wir das annehmen, aber möglicherweise noch diese Bundesregierung. Das zweite Element ist die Absenkung des Grenzwertes für diejenigen, die durch ihren Beruf der Strahlung ausgesetzt sind. Der Entschließungsantrag der GRÜNEN spricht dies grundsätzlich an und hat auch unsere Zustimmung. An dieser Stelle liegen zwischen dem Ansatz der Bundesregierung, soweit wir aus dem Entwurf der Strahlenschutzverordnung ihre Position erkennen, und unseren Positionen Meilen; ich will nicht sagen Welten. Wir wollen den Jahreswert der beruflich strahlenexponierten Personen von fünf Rem pro Jahr auf ein Rem reduzieren. Die von der Bundesregierung vorgesehene Begrenzung der Lebenszeitdosis allein reicht nicht aus. Ein Risikovergleich mit anderen Industriezweigen zeigt, daß bei Ausschöpfung von fünf Rem pro Jahr ein vergleichbares Sterberisiko nur noch im Bergbau besteht, während bei normaler industrieller Tätigkeit fünffach und bei besonderer sicherheitsindustrieller Tätigkeit sechzehnfach geringere Risiken vorhanden sind. Das ist nach unserer Vorstellung so nicht hinnehmbar. Eine deutliche Absenkung der Dosisgrenzwerte für beruflich Strahlenexponierte ist unabdingbar erforderlich, um auch ihnen den grundrechtlichen Schutz auf Leben und Gesundheit zukommen zu lassen. Meine Damen und Herren, ich habe die Hauptpunkte des grünen Entschließungsantrages kurz aufgegriffen und den dargelegten Positionen im Grundsatz zugestimmt. Dies fiel mir um so leichter, weil wir seit langem über wesentlich konkretere und präzisere Positionen in unserem Kernenergieabwicklungsgesetz verfügen. Einer Forderung des Entschließungsantrages will ich nur teilweise zustimmen. Ich halte es für voluntaristisch, wenn die GRÜNEN schlicht fordern, die Strahlenschutzkommission und die Reaktorsicherheitskommission nach Hause zu schicken. Nicht jede Aufgabenstellung dieser Kommissionen ist unsinnig, sondern problematisch ist für viele die Frage geworden, ob uns die „Strahlenschützer schützen" und ob sie ein „Feigenblatt der Industrie" geworden sind - so zwei Titel, die sich mit der Rolle der Kommissionen beschäftigen. Wir können doch im Ernst nicht davon ausgehen, daß bis zur Stillegung aller Atomanlagen und unter Berücksichtigung, daß unsere Nachbarn möglicherweise noch etwas länger derartige Anlagen betreiben und Strahlenschutzprobleme nicht nur im Zusammenhang mit kerntechnischen Anlagen auftreten, Strahlenschutzmaßnahmen nicht mehr erforderlich sind. Wir brauchen weiter den Rat von Strahlenschutzkommissionen, allerdings einen Rat, der auch kritische Positionen in der Weise berücksichtigt, wie sie in den Gremien selber geäußert und entwickelt werden. ({10}) Wir fordern daher eine Neu- und Umbesetzung mit den Strahlenschützern, die jetzt etwa unter dem Dach des BUND versammelt sind. Auf den fachlichen Rat einer so besetzten Strahlenschutzkommission sind wir Politiker angewiesen. ({11}) Die Strahlenschutzverordnung kann - das habe ich kurz skizziert - in der vorliegenden Form nicht unsere Zustimmung erhalten. Sie muß von Grund auf völlig neu beraten werden. Deshalb stimmen wir dem Überweisungsantrag an die Ausschüsse zu. Wir brauchen eine Strahlenschutzverordnung, die den noch vorhandenen und bleibenden Umgang mit Strahlen zum Schutze aller regelt. Wir wissen allerdings, daß der beste und wirksamste Schutz die Beendigung der kommerziellen und militärischen Nutzung der Atomenergie ist. Wenn Risiken nicht entstehen, brauchen Risiken auch nicht minimiert zu werden. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, wir haben gemeinsam in früheren Regierungen Strahlenschutzpolitik gemacht. Wenn die SPD die Kernenergie jedenfalls für eine Übergangszeit von zehn Jahren für verantwortbar hält, hält sie wohl auch die Strahlenexpositionen für verantwortbar. Ich jedenfalls halte sie für verantwortbar. Ich bin allerdings der Meinung, daß wir allen Hinweisen auf Gefährdungen nachgehen müssen. Deshalb sind diese Untersuchungen, die im Zusammenhang mit Hiroshima und Nagasaki angestellt worden sind, sicherlich wichtig. Die Bundesregierung wird sie in ihre Überlegungen einzubeziehen haben, und sie tut das. Nur bin ich so informiert, daß eine Konsequenz im Moment noch nicht gezogen werden kann. Wenn sie gezogen werden kann, muß sie im Interesse der Strahlensicherheit, des Strahlenschutzes in der Bundesrepublik Deutschland gezogen werden. Ich bin überhaupt der Meinung, daß wir hier nicht abschließend die Strahlenschutzverordnung diskutieren können und sollten; das werden wir noch tun. Sie liegt endgültig ja noch gar nicht vor. Wir werden sie dann zu beurteilen haben. Allerdings möchte ich hier dem Eindruck der Kollegin Wollny entgegenwirken, als sei unsere Bevölkerung sozusagen ungeschützt der Strahlung ausgesetzt. Das ist nicht der Fall. Wenn Sie sich beispielsweise erinnern, Frau Kollegin, daß sich diese Bundesregierung in Europa bemüht hat, zu Grenzwerten zu gelangen, die aus unserer Sicht akzeptabel sind, und daß die anderen europäischen Staaten das abgelehnt haben, dann können Sie nicht bestreiten, daß wir in besonderer Weise für den Strahlenschutz sensibel sind, und das waren wir immer. Ich war in der Bundesregierung dafür verantwortlich. Ich habe immer nach dem Prinzip gehandelt, daß die Sicherheit, auch die Sicherheit vor Strahlen, absoluten Vorrang vor anderen Überlegungen haben muß. Sie erwecken mit Ihren Äußerungen, die Sie hier gemacht haben, Eindrücke, und Sie schüren Ängste, die so überhaupt nicht berechtigt sind. Aber das haben wir in diesem Hause schon ein paarmal erlebt. Ich meine, wir sollten uns sachlich mit dem Notwendigen auseinandersetzen. ({0}) - Überhaupt nicht Wegtauchen. Ich erinnere mich z. B. der jährlichen Berichte über die Strahlenexposition in der Bundesrepublik Deutschland. Diese ist in bestimmten ärztlichen Praxen wesentlich höher als sonst. Die Strahlenexposition, die sich ergibt, wenn wir zu bestimmten Ärzten gehen, liegt weit über der normalen Strahlenexposition. ({1}) - Nein, Herr Kollege Lennartz; es ist doch wohl nicht Aufgabe der Opposition, auf der Grundlage unberechtigter Ängste, die geschürt werden, ihre Politik zu machen. ({2}) Sie müssen sachlich diskutieren. Es gibt nichts Unverantwortlicheres, als daß mit wirklich schwer durchschaubaren technischen Vorgängen und Bewertungen nun Ängste geschürt werden. Das hat die Frau Kollegin Wollny, die ich hier angesprochen habe, in besonderer Weise getan. Sie haben Kritik an Maßnahmen der Bundesregierung geübt. Ihnen geht das nicht weit genug. Darüber werden wir uns auseinandersetzen. Ich bin auch der Meinung - ich sage das noch einmal - , daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse, also diejenigen, die die Japaner über die Niedrigstrahlung gemacht haben, einbezogen werden müssen. Die Bundesregierung tut das. Ich habe mich darüber informiert. Ich bin auch der Meinung, daß die Grenzwerte für beruflich strahlenexponierte Personen zu senken sind. Ich gehe davon aus, daß es in der Strahlenschutzverordnung geschieht. ({3}) - Er wird es jetzt erklären; Sie werden es ja gleich hören. Ich brauche hier also überhaupt keine Mahnungen und Belehrungen, wie sie in dem Antrag der GRÜNEN enthalten sind. Ich habe mich als Innenminister immer des Rates der Strahlenschutzkommission und der Reaktorsicherheitskommission bedient. Ich möchte hier nicht zwischen kritischen und unkritischen Wissenschaftlern unterscheiden. Wissen Sie, das ist eine gängige Art. Ich habe damals nur die Meinung vertreten, es sollten ruhig auch ein paar Leute drin sein, die die Kernenergie ablehnen; sie müssen allerdings qualifizierte Wissenschaftler sein. Allein die Tatsache, daß sie die Kernenergie ablehnen, rechtfertigt nicht ihre Berufung in diese Kommission. ({4}) Ich möchte fachlich fundiert beraten werden; das ist für mich das ausschlaggebende Kriterium. Natürlich müssen - da haben Sie recht, Herr Schütz - diese Kommissionen bestehen bleiben. Ich kann nicht sagen, daß ich gegenüber den Ratschlägen und gegenüber den Gutachten dieser Kommission Mißtrauen hätte. Außerdem gibt es ja noch die uns und die dem Parlament verantwortliche Bundesregierung, mit der wir z. B. heute hier diskutieren. Wir sind ja nicht darauf angewiesen, daß wir diese Ratschläge einfach über7116 nehmen. Wir sind in der Lage, sie kritisch zu bewerten. Nach Tschernobyl hat sich die Bundesregierung auf unseren Wunsch hin erneut mit den Sicherheitsvorkehrungen in Sachen Kernenergie auseinandergesetzt. Es gibt ein Arbeitsprogramm der Bundesregierung vom September 1986 zu den sicherheits-, gesundheits-, forschungs- und energiepolitischen Folgen. Es gibt das Strahlenschutzvorsorgegesetz; die Strahlenschutzverordnung soll novelliert werden; wir werden ein Bundesamt für Strahlenschutz einrichten. Wir haben hier also erneut Konsequenzen aus neuen Tatbeständen und Erkenntnissen gezogen. Ich sage für meine Fraktion: Das werden wir auch künftig tun. Wir werden alle Erkenntnisse, die Veranlassung geben, die Werte und die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern, berücksichtigen. Wir haben hier volles Vertrauen in die Bundesregierung, daß auch sie dies tut. Wir gehen davon aus, daß der Schutz der Bevölkerung wirklich Vorrang vor allen anderen berlegungen hat. Ich scheue mich vor Superlativen. Aber ich kenne kaum ein Land, in dem so intensiv Vorsorge gerade im Bereich der möglichen Folgen der Kernenergie betrieben wird. Für meine Partei ist die Kernenergie - wir haben das vor der Sommerpause noch einmal bekräftigt - eine Übergangsenergie. Wir haben kein Ausstiegsszenario wie Sie von der SPD. Aber wir wollen keine neuen Leichtwasserreaktoren, und wir haben auch andere Entscheidungen getroffen. Es besteht jedoch für uns kein Zweifel, daß die Kernenergie, so wie wir sie hier betreiben, verantwortbar ist. Alles andere müßte uns ja zu dem unbedingten Schluß führen, daß die Kernenergie sofort heute am Tage abzuschalten sei. Wir halten sie unter den Bedingungen, die wir in verschiedenen Regierungen selber gesetzt haben, für verantwortbar. Ich wiederhole: Wir werden bei jeder notwendigen Fortschreibung des Sicherheitskonzepts mitwirken. Hier sind wir in Europa an der Spitze derjenigen, die Vorsorge leisten. Danke. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl. ({0})

