Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/13/1984

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, wir fahren in der verbundenen Aussprache über die Punkte 1a und 1b der Tagesordnung fort: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1985 ({0}) - Drucksache 10/1800 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1984 bis 1988 - Drucksache 10/1801 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß Das Wort hat als erster Redner der Abgeordnete Dr. Dregger.

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das umweltfreundliche Auto ist die wichtigste und dringlichste Aufgabe des Umweltschutzes in Deutschland und in Europa jetzt. Wie bereits gestern der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister ausgeführt haben, sind uns andere Länder, allerdings nur in anderen Kontinenten, in dieser Hinsicht weit voraus, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan, die bereits 1972 und 1976 mit der Einführung des schadstoffarmen Autos begonnen haben. Die SPD-geführten Bundesregierungen haben dieses Thema wie so viele andere auch leider liegenlassen. ({0}) Erst die Bundesregierung Kohl, der Bundeskanzler und der Bundesinnenminister, Fritz Zimmermann, haben diese Aufgabe energisch angepackt. ({1}) Was kann nun geschehen? Wir können leider nicht ohne Rücksicht auf unsere Nachbarn im nationalen Rahmen das nachvollziehen, was in Japan und in den Vereinigten Staaten von Amerika erreicht wurde. Wir leben nicht auf einer Insel wie die Japaner, und unser Land ist kein Kontinent wie die USA. Wir haben viele Nachbarn. Wir sind nur ein Stück von Europa, und dieses Stück ist noch einbezogen in die Europäische Gemeinschaft, auf die wir einen Teil unserer Souveränität auch im Umweltschutz übertragen haben. Die Lage ist so, daß wir mit unseren Nachbarn - um das einmal so zu sagen - einen lebhaften Schadstoffaustausch betreiben. Etwa die Hälfte des Drecks, den wir erzeugen, geben wir an unsere Nachbarn ab, und die revanchieren sich dafür mindestens in gleicher Weise. Was folgt daraus? Nationale Alleingänge im Umweltschutz sind bei uns nur von begrenztem Wert. Wann immer es möglich ist, ist Gemeinschaftslösungen der Vorzug zu geben. ({2}) Vielleicht ist das in der bisherigen Diskussion nicht immer ausreichend beachtet worden. Was wir, meine Damen und Herren, für die Kraftfahrzeugentgiftung zum 1. Januar 1986 wollen, will die Europäische Gemeinschaft nach der bisherigen Beschlußlage erst zum Jahre 1995. Meine Damen und Herren, in Brüssel, in London, in Paris, in Rom und in anderen europäischen Hauptstädten; das ist für uns völlig unakzeptabel. ({3}) Wir empfinden den jetzigen Zustand hier als einen nationalen Notstand, der uns gegebenenfalls auch zu eigenständigem Handeln befugt. Eine europaweite Lösung ziehen wir jedoch vor. Eine erste erfreuliche Nachricht aus Brüssel: Die Kommission ist bereit, unser Ziel, diesen Termin 1995 vorzuziehen, zu unterstützen. Nun sind objektiv Schwierigkeiten in zwei Richtungen gegeben. Einmal ist die Einführung des Katalysators als eine der Möglichkeiten - im Moment wohl die einzig praktische, um das Ziel zu erreichen - bei kleineren Hubräumen, bei kleineren Kraftfahrzeugen schwieriger und relativ teurer als bei großen. Außerdem - und das hängt damit zusam5952 men - haben Italien und Frankreich als Automobilproduzenten einen höheren Anteil an kleineren Autos, als wir. Natürlich versuchen die Franzosen und Italiener, deren Automobilindustrie ohnehin in einer etwas schwierigen Lage ist, ihre Interessen zu wahren. Die Lösung könnte vielleicht darin bestehen, daß wir, wie wir es wollen, bereits am 1. Januar 1986 mit der obligatorischen Einführung der Schadstoffbegrenzung bei den Kraftfahrzeugen beginnen, die nach ihrer Größe und nach ihrem Hubraum es auch heute schon können. Es gibt auch heute BMW- und Daimler-Benz-Fahrzeuge, die nach Amerika exportiert werden, und es gibt auch außereuropäische Wagen, für die das in gleicher Weise zutrifft. Wir würden also bei denen mit der obligatorischen Einführung am 1. Januar 1986 beginnen und dann möglichst schnell die anderen einbeziehen, nach meiner Vorstellung bis spätestens 1989. Das wäre europaweit gegenüber der Vorstellung, dies erst 1995 einzuführen, ein ungeheurer Erfolg, den wir anstreben. Das wird nicht ganz leicht sein, weil die Interessen in der Europäischen Gemeinschaft unterschiedlich sind, weil auch die Schadstoffbelastungen unterschiedlich sind. Das wird die Kommission und das wird der Ministerrat allein nicht schaffen. Ich möchte heute morgen an den Bundeskanzler Helmut Kohl und in gleicher Weise an den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand appellieren, sich noch einmal zusammenzutun, um hier einen Durchbruch in der Europäischen Gemeinschaft zu erzielen. ({4}) Herr Bundeskanzler, ohne dieses Zweigespann Mitterrand/Kohl wären die Krisen in der Europäischen Gemeinschaft nicht gemeistert worden. Der Kompromiß von Rambouillet wäre nicht zustande gekommen, die Agrarfinanzierung wäre nicht geklärt worden, die Frage des britischen Beitrags wäre nicht geklärt worden. Ohne Ihr Zusammenwirken hätte Europa nicht diesen NATO-Doppelbeschluß, der für seine Sicherheit unentbehrlich ist, auf den Weg gebracht. Ich erinnere noch an die große Rede des französischen Staatspräsidenten hier im Deutschen Bundestag zu diesem Thema. Ich möchte Sie beide bitten, dieses Umweltthema, das abgasentgiftete Auto, als ein Anliegen höchster Bedeutung anzusehen. Es geht hier um nicht weniger als um die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen der europäischen Völker, und das ist Ihren Einsatz wert. ({5}) Ob und wann das auch immer gelingt, wir möchten noch vor der obligatorischen Einführung, die viel früher stattfinden muß, als das bisher in der Kommission in Brüssel gedacht war - wir haben noch Chancen, daß wir es hinkriegen -, die freiwillige Einführung im nationalen Rahmen, ebenfalls möglichst frühzeitig, durch Differenzierung bei der Mineralölsteuer fördern, um zu erreichen, daß das bleifreie Benzin zumindest nicht teurer ist als das andere, wie es in Amerika heute der Fall ist, sondern vielleicht sogar billiger. Wir möchten das vor allem durch eine Differenzierung bei der Kraftfahrzeugsteuer erreichen, indem das umweltfreundliche Auto auf eine längere Frist davon befreit wird, während die anderen, wenn sie 1986 in Betrieb gehen, eben eine drastische Mehrbelastung an Kraftfahrzeugsteuer erfahren müssen. Es darf sich in Zukunft nicht lohnen, sich umweltschädlich zu verhalten, sondern das umweltfreundliche Verhalten auch bei Autos muß belohnt werden. ({6}) Das ist unsere Konzeption zur Entgiftung des Kraftverkehrs. Es kommen viele Teilfragen noch hinzu, wie der Altbestand an Kraftfahrzeugen, der 25 Millionen beträgt. Die Lebensdauer eines Kraftfahrzeugs liegt bei zehn Jahren. Das ist also eine Sache, die wir mitschleppen müßten, wenn nicht auch im Altbestand Verbesserungen herbeigeführt werden. Daran arbeiten wir, und das Kabinett wird sich in der nächsten Woche damit befassen. In der Koalitionsrunde haben wir noch gestern abend darüber beraten. Meine Damen und Herren, eine kurze Nachlese zu Buschhaus. Buschhaus ist ja eines von vielen Kohlekraftwerken, keineswegs das die Umwelt am meisten belastende. Der niedersächsische Ministerpräsident, den ich zu meiner Freude heute morgen auf der Bundesratsbank begrüßen kann, hat ja in der letzten Sondersitzung des Bundestages Zahlen genannt. Bei Buschhaus geht es um zirka 34 000 t Schwefeldioxid; diese Belastung wird sehr schnell abgesenkt werden. In Borken, Hessen, sind es 40 000 t Schwefeldioxid, und im rheinischen Revier gibt es Kraftwerke mit einem Ausstoß von über 100 000 t Schwefeldioxid, leider. In der DDR sind es bis zu 500 000 t je Kraftwerk, ({7}) und in Delitzsch ist ein weiteres Werk im Bau, bei dem die Schadstoffmenge zirka 700 000 t beträgt. ({8}) - Meine Damen und Herren, wenn Sie intelligente, knappe Zwischenrufe machen, dann kann ich darauf antworten, aber ein allgemeines Gebrodel kann nicht aufgenommen werden. ({9}) Ich nenne diese Zahlen nur, um deutlich zu machen, wie wichtig es auch in diesem Kraftwerksbereich ist, daß wir zu Gemeinschaftslösungen kommen: mit unseren EG-Nachbarn - von denen allerdings Frankreich darauf hinweisen kann, daß es durch die Umstellung auf Atomenergie ja nicht mehr zu den großen Schadstofferzeugern gehört -, ({10}) aber möglichst auch mit der DDR. Die DDR ist z. B. an unserer Entschwefelungsanlage in Buschhaus auf das. höchste interessiert, weil die Entschwefelungsanlage in Buschhaus die erste der Welt für Salzkohle ist und insofern auch eine Pioniertat bedeutet. Der Deutsche Bundestag hat das Thema Buschhaus in seiner Entschließung vom 28. Juni aufgegriffen, obwohl der Bund auf diesem Felde keinerlei administrative Kompetenzen hat. Baugenehmigung und Betriebsgenehmigung sind allein Sache der niedersächsischen Landesregierung. Wir haben dieses Thema trotzdem aufgegriffen, ({11}) weil nach unserer Auffassung - dabei bleibe ich - der Bau dieses Kraftwerks ohne Entschwefelungsanlage für die besonders schwefelhaltige Salzkohle ein Thema von nationalem Rang ist. Solche Fragen gehören unabhängig von Verwaltungskompetenzen vor den Bundestag als das Forum der Nation. Man fragt sich heute, wie dieses Kraftwerk 1978 ohne Entschwefelungsanlage überhaupt genehmigt werden konnte. ({12}) - Machen Sie nicht so, bitte; das entsprach nicht nur der übereinstimmenden Auffassung aller Parteien und Fraktionen, sondern vor allem der Rechtslage, Herr Hauff, die von der sozialliberalen Koalition geschaffen worden war. ({13}) Nach der heute geltenden Rechtslage, die wir geschaffen haben, könnte das Kraftwerk ohne Entschwefelungsanlage gar nicht gebaut werden. Nun hat ja die Presse und auch die Opposition besonders der Umstand beschäftigt, daß zwischen der Entschließung vom 28. Juni und zwischen dem, was nachher erarbeitet und von der Mehrheit am 31. Juli gebilligt wurde, ein Unterschied besteht. Die Entschließung vom 28. Juni hieß im Kern: keine Inbetriebnahme ohne Entschwefelungsanlage. - Das, was wir dann am 31. Juli gebilligt haben, hieß im Kern: keine Salzkohle ohne Entschwefelungsanlage. - Wir haben dieser Veränderung zugestimmt, weil auf diesem Wege schneller mehr für den Umweltschutz erreicht werden konnte als auf dem Wege, der von uns am 28. Juni nicht beschlossen - dazu hatten wir keine Kompetenz -, aber empfohlen worden war. Meine Damen und Herren, ich sagte schon, diese Unterschiede haben zu Polemiken der Opposition und zu manchen hämischen Kommentaren in der Presse geführt. Das müssen wir ertragen. Für uns zählt der Erfolg, ({14}) und der Erfolg für den Umweltschutz in Buschhaus ist optimal, meine Damen und Herren. ({15}) Wir verdanken diesen Erfolg auf dem Gebiet des Umweltschutzes - ich will die Zahlen nicht wiederholen, weil sie allen bekannt sind - vor allem dem Bundeskanzler, der sich - ich kann das bezeugen, da ich an den Gesprächen und Verhandlungen mitgewirkt habe - in dieser Angelegenheit sehr persönlich und sehr wirksam eingeschaltet hat. ({16}) - Ja, bei Ihnen war das vielleicht anders, bei uns ist das so. Wir kümmern uns um diese Dinge, und da schaltet sich auch der Kanzler ein. ({17}) Meine Damen und Herren, was uns, die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, angeht - das will ich für die Zukunft sagen -, möchte ich ausdrücklich erklären, daß wir es uns vorbehalten, im Laufe eines Entscheidungsprozesses auch in Zukunft technische Positionen zu verändern, wenn wir auf diese Weise zu schnelleren und besseren Ergebnissen für den Umweltschutz kommen. Es wäre doch töricht, wenn wir aus Prestigeüberlegungen, aus Rechthaberei oder anderen unsachlichen Erwägungen nicht bereit wären, bei diesen komplizierten technischen Dingen zu lernen und uns dann zu einer besseren Lösung zu bekennen. ({18}) Wir werden Ihrem schlechten Beispiel, das Sie in dieser Frage geboten haben, auch in Zukunft nicht folgen. ({19}) Ich möchte das aber mit einer kritischen Mahnung verbinden. ({20}) Es ist mir nicht begreiflich, warum das, was nach dem 28. Juni unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers mühsam erarbeitet wurde, nicht von vornherein aus eigener Initiative des Kraftwerksbetreibers hervorgegangen ist. ({21}) Der Vorstand der BKB müßte doch eigentlich schon vorher auf den Gedanken gekommen sein, daß man bis zur Fertigstellung der Entschwefelungsanlage statt der besonders schwefelhaltigen Salzkohle auch normale Braunkohle verwenden kann. ({22}) Meine Damen und Herren, Umweltschutz im Bereich technischer Großanlagen, insbesondere dann, wenn es sich um neue Verfahren handelt, wie das hier der Fall ist - Entschwefelungsanlagen für Salzkohle gibt es auf der Welt noch nicht -, ist kompliziert, und zwar nicht nur technisch, sondern auch rechtlich. Ich appelliere an die Kraftwerksbetreiber, an die Automobilhersteller, an die Wirtschaft insgesamt: Denken Sie bitte nicht nur tech5954 nisch und ökonomisch, sondern denken Sie auch gemeinwohlorientiert, politisch! ({23}) Der großen Aufgabe des Umweltschutzes können wir nur gerecht werden, wenn alle mehr tun als das, wozu sie verpflichtet sind; ({24}) viele tun es heute schon. Der Bundesinnenminister hat inzwischen neben der Reinhaltung des Wassers und neben der Reinhaltung der Luft die dritte große Aufgabe des Umweltschutzes in Angriff genommen, den Schutz des Bodens, genauer: der Erdkrume, aus der alles Leben erwächst. Auch auf diesem Feld ist von uns Pionierarbeit zu leisten. Die alte Bundesregierung hat da nichts Wesentliches hinterlassen. ({25}) Deshalb sind die Vorwürfe der Opposition - der sozialdemokratischen jedenfalls - absurd, nicht auch das noch in den knapp zwei Jahren, in denen wir die Verantwortung tragen, schon erledigt zu haben. Meine Damen und Herren, niemand kann bestreiten: Durch die Aktivität der neuen Regierung ist die Bundesrepublik Deutschland heute der Vorreiter des Umweltschutzes in Europa. ({26}) Dazu beglückwünschen wir Sie, Herr Bundeskanzler, ({27}) und dazu beglückwünschen wir Sie, Herr Innenminister Fritz Zimmermann. ({28}) Auch wenn sich die Opposition der Mitarbeit verweigert und nur lacht - ich habe den Eindruck, nicht immer besonders intelligent -: ({29}) Wir, die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion, werden sie in dieser Aufgabe auch weiterhin unterstützen. Wir werden vor allem dafür sorgen, daß bei aller Begeisterung für die Aufgabe, bei aller Sorge, die wir alle empfinden, aber auch bei der Angstmache, die von nicht wenigen geschürt wird und die zur Verwirrung führt, der Faden nicht verlorengeht, damit das Mögliche - unter Zuhilfenahme des technischen Fortschritts - so schnell geschieht, wie es notwendig ist. ({30}) Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister hat in seiner Einbringungsrede gestern darauf hingewiesen, daß bei der Regierungsübernahme von Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 alle vier Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nachhaltig verletzt waren: Wir hatten weder Wirtschaftswachstum noch Geldwertstabilität, noch außenwirtschaftliches Gleichgewicht, noch Vollbeschäftigung. Hinzu kam, daß unter den Kanzlern Brandt und Schmidt die Staatsverschuldung wie eine Rakete in den Himmel gestiegen war. ({31}) Die dann unter der neuen Regierung eingeleitete Wende in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik war so erfolgreich, daß schon weitgehend in Vergessenheit geraten ist, was sich in diesen zwei Jahren verändert hat. ({32}) Von den vier Zielen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes sind drei wieder erreicht. Wir haben wieder ein reales Wirtschaftswachstum. Es liegt bei schätzungsweise 2,5%. Vor dem schädlichen Arbeitskampf in der Metall- und in der Druckindustrie lag es im ersten Quartal sogar bei 3,6%. Wir haben wieder Geldwertstabilität. Die Geldentwertungsrate ist von 5,6 % im Jahre 1982 auf derzeit 1,7 % gefallen. ({33}) Das ist Geldwertstabilität wie in Ludwig Erhards Zeiten, meine Damen und Herren! ({34}) Diese Geldwertstabilität ist vor allem eine soziale Errungenschaft: eine Errungenschaft für die Rentner, für die Sparer und für die Arbeitnehmer. Bei dem derzeitigen Geldvermögen der privaten Haushalte bedeuten 1 % weniger Geldentwertung eine Kaufkraftsteierung von 18 Milliarden DM. 1% weniger Geldentwertung bedeuten für die Arbeitseinkommen ebensoviel wie eine entsprechende reale - ich betone: reale - Lohn- und Gehaltserhöhung, nämlich eine Kaufkraftsteigerung von 7,7 Milliarden DM. Was Regierung, Bundesbank und die Tarifparteien - die Gewerkschaften und ihre Partner auf der Arbeitgeberseite - durch eine erfolgreiche Politik der Inflationsbekämpfung herausgeholt haben, gerade für den sogenannten kleinen Mann, ist mehr, als Nominallohnerhöhungen jemals bringen könnten. Das ist doch die soziale Wirklichkeit. ({35}) Das gilt erst recht, wenn diesen Nominallohnerhöhungen Arbeitskämpfe vorausgehen, die die Volkswirtschaft mit Milliardenverlusten schädigen, vor allem aber auch die am Arbeitskampf beteiligDr. Dregger ten Arbeitnehmer selbst. Es dauert lange, bis die beteiligten Arbeitnehmer ihre streikbedingten Einkommensverluste wieder aufgeholt haben, auch wenn sie Streikunterstützung erhalten haben; erst recht, wenn das nicht der Fall ist. ({36}) Meine Damen und Herren, Wirtschaftswachstum haben wir geschafft, Geldwertstabilität haben wir geschafft, und auch das dritte Ziel haben wir erreicht, nämlich das außenwirtschaftliche Gleichgewicht. Wir haben wieder beträchtliche Handels- und auch Leistungsbilanzüberschüsse. Meine Damen und Herren, das alles ist in weniger als zwei Jahren zustande gebracht worden. Wenn das keine Wende ist, dann frage ich unsere Kritiker, was sie sich eigentlich darunter vorgestellt haben. ({37}) Auf einem der vier Felder sind wir noch nicht am Ziel: Wir haben keine Vollbeschäftigung. Wir haben in der kurzen Zeit, die uns bisher zur Verfügung stand, noch nicht wiedergutgemacht, was unter den Kanzlern Brandt und Schmidt in über zehn Jahren angerichtet wurde. ({38}) In diesen zehn Jahren sind ja nicht nur die Schulden - wenn die Rakete Sie stört, dann spreche ich vom Berg - wie die Zugspitze in den Himmel gestiegen, sondern auch die Arbeitslosigkeit. In der Ära Brandt/Schmidt hat sich die Arbeitslosigkeit verzehnfacht: von 200 000 auf 2 Millionen. ({39}) Wir haben sie zunächst einmal gestoppt. Aber wir haben die Wende noch nicht herbeigeführt. ({40}) - Ja, zählen Sie man ruhig. Es stimmt im großen. ({41})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Abgeordneter Dregger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Dregger, würden Sie mir bestätigen, daß am 1. Oktober 1982, als hier ein Regierungswechsel stattfand, die Zahl der Arbeitslosen 1,8 Millionen betrug, daß sie ein Jahr, nachdem Sie an die Regierung gekommen waren, 2,1 Millionen betrug, also um 316 000 Arbeitslose gleich 17 % höher lag, und daß sie heute, nach einem weiteren Jahr, sozusagen am Ende eines Sommers, saisonbereinigt zusätzlich um 100 000 gestiegen ist und immer noch über 2 Millionen liegt?