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Das habe ich mich auch schon gefragt. Es fiel mir schon des öfteren auf. Ich werde es beim nächsten Tagesordnungspunkt einmal probieren. Wir dürfen wohl davon ausgehen, daß dieser Antrag eine Mehrheit gegen sich finden wird. Was für Sie überraschend sein dürfte, ist, daß ich mich zu dieser Mehrheit gesellen werde: Ich werde gegen diesen Antrag stimmen! Allerdings mit einer ganz anderen Begründung als die meisten - vor allen Dingen die beiden Regierungsfraktionen - in diesem Hause. ({0}) - Das hören Sie jetzt gleich, Herr Baum. Ich verstehe nicht, was dieser Antrag von den GRÜNEN soll. Im ersten Teil wird eine durchaus zutreffende Analyse vorgenommen, zu der Sie ja auch die Zustimmung der SPD bekommen haben. Ich fasse das kurz zusammen. Erstens: der Betrieb von Atomanlagen generell. „Eine weitere Zukunft der Atomenergienutzung" , so steht hier, „ist nicht zu verantworten, ...". Das ist zutreffend. Zweitens: nach Tschernobyl. Ich zitiere: Alle bisher ergriffenen Maßnahmen sind auf den ungehemmten Warenfluß orientiert und dienen dazu, sich auf die nächste Reaktorkatastrophe verwaltungstechnisch vorzubereiten. Das ist richtig. Drittens: Strahlenschutzpolitik. Ich zitiere: Die wahrscheinlichen Erkrankungen nicht zu berücksichtigen, spiegelt den Zynismus in der heutigen Strahlenschutzpolitik wider. Viertens: Strahlenschutzkommission und Reaktorsicherheitskommission. Diese Gremien haben sich „endgültig als Handlanger der Atomindustrie und willfährige Erfüllungsgehilfen einer Politik entlarvt, die weiterhin auf die Nutzung der Atomenergie setzt". Das ist richtig. Fünftens: Novellierung der Strahlenschutzverordnung. Die Novellierung der Strahlenschutzverordnung steht „im krassen Widerspruch zum § 1 Abs. 2 Atomgesetz" - ich füge hinzu: auch zum Grundgesetz -, „der nicht nur Bezug nimmt auf den Schutz des Lebens, sondern auch der Gesundheit" . Das ist richtig. Sechstens: Strahlenschutzpolitik. Ich zitiere: Aus diesem Grunde hat .. . - der Strahlenschutz jegliche zusätzliche Belastung der Bevölkerung durch künstliche Strahlenquellen allein an gesundheitlichen Vor- und Nachteilen für die Betroffenen zu messen. „Vorteile" könnte man streichen. - Aber das ist natürlich auch richtig. Was wird im zweiten Teil dieses Antrags gefordert? Man läßt sich auf einen Nebenkriegsschauplatz ein. Es wird um irgendwelche Grenzwerte, um technische Fragen, um die Umsetzung von Plausibilität oder auch Akzeptanz in der Bevölkerung gekämpft. Ich weiß nicht, was das soll. Die GRÜNEN haben es auch gar nicht nötig, sich auf einen solchen Nebenkriegsschauplatz zu begeben. Das hat die SPD auch sehr gut aufgezeigt. Ihr Sprecher hat z. B. dazu ausgeführt, dieser Antrag sei in seinem zweiten Teil vage und wenig konkret. Das machen die Sozis schon längst besser. In der Tat, damit kann man politisch keinen Blumentopf gewinnen. Mir ist völlig schleierhaft, was eine solche Stoßrichtung bewirken soll, außer daß man hier einmal wieder reden kann. Es darf einfach nicht passieren, daß man sich mit den Leuten einläßt, die das Atomgesetz fabriziert haben. Dazu gehören auch die Sozialdemokraten. Denn das Atomgesetz ist gemacht worden, um Atomanlagen betreiben zu können, und nicht, um irgend etwas im Bereich des Gesundheitsschutzes - das alles ist ja längst ausgehebelt - zu verbessern. Das hört sich jetzt sehr fundamentalistisch an. Ich möchte Ihnen aber sagen: alles an seiner Stelle. Ich habe nicht nur das Ausstiegsprogramm für Schleswig-Holstein - jedenfalls für den damaligen Landesverband, dem ich angehörte - entwickelt, sondern ich war auch als Kläger tätig. Ich habe gegen den größten Siedewasserreaktor der Welt geklagt, der auf unserem Stadtgebiet in Geesthacht steht. Ich meine das AKW Krümmel. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die ständigen Probleme mit der Niedrigstrahlung, die von den beiden Forschungsreaktoren der GKSS, einem der drei Kernforschungszentren in der Bundesrepublik, ausgeht. Wir haben in unserem Stadtgebiet auch noch eine Sammelstelle für leicht- und mittelradioaktiven Müll. Ich habe mir in Gerichtssälen Nächte um die Ohren gehauen. Wir haben einen Prozeß geführt, der den technisch höchsten Standard zum Gegenstand hatte, ausgenommen bestimmte Probleme und Pilotprojekte wie THTR, wie Wiederaufbereitungsanlage und vergleichbares. Da macht es auch Sinn - das ist jetzt an die Adresse der GRÜNEN gerichtet - , sich in solch eine Fachdiskussion zu begeben. Da kann die Bauzeit verlängert werden, da können die Kosten hochgedrückt werden, was mit einem verbesserten Schutz der Bevölkerung korreliert. Aber man darf sich doch nicht im politischen Raum auf diesen Nebenkriegsschauplatz begeben und dort um Grenzwerte kämpfen. Mir ist dies in der Tat, wie schon zweimal ausgeführt, nicht verständlich. Dieser Tagesordnungspunkt bildet einen fließenden Übergang zu den beiden folgenden Tagesordnungspunkten, nämlich betreffend die Reform des Umwelthaftungsrechts - da wird natürlich niemand haften, wenn in Jahrzehnten oder Jahrhunderten die tatsächlichen Schäden festzustellen sind - und den Vierten Immissionsschutzbericht der Bundesregierung. Die GRÜNEN entwickeln einen Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt gewissermaßen nach dem Motto, daß wir als Deutsche uns anmaßen, daß das Grundgesetz als Maßstab über eine Zeitspanne von 40 000 Jahren herhalten soll. Das Grundgesetz ist ja nicht das schlechteste. Es ist sogar sehr gut an vielen Stellen, auch wenn vieles nicht umgesetzt ist. Aber, ich bitte Sie, wenn Sie in diesem Bereich einen solchen Maßstab anlegen - da wir 40 000 Jahre im Auge behalten müssen - und sich dann mit solchen Kinkerlitzchen nach dem Motto: hie ein Grenzwertchen niedriger und da eines mehr herumschlagen - wohlgemerkt: im politischen Raum - , dann halte ich dies für völlig verfehlt, und ich werde meine Ankündigung wahrmachen und gegen diesen Antrag stimmen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN, die durch Abwesenheit glänzt, enthält im wesentlichen die Forderungen, aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie auszusteigen, den Entwurf der Novelle zur Strahlenschutzverordnung zurückzuziehen und die einschlägigen wissenschaftlichen Beratungsgremien meines Hauses, d. h. die Reaktorsicherheitskommission und die Strahlenschutzkommission, aufzulösen und durch Gremien zu ersetzen, die nicht nach wissenschaftlicher Qualifikation besetzt sind, sondern dem Proporz gesellschaftlicher Gruppen folgen sollen. Die Bundesregierung hält es für gegenüber den Bürgern dieses Landes und auch gegenüber unseren Nachbarn nicht verantwortbar, diesen Forderungen zu entsprechen. Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist auch in Kenntnis ihrer besonderen Sicherheitsanforderungen und Entsorgungsnotwendigkeiten in absehbarer Zeit nicht ersetzbar, wenn nicht unübersehbare ökologische und ökonomische Risiken in Kauf genommen werden sollen. ({0}) Die durch fossile Energieträger erzeugten CO2-Treibgase, also der Treibhauseffekt, sind der größte Faktor einer - und zwar schon in absehbarer Zeit - zu befürchtenden weltweiten Klimakatastrophe. Die sogenannten alternativen Energien werden trotz unserer enormen Anstrengungen in der Forschung in absehbarer Zeit bei uns und weltweit noch keine große Rolle für die Energieerzeugung spielen. Neben der Kostenseite war das wohl der wichtigste Grund, warum sich die UNO-Vollversammlung im November 1986 für den weiteren Ausbau der Kernenergie ausgesprochen hat. Die deutschen Kernkraftwerke haben - dies hat die vom Bundesumweltminister nach Tschernobyl veranlaßte Sicherheitsüberprüfung durch die Reaktorsicherheitskommission ergeben - einen hohen Sicherheitsstandard, der laufend weiter optimiert wird. Solche Überprüfungen nach dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik wird es auch in Zukunft geben. ({1}) Der Bundesumweltminister braucht für die Erfüllung seiner Aufgaben „Reaktorsicherheit und Strahlenschutz" qualifizierte wissenschaftliche Beratung. Es ist mir ein Anliegen, den in der Reaktorsicherheitskommission und in der Strahlenschutzkommission tätigen Wissenschaftlern für ihre verantwortungsvolle Arbeit ein herzliches Wort des Dankes zu sagen. ({2}) Diese Wissenschaftler haben zusammen mit uns erreicht, daß die umfangreichen bundesdeutschen Sicherheitsmaßnahmen wegen ihres besonders hohen Standards in der ganzen Welt anerkannt werden. Dies wurde nicht zuletzt durch die Internationale Atomenergieorganisation bzw. deren Überprüfungsteam, die OSART, für die von ihr überprüften deutschen Kernkraftwerke bestätigt. Es kommt nicht von ungefähr, daß so viele Staaten - erfreulicherweise auch unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa - durch Strahlenschutzabkommen mit der Bundesrepublik größtes Interesse an unserem Know-how der Reaktorsicherheit und des Strahlenschutzes zeigen und mit unseren Fachleuten ins Gespräch kommen wollen. Sie wollen Nutzen für die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerung daraus ziehen. Jüngstes, auch heute diskutiertes Beispiel: die Sowjetunion. ({3}) Sie, die GRÜNEN, wollen diese hervorragenden Wissenschaftler und Techniker durch ein auf Gruppenproporz aufgebautes Gremium ersetzen, das die Interessen von Arbeitnehmern, Bevölkerung, Patienten und Natur vertreten soll, warum nicht auch von Musikanten und Trachtenvereinen? Wer vertritt denn die Interessen der Bürger, und zwar aller Bürger? Doch nicht ein solches Gremium; vielmehr ist es unsere vornehmste Aufgabe hier im Deutschen Bundestag. Die Forderung der GRÜNEN, die Novelle zur Strahlenschutzverordnung zu vertagen, ist mit dem Streben nach ständiger Verbesserung des Strahlenschutzes nicht vereinbar. Die Bundesregierung wird deshalb demnächst über den Entwurf beschließen und ihn dem Bundesrat zuleiten. Die Strahlenschutzkommission hat im Dezember 1987 die Einführung einer Dosisbegrenzung für die Lebensarbeitszeit beruflich strahlenexponierter Personen empfohlen. Sie hat hierzu den gegenwärtigen Stand der Diskussion in der Internationalen Strahlenschutzkommission, ICRP, zum Strahlenrisiko berücksichtigt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, der Abgeordnete Schütz möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Nein, ich lasse sie nicht zu. Ich möchte gerne in einem Zug reden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, das ist Ihr gutes Recht.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Zum Schutz der Arbeitnehmer ist daher jetzt zusätzlich eine Dosisbegrenzung von 400 mSv für das ganze Berufsleben in der Strahlenschutzverordnung vorgesehen. Diese liegt noch unter dem von Herrn Schütz als beispielhaft zitierten britischen Wert. Dies zeigt unser Ziel: Wir greifen neue Erkenntnisse sofort auf, um die Minimierung der Strahlenexposition zu erreichen. Die Strahlenschutznovelle hat das Ziel ({0}) - ich würde Ihnen empfehlen, zuzuhören, sonst versäumen Sie etwas, sonst müssen Sie es nachlesen -, den Strahlenschutz für die Bevölkerung und für die in Anlagen für die friedliche Nutzung der Kernenergie Tätigen weiter zu verbessern. Wenn auch die Vorgaben der Europäischen Gemeinschaften nur 500 Millirem vorsehen, so wird die Bundesregierung das strengere 30-Millirem-Konzept für die Begrenzung von Emissionen mit dem Ziel eines wirkungsvollen Bevölkerungsschutzes beibehalten. ({1}) - Es geht noch weiter. Das neu eingeführte Modell der sogenannten effektiven Dosis bewirkt durch Berücksichtigung der Strahlenrisiken für einzelne Organe und Gewebe auch in ihrer kumulativen Wirkung eine zusätzliche Begrenzung der Strahlenexposition und damit eine Verschärfung der Verordnung. ({2}) - Eine Verschärfung der Verordnung. Entgegen der Behauptung im Antrag der GRÜNEN wird die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit von Schwangeren und Kleinkindern bereits jetzt in der Strahlenschutzverordnung durch Grenzwerte und Dosisfaktoren berücksichtigt. ({3}) - Das können wir Ihnen zitieren. Neben der effektiven Dosis sind die Organdosisgrenzwerte einzuhalten, die ebenfalls überwiegend strenger als im internationalen Vergleich sind. ({4}) Die Bundesregierung verfolgt eine konsequente Strahlenschutzpolitik. Dies zeigt sich auch in der Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz, das mit gebündeltem Sachverstand seine beratende und hoheitliche Funktion Mitte nächsten Jahres aufnehmen soll. Ich muß es mir versagen, auf die vielen anderen Behauptungen hier im einzelnen einzugehen. Doch auf eines möchte ich noch hinweisen: Die Strahlenbelastung aus kerntechnischen Anlagen ist gegenüber der Strahlenbelastung aus sonstigen künstlichen Quellen oder auch gegenüber der natürlichen Strahlenexposition in der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise so gering, daß sie vernachlässigt werden kann. Wer sich darüber wirklich informieren will, sollte den Bericht der Bundesregierung über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung in den Jahren 1983/84/85 - das ist die Drucksache 11/949, Herr Lennartz - lesen. Die Strahlenbelastung durch Kernkraftwerke und sonstige kerntechnische Anlagen lag in diesen Jahren unter 1 mrem und damit bei weniger als 1 % des Beitrags der natürlichen Strahlenexposition. Ein Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist also mit der Strahlenbelastung offenkundig nicht begründbar. Ein Ausstieg ist im Gegenteil nicht zu verantworten, wenn man an den ständig steigenden Energiebedarf der wachsenden Weltbevölkerung und die gleichzeitig notwendige Einschränkung des Gebrauchs fossiler Energieträger aus Klimaschutzgründen denkt. Ich danke Ihnen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann. Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. So darf ich dies als beschlossen feststellen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bachmaier, Gautier, Kiehm, Dr. Pick, Schäfer ({0}), Dr. Schöfberger, Schütz, Singer, Dr. de With, Dr. Däubler-Gmelin, Dr. Hauff, Klein ({1}), Schmidt ({2}), Stiegler, Wiefelspütz, Blunck, Conrad, Dr. Hartenstein, Lennartz, Müller ({3}), Reuter, Stahl ({4}), Weiermann, Amling, Becker-Inglau, Dr. Böhme ({5}), Gerster ({6}), Gilges, Dr. Götte, Jaunich, Rixe, Schmidt ({7}), Seuster, Wittich, Schanz, Conradi, Fischer ({8}), Jansen, Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Reimann, Waltemathe, Adler, Bamberg, Bernrath, Buschfort, Dr. Dobberthien, Egert, Dr. Emmerlich, Großmann, Haack ({9}), Dr. Hauchler, Heyenn, Ibrügger, Kretkowski, Schmidt ({10}), Tietjen, Traupe, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Reform des Umwelthaftungsrechts - Drucksache 11/2035 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({11}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat vor, daß wir die Beratung auf eine Stunde begrenzen. - Das Haus scheint damit einverstanden zu sein. So darf ich auch dies als beschlossen feststellen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren wissen wir, daß unser geltendes zivilrechtliches Schadensersatzsystem weithin ungeeignet ist, einen gerechten Schadensausgleich bei umweltbedingt entstandenen Schäden zu gewährleisten. Nur für einen verschwindend kleinen Teil des materiell bezifferbaren Schadens an der Umwelt muß Schadensersatz von den Schadensverursachern gezahlt, d. h. effektiv geleistet werden. Dieser Schaden an der Umwelt wird von denjenigen, die das einmal hochgerechnet haben, auf jährlich weit über 100 Milliarden DM beziffert. Wir wissen auch, meine Damen und Herren, wo die Schwachstellen liegen, die das Haftungsrecht zu einer stumpfen Waffe gegen diejenigen gemacht haben, die diese Schäden verursachen. In aller Regel befinden sich die Geschädigten in Beweisnot, weil sie meist nicht in der Lage sind, den Beweis dafür zu erbringen, daß der entstandene Schaden von einem oder mehreren bestimmten Schädigern verursacht worden ist. Nur im Bereich des Wasserrechts gilt bislang die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung. In allen anderen Bereichen muß dem Schädiger auch noch ein individuelles Verschulden angelastet werden, wenn er zum Schadensersatz herangezogen werden soll. Nach wie vor haben diejenigen, die umweltgefährdende Anlagen mit hohem Schadenspotential betreiben, nicht die Pflicht, Deckungsvorsorge zu treffen, so daß durch den Betrieb der Anlage eintretende Umweltschäden tatsächlich in jedem Fall ausgeglichen werden können. Wenn, wie in den meisten Fällen der Luftverschmutzung, Schäden durch das Zusammenwirken vieler Emissionsquellen oft über weite Entfernungen hinweg entstehen, wo es sich also, wie beim größten Teil der Waldschäden, um sogenannte Summations- und Distanzschäden handelt, können auch Verbesserungen des Schadensersatzrechts zu keinen befriedigenden Lösungen führen. Hier müssen grundsätzlich neue Wege beschritten werden, um den Geschädigten Ersatz für die oft ganz erheblichen Schäden erbringen zu können. Konnte man nach den Koalitionsvereinbarungen und der Regierungserklärung noch davon ausgehen, daß die gravierenden Mängel des Umwelthaftungsrechts nicht nur erkannt, sondern in dieser Legislaturperiode auch beseitigt werden würden, so wissen wir mittlerweile, daß von dieser Bundesregierung weder Verbesserungen des Umweltstrafrechts noch des Umwelthaftungsrechts erwartet werden können. Diese Bundesregierung besitzt noch nicht einmal die Kraft dazu, mit uns Sozialdemokraten zusammen - wir haben in weiten Teilen unsere Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit angeboten -, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz so zu verankern, daß er in unserer Verfassung den Rang erhält, der dieser lebenserhaltenden Aufgabe tatsächlich zukommt. ({0}) Ähnlich wie beim Umweltstrafrecht werden wir, wird die Bevölkerung, von der Bundesregierung und den zuständigen Ressortministern ständig nur hingehalten. Ich kann dies an einem Beispiel belegen. Noch am 5. Juni 1987 versprach Bundesumweltminister Töpfer im Bundesrat, daß die von der Bundesregierung eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe zur Reform des Umwelthaftungsrechts und des Umwelt7120 Strafrechts ihren Bericht noch im Jahre 1987 vorlegen werde. ({1}) Ich habe die Belegstelle hier. Bekannt ist bisher lediglich, daß das Justiz- und das Umweltministerium völlig zerstritten darüber sind, ob und in welchem Umfang die Reform des Umwelthaftungsrechts vorgenommen wird. Darüber hinaus ist es ja kein Geheimnis, daß dem FDP-geführten Wirtschaftsministerium die ganze Richtung nicht paßt, weil man dort befürchtet, daß diejenigen endlich zur Kasse gebeten werden, die anderen und unserer Umwelt oft nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen. ({2}) - Sie brauchen z. B. nur gewisse Protokolle von der Bennigsen-Stiftung nachzulesen; dann werden Sie das erkennen. ({3}) Ich wäre gerne dabei gewesen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wissen doch ebenso wie wir, daß uns ein ökologischer Nachtwächterstaat, dem nur daran liegt, der Wirtschaft vermeintlich optimale Wachstumsbedingungen zu verschaffen, immer weiter in eine lebensbedrohliche ökologische Krise treibt. ({4}) Unser Antrag, meine Damen und Herren, den wir heute in erster Lesung beraten und den wir bereits vor einem halben Jahr im Bundestag eingebracht haben, stellt unter Beweis, daß wir Sozialdemokraten entschlossen sind, das Haftungsrecht im Umweltbereich so zu reformieren, daß nicht weiterhin die Umwelt zum Nulltarif in Anspruch genommen werden kann ({5}) und den Umweltgeschädigten Tag für Tag ersatzlos weiterer Schaden zugefügt wird. ({6}) Wir bieten Ihnen nach wie vor unsere konstruktive Mitarbeit an. Wir haben dies schon mehrfach getan. Ein wirksam ausgestaltetes Umwelt-Schadenersatzrecht führt nicht nur dazu, daß diejenigen, die zu ihrem eigenen Vorteil anderen Schaden zufügen, tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden. Ein effektiv ausgestaltetes Umwelthaftungsrecht ist auch ein wichtiger Beitrag zu einer wirksamen Umweltvorsorge. ({7}) Wissen nämlich diejenigen, von deren Anlagen Gefahren ausgehen und Schäden verursacht werden, daß sie diese Schäden auf Heller und Pfennig zum Ausgleich bringen müssen, unabhängig davon, ob sich die Emissionswerte innerhalb genehmigter öffentlich-rechtlicher Richtwerte bewegen oder nicht, dann werden die Anlagenbetreiber schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen dafür Sorge tragen, daß Anlagen zum Einsatz kommen, von denen die geringsten haftungsrechtlichen Risiken ausgehen, die somit am wenigsten umweltbelastend sind. ({8}) Meine Damen und Herren, auch wir wissen, daß die überfällige Reform des Umwelthaftungsrechts schwierige juristische Probleme beinhaltet. Das ist kein Geheimnis. ({9}) Es ist aber offenkundig, meine Damen und Herren, daß diese Regierung weder den Willen noch die Kraft dazu hat, den Interessen der Umwelt den Vorrang vor wirtschaftlichen Einzelinteressen einzuräumen. Dort liegt nämlich der tatsächliche Grund, warum bis heute nichts geschehen ist und offensichtlich auch in dieser Legislaturperiode nichts geschieht. Nachdem die Defizite unseres Umwelthaftungsrechts weitestgehend bekannt sind, ist es Ihre und unsere Pflicht, die dringend gebotene Abhilfe endlich herbeizuführen. Unser Antrag enthält die vorrangigen Reformziele, über deren Berechtigung es eigentlich keinen Streit mehr geben sollte und die auf allen Ebenen in Wissenschaft und Politik weithin ausdiskutiert sind. Ich nenne sie kurz. Erstens. Die oft unerträgliche Beweisnot der Geschädigten muß beseitigt werden. Beim Nachweis, daß ein geltend gemachter Schaden von einem oder mehreren bestimmten Schädigern verursacht worden ist, müssen Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zugunsten der Geschädigten geschaffen werden. Zweitens. Die verschuldensunabhängige Haftung, also die Gefährdungshaftung, muß über den wasserrechtlichen Bereich hinaus auf das gesamte Umwelt-schadensersatzrecht ausgedehnt werden. ({10}) Drittens. Wer Schaden verursacht, hat für diesen Schaden einzutreten, unabhängig davon, ob die Richtwerte öffentlich-rechtlicher Genehmigungen eingehalten worden sind oder nicht. Das gebietet schon das Verursacherprinzip. Mit diesem muß man dann, wenn man die Gefährdungshaftung einführt, auch tatsächlich ernst machen. Viertens. Die Betreiber von umweltgefährdenden Anlagen müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, daß sie das aus dem Betrieb der Anlage sich ergebende Haftungsrisiko entweder durch eine Haftpflichtversicherung absichern oder eine anderweitige Deckungsvorsorge für Schadenersatzleistungen bereitstellen. Fünftens. In den Fällen, in denen es sich - wie beim größten Teil der Waldschäden - um sogenannte Summations- und Distanzschäden handelt, helfen nur Schadensersatzfonds weiter, will man nicht zur Staatshaftung greifen, ({11}) Schadensersatzfonds, die aus Abgaben der Emittenten entsprechend den von ihnen getätigten Emissionen gespeist werden und aus denen die Geschädigten den ihnen zustehenden Schadensersatz erlangen können. Meine Damen und Herren, nach dem Waldschadensurteil des Bundesgerichtshofs steht wohl außer Zweifel, daß der Gesetzgeber verpflichtet ist, Vorsorge dafür zu treffen, daß endlich in diesen Fällen angemessener Schadensausgleich erbracht wird. Wenn man die zivilrechtliche Haftung fortschreiben will, bieten sich in diesen Fällen wohl ausschließlich Schadensersatzfonds an. Die andere Alternative ist die Staatshaftung, und die will ich vermeiden. Meine Damen und Herren, es ist heute unbestritten, daß gerade ein Umwelthaftungsrecht, das der spezifischen Eigenart der Umweltschäden gerecht wird, entscheidend dazu beitragen kann, Umweltschäden drastisch zu reduzieren. Wenn Umweltverschmutzung allerdings weiterhin noch dadurch belohnt wird, daß nicht einmal ein angemessener Schadensersatz zu leisten ist, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auch aus diesem Grunde an der Umwelt weiterhin Raubbau getrieben wird. Deshalb ist es höchste Zeit, daß wir, möglichst gemeinsam und noch in dieser Legislaturperiode - allerdings ist diese Legislaturperiode schon zur Hälfte um - , den Versuch unternehmen, eine vernünftige und unser Umwelthaftungsrecht grundlegend verbessernde Lösung zu finden. Das muß jetzt geschehen; denn sonst wird dieses vor 1990 wiederum nicht geleistet werden können. Herzlichen Dank. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, enthält einleitende Feststellungen, denen wir durchaus zustimmen. Sie fordern wie wir umweltpolitische Instrumente mit vorsorgender Wirkung, die die wirtschaftlichen Interessen für den Umweltschutz nutzbar machen. Sie sehen wie wir in der Reform des Umwelthaftungsrechts ein wesentliches Element einer vorsorgenden Umweltpolitik, welche die marktwirtschaftliche Dynamik und die Eigenverantwortung der Wirtschaft aktiv in den Umweltschutz einbezieht. So weit, so gut. Die Forderungen Ihres Antrags im einzelnen sind jedoch nur schwer vereinbar mit diesen Vorgaben. So wollen Sie z. B. eine neue Gefährdungshaftung ohne jede Einschränkung auch für Langzeitschäden aus dem rechtmäßigen Anlagenbetrieb einführen. Auf diese Weise sollen die Unternehmen in die Pflicht genommen werden, die längerfristigen Folgen für die Umwelt bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Ich will Ihnen deutlich machen, welchem Denkfehler Sie hier erliegen. Nach geltendem Recht werden in einem Genehmigungsverfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit die Umweltauswirkungen einer Industrieanlage geprüft und Grenzwerte festgesetzt, bei deren Einhaltung der Betrieb der Anlage amtlich geduldet wird. Die Grenzwerte müssen dabei so gewählt sein, daß nach dem Stand von Wissenschaft und Technik sichergestellt ist, daß durch Errichtung und Betrieb der Anlage schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit nicht hervorgerufen werden. Die Gründe für dennoch entstehende Schäden können nur darin liegen, daß solche Schäden weder für die Behörde noch für den Betreiber vorhersehbar waren. Man kannte im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung eben nur bestimmte Eigenschaften eines Stoffes, oder es gab noch nicht die Meßverfahren, die später zu anderen Bewertungen führten. Wie sollen solche Fälle, wie Sie schreiben, bei der Entscheidungsfindung der Unternehmen berücksichtigt werden? Wie soll ein Unternehmer die Eigenschaften von Stoffen in seine Betriebskalkulation übernehmen, die er nicht kennt und nach Stand von Wissenschaft und Technik auch nicht erkennen kann? ({0}) Wie soll die Versicherungswirtschaft die davon ausgehenden Risiken bewerten und decken? ({1}) Das Beispiel zeigt, daß wir es hier mit einer schwierigen Rechtsmaterie zu tun haben, die intensiver Beratung bedarf. Kollege Bachmaier, aus der Hüfte zu schießen macht großen Spaß, wenn man in der Opposition ist. Diesen Spaß mögen Sie noch lange haben. ({2}) Die Regierungskoalition hat sich für diese Wahlperiode die Aufgabe gestellt, die Gefährdungshaftung auf die Bereiche Luft und Boden auszuweiten. Und wir werden diese Aufgabe zu einem guten Ende bringen. Auch nach unserer Auffassung reicht das geltende Recht nicht aus. Wir erfassen aber mit unserer Ankündigung bewußt nur einen Ausschnitt aus dem Gesamttableau Umwelthaftung. Wir konzentrieren uns zunächst auf den Ersatz von Schäden, die einem oder mehreren bestimmten Verursachern zugerechnet werden können und die durch unfallartige Ereignisse oder Störfälle entstanden sind. ({3}) Wir wollen dabei den Begriff „Störfall" weit fassen, also auch solche Schäden mit einbeziehen, die etwa durch Leckagen verursacht werden und die erst nach einer längeren Zeitdauer eintreten. Ungewöhnlich kompliziert sind die Fragen einer Haftung für Schäden, die bei genehmigtem Normalbetrieb eintreten. Wir haben solche Fälle gehabt; wir wollen sie deshalb auch einer Regelung zuführen. Allerdings werden dabei Einschränkungen notwendig werden. Wir können dem Betreiber nur solche Risiken aufbürden, die eindeutig kalkulierbar und damit auch versicherbar sind. Nur dadurch kann den Betroffenen ein Anspruch an die Hand gegeben werden, mit dessen Hilfe sie ihr Recht wirklich durchsetzen können. Einschränkungen kennt im übrigen auch das geltende Haftungsrecht, so etwa den Ausschluß von Ent7122 wicklungsrisiken, die Beschränkung auf Berufskrankheiten mit einer gewissen Intensität oder auch das unabwendbare Ereignis im Straßenverkehrsrecht. Das Umwelthaftungsrecht muß ferner auf das geltende Schadensersatzrecht abgestimmt sein. Es setzt Schäden voraus, die wirtschaftlich bewertbar und berechenbar sind. Ökologische Schäden, also Schäden an Naturgütern mit möglicherweise nur geringem Verkehrswert, aber hoher Bedeutung für Natur und Landschaft, müssen bereits heute nach dem Bundesnaturschutzrecht des Bundes und der Länder ausgeglichen werden. Dort ist der Standort für mögliche Erweiterungen. Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein Wort zu den völlig anders gearteten Summations- und Distanzschäden sagen. Laut SPD-Antrag ist zu prüfen, in welcher Form bei summierten Emissionen die Betreiber von umweltgefährdenden Anlagen haften sollen. Kollege Bachmaier schlägt Schadensersatzfonds vor. Kleinstemittenten und private Haushalte sollen nach Ihrer Vorstellung aber nicht mit einer Haftung belastet werden. Sie wollen also das Risiko für derartige Schäden nur solchen Betreibern von Industrieanlagen anlasten, deren Betrieb mit einem besonderen Gefährdungspotential verbunden ist. Dieser Ansatz entspricht nicht den Schadstoffbilanzen, wie sie im Vierten Immissionschutzbericht der Bundesregierung ausgewiesen werden. Nehmen wir z. B. die 502-Immissionen: Der Verkehr, die Haushalte und die Kleinverbraucher zusammengenommen übertreffen darin den Beitrag der Industrie um einiges. Nehmen wir die Stickstoffoxide: Insbesondere der Straßenverkehr belastet hier mit über 50 % des Gesamtausstoßes unsere Luft ganz erheblich. Sie aber, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen ausschließlich die Großindustrie für summierte Emissionen verantwortlich machen. Dies ist ungerecht und nicht unsere Position. ({4}) Wir wollen auch für summierte Emissionen ein Umwelthaftungsrecht, bei dem jeder Verursacher seinen Anteil zu tragen hat. Ich muß jedoch hinzufügen, daß ich nicht sehen kann, wie wir noch in dieser Wahlperiode die äußerst schwierigen Fragen der Summations- und Distanzschäden abschließend beraten und lösen können. Die Ansätze der Opposition sind jedenfalls nicht hilfreich. Wir werden Ihren Antrag in den Ausschüssen im einzelnen erörtern und bescheiden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Freunde! - Reform des Umwelthaftungsrechtes. - Umwelthaftungsrecht, das muß ja eine unerhört komplizierte Sache sein, daß es ganze Heerscharen akademisch gebildeter Beamte nicht geschafft haben, so einen Gesetzesvorschlag mal auszuarbeiten. Aber wenn man genauer hinschaut, dann ist es nicht die fehlende Kompetenz - da ist manches da - , sondern der mangelnde politische Wille, ({0}) denn das strikte Durchsetzen des Verursacherprinzips, wie es in Gesetzen und Parteiprogrammen fixiert ist, hätte kurzfristig den Interessen der Industrie geschadet. Worum geht es? Nach konservativen Schätzungen betragen die Gesamtkosten der Umweltschäden jährlich weit über 100 Milliarden DM und machen zusammen mit den Kosten für die Beseitigung und die Verhinderung ökologischer Schäden fast 10 % des Bruttosozialproduktes aus. Aber der größte Teil dieser Kosten wird eben nicht von den Verursachern getragen, sondern auf die Gesellschaft oder einzelne Geschädigte abgewälzt, da sie nach dem bisher geltenden Recht ihre Schadensersatzforderungen nicht durchsetzen können. Wie sieht denn das praktisch aus? Ich sehe noch den Waldbauern im Hochschwarzwald mit Tränen in den Augen vor mir stehen, und er zeigt auf die kläglichen Reste der Wälder, die von ihm und seinen Vorfahren jahrhundertelang gepflegt worden sind. Er kann keinen Einzelemittenten benennen, er kann niemand finden, der das bezahlt. Er geht leer aus. Auch der Waldbesitzer in Cappenberg neben der Aluminiumhütte in Lünen bekommt nur einen Bruchteil der Schäden ersetzt, weil man nicht nachweisen kann, wieviel von den Ruhrgebietsemissionen an dem Schaden beteiligt ist. Das Durchschlagen der Bodenversauerung auf das Grundwasser, was heute erneut aus Rheinland-Pfalz gemeldet wurde und was schädliche Schwermetalle freisetzt, ist ein anderes Beispiel für die schleichende Vergiftung als Folge summierter Immissionen. Wir brauchen nur an Sandoz zu denken. Die Giftwelle schwappte durch den Rhein. Ihre Schäden sind bis heute nicht voll behoben. Die Versicherung zahlte ganze 100 Millionen DM. Aber die Bundesregierung brachte es gerade fertig, eine interministerielle Arbeitsgruppe zu benennen. Ein Ergebnis haben wir nicht vorliegen. Nein, das Nichthandeln der Bundesregierung ist kein bloßes Aussitzen von Problemen, sondern bewußtes Nichthandeln, eine Entscheidung gegen die Durchsetzung einer strikten Verursacherhaftung. Das heißt eben zugleich, daß die geschädigten Menschen ihre Schäden weiterhin selbst tragen müssen. Was ist zu tun? Für die Fälle der summierten Immissionen nützt auch ein stark reformiertes, auf individuelle Verursacher zugeschnittenes Umwelthaftungsrecht wenig, weil das immer voraussetzt, daß die Umweltschäden einzelnen oder mehreren bestimmten Verursachern zugeordnet werden können. Wir brauchen deshalb als zweite Schiene ein Ausgleichssystem, das auch für Schäden aufkommt, die durch summierte Immissionen oder überhaupt Umwelteinwirkungen zustande gekommen sind. Diese Forderung der GRÜNEN wird jetzt vom Bundesgerichtshof geteilt. Er hat in seinem „Waldschadensurteil" festgelegt, daß die Waldschäden grundsätzlich entschädigungswürdig und entschädigungsDr. Knabe bedürftig seien, das geltende Recht jedoch keine Anspruchsgrundlage bereitstelle. Das heißt, der Bundestag hat eine Bringeschuld, ein solches Gesetz zu verabschieden. Die SPD spricht sich in ihrem Antrag für die Bildung von Entschädigungsfonds aus. Das begrüße ich. Sie gibt jedoch nicht genau an, wie denn ein solches Modell genau aussehen soll. ({1}) Das erfordert Kritik. Wenn wir über die konkreten Probleme des Umwelthaftungsrechtes diskutieren wollen, reicht es nicht aus, die Problemfelder abstrakt zu benennen. Vielmehr muß man sie konkretisieren. Man braucht einen Gesetzentwurf. Aber da ist natürlich die Regierung zuerst gefordert. DIE GRÜNEN haben sich dieser Herausforderung gestellt und am Ende der Sommerpause ihre Vorstellungen zur Reform in einem Gesetzentwurf niedergelegt und der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir warten jetzt auf Antwort, wir warten auf Reaktionen der Regierung. Der Entwurf besteht aus zwei Elementen: einem individualbezogenen Umwelthaftungsgesetz, das den Nachweis von Umweltschäden und die Ermittlung des Verursachers erleichtert, sowie einem Umweltschadensfondsgesetz für die Fälle der summierten Immissionen oder Umwelteinwirkungen. Dieser Entschädigungsfonds, der sich in erster Linie durch Abgaben auf umwelt- und gesundheitschädigende Produkte und Stoffe finanziert, hat nach unseren Vorstellungen zwei Funktionen. Zum einen sollen die betroffenen Bürger und Bürgerinnen bei jeder Art von Schäden auch einen Schadensausgleich erhalten. Zum anderen sollen die durch die Industriegesellschaft bedingten Zivilisationsrisiken nicht wie bisher ausschließlich von der Allgemeinheit, sondern eben von den eigentlichen Verursachern getragen werden. Der geschädigte Waldbauer würde somit entschädigt werden; denn Waldschäden im Schwarzwald sind eindeutig auf Umwelteinwirkungen zurückzuführen. Die Stadt Augsburg bekäme Ersatz. Auch die Krankenkassen, auch die Versorgungskassen bekämen Milliarden; man schätzt 2 bis 5 Milliarden DM. Herr Blüm hätte eine Bombenentlastung im Zuge seiner Gesundheitsreform, wenn er diese Gelder eintreiben würde. ({2}) Selbst bei optimaler Regelung für Schadensersatz oder Entschädigung darf man diese Instrumente nicht überschätzen. Das Haftungsrecht bleibt ähnlich wie im Straßenverkehr ein Instrument der Nachsorge, das erlittene Schäden finanziell ausgleicht, und ist nur sehr bedingt ein Instrument der Vorsorge, das zu einem anderen Verhalten führt. Das Bonus- und Malussystem in der Kfz-Versicherung beeinflußt zwar in gewissen Grenzen das Fahrverhalten. Aber trotz der Prämie - vielleicht auch wegen der damit erzielten Absicherung - geschehen täglich Hunderte kleinere und größere Unfälle. So bildet das Umwelthaftungsrecht nach Auffassung der GRÜNEN nur ein Standbein in einem umweltpolitischen Konzept. Wir brauchen zusätzliche ordnungspolitische Instrumente in Form von Ge- und Verboten, Genehmigungen und Kontrollen. Selbst das reicht noch nicht. Wenn wir die notwendige Anpassung unserer Wirtschaftsordnung an die Erf ordernisse der Ökologie und damit des Überlebens herstellen wollen, brauchen wir den gesellschaftlichen Diskurs. Umweltpolitik darf sich nicht nur auf den Dialog zwischen Wirtschaftsinteressen und Behörden beschränken, sondern sie muß Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit eröffnen, sich über Umweltbelange ausreichend zu informieren und an den Entscheidungen mitzuarbeiten. Das heißt: Wir brauchen Akteneinsichtsrecht, Verbandsklagerecht. Aber eines muß ich sagen: Es geht nicht, wenn Leute mit dem Auto bis ins Schlafzimmer fahren wollen und sich dann über Lärmbelästigung beschweren, weil der Nachbar dasselbe tut. Also: Der einzelne muß anfangen, etwas tun, aber der Gesetzgeber, wir in unserem Hause, und die Regierung sind gefordert. Danke. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nach dieser verspäteten Reaktion gebe ich dem Abgeordneten Kleinert ({0}) das Wort.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lange konnten wir nicht ein solches Mißverhältnis zwischen der dramatischen Schilderung eines Tatbestandes - diese Schilderung ist weitgehend richtig, Herr Bachmaier; Herr Baum hat es vorhin schon in einem Zwischenruf gesagt - und dem sehen, was zum Schluß an konkreten Handlungsvorschlägen, die man ja auch in Frageform kleiden kann, besonders wenn man Opposition ist, dabei herausgebraten ist. Das ist ein deutliches Zeichen, daß der juristische Sachverstand die SPD-Bundestagsfraktion keineswegs verlassen hat, sondern daß sie hier gesagt hat: Denkste, frägst mal, wie man in Niedersachsen sagt, ohne sich auch nur im geringsten auf die Fülle von ungewöhnlich schwierigen juristischen Problemen einzulassen, die mit der konkreten Lösung der sich uns allen stellenden Aufgabe nun einmal verbunden sind. Und Herr Bachmaier, Sie haben da vorhin liebenswürdigerweise eine den niedersächsischen Liberalen nahestehende sehr tüchtige Stiftung, die Rudolf -vonBennigsen-Stiftung, angesprochen, die hier einen Gesprächsabend gehabt hat, bei dem dankenswerterweise auch - jedenfalls zeitweise - Vertreter Ihrer Fraktion anwesend waren, aber eben nicht so ganz, um ihren Einfluß vielleicht so geltend zu machen, daß ihnen die Lektüre des Protokolls noch mehr Freude gemacht hätte. Das liegt nun allerdings bei Ihnen; wir hatten eingeladen. Ich möchte hier doch einmal festhalten, daß wir das Gespräch suchen und deshalb eingeladen hatten. Was ist denn das, was uns die Sache so schwer macht? Auf jeden Fall mal so verworrene Vorstellungen, wie man sozusagen umsonst zu Geld kommen könnte, wie wir sie soeben von einem akademisch Kleinert ({0}) gebildeten Beamten wie Herrn Knabe gehört haben. Das Handbuch weist aus, daß Sie in diese Kategorie genauso fallen wie die, die Sie vorhin wegen dieser Eigenschaft etwas negativ angesprochen haben. ({1}) Und die Idee, man könne das Problem dadurch, daß man Umlagen oder Fonds schafft, und dadurch, daß man das Verursacher-Prinzip anwendet, das ja so schön klingt und ja so einleuchtend ist, lösen - ich gebe das ja zu; es hat einen großen Charme, daß man einen solchen Begriff erfindet - , hält der Wirklichkeit nicht stand. Wenn man der Sache nähertritt, dann fragt man sich doch, warum die Leute, die vom Gewerbeamt im Jahre 1900 unbehelligt geblieben sind, aber vom Fiskus in den 88 Jahren bis heute reichlich abkassiert worden sind, heute für das, was 1900 in aller Unschuld irgendwo verbuddelt worden ist oder in den Untergrund gelaufen ist, haftbar gemacht werden sollen, während der Fiskus all die Jahre kassiert hat und diese Leute deshalb für den heute ins Auge gefaßten Fall leider keine Rücklagen mehr zur Verfügung haben - dies außerdem unter Berücksichtigung zweier Weltkriege. Und deshalb, meine ich, muß man den Begriff „Solidargemeinschaft", der ja insbesondere der SPD sehr vertraut ist, wohl etwas weiter fassen. ({2}) Deshalb ist es besonders interessant, daß Sie auf die Sozialversicherung hinweisen und denken, es würde großen Sinn machen, Verursacher, die man nicht genau bezeichnen kann, für etwas zur Kasse zu bitten - das würde jedenfalls dann gelten, wenn es sich um Summationsschäden und um Distanzschäden handelt - , was an Schäden eingetreten ist. Es handelt sich doch nur um eine Verlagerung von Geldausgaben innerhalb eines geschlossenen volkswirtschaftlichen Systems, in dem wir uns alle befinden. Es ist einfach eine abenteuerliche Vereinfachung zu glauben, die einen könnten immer mehr Geld hergeben, weil sie ja die Kapitalisten sind - der Name legt so etwas für schlichte Denker nahe - , während die anderen auf der sauberen Seite blieben und immer weniger Steuern zahlen würden, weil man die Kapitalisten zur Kasse bittet. Die Folgen davon würden Sie am Arbeitsmarkt und an einer Reihe anderer Fakten sehr rasch feststellen. Wir sind der Meinung, daß auch in diesem Bereich aus sehr guten Gründen unserer Rechtsordnung an den Grundsätzen von Kausalität, von Verursachung und von Verschulden festgehalten werden muß. Wir sind außerdem der Meinung, daß es sehr gefährlich ist - nicht daß ich heute ausschließen will -, Fonds zu schaffen, die Begehrlichkeiten erwecken, die bei der möglichen Finanzierbarkeit schließlich alle Grenzen sprengen und unsere Volkswirtschaft insgesamt gefährden. Wir glauben, daß man mit mehr rechtlicher Klarheit und Beschränkung auf das im Rahmen unserer bürgerlich-rechtlichen Dogmatik wirklich Machbare weiterkommt als mit irgendwelchen ausufernden Erweiterungen. Wir sind aber bereit, um das ganz deutlich zu sagen - viel weiter ist die Sozialdemokratie ja keineswegs; das zeigt doch diese Anfrage auf ihren letzten Seiten in aller Deutlichkeit - , mit allen, die guten Willens sind, das, was klar regelbar und zurechenbar ist, noch in dieser Legislaturperiode - Sie werden sich noch wundern, wir beraten das zwar nicht überstürzt, aber durchaus bewußt, weil es sehr eilig ist - zu machen, soweit es vernünftigerweise machbar ist. ({3}) - Haftung für Umweltschäden, soweit sie zurechenbar sind, ({4}) und zwar auch die Gefährdungshaftung, aber nicht in solch modischen Erscheinungsformen, bei denen man sich nicht traut Gefährdungshaftung zu sagen und statt dessen von Beweislastumkehr oder von Summationsschäden faselt, ohne zu wissen, wo das hinführt und wen es trifft, wie das vorhersehbar ist und wie sich das alles in der Rechtsprechung auswirkt. ({5}) Das wollen wir nun allerdings nicht. Das möchten wir etwas klarer haben. Ich weiß ganz genau, daß Ihr Fraktionsvorsitzender, als er noch Bundesjustizminister war, einem Bundesumweltminister, der etwa so vage Gedanken vorgetragen hätte, aber energisch entgegengetreten wäre. Da er das im Grunde seines Herzens auch heute noch tun wird, sehe ich gute Chancen, daß wir zu klaren Lösungen kommen. Den Rest muß die Solidargemeinschaft über Steuern und nicht über scheinbar aus dem Nirwana kommende Abgaben der Verursacher zahlen, weil die das nämlich nicht ohne äußersten volkswirtschaftlichen Schaden würden leisten können. Herzlichen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, über den wir heute abend beraten, ist einer von vielen Vorstößen zur Verbesserung des Umwelthaftungsrechts, die seit der Sandoz-Katastrophe unternommen worden sind. Diese Vorstöße kommen aus allen politischen Lagern. Ich begrüße es, daß jedenfalls über die Frage der Verbesserung der Umwelthaftung ein so breiter Konsens besteht. Wie Sie wissen, hat das Bundesministerium der Justiz zusammen mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unmittelbar nach dem Vorgang bei Sandoz eine Arbeitsgruppe gebildet. Diese Arbeitsgruppe hat die Aufgabe, das geltende Recht zu überprüfen, fortzuentwickeln, Vorschläge zu machen. Daß uns bis heute das Schlußergebnis noch nicht vorliegt, hat nicht, wie auch an diesem Abend wieder behauptet wurde, als Hintergrund, daß es finsteren Mächten gelungen ist, ihren schädlichen Einfluß so auszuweiten, daß der dort versamBundesminister Engelhard melte Sachverstand in der Arbeitsgruppe zwar arbeiten könnte, aber nicht arbeitet, weil er daran gehindert wird. ({0}) Nein, es liegt an der Schwierigkeit der Materie, die dazu geführt hat, daß diese Arbeit ihre Zeit braucht. Nunmehr zeichnet sich jedoch ab, daß sich die Mühe gelohnt hat und daß sie Früchte tragen wird. Ich will kurz auf die wesentlichen Punkte und Probleme eingehen. Wir alle sind uns darin einig, daß eine Gefährdungshaftung für Umweltverschmutzung kommen muß. Auch an einer Gefährdungshaftung für den Transport gefährlicher Güter wird mit Nachdruck gearbeitet. ({1}) Was Beweiserleichterungen angeht: Sie dürfen, auch wenn es um die Kausalität zwischen Emission und Schaden geht, kein Tabu sein. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo mehrere Betriebe als Verursacher eines aufgetretenen Schadens in Betracht kommen. Wir sollten niemanden der Gefahr aussetzen, auf bloßen Verdacht hin für die Verschmutzung anderer Emittenten mit haften zu müssen. Das ist ein Problem, das ernst zu nehmen ist, mit dem man sich beschäftigen muß, bei dem das Darüber-Hinweghuschen oder die bewußt andere Lösung für uns niemals akzeptabel sein wird. Nun bedarf diese Frage noch der weiteren Prüfung und der Diskussion. Das japanische Recht gibt uns etwa ein Beispiel, wie man ungewisse Emissionslagen am runden Tisch eines Gutachterausschusses recht gut aufklären kann. Hier den Betroffenen und Geschädigten eine gewisse Hilfestellung zu geben, das ist eine wichtige Sache. Einen dritten Komplex der Umwelthaftung spreche ich mit dem Begriff des Ökoschadens an. Gemeint sind Beeinträchtigungen des Naturhaushalts, die sich nicht oder nur schwer in ihrem Wert in Geld ausdrükken lassen. Sofern verlangt wird, daß der Staat sie reparieren soll, enthält bereits das geltende Recht ausbaufähige Ansätze, etwa im Naturschutzrecht. Die Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Herren, sieht vor, die künftige Umwelthaftung mit einer Pflichtversicherung zu koppeln. Mit diesem Vorhaben sind wir bei der Versicherungswirtschaft auf große, ja sehr große Skepsis gestoßen. Ob man den Gedanken der Pflichtversicherung nicht wenigstens für einen bestimmten Kreis besonders gefährlicher Anlagen aufrechterhalten sollte, das wird noch zu prüfen und zu überlegen sein. ({2}) Ein weiteres Feld sind schließlich die kollektiven Entschädigungssysteme. Solche Systeme könnten erforderlich werden, um die Summations- und Distanzschäden in den Griff zu bekommen. Sie treten beispielsweise, wie bekannt, bei den Wald- und Gebäudeschäden auf. Ich will jetzt hier nicht voreilig einer Fondslösung das Wort reden, solange die finanziellen Konsequenzen nicht geklärt sind. Ich kann nur darauf hinweisen, daß andere Länder wie etwa die USA, wie Japan oder auch die Niederlande mit Fondslösungen bereits in einem bestimmten Umfang arbeiten. Andere, bessere Lösungen für diesen Bereich sind mir bis dato nicht bekannt. ({3}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird die Verbesserung der Umwelthaftung zielstrebig weiterverfolgen. Ich rechne damit, daß wir in dieser Legislaturperiode den Entwurf eines ersten Gesetzes zur Verbesserung der Umwelthaftung vorlegen können. ({4}) - Es wird darauf ankommen, mit welcher Intensität man sich dann dem vorgelegten Entwurf widmet, um noch in dieser Legislaturperiode über die Runden zu kommen. Meine Damen und Herren, ich warne aber davor - dies soll nicht ausgeklammert sein - , das Haftungsrecht als ein Wundermittel zu betrachten, ({5}) mit dem wir die Natur im Handumdrehen kurieren könnten. Wer das erwartet, täuscht sich selbst und verliert den Blick für die weiteren dringenden Notwendigkeiten. Die kommenden Regelungen können nur ein Beitrag sein, den das Haftungsrecht für die Gesundung unserer Umwelt liefert. Sie werden unsere anderen notwendigen umweltpolitischen Anstrengungen zwar ganz wesentlich ergänzen, aber nie ganz ersetzen können. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt schon von verschiedenen Stellen gehört, daß in dieser Periode ein Umwelthaftungsrecht offensichtlich gar nicht mehr verabschiedet werden soll. Herr Laufs hat das gesagt, und der Justizminister - ({0}) - Nein, ich habe es eben so gehört, ({1}) daß jetzt eigentlich wenig passieren soll, weil die Materie so schwierig ist. ({2}) Ich lese das noch einmal nach. Sie wollen sich nur auf ganz wenige Kernbereiche konzentrieren. Ich glaube schon, daß Sie andere Bereiche angefaßt haben, die wesentlich komplizierter sind. Ich nenne die Gesundheitsreform, die Steuerreform und auch die Rentenreform, die Sie noch durchführen wollen. Insofern ver7126 dient auch diese Problematik, glaube ich, in dieser Periode angefaßt zu werden. Ich bin jetzt wieder versichert, daß wir wenigstens an der Stelle einig sind, daß wir alle gemeinsam eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung wollen und daß wir da wenigstens übereinstimmen, weil wir nämlich gesehen haben, daß nach der Diskussion, nach Sandoz, die Einführung einer solchen Konstruktion, eines solchen Instrumentes, wichtig ist. Die Wirksamkeit der rechtlichen Instrumente eines nachhaltigen Umweltschutzes sollten wir vor allem daran messen, inwieweit dieses Instrumentarium in der Lage ist, auf sich permanent ändernde Anforderungen zum Umweltschutz zu reagieren. Die Umweltprobleme scheinen uns in letzter Zeit fast zu ersticken - denken wir etwa an die Nordseediskussion -; gleichwohl dürfen wir nicht resignieren. Wir finden immer noch neue Wege, um Umweltschäden zu vermindern, ganz zu vermeiden oder endliche Ressourcen immer weniger in Anspruch zu nehmen und andere Umweltmedien Luft, Wasser und Boden weniger zu belasten. Wir müssen allerdings gleichzeitig die Rechtsinstrumente finden, um diese Erkenntnis in eine permanente Umweltvorsorge zu gießen. Wir wissen, daß das öffentlich-rechtliche Ordnungsrecht relativ unbeweglich und untauglich zur zeitnahen Reaktion auf Verbesserungsmöglichkeiten ist, weil der Genehmigungsbescheid immer eine rechtssichernde Position einräumt, die der jeweilige Inhaber gerne aufrechterhalten will, nach dem Motto: Was ich darf, das mache ich auch! Wir müssen zwar noch die Möglichkeiten des öffentlichen Rechts sehen, z. B. über Anforderungen an den Stand der Technik etwas Dynamik hineinzubringen, aber das ist eigentlich nur eine der wenigen Möglichkeiten. Wir brauchen das Prinzip einer zivilrechtlichen Peitsche, die den Anreiz zu einer weitergehenden Umweltvorsorge und zur konstanten Nachbesserung für die Umwelt aufrechterhält. Dieses Instrument ist für uns u. a. die Einführung der gemeinsamen von uns gewollten verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung, die die Unternehmen zwingen soll, aus ökonomischem Kalkül auf allen Gebieten eine Risikominderung zu betreiben. Wenn wir den Anreiz zur weitergehenden Umweltvorsorge wollen, Herr Laufs, dürfen wir natürlich nicht die Gefährdungshaftung lediglich auf Störfälle beschränken. Das würde das ganze Haftungsinstrument stumpf machen. ({3}) - Ich lese das einmal nach. - Sie haben definiert, Herr Laufs - ich habe das mitgeschrieben - : „unfallartige Ereignisse oder Störfälle" ; so habe ich das aufgefaßt. Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen muß auch gegenüber einem genehmigten Betrieb erfolgen können. Der Normalbetrieb einer Anlage muß selbstverständlich von der Gefährdungshaftung umfaßt sein. Wir alle haben die alte Entscheidung des Reichsgerichts zu § 906 BGB im Kopf. Damals war mit der Genehmigung eines Bergbaubetriebs verbunden, daß alle Nachbarn mit den Folgen dieses Betriebes leben müssen. Diese Position haben wir in der Zwischenzeit aufgegeben. Wir folgen dem Verursacherprinzip. In jetzt schon geltenden Normen, etwa im § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes, im § 14 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, im Arzneimittelrecht, hat aber auch die Position Eingang gefunden, daß eine Haftung auch im Rahmen genehmigter Betriebsabläufe oder Produkte eintreten kann. Nur so halten wir meines Erachtens auch die Anreizwirkung aufrecht, im genehmigten Betrieb, bei genehmigten Emissionsparameter laufend Verbesserungen für die Umwelt zu erreichen. Das Unternehmen muß immer daran interessiert bleiben, durch geeignete Maßnahmen Risiken möglicher Ersatzansprüche zu vermeiden. Ich glaube, das ist eine sehr weit verbreitete Position, die auch breite Zustimmung findet. Wir haben in unserem Entschließungsantrag das Prinzip ökonomischer Anreize für umweltvorsorgende Investionen in mehrerer Hinsicht aufgenommen. Ich will mich darauf beschränken, zwei wichtige Instrumente zu nennen: Die von uns geforderte ausreichende Deckungsvorsorge für Schäden infolge von Umweltbeeinträchtigungen wollen wir grundsätzlich durch den Abschluß einer Haftpflichtversicherung verwirklicht sehen. Ich kenne die Skepsis der Versicherungswirtschaft und auch einiger Kollegen zu diesem Thema, die sich einmal auf die Konkretisierung und Ausgestaltung des Versicherungsfalles selbst bezieht; zum anderen bezweifeln sie auch die Anreizwirkung, das Risiko niedrig zu halten. Der Teufel steckt im Detail; das wissen wir alle. Wir müssen sicherlich noch genauer diskutieren, was wir versichern, ob Produktions-, Betriebs- und Lagerstätten oder noch mehr, und ob wir bestimmte Haftungsbeschränkungen, die wir im Arzneimittelrecht, im Produkthaftungsrecht oder im Straßenverkehrsrecht, wo wir Gefährdungshaftungstatbestände schon kennen, auch hier übernehmen wollen. Ich halte dies alles für regelbar. Was die Anreizwirkung durch Versicherungen angeht, so will ich daran erinnern, daß nach meiner Kenntnis beispielsweise die Chemikalienlagerung in der abgebrannten Halle bei Sandoz von der Feuerschutzversicherung nicht akzeptiert wurde und insoweit Veranlassung bestand, diese Gefahrensituation zu ändern. Der Hinweis kam also aus der Versicherungswirtschaft, nur hat sich leider diese Versicherung damals nicht durchgesetzt. Die Versicherungswirtschaft wird zur Festsetzung einer bestimmten Police für die Produktionsanlagen oder die Lagerstelle nicht umhinkönnen, zu prüfen, ob bestimmte Standards eingehalten sind. Je höher der Umweltschutzvorsorgestandard eines Betriebes ist, desto niedriger kann die Prämie sein. Wenn die Versicherungswirtschaft durch speziell fachlich ausgebildete Vertreter den versicherten Betrieb kennen muß, um auch ihr eigenes Risiko im Schadensfall einschätzen zu können, wird auch auf der zivilrechtlichen Seite - wie auf der öffentlich-rechtlichen Seite etwa durch das Gewerbeaufsichtsamt - eine Instanz vorhanden sein, die zur Risikominderung, d. h. zur weiteren Umweltvorsorge, beitragen wird. Die Versicherungswirtschaft selbst weist auf die Tatsache hin, daß die Erfahrung im Gewässerschutz gezeigt habe, daß, wenn für das erhöhte Sicherheitsrisiko Versicherungsschutz gewährt wurde, ein Anreiz zur Risikominderung in der Regel nicht mehr bestanden habe. Diese Erfahrung erscheint mir eher ein Problem der Vertragsausgestaltung, insbesondere der Prämiengestaltung, zu sein als eine Widerlegung meiner Ausgangsthese, nämlich daß die Versicherungswirtschaft auch auf Risikominderung hinwirken kann. Natürlich muß es nach dem Umweltgefährdungspotential des Betriebes gestaffelte Beiträge geben. Diese können und müssen dann gesenkt werden, wenn das versicherte Unternehmen aus wirtschaftlichem Interesse - etwa um die Risiken und Prämien zu senken - zusätzliche Sicherungsmaßnahmen zur Umweltvorsorge einbaut. Die Versicherungswirtschaft sollte zeigen, daß sie sich einer vernünftigen Lösung der anstehenden Probleme nicht entgegenstellt. Sie sollte eher an die Spitze der auch in der Wirtschaft vorhandenen umweltbewußten Kräfte treten. Meine Damen und Herren, ein weiteres Instrument zum umweltvorsorglichen Verhalten über ökonomische Anreize kann die Errichtung eines Fonds für diejenigen Schäden sein, die wir gemeinhin als Distanzoder Summationsschäden bezeichnen. Bei diesen Schäden, die uns insbesondere in der Waldschadensdiskussion beschäftigen, haben wir wegen der häufig nicht zurechenbaren Kausalität zwischen Geschädigten und Schädigern große Beweisprobleme. Aus einem haftungsergänzenden Fonds können in diesen Fällen Schadenersatzleistungen erbracht werden, wenn kein Schädiger zu ermitteln ist oder ein Anspruch überhaupt nicht durchgesetzt werden kann. Dies wäre eine Konstruktion neben dem engeren Umwelthaftungsrecht, um so nicht die dogmatischen Grundsätze des Zivilrechts übermäßig zu beanspruchen. Wir kennen im deutschen Recht, Herr Kleinert, etwa einen Fonds der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer, der Zahlungen an Verkehrsopfer leistet, die durch ein unerkanntes Fahrzeug geschädigt worden sind. Die mir im wesentlichen bekannten Fonds des Auslandes haben eine Ausgleichszahlung bei Umweltschäden zum Gegenstand. Der niederländische Luftverschmutzungsfonds von 1972, auf den der Minister schon hingewiesen hat, kennt Ansprüche von Landwirten bei Smoglagen. Bei bestimmten Erkrankungen der Atemwege und bei Schwermetallvergiftungen haben die Geschädigten in Japan einen Anspruch gegen einen dort gegründeten Fonds. Der sogenannte „Super Fund" in den USA ist gebildet worden, um zunächst mit Staatsgeldern gefährliche Altdeponien zu sanieren. Diese Fondslösung ist ja eine auch in Ihrer Partei sehr verbreitete Lösung. Herr Kinkel hat es auf Ihrer Anhörung - ich habe das nachgelesen - der Bennigsen-Stiftung ebenfalls als notwendig und wichtig angesehen. Insofern, glaube ich, ist in Ihrer Partei diese Position durchaus bekannt, und sie wird auch vertreten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert ({0})?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Glauben Sie nicht, Herr Kollege, daß ein gewisser Widerspruch zwischen Ihrem Ziel, durch Umwelthaftungsbestimmungen vorsorglichen Umweltschutz zu erreichen, und der Anonymisierung der Verantwortung durch derartige Fondslösungen und allgemeine Lösungen besteht, die eben den einzelnen nicht dazu bringen, sich in seinem eigenen Bereich vorsichtiger zu verhalten, sondern ihn eher dazu bringen, sich darauf zu verlassen, daß die anderen das tun werden und daß er Kosten spart?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, würden Sie die Güte haben, entsprechend der Form des Hauses die Antwort im Stehen entgegenzunehmen?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kleinert, ich sehe das nebeneinander. Die Fondslösung besteht bei Summations- und Distanzschäden, so daß nur bei denjenigen ersetzt werden kann, bei denen der Schädiger nicht klar erkennbar ist, währenddessen die anderen Schäden, bei denen Schädiger klar benannt werden können, die ganze Umwelthaftungsproblematik nach sich ziehen. Das sind zwei nebeneinanderliegende Positionen, die sich nicht widersprechen, sondern die aufeinander aufbauen. ({0}) Das wird auch in Ihrer Partei so gesehen. Mir scheint bei der Fondsbemessung der japanische Weg der sinnvollste zu sein. Die Japaner gehen ausschließlich nach dem Verursacherprinzip vor und bemessen die Zahlung an den Fonds nach den Emissionsraten der verschiedenen Betriebe. Aus diesem Fonds wird dann bei diesen ganz klar spezifizierten Schadenersatzfällen gezahlt. Das System des Fonds in Amerika ist so, daß die Amerikaner einen Fonds staatlich speisen, daß dann eine Altdeponie aufgearbeitet wird und daß dann diejenigen, die dort Produkte gelagert haben, in Anspruch genommen werden. Zum Beispiel kann auch nur einer in Anspruch genommen werden, der sich dann im Wege des Schadensausgleichs von anderen das Geld wiederholt. Eine ganze Anwaltszunft mit mehreren hundert Anwälten lebt von diesen Prozessen, meine Damen und Herren. Das muß bei uns nicht genauso werden. Aber diese Fondssituation haben andere Länder vorbildlich gelöst. Meine Damen und Herren, ich muß zum Schluß kommen; es blinkt hier. Ich meine, wir sollten uns anstrengen, in dieser Legislaturperiode noch ein umfassenderes Umwelthaftungsrecht auf den Weg zu bringen, um die Probleme, die uns der BGH aufgegeben hat, zu lösen. Wir sollten ein Umwelthaftungs7128 recht, das den Namen verdient, und das nicht nur Ausschnitte darstellt, verabschieden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! CDU/CSU und FDP sind in ihrer Koalitionsvereinbarung übereingekommen, die Gefährdungshaftung, die ja jetzt schon für Gewässerverunreinigungen gilt, auch auf die Umweltmedien Luft und Boden auszudehen. Angesichts der schwerwiegenden Risiken, die beim Umgang mit umweltgefährdenden Stoffen sichtbar geworden sind - ich nenne nur das Stichwort Sandoz - , hatte die CDU schon zuvor in ihrem 17-Punkte-Programm vom 6. Januar 1987 die Erweiterung der Gefährdungshaftung und die Einführung einer obligatorischen Umwelthaftpflichtversicherung gefordert. Zur Zeit wird ein entsprechender Gesetzentwurf vorbereitet. Es ist nun etwas billig zu sagen, er sei verzögert worden und er hätte längst vorgelegt werden müssen, wenn Sie auf der anderen Seite einräumen, daß die zu lösenden rechtlichen Probleme außerordentlich kompliziert sind und daß der Teufel im Detail steckt. Es ist ja sehr leicht, Herr Kollege Schütz, allgemeine Grundsätze aufzustellen. In den allgemeinen Grundsätzen stimmen wir ja teilweise auch überein. Aber wenn es darum geht, diese Grundsätze dann in die Form eines konkreten Gesetzes zu gießen, beginnen die Schwierigkeiten erst. Die beiden beteiligten Häuser sind bei der Aufstellung ihrer Grundsätze wesentlich weiter als Sie. ({0}) Herr Kollege Bachmaier, der Vorwurf, der politische Gegner wolle gar nicht, was er sage, ist ja beliebt. Dieser Vorwurf erhöht unser Ansehen bei den Bürgern allerdings nicht gerade; er erhöht nicht das Ansehen aller Politiker. Ich gehe jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, daß auch der politische Gegner zunächst einmal das ernst meint, was er hier verkündet. Jetzt zur Sache. In zwei Punkten will ich einmal Übereinstimmungen im grundsätzlichen aufzeigen. Nach § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes haftet jedermann - nicht nur der Betreiber einer gefährlichen Anlage - für schädliche Änderungen der Beschaffenheit des Wassers. Wenn wir bei den Umweltmedien Boden und Luft so vorgehen würden, gerieten wir allerdings in heillose Schwierigkeiten. Dann müßten wir z. B. die Gefährdungshaftung auch auf das Betreiben einer Hausfeuerungsanlage, eines Autos oder eines Gartengrills ausdehnen. Das wäre eine uferlose Ausdehnung und ein Beschäftigungsprogramm für die Gerichte. Wir meinen statt dessen, daß sich die Gefährdungshaftung am erhöhten Gefährdungspotential betrieblichen Handels orientieren muß. Darin stimmen wir überein. Sie ist deshalb auf Anlagen und Handlungen zu beschränken, die für die Umwelt eine besondere Gefahr in sich bergen. Wir werden uns dabei an das Bundes-Immissionsschutzgesetz halten müssen, und wir werden uns sicherlich einigen können. Ein weiterer Punkt, in dem Übereinstimmung herrscht: Es gab und gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die ins Auge gefaßte Erweiterung der Gefährdungshaftung auf Schäden beschränkt werden soll, die durch den rechtswidrigen Betrieb einer Anlage entstehen. Ich spreche damit die Störfallproblematik an. Die Befürworter einer solchen Eingrenzung operieren gern mit dem Beispiel der Gefährdungshaftung im Straßenverkehr, indem sie sagen, dort aktualisiere sich die Haftung auch erst beim Störfall. Ich meine, daß das ein Fehlschluß ist. Das haftungsauslösende Ereignis ist sowohl beim Kraftfahrzeug als auch beim Betrieb einer umweltgefährdenden Anlage der Eintritt eines Schadens. Der Schaden selbst ist der Störf all. Die These, es dürfe nichts zivilrechtlich geahndet werden, was öffentlich-rechtlich zulässig ist, trägt rechtlich nicht. Wir haben es bei der Gefährdungshaftung eben mit einer gerechten Verteilung von Risiken zu tun. Allerdings - das gebe ich auch zu bedenken - , ob wir bei einer beweisbaren, also in ihrer Kausalität feststehenden Mitverursachung in jedem Fall, auch beim rechtmäßigen Betrieb, zu einer gesamtschuldnerischen Haftung kommen können, ist fraglich, denn das bedeutet insbesondere in industriellen Ballungsgebieten ein vermehrtes Risiko, für fremde Nachlässigkeit haften zu müssen, ohne selbst mit Aussicht auf Erfolg Regreß nehmen zu können. Erörtern Sie das doch einmal mit Ihren Kollegen aus dem Ruhrgebiet. Es gibt in Ihren Grundsätzen natürlich auch Punkte, die nicht zu Ende gedacht sind. Sie wollen dem Geschädigten über die bisherige Rechtsprechung hinaus den Nachweis des Kausalzusammenhangs erleichtern und denken dabei auch an Summations- und Distanzschäden. Diese Schäden lassen sich aber nicht mit dem Instrument der zivilrechtlichen Umweltgefährdungshaftung regulieren, denn wir wissen, daß viele dazu beitragen. Nun sagen Sie - ich stimme dem im Grundsatz zu - : Dafür müssen wir vielleicht andere Lösungen kollektivrechtlicher Art finden, und Sie kommen so auf den Fonds. Es ist natürlich einfach zu sagen: Wir wollen eine Fonds-Lösung haben. Daß Sie es sich einfach gemacht haben, kann ich schon dadurch beweisen, indem ich Sie frage, an welche Summen Sie denn denken und wer diese Summen aufbringen soll. Sie wissen doch ungefähr, welche Summen erforderlich sind - es gibt Schätzungen - , um die Waldschäden und die Gebäudeschäden auszugleichen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen, daß wir bei der Fortentwicklung der privatrechtlichen Umwelthaftung durchaus zu einer Zusammenarbeit mit der Opposition bereit sind. Das setzt allerdings allseits die nötige Rücksicht auf die komplizierte Struktur unseres Privatrechtssystems wie ebenso die Bereitschaft voraus, sich bei den notwendigen Abwägungen von den Gesichtspunkten der ausgleichenden Gerechtigkeit leiten zu lassen und auch elementare wirtschaftliche Zusammenhänge nicht zu verdrängen. ({1}) Umweltpolitische Deklamationen - und Sie haben hier doch deklamiert, das läßt sich gar nicht leugnen - helfen auf diesem Gebiet nicht weiter. Ich meine, auch und insbesondere hier gilt das Wort, daß das Gegenteil von „gut" nicht immer „schlecht", sondern manchmal auch „gut gemeint" ist. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hüsch.

Dr. Heinz Günther Hüsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000977, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist klar, daß jeder von uns weiß, daß der sorgsame Umgang mit der Umwelt insbesondere Verantwortlichkeit und Verantwortungsbewußtsein eines jeden einzelnen und der Gesellschaft voraussetzt. Kein Gesetz, kein öffentlich-rechtliches, kein privatrechtliches, kann die ethische Entscheidung aller und die begründete Sorge um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ersetzen; darauf hat der Minister zu Recht hingewiesen. Deshalb kommt dieser Debatte auch nur ein begrenzter Wert zu. Wir wissen, daß öffentlich-rechtliche Bestimmungen notwendig sind. Wir wissen, daß strafrechtliche Sanktionen notwendig sind. Wir wissen auch, daß das geltende Recht einer Verbesserung bedarf. Aber man kann nicht den Eindruck erwecken, als gebe es Vorschriften überhaupt nicht, als seien sie völlig ungeeignet, als sei jede Regierungstätigkeit, auch die vor 1982, ohne jeden Erfolg in der Umweltvorsorge. Nun, die Koalitionsvereinbarung greift das, was es zu kritisieren gäbe, auf. Die Inhalte sind klar. Die Einsetzung der Arbeitsgruppe Umwelthaftungs- und Umweltstrafrecht ist eine Konsequenz; es gab andere, auch vorher. Die Beratungen scheinen zum Abschluß gekommen zu sein. Es fehlt an der Abstimmung der Ministerien. Ich möchte die notwendige Abstimmung hier mit Nachdruck anmahnen, damit wir auch zu den gesetzgeberischen Akten kommen können. Die politische Verantwortung ist also erkannt. Es bedurfte und bedarf deshalb des heutigen SPD-Antrags überhaupt nicht. Er springt auf einen Zug auf, der längst in voller Fahrt aus dem Bahnhof heraus ist. ({0}) Der Beschleunigungswert des Oppositionsantrages ist ebenso gering. Hochinteressant ist allerdings: Nunmehr erkennt man in dem Dokument die Wirksamkeit marktrechtlicher Instrumente an, und man sieht auch ein, daß marktwirtschaftliche Dynamik für den Umweltschutz nutzbar gemacht werden kann. Das ist ein erfreulicher Fortschritt. Wie weit ist doch der Weg! Unerfreulich bleiben aber die Tendenzen des Hangs zu staatlichen Reglementierungen und zur Einbindung des Marktes, und die Ideologie des Antrages ist unübersehbar. Sie mündet in überzogene Anforderungen. Mit solcher Ideologie ist nicht weiterzukommen. Dafür ein Beispiel: Die SPD glaubt, betriebswirtschaftliche Risikovorsorge durch Versicherung des Risikos abdecken zu können. Aber gerade die Versicherungswirtschaft zögert, obwohl ihr doch eigentlich eine ungeheure Ausweitung ihres Geschäfts zu winken scheint. Sicher, die Versicherung des plötzlichen, unfallartigen Ereignisses mit Schadensfolgen ist in den Bereichen Boden und Wasser ohne weiteres möglich. Für den Bereich Luft ist das unendlich schwieriger, weil die Ursachenketten in Wasser und Boden in der Regel nachweisbar sind, sich die Luft aber bekanntlich - man scheut sich, die Platitüde zu wiederholen, daß die Luft unsichtbar und ständig in Strömung ist - der Messung und damit auch der Ursachendefinition weitgehend entzieht. Folgerichtig ist es für jeden, für den Versicherer wie für den Versicherten, jetzt noch unmöglich, das Risiko versicherungsrechtlich und versicherungsmathematisch abzuschätzen. Die Gründe, warum sich die Versicherungswirtschaft von der Absicherung sogenannter Kleckerschäden zurückzuziehen beginnt und gleichzeitig die von Ihnen geforderte Versicherung von Personenschäden aus dem genehmigten Normalbetrieb zur Zeit strikt ablehnt, können nun nicht von der Hand gewiesen werden, jedenfalls nicht mit naßforschen Erklärungen, wie sie in Ihrem Antrag stehen. Der Gesetzgeber muß wissen, auf welcher tatsächlichen Grundlage er eine etwa verpflichtende Versicherung gegen Umweltschäden einführen kann und will, und er muß, wenn er nicht zur verpflichtenden Versicherung kommen will, zugleich abwägen, welche kalkulatorischen Konsequenzen sich für den Normalbetrieb einer Anlage aus dem Risiko selbst wie aus der Versicherungsprämie ergeben. Dies läßt sich eben nicht naßforsch beantworten. ({1}) Die Konsequenz wird sein, daß wir die Gefahr haben - ich will sie nicht überzeichnen, aber sie darf auch nicht übersehen werden - , wirtschaftliche Tätigkeit zu erdrosseln und die Abwanderung aus dem Geltungsbereich eines solchen noch zu schaffenden Rechts zu beschleunigen. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Ich will folgendes klarstellen: Es geht nicht um den Schutz des unverantwortlich, grob fahrlässig oder sogar vorsätzlich handelnden Umweltverbrechers. Es geht darum, daß man die große Mehrheit derjenigen, die verantwortungsbewußt handeln und handeln wollen und denen dennoch ein Schadensfall unterläuft, deshalb nicht der Gefährdung ihrer Existenz unterwerfen darf. Es geht aber auch um diejenigen, die durch denkbare Beweisvermutungen - wie sie im SPD-Antrag enthalten sind - unbegründet rechtlich und auch menschlich dem Verdacht einer schädigenden Handlungsweise unterworfen werden. Es geht mir letztlich auch um diejenigen, die eine risikobehaftete Tätigkeit ausüben, ohne die die menschliche Ge7130 sellschaft, das tägliche Leben, die Wirtschaft und der Wohlstand nicht denkbar wären. Wenn aber Risikobereitschaft, auf die nicht verzichtet werden kann, mit dem Makel eines vermuteten Unrechts behaftet wird und wenn darüber hinaus eine solche Vermutung mit Rechtsfolgen bedacht wird, die nicht mehr in wirtschaftlich erträglichem Maße abgedeckt werden können, dann stirbt mit Sicherheit die Bereitschaft, solches Risiko zu tragen und Verantwortung zu haben. Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag ist sicherlich ein guter Denkanstoß, wenn auch wenig nützlich. Aber im Modell ist er weitgehend ungeeignet, wie die Kollegen Eylmann, Laufs und auch der Kollege Kleinert Ihnen überzeugend vorgetragen haben. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich Sie nur bitten kann, dem Ratschlag des Altestenrats zu folgen und den Antrag an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse zu überweisen. Ich habe den Eindruck, Sie stimmen dem zu; dann ist das beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 und die Zusatztagesordnungspunkte 4 bis 6 auf: 12. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Immissionsschutzbericht der Bundesregierung - Drucksache 11/2714 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Brauer, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN Maßnahmen gegen Luftverschmutzung und Gesundheitsgefährdung durch photochemischen Smog - Drucksache 11/2872 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Bachmeier, Blunck, Conrad, Conradi, Fischer ({2}), Dr. Hauff, Jansen, Kiehm, Koltzsch, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Müller ({3}), Reimann, Reuter, Schäfer ({4}), Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl ({5}), Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Abgasentgiftung der Kraftfahrzeuge - Drucksache 11/2009 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/220/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Abgase von Kraftfahrzeugmotoren ({8}) - KOM ({9}) 261 endg. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Emission gasförmiger Schadstoffe aus Dieselmotoren zum Antrieb von Fahrzeugen - KOM ({10}) 273 endg. - Rats-Dok. Nr. 7969/86 -- Drucksachen 11/883 Nr. 135, 11/1103 Berichterstatter: Abgeordnete Schmidbauer Lennartz Die genauen Titel der Vorlagen entnehmen Sie freundlicherweise den Vorlagen. Zum Immissionsschutzbericht liegt außerdem ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3179 vor. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß wir eine Debattenzeit von 90 Minuten haben. Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch, so daß ich die Aussprache eröffnen kann. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Harries.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vierte Immissionsschutzbericht der Bundesregierung zeigt, daß wir auf dem richtigen Wege sind und daß auch bemerkenswerte Erfolge zu verzeichnen sind. Er zeigt aber genauso, daß die anstehenden Probleme längst noch nicht alle bewältigt sind. Die Arbeit dauert also an. Ich sprach von bemerkenswerten Erfolgen. Das gilt; das meine ich so. Nur, die öffentliche Umweltdiskussion in unserem Lande, aber auch in diesem Hause spiegelt die Fortschritte, die wir gemacht haben, überhaupt nicht wider. ({0}) Es gibt immer noch ein Katastrophenszenario im Lande, auch hier im Hause. Wir hatten heute abend ja Gelegenheit, davon ein Beispiel zu erleben. Dabei meine ich, daß wir bei der Intensität und der Bedeutung dieses Problems alle gehalten sind, mit sehr viel Sachlichkeit, mit sehr viel Verantwortungsgefühl und auch mit einem Schuß Gelassenheit daranzugehen, Katastrophenszenarien und Katastrophenbilder, die immer wieder gerade vor der jungen Generation abgespielt werden, abzubauen. Sie mögen zwar mit poliHarries tischem Hintergedanken entwickelt werden, helfen aber in der Sache überhaupt nicht weiter. ({1}) Meine Damen und Herren, der Bericht, der jetzt vorliegt, bringt mich zunächst dazu, dem Hause des Umweltministers und dem Minister selber herzlich für die Vorarbeiten zu danken. Die Gefahren, die im Umweltschutzbericht dargestellt werden, kennen wir alle. Ich darf sie noch einmal kurz nennen: Die Gesundheit der Menschen ist bedroht. Asthma, Bronchitis, Pseudokrupp und Lungenkrebs sind vermutlich ganz wesentlich auf Luftverschmutzung zurückzuführen. Waldsterben und Waldkrankheit sind - das ist inzwischen überwiegende wissenschaftliche Meinung - auf einen Ursachenkomplex zurückzuführen, bei dem die Schadstoffe in der Luft eine ganz erhebliche und entscheidende Rolle spielen. Bauwerke und historische Baudenkmäler sind gefährdet und fallen der Luftverschmutzung sichtbar leider zum Opfer. Schließlich wird weltweit - das ist gut so - eine intensive Klimadebatte geführt; Zusammenhänge mit dem Zustand der Luft können dabei überhaupt nicht geleugnet werden. Die Politik hat nun aber auf diese Fakten, auf diese Entwicklungen, auf diese Zustände reagiert. Sie hat gehandelt, und - ich sage es noch einmal - ganz erhebliche Erfolge sind auf dem richtigen Wege, den wir beschreiten, hier vorzuzeigen. ({2}) Bevor ich darauf zurückkomme, sage ich aber ganz bewußt folgendes. Diese Erfolge wären überhaupt nicht erreicht worden, wenn nicht auch Wirtschaft und Industrie im weitesten Sinne - da beziehe ich auch die mittelständischen Handwerksbetriebe mit ein - mitgewirkt hätten und nicht auch ganz erhebliche Investitionen getätigt hätten. Diese Beispiele zeigen im Grunde, daß es einen nicht nur theoretischen, sondern einen möglichen und auch funktionierenden Brückenschlag zwischen Ökonomie und Ökologie gibt und daß vor allen Dingen unsere Marktwirtschaft neben der sozialen Komponente jetzt eine weitere Komponente mit Erfolg einbezogen hat und praktiziert; das ist eben die Ökologie. Am Beispiel eines großen - um bei der Privatwirtschaft zu bleiben - und oft gescholtenen Chemiekonzerns möchte ich die Mitwirkung und die Leistung der Industrie kurz beispielhaft verdeutlichen; ich könnte hier genauso viele andere und kleinere nennen. ({3}) Die Hoechst AG hat laut Mitteilung der „FAZ" trotz eines Produktionsanstiegs - die ist zitierbar, Frau Kollegin - von 30 % die Abluftemission um mehr als 60 % verringert; schwefelarme Brennstoffe, weit über 3 000 neue Reinigungsanlagen und Veränderungen im Produktionsverfahren haben das ermöglicht. Über 13 % der genannten Investitionen in der Hoechst AG in den letzten Jahren sind auf den Komplex Umwelt entfallen. Über 20 % des gesamten Forschungsetats sind ebenfalls auf den Umweltbereich entfallen. ({4}) Ich sage der Privatwirtschaft, der Industrie, den Kleinbetrieben, allen, die hier mitgewirkt haben, unseren ausdrücklichen Dank. Nur gemeinsam sind die noch andauernden Probleme zu meistern. ({5}) Was haben Bundesregierung und Bundestag, was hat der Gesetz- und Verordnungsgeber konkret erreicht? Meine Damen und Herren, bestehende Anlagen wurden im Berichtszeitraum in großem Umfang saniert, Altlasten mußten innerhalb von festgesetzten Fristen auf den neuen Stand oder stillgelegt werden. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz, die Novelle aus dem Jahr 1985, die Großfeuerungsanlagen-Verordnung und die TA Luft sind hier die richtigen gesetzlichen Grundlagen für diese Maßnahmen gewesen. Die Prinzipien der Sanierung, der Kompensation und der Vorsorge sind in diese Gesetze und Verordnungen eingeführt worden und werden mit Erfolg praktiziert. Nur einige wenige Zahlen will ich hier nennen. Wir wissen, daß bei Großfeuerungsanlagen der Schwefeldioxidausstoß von 2 Millionen Tonnen auf 0,7 Millionen Tonnen vermindert wurde und daß wir 1993, also in einem relativ kurzen Zeitraum, eine Tonnenzahl von 0,4 Millionen erreichen. Stickstoffoxide sind von ca. 1 Million Tonnen bei Großfeuerungsanlagen bis Anfang der 90er Jahre auf 0,25 Millionen Tonnen abgebaut. Insgesamt, also über die Großfeuerungsanlagen hinaus, sind ganz erhebliche Schwefeldioxid- und Stickstoffdioxidabbauwerte vorzuweisen. Bei Schwefeldioxid wird von 2,9 Millionen Tonnen auf insgesamt 1 Million Tonnen verringert, bei Stickstoffoxid von 3 Millionen Tonnen auf 2 Millionen Tonnen bis zum Jahr 1995. ({6}) Das gilt aber nicht nur für die Industrie, sondern es sind für private Haushaltungen genauso Maßnahmen eingeleitet worden, um den Schwefelgehalt bei Klein-feuerungsanlagen zu reduzieren. Weiter erinnere ich an die Einführung des bleifreien Benzins ab 1. Februar dieses Jahres und an das schadstoffarme Auto. Meine Damen und Herren, wir wissen, daß gerade dieser - notwendige - Erfolg auf die Initiative unserer Bundesregierung zurückzuführen ist. Es war mühsam - wir alle haben das verfolgt - , die EG auf diesen richtigen Weg mit uns zu bringen. ({7}) Es ist deutlich geworden, daß EG-Verhandlungen überhaupt keine Spaziergänge sind, sondern sehr schwierige, zeitraubende Wege. Hier dürfen wir nicht nachlassen. Wir alle wissen - durchaus leidvoll -, daß Verhandlungen eingeleitet worden sind, um auch bei den Kleinwagen bis zu einem Hubraum von 1,4 1 zu diesem Erfolg zu gelangen, sich aber zeitlich verzögern. Vor dem Hintergrund des CO2-Problems und der Klimadebatte ist - das sage ich hier ausdrücklich - jede Verzögerung nicht nur bedauerlich, sondern ganz sicher ein Rückschritt. Wir kennen alle - ich komme zu einem weiteren Punkt - die Störfallverordnung, die im September in Kraft getreten ist. Hier ist anläßlich einer Anhörung vor dem Umweltausschuß von den anwesenden Verbandsvertretern und Wissenschaftlern deutlich gemacht worden, daß diese Störfallverordnung, die Genehmigungsvoraussetzungen erschwert, die Kontrollen einführt - alles richtig, alles notwendig - , auf der Welt und in Europa ihresgleichen sucht. Auch hier sind wir der Vorreiter. Ich komme darauf kurz zurück. Der Komplex Lärm ist im Bundesimmissionsschutzbericht ebenfalls angesprochen, mit Recht angesprochen. Hier gibt es inzwischen EG-einheitlich festgelegte Geräuschgrenzwerte für Kraftfahrzeuge. Das Bundesverkehrsministerium wendet darüber hinaus ganz erhebliche Finanzmittel des Bundes auf, um Lärmschutzmaßnahmen an Autobahnen und Bundesstraßen und im kommunalen Bereich - durch Zuschüsse - zu finanzieren. Darüber hinaus leistet die TA Lärm ganz erhebliche rechtliche Beiträge gegen Industrie-, Gewerbe- und Baulärm. Nur sollten wir auch hier wissen, und begreifen und ehrlich zugeben, daß eine Reduzierung auf Null-Werte überhaupt nicht möglich ist. Ich will in diesem Zusammenhang ganz bewußt den brisanten Konflikt zwischen den militärischen Tiefflügen und den Lärm ansprechen, der in der Bevölkerung auf wachsende Kritik gestoßen ist. Darüber hat dieses Haus diskutiert. Die Debatte wird fortgesetzt. Ich wollte an dieser Stelle auch aus der Sicht des Umweltausschusses sagen, daß hoffentlich die Einsicht besteht, daß unsere Luftwaffe ja nicht auf Grund eigenen Wollens tätig wird, sondern einem politischen Auftrag folgt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, mit Rücksicht darauf, daß Sie selber gesagt haben, Sie wollten kurz auf diese Dinge eingehen, mache ich Sie erst jetzt darauf aufmerksam, daß Sie Ihre Redezeit sehr deutlich überschritten haben. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Großzügigkeit des Präsidenten nicht überstrapazierten. ({0})