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Westphal, es ist sicherlich nicht zu bestreiten, daß die Arbeitskämpfe in der Metall- und in der Druckindustrie einen Einbruch des Vertrauens bedeutet haben, ({0}) und ohne Vertrauen in den sozialen Konsens und die Stabilität unserer wirtschaftlichen Ordnung wird nicht investiert. Jedenfalls werden dann keine Erweiterungsinvestitionen gemacht. ({1}) Deswegen ist es dringend notwendig - dazu wollte ich noch etwas sagen -, daß wie diesen sozialen Konsens stärken, damit die Bundesrepublik Deutschland unbezweifelbar wieder als ein beliebtes Land für Investitionen in der ganzen Welt gilt. ({2}) Die bedrückende Zahl der Arbeitslosen birgt die Gefahr in sich, daß jetzt falsche Wege beschritten werden. Ich habe schon einige Male gemahnt - und ich wiederhole es heute -: Orientieren wir uns doch bitte an den Ländern, die Vollbeschäftigung haben! Das ist die Schweiz, unser europäisches Nachbarland, und das ist Japan. Beide sind marktwirtschaftlich verfaßte Länder, um das zunächst einmal herauszustreichen. In beiden Ländern gilt das Prinzip der Sozialpartnerschaft und nicht das des Klassenkampfes. ({3}) Außer an Japan und der Schweiz sollten wir uns auch an den Vereinigten Staaten von Amerika orientieren. ({4}) - Darauf komme ich, Herr Walther. Ich kann ja nicht alle Gedanken in einem Wort ausdrücken. Das ist selbst mir nicht möglich. - Auch die Vereinigten Staaten können und wollen wir nicht in allen Einzelheiten kopieren. ({5}) Aber auch von ihnen können wir etwas lernen. Das Schlimme ist, daß Sie so wenig lernfähig sind trotz der vielen Fehler, die Sie gemacht haben, und der miserablen Ergebnisse, die Sie hinterlassen haben. ({6}) Das überhebliche europäische Achselzucken über die Wirtschaftspolitik des amerikanischen Präsidenten wirkt heute doch schon fast lächerlich. Nach einem lesenswerten Aufsatz des früheren Bundesbankpräsidenten Otmar Emminger vom 11. September 1984 - gerade erschienen in der „FAZ" - sind in den USA von Ende 1982 bis Mitte 1984, also in anderthalb Jahren, 6,8 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden. ({7}) Das hohe Staatsdefizit kann dafür nicht die entscheidende Ursache sein - darauf weist auch Emminger hin -; denn schon im Jahrzehnt zuvor, von 1973 bis 1983, nahm in den Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Beschäftigten per saldo um 15,8 Millionen zu; im gleichen Zeitraum in Japan um 5 Millionen. Dagegen ging sie bei den Europäern, die über andere so gerne die Achseln zucken, in dieser Zeit um 1,5 Millionen zurück. Das wirft doch die Frage auf: Haben die erfolgreichen Volkswirtschaften diese Vollbeschäftigung durch Arbeitszeitverkürzung erreicht? Nein! Japan und die Schweiz haben die längste Arbeitszeit aller Industrienationen der Welt. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Arbeitszeit heute wesentlich länger als bei uns. Haben diese erfolgreichen Volkswirtschaften diese Vollbeschäftigung durch das Abstoppen des technischen Fortschritts erreicht? Nein! Sie stehen an der Spitze des technischen Fortschritts in der Welt. Geschafft haben sie es durch schnellere Anpassung an veränderte Marktbedingungen, durch Abbau unproduktiverer Arbeitsplätze und durch Wachstumsbedingungen für produktivere, neue Arbeitsplätze, durch größere Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, durch Begrenzung der Kosten, weniger der Lohnkosten, wohl aber der Lohnnebenkosten, die bei uns so extrem hoch sind. Bei uns sind es 79% im Vergleich zu den Lohnkosten, in den Vereinigten Staaten von Amerika 38%, in Japan 28 %. Auf diesen Punkt hat der niedersächsische Ministerpräsident in der Vergangenheit häufiger hingewiesen. Das ist eine Tatsache. Die gegenwärtige Defizitpolitik der USA ist für uns dagegen kein Rezept. Uns gelänge es nicht, damit die Kapitalströme anzulocken, die jetzt in die USA fließen. Auch in den USA wird dieses Rezept nicht unbegrenzt angewandt werden können. Im übrigen haben wir keine so günstige Ausgangslage wie die Vereinigten Staaten von Amerika für ein solches Experiment, denn die Staatsquote liegt bei uns bei 48% - sie lag schon einmal bei 50%; sie geht jetzt wieder leicht zurück -; in den USA beträgt sie nur 38%. Da kann man besser aufstocken, als wenn man schon sehr hoch liegt. Meine Damen und Herren, wir können aber z. B. auf den Feldern lernen, auf denen Norbert Blüm, unser hervorragender Arbeitsminister, zur Zeit aktiv wird. Ich meine das Beschäftigungsförderungsgesetz und das Arbeitszeitgesetz, die sich nicht an denen orientieren, die bereits Arbeit haben, sondern an denen, die Arbeit haben möchten. Um letztere müssen wir uns doch kümmern. ({8}) Von Illusionen sollten wir allerdings Abschied nehmen. Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten kann niemand außer Kraft setzen. Arbeit, die nicht mehr nachgefragt wird, kann niemandem aufgedrängt werden. Wirtschaftliche Leerläufe kann keine Volkswirtschaft auf Dauer bezahlen. Meine Damen und Herren, wenn man sich einmal das Ergebnis des demokratischen Sozialismus - ob hier bei uns, in Frankreich oder sonst in Europa - ansieht, wird klar: Das Ergebnis war immer Null, also miserabel. ({9}) Demokratischer Sozialismus ist immer nur auf Zeit möglich, weil er auf Pump lebt, und auf Pump kann man nur zeitweise leben. ({10}) Die Nase am Markt haben, in der Technik und Entwicklung den anderen voraus sein, Kosten und Preise im Griff haben, in Lieferung und Service zuverlässig sein - das ist das einzige Rezept, das hilft. Hinzu kommen müssen Partnerschaft, Konsens, Zusammenarbeit. Daher begrüße ich den Vorschlag von Gewerkschaftsseite, die Gespräche zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften zu konkreten Themen wieder aufzunehmen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt auf diese Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, insbesondere mit den Gewerkschaften, größten Wert. Auch während der Arbeitskämpfe bei Druck und Metall sind die Gespräche weitergegangen, zwar nicht im offiziellen Rahmen, aber sie haben stattgefunden. Wir freuen uns, daß die Gewerkschaften empfehlen, sie jetzt wieder offiziell aufzunehmen. Die CDU/ CSU-Fraktion wird alles tun, was geeignet ist, den sozialen Konsens zu fördern. ({11}) Ein dritter Punkt. Das kostbarste Gut unseres Volkes sind unsere Kinder. ({12}) - Da schalten Sie ab. Sie waren j a auch einmal ein Kind und haben einmal eine Mutter und einen Vater gehabt. Daran sollten Sie sich vielleicht einmal erinnern. Sie sollten sich auch einmal daran erinnern, wer nachher eigentlich Ihre Rente bezahlt, wenn Sie hier den ganzen Tag nur herumlachen. ({13}) Das kostbarste Gut - ich wiederhole es, auch wenn Sie lachen; das stört mich überhaupt nicht -, das kostbarste Gut unseres Volkes sind unsere Kinder. ({14}) Ihnen das Leben zu schenken, sie seelisch, geistig und körperlich gesund heranzubilden, das ist die beste Zukunftsinvestition, die sich überhaupt vorstellen läßt. ({15}) Die revolutionären Veränderungen der letzten Jahrzehnte in Wirtschaft und Gesellschaft sind, was das Zusammenleben der Geschlechter und die Folge der Generationen angeht, bisher nicht gemeistert. Abkehr von der Ehe, Abkehr von Kindern, Abtreibungen, Drogenkonsum, ({16}) die Flucht in Sekten, ein Volk von immer mehr Alten und immer weniger Jungen, all das zeigt, daß wir in einer Krise stecken. ({17}) - Sie sind das Beispiel, gewissermaßen der Höhepunkt dieser Krise. ({18}) - Ich hoffe, daß das Fernsehen Sie zeigt, wenn ich das gleich untermale. ({19}) Meine Damen und Herren, diese Krise ist auch eine Krise unseres Bewußtseins. Wir alle sollten Kinder lieben und es denen, die sie zur Welt bringen und erziehen - den Müttern also vor allem -, erleichtern, ihre schöne und große Aufgabe wahrzunehmen. ({20}) Was heißt denn „Kinder erziehen"? Mit Kindern leben und für Kinder leben heißt doch für Frauen, eine Zeitlang außerhalb der Erwachsenen- und außerhalb der Berufswelt zu leben, ({21}) wie Frau Professor Höhler das kürzlich in einem Aufsatz dargestellt hat. Sie hat tiefer darüber nachgedacht als Sie, meine Damen und Herren. ({22}) Wenn das von der Gesellschaft überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder sogar noch lächerlich gemacht wird, wenn es nicht gewürdigt wird, dann werden immer weniger Kinder geboren werden. Ich glaube, daß dieses Geistig-Seelische noch viel wichtiger ist als das Materielle, obwohl eben auch das Materielle wichtig ist. Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung ist gewiß notwendig. Ein Jahr je Kind, wie Norbert Blüm es vorschlägt, ist gewiß nicht zuviel, aber doch ein finanziell belastender großer Schritt in eine neue Richtung. Steuerliche Erleichterungen für Kinder sind notwendig. Da machen wir ja - das ist bereits beschlossen - 1986 mit unseren Freibeträgen einen großen Schritt nach vorne. Mutterschaftsgeld und Kindergeld sind notwendig. Auch da sind unsere konkreten Beschlüsse bemerkenswert. All das reicht aber noch nicht, um das auszugleichen, was Wolfram Engels in einem „Welt"-Interview vor einigen Monaten dargestellt hat. Er hat geschrieben: Wenn zwei Berufstätige sich entschließen, Kinder zu haben und sie zu erziehen - was ja wohl bedeutet, daß einer, in der Regel die Mutter, sich dann auch um die Kinder kümmert und aus der Berufswelt ausscheidet -, ({23}) dann bedeutet das, daß sie ihren Lebensstandard auf ein Drittel vermindern. Und das, was im Arbeitsleben stattfindet, findet dann noch weiter statt, setzt sich fort im Rentenalter.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Abgeordneter Dregger, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, ja.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Bitte, Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dregger, wenn das so ist, wie Sie es zu Recht beschreiben, daß so starke finanzielle Einbußen da sind, wenn von zwei Berufstätigen einer den Beruf für das Kind unterbricht: Können Sie mir dann erklären, warum es eine Ihrer ersten Großtaten war, das Mutterschaftsurlaubsgeld drastisch abzusenken? Denn das hat dagegen geholfen?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gnädige Frau, eine unserer Großtaten war, einen chaotischen Bundeshaushalt zu ordnen, um wieder Spielraum zu bekommen, auch für die Familienpolitik. ({0}) Aber wir haben ja inzwischen ein Familienprogramm, ein Kinderprogramm, möchte ich sagen, weil es ja auch für Alleinerziehende da ist, von immerhin 8 Milliarden DM auf den Weg gebracht. Ich denke, daß sich der Bundesfamilienminister dazu in der Debatte noch äußern wird. Es ist das größte der Nachkriegszeit. Ich habe ja gerade gesagt: Das alles ist viel, aber verändert noch nicht die grundlegende Lage in einer Gesellschaft, in der Frauen nicht notwendig in die Familie gehen müssen, sondern ihren Erfolg auch im Beruf finden können, genauso gut, wie Männer es können. Aber weitere Schritte stoßen an Grenzen. Und darauf mache ich jetzt einmal aufmerksam. Es geht nicht nur um den guten Willen, sondern auch um die Finanzierung seiner Verwirklichung. Weder im Steuerhaushalt noch im Rentenhaushalt gibt es Spielräume. Das wird voraussichtlich so bleiben. Die Folgerung, die sich daraus ergibt, ist nicht bequem. Sie lautet nach meiner Auffassung: Wir können auf Dauer die, die Kinder zur Welt bringen und erziehen, nur dann entlasten, wenn die Lasten von denen mitgetragen werden, die sich dieser Aufgabe nicht widmen. Wir haben keinen Juliusturm mehr, aus dem wir gute Werke finanzieren können. Wir können nur noch umschichten: innerhalb des Steuerhaushalts und innerhalb der Sozialhaushalte. Umschichtung, nicht Mehrbelastung der Haushalte ist notwendig, wenn auch die anderen staatlichen Aufgaben erfüllt und die Steuer- und Beitragslasten nicht unerträglich in die Höhe getrieben werden sollen und auch eine untragbare Zukunftsbelastung durch immer mehr Schulden und immer mehr Zinslasten vermieden werden soll. Ich glaube, diese Erkenntnis erfordert von uns allen ein Umdenken - noch nicht für diesen Haushalt, aber mittelfristig. Ich wollte darauf heute nur hinweisen. Ohne Kinder, ohne Zukunft verliert Politik ihren Sinn, selbst die Politik für die Alten; denn ohne Kinder ist ihr Lebensabend ohne Hoffnung und Hilfe. ({1}) Lieber Herr Geißler, Bundesfamilienminister und auch Generalsekretär unserer Partei, Sie sind ein hervorragender Anwalt des jungen Lebens, des geborenen und des ungeborenen , der alleinerziehenden Mütter und Väter und der Familien. Schon das, was die Koalition bisher auf Ihren Vorschlag hin beschlossen hat, stellt sicher, daß wir auf diesem, für die Zukunft unseres Volkes wichtigsten Feld, wie ich meine, in dieser Wahlperiode einen großen Schritt nach vorn tun werden. ({2}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, Opposition ist eine schwierige Aufgabe. Ich weiß das. Die SPD hat sich in ihre neue Rolle noch nicht hineingefunden. ({3}) Eine sachpolitische Alternativen ist zur Stunde nicht sichtbar. ({4}) Statt daran zu arbeiten, sind in der SPD Wendepolitiker eigener Art, besser gesagt: Zuwendepolitiker, am Werk. ({5}) Sie bewegen sich nach dem Beispiel Börners, der das ja unter Wortbruch ({6}) vorexerziert hat, auf die alternative Szene zu. ({7}) Und das ist, meine ich, der tiefere Grund ({8}) für die Konzeptionslosigkeit der Opposition. Denn man kann jedenfalls aus dem alten Konzept der deutschen Sozialdemokratie und dem, was diese Wohlstandspartei, die GRÜNEN, ({9}) an Ideen haben, kein gemeinsames Oppositionskonzept entwickeln. Ich freue mich nicht darüber. Was die Übernahme des hessischen Modells ({10}) auf die Bundesebene bedeuten würde, daran kann man nur mit Schrecken denken. ({11}) Die Grundlage unserer äußeren Sicherheit, unsere Nordatlantische Allianz, würde verlorengehen. ({12}) - Das ist Ihr Programm! - Unsere Volkswirtschaft würde ihre Leistungsfähigkeit im Wettbewerb der Industrienationen einbüßen. Die Grundlagen unseres parlamentarischen Systems, die Sie ja nicht akzeptieren, würden zunehmend in Frage gestellt. Ich kann nur hoffen, daß die SPD ihren Ursprung als Arbeitnehmerpartei nicht vergißt und sich wieder an den großen Abschnitten ihrer Geschichte orientiert. Daß der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt heute in seiner eigenen Partei eine Randfigur geworden ist, erschreckt mich. Daß für eine hervorragende sozialdemokratische Wissenschaftlerin, Frau Professor Gesine Schwan, von der ich einiges gelesen habe, was mich beeindruckt hat - das ist aber nicht das Entscheidende -, die die Sicherheitspolitik von Helmut Schmidt verteidigt, in der Grundwertekommission der SPD kein Platz mehr ist, macht mich betroffen. ({13}) Am meisten erschreckt mich - damit knüpfe ich an die Debatte von gestern an -, daß die SPD nicht bereit war, sich von dem Aufruf der sogenannten Friedensbewegung, die Manöver deutscher und alliierter Truppen zu behindern, eindeutig zu distanzieren. Das ist bis heute nicht geschehen. ({14}) Was Herr Kollege Brandt gestern vorgetragen hat - entschuldigen Sie, Herr Kollege Brandt -, wirkte wie ein Eiertanz. ({15}) Er hat auf einen Informationsdienst der SPD mit dem bezeichnenden Titel „Intern" hingewiesen. Und nur in diesem internen Informationsdienst war eine Warnung vor Manöverbehinderungen expressis verbis enthalten. Ich frage Sie, Herr Kollege Brandt: Warum war das nicht bereits in dem Parteivorstandsbeschluß der SPD enthalten, der nach meinem Gefühl sehr langatmig war, zwei lange Seiten, der dann an die Presse ging? Da hätte man doch mit einem Satz sagen können: Wir distanzieren uns von Manöverbehinderungen bei unseren Truppen. ({16}) Nichts davon hat darin gestanden. Sie haben nur einen kleinen Kreis von Funktionären gewarnt. Ich weiß nicht, warum? Wollten Sie sich freizeichnen, wenn es zu Zwischenfällen kommen sollte? Ich frage nur. Die gutgläubigen Sozialdemokraten und die Öffentlichkeit haben Sie darüber jedenfalls im unklaren gelassen. Sie haben sie durch Ihren an die Presse gegebenen Vorstandsbeschluß dazu aufgefordert, die Herbstaktion der sogenannten Friedensbewegung zu unterstützen. Zu diesen Herbstaktionen gehören Manöverbehinderungen deutscher und alliierter Truppen. Sie haben zwar vor Konfrontationen zwischen Soldaten und Demonstranten gewarnt, aber Sie haben nicht einfach gesagt, was doch selbstverständlich sein sollte: Wir behindern die Manöver unserer Bundeswehr, in der die Söhne unseres Volkes dem Frieden dienen, nicht; wir stellen uns nicht auf die diese Seite. Das ist nicht geschehen. ({17}) Nun ist in der Presse auch noch zu lesen, daß die SPD dem Koordinationsausschuß der sogenannten Friedensbewegung eine Zuwendung in Höhe von 100 000 DM zukommen lassen wollte oder will. Das Dementi des Parteigeschäftsführers Glotz war sehr wortreich - wie die meisten seiner Äußerungen -, ({18}) aber auch das war nicht eindeutig. Man kann doch ja oder nein sagen, man kann es doch auch präzise sagen, wie ich das zu tun pflege. Dann weiß man jedenfalls, woran man ist. Nach diesem Vorfall muß ich wirklich die Frage aufwerfen - es ist eine nicht angenehme Frage -: Wozu steht die SPD? Steht sie zur Bundeswehr oder zu denen, die dieser Bundeswehr bei ihren Manövern entgegentreten wollen? ({19}) Meine Damen und Herren, ich bitte um eine klare und eindeutige Antwort. ({20}) Die Bundeswehr ist nicht eine Parteiarmee, die Bundeswehr ist die Armee dieses demokratischen Staates, und sie darf nicht in innenpolitische Auseinandersetzungen hineingezogen werden. ({21}) Je alternativloser die Politik der SPD wird, je mehr sie sich der grünen Szene zuwendet, um so größer wird die Verantwortung der CDU/CSU und ihres Koalitionspartners, der FDP. Aus dieser klaren Erkenntnis heraus wiederhole ich, was ich bereits in der letzten Ausgabe der „Welt am Sonntag" gesagt habe: Ich wünsche der FDP an unserer Seite Erfolg, ganz eindeutig und klar. ({22}) Wolfgang Mischnick habe ich als einen fairen, sachkompetenten und zur Zusammenarbeit bereiten Partner kennengelernt. ({23}) Wir haben auf vielen Feldern, insbesondere im Bereich der Wirtschafts-, der Finanz-, der Sicherheits- und der Umweltpolitik Großartiges auf den Weg gebracht. Wir alle wissen, daß wir im Bereich der Rechts- und Innenpolitik in den nächsten Wochen einiges auf den Weg bringen müssen und auch werden. ({24}) Ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen beider Regierungsfraktionen appellieren, dazu kompromißbereit nach Lösungen zu suchen, die vernünftig und praktisch sind. Ich finde, wenn man mit diesem Willen an eine Aufgabe herangeht, ist sie mit Sicherheit lösbar; da habe ich gar keinen Zweifel. ({25}) Meine Damen und Herren, den Bundeskanzler und seine Regierung, die schon nach knapp zwei Jahren auf eine - ich will mich vorsichtig ausdrükken - große Erfolgsbilanz zurückblicken kann - so etwas hat es bei Ihnen j a nie gegeben; Ihre Erfolge bestanden immer im Schuldenmachen, in Zinslasten, in steigender Arbeitslosigkeit usw., während bei uns das Gegenteil der Fall ist -, möchte ich zu ihrer hervorragenden Arbeit beglückwünschen, ({26}) und ich möchte versichern: ({27}) Die CDU/CSU-Fraktion wird sie auch in den kommenden Monaten konstruktiv und konsequent unterstützen. ({28}) Herr Bundeskanzler, wir freuen uns, unter Ihrer Kanzlerschaft für Deutschland arbeiten zu können. ({29})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauff.

Dr. Volker Hauff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Dregger, ich muß sagen, Sie haben früher schon bessere Reden gehalten. ({0}) Denn all Ihre schönen Worte - und sie können noch so schön sein - können doch über einige grundlegende Tatsachen nicht hinwegtäuschen. Seit diese Regierung im Amt ist, steigt die Arbeitslosigkeit. Sie sinkt nicht. Die Zahlen sind heute um nahezu 400 000 höher, nicht niedriger. So sehen Anspruch und Wirklichkeit aus! ({1}) Was ist eigentlich von einer Politik zu erwarten, die in einer Zeit weltweiten Aufschwungs zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit führt? Was wird eigentlich passieren, wenn es einmal schwieriger wird? All Ihre schönen Worte können auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß, seit diese Regierung im Amt ist, die Schulden des Bundes nicht sinken, sondern weiter steigen. ({2}) Sie steigen weiter! ({3})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Volker Hauff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Augenblick nicht! Wenn Sie in Ihren schönen Worten sagen - und da stimme ich Ihnen zu -, das kostbarste Gut seien unsere Kinder, frage ich: Warum um alles in der Welt wollen Sie, wenn das wirklich Ihre Meinung ist, auf Teufel komm raus das Kabelfernsehen einführen, das nur Sex und Crime in unsere Wohnungen bringt? ({0}) Wenn es wirklich so ist, daß die Kinder Ihr kostbarstes Gut sind, warum eigentlich schreibt dann - und jetzt kommen wir zu harten Tatsachen ({1}) der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen einer Mutter, die sich darüber Sorgen macht, was durch Luftverschmutzung ihren Kindern passiert, ({2}) und die darum bittet, daß sich die niedersächsische Landesregierung dafür einsetzt, daß die Luftverschmutzung reduziert wird, warum also schreiben Sie, Herr Albrecht, dann dieser Mutter: Wenn Ihre Kinder diese allergische Anlage haben und wenn Sie mir schreiben, daß schon 30 km außerhalb Braunschweigs die Symptome in kurzer Zeit vergehen, wie glauben Sie verantworten zu können, daß Sie mit den Kindern in der Stadt leben? Erfordert es nicht das Wohl Ihrer Kinder, daß Sie aufs Land ziehen? ({3}) Ist das eigentlich die kinderfreundliche Politik, die Sie betreiben? ({4}) Das sind Anspruch und Wirklichkeit! Haben Sie eigentlich nicht zur Kenntnis genommen, daß die gerichtliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit Buschhaus um Kinder geht, deren Anspruch auf Erhaltung ihrer Gesundheit zur Debatte steht, und daß das Gegenstand des Gerichtsurteils ist, das jetzt vorliegt? ({5}) Das ist praktische Kinderpolitik. Sonntagsreden helfen da nicht weiter, sondern Anspruch und Wirklichkeit müssen da zueinander passen. ({6}) Auch und gerade in der Umweltpolitik klaffen bei dieser Regierung Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Dort, wo Sachkunde, Kompetenz und auch entschlossenes Handeln gefragt wären, gab es Unentschlossenheit, gab es Inkompetenz, gab es wortreiche Ankündigungen, gefolgt von Kehrtwendungen. Alle reden mit, keiner weiß Bescheid, und niemand handelt. Das ist das Motto dieser Umweltpolitik. ({7}) Herr Zimmermann kündigt an und kündigt an und kündigt an, aber er bewegt nichts, und vom Bundeskanzler ist in diesem Sommer weit und breit nichts zu sehen gewesen. Der Generalsekretär der FDP, der Kollege Hausmann, hat dafür das Wort geprägt, es sei „ein reichliches Tohuwabohu", das die umweltpolitische Arbeit dieser Regierung kennzeichne. ({8}) Meine Damen und Herren, das ist eine Beschönigung der Situation, wenn man sagt, das sei „ein reichliches Tohuwabohu": auf der einen Seite die Dramatik der Umweltvergiftung und auf der anderen Seite die Geschwätzigkeit einer Regierung, die nicht zum Handeln fähig ist. Konsequente Umweltpolitik findet bei dieser Bundesregierung nicht statt, meist sogar nach ihrem eigenen Urteil; ich erinnere an die Großfeuerungsanlagen-Verordnung. Sie, Herr Dregger, haben selbst gesagt, sie sei unzureichend. Hier und da eine Verordnung, aber seit zwei Jahren hat diese Bundesregierung auf umweltpolitischem Gebiet kein einziges wirkliches Reformgesetz zustande gebracht, ({9}) obwohl sie wortreich behauptet, der Umweltschutz sei nach der Erhaltung des Friedens die wichtigste Aufgabe. Unsere Kritik, Herr Bundeskanzler, beginnt beim handwerklichen Können. Ich beklage die Unfähigkeit dieser Regierung, den Sachverstand für eine handlungsorientierte Umweltpolitik zu organisieDr. Hauff ren. Ich kritisiere, daß es keine geregelten Verfahren gibt, die in überschaubaren Zeiträumen zu klaren Entscheidungen für die Bürger, für die Gewerkschaften und für die Industrie führen. All das gibt es nicht. Erfolgreiche Umweltpolitik muß klar und kalkulierbar sein. Diese Regierung tut das Gegenteil. Ihre Umweltpolitik ist unklar und unkalkulierbar. ({10}) Kein einziger Termin, zu dem wichtige umweltpolitische Entscheidungen angekündigt worden sind, wurde tatsächlich eingehalten, kein einziger. Vor einem Jahr hat Herr Zimmermann von dieser Stelle aus eine Rede gehalten, die von Ankündigungen und Absichtserklärungen nur so strotzte. Aus heutiger Sicht liest sich dieser Katalog wie ein Märchen. Mindestens zehn Ankündigungen zu wichtigen Vorhaben, Herr Zimmermann, hängen in der Luft, die mittlerweile alle schon erfolgt sein sollen. Das Bodenschutzkonzept, angekündigt für den Herbst 1983, verschoben auf Februar 1984, verschoben auf August 1984, ist heute noch nicht da. Die Festschreibung der Abgaswerte für Autos: x-mal angekündigt. Wo ist eigentlich das konkrete gesetzliche Vorhaben, wo drinsteht, womit die Industrie zu rechnen hat? Nirgendwo steht es. ({11}) Das Bundesnaturschutzgesetz: angekündigt für dieses Frühjahr. Nichts ist da. - Die Novelle zum Bundesimmissionsschutzgesetz, eine Vielzahl von Initiativen aus den Bundesländern und von der Opposition: Nichts ist da von der Regierung. So sieht die praktische Umweltpolitik tatsächlich aus. ({12}) Nein, meine Damen und Herren, es bleibt dabei: im Ankündigen, Herr Zimmermann, sind Sie groß, im praktischen Durchsetzen, im Handeln haben Sie versagt. ({13}) Es hat auch Ursachen, daß Sie versagt haben. Neben dem Durcheinander innerhalb der Regierung gehört dazu, daß diese Regierung in entscheidenden Fragen vor der interessierten Lobby in die Knie geht. Im Fall Buschhaus hat das groteske Züge angenommen. Der Bundestag beschließt mit Ihrer Zustimmung am 28. Juli nahezu einstimmig: Das Kraftwerk Buschhaus geht nicht ohne moderne Rauchgasentschwefelungsanlage in Betrieb. Kein Mitglied dieser Regierung hat in jener Debatte das Wort ergriffen, kein einziges. Alle, wie Sie dasitzen, haben Sie geschwiegen. Sie haben zugestimmt. Der Beschluß war eine Aufforderung an die Bundesregierung. Das hat die Bundesregierung aber reichlich wenig bekümmert. Zunächst einmal hat sie den Beschluß nahezu einstimmig verdrängt. Anschließend hat sie ihn genommen, ist zum Kraftwerksbetreiber gegangen und hat gefragt: Liebe Leute, wie sollen wir den Beschluß am besten umsetzen? Und das, was die geantwortet haben, war das Konzept der Regierung. ({14}) So professionell und kompetent betreibt diese Bundesregierung Umweltpolitik. Buschhaus, meine Damen und Herren, ist das umweltpolitische Markenzeichen dieser Pannenregierung. ({15}) Buschhaus war kein Einzelfall. Vier Wochen nach dem gemeinsamen Bundestagsbeschluß, am 31. Juli, erklärt der Minister Stoltenberg in der Sondersitzung, in der der Umweltminister überhaupt nicht das Wort ergreift - man muß das einmal in Ruhe angucken -: Ich habe am 28. Juni auch nicht alle komplizierten Details so übersehen, wie ich es heute auf Grund der intensiven Beratungen der letzten Wochen tue. ({16}) Ich frage Sie, Herr Stoltenberg: Gibt es eigentlich innerhalb der Bundesregierung kein Verfahren, den Sachverstand der Ressorts wirklich zu bündeln, um sich rechtzeitig vor zugegebenermaßen schwierigen politischen Entscheidungen Klarheit zu verschaffen? Was Sie uns auf diesem Gebiet bieten, ist administrative Unfähigkeit. ({17}) Sie beherrschen noch nicht einmal das Handwerk. Das muß man Ihnen sagen. Ich frage den zuständigen Bundesfinanzminister. Ist denn auch er von den einsamen Formulierungskünsten des Bundeskanzlers überrascht worden? Wenn man den Zeitungen Glauben schenken kann, dann hat der Herr Bundeskanzler selbst in einer grünen Laune zu nächtlicher Stunde eine Buschhaus-Entschließung entworfen - auch noch nach dem Streß einer Parisreise, wie er uns später freimütig erzählt hat -, deren Tragweite er offensichtlich selbst nicht begriffen hat und die er von seinem Amt noch nicht einmal prüfen ließ, wie der sogenannte Chef des Kanzleramtes bereitwillig zu erkennen gegeben hat. ({18}) Wer das Dilettantismus nennt, übertreibt nicht, meine Damen und Herren. ({19}) Aber die Posse ist noch nicht zu Ende. Wiederum vier Wochen nach der Sondersitzung des Bundestages Ende Juli macht das Verwaltungsgericht Braunschweig die neue Entscheidung des Bundestags und die Entscheidung der Regierung Albrecht zu Makulatur. Erst ein Gericht hat der umweltpolitischen Vernunft zum Durchbruch verhelfen müssen, die weder die Bundesregierung noch die niedersächsische Landesregierung zu erkennen gegeben hat. Der Beschluß des Verwaltungsgerichts wirft die Frage auf, ob der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der sich auf Recht und Gesetz beruft - auch Sie, Herr Dregger, haben das heute getan -, nicht selbst Recht und Gesetz verbogen hat. ({20}) Das mindeste, was jetzt bereits feststeht, ist: Die niedersächsische Landesregierung hat schlampig gearbeitet. ({21}) Herr Ministerpräsident, von Tag zu Tag wird es wahrscheinlicher, daß die Regierungen - ich nehme bewußt einmal den Plural - bewußt oder unbewußt im Fall Buschhaus das Parlament getäuscht haben. Was Ihre Aussage angeht, Herr Dregger, daß das alles Rechtens und in Ordnung sei: Warum, so frage ich Sie, kann dann eigentlich der bayerische Ministerpräsident mit voller Überzeugung, nehme ich an, sagen: Buschhaus wäre in Bayern nicht möglich gewesen? ({22}) Offensichtlich hätte die Landesregierung von Niedersachsen doch mehr Möglichkeiten gehabt, als Sie, Herr Dregger, heute morgen zu erkennen gegeben haben. ({23}) Den kaum nachprüfbaren Zahlenspielereien zur Verringerung der Schwefeldioxidemissionen und zur Erhaltung der Arbeitsplätze bei den Braunschweigischen Kohle-Bergwerken AG habe ich nach zahllosen Desinformationen in diesem Zusammenhang tief mißtraut. Das Verwaltungsgericht bestätigt jetzt mit der Begründung seines Beschlusses die Berechtigung dieses Mißtrauens und macht die ganze Schlamperei und Schlampigkeit im Genehmigungsverfahren endlich einmal transparent. Wir verlangen von der Bundesregierung, und wenn Sie heute morgen das Wort ergreifen, Herr Ministerpräsident Albrecht, dann verlangen wir von Ihnen, auf vier präzise Fragen präzise Antworten. Erstens. Gilt in Zusammenhang mit Buschhaus der Vorbescheid, nach dem Offleben I außer Betrieb zu nehmen ist, oder gilt die jetzt erteilte Betriebsgenehmigung, nach der dieser Kraftwerksblock nur in die Kaltreserve zu übernehmen ist? Zweitens. Ist Buschhaus, Herr Bundesinnenminister, nach den Kriterien der GroßfeuerungsanlagenVerordnung überhaupt eine Altanlage? Wir würden darauf gern eine klare Antwort haben. ({24}) Drittens. Warum wurden in Zusammenhang mit Buschhaus die in den Gesetzen vorgeschriebenen Meßverfahren nicht angewandt? Und viertens. Wird der von der Bundesregierung vorgeschlagene Betrieb von Buschhaus, der von der Mehrheit des Parlaments, von den Regierungsfraktionen, so gebilligt wurde, nicht zu ganz neuen gefährlichen Schadstoffen führen? Ich nenne das Problem Dioxin in dem Zusammenhang und ein Gutachten, das offensichtlich der Niedersächsischen Landesregierung vorliegt. Herr Ministerpräsident Albrecht, diese Fragen sollten Sie endlich einmal beantworten und nicht in Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung zu dem schändlichen Versuch greifen, politisch Andersdenkende und diejenigen, die vor Gericht für Recht sorgen, z. B. den Rechtsanwalt, der den Prozeß geführt hat, in der Weise zu diffamieren, daß Sie sie als Kommunisten beschimpfen. ({25}) Dies ist eine traurige Tradition der politisch Rechten in diesem Land, daß sie immer dann, wenn sie nicht weiter wissen, meinen, den politisch Andersdenkenden als Kommunisten beschimpfen zu müssen. ({26}) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hält fest: Der nahezu einstimmig gefaßte Beschluß des Bundestages vom 28. Juni dieses Jahres, nach dem Buschhaus erst nach Einbau einer Rauchgasentschwefelungsanlage in Betrieb zu nehmen ist, war eine bahnbrechende umweltpolitische Entscheidung, denn er trug sowohl dem Schutz der Umwelt als auch der Sicherung der Arbeitsplätze Rechnung. Im ungünstigsten Fall hätte dann über drei Jahre hinweg bis zur Inbetriebnahme von Buschhaus den betroffenen Bergleuten und Kraftwerkern für eine Gehaltseinbuße ein Ausgleich von maximal - maximal! - 40 Millionen DM gezahlt werden müssen. Das sind gerade fünf Tage Milchsubvention, die dieses Land sich leistet. ({27}) Diese Zahl nur an die Adresse des Bundesfinanzministers. Wir werden es auch nicht hinnehmen, wenn die Bundesregierung die berechtigten Sorgen der betroffenen Arbeitnehmer gegen die Umwelt ausspielt. Kohle und Wald lassen sich nur gemeinsam retten. Die Kohle hat nur eine Zukunft, wenn sie umweltfreundlich verbrannt wird, und der Wald kann nur überleben, wenn schnell gehandelt wird. Das zeigt der Fall Buschhaus. ({28}) Meine Damen und Herren, Buschhaus war, wie gesagt, kein Einzelfall. Seit April 1983 haben wir Sozialdemokraten gesagt, daß wir die Einführung des umweltfreundlichen Autos notfalls auch im nationalen Alleingang ab 1986 für notwendig halten. Das sind mittlerweile fast eineinhalb Jahre. Diese eineinhalb Jahre wertvolle Zeit haben Sie verstreichen lassen. ({29}) Am 9. Februar dieses Jahres hat der Bundestag dann endlich mit großer Mehrheit einen Beschluß gefaßt - und dies ist Buschhaus zwei. Er hat nämlich auf Ihren Antrag hin mit einer großen Mehrheit gesagt, daß ab 1. Januar 1986 nur noch Kraftfahrzeuge neu zugelassen werden, die der in den USA vorgeschriebenen Norm der Abgasgrenzwerte entsprechen, durch die die Schadstoffemission um rund 90 % reduziert werden. Mit Ihrer Zustimmung - präziser formuliert: auf Ihren Antrag hin - wurde das beschlossen. Aber genauso schluderig, wie diese Bundesregierung bei Buschhaus vorgegangen ist, geht sie auch mit diesem Bundestagsbeschluß zum abgasentgifteten Auto um. Auf Druck der Autolobby wird auch dieser Parlamentsbeschluß zur Makulatur - genauso, wie das bei Buschhaus der Fall war. ({30}) Die Berechenbarkeit der Umweltpolitik dieser Bundesregierung erschöpft sich darin, daß auf eine Ankündigung eine neue folgt. In drei Kabinettsitzungen der letzten 14 Monate hat es die Bundesregierung nicht geschafft, klare Abgasgrenzwerte für die Autoindustrie mit klaren zeitlichen Fristen mit einem geschlossenen Konzept der steuerlichen Behandlung umweltfreundlicher Autos und einem Konzept für Abgaskontrolle vorzulegen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lattmann? - Bitte schön, Herr Kollege.

Herbert Lattmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Hauff, da Sie so leidenschaftlich beklagen, daß die Abgasgrenzwerte noch nicht vorgeschrieben sind: Könnten Sie uns einmal erklären, warum Sie in den 70er Jahren, als dies alles j a schon bekannt war, nicht zu einem solchen Beschluß gekommen sind?