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe Verständnis für diese Mahnung. Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Wir haben Erfolge, aber wir müssen auf diesem Wege weitergehen, hoffentlich mit Verantwortungsgefühl und auch mit Gelassenheit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Immissionschutzbericht ist ein Rechenschaftsbericht. Die Regierung hat ihn ein Jahr nach Beginn der Legislaturperiode vorzulegen. Ich will jetzt nicht über die paar Monate Fristüberziehung reden, sondern darüber, daß der Bericht eine zutreffende Beschreibung der Immissionssituation und der Maßnahmen zu geben hat, die zur Verbesserung, sprich: zur Reduzierung der Luftverschmutzung und der Lärmbelastung ergriffen wurden oder ergriffen werden sollen: eine zutreffende Beschreibung! Was der Bericht anbietet, meine Damen und Herren, wird diesem Anspruch im zentralen Feld der Luftreinhaltung nicht gerecht. ({0}) Ich will gar nicht in Abrede stellen, lieber Kollege Harries, daß Fortschritte erzielt worden sind: bei der Heizölentschwefelung, beim Verbot des PCP, beim bleifreien Benzin. Ich will auch nicht in Abrede stellen, daß die Industrie etwas getan hat. Aber, liebe Kollegen, das ist doch nicht um unserer blauen Augen willen geschehen, sondern weil Vorschriften erlassen worden sind. ({1}) Das entläßt den Staat nicht aus seiner Verantwortung. Alles in allem genommen ist die Luftreinhaltebilanz eher kläglich. ({2}) Von einer Reinluftzukunft sind wir heute weiter entfernt als vor vier Jahren. Wenn die Bundesregierung sagt, daß sie der Luftreinhaltung hohe Priorität einräume, dann mag dies als Ausdruck des guten Willens hingenommen werden. Aber wenn an mehreren Stellen ihre „konsequente Luftreinhaltestrategie" - was für ein großes Wort! - beschworen wird, deren - wörtlich - „positive Auswirkungen sich inzwischen deutlich zeigten", dann ist zu fragen: wo? Wo denn zeigen sich diese Erfolge? Vielleicht in den Straßenschluchten unserer Städte, z. B. in Stuttgart, wo der Regierungspräsident vor wenigen Tagen weit überhöhte Stickoxidkonzentrationen festgestellt und gefordert hat ({3}) - ja, der hat gemessen - : „Diese Selbstvergiftung muß ein Ende haben" - das haben Sie genausogut gelesen wie ich ({4}) - lieber Herr Kollege Lippold, ich habe eine begrenzte Zeit; wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann gehen Sie doch zum Mikrophon -, oder beim Waldsterben, das mittlerweile unbarmherzig auf die Laubbäume übergegriffen hat, auf Buchen und Eichen, die zu 60 bis 70 % von der Krankheit befallen sind?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Lippold kommt Ihrem Wunsch, ans Mikrophon zu gehen, nach.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön. Sie werden sicherlich so freundlich sein und die Zeit stoppen, Herr Präsident.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber selbstverständlich. Das ist schon geschehen, Frau Abgeordnete. Bitte sehr.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hartenstein, treffen Sie diese Aussage auch für die anderen Ballungsgebiete, insbesondere für das Ruhrgebiet?

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich im Augenblick nicht sagen. Ich spreche von dem Gebiet, aus dem ich die Informationen habe. Dieses ist die Landeshauptstadt Stuttgart, in der der Regierungspräsident Dr. Bulling das geprüft hat. Ich kann Ihnen die Beweise gerne liefern. Nein, meine Damen und Herren, das ständige Sichselbst-auf-die-Schulter-Klopfen ist unbegründet. Es macht eher mißtrauisch. Wenn der Erfolg offen zutage liegt, ist es nicht nötig, so dick aufzutragen. Zu Ehren des Berichts sei darauf hingewiesen, daß die beiliegenden Tabellen eine deutliche Sprache sprechen und auch nüchtern interpretiert werden. Es ist ohne Zweifel ein Fortschritt, Herr Kollege Harries, daß eine deutliche Verminderung bei den S02-Emissionen festzustellen ist, was insbesondere durch die Entschwefelungsanlagen bei Kraftwerken und Industriefeuerungen auf Grund der Großfeuerungsanlagen-Verordnung erreicht wurde. ({0}) Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ganz anders ist die Lage bei den Stickoxiden, der zweiten Hauptquelle der Luftverschmutzung. Hier sehen wir einen steilen Anstieg auf rund 3 Millionen t in 1986. Dann bricht die Tabelle übrigens schnell ab und gibt einen ziemlich illusionären Ausblick auf 1995. Da wird nämlich alles ganz hervorragend sein! Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Woher nehmen Sie diesen Optimismus? Wir haben in den letzten Jahren gerade bei den Stickoxidemissionen erfahren, daß die Wirklichkeit alle regierungsamtlichen Prognosen Lügen gestraft hat. ({1}) 1985 prophezeite Bundesinnenminister Zimmermann einen Rückgang der Stickoxide in drei Jahren allein im Pkw-Bereich um 25 %, ({2}) für 1995 sogar um über 50 %. Die Wirklichkeit beweist genau das Gegenteil. Die Kurve zeigt steil nach oben. Der jährliche Zuwachs beträgt 2 %. Heute liegen die Emissionen schon um 7 % und in Süddeutschland sogar um 15 % höher als 1985. Das heißt, die Bundesregierung hat sich in ihrer Prognose um 48 % getäuscht - zuungunsten der Natur. Daß diese gewaltige Stickoxidwolke hauptsächlich aus dem Straßenverkehr kommt, wird nicht bestritten, von keinem, denke ich. Verwundern muß allerdings, daß sich die Bundesregierung wundert. Steht da doch auf Seite 16 des Berichts: Dies - nämlich der Anstieg der Schadstoffemissionen gilt insbesondere für die jährlichen NOx-Emissionen, die infolge einer unerwarteten Entwicklung beim Straßenverkehr ({3}) höher als bisher prognostiziert ausfallen. ({4}) Wahrlich ein Dokument von entwaffnender Naivität, Herr Kollege Schmidbauer. Ich frage: Wo lebt denn diese Bundesregierung? Tut sie nicht selbst alles, um den Straßenverkehr noch kräftig anzuheizen? ({5}) Von einem Tempolimit ist im ganzen Bericht mit keinem Sterbenswörtchen die Rede, obwohl man damit von heute auf morgen 150 000 t Stickoxide wegbekommen könnte. Der öffentliche Personennahverkehr hat seit der Wende nicht gerade einen rasanten Aufschwung genommen, und die Sanierung der Bundesbahn schiebt der Verkehrsminister immer noch auf die lange Bank. So ist doch die Lage. Angesichts dieser Sachlage klingt es wie ein frommer Wunsch, wenn der Bericht fortfährt: „Zur Erreichung dieses Ziels", nämlich der Schadstoffminderung, „sind auch die bisherigen Maßnahmen zur Entlastung des Straßenverkehrs zu intensivieren" . Was - bitte schön - sind denn die bisherigen Maßnahmen? Und was geschieht übrigens mit Blick auf 1992? Hat denn der Bundesverkehrsminister der EG-weiten Liberalisierung im Verkehrsbereich nicht längst zugestimmt? Ich frage die Bundesregierung: Was hat sie bis jetzt unternommen, um sicherzustellen, daß ein leistungsfähiges europäisches Schienennetz wenigstens die auf langen Strekken zu transportierenden Massengüter aufnehmen könnte? Mit welchen zusätzlichen Emissionsmengen rechnet sie angesicht der 1992 zu erwartenden Invasion von Lastzügen auf unseren Straßen, und was wird sie unternehmen zur Reduzierung dieser Emissionen, Herr Staatssekretär Gröbl? Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es mir zumindest leichtfertig, in den Immissionsschutzbericht hübsch abwärts zeigende Kurven für 1995 hineinzumalen. Der Lkw-Verkehr liefert jetzt schon mit 480 000 Tonnen Stickoxidemissionen jährlich fast ein Drittel der gesamten Schadstoffausstöße aus dem Kraftfahrzeugverkehr. Hinzu kommen 180 000 Tonnen Rußpartikel. Bis zum Jahre 2000 ist eine Verdoppelung des Transportvolumens auf der Straße vorausgesagt. Was da auf uns zukommt, halten weder die Menschen noch die Bäume aus. Ist Ihnen das klar? ({6}) Auf den Kammlagen der Mittelgebirge ist ein flächenhaftes Absterben des Waldes im Gange, der Schutzwald in den Alpen ist zu 80 T. bedroht. Das sind Fakten, traurige Fakten. In Ihrem Bericht, Herr Staatssekretär, kommt das Wort „Waldschäden" nur im Kapitel „Forschung" vor: es gebe weiterhin Forschungsbedarf. Gewiß gibt es das, aber es gibt noch mehr Handlungsbedarf, und zwar sofortigen und zwingenden Handlungsbedarf. ({7}) Ist es denn bloßer Zufall, daß in den vier Bundesländern, in denen die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge pro 1 000 Einwohner am höchsten ist, auch der prozentuale Anteil der Waldschäden am höchsten ist? Das sind Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz. Die SPD-Fraktion fordert in dem vorliegenden Antrag 11/2009 erstens die obligatorische Einführung der US-Norm für alle Kraftfahrzeugtypen, d. h. Katalysatorpflicht für alle Neuwagen, zweitens die Einführung eines EG-Prüfzyklus, der realistischen Fahrbedingungen angepaßt ist - der heutige EG-Zyklus verlangt nämlich die Einhaltung der Grenzwerte nur bis Tempo 50, im Grunde eine lächerliche Bestimmung -, drittens die sofortige Einführung eines Tempolimits, wie es alle anderen EG-Staaten längst haben, viertens die Reduzierung der Schadstoffemissionen für Lkw und Busse und nicht zuletzt fünftens ein Umrüstprogramm für Altfahrzeuge. Der baden-württembergische Umweltminister Vetter erklärte vor wenigen Tagen, der Kat müsse „moralische Norm" werden. Nein, er muß politische Norm werden, denn die technische Norm ist er längst. ({8}) Ich schließe mich der Forderung des nordrhein-westfälischen Umweltministers Klaus Matthiesen an, daß der Drei-Wege-Katalysator notfalls auch im nationalen Alleingang eingeführt werden müsse. ({9}) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, Herr Kollege Schmidbauer, vom 20. September 1988 bedeutet auf diesem Felde einen Durchbruch. Es erleichtert die Realisierung dieser Forderung, denn die Richter vertreten eindeutig die Auffassung, daß Einschränkungen des freien Warenverkehrs hingenommen werden müssen, wenn zwingende Gründe des Umweltschutzes es erfordern. Ich denke, der drohende Tod unserer Wälder ist ein zwingender Grund. Deshalb ist kein Zögern mehr erlaubt. Dänemark hat sich nicht einschüchtern lassen; es will künftig die US-Grenzwerte vorschreiben. Folgen Sie diesem Beispiel! Und streichen Sie bitte den Satz aus Ihrem Bericht: „Das schadstoffarme Auto hat sich durchgesetzt". ({10}) Wenn heute vier von fünf als schadstoffarm deklarierte Wagen keinen geregelten Katalysator besitzen, dann ist das eine Bankrotterklärung der Luftreinhaltepolitiker, nichts anderes. ({11}) Ein weiterer Punkt: die Emissionen aus dem Luftverkehr. In 25 knappen Zeilen wiederholt der Bericht alte Allgemeinplätze, die dadurch nicht überzeugender werden, daß man sie noch einmal sagt. Der Anteil des Luftverkehrs am Schadstoffausstoß betrage weniger als 1 %, sei also vernachlässigbar gering. Heilige Einfalt! Mit Prozentzahlen läßt sich stets trefflich operieren. Es wird nichts darüber gesagt, daß sich die Emissionen in bestimmten Gebieten außerordentlich verdichten, z. B. in der Umgebung von Flughäfen, unter den Luftstraßen und last not least in militärischen Tieffluggebieten. Der Bericht betont, daß eine Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs der Triebwerke pro Leistungseinheit eingetreten sei. Das stimmt. Er sagt aber nicht, daß dieser Erfolg mit einer erheblichen Erhöhung des Stickstoffausstoßes erreicht worden ist; so übrigens bestätigt von Fachleuten der Deutschen Lufthansa. Er sagt auch nichts darüber, daß 70 % aller Flüge in Höhen zwischen 9 und 12 km abgewickelt werden, und zwar konzentriert auf die nördliche Halbkugel, auf Westeuropa und Nordamerika. Dort trägt die NOxEmission aus dem Luftverkehr erheblich zur Vermehrung des troposphärischen Ozons bei und damit zur Verstärkung des Treibhauseffektes. In der Troposphäre ist Ozon ein aggressives Umweltgift, das den Wald und die gesamte Vegetation schädigt, ganz im Gegensatz zur Stratosphäre. Dort wirkt die Ozonhülle als lebensschützender Filter, der die harte UV-Strahlung der Sonne abhält. Aber in der Stratosphäre, also in Höhen über 12 km, verrichten Flugzeugschadstoffe leider ebenfalls ein zerstörerisches Werk. Hier tragen sie über luftchemische Prozesse zum noch schnelleren Abbau der Ozonhülle bei. Noch schneller deswegen, weil der Löwenanteil der Ozonvernichtung ja auf das Konto der FCKW geht. Frage: Kann man denn nicht auch im Flugzeugbau abgasärmere Triebwerke konstruieren? Ich meine, daß müßte unsere Forderung sein. ({12}) Ein trübes Kapitel ist auch das Schicksal der Großfeuerungsanlagen-Verordnung auf EG-Ebene. Bundesumweltminister Töpfer hat leider nicht erreicht, daß die in der Bundesrepublik seit fünf Jahren in Kraft befindliche Verordnung endlich für alle EG-Länder verbindlich wird. Im Gegenteil: Für Schwefeldioxid werden noch zehn Jahre lang, bis 1998, Verschmutzungsrechte festgeschrieben; für Stickoxide sogar 15 Jahre, bis zum Jahre 2003. Großbritannien spielt dabei eine ganz besonders unrühmliche Rolle. Ich will nicht in Zweifel ziehen, daß der bundesdeutsche Umweltminister sein Möglichstes getan hat, um ein bessseres Ergebnis zu erreichen. Das Faktum ändert sich aber leider nicht. Damit bleibt auch das Ergebnis der deutschen EG-Ratspräsidentschaft äußerst kärglich, zumal der ohnehin schwache Kleinwagen-Kompromiß postwendend von Frankreich wieder aufgekündigt wurde. ({13}) Fazit: Der Vierte Immissionsschutzbericht gibt mitnichten Anlaß zur Selbstzufriedenheit. Ein schlüssiges Handlungskonzept für die Luftreinhaltung fehlt nach wie vor. Wenn der baden-württembergische Ministerpräsident Späth jetzt 50 Millionen DM für Katalysatorwerbung ausgeben will, dann ist das zwar ein politischer Gag. Besser wäre es, er würde die 50fache Anstrengung in eine politische Regelung investieren, die endlich den Katalysator vorschreibt und stärkere Anreize zur Umrüstung bietet. ({14}) Der Regierungspräsident in Stuttgart jedenfalls zieht die Notbremse. Er will an zehn bis 20 Tagen im Jahr keine nicht entgifteten Autos mehr in die Innenstadt lassen und außerdem drastische Geschwindigkeitsbeschränkungen verfügen. ({15}) Recht hat er. Aber muß es so weit kommen, daß sich ein Verwaltungsbeamter zum Handeln gezwungen sieht, weil die politische Ebene versagt? Das ist eine Frage an Sie, an die Regierung und an die Mehrheit in diesem Hause. Danke schön. ({16})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Baum. ({0})

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vierte Immissionsschutzbericht macht den weiteren Handlungsbedarf deutlich, den wir im Bereich der Luftreinhaltung haben. Wir haben hier, wie schon ausgeführt wurde, eine Langfriststrategie. Sie ist nicht erst von dieser Regierung entwickelt worden, sondern schon früher, und wir haben ja erhebliche Erfolge erzielt. Wir haben beispielsweise die Staubemissionen zwischen 1966 und 1982 um zwei Drittel, also drastisch gesenkt, um das noch einmal zu sagen. Auch in anderen Bereichen sind erhebliche Reduzierungen erfolgt. Es ist ganz klar, daß man eher über die Dinge redet, die nicht erreicht sind, und das werden wir hier tun. Bei anderen Schadstoffen ist also die Bilanz weniger positiv. Ich möchte hier einen Punkt herausgreifen, der mir und meiner Partei Sorge macht: Das ist der Anteil, der steigende Anteil der Emissionen von Autoabgasen an der Stickoxidbelastung. ({0}) Der Anteil der Autoemissionen an der Gesamtstickoxidbelastung ist 1986 52,5 % gewesen. Er wird bis 1995 auf 59,1 % ansteigen. ({1}) Das geht auf die Steigerung der Gesamtfahrleistung, auf die Zunahme des Pkw-Bestandes und auch darauf zurück, daß von der Nachrüstung bei Altautos zuwenig Gebrauch gemacht wird. Der Anteil der Fahrzeuge mit scharfen Grenzwerten am Gesamtbestand der Autos mit Bezinmotoren beträgt lediglich 6,6 % - das ist viel zuwenig -, der Anteil bei den Neuzulassungen nur 30,8 %. ({2}) Das ist keine Sache, Herr Kollege Lennartz, die Sie nun der Bundesregierung oder den Koalitionsfraktionen zum Vorwurf machen könnten. ({3}) Wir kaufen nicht die Autos, die Autos werden von unseren Mitbürgern gekauft. ({4}) - Aber ich bitte Sie, lassen Sie mich doch einmal ausreden. - Wir stellen fest - dem können Sie doch gar nicht widersprechen - , daß zuwenig schadstoffarme Autos auf dem Markt sind, die gekauft werden könnten. Deshalb ist es gar nicht unvernünftig, auch von dieser Stelle, also durch den Deutschen Bundestag, unseren Mitbürgern zu sagen: Ihr könnt selber etwas tun; macht von dem Angebot Gebrauch, das auf dem Markt vorhanden ist. ({5}) Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Wir machen es euch auch einfacher. Wir haben ja Steuerbefreiungen und Steuervergünstigungen beschlossen. Das ist eine den Kauf beeinflussende Maßnahme. Ich meine, daß wir uns hier nachdrücklich daranmachen müssen, die Steuerbefreiungen - dazu möchte ich die Bundesregierung auffordern - zu verlängern. Sie gelten jetzt für die kleinen Autos bis 1990 und für die anderen bis 1991. Die Kosten-NutzenRelation für den Käufer verändert sich ständig, sie verringert sich. Ich meine also, wir sollten diese Anreize verlängern und noch einen Schritt weitergehen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht die US-Grenzwerte generell zugrunde legen sollten, ({6}) so wie die Niederlande das jetzt versuchen und wie Dänemark das tut. Ich bin mir bewußt, daß hier ein EG-politisches Risiko besteht. ({7}) Ich weiß nicht, wie weit unser Spielraum geht. Die Kommission hat hier bereits gebeten, eine Prüfzeit zu haben. Der Europäische Gerichtshof wird möglicherweise tätig werden. Aber ich meine, wir sollten uns hier an die Seite der Niederländer und der Dänen stellen und durch eine solche flankierende Maßnahme ein wenig das reparieren, was in der EG nicht gelungen ist. Frau Kollegin Hartenstein, wir können die Entscheidungen der EG, sowenig sie uns passen, hier nicht rückgängig machen. Aber wir können möglicherweise durch flankierende Entscheidungen das Schlimmste verhüten. Jedenfalls können wir einen zusätzlichen Anstoß geben, damit schadstoffarme Fahrzeuge stärker gekauft werden. Eine Aufklärungskampagne ist hier vorgeschlagen worden. Warum nicht? Ich frage mich allerdings, ob da unbedingt 50 Millionen DM notwendig sind. Ich bin auch der Meinung, daß die Smog-Verordnungen der Länder einen Beitrag leisten können. Ich verstehe nicht, daß die Kommission hier Bedenken erhebt. Ich bin der Meinung, daß bisher bei den LKW ganz generell, auch im Bereich der EG, zuwenig geschehen ist. Ich frage mich: Warum haben wir - auch die Bundesregierung - einer Freizügigkeit der LKW über unsere Grenzen hinweg zugestimmt, ohne daß wir bei Rußfiltern ein Junktim hergestellt haben? ({8}) Wir hätten fordern sollen, daß nur bestimmte LKW kommen dürfen, die bestimmte unweltpolitische Bedingungen erfüllen. Generell bin ich der Meinung, daß wir mit solchen marktwirtschaftlichen Anreizen steuerlicher Art, wie ich das gesagt habe, arbeiten sollten. Ich möchte mein Augenmerk auch auf andere Schadstoffe richten und Ihre Aufmerksamkeit auf Chlorkohlenwasserstoffe und Rußpartikel lenken. Diese diffusen Quellen wurden zuwenig beachtet. Ozon ist bisher nicht in die Liste der smogrelevanten Schadstoffe aufgenommen worden. Es müssen Grenzwerte für die Ozonkonzentration in der Luft zur Auslösung von Smog-Alarm eingesetzt werden. ({9}) Die Bundesregierung ist, insbesondere auch auf internationaler Ebene, weiter gefordert. Wir brauchen in der Tat eine aktivere EG-Umweltpolitik. Vor kurzem habe ich in meiner Verzweiflung einen EG-Umweltgipfel gefordert, um das Thema einfach stärker ins Bewußtsein zu bringen. Wir sind aufgefordert, das Immissionsschutzrecht anzupassen. Wir setzen uns schon seit langem für die Novellierung des Bundesimmissionsschutzgesetzes ein, zur Stärkung der Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz. Verbindliche Regelungen zu Luftreinhalteplänen haben wir schon in der letzten Legislaturperiode gefordert. Diese Luftreinhaltepläne können natürlich auch dazu führen, daß bestimmte Belastungen durch Kraftfahrzeuge in bestimmten Regionen, beispielsweise in Stuttgart, nicht mehr möglich sind. Wenn wir bestimmte verbindliche Luftreinhaltepläne fordern, hat das möglicherweise auch Auswirkungen auf den Kraftverkehr in bestimmten Regionen. Das kann auch dazu führen - ich bitte, darüber nachzudenken -, daß Autos, die nicht schadstoffarm sind, nicht mehr fahren dürfen. Es wird sehr schwierig sein, das zu praktizieren. Man sollte das aber überlegen. Die Luftreinhalteplanung muß durch verbindliche Umweltqualitätsziele in verbindlichen Luftreinhalteplänen mehr Biß erhalten. Das haben wir in der Koalitionsvereinbarung bestimmt. Das hat meine Fraktion schon in der letzten Legislaturperiode gefordert. Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zum Lärmschutz sagen: Meines Erachtens ist das in der Umweltpolitik ein Stiefkind geworden. Wir haben die Luftreinhaltepolitik sehr intensiv behandelt, weniger jedoch die Lärmschutzpolitik. Deshalb bitte ich den Bundesumweltminister eindringlich, sich diesem Thema zuzuwenden. Hier gibt es viele Möglichkeiten, schneller, als bisher geschehen, voranzukommen. Die Fortschreibung der Technischen Anleitung Lärm, die Möglichkeiten der Motorkapselung sind aus dem Auge verloren worden. Das Auto wird gegen Lärm isoliert, obwohl der im Auto sitzende gegen Lärm geschützt werden soll, nicht jedoch der Passant. Ich möchte noch auf eine Vereinheitlichung der sehr unterschiedlichen Lärmbestimmungen in den einzelnen Bundesländern hinweisen. Ebenso möchte ich auf die Maßnahmen an der Quelle bei LKW und bei Zweirädern, auf die Entwicklung leiserer Strahltriebwerke von Flugzeugen und auf eine Kennzeichnungspflicht für Schallemissionen von Anlagen, Maschinen und Geräten verweisen, die ich für notwendig halte. Im übrigen habe ich auch, Frau Kollegin Hartenstein, Sorge, was den steigenden Flugverkehr und die Schädigung angeht, die von ihm ausgeht, also nicht nur Lärm, sondern auch die Schädigung durch Schadstoffemissionen. Insgesamt macht der Vierte Immissionsschutzbericht die Entschlossenheit der Koalition von FDP und CDU/CSU deutlich, weitere Erfolge, gerade auch bei der Luftreinhaltung, zu erzielen. Wir alle - nicht nur der Staat, sondern auch Industrie und Verbraucher - haben hier in der Vergangenheit eine Menge getan. Wir müssen aber die weiteren Probleme offensiv und entschlossen angehen. Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung eine Fülle von Vorhaben, die dazu beitragen. Wir werden sie entschlossen und zielstrebig zum Abschluß bringen. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder begrüße ich natürlich meine Freundinnen und Freunde besonders. Nach den Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes muß die Bundesregierung ein Jahr nach ihrem Einzug in die Regierung eine Bilanz der Luftreinhaltepolitik vorlegen. Diese Bilanz liegt seit Juli vor. ({0}) - Gelesen hab ich das schon. Dieser Bericht ist eine eigenartige Mischung - das konnte ich wohl nur beim Lesen feststellen - aus sachlichen Informationen und einer glänzenden Schönfärberei. Man muß Herrn Töpfer einfach zugestehen: Er hat eine Handwerkerzunft in seinem Ministerium nicht aussterben lassen, eben gerade diese Schönfärber. Diese haben versucht, aus den sachlichen Informationen eine Selbstbelobigung und Abwiegelei zu machen, die schwer zumutbar ist, die der Sache nicht gerecht wird. Wir wollen hier nicht verschweigen, daß manches Vernünftige gemacht worden ist. Wir erkennen den Rückgang der S02-Emissionen an, die Einführung des bleifreien Benzins. Das bestreiten wir nicht. Das sind Fortschritte, aber eben zu kleine Schritte. In einem Punkt hat die Regierung es nicht verstanden, wirklich durchzugreifen. Das wird an den zunehDr. Knabe menden Waldschäden deutlich: bei den Kraftverkehrsemissionen. Wir haben es von Frau Kollegin Hartenstein gehört, und auch Herr Baum hat es angesprochen: Die Zunahme der Stickoxide ist nicht weiter zumutbar. Das, was Herr Minister Zimmermann noch im April 1984 im Dritten Immissionsschutzbericht veröffentlicht hat, hört sich gar nicht schlecht an. Danach sollten - ich zitiere - die Schadstoffe im Kfz-Abgas unter Ausschöpfung der derzeit verfügbaren wirksamsten Technologie vermindert werden. Zu diesem Zweck sollten die zur Zeit in den USA geltenden Grenzwerte einschließlich der dort angewandten Testverfahren übernommen werden. Soweit das Zitat. Die Schadstoffe sollten also nach der Zielvorstellung der Bundesregierung auf weniger als ein Zehntel im Vergleich zum Beginn der 70er Jahre herabgesetzt werden. Meine Damen und Herren, die dann folgende Katalysatorpleite in der EG muß ich wohl nicht mehr näher erläutern. Aber es ist interessant, was das Umweltministerium in dem neuen Bericht aus dieser größten umweltpolitischen Bruchlandung noch gemacht haben will. Danach hatte - ich zitiere - die Bundesregierung am 21. Juli 1983 den Grundsatzbeschluß zur Einführung des schadstoffarmen Autos gefaßt. Das Vorhaben sei auf deutsche Initiative in der EG durchgesetzt worden. Die erzielte Einigung - so heißt es weiter - stelle einen Durchbruch in Richtung auf die von der Bundesregierung verfolgten Ziele dar. Aber die Fakten belegen, daß Minister Töpfer nicht durchgebrochen, sondern daß er hier tief eingebrochen ist. ({1}) Wie sehen die Fakten aus? Dieses Jahr werden so viele Stickoxide freigesetzt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit 1,36 Millionen t wird der Schadstoffausstoß um 7 % höher liegen als 1983, in dem Jahr, in dem politische Maßnahmen gegen das Waldsterben begonnen haben. Davon stammen allein 60 % aus dem Verkehr. Diese Verkehrsemissionen sind seit 1983 um 16 % gestiegen, allein in diesem Jahr um 2 %. Damit wurden sämtliche Prognosen der Bundesregierung über den Haufen geworfen; denn noch im Oktober 1985 wollte die Regierung ja der Öffentlichkeit weismachen, daß sie diese Emissionen bald herabsetzen wollte, daß sie 1988 um 25 % zurückgehen würden. Die Vorausberechnungen unabhängiger Wissenschaftler wurden damals von Herrn Staatssekretär Spranger als politisch gefärbt und offenkundig falsche Ergebnisse unter wissenschaftlichem Deckmantel diffamiert. Ich meine, das grenzt an aalglatten Zynismus, mit dem man eine Tu-nichts-Politik überdecken will. ({2}) Die Zunahme der Schadstoffbelastung im Pkw-Bereich kommt vor allem dadurch zustande, daß die Raserei auf den Straßen wieder beträchtlich zugenommen hat und daß sich der Verkehrsminister mit seiner konsequenten Politik der Verkehrsverlagerung von der Schiene auf die Straße auf unbezweifelbarem „Erfolgskurs" befindet. Aber es sind sehr schädliche, für die Umwelt nachteilige „Erfolge". Wie steht es mit der Entgiftung der Autos? Man liest immer wieder die beeindruckenden Bilanzen des Kraftfahrtbundesamtes. Danach sind heute 8,6 Millionen - stellen Sie sich das einmal vor -, also 30 aller Pkw, als schadstoffarm oder bedingt schadstoffarm anerkannt. Aber eben nur sechs Prozent aller dieser Autos haben einen geregelten Katalysator. Der große Rest der sogenannten Schadstoffarmen besteht aus Dieselfahrzeugen oder eben denen, die mit einem ungeregelten Katalysator oder mit anderen Maßnahmen ausgerüstet sind, die bei hohen Geschwindigkeiten sehr hohe Emissionen an Stickoxid verursachen. Es gibt weiter das Problem der Lastkraftwagen; denn für die Brummis hat der Minister weder wirksame Grenzwerte noch steuerliche Maßnahmen zur Verminderung des Schadstoffausstoßes erlassen, obwohl diese heute schon ein Drittel aller Stickoxidemissionen des Verkehrs verursachen, und dazu noch die hoch gefährlichen krebserzeugenden Partikel, die Ruße. Statt dessen wurde die Steuerlast einseitig auf die Kfz-Steuer der vielen Dieselfahrer abgewälzt. Man hätte bei der Steuerreform sehr gut etwas machen können, nämlich die Steuerverlegung auf das Dieselöl. Dann wäre jeder sparsamer im Verbrauch. Das hat man nicht getan. Wer den Immissionsschutzbericht genau liest, wird beim Nachmessen des Balkendiagramms in Abbildung 6 feststellen, daß die Stickoxidemission vom Lkw selbst nach Schätzungen des Bundesumweltamtes bis 1995 um weitere 87 000 Tonnen zunehmen soll. Das soll ein Erfolg des Nutzfahrzeugkonzepts sein, wie die Bundesregierung ihre Vereinbarung mit der Industrie bezeichnet? Die Folgen dieser Unterlassungssünden treten vor allen Dingen dieses Jahr deutlich zutage. Das aus den Stickoxiden unter Sonneneinwirkung entstehende Ozon vergiftet nicht nur die Wälder, es bedroht auch in zunehmendem Maße die Gesundheit der Menschen in Ballungsgebieten. Was macht dieses Ozon? Es hat drei Wirkungen: Erstens. Es greift unmittelbar in den Stoffwechsel der Pflanzen ein und mindert Erträge und macht Bäume und andere Pflanzen krank. Zweitens. Es reizt unsere Augen und es reizt das Lungen- und das Atemgewebe. Drittens. Es ist ein sehr wirksames Treibhausgas. In der unteren Luftschicht wirkt Ozon treibhausfördernd. In der hohen Stratosphäre ist es ein sehr nützlicher Filter gegen UV-Strahlen. Ich habe noch als Wissenschaftler an der Landesanstalt für Immissionsschutz in Essen bereits 1967/68 in Frankfurt, Köln, im Ruhrgebiet und im Münsterland den Nachweis geführt, daß wir pflanzenschädliche Ozonkonzentrationen für empfindliche Pflanzen haben. Das war vor 20 Jahren. Man hat gegen dieses Ozon bisher nichts unternommen. Wir haben deshalb heute einen Antrag vorgelegt, der dann in die Ausschüsse gehen soll; einen Antrag, daß wir einen Smog-Grenzwert für Ozon einführen. Ich hoffe sehr auf die Unterstützung der Kollegin Hartenstein und des Kollegen Baum, die ja beide die Notwendigkeit, da etwas zu tun, angesprochen haben. Von der Fraktion DIE GRÜNEN liegen zwei Anträge vor, der eben genannte Ozonantrag und ein Entschließungsantrag zum vorliegenden Immissionsschutzbericht. Darin fordern wir angesichts des unvermindert anhaltenden Waldsterbens: erstens und als Schwerpunkt einen Stufenplan zur Absenkung der Schadstoffe aus Lastkraftwagen auf die strengen und technisch realisierbaren US-Grenzwerte und dazu die Einrichtung eines Geschwindigkeitsreglers in allen Brummis, damit die gesetzeswidrige Raserei auf Autobahnen ein Ende hat. Allein durch die zuletzt genannten Maßnahmen könnten zusätzlich 30 000 bis 50 000 Tonnen Stickoxide vermieden werden. Zweitens. Als schon klassisch zu nennende Forderung: ein Tempolimit: bei Pkw von 100 km auf Autobahnen, 80 km auf Außerortsstraßen und 30 km im Innerortsbereich, außer den Durchgangsstraßen. Gerade die Ergebnisse der gesetzlichen Geschwindigkeitsbeschränkungen in der Schweiz haben die Wirksamkeit dieser Sofortmaßnahme belegt. Drittens. Die obligatorische Einführung des geregelten Katalysators, wie es hier bereits gefordert wurde. Viertens. Ein integriertes umweltfreundliches Verkehrskonzept. Was einen weiteren Antrag betrifft, der sich mit Maßnahmen gegen Luftverschmutzung befaßt, so hatte ich Ozon schon angesprochen. Eines muß ich noch erwähnen, weil es bisher im Immissionsbericht kaum auftritt, das Ammoniak aus der Landwirtschaft. Wir haben durch unsere Agrarpolitik eine Konzentration der Viehhaltung mit importierten Futtermitteln, mit durch Düngemittel erzeugten Futtermitteln gefördert, und die Gülle wird massenweise auf die Felder aufgebracht. Das Ammoniak verdunstet und weht in den Wald hinüber. Dort mindert es die Frosthärte der Bäume; dort greift es in den Boden ein: Es führt zu einer Versauerung der Böden; denn jedes Ammoniak-Ion, das eine Wurzel aufnimmt, setzt Säure - ein Proton - in den Boden frei. Hiergegen wird bisher nichts gemacht. Die ganze Agrarpolitik müßte in die Luftreinhaltung einbezogen werden, weil gerade das Ammoniak einen wesentlichen Faktor in der Waldschadenssituation darstellt. DIE GRÜNEN haben mit ihrer Landwirtschaftspolitik versucht, hier einen Ausweg zu zeigen, indem die Erzeugung der Tragfähigkeit des Bodens angepaßt wird. Wir wollen die Fruchtbarkeit der Böden erhalten; wir wollen gesunde Wälder erhalten. Ich bitte Sie darum, diese Anträge sachlich zu beraten. Mehr können wir heute nicht tun. Machen wir das gemeinsam im Ausschuß! Danke. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Vierten Immissionsschutzbericht gibt die Bundesregierung für den Zeitraum der vergangenen viereinhalb Jahre eine umfassende Bilanz der Gesamtsituation der Luftreinhaltung und der Lärmbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland. Kollege Harries hat die einzelnen Gesetze von der Großfeuerungsanlagen-Verordnung bis hin zur Störfallverordnung genannt, auch die dadurch erreichten Reduktionszahlen. Frau Hartenstein hat diese Zahlen fairerweise nicht bestritten, allerdings politisch anders gewertet; das ist ihr gutes Recht. Mit all diesen Maßnahmen haben wir der Wirtschaft in unserem Land ein hohes Maß an Auflagen mit Kosten von rund 50 Milliarden DM zugemutet - das sei einmal in aller Deutlichkeit festgestellt - , aber dadurch auch ein anspruchsvolles Niveau erreicht. Für viele Bereiche gibt es eine positive Bilanz. Der Bericht zeigt aber auch deutlich - und dazu bekennen wir uns - , wo die bisher getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen oder noch nicht hinreichend greifen. Problematisch sind nach wie vor die Waldschäden, die in einem eigenen Waldschadensbericht dargestellt werden. Zwar konnten in den Jahren 1985 und 1986 eine Stabilisierung und in den letzten beiden Jahren ein leichter Schadensrückgang insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg festgestellt werden. Dennoch befinden sich unsere Wälder gebietsweise in einem labilen Zustand, der weitere Anstrengungen im Bereich der Waldschadensforschung, der Schadensbehebung und der Emissionsreduzierung erfordert. Ferner verläuft die Entwicklung der Stickstoffoxid-Emissionen nicht zufriedenstellend. Der Schwerpunkt - das wurde hier schon festgestellt - liegt im Verkehrsbereich. Was ist getan worden? ({0}) Nach der freiwilligen Einführungsphase für schadstoffarme Autos müssen seit 1. Oktober dieses Jahres alle Pkw über zwei Liter Hubraum EG-weit den geregelten Dreiwegekatalysator haben; das ist ein Erfolg des von Ihnen so gescholtenen Umweltministers Fritz Zimmermann. Das sind die entscheidenden Daten, meine Damen und Herren. Wir müssen den Blick auf die Neuzulassungen wenden; das sind die wichtigen Daten: 40 % der Benzinmotoren bei den Neuzulassungen haben den geregelten Dreiwegekatalysator. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knabe zuzulassen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Nein. - Das ist wichtig, und zwar deshalb, weil wir jedes Jahr etwa 10 % der Pkw-Flotte in diesem Land auswechseln. ({0}) - Bei den Pkw sind es in etwa 10 %. Diese an sich erfreuliche Tendenz hat bisher nicht zu entsprechenden Schadstoffabnahmen beim NO. geführt; da haben Sie recht. Dies liegt aber insbesondere daran, daß die Wirkung der ergriffenen Maßnahmen durch die enorme Zunahme des Kfz-Bestandes und der Gesamtfahrleistung - alles Auswirkungen der neuen Armut - teilweise aufgehoben wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Auch der Abgeordnete Lennartz bittet um eine Zwischenfrage. Lassen Sie grundsätzlich keine Zwischenfragen zu?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich bleibe dabei.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie bleiben also für Ihren Redebeitrag dabei? - Das vereinfacht das Verfahren. ({0})