Dr. Volker Hauff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte mich ausdrücklich für diese Frage bedanken, Herr Kollege. Wenn Sie die Freundlichkeit hätten - notfalls können Sie Herrn Genscher fragen; er war damals Bundesinnenminister -, das umweltpolitische Programm der Bundesregierung aus dem Jahre 1971 zur Kenntnis zu nehmen, dann würden Sie feststellen, daß wir schon damals klare Grenzwerte zur Reduzierung der Schadstoffe vorgegeben haben. Wir haben allerdings darauf vertraut - genauso wie Herr Dregger das heute hier getan hat -, daß die Autoindustrie freiwillig bereit ist, das umzusetzen. Daran können Sie erkennen, daß wir ein entsprechendes Konzept hatten. Unser Fehler war vielleicht - das zu akzeptieren bin ich gern bereit -, daß wir gemeint haben, die Industrie würde das freiwillig tun. Sie tut es offensichtlich nicht. Das ist der Punkt. ({0}) Erkundigen Sie sich bei Herrn Genscher und lesen Sie noch einmal nach, was dort steht. Die politischen und administrativen Vorbereitungen der Regierung zeigen auch beim umweltfreundlichen Auto einen eindrucksvollen Dilettantismus. ({1}) Die Forderung der Automobilindustrie nach Klarheit ist ohne Zweifel berechtigt. Der BMW-Chef von Kuenheim hat schon im Februar eine entsprechende Forderung erhoben. Seitdem ist nur geredet worden; nichts ist entschieden worden. Im übrigen wird auch immer klarer, daß diese Regierung auch in Europa ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Herr Zimmermann, ich frage Sie, wann Sie eigentlich in den Hauptstädten Europas waren, um mit Ihren Amtskollegen ungeschminkt zur Sache zu reden. Sie hätten doch direkt etwas tun können, um das voranzubringen. Der Einfluß der Bundesregierung kann doch nicht so schwach sein, ({2}) daß in Europa überhaupt nichts passiert. Wenn Sie es schon nicht tun, warum hat sich eigentlich der Bundeskanzler nicht darum gekümmert? Weil sich niemand darum gekümmert hat und weil kein klares Konzept vorhanden war, entstand ein Vakuum. ({3}) Einige Ministerpräsidenten haben versucht, dieses Vakuum auszufüllen, und zwar mit mehr oder minder großem Erfolg. Der Vorstoß der Ministerpräsidenten Strauß und Späth im Bundesrat - nach der Kabinettssitzung Anfang Juli - war doch zunächst einmal eine schallende Ohrfeige für die Null-Aktivitäten der Bundesregierung. Was danach, im Sommer, geboten wurde, lief nach dem Motto ab: Alle reden durcheinander, und keiner hat die Übersicht. Herr Genscher hat große neue umweltpolitische Aktivitäten angekündigt und gesagt, notfalls müsse man einen nationalen Alleingang riskieren. Der neue Wirtschaftsminister, Herr Bangemann, hat ihm prompt widersprochen und einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben, daß alles Kappes sei, was Herr Genscher da vorschlage. ({4}) Die Minister Stoltenberg und Zimmermann liegen sich über die Frage in den Haaren, ob man Kaufanreize bieten soll oder nicht. Je nach Tagesnotierung liegt mal der eine ein bißchen vorn, mal der andere. Ministerpräsident Späth wollte erst schneller sein als alle anderen und meinte, er könne sich an die Spitze stellen. Nach seiner Rückkehr aus den Ferien machte er eine Vollbremsung, die er kunstvoll als „Stufenplan" zu umschreiben versucht. Zu allem unnötigen Palaver haben sich auch noch die Herren Spranger und Sudhoff zu Wort gemeldet und gesagt, es bleibe auf jeden Fall beim 1. Januar 1986. Vom Bundeskanzler selbst hieß es - man weiß es noch nicht so recht -, er habe nach einem Gespräch mit der deutschen Automobilindustrie eine Kehrtwende vollzogen. Das würde bedeuten: also doch keine obligatorische Einführung ab 1. Januar 1986. So geht er mit Ihrem Beschluß um. Meine Damen und Herren, hier wundert es niemanden mehr, daß auch der letzte nicht mehr durchblickt, was diese Regierung auf umweltpolitischem Gebiet eigentlich will. ({5}) Mittlerweile werden Sie ja gar nicht mehr kritisiert. Das Schlimmste, was einem Politiker passieren kann, geschieht Ihnen: Sie werden lächerlich gemacht hinsichtlich der Art und Weise, wie Sie dieses Land regieren. ({6}) So schrieb Martin Urban in der „Süddeutschen Zeitung": Eine Kapitulation vor der Automobilindustrie ist bequemer. Entscheidend sei, „was hinten 'raus kommt", hat der Kanzler kürzlich über seine Politik des Zögerns gesagt. Beim Auto kommt hinten entschieden zuviel 'raus. ({7}) Herr Bundeskanzler, hier ist nichts solide vorbereitet und entschieden worden, schon gar nicht von Ihnen. Das, was Herr Zimmermann vollmundig als „Jahrhundertentscheidung" angepriesen hat, ist in der Entscheidungsschwäche und im Mißmanagement dieser Bundesregierung steckengeblieben. Der Bundeskanzler glänzt durch Inkompetenz und durch Abwesenheit. ({8}) Für ihn gibt's einfach keine Probleme. Es wäre ja noch schöner, wenn er sich auch noch durchs Waldsterben den Spaß am Regieren vergällen lassen würde! Nur, Herr Bundeskanzler, täuschen Sie sich nicht: Das Regieren darf nicht nur Spaß machen, man muß es auch können. ({9}) Ich bestreite Ihnen nicht den guten Willen zum Schutz der Umwelt. Wer wollte diesem Bundeskanzler den guten Willen bestreiten? ({10}) Das geht ja gar nicht. Aber das, was ich ihm bestreite, ist die Fähigkeit, das auch wirklich durchzusetzen. Nach Buschhaus und nach der Abgasregelung scheint der Bundesregierung nun auch bei einem dritten umweltpolitischen Problem der Ernst zur sachlichen Durchdringung zu fehlen. Auf die Frage, ob Formaldehyd krebserregend ist oder nicht, hat die Bundesregierung hilflos reagiert. ({11}) Dabei hätte die Regierung gerade dieses Beispiel zum Anlaß nehmen können, um deutlich zu machen, daß sich Umweltpolitik nicht an einer Politik des „Schadstoffs des Monats" ausrichten darf. Wir Sozialdemokraten werden jedenfalls keine Umweltpolitik mitmachen, die sich darin erschöpft, den „Schadstoff des Monats" so wie das „Tor des Monats" durch die Gazetten zu jagen. Das reicht nicht aus. ({12}) Umweltpolitik darf sich nicht nur im Klagen über Umweltvergiftungen und Gesundheitsgefährdungen erschöpfen. ({13}) Deswegen ist ein systematischer Ansatz gefragt, der nicht - wie Sie - langatmig beschreibt und sagt, daß die Industriegesellschaft ökologischen Anforderungen entsprechend angepaßt werden muß, wie auch Herr Dregger das heute morgen getan hat, sondern wie dies in konkreten Schritten und ohne soziale Zerreißproben organisiert werden kann. Es reicht nicht, zu fordern - das sage ich an die Adresse der GRÜNEN -, alle Kernkraftwerke sofort abzuschalten und die Produktion von Formaldehyd zu verbieten, wie die GRÜNEN es tun. ({14}) Die Antworten, die gesucht werden müssen, sind komplexer. Wer die Forderung nach Produktionsaufgabe erhebt, ({15}) ist nicht davon entbunden, den Menschen zu antworten, wie sie ihre materielle Existenzgrundlage sichern können. ({16}) Wir wissen, daß grundlegende Veränderungen der Industriegesellschaft notwendig sind. Aber wer sich dabei nur von einer Widerstandsphilosophie leiten läßt, wird scheitern. ({17}) Das, woran wir Sozialdemokraten arbeiten, ist eine ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft. ({18}) Und genau dazu hätten wir gern Antworten von allen Fraktionen, auch von den GRÜNEN. Die von uns geforderte ökologische Modernisierung brauchen wir vor allem für den Kraftwerksbereich, für die Automobilindustrie und für den Bereich, den Herr Dregger heute morgen gar nicht angesprochen hat: für die chemische Industrie. Diese ökologische Modernisierung ist eine Herausforderung für die Industrie und die gesamte Gesellschaft. Umweltpolitik kann nicht mehr isoliert betrieben werden. Die Beseitigung und Verhinderung von Umweltschäden sind die reformpolitische Aufgabe der nächsten zehn Jahre. Diese ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft setzt Arbeitnehmer Werksschließungen und Produktionsverboten nicht schicksalhaft aus, sondern sie schafft durch eine abgestimmte Wirtschafts- und Umweltpolitik Arbeitsplätze und sichert auch unsere Exportfähigkeit. Denn Umweltschutz ist auch ein Markt für Milliarden. Alle zukünftigen Schlüsseltechnologien müssen hier eingesetzt werden. Es gibt keinen vernünftigen Grund, neue Technologien nur oder vorrangig im Bereich der militärischen Nutzung oder bei der Weltraumtechnik zum Einsatz zu bringen. Hier auf der Erde warten genügend Herausforderungen für Techniker und Ingenieure, Herausforderungen, die zu bestehen überlebensnotwendig ist. Unsere Umweltpolitik, die aus dem Teufelskreis zwischen Umweltzerstörung und Umweltreparatur heraus will, braucht nicht weniger Technik, sondern sie braucht eine bessere Technik, sie braucht eine intelligentere Nutzung der Technik. Dort liegt auch ein Stück Zukunft für unser Land. ({19}) Zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund fordern wir Sozialdemokraten ein Investitionsprogramm für den Umweltschutz. Der stellvertretende DGB-Vorsitzende hält ein solches Programm sowohl umweit- als auch wachstums- und beschäftigungspolitisch für dringend geboten. Er fügt hinzu: „Die Chancen für mehr Arbeit und mehr Wachstum durch Umweltschutz liegen auf der Hand." Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion für ein „Sondervermögen Arbeit und Umwelt" ist ein Bestandteil dieser ökologischen Modernisierung. Der zunächst von der CDU angestimmte Refrain, diese abgedroschene Phrase, das sei alles Dirigismus, zeigt doch nur Ihre eigene Phantasielosigkeit. ({20}) Solche Kommentare sind spätestens dann lächerlich geworden, als die Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Programm für den Umweltschutz aufgelegt hat, das dem Grundmuster unseres Vorschlags folgt. Dieses Programm ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Richtung, doch leider sind die Mittel völlig unzureichend. Das heißt, es bleibt im Ansatz stecken. Meine Damen und Herren, wir werden unsere Industriegesellschaft mit ihrem Wohlstand nur dann erhalten, wenn wir sie verändern. Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion der GRÜNEN, mogeln sich an der Beschreibung von Wegen und Zeitkompromissen für die Fortentwicklung der Industriegesellschaft vorbei. Es reicht eben politisch nicht aus, Probleme zu nennen und dann die Hände in die Tasche zu stecken. ({21}) Der Bundesregierung werfe ich vor, daß sie den gesellschaftspolitischen Stellenwert des Umweltschutzes und der Umweltzerstörung und die industriepolitische Dimension der Umweltpolitik noch überhaupt nicht begriffen hat. Uns Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, geht es darum, Alternativen in der Industriegesellschaft voranzutreiben, die eine umweltverträgliche Entwicklung ermöglichen, weil wir wissen, daß sonst weder unsere Umwelt noch unsere Gesellschaft eine gute Zukunft haben. ({22})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin nicht gekommen, um - so reizvoll es auch wäre - an der allgemeinen Haushaltsdebatte des Hohen Hauses teilzunehmen, sondern ich bin gekommen für den Fall, daß das Thema Buschhaus noch einmal, wie man es streckenweise hörte, zur Diskussion kommt. Deshalb möchte ich gleich auf das, was Sie hierzu gesagt haben, Herr Kollege Hauff, antworten. Ich will vorweg sagen: Es ist schon ein erstaunliches Phänomen, zu sehen, wie schnell Sie sich in Ihre neue Rolle gefunden haben. Sie haben das Thema Buschhaus eingeleitet mit dem Hinweis auf die Kinder, die durch das immer noch sehr hohe Niveau der Schadstoffemissionen in der Bundesrepublik Deutschland gesundheitlich belastet werden können. Aber diese Kinder waren auch in den letzten 13 Jahren belastet. Wie können Sie sich hier hinstellen, gewaltige Forderungen erheben und mit keinem Wort darauf eingehen, daß Sie es 13 Jahre lang nicht fertiggebracht haben, das Notwendige für die Kinder zu tun, also das, was Sie heute fordern! ({1}) Es ist doch eine schlichte Wahrheit, daß erst die neue Bundesregierung in der Lage war, die Großfeuerungsanlagen-Verordnung zu verabschieden. Ich will es mir versagen, hier über die innerparteilichen Gründe zu reden, die Sie daran gehindert haben, das zu tun, von dem Sie auch schon damals wußten, daß es notwendig gewesen wäre. Sie haben zweitens der Bundesregierung und wohl auch der Landesregierung vorgeworfen, daß sie, wie Sie es ausdrücken, vor der Lobby der Industrie in die Knie gegangen seien. ({2}) Das, was wir erreicht haben, ist, daß wir weit über das hinaus, ({3}) was das Gesetz vorsieht, das Unternehmen dazu gebracht haben, eine Reduzierung der Schadstoffemission schneller und drastischer vorzunehmen. ({4}) Ministerpräsident Dr. Albrecht ({5}) Die Wahrheit ist, daß das Unternehmen nach dem Gesetz Zeit bis 1988 gehabt hätte. ({6}) - Das ist eine Altanlage. Auf Ihre Frage komme ich noch. ({7}) Tatsache ist, daß wir es trotz dieser rechtlichen Situation erreicht haben, daß die Umwelt in einer Schnelligkeit und in einem Maß verbessert wird, wie es kaum irgendwo anders in der Bundesrepublik Deutschland der Fall sein dürfte. ({8}) Sie haben drittens gesagt - das ist auch eine schlichte Unwahrheit -, daß die Entscheidung, die wir getroffen haben, durch den Beschluß des Verwaltungsgerichts in Braunschweig Makulatur geworden sei. Meine Damen und Herren, was hat denn das Verwaltungsgericht in Braunschweig beschlossen? Es hat gesagt, daß ein Verfahrensfehler vorliege. ({9}) - Darauf komme ich noch. Es hat gesagt, es liege ein Verfahrensfehler vor, weil wir in dem Vorbescheid gesagt haben, Offleben I soll außer Betrieb gehen. Wir haben das so interpretiert, daß dieses „außer Betrieb" sehr wohl auch „Kaltreserve" bedeuten kann, d. h. Wiederinbetriebnahme, wenn andere Produktionsstätten - Offleben II oder Buschhaus - ausfallen. ({10}) - Darüber kann man diskutieren. Ich sage Ihnen gleich: Wenn das Gericht darauf besteht, daß Offleben I entgegen dem Beschluß des Deutschen Bundestags - es waren im übrigen die Sozialdemokraten im niedersächsischen Landtag, die als erste den Begriff der Kaltreserve für Offleben I ins Spiel gebracht haben - endgültig stillgelegt wird, dann werden wir Offleben I stillegen mit der Konsequenz - die jeder kennen muß; wir können das dann nicht ändern -, daß leider 150 Arbeitsplätze verlorengehen werden. Das zweite, was schließlich beanstandet worden ist, sind die Meßwerte. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Aber seien Sie auch hier versichert: Diese Dinge werden wir ausräumen. Die Entscheidung, die der Bundestag getroffen hat, und die Entscheidung, die als Folge davon die niedersächsische Landesregierung getroffen hat, werden nicht Makulatur sein. Da bin ich ziemlich sicher. ({11}) - Sie wissen ja: Auf hoher See und vor Gericht sind wir in Gottes Hand. Deshalb ist man wohl beraten, wenn man hier eine gewisse Einschränkung einfügt. Aber ich denke, wir werden das schon so hinkriegen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hauff? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Aber gerne.

Dr. Volker Hauff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident Albrecht, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, werden Sie denn dann Beschwerde gegen den Beschluß einlegen? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Jawohl, heute. Nun zu Ihren vier Fragen. Erste Frage: Gilt der Vorbescheid der Außerbetriebnahme? Ich habe das schon beantwortet. Wir werden diesen Punkt ausräumen. Dann, denke ich, ist das Thema vom Tisch. Zweitens: Ist es eine Altanlage? Wir haben das natürlich schon vor vielen, vielen Monaten sehr sorgfältig geprüft. Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung - ich habe jetzt die genaue Formulierung nicht im Kopf - sagt ja, daß im Bau befindliche Anlagen Altanlagen sind, wenn schon bindende Bescheide ergangen sind ({1}) - ja -, die die Werte festlegen. Genau das ist der Fall. Wir haben eine Fülle von Schadstoffwerten in dem Vorbescheid festgelegt. Nach der Rechtsprechung, die unser Oberverwaltungsgericht mehrfach praktiziert hat, gelten die Anlagen, die dem Bescheid beiliegen, als integrierender Bestandteil dieses Bescheides, und genau da sind diese Grenzen vorgesehen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Ministerpräsident, des Abgeordneten Schäfer? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Aber gerne.

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind in dem Vorbescheid vom Oktober 1978 Grenzwerte, beispielsweise für Schwefeldioxid, festgelegt ({0}) - für Schwefeldioxid; meine Fragen stelle ich, Frau Kollegin - oder haben Sie es bei Vereinbarungen im Dezember 1978 bewenden lassen? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({1}): Nein, wir haben Grenzwerte über Schwefeldioxid - damit darf ich vielleicht gleich einen anderen Punkt aufgreifen, den Sie angeschnitten haben, nämlich hinsichtlich der Meßmethode - ({2}) - Doch, auch hinsichtlich des Schwefeldioxids. Ich denke, Sie haben kritisiert - ({3}) Ministerpräsident Dr. Albrecht ({4}) - Wir haben in dem Vorbescheid den Höchstwert festgelegt, nämlich daß ein bestimmter Schwefelgehalt in der Kohle nicht überschritten werden darf. Das haben wir auch in dem neuen Bescheid festgelegt. ({5}) - Aber durch den Schornstein kann nur kommen, was in der Kohle ist. Je nach dem Schwefelgehalt der Kohle ergibt sich ein gewisser Ausstoß von Schwefeldioxid.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Ministerpräsident, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Bitte.

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, Sie haben offenkundig meine einfache Frage nicht ganz vernommen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Ich bitte zu fragen, Herr Abgeordneter.

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wiederhole die Frage: Haben Sie im Vorbescheid vom Oktober 1978 für das Kohlekraftwerk Buschhaus Grenzwerte für Emissionen, Schwefeldioxid pro Kubikmeter Abgas, festgelgt, wie es nach der GroßfeuerungsanlagenVerordnung notwendig wäre? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({0}): Wir haben Grenzwerte für die Schwefeldioxidabgabe festgelegt, aber nicht in Milligramm. ({1}) - Entschuldigen Sie, ich muß mich korrigieren. Wir haben das sogar auf der Salzkohlebasis in dem TÜV-Gutachten in der Tat festgelegt: 12 660 mg/m3. Ich wiederhole: Nach geltender Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes ist das integrierender Bestandteil der Entscheidung. Das Verwaltungsgericht in Braunschweig hat das j a im übrigen nicht in Frage gestellt. Es hat die Frage vielmehr offengelassen und gesagt, das sei unerheblich, weil ({2}) sich Ansprüche von Dritten daraus sowieso nicht ergeben werden. Die Frage der Meßmethode habe ich, wie ich glaube, implizit schon beantwortet. Die Frage nach Milligramm pro Kubikmeter macht eigentlich nur Sinn - -({3}) - Für Altanlagen eben nicht. Für die Altanlagen gilt diese Grenze erst ab 1988, und zwar aus gutem Grund. Nur wenn man eine Rauchgasentschwefelungsanlage hat, kann sich - je nach dem Wirkungsgrad dieser Rauchgasentschwefelungsanlage - ein höherer oder niedrigerer Gehalt an Schadstoffen pro Kubikmeter Abgas ergeben. ({4}) Solange Sie keine Rauchgasentschwefelungsanlage haben, ergibt sich das Maß an Schwefeldioxidausstoß pro Kubikmeter Abgas aus dem Schwefelgehalt der Kohle. Wir haben festgesetzt, daß dieser 1,8 % nicht überschreiten darf. Wenn wir die Salzkohle verfeuert hätten, wäre der Gehalt etwa doppelt so hoch gewesen. Das heißt, wir haben - gemessen an dem Vorbescheid, den wir herausgegeben haben - eine wesentliche Verbesserung der Abgassituation erreicht. ({5}) - Frau Kollegin, ich möchte jetzt fortfahren. Schließlich möchte ich gerne auch noch Ihre vierte Frage, Herr Hauff, beantworten, die Frage nach den anderen gefährlichen Schadstoffen. Wenn ich Sie akustisch richtig verstanden habe, sprachen Sie von Schwefeltrioxid. ({6}) - Von Dioxin. Was Dioxin angeht, so will ich Ihnen sagen, daß diesbezüglich keine Vorschriften bestehen und daß in der Tat noch eine weitgehende Unklarheit über das herrscht, was an Schadstoffbelastung herauskommt. ({7}) Man geht ganz generell davon aus, daß diese Belastung unbedenklich ist. Ich will mir das aber gar nicht zu eigen machen; ich kann es selber auch gar nicht beurteilen. Ich sage nur: Hier haben wir es mit Buschhaus zu tun. Das, worüber wir jetzt diskutieren, ist nichts Besonderes, sondern es gilt für die Gesamtheit der deutschen Großfeuerungsanlagen. Wenn der Bundestag sich mit dieser Frage noch näher befassen will, würden wir das durchaus begrüßen. ({8}) Lassen Sie mich zum Schluß aber auf zwei Tatsachen hinweisen, die mir in Wahrheit viel wichtiger zu sein scheinen als diese Einzelheiten, die wir hier diskutiert haben.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Ministerpräsident, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer ({0})? Ministerpräsident Dr. Albrecht ({1}): Nein, Herr Präsident, jetzt nicht. Das möchte ich hier doch einmal sagen: Was wir jetzt hier diskutieren, ist unser tägliches Brot bei den Genehmigungsentscheidungen. Es ist wirklich das, womit unsere Verwaltungen weitgehend beschäftigt sind. Ministerpräsident Dr. Albrecht ({2}) Ich würde auch gern zu der politischen Bewertung jenes Gerichtsurteils etwas sagen. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland kaum noch Großanlagen dieser Art, die nicht irgendwann im Laufe des Verfahrens durch Gericht blockiert worden sind. Wir haben bei den Kernkraftwerken in den letzten zehn Jahren ja unsere Erfahrungen gesammelt. Fast jedes neue Kernkraftwerk ist irgendwann einmal durch Gericht blockiert gewesen. Bei mir im Lande ist Esensham blockiert gewesen, ist Grohnde blockiert gewesen. Sie sind alle in Betrieb gegangen, allerdings mit den Verzögerungen und Kostensteigerungen und schließlich auch den höheren Energiepreisen, die sich daraus ergeben. ({3}) Neuerdings sind es die Kohlekraftwerke, die vor Gericht besonders sorgfältig geprüft werden. Dies bestätigt im übrigen meine ständige Behauptung, daß die Umweltprobleme bei Kohlekraftwerken größer sind als die Umweltprobleme bei Kernkraftwerken. ({4}) Dies ist aber nichts Außergewöhnliches. Ich wiederhole: Wir sind zuversichtlich, daß wir die Probleme ausräumen werden. ({5}) Zwei Tatsachen sind aber politisch wichtig. Sie möchte ich doch noch einmal hervorheben. Erstens: Auch das Verwaltungsgericht in Braunschweig hat sich ausdrücklich auf den Boden unserer Feststellung gestellt, daß durch die Inbetriebnahme von Buschhaus die Emission von Schadstoffen verringert werden kann. Jeder muß wissen: Jeder weitere Tag, um den die Inbetriebnahme von Buschhaus verhindert wird, jede Verlängerung der Blockade bedeutet, daß wir einen erhöhten Ausstoß an Schwefeldioxid und an anderen Schadstoffen haben. Das zweite, was bleibt, will ich zum Schluß auch noch einmal sagen: Ich empfehle dem Deutschen Bundestag sehr - ich habe das schon das letztemal gesagt -, sich sorgfältig die Situation im Rest der Bundesrepublik Deutschland anzussehen; denn dem deutschen Wald ist es völlig egal, ob er aus Helmstedter Kraftwerken, aus rheinischen oder hessischen oder sonstigen angegriffen wird. Es wäre ein gewaltiger Fortschritt für die effektive Umweltsituation in der Bundesrepublik Deutschland - ich glaube, das ist völlig unbestreitbar -, wenn wir es überall erreichen würden, daß schon mit Beginn des Jahres 1985 die Schadstoffsituation verbessert wird und daß wir schon vor der Frist, die die Großfeuerungsanlagen-Verordnung setzt - Mitte 1988 -, die Rauchgasentschwefelungsanlagen erhalten. Es wäre ein gewaltiger Fortschritt für den Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland, wenn auch das Ausmaß der Reduzierung der heutigen Schadstoffbelastung Helmstedter Verhältnisse erreichen würde, d. h. 75%. Heute morgen hörte ich in den Nachrichten - ich glaube, es war gestern hier in der Debatte in diesem Hohen Hause gewesen -, daß bis 1988 - Herr Zimmermann - die Schadstoffbelastung an Schwefeldioxid in der Bundesrepublik Deutschland um etwa 50 % reduziert sein wird. Meine Damen und Herren, nicht erst 1988, sondern schon 1987 wird die Schadstoffbelastung aus dem Raum Helmstedt um 75% und nicht nur um 50 % reduziert sein. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert. ({0}) - Kleinert ({1}).