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Eine wirksame Emissionsschutzpolitik, meine Damen und Herren, kann heute nur EG-weit betrieben werden. In der EG wurde, um beim Pkw zu bleiben, eine verschärfte Grenzwertstufe für die kleinen Fahrzeuge unter 1,4 Liter Hubraum beschlossen. Den Kompromiß hat die französische Regierung, eine sozialistische Regierung, zunichte gemacht. ({0}) Darüber hinaus werden wir in der EG über folgende Dinge im Pkw-Bereich bzw. im Kraftfahrzeugbereich zu beraten haben: ({1}) einmal über schärfere Abgaswerte für Ottomotoren durch Anwendung eines neuen europäischen Testverfahrens, das die Festlegung von Abgasgrenzwerten bei höheren Geschwindigkeiten ermöglicht, ({2}) zweitens über die weitere Herabsetzung der gasförmigen Emissionen von Lastkraftwagen. Allerdings hat uns die Technik die Rußfilter, die wir ebenfalls gern hätten, bis jetzt noch nicht angeboten. Wir werden drittens über die Herabsetzung der Partikelemissionen von Dieselfahrzeugen, sowohl von Pkw als auch von Lkw, zu verhandeln haben. Wichtig sind auch die Bemühungen der Bundesländer. Nahezu alle haben inzwischen Smogverordnungen erlassen, die im Smogfall ein allgemeines Verkehrsverbot mit Ausnahmeregelungen für Fahrzeuge mit geregeltem Dreiwegekatalysator vorsehen. Das dagegen von der EG-Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren stößt bei uns - Herr Kollege Baum, da stimme ich Ihnen voll zu - auf völliges Unverständnis. Mit einer ähnlichen Reaktion der EG müßte möglicherweise auch die Stuttgarter Initative, die wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, rechnen. Die Reduzierung der NOx-Emissionen bedarf neben nationaler Anstrengungen auch weiterer internationaler Absprachen. Die Bundesregierung wird deshalb nach über dreijährigen Verhandlungen am 1. November 1988 in Sofia ein NOx-Protokoll unterzeichnen. Dieses enthält die völkerrechtliche Verpflichtung, die gesamten nationalen Stickstoffoxidemissionen einzufrieren. Die Bundesregierung wird darüber hinaus gemeinsam mit sieben weiteren Staaten eine Deklaration zur Luftreinhaltung unterzeichnen, die eine 30 %ige Reduktion der Stickoxidemissionen bis 1998 vorsieht. Die Bundesregierung erwartet, daß davon ein Impuls für verstärkte europäische Anstrengungen ausgehen wird. Für unser eigenes Land, Herr Kollege Baum, werden wir über die Anregungen, von denen Sie heute gesprochen haben, intensiv nachdenken müssen, ({3}) um dieses gesetzte Ziel zu erreichen. Meine Damen und Herren, in allen Bereichen des Umweltschutzes ist kooperatives Vorgehen auf internationaler Ebene ein Kernbereich unseres Handelns. Zu den aktuellen globalen Problemen gehört auch der Schutz der Erdatmosphäre. Neben unseren nationalen Maßnahmen zur Reduktion der FCKW haben wir uns besonders bemüht, einen internationalen Konsens zur Reduktion dieser für die Ozonschicht gefährlichen Kohlenwasserstoffe zu erzielen. Dies ist im September 1987 auf der UNEP-Veranstaltung mit dem Abschluß des Montrealer Protokolls gelungen, das zum 1. Januar 1989 völkerrechtlich in Kraft treten kann. Wir wissen, daß dies ein erfreulicher erster internationaler Schritt ist, der allerdings keineswegs ausreicht, um den Schutz der Ozonschicht zu gewährleisten. Wir drängen darauf, daß sowohl die EG als auch die Vertragsstaaten des Montrealer Protokolls die weltweit geforderte Reduktion des FCKW-Verbrauchs innerhalb kürzerer Fristen ermöglichen. Die Enquete-Kommission unter Vorsitz unseres Kollegen Schmidbauer hat hierfür so wesentliche Erkenntnisse erarbeitet und veröffentlicht, daß national die Einsicht von Wirtschaft und Verbrauchern ebenso wie der Kommunen angenommen werden darf, mit uns zusammen mehr und schneller die FCKW in unserem Verantwortungsbereich zu reduzieren, als dies das Montrealer Protokoll und die EG verlangen. Der Vierte Imissionsschutzbericht enthält auch eine Übersicht über die anstehenden Aufgaben der Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung. Hervorheben möchte ich die Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, bei dem wir in einigen Regelungsbereichen Detailverbesserungen vornehmen wollen: Nach der Novellierung der Störfallverordnung und der Ergänzung der Verordnung über das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren soll das System der Überwachung und Prüfung von Industrieanlagen verbessert werden. Die Stellung des Betriebsbeauftragten für Immissionsschutz ist weiter zu stärken. Gesetzlich muß klargestellt werden, daß der Anlagenbetreiber auch nach der Einstellung des Betriebs für den umweltverträglichen Zustand seiner Anlage Verantwortung trägt. Das marktwirtschaftlich wirkende Instrument der Kompensationsregelung, erstmals 1985 in das Bundes-Immissionsschutzgesetz eingeführt, soll flexibler gestaltet werden. Meine Damen und Herren, die von Fritz Zimmermann begonnene und von Walter Wallmann und Klaus Töpfer konsequent fortgeführte Politik der Luftreinhaltung konnte auf die engagierte, auch kritische Unterstützung dieses Parlaments, auf die Mitwirkung unserer Wirtschaft und unserer Bürgerinnen und Bürger bauen. Diese gemeinsamen Anstrengungen sind zum Schutz unserer aller Gesundheit und unserer Natur fortzusetzen. Die Bundesregierung wird die hierzu erforderlichen nationalen Rahmenbedingungen setzen und den notwendigen internationalen Konsens einfordern. Ich danke Ihnen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wenn man sich das Inhaltsverzeichnis des Berichtes anschaut und den Bereich des Lärms, den ich hier einmal ansprechen möchte, betrachtet, dann stellt man fest, daß von den knapp 110 Seiten dieser Beschreibung nur 15 Seiten dem Thema Lärm und der Bekämpfung des Lärms gewidmet sind. An dieser Stelle erhebt sich doch eigentlich die Frage, ob wir es bei dieser Berichterstattung nicht mit einem reinen Lippenbekenntnis zu tun haben. Ich befürchte, es ist ein Lippenbekenntnis. ({0}) „Lärm ist in unserer technisierten Welt", so sagt die Bundesregierung, „eine ernste Belastung der Bevölkerung. Die inzwischen nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Lärmbelastung und dem Wohlbefinden des einzelnen bis hin zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen machen es notwendig, die Lärmbekämpfung weiter voranzutreiben ... Die Bundesregierung setzt sich deshalb mit Nachdruck für mehr Lärmschutz ein. " Bei der weiteren Lektüre des Immissionsschutzberichts verstärkt sich allerdings der Verdacht, die Bundesregierung nehme die Lärmbelastung der Bevölkerung nicht so ernst, bis schließlich der völlig unzulängliche Maßnahmenkatalog zur Lärmbekämpfung diesen Verdacht eigentlich zur traurigen Gewißheit werden läßt, meine Damen und Herren. Weder auf dem Sektor des Verkehrslärms, untergliedert nach Straßen-, Schienen- und Luftverkehr, noch bei der Eindämmung von Lärmbelästigungen im industriellen und gewerblichen Bereich oder im Wohn- und Freizeitbereich kann man von überzeugenden Schritten der Bundesregierung reden, vom militärischen Sektor und seinen unerträglichen Belastungen durch Schieß-und Fluglärm z. B. ganz zu schweigen. Zwar wird in diesem Zusammenhang auf gesundheitliche Risiken hingewiesen, die unter dem Einfluß von Lärm deutlich erhöht werden, doch bleiben diese Ausführungen merkwürdig blaß und abstrakt, als sei der Bundesregierung, meine Damen und Herren, noch gar nicht klargeworden, wovon hier eigentlich die Rede ist. Eine deutlichere Sprache spricht hier der Deutsche Arbeitsring für Lärmbekämpfung, der in einer Stellungnahme von Anfang Juni dieses Jahres Lärm als diejenige Umweltbelastung bezeichnet, von der sich die Bevölkerung am meisten betroffen fühle. 54 % der Bürger leiden unter Lärmimmissionen. Davon sind etwa 8 Millionen so hoch belastet, daß sie einem erhöhtem Gesundheitsrisiko unterliegen. Mehr als 20 Millionen Bürger sind einem solchen Lärm ausgesetzt, daß sie in ihren Wohnungen erst bei geschlossenen Fenstern Ruhe finden können. Wer glaubt, das sei nur ein innerstädtisches Problem, der irrt. In einem Gebiet von mehr als 20 km2 entlang der außerörtlichen Straßen - das sind mehr als 10 % der Fläche der Bundesrepublik - ist auf Grund des Straßenverkehrslärms alles derart hoch belastet, daß dort ein ungestörtes Wohnen nur noch bei geschlossenen Fenstern möglich ist. Dieser Entwicklung will die Bundesregierung, wie sie schreibt, entgegentreten, indem sie in einem Katalog von Einzelmaßnahmen das Emissionsverhalten einzelner Fahrzeuge und Fahrzeugtypen reglementiert: Die Lärmbelastung durch den Straßenverkehr wird vor allem von der Anzahl der Fahrzeuge sowie von deren Fahrleistung bestimmt. Bei der Bekämpfung des Straßenverkehrslärms räumt die Bundesregierung dem Verursacherprinzip entsprechend den Lärmminderungsmaßnahmen an der Quelle unverändert Vorrang ein. Meine Damen, meine Herren, das klingt zunächst einmal gut. Begriffe wie „Maßnahmen an der Quelle", „Vorsorgeprinzip" und „Verursacherprinzip" lassen auf ein durchdachtes, an ökologischen Richtlinien orientiertes Verkehrskonzept denken, an umweltorientierte Verkehrspolitik. ({1}) Davon ist man aber - das kann man gleich wieder feststellen - weit entfernt, davon ist weit und breit nichts zu bemerken. Die Bundesregierung verweist auf den seit 1984 EG-weit festliegenden Stufenplan für Lärmgrenzwerte bei Pkw, Lkw und Omnibussen, einen, wie sie es nennt, „anspruchsvollen" Stufenplan für Motorräder vom Dezember 1986 und die Leichtmofa-Ausnahmeverordnung vom Februar 1987, die nach Angaben der Bundesregierung die „bisher schärfsten Geräuschanforderungen für motorbetriebene StraßenWeiermann fahrzeuge" festsetzen soll. Dem folgen weitere Maßnahmen für Mofas und Mopeds. Meine Damen und Herren, ich kann aber an dieser Stelle festhalten - Sie werden es in diesem Bericht selber nachvollziehen können -, daß man zusammenfassend sagen kann: Das sind Einzelmaßnahmen statt eines Konzepts zur Bekämpfung des Straßenverkehrslärms, ({2}) nicht mehr als Einzelmaßnahmen. Dabei sind die genannten Einzelmaßnahmen noch nicht einmal überzeugend. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Antrag „Schutz vor unzumutbarem Verkehrslärm" bereits im Juli 1985 weit schärfere Normen gefordert. Technisch ist ihre Verwirklichung längst kein Problem mehr. Zu ihrer Durchsetzung bedarf es jedoch des politischen Willens, die unerträgliche Situation zu ändern, und gerade dies läßt der Vierte Immissionsschutzbericht unserer Meinung nach ganz deutlich vermissen. ({3}) Die Bundesregierung führt aus: In besonders schutzbedürftigen Wohngebieten konnten Bund, Länder und Gemeinden Bau bzw. Finanzierung von Ortsumgehungsstraßen sowie durch Maßnahmen der innerörtlichen Verkehrslenkung und Verkehrsberuhigung eine Reduzierung der Immissionspegel erreichen. Zwischen 1978 und 1986 hat der Bund zum Lärmschutz an Bundesfernstraßen rund 1,5 Milliarden DM ausgegeben. Davon wurden die Kosten für Lärmschutzwälle, -wände und -fenster sowie Mehrkosten infolge lärmschutzbedingter Gradientenabsenkungen, Trog- und Tunnellagen getragen. Mit Inkrafttreten der Richtlinien für den Verkehrslärmschutz an Bundesfernstraßen in der Baulast des Bundes vom Januar 1986 übernimmt der Bund 75 % der Kosten für passive Schallschutzmaßnahmen, wenn der von der Bundesstraße ausgehende Verkehrslärm in Wohngebieten 70 dB tags und 60 dB nachts überschreitet. Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen sind zu begrüßen. Fraglich ist jedoch, ob sie ausreichen. Wieder eimal - wie öfters in diesem Immissionsschutzbericht - hat man den Eindruck: Die Bundesregierung versucht, den unbefangenen Leser und Betrachter zu bluffen. ({4}) Bezeichnenderweise geht sie nicht ein einziges Mal auf unsere Grenzwertforderung von 55 dB tags und 45 dB nachts ein, einen Lärmgrenzwert, auf den sich auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1987 festgelegt hat. Man komme hier jetzt nicht mit der Kostenargumentation. Die Verbindliche Festschreibung von Tempo 30, eine alte Forderung der Sozialdemokraten und seit Juni 1986 auch des Deutschen Städtetages, wäre ohne großen Kostenaufwand zu realisieren. ({5}) Die Erfahrungen mit der vom Bundesminister für Verkehr im Februar 1985 versuchsweise eingeführten Zonengeschwindigkeitsverordnung beweisen doch, daß Lärmvorsorge auch mit geringen Mitteln betrieben werden kann. Man muß dies aber wollen. ({6}) „Positive Auswirkungen auf den Lärmschutz" attestiert die Bundesregierung in einem 6-Zeilen-Absatz dieser Maßnahme. Mehr Aufwand - so muß man feststellen - scheint ihr dies nicht wert zu sein. Ich kann und will auch nicht auf alle Punkte des Vierten Immissionsschutzberichts eingehen, die sich mit der Lärmbekämpfung befassen, zumal die Kritik notwendigerweise immer wieder dieselben Fehler, nämlich Untätigkeit, Nachlässigkeit und fehlendes Engagement seitens der Bundesregierung, herausheben müßte. Ich will nur noch einige Anmerkungen zu den Bereichen Industrie- und Gewerbelärm, finanzielle Förderungsmaßnehmen zur Lärmbekämpfung, zum Fluglärm und speziell zum Fluglärm durch militärische Flugbewegungen machen. Wir begrüßen die Bemühungen, im Rahmen der EG zu verbindlichen Normen für Geräte und Maschinen zu gelangen. Wir begrüßen die Absicht, eine Kennzeichnungspflicht für technische Schallquellen einzuführen. Unverständlich ist uns jedoch die Untätigkeit der Regierungskoalition hinsichtlich einer Fortschreibung der TA Lärm. Bis heute hat sich trotz verschiedentlicher Ankündigungen in diesem wichtigen Bereich der Bekämpfung des Industrie- und des Gewerbelärms nichts getan. Wie in anderen Bereichen wird auch hier der Schutz der Bevölkerung vor Lärmimmissionen offenbar als untergeordnete Größe - so muß ich an dieser Stelle feststellen - eingeordnet. Was nun die der finanziellen Förderungsmaßnahmen zur Lärmbekämpfung angeht, so versucht die Bundesregierung, sich eine Feder an den Hut zu stekken, die dort eigentlich nicht hingehört. Der Bluff ist zwar dreist, aber er ist meine Damen und Herren von der Koalition, zu durchsichtig. In einer umfangreichen Tabelle listet die Bundesregierung begünstigte Investitionen nach § 7 d EStG im Bereich Lärmbekämpfung auf, unterschlägt aber zugleich - und zwar, wie ich glaube, schamhaft - , daß sie mit ihrem Steuerreformgesetz 1990 genau diesen Paragraphen auslaufen läßt. Das ist eigentlich eine schäbige Argumentation, meine Damen und Herren. ({7}) Wenn Sie Ihre Untätigkeit und Ihr Desinteresse in Sachen Lärmbekämpfung kaschieren wollen, dann müssen Sie es schon ein wenig geschickter anfangen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, so daß es draußen nicht bemerkt wird. Kommen wir zum letzten der von mir genannten Punkte, dem zivilen und militärischen Fluglärm. Im zivilen Bereich verweist der Bericht auf die Unterschallverordnung vom Januar 1987, die Lärmgrenz7142 werte für zivile Flugzeuge mit Strahltriebwerken festlegt, sowie auf das Fluglärmgesetz, das einen Erstattungsanspruch für bauliche Schallschutzmaßnahmen in der besonders lärmbelasteten Schutzzone 1 des Lärmschutzbereiches vorsieht. Der Bundesrat hat im Februar dieses Jahres beschlossen, einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Fluglärmgesetzes einzubringen, der einen solchen Erstattungsanspruch auf die Schutzzone 2 ausdehnen will. Wir begrüßen dies. Die Bundesregierung lehnt diese Änderung rundheraus ab mit der Begründung, eine solche Maßnahme sei zu kostenintensiv. Im übrigen. seien die Flugbewegungszahlen an den Verkehrsflughäfen nur leicht angestiegen. Wir wissen aber, daß es eine erhebliche Steigerung mindestens ab dem Jahre 1992 in diesem Bereich geben wird. Wir müssen auf dieses Jahr vorbereitet sein. ({8}) Abgesehen davon, daß wir seit Inkrafttreten des Fluglärmgesetzes eine enorme Ausweitung des zivilen Luftverkehrs zu verzeichnen haben - was die Bundesregierung in ihrem Bericht schlichtweg unterschlägt - , fragt man sich unter diesen Umständen doch, wie man die Aussage im Immissionsschutzbericht zu verstehen habe, die Bundesregierung räume dem Vollzug des Fluglärmgesetzes unverändert hohe Priorität ein. Um wirklich den „Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen durch Fluglärm" - wie es im Gesetzestext heißt - zu sichern, wird die SPD-Fraktion in nächster Zeit - das kündige ich hier an - einen Antrag zur Novellierung des Fluglärmgesetzes einbringen, der u. a. die Belastungen durch den militärischen Fluglärm berücksichtigen wird. Gerade auf diesem Gebiet hat sich die Bundesregierung leider durch Untätigkeit insgesamt unrühmlich ausgezeichnet. Das halten wir an dieser Stelle einmal fest. ({9}) Ich wage zu behaupten, daß sich die Bundesregierung bis heute um eine Behandlung dieses Themas herumbedrückt hat. Von Lösungsversuchen kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein, wenn nicht eine Reihe von bedauerlichen Unglücken - ich sage an dieser Stelle: wirklich von bedauerlichen Unglücken - sie dazu gezwungen hätte. Dies, meine Damen und Herren, scheint das Prinzip zu sein, nach dem die Bundesregierung Lärmschutz betreibt und das der Vierte Immissionsschutzbericht deutlich dokumentiert. Ohne erheblichen Zwang, ohne Druck von außen geschieht auf diesem Gebiet einfach wenig oder nichts. Lärmschutz als Umweltschutz findet unter diesen Umständen bei dieser Regierung praktisch nicht statt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Vorlage des Vierten Immissionsschutzberichtes an den Deutschen Bundestag gibt die Bundesregierung einen sehr guten Überblick über die bisher geleisteten Maßnahmen, über das, was zukünftig an Maßnahmen zur Reduzierung der Luftbelastung vorgesehen ist. Ich glaube, es ist besonders zu begrüßen, daß sie ausführlich darauf eingeht, in welcher Art und Weise sie verstärkt vorsorgenden Umweltschutz betreibt und hier insbesondere die entsprechenden Perspektiven aufzeigt. Aus dem Bericht ist beispielhaft hervorzuheben, daß die nationale Emissionsbilanz und die Prognosen für ihre Fortschreibung bis 1995 eindeutig belegen, daß der Übergang von einer gefahrenabwehrenden Politik zu einer vorsorgenden Luftreinhaltepolitik bereits vor längerer Zeit vollzogen wurde - ich sage ganz deutlich: zu einer vorsorgenden Umweltpolitik - , mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes für unsere Bürger. Ein zweiter Punkt. Mit dem Rückgang der Schwefeldioxidemissionen auf 2 Millionen Tonnen ist eine Luftqualität erreicht, die der zu Beginn dieses Jahrhunderts entspricht. Ich mache einmal die Relationen deutlich: 1995 wird die Luft so minimal belastet sein wie vor 100 Jahren. Die Bundesrepublik wird damit zum Nettoimportland für diese Luftverunreinigungen. ({0}) Auch für die übrigen Luftverunreinigungen sind weitere spürbare Entlastungen prognostiziert, und sie werden eintreten. Drittens. Neben der durchgeführten Umsetzungsmaßnahme für anlagenbezogene Regelungen - ich erinnere an das Bundes-Immissionsschutzgesetz, das jetzt erneut novelliert werden wird, und die Verordnungen und Verwaltungsvorschriften dazu - sind in zunehmendem Maße auch die medienübergreifenden Ansätze zur weitgehenden Vorsorge gegen schädliche Einwirkungen von Luftverunreinigungen z. B. im Spurenbereich auf die menschliche Gesundheit, auf Boden und Gewässer Zeichen einer aktiven Umweltpolitik. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen: Das, was wir an Vorsorge erreichen, ist durchaus eine Erfolgsbilanz für die Anstrengungen, die insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland unternommen worden sind. Das findet übrigens auch in den Berichten der Bundesländer seinen Ausdruck; ich sage das ganz deutlich. Hier haben wir scheinbar eine Rollenverteilung zwischen Opposition und Regierung, die - ich sage das über alle Parteien hinweg - so ist, daß die Opposition katastrophale Verhältnisse darstellt und die Regierung jeweils deutlich macht, daß doch sehr gute Erfolge erzielt worden sind. Ich sage das parteiübergreifend. Frau Hartenstein hat hier heute gesagt: Wo bleiben die Erfolge? Luftreinhaltepolitik fehlt - ohne Konsequenz. - Herr Knabe hat von Schönfärberei gesprochen, Herr Weiermann hat gesundheitliche Beeinträchtigungen dargestellt. Wie sieht es denn aus, wenn man in der Regierung ist? Ich nehme das Beispiel der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Sie sagt ganz deutlich, daß in Dr. Lippold ({1}) einer der umfangreichsten Untersuchungen, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat, eine deutliche Reduzierung der Schadstoffbelastung, eine Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung im Ballungsgebiet zwischen Herne, Essen, Bochum, Gelsenkirchen und Recklinghausen festgestellt werden konnte. Deshalb habe ich vorhin gefragt, Frau Hartenstein; nicht etwa, um deutlich zu machen, daß die Entwicklung dort gegebenenfalls noch negativer sei, wie Sie erwartet hatten, denn das hätte ja dem herrschenden Rollenverständnis entsprochen. ({2}) - Darf ich das zu Ende führen? Sie freuen sich dann noch mehr. Ich lasse die Frage dann gerne zu. - Ich wollte nur deutlich machen, daß Krankheitsbilder wesentlich reduziert auftraten, sowohl schwermetallbedingte als auch solche auf Grund der Arsen- und Fluoridgehalte usw. Ich darf hierbei jetzt insbesondere festhalten, daß der Vergleich der Untersuchungsergebnisse mit den Erhebungsdaten zum Immissions-, Emissions- und Wirkungskataster des ersten Luftreinhalteplans eindrucksvoll eine Verbesserung der lufthygienischen Verhältnisse in dieser Region belegt. Das gesamte Schadstoffaufkommen im mittleren Ruhrgebiet konnte zwischen 1978 und 1985 um 48 % gesenkt werden. ({3}) Das ist der Erfolg der Luftreinhaltepolitik. Jetzt frage ich mich: Wo werden diese Rahmenbedingungen gesetzt? ({4}) Doch hier im Bundestag! Matthiesen erkennt damit in seiner Pressemitteilung ausdrücklich an, daß hier eine erfolgreiche, schadstoffreduzierende und gesundheitsfördernde Politik betrieben worden ist. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, jetzt wollte gerade jemand Sie fragen und nicht umgekehrt. - Frau Dr. Hartenstein!

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lippold, haben Sie zur Kenntnis genommen, daß ich ausdrücklich betont habe, daß im SO2-Bereich erhebliche Reduzierungen stattgefunden haben, und ist Ihnen bekannt, daß in der Nahbelastung bereits seit Mitte der 70er Jahre sehr große Verbesserungen eingetreten sind? Das betrifft z. B. das Ruhrgebiet, es betrifft alle Ballungsgebiete, weil nämlich der Schwefelgehalt im leichten Heizöl bereits zu unserer Regierungszeit deutlich reduziert worden ist.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hartenstein, ich finde es eigentlich nur bedauerlich, daß man hier erst einmal provozieren muß, bevor auch Sie die Erfolge der Luftreinhaltepolitik akzeptieren. Denn in meinen früheren Beiträgen habe ich deutlich gemacht, daß ich in diese Kontinuität den Herrn Kollegen Baum durchaus einbeziehe. Aber ich sage Ihnen noch eines: Es ist doch so, daß ich immer wieder Ihren Pessimismus feststellen muß. Jetzt heben Sie etwa auf Waldschäden ab. Hier haben wir zunächst einmal zwei Jahre eine Stabilisierung gehabt, dann haben wir eine leichte Verbesserung gehabt. ({0}) Aber Frau Hartenstein, das müssen Sie doch nicht als Staatsgeheimnis behandeln. Das ist doch auch Realität. ({1}) Nachdem wir uns früher gemeinsam Sorgen gemacht haben, daß es abwärtsgeht, können wir doch wenigstens einmal konstatieren, daß es in einer vernünftigen Entwicklung jetzt zumindest nicht mehr abwärtsgeht. Seien Sie doch ein einziges Mal positiv. Ihre Bürger werden Ihnen das genauso danken, ({2}) denn sie mögen diesen Pessimismus nicht. Da muß man nicht verbiestert sein. ({3}) - Frau Hartenstein, das habe ich gerade mit Absicht gemacht, weil ich Ihnen immer wieder ausgesprochen gern zuhöre. Lassen Sie mich noch eines sagen. Hier sind wieder die alten Geschichten vom nationalen Alleingang in der EG aufgewärmt worden. Wir alle wissen doch, daß wir nur Impulse geben können, daß wir von alleine nicht umsetzen können, daß wir sicherlich den Druck verstärken müssen und auch immer verstärkt haben. Aber Sie wissen, daß der nationale Alleingang ganz einfach nichts bringt. Ich sage noch eines ganz deutlich. Wir können uns in dieser Form nicht mit Dänemark vergleichen. Das ist für die Franzosen kein Konkurrent auf dem EG-Markt. Die Franzosen achten schon darauf, aus welchem Land ihre Importe kommen. Sie reagieren bereifs bei minimalen Abweichungen der Smog-Verordnungen von bestimmten vorgegebenen europäischen Regelungen mit der Androhung, hier Retorsionsmaßnahmen zu ergreifen. Sie wissen das. Sie bestehen auf Ihrem Standpunkt wider besseres Wissen. Ich finde das nicht gut, weil das irreführend ist. Ich glaube, wir sollten uns zusammenfinden. Wir sollten deutlich machen, daß wir ein gemeinsames Konzept für vorbeugenden Umweltschutz haben wollen. Das ist doch gemeinsames Ziel. Dann sollten wir in der Kritik konstruktiver sein und nicht so destruktiv, wie ich das leider immer wieder bei Ihnen feststellen muß. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knabe?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist jetzt eine Schlußfrage. Aber ich gestatte sie gerne.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich noch eine Frage stellen darf, Herr Lippelt.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lippold. Dr. Knabe ({0}): Ja, ich weiß das ja. ({1}) Ist Ihnen auch klar, daß die Verbesserung im Ruhrgebiet mindestens teilweise durch den Bau hoher Schornsteine entstanden ist, weil es industrielle Emissionen sind, die man auf weiter entfernte Gebiete verlagert hat, während in den Ballungsräumen Stuttgart oder Mannheim, wo die Emissionen aus dem Kraftverkehr mit niedriger Quellhöhe kommen, diese Ableitung in die fernen Gebiete nicht so ohne weiteres passiert?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Abgeordneter Knabe, es ehrt mich, daß Sie mich durch die Verwechslung der Namen dank meiner positiven Haltung zum Umweltschutz bereits mit einem GRÜNEN verwechseln. Ich muß aber trotzdem festhalten, daß das, was Sie sagen, nicht mehr zutreffend ist. Denn das, was hier verfolgt wird, ist eine Politik aktiver Maßnahmen von Schadstoffvermeidung und von Schadstoffverminderung und nicht eine Politik der Schadstoffdistribution über große Flächen dadurch, daß ich die Schadstoffe in großen Höhen absetze. Von dieser negativen Hochschornsteinpolitik sind wir Gott sei Dank alle miteinander abgekommen. Wir sollten auch künftig so positiv zusammenarbeiten. Danke. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie immer bei einem solchen Bericht hat die Opposition keine rechte Freude an positiven Ergebnissen. ({0}) Das, was kritisch darzustellen ist, läßt sie dann auch noch aus. Frau Hartenstein, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir in aller Ruhe einmal die positive Bilanz unserer Luftreinhaltepolitik ziehen müssen, aber auch kritische Konsequenzen aus einem solchen Bericht. ({1}) Das, denke ich, ist wichtig für uns. Deshalb ist dieser Bericht auch sehr hilfreich. Was die Emissionen an Schwefeldioxid anlangt, sind wir uns einig. Das war eine großartige gemeinsame Leistung aller, der Bundesregierung, der Landesregierungen, die mitgezogen haben. Wir haben inzwischen das, was Sie in Ihrem Programm „Arbeit und Umwelt" fordern, realisiert, ein enormes Investitionsprogramm durchgeführt. Schaffung von 47 000 Arbeitsplätzen, über 20 Milliarden DM Investitionen in den Kraftwerken, Entschwefelung von 95 % der Kraftwerke, 165 Rauchgasentschwefelungsanlagen an 75 Kraftwerksstandorten, - ich finde, das ist gut. ({2}) Wir haben eine enorme Reduzierung, um zwei Drittel in der Perspektive, heute weit über die Hälfte. Nur - und das möchte ich schon aufgreifen - , die Zahlen bei den Stickoxiden geben ein wesentlich anderes Bild. Hier müssen wir in der Tat differenzieren. Einerseits haben die Emissionen von Stickoxiden im industriellen Bereich abgenommen. Die Entwicklung wird so weitergehen. Da werden weiter De-NOx-Anlagen gebaut werden. Auch dies ist gut so. Allerdings ist im Bereich der Verkehrsemissionen eine deutliche Zunahme zu sehen. Ich darf einmal fragen, Frau Kollegin Hartenstein, was passiert wäre, wenn wir nicht 1983 mit unserer Konzeption begonnen hätten. Dann wären heute zusätzlich eine halbe Million Tonnen Stickoxid-Emissionen vorhanden. Nur hat dies nicht ausgereicht, die Wirkungen des Anstiegs der Fahrleistung, des Anstiegs der Zahl der Fahrzeuge aufzuhalten. Deshalb ist eine Stagnation eingetreten, oder, wenn ich es mit Ihren Worten sage: Wir haben eine leichte Zunahme. Das ist erklärlich: 14 Millionen Pkw 1970, heute 29 Millionen. ({3}) Die Fahrleistung hat um über 100 Milliarden km pro Jahr zugenommen. Das bedeutet, daß wir hier korrigieren müssen, daß wir hier den Weg anders beschreiten müssen, als wir dies vorhatten. Wir waren in den vergangenen Jahren zu Kompromissen bereit, auch in der EG, in dem Bewußtsein, daß gerade im Bereich der Luftreinhaltepolitik nur grenzüberschreitende Maßnahmen Wirkung bringen, nach dem Motto: „Gemeinsam weniger ist mehr." Das läßt sich leicht ausrechnen, wenn Sie die Import/ExportBilanz gerade dieser Schadstoffemissionen sehen. Die erste Phase - und das wird unterbewertet - der Einführung schadstoffarmer Fahrzeuge war äußerst wichtig. Es ist bedeutsam, daß die Sache überhaupt zum Laufen kam. Wenn einer wissen muß, wie schwierig das ist, dann sind Sie es, die Sie früher in der Regierung die Verantwortung trugen und gesehen haben, daß Sie dort überhaupt nicht vorankamen. Das laste ich Ihnen nicht an; denn ich sehe, vor welchen enormen Schwierigkeiten wir heute stehen. Deshalb sehen wir als CDU/CSU-Fraktion folgende Maßnahmen als dringlich an: Der Stand der Technik, d. h. der Drei-Wege-Katalysator, muß europaweit für alle neu zugelassenen Pkw obligatorisch werden, nach Schweizer Vorbild, wenn Sie wollen - auch andere Vorbilder wurden genannt - , wo diese Regelung bereits seit einem Jahr praktiziert wird; denn mir ist der Anteil der Pkw mit Drei-Wege-Katalysator bei den Neuzulassungen mit 6,3 % zu gering. Hier muß etwas nachgebessert werden. ({4}) - Ich sage Ihnen gleich, wann. Bei den Nutzfahrzeugen muß die zweite Stufe ebenfalls vorgezogen werden. Aber es war erst einmal wichtig, daß wir eine Stufe übergebracht haben, daß wir Reduzierungen um 20 % realisieren konnten. Das umweltpolitische Tempo der EG im Kfz-Bereich ist nicht befriedigend. Wer hier etwas anderes feststellt, der verkennt die Realitäten. ({5}) Sie haben ja die Auseinandersetzung um den Abgaskompromiß für die Pkw mit unter 1,4 1 Hubraum gesehen. Kollege Lippold hat gesagt: Es waren Genossen, die dort dem Druck der Industrie erlegen sind, das war nicht die Bundesrepublik Deutschland. Ich will Ihnen jetzt etwas sagen, Frau Hartenstein: Ich war sehr glücklich darüber, daß dieser Kompromiß nicht zustande kam. Der Kollege Baum und ich haben gesagt: Der reicht uns nicht aus. Ich war sehr froh, daß wir das Paket neu aufdröseln können. Wir wollen deshalb auch in der EG eine neue Offensive starten für einen effizienteren und schneller umsetzbaren Umweltschutz. Wir begrüßen sehr, daß der EG-Gipfel beim nächstenmal den Umweltschutz zum Thema hat. Dies wird dann auch die Nagelprobe sein, ob es gelingt, im Kfz-Bereich zu Fortschritten zu kommen. ({6}) Bei den Stickoxidemissionen wird es nicht bei dem Status bleiben, den wir heute haben, und ich denke, daß wir alle Versuche unternehmen wollen, eine europäische Einigung zu erreichen. Sollten aber auf EG-Ebene mit der bisherigen Verfahrensweise noch immer keine raschen und effizienten Lösungen durchsetzbar sein, ist zu überlegen, neue Mechanismen für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten einzuführen, die ja in dem Augenblick Realität werden, wo einzelne Länder hier unterschiedliche Maßnahmen im Interesse ihrer Luftreinhaltepolitik durchführen. ({7}) - Sommersprossen sind auch keine Gesichtspunkte. Zusätzlich müssen wir unter Ausnutzung aller EGrechtlichen Möglichkeiten unsere nationalen Handlungsspielräume ausschöpfen. ({8}) - Sorgfältig zu prüfen ist u. a. die Möglichkeit einer nationalen Regelung für den Drei-Wege-Katalysator. Ich hatte sehr wohl den Gipfel im Herbst genannt, und Sie können sich vorstellen, daß dies nicht übermorgen sein wird, sondern daß wir uns dies morgen sehr reiflich überlegen, daß wir uns verschiedene Modellvorhaben einzelner Großstädte sehr genau ansehen, auch im Hinblick auf die Parallelität zur Smog-Verordnung, Nicht-Katalysatorfahrzeuge letztendlich nicht überall und immer fahren zu lassen bei entsprechenden Situationen. Verstärkte Geschwindigkeitskontrollen im Lkw-Bereich sind zu nennen, denn der Anteil an Lkw-Emissionen wird uns in Zukunft wesentlich mehr Kummer machen, ({9}) und zwar hinsichtlich der Partikel- und der gasförmigen Emissionen. Wir müssen die Einführung einer Straßennutzungsgebühr prüfen, um dadurch auch eine Verlagerung auf die Schiene zu bekommen. Auch dies gehört zu dieser Überlegung dazu. Hinzu kommen zusätzliche ökonomische Anreize, die zu einer umfassenden Akzeptanz des umweltfreundlichen Pkw beitragen können. ({10}) Frau Hartenstein, zum Schluß: Wir begrüßen in diesem Zusammenhang sehr die Überlegungen der Bundesländer, einen Werbefeldzug für das umweltfreundliche Auto durchzuführen. Wir reden hier immer so über die Regierung, über Richtlinien, über Zwänge, gesetzliche Maßnahmen. Meine Kolleginnen und Kollegen, jeder Bürger in dem Land hat die Chance, ein Auto mit einem Drei-Wege-Katalysator zu kaufen, und zwar alle Typen. ({11}) Neulich kam eine Anzeige „Guten Morgen, Herr Töpfer! " , wo Opel inzwischen bei allen Fahrzeugen einen Drei-Wege-Katalysator anbietet. Das ist eine gute Entwicklung. Da kam der Zwischenruf: „das Geld" . Wer einmal den Markt vergleicht, der sieht: Einige Funktionäre hatten vor vielen Jahren behauptet, ein Katalysator kostet 5 000 DM mehr. Er kostet jetzt nicht einmal den zehnten Teil, wesentlich weniger als manche Sonderausstattung, die zu überhaupt nichts nutze ist, weder zur Sicherheit noch zur Verschönerung des Fahrzeugs. Das müssen wir dem Bürger verkaufen, damit er nicht immer nach dem Politiker ruft, sondern selber handelt. ({12}) Ich begrüße sehr, daß das Land Baden-Württemberg Geld für eine solche Information in die Hand nimmt. Wir fordern die Bundesregierung auf, dies zu ergänzen und dem Katalysatorauto den Weg auf Platz eins freizumachen nach dem Motto: Ein sauberes Auto für eine saubere Umwelt! Herzlichen Dank. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 12 und den Zusatztagesordnungspunkten 4 und 5 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Dazu ist mir von den Geschäftsführern mitgeteilt worden, daß es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, auch den Ausschuß für Verkehr hinzuzufügen. Der Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3179 soll an dieselben Ausschüsse wie der Immissionsschutzbericht überwiesen werden. Sind Vizepräsident Westphal Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/1103 ab; das ist der Zusatztagesordnungspunkt 6. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich stelle mit Mühen eine erreichte Einstimmigkeit fest. Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Irakisch-iranischer Krieg zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Giftgaseinsätze der irakischen Regierung gegen die im Irak lebenden Kurden - Drucksachen 11/629, 11/2247, 11/2962 Berichterstatter: Abgeordneter Lummer Gansel Dr. Feldmann Dr. Lippelt ({1}) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN Stopp des Exports von Atomkraftwerksteilen in den Iran - Drucksachen 11/1171, 11/3002 Berichterstatter: Abgeordneter Jung ({3}) -Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3190 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 20. August 1988 ist im Golfkrieg ein Waffenstillstand in Kraft getreten. Der Deutsche Bundestag hat heute die erste Gelegenheit nach diesem historischen Datum, seiner Befriedigung Ausdruck zu geben, daß der mörderische Kampf endlich eingestellt worden ist. Der Weg zu einem zuverlässigen und dauerhaften Frieden wird noch lang sein. Auf diesem Weg tragen aber die Soldaten der Peace-Keeping-Forces der Vereinten Nationen ein großes persönliches Risiko. Für diesen Einsatz und für andere Einsätze ist ihnen der Friedensnobelpreis zugesprochen worden. Wir sagen diesen Soldaten dazu Glückwünsche. Wir wünschen ihnen vor allem das Glück, daß sie nach einer erfolgreichen Mission gesund in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren können. ({0}) In dem Antrag der SPD-Fraktion vom Juli 1987, der die heutige Debatte ausgelöst hat, hatte die SPDFraktion die Bundesregierung aufgefordert - ich zitiere -, verstärkt gegenüber den Regierungen des Iran und des Irak für eine friedliche Beendigung des Krieges einzutreten. Die irakische Aggression gibt dem Iran nicht das Recht, den Krieg ohne erkennbaren Verhandlungswillen über seine Landesgrenzen hinaus bis zum totalen Sieg über den Gegner fortzusetzen. So haben wir damals formuliert. Wir begrüßen deshalb, daß sich der Iran endlich auf den Boden der Resolution 598 des UN-Sicherheitsrates begeben hat. Der Iran hat dadurch sein Ansehen in der internationalen Staatengemeinschaft verbessern können. Dieses wiedergewonnene Ansehen wird die iranische Regierung aber dann gefährden, wenn sie den Waffenstillstand benutzt, um mit repressiven und drakonischen Maßnahmen gegen abweichende Meinungen oder legitime Opposition in ihrem eigenen Lande vorzugehen. Wir sind beunruhigt über Nachrichten von Verhaftungen und Gerüchte über Erschießungen. Der Iran kann auf dem Weg der Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft vorankommen, wenn er die Lage der Menschenrechte in seinem Lande verbessert. Zu diesen Menschenrechten gehören sowohl das Recht auf freie religiöse Betätigung wie das auf ein faires gerichtliches Verfahren. Durch eine Einladung an amnesty international könnte die iranische Regierung Goodwill beweisen. Erschütterung haben bei uns die jüngsten Nachrichten aus dem Irak ausgelöst. Die SPD-Fraktion hatte bereits in ihrem Antrag vom November 1986 den Einsatz chemischer Waffen durch den Irak während des Krieges scharf verurteilt. Wir müssen jetzt befürchten, daß Berichte zutreffen, wonach die irakischen Streitkräfte nach dem Waffenstillstand nunmehr im Kampf mit kurdischen Aufständischen auf ihrem Territorium Giftgas eingesetzt haben. Fast 60 000 Kurden sind allein in den letzten Wochen aus dem Irak in die Türkei geflüchtet. Einem Antwortschreiben von Minister Schäuble an den SPD-Vorsitzenden Vogel, der in einem Brief an den Bundeskanzler eine Reaktion der Bundesregierung auf diese schlimmen Nachrichten verlangt hatte, entnehme ich, daß - ich zitiere - „von offizieller türkischer Seite verlautbart, daß durch C-Waffen verursachte Verletzungen bei den kurdischen Flüchtlingen in der Türkei nicht festgestellt werden konnten". ({1}) Es gibt viele Informationen, Berichte und Fotoreportagen, Frau Hamm-Brücher, wie Sie soeben angesprochen haben, die dem entgegenstehen. Die türkischen Auskünfte wären glaubwürdiger, wenn die Türkei den internationalen Hilfsorganisationen sowie dem Hohen Flüchlingskommissar der UNO endlich freien Zugang zu den Flüchtlingslagern gewähren würde, damit auch humanitäre und medizinische Hilfe ungehindert geleistet werden könnte. ({2}) Auch die Dementis der irakischen Regierung sind nicht sehr glaubwürdig, nachdem der irakische Außenminister im Sommer dieses Jahres ausgerechnet bei einem Besuch in Bonn den Einsatz von C-Waffen durch seine Streitkräfte öffentlich eingestanden hat. Daß auch auf irakischem Territorium Giftgas gegen aufständische Kurden und die Zivilbevölkerung eingesetzt worden ist, muß als gesichert angesehen werden. Nach unseren Informationen sind in den ersten beiden Oktober-Wochen in Kirkuk, Erwil und Suleymania erneut Giftgaseinsätze erfolgt, die Menschenleben gekostet haben. Wenn der Deutsche Bundestag heute zu jenen Giftgaseinsätzen gemeinsam Stellung nimmt, sollte die irakische Regierung gut beraten sein, diese Stellungnahme als eine ernste Warnung und nicht etwa als eine moralische Pflichtübung zu begreifen. Es wird eine der gefährlichen Langzeitfolgen des Golfkrieges bleiben, daß die Hemmschwelle für den militärischen Einsatz chemischer Waffen dadurch gesenkt worden ist, daß der Irak sie eingesetzt und die zivilisierte Staatenwelt diesen Einsatz fast reaktionslos hingenommen hat. Das Londoner Institut für strategische Studien hat vor wenigen Tagen festgestellt - ich zitiere - : Der irakische Einsatz von Senfgas und anderen Nervengiften hat vor allem in den Ländern der Dritten Welt als Werbung für derartige Waffen gedient, die international als barbarisch und unmenschlich geächtet sind. Die Autoren der Studie schreiben weiter: Die chemische Kriegführung im iranisch-irakischen Krieg wird wahrscheinlich eher als Ermutigung denn als Entmutigung für den zukünftigen Einsatz chemischer Waffen in anderen regionalen Konflikten betrachtet werden. ({3}) Die weltweite Abschaffung der C-Waffen muß deshalb alle unsere Anstrengungen fordern. Jede regionale Vereinbarung dazu wäre ein hoffnungsvoller Schritt, jeder neue regionale Verstoß von unabsehbarer Gefahr. Gustav Heinemann hat einmal gesagt: Wenn du mit dem Finger auf einen anderen zeigst, zeigen drei Finger derselben Hand auf dich zurück. Mit unserem interfraktionellen Beschluß heute wird die Bundesregierung aufgefordert, dem Bundestag bis zum 1. Dezember darüber zu berichten, ob Behauptungen zutreffen, Firmen aus der Bundesrepublik Deutschland seien an der Produktion von Giftgas für den Iran beteiligt gewesen. Wir erwarten, daß die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mit Nachdruck fortgesetzt werden und daß dem Bundestag darüber ebenfalls am 1. Dezember berichtet wird. Seit Ende 1986 ermittelt nun die Staatsanwaltschaft in dieser Sache. Anfang Mai dieses Jahres teilte mir das Wirtschaftsministerium - der Staatssekretär ist heute hier - mit, mit dem Abschluß der Ermittlungen sei nicht vor September/Oktober dieses Jahres zu rechnen. Am 10. Oktober dieses Jahres informierte dasselbe Ministerium, derselbe Staatssekretär die Kollegin Geiger darüber, daß die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag gegeben habe. Erst danach werde sich beurteilen lassen, in welche Richtung die Ermittlungen weiterzuführen seien; der Abschluß der Ermittlungen sei nicht absehbar - und das nach zwei Jahren! Mit dieser Haltung des Wirtschaftsministeriums können wir uns nicht zufriedengeben. Nur der Umstand, daß wir jetzt einen interfraktionellen Antrag beschließen wollen, hält mich davon ab, schärfere Worte zu gebrauchen. Es ist jedenfalls unerträglich, daß nach zwei Jahren noch kein Ergebnis vorliegt. Die Bundesregierung soll deshalb wissen, daß es zu diesem Thema nach dem 1. Dezember eine weitere Debatte geben kann. Heute bezieht sich ein anderer Antrag auf das Atomkraftwerk Busher im Iran, dessen Bau Ende der 70er Jahre zwischen der deutschen Kraftwerks-Union und der iranischen Regierung vereinbart worden war. Über diesen Atomreaktor habe ich im Sommer 1979 Einzelheiten erfahren, als ich nach dem Sturz des Schah-Regimes, dessen Korruption und Brutalität heute oft in Vergessenheit geraten sind, erstmalig Teheran besuchte. Vertreter der iranischen Regierung informierten mich damals darüber, daß der Reaktor in einem erdbebengefährdeten Gebiet habe errichtet werden sollen, daß er ökologisch schädlich und wirtschaftlich unnütz sei und daß der Vertrag über die Errichtung des Reaktors deshalb rückgängig gemacht werden solle. Das gab zunächst großen Krach in der deutschen Presse und dann langwierige Auseinandersetzungen zwischen der iranischen Regierung und der KWU. Schließlich, als aus der Reaktorbaustelle schon eine Investitionsruine geworden war, einigte man sich auf den Weiterbau des Reaktors. Der Meinungswandel im Iran, nachdem die fortschrittliche Basargan-Regierung durch das orthodoxe Mullah-Regime abgelöst war und sich der militärischen Aggression des Iraks ausgesetzt sah, mag auch militärisch motiviert gewesen sein. Nach meiner Auffassung ist das Reaktorprojekt dadurch noch gefährlicher geworden. Ich bin deshalb der Meinung, daß man dem jetzt neu vorgelegten Änderungsantrag zustimmen sollte, der ja eigentlich kein GRÜNEN-Antrag ist, sondern wortwörtlich dem entspricht, was die Regierungsparteien im Auswärtigen Ausschuß und im Wirtschaftsausschuß vertreten und beantragt haben. Sollte diese Zustimmung nicht möglich sein, schlage ich vor, daß der Antrag und der Änderungsantrag an den zuständigen Wirtschaftsausschuß und den Auswärtigen Ausschuß zurücküberwiesen werden. Im übrigen bin ich in der Sache der Meinung, daß Verträge natürlich auch hier zu halten sind. Wenn sie nicht gehalten werden können oder sollen, lösen sie Schadenersatzforderungen und Kompensation aus. Das gilt - ich sage das in Richtung der Bundesregierung - für das Verhältnis in bezug auf KWU wie auch in bezug auf die iranische Regierung. Die Exportwirtschaft muß wissen, woran sie ist. Auch gegenüber der iranischen Regierung empfiehlt sich ein festes und ehrliches Auftreten. Nur dadurch wird unsere Politik Erfolg haben können. Danke sehr. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Lummer.

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man könnte sich die Sache einfach machen und sagen: Bei Punkt 13 a besteht kein Redebedarf, weil Gemeinsamkeit vorhanden ist; bei Punkt 13b besteht kein Entscheidungsbedarf, obwohl wir unterschiedlicher Auffassung sind. Aber vielleicht wird man doch wenige Worte hinzufügen müssen, weil es um einen Vorgang geht, der den Bundestag mehrfach beschäftigt hat und von dem wir meinen, daß er eine besondere Wichtigkeit beanspruchen kann. Es gibt wenig, was so grausam ist wie chemische Waffen. Diejenigen, die sie einsetzen, sind in besonderer Weise verachtenswert. ({0}) Dies auszudrücken ist ein wichtiges gemeinsames Anliegen. Wir haben es wiederholt getan. ({1}) Es bleibt insofern aktuell das Ziel, eine generelle Verbotssituation für die chemischen Waffen zu erreichen. Ich denke, die Bundesregierung ist hier an der Spitze der Bewegung. Sie hat sich stets erneut darum bemüht, hier weiter voranzukommen. wir können nun darauf blicken, daß im Januar des nächsten Jahres eine Konferenz der Signatarstaaten des Protokolls von 1925 stattfinden wird. Wir hoffen, daß sie zu einem positiven Ergebnis kommt und daß weitere Beitritte erfolgen werden. Aktuell bleibt auch die Forderung in unserem gemeinsamen Antrag, den Vereinten Nationen die Möglichkeit zu geben, zu prüfen, ob chemische Waffen auch nach dem Waffenstillstand eingesetzt worden sind. Wer das Licht des Tages nicht zu scheuen hat, sollte hier den Weg freimachen. ({2}) Aktuell bleibt ebenfalls die Notlage der kurdischen Flüchtlinge in der Türkei, gerade unmittelbar vor dem Einbruch des Winters. Wir sollten uns in den zuständigen Ausschüssen mit dem Vorgang beschäftigen und Wege der Hilfe finden; ({3}) denn das, was die türkische Regierung hier getan hat, ist beachtenswert. Es ist aber auch bemerkenswert, daß die Kurden ausgerechnet in die Türkei geflüchtet sind, wo sie nicht von vornherein auf Wohlwollen hoffen konnten. Unsere Hilfe ist dringend und erforderlich. Nun zu dem zweiten Punkt. Man kann sehr wohl darüber streiten, ob diese beiden Punkte in einem Tagesordnungspunkt zusammengefaßt werden sollten. Es ist lediglich die Region, die verbindet, aber keineswegs die Sache. ({4}) Nichtsdestoweniger eine Bemerkung dazu: Dem Änderungsantrag der GRÜNEN kann man sicherlich nicht versagen, daß eine gewisse Listenreichheit dahintersteckt, der Versuch, den politischen Gegner mit den eigenen Worten einzufangen und zur Zustimmung zu bewegen. In der Sache ist die Entfernung voneinander ja gar nicht so groß. Für uns aber stellt sich hier nicht die Alternative: zustimmen oder zurücküberweisen, sondern die Alternative: ablehnen oder zurücküberweisen. Möglicherweise ist das Zurücküberweisen der gemeinsame Nenner, auf den wir uns einigen können. Ich will jedenfalls sagen: Einigkeit herrscht ja darüber, daß die Gefährdungssituation auch nach dem Waffenstillstand nicht aufgehört hat ({5}) und insofern die Grundhaltung, die formuliert worden war, aufrechtzuerhalten ist. Sicherlich dürfen wir davon ausgehen, daß, wenn die Bundesregierung bei der Überprüfung der Situation zu einem anderen Ergebnis kommt, wir davon erfahren und daran beteiligt werden. ({6}) Aber auf der anderen Seite muß die Bundesregierung auch die Möglichkeit haben, nach einer veränderten Situation auf Grund der Rechtslage zu prüfen, ob bestimmte Schritte wieder möglich sind. Ich gehe jedenfalls davon aus, daß nicht die Wiederaufnahme eines Atomkraftwerkbaus der erste Schritt ist, die Situation im Iran zu verbessern und die Kriegsfolgeerscheinungen zu beseitigen. Da gibt es wahrlich wichtigere Dinge, die zu leisten sind, möglicherweise auch mit unserer Hilfe. ({7}) Wir werden sicher Gelegenheit nehmen, in den zuständigen Ausschüssen weiter darüber zu beraten. Jedenfalls kann man wohl sagen: In der Kürze der Zeit war es nicht möglich, die notwendigen Beratungen auch mit dem Wirtschaftsausschuß durchzuführen. Insofern sollten wir uns auf diesen Punkt einigen. Ich denke, daß auch hier Einigkeit und Gemeinsamkeit möglich sein werden. Den Versuch werden wir jedenfalls ernsthaft machen. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 21. September hat der Auswärtige Ausschuß eine interfraktionelle Erklärung verabschiedet, der u. a. auch ein Antrag meiner Fraktion in einer aktualisierten Form zugrunde lag. Wir selber hatten weitergehende Vorstellungen, haben sie aber zurückgestellt, weil wir uns mit den anderen Fraktionen auf wichtige politische Inhalte einigen Dr. Lippelt ({0}) konnten. Herr Gansel hat sie im einzelnen hervorgehoben. Was wir damals zurückstellten, sollte hier aber noch genannt werden. Erstens. Der gemeinsame Antrag ist in einer für uns und für dieses Haus doch etwas beschämenden Weise zurückhaltend. Während der amerikanische Senat schon am 9. September von Genozid sprach, während das Europaparlament schon ein halbes Jahr zuvor nach dem Giftgasmord an der Bevölkerung von Halabdscha von Verbrechen gegen die Menschheit sprach, „befürchten" wir hier nur, daß Berichte zutreffen könnten. An demselben 21. September, an dem wir diese unsere Befürchtungen äußerten, legte das Foreign Relations Committee einen Staff-Report vor, in dem an Hand einer Sammlung einer Fülle von Augenzeugenberichten in den türkischen Flüchtlingslagern der Vorgang sehr deutlich beschrieben und analysiert wurde. Am 20. August war der Waffenstillstand im Golfkrieg vereinbart worden. Am 25. August eröffnet die irakische Luftwaffe umfassende Giftgasangriff e auf die von Kurden bewohnten Dörfer der Nordprovinz. 32 Orte zählt der Report auf, die mindestens diesen Giftgasangriffen ausgesetzt waren. Der Bericht stellt ausdrücklich fest, daß die Angriffe weniger den Widerstandskämpfern als vielmehr der Zivilbevölkerung in den Dörfern galt. Deutliches Ziel sei gewesen, das Gebiet zu entvölkern - dieses vor dem Hintergrund eines langjährigen systematischen Vernichtungs- und Vertreibungskampfes der irakischen Regierung gegen die in ihren Nordprovinzen lebenden Kurden. Nebenbemerkung: Es muß auch hinzugefügt werden, daß nicht nur der Irak, sondern gleichzeitig auch der Iran den Krieg gegen die Opposition im eigenen Land nach dem Waffenstillstand sofort eröffnet hat. Auch im Iran kam es zu Massenhinrichtungen. Offensichtlich ist es so, daß nationale oder politische Minderheiten in diesen Ländern nur so lange Luft zum Atmen haben, wie ihre Regierungen miteinander im Krieg liegen. Es ist das Kennzeichen totalitärer Diktaturen, daß sie, wenn sie keinen äußeren Feind mehr haben, gegen die eigenen Leute wüten. ({1}) Zweitens. Der Versuch der irakischen Regierung, sich des kurdischen Problems durch Giftgas zu entledigen, sollte nun endlich die Kurdenfrage auf die Agenda der Weltpolitik gesetzt haben. Wir würden es begrüßen und hatten auch dementsprechend formuliert, wenn sich die Bundesregierung dafür einsetzen würde, daß die Kurdenfrage in die Friedensverhandlungen zwischen Irak und Iran aufgenommen wird und daß auch Vertreter des kurdischen Volkes bei diesen Verhandlungen zugegen sein können. Drittens. Wir hatten in unserem Antrag auch formuliert, die Bundesregierung möge sich der irakischen Flüchtlinge annehmen. Jüngste Berichte zeigen, daß sich die Situation in den Flüchtlingslagern dramatisch verschärft. Bei Kältegraden von inzwischen bis zu 15 Grad minus, ohne Brennmaterial, bei mangelnder sanitärer und medizinischer Infrastruktur bleiben die internationalen Hilfsorganisationen nach wie vor von diesen Lagern ausgesperrt. Die Kindersterblichkeit steigt, die zuständigen türkischen Ärzte sprechen von einer Todesfalle. Wir appellieren dringend an die Türkei, die internationalen Hilfsorganisationen schleunigst zuzulassen, wir bleiben aber auch bei unserer Forderung, daß, wenn die Türkei hierzu nicht willens und in der Lage ist, wir selber auch aufnehmen müssen. ({2}) Hier noch ein allerletztes Wort zu unserem Änderungsantrag: Wir haben in der Tat gemeint, nachdem Auswärtiger Ausschuß und Wirtschaftsausschuß lange darüber beraten haben, daß diese Arbeit nicht ganz vergebens sein sollte. Der Auswärtige Ausschuß hat dem Argument, daß unser Antrag, daß eine Genehmigungsverweigerung nach Außenwirtschaftsrecht ohne Abstellen auf die jeweilige konkrete Situation im Zeitpunkt der Entscheidung nicht zulässig sei, durch Umformulierungen abgeholfen, die von den Regierungsfraktionen getragen wurde. SPD und GRÜNE sind diesem nur deshalb mit Stimmenthaltung begegnet, weil die Regierung nach unserer Meinung zu sehr gelobt wurde. Wir haben dieses Lob übernommen und haben gleichzeitig eine Feststellung des Wirtschaftsausschusses übernommen, die sich, auch in positivem Sinne, darauf bezieht, daß auch nach dem Waffenstillstand nach Auffassung der Mehrheit des Ausschusses - also wieder der Regierungsparteien - die Gefährdungslage weiterhin gegeben ist, da sich bislang eine dauerhafte Friedenslösung nicht absehen läßt. Dieses haben wir zusammengetan, um die Arbeit solch ehrenwerter Ausschüsse nicht verkommen zu lassen, legen es Ihnen hier in Abänderung vor und bitten um Ihre Zustimmung. Wenn es nun so ist, daß sich alle Fraktionen auf Rücküberweisung einigen, dann werden wir dem nicht im Wege stehen, denn tricksen wollen wir nicht. Wir wollen aber auch sinnvolle Arbeit nicht verkommen lassen. Danke sehr. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es scheint sich anzubahnen, was zuletzt gesagt worden ist. Frau Dr. Hamm-Brücher ist die nächste Rednerin.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben eigentlich alles schon vorgetragen, was bei der neuerlichen Beratung dieses düsteren Kapitels neuzeitlicher Kriege zu sagen wäre. Ich möchte auch nicht wiederholen, was ich am 21. September und auch bei den Haushaltsberatungen zu dieser Thematik gesagt habe, denn es gibt hier ja manchmal Rituale, aus denen man nicht hinauskommt: Über manche Dinge debattieren wir überhaupt nicht und über manche so häufig, daß man eigentlich nur noch auf seine früheren Protokollreden verweisen müßte,

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das ist erlaubt, Frau Kollegin!