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von einem berühmten Wissenschaftler stammt die Beobachtung - jetzt zitiere ich -, daß jeder von uns sich an irgendeinem Punkt wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einprägt. ({0}) - Warten Sie es ab. Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Diese Sätze stammen von Sigmund Freud. Sie sind mir eingefallen, als ich die Rede von Herrn Dregger heute morgen hörte. Ich glaube, daß diese Worte auch für große Teile von dem gelten, was der Herr Bundeskanzler gestern vorgetragen hat - zu Herrn Albrecht komme ich dann noch -; denn wenn man gehört hat, wie diese Bundesregierung einen wirtschaftlichen Aufschwung abfeiert, den es in der Wirklichkeit nicht gibt, und wie Sie hier Ihre eigene angeblich aktive Umweltpolitik bejubeln, die es ebensowenig gibt, dann muß man sich schon fragen, ob Sie noch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realitäten stehen. ({1}) Von welcher Wirklichkeit, meine Damen und Herren, wird hier eigentlich geredet, während doch selbst die Leib- und Magenblätter dieser Bundesregierung über ihr umweltpolitisches Nichtstun Klage führen? Da brauchen Sie nur „Quick" oder „Die Bunte" aufzuschlagen. Das ist doch ansonsten die Lieblingslektüre der Herren hier vorne rechts. Während fast keine Woche mehr vergeht, in der nicht ein neuer Umweltskandal die Medienlandschaft beherrscht und während Sie gerade eben durch die Gerichtsentscheidung in Sachen Buschhaus eine schallende Ohrfeige kassiert haben, stellen Sie sich Kleinert ({2}) hierhin und verkünden, die Belange der Umwelt seien bei Ihnen in besten Händen. Wie gut sie da wirklich aufgehoben sind, zeigt am besten ein Beispiel. Ich will dazu das Beispiel des Waldsterbens nehmen, ein Drama in fünf Akten. Der erste Akt begann, als Mitte der 70er Jahre - damals waren die Sozialdemokraten noch in der Regierung - Forstleute festgestellt hatten, daß das Absterben von Tannen sich auffällig häufte. Als sie dann Alarm schlagen wollten, wurden sie von den Politikern erst einmal nicht ernst genommen. Doch Forstleute und Umweltschutzverbände gaben keine Ruhe. 1980 häuften sich Presseberichte über das Tannensterben. 1981 wies eine Arbeitsgemeinschaft der Waldbesitzerverbände darauf hin, daß durch die ständigen SO2-Emissionen eine weiträumige Vernichtung von Nadelwäldern befürchtet werden müsse. Die damalige Bundesregierung wollte davon aber immer noch nichts wissen. Sie erklärte, sie habe die S02-Emissionen im Griff. Der damalige Landwirtschaftsminister Ertl sprach von - ich zitiere - einem gewissen Krankheitsbild, das etwas voreilig Sterben genannt werde. Die Devise hieß: ignorieren, bagatellisieren, herunterspielen. Ende 1982 begann der zweite Akt. Da waren die Schäden so offensichtlich geworden, daß es nichts mehr zu vertuschen gab. Nun aber hieß es, man müsse erst einmal sorgfältige Ursachenforschung betreiben, bevor es ans Handeln gehe. Die Ursachen des Waldsterbens lägen im dunkeln, erklärte Minister Zimmermann zu einer Zeit, als kein Umweltexperte mehr bestritt, daß Schwefeldioxid und Stickoxide die Hauptverursacher des Waldsterbens sind. Und daß in der Nähe von Industrieschornsteinen Bäume absterben, weiß jeder Waldarbeiter seit Jahrzehnten. Nicht, daß wir etwas gegen sorgfältige Untersuchungen von biologischen und chemischen Abläufen hätten. Im Gegenteil. Die Sorgfalt, die hier an den Tag gelegt werden sollte, hätten wir uns gern auch in anderen Stellen in der Umweltpolitik gewünscht, z. B. bei der Reaktorsicherheit oder bei der Produktion und Lagerung toxischer Stoffe. Vielleicht wären uns dann viele Umweltgefährdungen erspart geblieben. ({3}) So, wie Sie dieses Argument damals gebracht haben, muß man das einfach als Schutzbehauptung für eigene Untätigkeit bezeichnen. Und daß Sie nicht bereit waren, selber etwas zu tun, das haben wir an dieser Stelle 1983 erleben müssen. Oder weshalb sonst haben Sie unsere Forderungen nach wirksamen Entschwefelungsprogrammen einfach zurückgewiesen? ({4}) Erst als 1983 - und damit bin ich beim dritten Akt - Ihre eigenen Veröffentlichungen eine Verdreifachung der Waldschäden innerhalb eines Jahres auswiesen, begann sich Ihr Tonfall zu ändern. Da sprach der Minister Zimmermann selber von einer dramatischen Entwicklung. Doch wer geglaubt hatte, jetzt werde etwas getan, sah sich wiederum getäuscht. Die TA Luft wurde geändert. Aber wie! Die zulässigen Höchstwerte von Schwefeldioxiden und anderen Giftstoffen wurden eben nicht drastisch heruntergesetzt; und für den Umbau entsprechender Anlagen wurden Zeitspannen eingeräumt, die den notwendigen Zeitbedarf weit übersteigen. Die bisherige Spitzenleistung dieser Art Bekämpfung der Luftverschmutzung haben wir neulich erlebt: Buschhaus. Damit bin ich beim vierten Akt. Da beschließt der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit, daß das nagelneue Kraftwerk Buschhaus nicht ohne Filter ans Netz gehen dürfe. Dann stellt die Bundesregierung fest, daß diese Entscheidung auf den energischen Widerstand der Kraftwerkindustrie, der IG Bergbau und Energie und der niedersächsischen Landesregierung trifft. Und was passiert? In aller Eile werden Abgeordnete aus den Ferien zusammengetrommelt, um diesen Beschluß zu kassieren und um einen neue n Beschluß über eine Betriebsgenehmigung für eine sogenannte Altanlage in Buschhaus zu fassen, die gar keine Altanlage ist. Sie selber - das hat dieses Beispiel gezeigt - halten sich nicht einmal an Ihre eigenen, viel zu großzügigen Gesetze; ({5}) und Sie leisten sich dabei obendrein die Absurdität, Hunderttausende DM Steuergelder dafür aufzuwenden, daß die Abgeordneten aus dem Urlaub zusammengeholt werden, um im Deutschen Bundestag über eine Altanlage Buschhaus abzustimmen, die gar keine Altanlage ist. ({6}) Doch damit nicht genug. Wie sich inzwischen gezeigt hat - das haben Sie verschwiegen, Herr Albrecht -, ist selbst der Beschluß, den Sie hier am 31. Juli gefaßt haben, längst Makulatur geworden. Herr Albrecht, Sie denken nämlich gar nicht daran, auch nur die Auflagen, die mit dem damaligen Beschluß verbunden sind, in die Tat umzusetzen. Denn bis zum heutigen Tag ist kein Auftrag an irgendein Unternehmen ergangen, das die Filter herstellt, die laut Bundestagsbeschluß bis Mitte 1987 eingebaut sein sollen. Und die angekündigte Stillegung von Offleben I wird ebenfalls nicht erfolgen. Statt dessen wollen Sie das Kraftwerk als Kaltreserve weiter betreiben. Die vorgesehene Entschwefelung von Offleben II wird ebenfalls nicht stattfinden; von den drei Blöcken soll nämlich nur einer entschwefelt werden, und die anderen beiden sollen bis zur Stillegung 1993 ohne Entschwefelung weiterlaufen. Schließlich nehmen Sie es auch mit dem Arbeitsplatzargument offenbar nicht so genau, wenn es darauf ankommt; denn in Buschhaus sollen, wie man hört, 100 Arbeitskräfte entlassen werden. Meine Damen und Herren, man könnte das Ganze schon fast als kurios bezeichnen, wenn das Thema nicht so ernst wäre, denn der Wald stirbt weiter, und deshalb ist das Ganze auch eher ein Drama. Aber da ist ja noch der Abgaskatalysator, werden Sie sagen, wenn es um die Umweltbilanz dieser Regierung geht; da tun wir doch was. Sie Kleinert ({7}) merken, ich bin beim fünften und damit vorläufig letzten Akt. Tatsächlich hat der Innenminister mit großem Theaterdonner im letzten Winter sein umweltpolitisches Kaninchen aus dem Zylinder gezogen. Da erlebten wir dann einen Zimmermann in der Pose des starken Mannes, der an dieser Stelle keine Kompromisse machen wollte und der mit fester Stimme erklärte, ab Januar 1986 würden nur noch Katalysatorenautos zugelassen. ({8}) Manch einer war verwundert, als er einen Minister aus einer industrie- und kapitalfreundlichen Partei markig von der Automobilindustrie einen Beitrag zur Bekämpfung von Umweltschäden fordern hörte. Zog da nicht einer gegen Bösewichte und Umweltfeinde zu Felde, von dem man das am wenigsten erwartet hatte? Doch inzwischen ist längst klar, daß von den großen Worten des starken Friedrich in der Praxis wenig übriggeblieben ist. ({9}) Der gleiche Innenminister, der noch vor wenigen Monaten lauthals verkündet hat, diese Umstellung auf Abgaskatalysatoren sei technisch kein Problem, läßt jetzt erklären, die Industrie habe technische Schwierigkeiten, über die sich die Bundsregierung bei der Umstellung nicht hinwegsetzen könne. Deshalb könne die Umstellung eben nur schrittweise erfolgen. ({10}) Was jetzt herausgekommen ist, ist noch weniger als ein lauer Kompromiß. Wer bleifrei und mit Abgaskatalysator fahren will, der wird das mit ein paar Mark staatlicher Unterstützung ab 1986 tun, und wer das nicht will, der läßt es erst einmal bleiben. ({11}) Der Herr Zimmermann, der immer dann so stark ist, wenn es gegen Ausländer und angebliche Verfassungsfeinde geht, der hat vor den Interessen der Automobilindustrie jämmerlich kapituliert. ({12}) Das „Handelsblatt" - das ist nicht gerade das Zentralorgan der GRÜNEN, wie Sie wissen - hat diesen Vorgang treffend als „Posse" bezeichnet. Es gibt das schöne Sprichwort: Es kreißte der Berg und gebar eine Maus. So etwa ist das zu kennzeichnen, was Sie in diesem Punkt als Beitrag zu einer aktiven Umweltpolitik vorgelegt haben. Nur in einem sind Sie fix: in Ihrer Imagepflege. Während Sie selbst noch herumdoktern, welche der verwässerten Lösungen nun beim Katalysator beschlossen werden soll, hat das Innenministerium längst gehandelt und in Hunderttausender-Auflage ein Blatt zur Luftverschmutzung herausgegeben, das den schönen Titel trägt: „Andere reden, wir handeln". ({13}) Anmaßender hätte das kaum noch lauten können. Wind machen, Staub aufwirbeln, das Ganze mit verteilten Rollen, und dabei so tun, als ob etwas passieren würde, das ist die umweltpolitische Praxis dieser Regierung. Die Reihe der Beispiele dafür ließe sich leicht fortsetzen; denn die ökologischen Zerstörungen, um die es geht, sind längst nicht mehr bloß Teilprobleme, sie begleiten uns praktisch den ganzen Tag. Laut Umweltbundesamt gibt es inzwischen 3 000 bis 6 000 chemischer Substanzen, die für den Menschen gefährlich sind. Eine DGB-Studie hat gezeigt, daß es mindestens 150 krebsverdächtige Stoffe gibt, mit denen 10 Millionen Arbeitnehmer in Berührung kommen. Das besonders Gefährliche daran ist die Unberechenbarkeit dieser Stoffe; denn es kann sein, daß ihre Gefährlichkeit erst dann offensichtlich wird, wenn sie bereits in großen Mengen und über Jahre in Umlauf sind, und sie können als Verbindung von an sich ungefährlichen Stoffen auftreten. Die Neuartigkeit dieser Gefahrenpotentiale ist durch die jüngsten Ereignisse um die Stoffe Dioxin und Formaldehyd ebenso offensichtlich geworden wie die Verantwortlichkeit der Privatwirtschaft und die Nebelwerfermentalität bei den meisten Politikern. So umfassend, wie die ökologische Krise inzwischen ist, müssen auch die Antworten darauf angelegt sein. Sie müssen das Übel an der Wurzel greifen, denn Verschmutzung und Vergiftung von Luft, Wasser und Boden greifen ineinander und vervielfachen auf diese Weise ihre Wirkung. Wer solche umfassenden Antworten in dem vorgelegten Haushaltsentwurf sucht, wird sie nicht finden, nicht einmal Spurenelemente davon. Statt dessen findet er die Fortsetzung der alten, der falschen Prioritätensetzungen mit all der Verschwendung und den ökologischen Wahnsinnsprojekten, die Sie seit Jahren finanzieren. Abgesehen von den Umweltausgaben im ERP-Sondervermögen beläuft sich der Gesamtumfang der Umweltausgaben in diesem Haushalt gerade auf 982 Millionen DM; das sind ganze 0,4 % des Gesamtetats. Dieser Betrag würde nicht einmal für das reichen, was ein mehrjähriges Programm zur Sanierung des Schwarzwaldes jährlich kosten würde. Wie auch dieser Haushaltsentwurf wieder zeigt, ist das Vertrauen dieser Bundesregierung in die Kräfte des Marktes auch in der Umweltpolitik durch nichts zu erschüttern. Während der von allen Seiten ständig von neuem mit Giftspritzen heimgesuchte Patient Umwelt weiter dahinsiecht, wollen Sie ihm unter der Parole „marktwirtschaftliche Steuerung" offenbar einen Sanierungsakt à la Münchhausen zumuten. Die Politiker aus den Regierungsfraktionen, sie sitzen derweil in gemütlicher Oggersheimer Runde den Hintern platt, und sie schauen darauf, was hinten herauskommt. ({14}) Meine Damen und Herren, statt großer Ankündigungen und weniger Oberflächenreparaturen wären umfangreiche Maßnahmen notwendig, wenn Kleinert ({15}) auch nur die dringendsten Gefährdungen von Mensch und Natur abgewendet werden sollten. Wir haben dazu eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, die zum großen Teil auch den Haushalt betreffen. Wir haben Maßnahmen zur Entgiftung der Luft und zur Rettung des Waldes, zur Lösung des Giftmüllproblems und zur Umstellung der Landwirtschaft auf biologischen Anbau gefordert. Wir haben ein Sonderprogramm zur Untersuchung giftiger Stoffe am Arbeitsplatz und vieles andere mehr vorgeschlagen; der Kollege Verheyen hat gestern ausführlich dazu gesprochen. Daß das alles Geld kostet, bestreiten wir nicht. Aber dieses Geld ist da, wenn Sie bei Ihren ökologischen Verschwendungsprojekten, die der Kollege Verheyen gestern an Beispielen aufgezeigt hat, sparen, wenn Sie an Ihrem Rüstungshaushalt sparen und wenn Sie an anderen Stellen sparen. Denn wer ausgerechnet in der Umweltpolitik sparen will, spart nun wirklich an der falschen Stelle. Hier geht es nämlich um die Sicherung des Fundaments für unsere Existenz, hier geht es um die Sicherung der Zukunft für künftige Generationen. ({16}) Meine Damen und Herren, Ökologie und Ökonomie bilden einen unauflösbaren Zusammenhang. Das wissen wir mindestens so gut wie die, die ständig einen Gegensatz zwischen ökologischen und Arbeitsplatzinteressen beschwören, und das wissen wir, auch wenn Sie, Herr Hauff, meinen, daß Sie mit Ihrem Stichwort „ökologische Modernisierung" auf ein Defizit bei uns hingewiesen hätten. Gerade weil es diesen Zusammenhang gibt, kann wirklich ökologische Politik auch nicht bloß Reparaturarbeit bedeuten. ({17}) Kranke Strukturen können auch durch die beste Reparaturarbeit nicht wirklich dauerhaft saniert werden. Wirkliche Gesundung wird nur dann möglich sein, wenn wir auch vor Eingriffen in die bestehenden Strukturen der Wirtschaft nicht zurückschrecken. Gerade die letzten Umweltskandale haben nämlich überaus deutlich gezeigt, daß die privatwirtschaftliche Selbstkontrolle in diesem Bereich eben nicht funktioniert. ({18}) Ein wirklich ökologisches Wirtschaften hat einen Umbau der Wirtschaft zur Voraussetzung. „Umbau" heißt in erster Linie: Umbau und auch Abbau von besonders umweltgefährdeten Industriezweigen. Ein solcher Zweig ist die chemische Industrie. In ihr werden bei enormem Verbrauch von Energie und Rohstoffen viele der gefährlichen Stoffe hergestellt. Die chemische Industrie zählt zu den ärgsten Verschmutzern von Luft und Wasser, und sie ist dabei eine jener Branchen, in denen in den letzten Jahren enorme Gewinnsteigerungen erzielt werden konnten. Hier müssen gesetzliche Auflagen, hier müssen steuerliche Instrumente, hier müssen staatliche Konversionshilfen gezielt eingesetzt werden, um unter Einbeziehung der Belegschaften Produktionsumstellungen zu ermöglichen, um zu ermöglichen, daß hier endlich ökologisch verträglich produziert wird. Es muß endlich eine umfassende Deklarations- und Registrierungspflicht für gefährliche chemische Substanzen her. Es muß eine Umweltverträglichkeitsprüfung her. Es muß eine Umweltverträglichkeitsprüfung für jedes neue Produkt und für jedes neue Produktionsverfahren her, und es müssen auch, wenn es nicht anders geht, schlicht und einfach Produktionsverbote her. ({19}) Ich weiß, daß immer dann, wenn wir solche Überlegungen vortragen, lauthals gerufen wird: Die GRÜNEN gefährden die Arbeitsplätze, ({20}) die GRÜNEN wollen in die Steinzeit zurück. Nichts davon wollen wir. Aber wir wollen eines, wir wollen einen Zustand beenden, in dem einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit unsere Lebenswelt gefährden dürfen und dabei noch ordentlich abkassieren können. Das wollen wir beenden. ({21}) Die Maßnahmen, die wir dazu vorschlagen, müssen nicht die Folge haben, daß Arbeitsplätze vernichtet werden. Im Gegenteil, sie können sogar Arbeitsplätze schaffen, an denen ökologisch nützliche Produkte unter ökologisch zumutbaren Arbeitsbedingungen hergestellt werden. Es gibt viele Studien, die das beweisen. ({22}) Das alles hat nichts zu tun mit dem Marsch in die Steinzeit oder auch nur mit der Fortschrittsfeindlichkeit, die Sie uns so gerne anhängen wollen. Im Gegenteil, die Entwicklung von umweit- und lebensfreundlicher Technologie wird noch viel staatliche Forschungsgelder kosten müssen. Vielleicht merken auch Sie das eines Tages noch. Man soll die Hoffnung nie aufgeben. ({23}) Zum Schluß noch eine Bemerkung zu einigen Äußerungen aus den letzten Wochen aus dem Regierungslager. Seit neuestem haben Sie in den GRÜNEN Ihren Hauptgegner ausgemacht. Der Herr Geißler meint sogar, wir seien inzwischen die eigentliche Opposition, die die SPD längst im Schlepptau halte. ({24}) Und der Bundeskanzler hat sich so ähnlich geäußert. Der Herr Geißler hat das noch mit der Feststellung verbunden, das sei eine Gefahr für die Demokratie, denn wir wollten ja eine andere Republik. Nun wissen wir, was der Herr Geißler meint, wenn er von Republik und wenn er von der Vertei5972 Kleinert ({25}) digung der Republik spricht. Er meint in erster Linie den Schutz bestehender Industriestrukturen und bestehender wirtschaftlicher Macht, die Bewahrung wirtschaftlicher und sozialer Privilegien. Das ist Ihre Republik. Gemessen daran wollen wir wirklich etwas anderes. ({26}) Wir wollen den Umbau der Wirtschaft, jenes Öffnen eines Weges zu einer ökologischen Wirtschaftsweise, den ich anzudeuten versucht habe. Insofern wollen wir auch den Umbau dieser Republik. Wir wollen einen Umbau, durch den die Natur und die Menschen wieder Zukunftschancen bekommen und der künftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterläßt. ({27}) Was aber soll daran eine Gefahr für die Demokratie sein? Was soll Schreckliches daran sein, wenn wir andere Wege, wenn wir neue Wege vorschlagen. Sie sind es doch, die oft genug gezeigt haben, daß Sie nicht bereit sind, solche neuen Wege zu gehen, und Sie sind es doch, die schon längst nichts mehr anzubieten haben als steigende Umweltgefährdung, schlechte Verwaltung von Dauerarbeitslosigkeit und organisierte Untätigkeit. ({28}) Wir freuen uns auf die angekündigte verschärfte Auseinandersetzung mit uns. Ich will Ihnen dazu zum Schluß nur noch einen guten Ratschlag geben: Machen Sie es nicht so platt wie jener Staatssekretär aus dem innerdeutschen Ministerium, der letzte Woche ein Papier von beispielloser intellektueller Dürftigkeit verfaßt hat, ({29}) das er dann „Analyse grüner Programmatik" genannt hat und das so originelle Aussagen enthält wie die, daß eine Machtbeteiligung der GRÜNEN den Einmarsch der Roten Armee sofort zur unvermeidlichen Konsequenz haben würde. ({30}) Versuchen Sie es doch einmal mit einer wirklich effektiven Umweltpolitik! Dann hätten wenigstens die Menschen in diesem Lande etwas davon. Ich bedanke mich. ({31})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.

Ursula Seiler-Albring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002155, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kleinert, die schöne Welt, die Sie in Ihren letzten Ausführungen geschildert haben, wollen wir alle. Ich glaube, Ihre Schilderung war die einer schönen Welt. Nur, Herr Kleinert, wenn man sich Ihre wirtschaftspolitischen Überlegungen ansieht, dann fragt man sich: Wie, um Himmels willen, wollen Sie denn dieses jemals finanzieren können? ({0}) Ich habe mit Interesse Ihren Ausflug in die Geschichte verfolgt, Herr Kleinert. Auch ich möchte gern mit einem kurzen Rückblick beginnen und als Berichterstatter zum Einzelplan 06 einen kleinen Beitrag zur historischen Wahrheit leisten. Nach dem umweltpolitischen Trommelfeuer der Sommerpause reibt sich der erstaunte Zeitgenosse die Augen und denkt darüber nach, ob der Umweltschutz in diesem Lande tatsächlich erst am 17. September 1982 erfunden wurde, als die sozialliberale Koalition zu Ende ging. Tun Sie doch nicht so, meine Damen und Herren von der Opposition, als wäre das Wort Umweltschutz in diesem Hause erst mit dem Eintritt der Sozialdemokraten in die Opposition und mit dem Einzug der GRÜNEN in das Parlament zum erstenmal formuliert worden. ({1}) Auch wenn Sie es heute nicht mehr wahrhaben wollen, erinnere ich Sie daran, daß es die Liberalen waren, die zu Beginn der 70er Jahre unter dem damaligen Bundesinnenminister Genscher die Grundlagen für die Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland gelegt haben. ({2}) Wir haben schon die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz gefordert, als viele von den jungen Kollegen aus der Fraktion der GRÜNEN auf der Schulbank noch das Buchstabieren dieses Wortes lernten. ({3}) Ich erinnere Sie daran, daß in diesen Tagen das Umweltbundesamt in Berlin zehn Jahre existiert, eine Anregung und Forderung meiner Partei. Ich erinnere Sie daran, daß wir es waren, die im Bundesinnenministerium die Abteilung Umwelt eingerichtet haben. ({4}) - Herr Fischer, da wir schon über Schule reden, wäre es vielleicht angebracht, zu sagen, daß Sie dort vielleicht gelernt hätten, daß man auch einmal zuhören kann. ({5}) Ich erinnere Sie daran, daß nicht zuletzt auf Initiative der FDP die Bundesrepublik Deutschland der Vorreiter bei der Begrenzung des Bleigehalts im Vergaserkraftstoff ist. So haben wir 1971 dafür Sorge getragen, daß der Bleigehalt im Benzin ({6}) von seinerzeit 0,70 g/l über 0,40 g/l auf heute, immerhin seit acht Jahren, nur noch 0,15 g/1 gesenkt wurde. Unsere Vorreiterrolle wird deutlich ({7}) - zu Buschhaus komme ich gleich -, wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl unserer europäischen Nachbarn heute noch ein Vielfaches von diesem Bleigehalt in ihrem Benzin fahren. ({8}) Sie wissen, meine Damen und Herren von der Opposition, vor allen Dingen von der SPD, daß sich die Liste der umweltpolitischen Maßnahmen der letzten 15 Jahre auf einen stattlichen Umfang verlängern ließe. Es steht natürlich außer Frage, daß die Liste der Maßnahmen, die weiter in Angriff zu nehmen sind, ebenfalls sehr lang ist und höchste Priorität erhalten muß. Aber, meine Damen und Herren, ich halte es für unverantwortlich, daß wider besseres Wissen insbesondere die SPD, die ja von 1969 bis 1982 Regierungsverantwortung trug ({9}) und durch Ihren Kanzler die Richtlinien in der Politik bestimmen konnte, heute den Eindruck zu erwecken sucht, daß nichts Wesentliches geschehen sei. ({10}) Ich bedaure, daß es Ihnen nicht darum geht, die Bevölkerung über das Geschaffene aufzuklären, sondern offensichtlich darum, zu verunsichern und Angst zu erzeugen. Es nützt niemandem, meine Damen und Herren, am wenigsten der Umwelt, wenn, geboren aus einem Klima der Angst und Panik - Stichwort: Schadstoff des Monats -, hektischer Aktionismus zielgerichtetes Handeln überlagert. Unsere Umwelt ist in großer Gefahr. Das steht außer Zweifel. Jeder hier im Raum und draußen ist herzlich eingeladen, an der Minimierung dieser Gefahren mitzuarbeiten, und zwar nicht durch öffentliches Schaulaufen und Vorschläge, die die Arbeitsplätze ganzer Branchen mutwillig und beliebig aufs Spiel setzen. Wenn man sich, meine Kollegen von den GRÜNEN, Ihre Überlegungen zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen ansieht, kann man nur noch den Dichter zitieren: Und treiben mit Entsetzen Scherz. Wenn es um die Frage geht, Herr Kleinert, wer mit den Beinen auf dem Boden steht, liegt die Antwort nach dieser Lektüre auf der Hand: Sie zumindest haben den Kopf in den Wolken. ({11}) Letztes Beispiel für Ihre Verwirrung in der Umweltpolitik, meine Damen und Herren von der SPD, ist Ihre Interpretierung der Sondersitzung Buschhaus. Ich weiß wie jede andere in diesem Haus, daß die Erteilung oder Nichterteilung der Betriebsgenehmigung nicht im Vordergrund der Überlegungen stand. Denn diese Genehmigung unterliegt ausschließlich der Entscheidung der niedersächsischen Landesregierung. Unser Anliegen war es, politischen Einfluß geltend zu machen, um den mit der Betriebsgenehmigung zu erwartenden Schadstoffausstoß so niedrig wie möglich zu halten. Unser Ziel war es, den Stickoxidausstoß so weit wie vertretbar zu begrenzen und die Entschwefelungsanlage schneller als vorgesehen zu bauen, des weiteren sicherzustellen, daß bis zum Bau dieser Entschwefelungsanlage das Kraftwerk nicht mit der giftigen Salzkohle betrieben wird. Mit unserem Vorgehen wollten wir erreichen, daß insgesamt die Umweltbelastung in diesem Raum gegenüber dem Jetztzustand unmittelbar verringert wird. Sie dagegen wollten mit dem Kopf durch die Wand und haben auf unrealistische Konzepte gesetzt. Für mich interessant ist hier die Tatsache, daß die Forderung des damaligen Innenministers Maihofer nach einem frühestmöglichen Einbau einer Entschwefelungsanlage bei den Kollegen der SPD keinerlei Würdigung gefunden hat. ({12}) Diese Anregung des Innenministers ist, wenn ich mich recht erinnere, vom damaligen Finanzminister, der von der SPD gestellt wurde und der für Bundesbeteiligungen zuständig ist, nicht aufgenommen worden. Es gibt zur Zeit kein Thema, das angesichts des Waldsterbens bei der Umweltschutzdiskussion eine solche Priorität besitzt wie die Einführung des abgasarmen Autos. Bei aller Notwendigkeit, hier in naher Zukunft zu einer drastischen Begrenzung des Schadstoffausstoßes zu gelangen, darf nicht der Eindruck entstehen, als würde erst jetzt gehandelt und als habe man das Problem in der Vergangenheit einfach verdrängt. Seit 1971 haben wir die Schadstoffemissionen durch kontinuierliche Verschärfungen der ECE-Richtlinien verschärft. Die deutsche Automobilindustrie hat freiwillig ab dem Modelljahr 1983 die ECE-Richtlinie 15 04 erfüllt, die für 1986 vorgesehen war. Grundsätzlich kann festgehalten werden, daß die vom Kraftverkehr ausgehende Gesamtmenge des Schadstoffausstoßes seit Jahren rückläufig ist, obwohl der Fahrzeugbestand in der Bundesrepublik ständig zugenommen hat. Beim Kohlenmonoxid ist ein Rückgang seit 1975 feststellbar, bei Kohlenwasserstoffen seit 1978 und bei Stickoxiden seit 1983. Trotzdem - da sind wir uns alle sicher einig - reicht das nicht aus. Die FDP hat deshalb als Sofortmaßnahme eine Änderung der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung angeregt und hat dafür die Mehrheit im Verkehrsausschuß gefunden. Diese Änderung sieht vor, daß alle Pkw jährlich zu einer Abgaskontrolle in Werkstätten bzw. beim TÜV vorgeführt werden müssen. Untersuchungen des TÜV Rheinland haben ergeben, daß diese Kontrollen sofort eine Reduzierung der Schadstoffemission von 30 % ergeben würden. Am 1. Januar 1985 ist es soweit. Darüber hinaus halten wir an der Einführung des schadstoffarmen Autos fest. Die Bundesregierung hat dies in ihrem Kabinettsbeschluß deutlich gemacht. Wir halten daran fest, daß die obligatorische Einführung des abgasarmen Kfz in der Bundesrepublik keinen weiteren Aufschub erfahren darf. Die steuerlichen Anreize zum Kauf dieser Kfz - über Art und Umfang wird man sich einigen - sollen nach Möglichkeit bereits vor dem 1. Januar 1986 wirksam werden. Die Kraftfahrzeugsteuer ist, wie wir alle wissen, Ländersache. Ich bin zuversichtlich, daß wir in nächster Zeit hier zu einem Konsens mit den Ländern kommen werden. Meine Damen und Herren, ich wollte mit meinen Ausführungen darstellen, daß entgegen dem Eindruck, den Sie in der Öffentlichkeit gern vermitteln wollen, wir auf allen Gebieten des Umweltschutzes Schritte in die richtige Richtung machen. ({13}) Trotzdem gebe ich denjenigen recht, die sagen, daß noch mehr getan werden muß. Diese Bundesregierung ist, wenn Sie sich den Haushalt daraufhin ansehen, dazu bereit. Ich erinnere daran, Herr Kleinert, daß es nicht 900 Millionen DM, sondern ingesamt mehr als 1,5 Milliarden DM sind. ({14}) Der Mittelansatz in der Finanzplanung wird steigen. Allein das Umweltschutzprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau von 3,5 Milliarden DM wird ein Auslöser für Investitionen von 10 Milliarden DM in diesem Bereich sein. Die ökologische Modernisierung, die Sie, Herr Hauff, anmahnen, marschiert bereits. Meine Damen und Herren, lassen Sie - das ist mein herzlicher Appell an Sie - das öffentliche Kriegsgeschrei über Tunix-usw.-Regierung! Das bringt uns nicht weiter. Setzen wir uns zusammen und entwickeln wir vernünftige und realistische Strategien für einen Kampf für eine auch morgen lebenswerte Umwelt! Ich danke Ihnen.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Handlos.

Franz Handlos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000799, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf in meiner kurzen Redezeit an den Sachbeitrag des Herrn Kollegen Dregger am Vormittag zum Thema Arbeitslosigkeit anknüpfen. Wir wissen alle, daß das Thema Arbeitslosigkeit das Problem der Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland wird. Dazu wurde gestern und heute sehr viel gesagt, aber es wurde nicht konkretisiert, was man anders, was man besser machen könnte. Die Regierung meint, es sei mit den Selbstheilungskräften der Wirtschaft getan, die Opposition fordert Beschäftigungsprogramme. Wir REPUBLIKANER glauben, daß beide Modelle nur Ansatzpunkte darstellen, die nicht geeignet sind, das Problem der Arbeitslosigkeit auf Dauer wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. Aus der Sicht der REPUBLIKANER müssen die folgenden Punkte hinzukommen - ich darf dann einige praktische Beispiele aufzählen, wie es auf dem deutschen Arbeitsmarkt aussieht -: Wir halten erstens Umschichtungen im Staatshaushalt, wie sie der Herr Kollege Dregger heute früh angesprochen hat, für erforderlich. Wir meinen zweitens weiterhin, daß wir dringend Zinsverbilligungsprogramme und Umschuldungsprogramme für Handel, Handwerk, Mittelstand, Fremdenverkehr und Kleinlandwirte benötigen. Solche Programme sind insbesondere für den Einzelhandel erforderlich, weil die Einzelhändler in der Bundesrepublik Deutschland von den Großmarktketten systematisch kaputtgemacht werden. Das wird ein Problem in der Zukunft. Wir sind drittens der Auffassung, daß eine verstärkte Förderung moderner umweltverträglicher Technologien notwendig ist. Viertens. Der Schwarzarbeit muß der Kampf angesagt werden. Wir fordern fünftens eine Ausländerpolitik mit Augenmaß. Ich möchte Ihnen erläutern, was wir REPUBLIKANER darunter verstehen, damit wir nicht gleich falsch verstanden werden. Ich darf Ihnen aus einem Brief des hessischen Innenministers vom 25. Juni 1984 zitieren, in dem es wörtlich heißt: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat den Bundesminister des Innern davon in Kenntnis gesetzt, daß in verschiedenen Bundesländern Ausländer, die unter Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern ausgereist waren, nach kurzer Zeit wieder eine Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet beantragt haben und wieder eingereist sind. Wenn das so ist, meine Damen und Herren - es gibt Beweise dafür -, dann ist es notwendig, daß dem ein Riegel vorgeschoben wird, denn es kann nicht angehen, daß diejenigen, die eine Rückkehrhilfe in Anspruch genommen haben, zum Schluß wieder durch die Hintertür hereinkommen. Wir REPUBLIKANER fordern deshalb für Nicht-EGBürger die Beantragung eines Sichtvermerks bei der jeweiligen deutschen Botschaft, wie dies z. B. auch in Amerika der Fall ist. In diesem Zusammenhang darf ich hier im Parlament einen Brief vorlegen, der zeigt, welche Auswüchse auf dem sogenannten grauen Arbeitsmarkt herrschen. Eine Frankfurter Firma hat in der „Frankfurter Rundschau" vom 7. Juli 1984 eine Annonce aufgegeben; sie bekam daraufhin folgende Antwort von einer ansässigen Frankfurter Firma - ich zitiere wörtlich -: Aus Ihrer Annonce entnehmen wir, daß Sie neue Mitarbeiter für Software-Entwicklung suchen. Wir sind ein Unternehmen mit ca. 20 Diplom-Mathematikern und Elektronikspezialisten in Budapest. Unser Kontaktbüro befindet sich in Frankfurt. Wir erstellen im KundenaufHandlos trag vollständige Software und Teile davon und helfen auch im Entwurfsstadium. Wir übernehmen Pauschalaufträge oder in Regie. Jetzt kommt der entscheidende Satz: Unser Angebot ist deswegen interessant, weil wir durch verschiedene Umstände weit unter den üblichen Preisen arbeiten können. Budapester Spezialisten können unter dem weit üblichen Preis in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten mit dem Erfolg, daß soundso viele deutsche Personen dieser Berufsgruppe keine Beschäftigung bekommen können. Derartige Vermittlungsfirmen tragen zur Arbeitslosigkeit deutscher Arbeitnehmer bei. Wir REPUBLIKANER - das muß ich einmal ganz deutlich sagen - fordern verschärfte gesetzliche Bestimmungen gegen diesen grauen Arbeitsmarkt. Ich kann Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: 50 südbayerische Handwerksfirmen im Bereich des Innenputzausbaus werden von jugoslawischen Schwarzarbeitern, die weit unter Preis arbeiten können, systematisch kaputtgemacht. Diese 50 müssen jetzt aufhören. Ich darf den Finanzminister bitten, einmal beim bayerischen Finanzministerium nachzufragen, was sich allein hier an Steuerausfällen ergibt. Wir hatten entsprechende Gespräche im Finanzministerium, und ich kann nur sagen: Hier muß ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht das Eldorado für alle möglichen ist, die glauben, hier billiges Geld verdienen zu können - und noch dazu mit Schwarzarbeit. Lassen Sie mich ein letztes Beispiel nennen, das das Verhältnis zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland schlaglichtartig erhellt. Ein deutscher Arbeiter bekommt in der Türkei praktisch keine Arbeitserlaubnis. Ich kann Ihnen dies an Hand eines Briefes des Bundesverwaltungsamtes an einen deutschen Staatsbürger beweisen. Das Bundesverwaltungsamt schreibt unter dem 23. März 1984 u. a., daß man in der Türkei zwar grundsätzlich arbeiten könne, weist aber dann auf Gesetze hin, nämlich auf das Gesetz 2007 vom 13. Juni 1932 und auf das Gesetz 2818 aus dem Jahre 1960, in denen ein sehr umfangreicher Katalog von Fällen geregelt ist, wonach Arbeitnehmer aus dem Ausland - damit auch Deutsche -, angefangen von Friseuren, Schriftsetzern und Hutmachern über Börsenmakler, Fremdenführer bis hin zu Tierärzten, Chemikern, Flugzeugmechanikern und Piloten, keine Arbeitsgenehmigung in der Türkei erhalten. Es heißt dann in diesem Schreiben des Bundesverwaltungsamtes wörtlich weiter: Weitere restriktive Bestimmungen, die in diesem Zusammenhang erwähnenswert erscheinen: Berufstätige Ausländer, auch wenn in der Türkei geboren oder mit türkischen Staatsangehörigen verheiratet, müssen mindestens alle zwei Jahre erneut die Aufenthaltserlaubnis beantragen. Ständige Aufenthaltsgenehmigungen sind rechtlich nicht möglich. Im Schlußsatz heißt es dann wörtlich - ich stelle diese Unterlagen allen Kollegen gerne zur Verfügung -: In der Praxis ist es so, daß Ausländern für eine selbständige Tätigkeit in der Türkei praktisch keine Genehmigung erteilt wird. Damit ist nach Auffassung der Botschaft der Grundsatz der Gegenseitigkeit nicht gewährt. Meine Damen und Herren, muß man dazu eigentlich noch mehr sagen? Deswegen betonen wir REPUBLIKANER: Wir halten ein solches Vorgehen gegenüber Deutschen nicht für gerechtfertigt. ({0}) - Der Jupp Derwall ist in der Türkei übrigens schon lange nicht mehr gern gesehen. ({1}) Kaum daß er hingekommen ist, verehrter Kollege Fischer, wollen die Türken ihn schon wieder gehen sehen. Also, dieses ist kein Argument. Aber ich sage Ihnen abschließend noch einmal folgendes: So kann das nicht gehen! Wir REPUBLIKANER - das möchte ich hier zum Abschluß meines kurzen Redebeitrages sagen - verlangen für alle gleiches Recht in Europa. Es geht nicht, daß die Deutschen immer diejenigen sind, die auf der einen Seite in allem nachgeben, auf der anderen Seite aber im Ausland ausgenützt werden, wo dies möglich ist. Herzlichen Dank.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. ({0}) Dr. Geißler; Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte in dieser Haushaltsdebatte zu zwei Problemen Stellung nehmen, die die Haushaltsdebatte bisher gekennzeichnet haben, und dabei den Versuch unternehmen, zu diesen beiden Fragen, nämlich der Sicherung unserer Gesundheit und dem Stellenwert unserer Familie, etwas Grundsätzliches zu sagen. Wir haben ja in den letzten Tagen und in den letzten Monaten erlebt, daß die Gesundheitspolitik im Rahmen der Umweltschutzpolitik eine immer größere öffentliche Rolle gespielt hat. Ich möchte hier im Namen der Bundesregierung klar sagen: Die Gesundheitspolitik der Bundesregierung läßt sich von einer klaren Maxime leiten, nämlich daß der Schutz der Gesundheit unserer Bevölkerung den Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. Es ist unsere Aufgabe, die Gesundheit zu schützen, sie zu verbessern, die Krankheiten zu bekämpfen. Es wäre aber nur eine halbe Wahrheit, wenn wir nicht gleichzeitig darauf hinwiesen, daß es zu dieser Industriegesellschaft, so wie wir in ihr leben, keine Alternative gibt, daß es aber sehr wohl humane Alternativen in dieser Industriegesellschaft gibt. Nur: Die Vorsorge für die Gesundheit hat zwei Seiten. Ganz sicher - das stand nach meiner Auffassung in der letzten Zeit zu sehr im Vordergrund - gibt es gesellschafts- und umweltbedingte Krankheitsursachen. Aber zunächst einmal ist jeder persönlich für seine eigene Gesundheit verantwortlich. Der Staat kann nicht jedem seine Gesundheit garantieren. ({1}) Jeder weiß, daß Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum und Bewegungsmangel die Ursachen vieler Krankheiten sind und oft zum Tode führen. Darüber kann der Staat aufklären, aber entscheiden muß jeder selber, wie er lebt. Er hat in der Art und Weise, wie er lebt, auch eine Verantwortung für den anderen, für den Mitbürger, eine Verantwortung für seine eigene Familie, für seine Kinder. Der Kampf für die Gesundheit und gegen die Krankheit ist nicht zu gewinnen, wenn der einzelne seine persönliche Verantwortung auf den Staat und auf die Gesellschaft abschiebt. Das ist, wenn Sie so wollen, grüne Gesundheitspolitik. ({2}) Sie ideologisieren die Krankheit des einzelnen zur Krankheit der Gesellschaft. Durch Ideologie ist noch keiner gesund geworden, ({3}) aber viele sind durch Ideologien psychisch und physisch krank geworden. ({4}) Verantwortung des einzelnen und Verantwortung des Staates - beide gehören zusammen. So verstehe ich Gesundheitspolitik. Vor dem Hintergrund der Schadstoffproblematik werden von den GRÜNEN - ich muß leider sagen: mit der gebotenen Schamfrist auch von der SPD, wie es in dieser gemeinsamen Oppositionskoalition inzwischen Übung geworden ist ({5}) Schreckensbilder vom Gesundheitszustand der Bevölkerung gezeichnet, die den objektiven Tatsachen einfach widersprechen. ({6}) Extreme und oft auch fragliche Beispiele - ich komme gleich dazu - sollen den Eindruck vermitteln, als stünde der toxische Weltuntergang vor der Tür, als drohte uns allen am Arbeitsplatz, auch im Freien und im Wohnzimmer unablässiges Siechtum. Die Tatsachen sehen aber anders aus. Nun könnte ich es mir leichtmachen, Herr Hauff - ich wende mich jetzt an die SPD -, ({7}) und könnte sagen: Die Schreckensbilder, die hier gezeichnet werden, haben mit den Ergebnissen von anderthalb Jahren Regierung Helmut Kohl ebensowenig zu tun wie das Waldsterben. Das wäre sogar die Wahrheit. ({8}) Aber ich beteilige mich nicht an dieser Hysterie. Ich könnte Ihnen mitteilen, was ich als der zuständige Minister an Ergebnissen von Politik zur Abwehr von Gefahrenstoffen, zur Abwehr einer toxischen Gefährdung der Bürger vorgefunden habe. Ich könnte hier genauso vom Punkt Null sprechen, wie das gestern zu Recht hinsichtlich der Maßnahmen gegen das Waldsterben gesagt wurde. Ich will dies nicht tun, meine sehr verehrten Damen und Her- . ren. Nur: Ein typisches Beispiel für eine unverantwortliche Propaganda war die gestrige Rede des grünen Abgeordneten Verheugen. ({9}) - Entschuldigung, Verheyen. Ich mache hier keinen großen Unterschied. ({10}) Ich wiederhole: Ein typisches Beispiel für eine unverantwortliche Propaganda war die gestrige Rede des grünen Abgeordneten Verheyen, der sagte - ich zitiere -: In zunehmendem Maße leiden Menschen unter Umweltkrankheiten: ... Pseudo-Krupp ... - und andere Umweltkrankheiten - nehmen in bedrohlichem Maße zu. ({11}) Richtig ist, daß der Zusammenhang zwischen diesen Krankheiten und der Umwelt in der Wissenschaft diskutiert wird. Erwiesen ist ein geringer Teil. ({12}) - Herr Fischer, wenn Sie alles schon wissen, bevor die wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegen, ({13}) dann ist das Ihr Bier. Aber Bertrand Russell hat schon einmal zu Recht gesagt: Das ist ja der ganze Jammer: Die Dummen sind ja so sicher, und die Gescheiten sind so voller Zweifel. Das wollte ich Ihnen einmal sagen. ({14})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?