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- um Gesagtes nicht pausenlos zu wiederholen. Irgendwo ist hier auch einmal die Parlamentsreform gefragt, damit man so etwas dann auch einmal anders machen kann. Wir sind uns in der Sache alle so einig, wie eigentlich in kaum einer anderen Frage. Wenn jetzt hier wieder künstlich mit Anträgen, die ausgespielt werden sollen, das Thema noch einmal hochgekocht wird, dann ist das eigentlich nicht im Interesse der Sache selber und nützt auch nichts, denn der zweite Antrag soll nun mal zurückverwiesen werden. Ich sehe auch gar nicht ein: Wenn die Regierung und wir alle finden, dieser Export darf nicht stattfinden, und hier auch keine Hindernisse, keine irgendwie gearteten anderen Auswege gesucht werden, dann kann man sich schlechterdings auch mit der Rückverweisung zufrieden geben. Ich möchte jetzt zu der Beschlußempfehlung eigentlich nur noch einmal auf zwei Sätze aufmerksam machen, nämlich auf den letzten Absatz, auf die sehr vorsichtige Formulierung, verehrter Herr Staatsminister: Der Deutsche Bundestag erwägt, sich dem Beschluß des US-Senats anzuschließen, gezielte und abgestufte Maßnahmen gegen den Irak zu verhängen, wenn durch seine Streitkräfte weiterhin chemische Waffen unter Verletzung des Völkerrechts eingesetzt werden. Das ist so vorsichtig und so behutsam formuliert, eine irakische Regierung braucht sich gar nicht getroffen zu fühlen, wenn sie, wie sie behauptet, dieses Giftgas gar nicht benutzt. Dann brauchen solche Maßnahmen überhaupt nicht erwogen werden. Der US-Senat hat bisher kein Gesetz beschlossen. Also, das ist ein reiner Konjunktiv-Satz. Ich finde, wir müssen auch einmal deutlich machen, daß, wenn der Irak nachweisbar Giftgas auch gegen Kurden eingesetzt hat, dann die Staatengemeinschaft Maßnahmen erwägen muß. Das ist hier doch etwas ganz anderes als in vielen anderen Fällen. Denn wie wollen Sie eine weltweite Ächtung von C-Waffen überhaupt durchsetzen, wenn nicht irgendwo auch Sanktionen möglich sind? ({0}) Ich finde, bei aller Bereitschaft, auch die Gegenargumente, sagen wir einmal vorsichtig: die Besorgnisse des Auswärtigen Amtes zu respektieren: Wir sind das Parlament und können und müssen manche Sachen auch einmal deutlicher sagen, als das im diplomatischen Verkehr üblich ist. Noch vorsichtiger können wir es überhaupt nicht formulieren. Deswegen haben wir uns, Herr Staatsminister, mit dem Koalitionspartner geeinigt, daß wir es jetzt so stehenlassen, wie es darin steht. Dann möchte ich auf den letzten Satz aufmerksam machen. Nach Auffassung des Deutschen Bundestages muß auf dem Weg zu einer weltweiten Ächtung der chemischen Waffen jeder Einsatz von Giftgas auf den entschlossenen Widerstand der Staatengemeinschaft stoßen. Meine Damen und Herren, wer sich das schreckliche Elend dieser Giftgasopfer nur auf Bildern und im Fernsehen angeschaut hat, der muß jetzt bereit sein - auch als Parlament -, auf diese Verhandlungen, die sich dahinschleppen, die offenbar in Gefahr stehen, irgendwo zu versanden, Einfluß auszuüben. Wir haben im Auswärtigen Ausschuß beschlossen, daß wir eine Delegation nach Genf schicken werden, sobald die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, um uns kundig zu machen und dann alle Parlamente des Westens zu ermutigen, diese Aufgabe nicht den Regierungen allein zu überlassen. Wir wollen damit der politischen Verantwortung der Parlamente, daß dieses Verbot von C-Waffen endlich durchgesetzt wird, parlamentarisch Nachdruck verleihen. Ich glaube, in diesem Ziel sind wir uns auch alle einig. ({1}) Ich wollte diese Sache noch einmal besonders unterstreichen. Denn das Ceterum censeo aus den Erfahrungen dieses schrecklichen iranisch-irakischen Krieges und des Gebrauchs dieser schrecklichen Waffen kann doch nicht sein, daß wir uns vertrösten, daß nächstes Jahr vielleicht wieder eine Konferenz, die auf dieses Abkommen von 1925 zurückgreift, und dann vielleicht noch eine und noch eine stattfinden und das schreckliche Beispiel dieses Einsatzes bei regionalen Konflikten Schule macht. Das darf nicht sein. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin - Frau Dr. Hamm-Brücher ({0}): Ja, Sie funken schon die ganze Zeit, Herr Präsident. Ich werde Ihrer Aufforderung auch folgen. Aber ich kann mich selbst zu so später Stunde wirklich noch darüber erregen, daß wir uns hier einfach immer wieder vertrösten lassen, statt selber einmal zu handeln. Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haltung der Bundesregierung zum Einsatz von chemischen Waffen habe ich - ebenso wie Sie, Frau Dr. Hamm-Brücher, die Haltung der FDP-Fraktion - hier wiederholt deutlich gemacht, und zwar am 19. Mai wie auch in der Aktuellen Stunde am 21. September. Ich habe darauf verwiesen, daß wir uns in den Vereinten Nationen bei der Verabschiedung von zwei Resolutionen, nämlich 612 und 622, die beide den Einsatz dieser Waffen energisch kritisieren, nicht nur engagiert haben, sondern daß wir zum Teil sogar die Initiative zu diesen Resolutionen ergriffen hatten. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Bundesregierung jeglichen Chemiewaffeneinsatz verurteilt. Sie hat deshalb auch begrüßt - Herr Lummer hat darauf hingewiesen - , daß es auf einer Konferenz in Paris im Januar nächsten Jahres zu einer neuen Diskussion und Bekräftigung des Genfer Protokolls von 1925 kommen wird. Wir hoffen, daß es bei dieser Konferenz auch gelingt, weitere Staaten, die heute noch nicht beigetreten sind, davon zu überzeugen, diesem Genfer Protokoll beizutreten. Zur Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ist aus der Sicht der Bundesregierung folgendes zu sagen: Wir wissen, daß es Berichte gibt, daß der Irak chemische Waffen gegen die Kurden eingesetzt hat. Angesichts einer ganzen Reihe von Hinweisen und früherer von Irak auch eingestandener Einsätze dieser Waffen ist eine Verwendung in der zu Irak gehörenden Region Kurdistan nicht auszuschließen. Der Irak hat dies allerdings bis heute bestritten. Von Bedeutung ist übrigens in diesem Zusammenhang, daß die irakische Regierung auf Grund der internationalen Kritik am 17. September 1988 erklärt hat, daß Irak alle Völkerrechtsregelungen und -vereinbarungen einschließlich des Genfer Protokolls von 1925 achte. Irak hat später auf Drängen der USA noch erklärt, daß diese Zusicherung für den innerstaatlichen Bereich, d. h. also auch für die Anwendung solcher Waffen gegen die Kurden, ebenfalls gelte. Wir haben uns von Anfang an für die Entsendung einer UN-Delegation zur Prüfung der Vorwürfe eingesetzt. Bedauerlicherweise haben der Irak und die Türkei - auch darauf habe ich schon früher hingewiesen - einer solchen Entsendung nicht zugestimmt. Zu dem Punkt der angeblichen Beteiligung deutscher Firmen an der Giftgasproduktion im Irak wird mein Kollege, Staatssekretär Riedl vom Wirtschaftsministerium, noch Stellung nehmen. Meine Damen und Herren, bei dieser Gelegenheit darf ich - auch das wiederhole ich - noch einmal unsere große Befriedigung über die Aufnahme kurdischer Flüchtlinge durch die Türkei zum Ausdruck bringen. Die Bundesregierung ist bereit, mit Mitteln der humanitären Hilfe zur Linderung der Not der Flüchtlinge beizutragen, und hat dies auch der türkischen Regierung mitgeteilt. Wir gehen davon aus, daß über das Deutsche Rote Kreuz und den türkischen Roten Halbmond in den nächsten Tagen konkrete Hilfsmaßnahmen in die Wege geleitet werden können. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß auch die Europäische Gemeinschaft entsprechende Hilfe leistet. Die Bundesregierung hat sich im übrigen auch bereit erklärt, in Einzelfällen die Aufnahme solcher kurdischen Flüchtlinge zu prüfen, die eine besondere f amiliäre Bindung an die Bundesrepublik Deutschland haben. Die Beschlußempfehlung der Fraktionen des Deutschen Bundestages bezieht sich am Ende, Frau Kollegin Dr. Hamm-Brücher, auf einen Beschluß des USSenats vom September, der die Verhängung von Maßnahmen gegen den Irak vorsah. Es wäre also ein Irrtum, uns zu unterstellen, wir hätten Bedenken gegen die Intention dieses Antrages. Entscheidend ist nur, daß zwar ein Beschluß des Senats vorlag, aber kein Gesetz verabschiedet wurde, d. h. daß auch im nächsten halben Jahr nicht damit zu rechnen ist, bevor nicht der neue Kongreß zusammentritt. Insofern ist die Berufung auf einen Beschluß irreführend. Diesen gibt es insofern nicht, als keinerlei endgültige Meinungsbildung des Kongresses existiert. Es gab Absichtserklärungen, aber kein Gesetz. Daher war es unsere Bitte, eventuell auf diesen Halbsatz zu verzichten. Das hat aber nichts mit dem zu tun, was Sie eben gesagt haben. Man kann durchaus solche Schritte erwägen, wie Sie sie vorschlagen. Dagegen haben wir keine Bedenken. Nur die Bezugnahme auf den US-Kongreß ist falsch. Vielen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Herr Dr. Riedl.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf auf die Thematik und auf die vom Kollegen Gansel gestellten Fragen im Zusammenhang mit den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bezüglich einer Beteiligung deutscher Firmen an der Giftgasproduktion im Irak zu sprechen kommen. Wie Sie wissen, ist zur Zeit ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Darmstadt gegen Verantwortliche in mehreren Firmen anhängig, die im Verdacht stehen, Ausrüstungsteile und Gegenstände zur Produktion chemischer Waffen im Irak illegal exportiert zu haben. Diese Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Zur Zeit ergibt sich folgender Stand: Die Staatsanwaltschaft hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, das der weiteren Klärung der schwierigen technischen Fragen dienen soll. Erst danach wird sich beurteilen lassen, in welcher Richtung die Ermittlungen weiterzuführen sind. Herr Kollege Gansel, Sie haben gesagt, mit dieser Haltung des Bundeswirtschaftsministeriums, die in den Antworten auf diverse Fragen zum Ausdruck gekommen sei und die dieses so wiedergegeben habe, wie auch ich es jetzt getan habe, könnten Sie sich nicht zufriedengeben. Die Bundesregierung ist hier in einer nicht ganz einfachen Situation, weil nicht sie, sondern die Staatsanwaltschaft Herr des Verfahrens ist. Das Gutachten, das jetzt in Auftrag gegeben worden ist, ist, wenn Sie so wollen, ein Obergutachten. Die Staatsanwaltschaft, die seit zwei Jahren ermittelt, hatte bereits zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die aber in sich widersprüchlich waren und zu einer Klärung für Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nicht herangezogen werden konnten. Dann wird man fragen: Warum ist das so? Die Herstellung von Giftgas - das wird mir jedenfalls von Experten immer gesagt - ist chemisch ganz simpel. Zur Herstellung von Giftgas braucht man im Prinzip deshalb auch nur simple Geräte. Daher ist der Nachweis, daß derartige Geräte geliefert worden sind, die Allerweltsgeräte sind, außerordentlich schwierig, jedenfalls als brauchbarer Nachweis für die Staatsanwaltschaft. Herr Kollege Gansel, ich habe auch in den diversen Fragestunden immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung alles in ihrer Kraft Stehende tut, um die Dinge aufzuklären; das ist selbstverständlich. Da gibt es auch hier in diesem Hohen Hause überhaupt keinen Dissens. Es ist leider Gottes - ich muß es sagen - nicht damit zu rechnen, daß die Ermittlungen, so wie Sie es wünschen und wie ich es mir auch wünschen würde, bereits zum 1. Dezember 1988 abgeschlossen sein werden. Daher ist es der Bundesregierung leider auch nicht möglich, zu diesem Zeitpunkt den in der Beschlußempfehlung geforderten Bericht vorzulegen, da sie dem Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht vorgreifen kann und will. Ich kann Ihnen aber zusagen, daß wir zum 1. Dezember dieses Jahres, wenn Sie es wünschen, einen Zwischenbericht geben. - Dann können wir so verfahren. Die Bundesregierung wird zu gegebener Zeit auch das hessische Ministerium der Justiz bitten, einen entsprechenden Bericht zu erstellen. Es wird diesen Bericht dem Deutschen Bundestag dann unverzüglich vorlegen. Da ich aus Ihrer zustimmenden Haltung entnehme, daß Sie mit diesem Zwischenbericht zum 1. Dezember einverstanden sind, werde ich Weisung geben, daß so verfahren wird. Vielen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprche. Wir kommen zunächst zu der Abstimmung über Tagesordnungspunkt 13 a, die unstrittig ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/2962? Ich bitte um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Das ist einstimmig. So ist die Beschlußempfehlung angenommen. Dann kommen wir zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 13b. Ich bin davon unterrichtet worden, daß es Überlegungen in Richtung auf die Rücküberweisung der Beschlußempfehlung gibt. Wenn dies der Antrag sein sollte, auf den man sich geeinigt hat, geht das vor, und ich müßte zuerst darüber abstimmen lassen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann frage ich, ob Sie mit der Rücküberweisung der Beschlußempfehlung an die bisher damit beschäftigten Ausschüsse einverstanden sind. - Ich stelle das fest. Es gibt dazu keinen Widerspruch. Die anderen Abstimmungen, die vorgesehen waren, entfallen. Ich rufe nun Punkt 14 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entwurf eines Beschlusses des Rates zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz Entwurf von Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichtshofes im Hinblick auf die Errichtung eines Gerichts erster Instanz - Drucksachen 11/2090, 11/2479 Berichterstatter: Abgeordnete Helmrich Stiegler Dazu habe ich nur zu sagen, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung nun feststeht, daß eine Aussprache nicht stattfinden soll. Ist das Haus damit einverstanden? - Kein Widerspruch. So beschlossen. Aber wir haben eine Abstimmung vorzunehmen. Wir kommen unmittelbar zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/2479 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen. Ich rufe nun Punkt 15 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften - Drucksache 11/1955 Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1}) Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kolleginnen und Kollegen! Wenn heute eine Frau und ein Mann, die nicht miteinander verheiratet sind, aufs Wohnungsamt kommen und ihren Anspruch auf eine Sozialwohnung geltend machen, werden sie abgewiesen. Wenn dagegen zwei Lesben oder zwei Schwule eine Sozialwohnung brauchen, dann werden sie vom Wohnungsamt nicht abgewiesen, und zwar deswegen nicht, weil sie sich erst gar nicht dort hintrauen. Das gleiche gilt natürlich für Wohngemeinschaften jeglicher Art. Das Zusammenwohnen von Unverheirateten ist in der Bundesrepublik seit der Abschaffung des Kuppeleiparagraphen zwar nicht mehr verboten; es ist jedoch denjenigen vorbehalten, die finanziell dazu in der Lage sind, eine Wohnung auf dem freien Markt zu mieten oder zu kaufen. Personen, die auf eine Sozialwohnung angewiesen sind, bekommen diese nur, wenn sie miteinander verheiratet oder verwandt sind. In Ausnahmefällen bekommen unverheiratete Paare auch dann eine Wohnung, wenn sie glaubhaft machen können, das sie miteinander verlobt sind. Das ist allerdings eine Möglichkeit, die nur heterosexuellen Paaren offensteht. Die Diskriminierung bestimmter Gruppen, die sowohl auf dem sogenannten freien Wohnungsmarkt wie auch auf dem sozialen Wohnungsmarkt stattfindet, wird von vielen Vermietern dahin gehend ausgeFrau Oesterle-Schwerin nutzt, daß von den diskriminierten Personen ganz einfach höhere Mieten verlangt werden. Die wohnungspolitische Theoretikerin Frau Dr. Ruth Becker aus Stuttgart nennt diese Mieterhöhungen sehr zutreffend den Diskriminierungszuschlag. Das ist ein Zuschlag, dem natürlich auch Alleinerziehende, Ausländerinnen und Asylsuchende unterliegen, wenn sie keine Sozialwohnung bekommen. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes verspricht allen Menschen das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Demzufolge müssen auch alle Menschen die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, mit wem sie leben und wohnen wollen. Deswegen muß der soziale Wohnungsbau auch für Wohnberechtigte geöffnet werden, die andere Lebensformen als Ehe und Familie für sich ausgesucht haben. In der Bundesrepublik leben über 2 Millionen Menschen in eheähnlichen Gemeinschaften. Zwischen 3 und 6 Millionen Menschen sind lesbisch oder schwul. Tausende und Abertausende von Menschen würden gerne in Wohngemeinschaften leben, wenn es dafür nur genügend Wohnungen oder Häuser gäbe. Es ist deswegen nicht nur notwendig, daß vorhandene Wohnungen an solche Gruppen vermietet werden, sondern es ist ebenfalls notwendig, daß Wohnungen und Häuser zu diesem Zweck gebaut werden, und zwar gerade im sozialen Wohnungsbau. Die Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für eheähnliche Gemeinschaften ist nicht mehr als die Anpassung der Wohnungsbaugesetze an die breite gesellschaftliche Akzeptanz, die diese Lebensformen bereits genießen. Die Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für lesbische und schwule Lebensgemeinschaften ist ebenfalls ein längst fälliger Schritt zum Abbau der Diskriminierung dieses Teils der Bevölkerung. Unser Gesetzentwurf ermöglicht auch eine Vielfalt von anderen Lebensformen, die wir GRÜNEN gerade wünschen, z. B. das Leben in einer Wohngemeinschaft von Schülerinnen und Studenten, das Leben in einer Wohngemeinschaft von jungen Berufstätigen oder das Leben in Wohngemeinschaften von mehreren Familien mit Kindern. All diese Formen eröffnen eine Fülle von Möglichkeiten zu persönlicher Entfaltung: gemeinsame Haushaltsführung, gemeinsame Kindererziehung, gemeinsame Freizeitgestaltung und jede Menge Gelegenheiten zu gegenseitiger Hilfe im Alltag. Für alleinerziehende Mütter und Väter ist das gemeinschaftliche Wohnen ganz besonders sinnvoll, da dadurch die grundsätzlich schwierigere Lebenslage dieser Personengruppen erleichtert werden kann. Für alte Menschen eröffnet die Möglichkeit einer Gemeinschaftswohnung eine Alternative zur Einsamkeit oder zum Leben im Altersheim. Es ist einfach ein Unding, daß die Wohnungsbaugesetze der Bundesrepublik diesen Lebensformen nicht schon längst Rechnung getragen haben. Wir wollen nicht, daß der Staat den Menschen vorschreibt, wie sie leben sollen. Wir wollen, daß der Staat Räume für alle frei gewählten Lebensformen schafft. ({0}) Ich erwarte Unterstützung für unseren Antrag gerade von den Abgeordneten der Parteien, die in letzter Zeit das Thema „Lebensformen" auf ihre Fahnen geschrieben haben. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Wir von der CDU/CSU-Fraktion stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich bin bisher davon ausgegangen, daß das auch für die anderen hier im Hohen Hause vertretenen Parteien gilt. Man muß aber immer wieder erleben, daß sich die GRÜNEN relativ weit davon wegbewegen. ({0}) Wir bekennen uns ausdrücklich zum Art. 6 Abs. 1 im Grundgesetz, in dem es heißt: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Das gilt für uns für alle Felder der Politik, also auch für die Wohnungsbaupolitik. Wir konzentrieren uns in der Wohnungsbaupolitik auf die Förderung der auf lebenslange Dauer angelegten Ehen und Familien, hier im Besonderen die Ehen mit Kindern. Wir fördern ferner das Zusammenleben mehrerer Generationen in einem Haushalt. ({1}) Familien haben es auf dem Wohnungsmarkt gerade in unserer Zeit wesentlich schwerer als andere, zu einer Wohnung zu kommen. Sie haben oft nur ein Einkommen bei überdurchschnittlicher Haushaltsgröße, höheren finanziellen Belastungen ({2}) und gegebenenfalls einen älteren Familienangehörigen in der Familie zur Pflege. ({3}) Weil das die Strukturen sind, die für uns besondere Priorität besitzen, dieselben Menschen oft aber nur sehr mühsam ein angemessenes Dach über dem Kopf finden, nutzen wir alle Möglichkeiten, um ihnen zu helfen. Die Hilfe, die wir bereitstellen, ist in der Vergangenheit von Ihnen offensichtlich nicht richtig gewertet worden oder teilweise in Vergessenheit geraten. Ich möchte einige Aspekte in Erinnerung rufen. Im Zweiten Wohnungsbaugesetz haben wir für den dritten und jeden weiteren zur Familie rechnenden Angehörigen die Einkommensgrenze auf 8 000 DM erhöht. Ein Bauherr, der seine Eltern oder Schwiegereltern in das gemeinsame Haus aufnimmt, erhält ein Familienzusatzdarlehen, auch dann, wenn er kinderlos ist. Ein Freibetrag von 2 400 DM gibt es im Wohngeldrecht für die über 62jährigen, wenn sie mit ihren Kindern einen gemeinsamen Haushalt bewirtschaften. Gerade für ältere Menschen - älteren Menschen gilt unsere besondere Fürsorge - haben wir eine Vielfalt von Initiativen ergriffen: die erleichterte Aus7154 Frau Rönsch ({4}) stattung mit elektronischen Hilfsmitteln, Förderung des altersgerechten gemeinschaftlichen Zusammenlebens und vieles mehr.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie erlauben eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin?

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, können Sie denn nicht einsehen, daß Ihre ausschließliche Beschränkung auf die eine Lebensform Familie den Lebenswünschen aller anderen Menschen, die andere Lebensformen für sich ausgesucht haben, vollkommen im Wege steht und daß Ihre Auffassung deswegen vollkommen lebensfremd ist?

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Oesterle-Schwerin, wenn Sie etwas Geduld gehabt hätten, hätten Sie feststellen können, daß ich noch dazu komme. Wir bestreiten anderen Lebensgemeinschaften nicht - egal, in welcher Form sie zusammenleben ({0}) daß sie sich auf dem Wohnungsmarkt Wohnungen suchen können. Nur meine ich, daß diese Lebensgemeinschaften, die sehr oft zwei Verdienste haben, auf dem freien Wohnungsmarkt wesentlich besser unterkommen können. Sie finden dort Wohnungen. Wir meinen, daß die Mittel im sozialen Wohnungsbau für die, denen unsere besondere Fürsorge gilt, aufgespart werden. Das sind bei uns die Familien mit Kindern. ({1}) Wenn wir jetzt Ihrem Antrag, dem Antrag der GRÜNEN, folgen würden, wonach die Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften gesondert gefördert werden sollte, würden wir all unsere Anstrengungen für die Familie ad absurdum führen. Ich glaube nicht, daß Sie dies von uns ernsthaft erwarten. Ihr obskures gesellschaftspolitisches Verständnis beweist sich einmal mehr dadurch, daß Sie den Familien solche Haushaltstypen gleichsetzen wollen, die sich durch die Ablehnung bzw. durch die Distanz zur heterosexuellen Ehe, durch häufiges Wechseln der Partner, die dadurch natürlich wesentlich öfter eine Wohnung nachfragen, und durch ein generell höheres Einkommen pro Haushalt und mehrere Verdienste auszeichnen. Ich sagte Ihnen schon, die können sich auf dem Wohnungsmarkt wesentlich besser umsehen und dort eine Wohnung finden. ({2}) - Nein, aber es sind zwei Verdiener. ({3}) - Frau Oestele-Schwerin, Sie müßten wirklich einmal zuhören. Es sind doch mit Sicherheit zwei Verdiener in einer homosexuellen Lebensgemeinschaft. Die können sich auf dem freien Wohnungsmarkt umsehen. Wir werden Ihren Gesetzentwurf an die Ausschüsse überweisen und werden ihn dort noch einmal ausführlich beraten. Sie sollten sich aber heute keiner Illusion hingeben. Wir werden auch nach der Beratung in den Ausschüssen dem Gesetzentwurf, so wie er jetzt vorliegt, nicht zustimmen können. Wenn Sie familienfreundliche Komponenten einbauen, können wir dann noch einmal darüber reden. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn man die Familie unter besonderem Schutz sieht, wie die Sozialdemokraten das tun, Frau Kollegin Rönsch, denke ich, sind die Ansätze im Gesetzentwurf der GRÜNEN doch zu bedenken. Die Lebenswirklichkeit in unserer Republik ist heute doch ganz offensichtlich so, daß es viele Wohngemeinschaften, unverheiratete Paare gibt, die von ihrem Einkommen her nicht in der Lage sind, sich wohnungsmäßig selbst zu versorgen. ({0}) Im übrigen hat es schon längst eine prinzipielle Veränderung gegeben. Vielleicht sollten sie sich einmal den § 5 des Wohnungsbindungsgesetzes ansehen. Darin steht nämlich, daß man in besonderen Fällen ausnahmsweise durchaus auch Unverheiratete einbeziehen kann. Ihre große moralische Linie, daß das alles nicht sein dürfe, steht schon gar nicht mehr. ({1}) - Aber es klang sehr so. - Nur haben unsere obersten Richter festgestellt, daß das nur in Ausnahmefällen so sein darf. Da muß man doch einmal darüber reden, welche weiteren Ausweitungen man denn vernünftigerweise noch beschließen kann und sollte. Wir werden das im Ausschuß gerne beraten, werden allerdings auf zwei Dinge zu achten haben. Erstens ist es zweifellos so, daß die Gefahr des Mißbrauchs bei unverheirateten Paaren und bei Wohngemeinschaften größer ist als bei Verheirateten. Daran sollten Sie nicht vorbeisehen. ({2}) - Klatschen Sie bitte nicht so! Das ist ja in diese Richtung nicht so bös gemeint. - Nur will ich sagen: Wir müssen darauf achten, daß wir nicht die Möglichkeiten des Mißbrauchs eröffnen, ({3}) Darauf können wir uns sicher verständigen. Das Zweite, aber noch Wichtigere ist: Wir müssen aufpassen, daß wir nicht diejenigen gegeneinander hetzen, die sich ohnehin nicht selbst helfen können - das unverheiratete Paar und die Familie. Sie verwalten mit Ihrem Antrag ja nur den Mangel. Sie verteilen den Mangel anders. Es sind zuwenig Wohnungen da. Nun sagen Sie: Da ist eine Wohnung, da soll jetzt nicht die Familie hinein, sondern das unverheiratete Paar. - Das kann im Einzelfall richtig sein. Meistens stehen die Alternativen so nebeneinander. ({4}) Deshalb müssen wir im Ausschuß vor allen Dingen darauf achten, daß wir ein Konzept der Wohnungsbaupolitik dringend anmahnen. ({5}) - Herr Kansy weiß, worauf ich hin will; er wird jetzt wach -, das dazu beiträgt, daß mehr Wohnungen gebaut werden, als wir im Augenblick haben. ({6}) - Ich möchte jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen. - Wenn wir nämlich wieder mehr Wohnungen haben und es Leerstände gibt, dann kommen auch die Unverheirateten und die Wohngemeinschaften gut unter. In den vergangenen Jahren haben die Länder und auch die gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften ganz großzügig gehandelt, als die Wohnungen leer standen. Das wird erst wieder in dem Augenblick zum Problem, wenn es knapp wird. Deshalb ist das Allerwichtigste, den Mangel nicht zwischen denen zu verteilen, die sich eh nicht selbst helfen können. Vielmehr müssen wir von der Regierung wissen, was sie tut, damit mehr Sozialwohnungen gebaut werden, als in den letzten Jahren gebaut worden sind und es für die nächsten Jahren vorgesehen ist. ({7}) Der Staatssekretär wartet schon. Er sagt uns jetzt sicher, was die Bundesregierung noch zusätzlich zu dem tun will, was sie schon vorgesehen hat. Vielen Dank. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem vorliegenden Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften wird eine Begründung beigegeben, die aus dem Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes sozusagen die Pflicht des Staates ableitet, eheähnliche oder besser nichteheliche Lebensgemeinschaften im Zweiten Wohnungsbaugesetz und im Wohnungsbindungsgesetz den ehelichen Gemeinschaften gleichzustellen. Dieser Auffassung kann sich die FDP-Bundestagsfraktion nicht anschließen. ({0}) Ich darf unsere Haltung in einigen Anmerkungen umreißen. Erstens. Es ist unbestritten, daß nichteheliche Lebensgemeinschaften in den letzten Jahren zahlenmäßig sehr stark zugenommen haben. Dies ist alles andere als ein Beleg dafür, daß diese Lebensformen in unserer Gesellschaft etwa diskriminiert würden. Im Gegenteil ist aus dieser Entwicklung ein großes Maß an Liberalität in unserer Gesellschaft zu erkennen. Zweitens. Wie die Diskussion über dieses Thema auch auf dem Deutschen Juristentag in Mainz ergeben hat, sind nichteheliche Lebensgemeinschaften äußerst schwierig zu definieren; Kriterien dafür, was als solche zu gelten habe, sind schwerlich zu finden. Die umschriebene Lebensform ist deshalb kaum abgrenzbar. ({1}) Drittens. Zur Begründung der Gleichbehandlung einer ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaft kann das Grundrecht der Entfaltung der Persönlichkeit - Art. 2 - nicht isoliert herangezogen werden. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang Art. 6 von Bedeutung. Art. 6 stellt Ehe und Familie als Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, die an Bedeutung mit keiner anderen verglichen werden kann, unter den besonderen Schutz des Staates. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften stehen nicht unter dem Schutz des Grundgesetzes. Die an einer solchen Gemeinschaft beteiligten Personen lehnen die Ehe als Lebensform ab. Wortlaut und Normzweck des Art. 6 besagen eindeutig, daß die eheliche Lebensgemeinschaft und nichts anderes geschützt wird. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften sind dieses verfassungsrechtlichen Schutzes nicht teilhaftig. Auch eine rechtliche Gleichbehandlung ergibt sich - ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter - Dr. Hitschler ({0}): Nein, keine Zwischenfrage jetzt. ({1}) Auch eine rechtliche Gleichbehandlung ergibt sich aus dem Grundgesetz nicht. Bei Ungleichheit der Sachverhalte gilt der Grundsatz: Ungleiches ist je nach seine Eigenart zu behandeln. Daraus kann andererseits nicht gefolgert werden, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft in irgendeiner Hinsicht gegenüber der Ehe bevorzugt werden dürfte. Sonst verlöre der „besondere Schutz" des Art. 6 seinen Sinn. Viertens. Typisch jedenfalls ist, daß die freie Entscheidung, nicht zu heiraten, gerade dafür spricht, daß Menschen, die solche Lebensformen wünschen, sich ganz bewußt gegen eine Einbindung in einen gesetzlichen Rahmen aussprechen, ({2}) weshalb auch keineswegs versucht werden sollte, die für die Ehe vorgesehenen Rechtsregelungen auf sie anzuwenden. Fünftens. Diejenigen, die die Rechtsfolgen einer Ehe aber ausdrücklich nicht wünschen, können billigerweise auch nicht verlangen, daß ihnen der Gesetzgeber die Vorteile des besonderen Schutzes der Ehe angedeihen läßt, während sie andererseits die Pflichten zu übernehmen verabscheuen. Kurzum, man kann nicht eine einseitige Vorteilsinanspruchnahme auch noch fördern wollen. Minister Engelhard hat dies in klassischer Schlichtheit so ausgedrückt: ({3}) Wer den Schutz des Gesetzes will, mag heiraten. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, hier ist noch einmal ein Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. ({0}) Sechsens. Dies gilt auch für die Forderung nach Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für die obengenannten Lebensgemeinschaften. ({1}) Die einzelnen Vorschriften des Zweiten Wohnungsbaugesetzes über Vergünstigungen für Familienheime konkretisieren das programmatische Ziel des Art. 6. Der Schutz des Staates umfaßt die Förderung von Ehe und Familie durch materiell-wirtschaftliche Regelungen, was im vorliegenden Fall heißt, dafür zu sorgen, daß den Familien ausreichender Wohnraum zu Verfügung steht, damit sie ihrer sozialen Funktion und Aufgabe gerecht werden können. Es mag in Einzelfällen auch bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern zu vergleichbaren Funktionsübernahmen kommen. Diese Einzelfälle rechtfertigen jedoch nicht eine generelle Regelung durch eine Gesetzesänderung. Es ist deshalb - siebtens - keine Diskriminierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, wenn ihnen der Staat nicht dieselbe Förderung angedeihen läßt wie ehelichen Gemeinschaften. Hierzu besteht keine Veranlassung. Das gilt in besonderem Maße für Lebensgemeinschaften von Homosexuellen und Lesben. Die Liberalen haben sich stets gegen jede Diskriminierung anders veranlagter Menschen gewandt und werden darauf auch künftig sorgsam achten. Das kann aber andererseits nicht bedeuten, daß ihnen der Gesetzgeber eine besondere Förderung zuteil werden läßt. Achtens. Daß im Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilferecht nichteheliche Gemeinschaften bei der Berechnung der Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe wie Ehepartner behandelt werden, empfinden wir deshalb auch als ungerechtfertigt und äußerst bedenklich. Es dürfen nicht je nach Vor- oder Nachteil für die Staatskasse zweierlei Maßstäbe angelegt werden. ({2}) Aus den benannten Gründen kann die FDP einer gesetzlichen Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Lebensgemeinschaften im Zweiten Wohnungsbaugesetz und im Wohnungsbindungsgesetz nicht zustimmen. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Städtebau, Raumordnung und Wohnungswesen, Herr Echternach. ({0})

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der GRÜNEN trägt leider nicht zur Lösung der konkreten Probleme des Wohnungsmarktes bei. Frau Kollegin Oestele-Schwerin, in einer offenen Gesellschaft, wie wir sie bei uns in der Bundesrepublik haben, werden sich immer neue Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens herausbilden. Das abzustreiten wäre genauso falsch, wie es abwegig ist, fehlende staatliche Förderprogramme für derartige Gemeinschaften als Diskriminierung anzuprangern, wie Sie das in diesem Entwurf tun. Jeder Bürger bei uns ist in seiner Entscheidung frei, ob und wie er mit einem anderen Partner zusammenwohnen möchte. ({0}) Das bedeutet allerdings nicht, daß der Staat hierfür auch die gleiche wohnungspolitische Hilfestellung leisten müßte, die er den Familien zugute kommen läßt; denn der besondere Schutz von Ehe und Familie ist eine Wertentscheidung unseres Grundgesetzes. Wir alle, Regierung und Parlament, haben hier einen Verfassungsauftrag zu erfüllen. Auch frühere Bundesregierungen haben dies nicht anders gesehen. Solange es noch Familien gibt, die nicht angemessen mit Wohnraum versorgt sind, müssen die Sozialwohnungen ihnen vorbehalten bleiben. Herr Kollege Müntefering, dies ist jetzt nicht die Stelle, um eine grundsätzliche wohnungspolitische Debatte zu führen, die durch Ihre Große Anfrage vorbereitet wird und die wir demnächst führen werden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatssekretär, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Frau OesterleSchwerin?

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Ja.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist ja von Ihrer Seite ein ganz neues Eingeständnis. Sie haben gesagt: Solange Familien nicht genügend mit Sozialwohnungen versorgt sind ... - Ich dachte immer, alle seien prima versorgt. Wie stehen Sie dazu? Da stehen Sie in völligem Widerspruch zu den sonstigen Äußerungen Ihres Ministeriums.

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Da irren Sie sich. Wir haben vielmehr immer darauf hingewiesen, daß wir die Sozialwohnungen, die wir jetzt haben, brauchen. Diese Zahl der Sozialwohnungen wird sogar, wie Sie wissen, Frau Kollegin, in den nächsten Jahren durch die laufende Rückzahlung staatlicher Mittel zurückgehen. ({0}) - Sie können gar nicht verhindern, daß diese Wohnungen aus den Bindungen herausfallen. Denn da gibt es Rechtsansprüche, die im Wohnungsbindungsgesetz verankert sind. Angesichts dieser Situation ist es nicht gerechtfertigt, den Kreis der Anspruchsberechtigten sogar noch auszuweiten, sondern wir brauchen den verbleibenden Wohnungsbestand und die mit staatlicher Hilfe geförderten Neubauwohnungen im sozialen Wohnungsbau für die Familien, die sich nicht selbst am Markt mit angemessenem Wohnraum versorgen können. Aus diesem Grunde bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf der GRÜNEN nicht zu folgen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 16 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Untersuchungshaft - Drucksache 11/2181 Herr Abgeordneter Bohl wünscht zur Geschäftsordnung zu sprechen.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, daß auf eine Aussprache verzichtet wird, aber gleichzeitig, abweichend von der Geschäftsordnung, die Möglichkeit eröffnet wird, die Reden zu Protokoll zu geben. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich stelle Übereinstimmung dazu fest. Dann weichen wir in dieser Hinsicht von der Geschäftsordnung ab. Wir werden hier also Redetexte entgegennehmen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Oktober 1988, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.