Dr. Heiner Geißler (Minister:in)

Politiker ID: 11000655

Nein.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Gilt das generell?

Dr. Heiner Geißler (Minister:in)

Politiker ID: 11000655

Ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. Tatsache ist dagegen - ich nehme dieses Beispiel heraus, ich möchte das der deutschen Öffentlichkeit sagen -, daß der Lungenkrebs zunimmt. Das ist richtig. Aber dafür ist in erster Linie - das ist wissenschaftlich erwiesen - das Zigarettenrauchen verantwortlich. ({0}) Die Bronchitis dagegen nimmt ab, vor allem bei Kindern. Atemwegerkrankungen sind als Todesursache bei Kindern in den letzten Jahren entscheidend zurückgegangen. Eine typische Halbwahrheit und damit eine Unwahrheit ist die Behauptung von Herrn Verheyen, daß der Krebs heute bei Kindern schon die zweithäufigste Todesursache sei und daß das ein bezeichnendes Licht auf den Grad der Vergiftung der Umwelt werfe. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es pro Jahr 1 300 krebskranke Kinder. Nur, soweit ich die medizinischen Statistiken überblicke, rangiert der Kinderkrebs neben dem Unfalltod schon immer an der ersten Stelle. ({1}) Das hat auch einen einfachen Grund. Die sonst häufigste Todesursache, nämlich Kreislaufkrankheiten, kommt bei Kindern so gut wie nicht vor. Das sind zwei Beispiele für eine unverantwortliche, weil unwahre Propagandapolitik der GRÜNEN, ({2}) die, meine sehr verehrten Damen und Herren, in ihrer ganzen Politik davon leben, daß sie möglichst vielen Leuten Angst machen, daß möglichst viele Leute Angst bekommen und sich bedroht fühlen. Vorgestern war es die Kernenergie, gestern war es die Nachrüstung, und heute sind es die Umweltgifte. So läuft das Szenario ab. Die Bundesregierung bagatellisiert nicht die Gefährdungen, die durch die moderne Technik, durch die Wissenschaft und auch die moderne Chemie für die Menschen vorhanden sind. Aber verantwortliche Politik heißt hier, ({3}) die Bürger richtig zu informieren. Das heißt auch, die Dinge in der öffentlichen Diskussion wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. ({4}) Das heißt: Die moderne Chemie und moderne Arzneimittel waren und sind kein Fluch, sondern waren und sind in Wirklichkeit auch ein Segen für die Menschheit. ({5}) Die Schreckensbilder vom uns alle am Arbeitsplatz, im Freien und im Wohnzimmer bedrohenden Siechtum sind einfach falsch. Die Menschen leben heute länger als früher. Wir haben heute Medikamente, mit denen wir Seuchen, Epidemien, ansteckende Krankheiten, die Geißeln früherer Jahrhunderte, wirksam bekämpfen können. Auch die Entdeckung der Ursachen des Krebses oder neuer Krankheiten wie AIDS kann nicht gegen die Wissenschaft, nicht gegen den technischen Fortschritt, sondern nur mit der Wissenschaft und mit der modernen Technik im Dienste des Menschen erreicht werden. ({6}) Das ist die verantwortungsvolle Politik, die wir den Bürgern gegenüber zu vertreten haben. Viele Angstproduzenten vom Dienst - einige Politiker wie neuerdings auch Zeitschriften, Illustrierte - arbeiten in Wirklichkeit in die eigene Tasche. Die einen wollen Stimmen fangen, und die anderen wollen Geld verdienen. ({7}) Illustrierte, Zeitschriften, die früher die Frau vermarktet haben, vermarkten heute den Umweltschutz. Das ist die Wahrheit. ({8}) Diese Leute treiben eine unverantwortliche Politik. ({9}) - Daß Sie im Chor gut rufen können, ist mir bekannt. ({10}) Daß Sie unangenehme Wahrheiten nicht ertragen können, ist mir auch bekannt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werde mich deswegen aber nicht darin beirren lassen, eine verantwortungsvolle Gesundheitspolitik hier vor dem Hohen Hause und vor der Bevölkerung darzustellen. ({11}) Ich wiederhole: Diese Leute treiben eine unverantwortliche Politik. Für die Schlagzeile beispiels5978 weise „Experten schlagen Krebsalarm" gab und gibt es bis zur Stunde keine Veranlassung. Mir als Bundesgesundheitsminister sind diese Experten nicht bekannt. Ich halte es für eine unverantwortliche Äußerung in Massenblättern, wenn so etwas gesagt wird. ({12}) Hinter uns liegt ein Jahrhundert stürmischer industrieller und technischer Entwicklung. Es hat uns einen hohen Lebensstandard ermöglicht. Es hat aber nicht nur Vorteile, sondern auch neue Probleme mit sich gebracht. Manches war nicht zu erkennen. Heute kann man Nanogramme und Pikogramme, d. h. Milliardstel- und Billionstelgramme einer Substanz messen. Aber allein dadurch, daß man Stoffe in dieser Kleinstgröße messen kann, werden sie noch nicht gefährlich. Bei den allermeisten Stoffen kommt es - wie überall - auf das Maß und auf die Dosierung an.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Bundesminister, darf ich noch einmal fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Heiner Geißler (Minister:in)

Politiker ID: 11000655

Nein.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Gilt das generell?

Dr. Heiner Geißler (Minister:in)

Politiker ID: 11000655

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer am Tag - das sage ich vielleicht jetzt auch in Ihre Richtung - drei Flaschen Kognak trinkt, kriegt mit Sicherheit Leberkrebs. - Ich hoffe, daß ich Sie mit dieser Bemerkung nicht ängstige. ({0}) Das hat etwas mit der Überdosierung zu tun. Bei der Verwendung der meisten chemischen Stoffe ist nicht ihre Existenz, sondern sind ihr Mißbrauch und die Nichteinhaltung der bestehenden Vorschriften das eigentlich Problematische. Die Erfindung der Ammoniaksynthese war eine großartige Erfindung und die Voraussetzung für die Schaffung moderner Düngemittel, ohne die wir heute den Hunger in der Welt nicht bekämpfen könnten. Aber es ist klar: Die Erfindung der Ammoniaksynthese hat auch die Salpetersäure ermöglicht, und mit der Salpetersäure kann man Sprengstoff herstellen. Mit dem Sprengstoff kann man Straßen oder Brükken bauen; man kann aber auch Bomben damit bauen und menschliches Leben vernichten. Nicht die Technik an sich ist gut oder böse, sondern immer das, was der Mensch daraus macht. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies gilt selbstverständlich genauso für alle modernen chemischen und technischen Produkte, die wir in unserer Industriegesellschaft verwenden müssen. Die Mehrheit der Bürger will den Fortschritt des modernen Lebens nicht missen. Oder glaubt jemand im Ernst, die Bürger sehnten sich nach den Krankheiten, der hohen Kindersterblichkeit und der niedrigen Lebenserwartung der sogenannten guten alten Zeit zurück? Es ist wahr: Einige dieser unverantwortlichen Angstproduzenten laufen so herum, als wollten sie auf Schädlingsbekämpfungsmittel und Hygiene verzichten. Das ist richtig. Aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt es zu Recht ab - gerade im Interesse der Gesundheit -, wieder mit Läusen, Flöhen und Wanzen leben zu müssen. ({2}) Wir sind keine blinden Fortschrittsgläubigen. Genausowenig sagen wir, daß Leistung alles ist. Wir sagen vielmehr, daß die Leistung eine moralische Komponente hat und daß derjenige, der zur Leistung fähig ist, verpflichtet ist, diese Leistung zu erbringen, weil wir anders denen nicht helfen können, die zur Leistung nicht fähig sind: den Behinderten, den Kranken, den Alten. Das ist ganz selbstverständlich. ({3}) Wir sind nicht der Auffassung, daß wir leben, um zu arbeiten, sondern wir vertreten die Auffassung, daß wir arbeiten, daß wir wirtschaften, um mit unseren Familien, mit unseren Kindern glücklich leben zu können. Auch wissen wir sehr wohl um die Grenzen des technischen Fortschritts. Wir wissen, daß nicht alles, was dem Menschen möglich ist, auch das dem Menschen Gemäße ist. Dies gilt für die Biotechnik. Dies gilt für die Gentechnologie. Ich habe dazu in meinem letzten Debattenbeitrag im Parlament das Notwendige gesagt. Wir wollen den medizinischen Fortschritt. Um noch einmal auf die Biotechnologie einzugehen: Wir wollen sie auch nutzen, um Ehepaaren, die keine Kinder bekommen können, ein eigenes Kind zu ermöglichen. Wir werden uns aber - dies sage ich, weil dieses Thema eingeführt worden ist - entschieden dagegen wehren, daß mit tiefgefrorenen Embryos und Leihmüttern üble Geschäfte gemacht werden. ({4}) Die soll es bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht geben. Die Politik kann Wissenschaft und Technik nicht ersetzen, sie muß darauf aufbauen. Aber das sage ich in allem Ernst an die Adresse der Opposition: Wer ein bestimmtes wissenschaftliches Ergebnis politisch vorwegnehmen oder manipulieren will, der handelt einfach unseriös. ({5}) Er verhindert medizinischen Fortschritt und leistet der Gesundheit einen Bärendienst. ({6}) Ich möchte auf diesem konkreten Hintergrund, weil die Bekämpfung des Krebses eine außerordentlich große Rolle spielt, noch einmal an die Länder appellieren, mit uns zusammen im erforderliBundesminister Dr. Geißler chen Umfang weitere Krebsregister einzuführen, und zwar auch als eine Alternative zur Meldepflicht, die im Zusammenhang mit den Krankheiten, die uns beschäftigen, immer wieder gefordert wird. Meldepflicht ist mit Sicherheit in den meisten Fällen kein richtiger Vorschlag. Wir brauchen aber zur Bekämpfung des Krebses, zur epidemiologischen Aufarbeitung dieser in den Ursachen noch nicht erkannten Krankheit Krebsregister. Also sind im erforderlichen Umfange weitere Krebsregister einzurichten, während wir in Berlin beim Bundesgesundheitsamt die zentrale Sammelstelle dieser dann anonymisierten Daten einrichten wollen. Lassen Sie mich noch etwas zu dem Thema sagen, das völlig zu Recht in den vergangenen Monaten eine Rolle gespielt hat, nämlich zum Thema der gefährlichen Stoffe, nicht am Arbeitsplatz und nicht im Freien, sondern in den Wohnräumen. Das ist ein Problem, das gelöst werden muß. Nur bin ich der Auffassung, daß wir die Gefahren durch gefährliche Stoffe nicht dadurch bannen, daß wir je nach Aufruf in der Öffentlichkeit heute ein Wohnzimmer- oder Küchengesetz, morgen eines für Autoinnenräume und übermorgen eines für weitere Spezialitäten erstellen. Das gemeinsam von allen Parteien getragene Chemikaliengesetz bietet das Instrumentarium für notwendige Maßnahmen. ({7}) Sie wissen - ich habe dies in der Öffentlichkeit schon gesagt -, daß die Gefahrstoffverordnung auf der Grundlage des Chemikaliengesetzes, die auf Umweltstoffe, Arbeitsstoffe und Giftstoffe zielt, in Vorbereitung ist, und zwar lange bevor die öffentliche Diskussion darüber begonnen hat. Diese Novelle wird noch in diesem Jahr vorgelegt werden. Zur Lösung steht hier zunächst die Frage des Formaldehyds an, und zwar unabhängig davon, ob Formaldehyd in die Gefahrenklasse 3 - d. h. als krebserzeugend - eingestuft wird oder nicht. Auch dies hängt davon ab, wie die wissenschaftlichen Ergebnisse ausfallen, und kann nicht politisch entschieden werden. Unabhängig davon müssen wir schon aus toxikologischen Gründen, um Räume auszufüllen, die rechtsfrei geblieben sind, folgende Maßnahmen vorbereiten: Maßnahmen der Gefahrstoffverordnung, die, wie gesagt, bis zum Ende des Jahres dem Bundesrat zugeleitet werden soll. In dieser Gefahrstoffverordnung sollen die Probleme gelöst werden, die angesprochen worden sind, vor allem was den Import von Gebrauchsgegenständen anbelangt. Dazu gehört auch das Verbot der Verwendung von Harnstoff-Formaldehyd-Harzortschäumen in Innenräumen, also die Verwendung insbesondere zur Isolierung oder beim Vertrieb von Sprays im Hobbybereich; Beschränkungen für Erzeugnisse, die in Innenräumen verwendet werden und zu einer Raumluftkonzentration von mehr als 0,1 ppm Formaldehyd führen können; Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung für Erzeugnisse und Bedarfsgegenstände, mit denen Menschen in Berührung kommen, also Schutz der Allergiker. Ich nenne Ihnen diese konkreten Punkte. Wir werden weitere Verordnungen erlassen mit Maßnahmen bei Arzneimitteln und medizinischen Geräten. Das heißt, wir werden diese Lücken füllen, die ich vorgefunden habe und die notwendigerweise gefüllt werden müssen, um diese Gefahren vorbeugend zu hemmen und zu verhindern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe es als meine Pflicht angesehen, hier einmal darzulegen, wie die Bundesregierung die gesundheitliche Situation vom Grundsätzlichen her beurteilt, und einige konkrete Maßnahmen anzukündigen, die anstehen, um konkrete Probleme zu lösen. Aber ich wiederhole: Die gesundheitliche Lage der Nation ist besser als früher. Sie ist auch besser, als professionelle Pessimisten den Menschen einreden wollen. ({8}) Im übrigen: Eine andere Feststellung wäre j a eine Bankrotterklärung einer 13jährigen Gesundheitspolitik der Sozialdemokraten. Ich glaube, daß Sie sich in allem Ernst nicht an dieser Hysterie beteiligen sollten. Sie ist auch unberechtigt. ({9}) Sie ist unberechtigt auch im Interesse der Arbeitnehmer. Ich verzichte darauf, hier diesen Zusammenhang noch einmal gesondert darzustellen. Diese Diskussion müssen Sie in Ihren eigenen Reihen austragen. ({10}) Was wir hier in Teilen der öffentlichen Debatte erleben, ist etwas anderes. Wir kommen nämlich auf die grundsätzliche Problematik des Zweifels am Fortschritt. Die Flucht in einfache und radikale Antworten auf komplexe Fragen ist ein Grundwiderspruch unserer Zeit. ({11}) Es ist so, daß die Probleme komplexer werden, daß wir aber in der Politik Gefahr laufen oder zumindest in Versuchung geraten, auf komplexe Probleme pauschale, simple, einfache Antworten zu geben, ({12}) und daß wir infolgedessen die Verpflichtung haben, in diesen wichtigen Fachfragen, in diesen wichtigen grundsätzlichen Fragen differenzierte Antworten zu geben. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Flucht in einfache und radikale Antworten auf komplexe Fragen ist bei manchen eine Anklage gegen das System. Das alles muß überwunden werden. Was heute Gesundheit und ihre Risiken anlangt, das wissen wir. ({14}) Wir haben die Aufgabe, innerhalb dieser Industriegesellschaft die notwendigen differenzierten Antworten zu geben, aber keine pauschalen Antworten, die den Menschen Angst machen und die nichts anderes sind als Anker, an denen Protestbewegungen ihre politischen Ziele festmachen, nichts anderes als emotionale Winde, die ihre Segel füllen sollen. ({15}) Ich nehme die Sorgen um den Verfall der Natur ernst. Aber wir können natürlich auch die Frage stellen, ob der mit dieser Angstmacherei einhergehende Verfall der politischen Zivilisation nicht ebenso gefährlich ist, weil er uns lähmt, mit jenen Gefahren wirklich fertigzuwerden, und weil hier neue Gefahren für das Gemeinwesen heraufbeschworen werden. ({16}) Mit Verfall der politischen Zivilisation meine ich die kollektive Depression und die negativen Utopien, die sich in vielen Köpfen eingenistet haben, ({17}) den Verlust aller Maßstäbe im historischen wie im internationalen Vergleich, der zu einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland führt; eine emotionale, hypermoralische und pseudoreligiöse Aufladung der Politik, die die politische Kultur verdirbt und die Lösung von Sachfragen verhindert. ({18}) Niemand sieht die Zukunft als eine Fortschreibung der Vergangenheit. Der wissenschaftliche und der technische Fortschritt, den wir erlebt haben und von dem wir leben, macht aber unser Leben leichter. Der technische Fortschritt ist auch für die Arbeitnehmer nicht ein Fluch gewesen, sondern hat zu einer großen Befreiung der Arbeitnehmer in der Arbeitswelt geführt. Dies muß auch in Zukunft so bleiben. ({19}) Die Aufgabe ist heute schwieriger. Aber es bleibt uns keine andere Wahl, als fortzuschreiten im Sinne des Fortschritts in eine bessere Zukunft. Das kann nur dann gelingen, wenn wir unser Handeln an einigen Maximen ausrichten: Ein romantischer Rückfall und ein Ausstieg aus der parlamentarisch verfaßten Gesellschaft, auch unserer Industriegesellschaft, hätte für die Menschen ebenso katastrophale Folgen wie ein blinder Fortschrittsglaube. ({20}) Soziale Sicherheit, hoher Lebensstandard, persönliche Freiheit gibt es nicht gegen die, sondern nur in der Industriegesellschaft und innerhalb der parlamentarischen Demokratie und nicht außerhalb. ({21}) Im Grunde genommen ist es auch eine Auseinandersetzung zwischen Rationalität und Emotionalität. Sie fahren auf der Emo-Schiene. Aber damit erweisen Sie den Bürgern keinen Dienst. Wir brauchen nicht nur ein heißes Herz, sondern vor allem einen kühlen Verstand, um mit den Widersprüchen unserer Zeit fertig zu werden. Wir brauchen deshalb die Koalition einer kompetenten Wissenschaft mit einer verantwortlichen Politik. Nicht eine Mobilisierung der Gefühle und der Emotionen, sondern die Mobilisierung von Wissen und Mut zu sachgerechten Entscheidungen helfen uns jetzt weiter, in der Gesundheitspolitik und in der Umweltpolitik. ({22}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, genauso grundsätzlich müssen wir die gesellschaftspolitischen Fragen angehen. Wir haben in dieser Haushaltspolitik und bei unseren Haushaltsentscheidungen eine wichtige, grundsätzliche Weichenstellung getroffen, nämlich die Weichenstellung zugunsten einer Verbesserung der Situation unserer Familien. Es ist in diesem Zusammenhang sehr oft gesagt worden, die materiellen, die finanziellen Leistungen, die wir jetzt vorschlagen, mit der Anerkennung der Erziehungsjahre, mit Sicherheit eine Größenordnung von zusätzlich 10 Milliarden DM - dies hat es in der Nachkriegsgeschichte im Rahmen des Familienlastenausgleichs noch nicht gegeben -, dies sei nicht alles, noch nicht einmal das Entscheidende. Dies mag so sein, und hier ist im Prinzip natürlich auch etwas dran. Nur muß der Staat sozusagen den Beweis für seine richtige grundsätzliche Bewertung der Familie dadurch erbringen, daß er konkrete haushalts- und steuerpolitische Entscheidungen trifft. Davor darf er sich nicht drücken. Diese Entscheidungen haben wir getroffen; sie sind dargestellt worden. Für die Bundesregierung ist die Familie die wichtigste Gemeinschaft; sie ist aber - das möchte ich hinzufügen - ein unantastbarer Raum der "Freiheit gegenüber Staat und Gesellschaft. ({23}) In allen Zeiten - ({24}) - Daß Sie sagen, es seien Phrasen, beweist, daß ich mit diesem Ansatzpunkt in der kritischen Auseinandersetzung mit Ihnen hier fortfahren muß; denn in allen Zeiten totalitärer Herrschaft ist die Familie immer auch der freiheitliche Kern des Widerstandes gewesen. ({25}) Nicht ohne Grund haben alle totalitären Herrschaftssysteme, von den Nazis bis zu den KommuBundesminister Dr. Geißler nisten, versucht, die Familie und ihre Strukturen zu zerstören, das Selbstverständnis der Familie mit ihren personalen Bindungen und Bezügen, dem gegenseitigen Vertrauen, der Liebe, der Geborgenheit, der personalen und der sozialen Verantwortung und der Partnerschaft. Das diesem Selbstverständnis zugrunde liegende Menschenbild ist eine Herausforderung für alle politischen Doktrinen, bei denen das gesellschaftliche oder staatliche System wichtiger ist als der Mensch. Deswegen ist die Familienpolitik für uns etwas, was über reine Sozialpolitik weit hinausgeht. An dieser Stelle gibt es im übrigen auch keine Brücke zum Marxismus. Die Sozialdemokraten diskutieren im Moment eine Neuauflage des Godesberger Grundsatzprogramms in der Grundwertekommission, eine Überholung des Orientierungsrahmens '85. Sie werden bei dieser wichtigen und notwendigen Diskussion - lesen Sie Ihre eigenen Dokumente nach! - um eine Neubewertung oder zumindest um eine Stellungnahme zu dieser grundsätzlichen Frage der Familie, dem Verständnis der Familie nicht herumkommen. ({26}) Die gesamte politische Philosophie Europas, ({27}) von Aristoteles über Thomas bis zu Montesquieu, stellte den Menschen und seine natürliche Gemeinschaft, die Familie, und deren Wertorientierung vor Staat und Gesellschaft. ({28}) - Ich weiß nicht, warum Sie sich dagegen sträuben, daß wir über die Frage des Menschenbildes und der Politik, die einem Menschenbild zugrunde liegt, hier im Bundestag diskutieren; denn je nachdem, welches Menschenbild wir oder Sie haben, ({29}) wird sich dies praktisch in der Politik auswirken. Das ist doch ganz selbstverständlich. Wenn ich jetzt sage, daß erst Hegel den Bruch brachte, ({30}) dann hat das etwas mit Ihrer politischen Philosophie zu tun; denn nach Hegel läuft die Geschichte auf ein Ziel zu, nämlich die vollkommene Verwirklichung des objektiven Geistes in der Gestaltung des Staates, und Mensch und Familie werden zum bloßen Teil des Staates; personale Einzigartigkeit und Verantwortung werden dem Menschen und der Familie abgesprochen, und sie werden auf den Staat übertragen. ({31}) Von Hegel spannt sich ein Bogen zur Staatsphilosophie von Carl Schmitt und genauso zu Marx und Lenin, bei denen an die Stelle des Obrigkeitsstaates das totale Gesellschaftssystem getreten ist, dem der Mensch und die Familie untergeordnet werden. ({32}) - Daß Sie die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge verkennen, wundert mich überhaupt nicht. Die habe ich bei Ihnen auch nicht vorausgesetzt. Im Moment unterhalte ich mich mit den Sozialdemokraten. ({33}) Auf diesem Hintergrund wird es interessant sein, welche grundsätzliche Stellung die SPD der Familie geben wird. Immerhin ist es ja so, daß in ihrer Theoriezeitschrift „Die Neue Gesellschaft" in den 70er Jahren über diesen Stellenwert philosophiert und auch geschrieben wurde. In der „Neuen Gesellschaft" habe ich in den 70er Jahren - in der damaligen familienpolitischen Auseinandersetzung - gelesen, daß die Familie der Ort erster Verformung und Beschädigung des Potentials der geistigen und moralischen Kräfte sei, die das menschliche Wesen unverzüglich und vom ersten Lebenstage an erfährt. Nach diesen Ausführungen - die man beliebig ergänzen könnte - ist die Familie der Ort, an dem schon in der Kindheit die geistige und seelische Verkrüppelung der Menschheit vollzogen wird, die sich von einer Generation auf die nächste fortpflanzt. Frau Fuchs, was in den Familienberichten der alten Regierung stand, ist Ihnen j a bekannt: Die Erziehung der Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe besonderer Art und Bedeutung; die Wahrnehmung dieser Aufgabe überträgt unsere Gesellschaft Familien und außerfamiliären pädagogischen Einrichtungen. ({34}) Im ersten Entwurf der damaligen Bundesregierung zur Regelung des Rechts der elterlichen Sorge hatte es geheißen: Der junge Mensch muß aus der Fremdbestimmung der Eltern befreit werden. Sie verstehen jetzt vielleicht, warum ich den philosophischen Zusammenhang hergestellt habe: ({35}) Ich stelle fest, daß Vorstellungen, wie sie dort formuliert worden sind - und ich richte an Sie die Frage, was Sie in der Grundwertekommission und bei der Erarbeitung des neuen Godesberger Grund5982 Satzprogramms zu dieser Problematik sagen -, daß solche Begriffe und solche Theorien im Widerspruch zu der Auffassung unserer Verfassung und zum Verständnis unserer Freiheit stehen; sie haben in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung meiner Auffassung nach nichts verloren. ({36}) Wir wissen ja, daß dies weit in die Bildungspolitik hineinreicht. Ich halte es, um dies nebenbei zu sagen, im Verhältnis von Familie und Schule ebenfalls für einen Ansatz totalitären Denkens, wenn unter dér Überschrift der Konflikttheorie und der Konfliktpädagogik in manchen Schulen, die unter der Verantwortung sozialdemokratischer Kultusminister stehen, sozialistische Pädagogen darangehen, die Kinder gegen die eigenen Eltern aufzuwiegeln. ({37}) Eine Relativierung des Stellenwerts der Familie und die totale Kollektivierung und Verstaatlichung der Erziehung widersprechen jedenfalls dem Grundgesetz und seinem Freiheitsverständnis. ({38}) Sie widersprechen seinem Freiheitsverständnis! Freiheit ist für uns nicht - wie es Willy Brandt einmal klassisch als sozialistisches Freiheitsverständnis formuliert hat - das Ergebnis gesellschaftlicher Leistung, sondern personal verantwortete Freiheit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung in der Gemeinschaft, das sind die klassischen Tugenden und Verhaltensweisen, wie sie in der Familie erfahren und erlernt werden können und wahrscheinlich anderswo nicht. Deswegen bedeutet für uns die Familie auch kein Hindernis bei der Emanzipation der Frau, wie es im Orientierungsrahmen '85 bei der SPD noch dargestellt worden ist. Die Familie ist für uns der wichtigste Ort der Gleichberechtigung und der Partnerschaft, aber auch der Ort individueller Geborgenheit, der Sinnvermittlung und der freien Entfaltung in der Gemeinschaft. Bildung kann für uns infolgedessen nicht Indoktrination bedeuten, sondern hat die Aufgabe, den Menschen zu einem Leben in Selbstverantwortung und Mitverantwortung zu befähigen. ({39}) Deswegen widersprecht es - ich wiederhole das - unserem Verständnis von Bildung, ({40}) daß sozialdemokratische Kultusminister es mit ihrer Verantwortung auch gegenüber der Familie für vereinbar halten, daß sie Eltern zwingen, die Kinder in der Schule gegen ihr Gewissen der Erziehung von Extremisten anzuvertrauen. ({41}) Dies hat etwas mit Gewissensfreiheit zu tun. Wir haben den Artikel 4. Dort steht in Abs. 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Die Christlich Demokratische Union achtet die Gewissensfreiheit, einen Verfassungsgrundsatz. Dieser Grundsatz ehrt die Verfassung und diesen Staat. ({42}) Wir sind das einzige Land, in dem diese Gewissensfreiheit der Wehrdienstverweigerer in der Verfassung verankert ist. Wenn aber die Gewissensfreiheit einen so hohen Rang hat, daß junge Menschen das Verfassungsrecht bekommen, sich gegen eine allgemeine Staatsbürgerpflicht zu wenden und sich davon befreien lassen zu können, dann muß diese Gewissensfreiheit auch im Rahmen einer anderen staatsbürgerlichen Pflicht, nämlich der allgemeinen Schulpflicht, gegenüber sozialdemokratischen Kultusministern gelten, ({43}) die mit dem Mittel der allgemeinen Schulpflicht Eltern gegen ihr Gewissen zwingen wollen, ihre Kinder dem Unterricht von Neonazis oder Kommunisten anzuvertrauen. Dies muß einmal gesagt werden. ({44}) Ich stelle hier den Zusammenhang her zwischen konkreten politischen Aussagen und Entscheidungen und dem politischen Hintergrund und Menschenbild, auf dem eine Politik aufgebaut ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will nicht auf die Einzelheiten der gestrigen Debatte zurückkommen. Ich möchte hier nur noch kurz auf die Rede des Kollegen Apel eingehen, der stolz vermerkt hat, er habe während seiner Zeit als Finanzminister dem Bundestag vier Haushalte vorgelegt. Ich will jetzt nicht sagen, das waren vier zuviel, obwohl auch das die Wahrheit ist. Er hat gesagt - und deswegen komme ich auf diesen Punkt zurück -: „Dem Staat darf das Kind des Millionärs" - und das hat er als Vorwurf gegen die Christlich Demokratische Union, gegen die Christlich-Soziale Union und gegen die Freien Demokraten gewendet - „nicht zweieinhalbmal soviel wert sein wie das Kind des Durchschnittsverdieners." ({45}) Diesem Satz zolle ich Beifall. Dieser Satz ist absolut richtig. Aber Herr Apel hat auch hier bewiesen, daß er nun einmal keine glückliche Hand hat, die Fakten mit der Wahrheit in Einklang zu bringen. Er hat nämlich ganz einfach weggelassen - auch ein Vertreter der Halbwahrheiten, die dann zu einer totalen Lüge und Unwahrheit werden -, daß der Familienlastenausgleich aus Kindergeld und Kinderfreibeträgen besteht. Für die Familien ist allein interessant, was unter dem Strich für sie herauskommt, also was Kinderfreibetrag und Kindergeld zusammen in Mark und Pfennig im Portemonnaie des einzelnen bedeuten. Er hat eine politische EntBundesminister Dr Geißler scheidung schlechthin, man kann nur sagen: unterschlagen; denn ich kann bei ihm nicht unterstellen, daß er dies nicht gewußt hat. Er hat nämlich unterschlagen, daß die Christlich Demokratische Union, die Christlich-Soziale Union und die FDP eine Entscheidung durchgesetzt haben, zu der Sie nicht in der Lage gewesen sind, obwohl Sie das vielleicht partiell auch gewollt haben - Frau Huber z. B. -, daß wir nämlich in einer Zeit knapper Kassen einem Hilfsarbeiter oder einem, der durchschnittlich verdient, nicht zumuten können, daß man ihm das Kindergeld kürzt, was Sie 1981 getan haben, ({46}) daß wir aber sehr wohl einem, der brutto 62 000 DM und mehr verdient, für eine befristete Zeit zumuten können, daß er auf 30 DM Kindergeld verzichtet. Das haben wir getan. Wir haben Einkommensgrenzen beim Kindergeld eingeführt. ({47}) Im übrigen möchte ich Ihnen vorschlagen: Überprüfen Sie Ihre sonstige Sozialpolitik, was Lernmittelfreiheit anbelangt und Schülerbeförderung, wichtige soziale, bildungspolitische Leistungen z. B. in unseren Ländern. Ich bin aber auch hier der Auffassung, daß wir von einer Politik der Gießkanne Abschied nehmen sollten. Leute, die ein hohes Einkommen haben = wir als Abgeordnete und ich als Minister haben ein hohes Einkommen; ich habe drei Kinder -, können die Schulbücher und die Fahrtkosten für ihre Kinder aus der eigenen Tasche bezahlen. ({48}) Ich brauche mir so etwas nicht vom Staat finanzieren zu lassen. Deswegen haben wir diese Entscheidung getroffen. Deswegen kann überhaupt nicht die Rede davon sein, daß das, was Herr Apel gestern gesagt hat, der Wahrheit entspricht: daß ein Millionär das Zweieinhalbfache eines Arbeitslosen erhält. Bei unserer Regelung wird einem Arbeitslosen mit drei Kindern im Monat 505 DM Kindergeld einschließlich des Kindergeldzuschlags gezahlt. Der Spitzenverdiener - jetzt rede ich noch nicht einmal vom Millionär; bei dem wäre es genauso - mit 280 000 DM Einkommen im Jahr erhält demgegenüber nur 260 DM Kindergeld im Monat. Das hätte Herr Apel doch wissen müssen. Zusammen mit der Steuerermäßigung durch den Kinderfreibetrag in Höhe von 348 DM ergibt das unter dem Strich 608 DM. ({49}) Also: Der Millionär bekommt 260 DM Kindergeld und 348 DM Steuerfreibetrag und der Arbeitslose, 505 DM Kindergeld. ({50}) Ich möchte gerne einmal wissen, wo das Zweieinhalbfache des Herrn Apel geblieben ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Apel hat hier schlicht die Unwahrheit gesagt. ({51}) Es war eine wichtige Entscheidung, die Kinderfreibeträge einzuführen, auch in der familienpolitischen Diskussion. Es ist richtig, daß die CDU der Abschaffung der Freibeträge zum 1. Januar 1975 zugestimmt hat, aber doch nur aus einem Grunde, den wir auch im Bundesrat in einer Entschließung mehrheitlich beschlossen haben. Wir haben gesagt: Die Abschaffung der Kinderfreibeträge ist sozialpolitisch nur zu verantworten, wenn das Kindergeld jährlich dynamisiert wird. Sie wissen doch, was daraus geworden ist. In den acht Jahren Ihrer Regierungsverantwortung ist da praktisch nichts passiert. Durch die Einführung der Kinderfreibeträge erreichen wir wieder eine Dynamisierung des Familienlastenausgleichs. Wenn 50 % der Arbeitnehmer heute in die Progression hineinwachsen, dann bedeutet das, daß für über 50 % der Arbeitnehmer, wenn sie Kinder haben, durch die Kinderfreibeträge eine Erhöhung des Familienlastenausgleichs bewirkt wird. Im übrigen: Was soll die sozialpolitische Diskussion im Zusammenhang mit dem Freibetrag? Sie wissen ganz genau, daß sich der Freibetrag so auswirkt. Aber der Mann, der ein höheres Einkommen hat - auch der Facharbeiter, der ein höheres Einkommen als der Hilfsarbeiter hat -, bekommt natürlich mehr auf Grund des Freibetrages. Aber er zahlt vorher auch mehr Steuern. Das müssen Sie doch dazusagen. ({52}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden mit dieser ' Sozialdemagogie keinen Erfolg haben. Wir haben eine klare familienpolitische Konzeption erarbeitet. Die Bundesregierung hat am 3. Juli 1984 mit dem Familienpaket, mit der neuen Familienpolitik eine Verbesserung mit dem größten Finanzvolumen für die Familien seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. ({53}) Wir werden am 1. Januar 1985 das Kindergeld für die 18- bis 21jährigen, die keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben, wieder einführen. Für viele der jungen Menschen und ihre Eltern wird damit eine Benachteiligung beseitigt, die ihnen sozialdemokratische Familienpolitik zugefügt hat. ({54}) Wir werden ab 1. Januar 1986 eine grundsätzlich neue Weichenstellung in der Familienpolitik herbeiführen, nämlich durch die Einführung eines Erziehungsgeldes in Höhe von 600 DM pro Monat, zunächst für zehn Monate, und ab 1988 für ein Jahr, und zwar für alle Mütter und Väter. Wir nehmen damit Abschied von dem sozialdemokratischen Zweiklassenrecht, daß nämlich nur eine bestimmte Gruppe von Frauen das Mutterschaftsgeld bekommt und die andere nicht. ({55}) Ich werde mich - dies ist noch nicht entschieden - dafür einsetzen, daß die Arbeitsplatzgarantie, die heute beim Mutterschaftsgeld vorhanden ist, auf das Erziehungsgeld ausgedehnt wird. Ich will Ihnen sagen, die Entscheidung von Norbert Blüm, der Beschluß des Kabinetts, befristete Arbeitsverträge zu ermöglichen, ist eine hilfreiche Entscheidung, im übrigen nicht nur für Wehrpflichtige, sondern vor allem für Mütter, die ein Baby bekommen haben, denn der Unternehmer ist jetzt leichter in der Lage, eine Ersatzkraft einzustellen. Der Kinderfreibetrag wird, wie bereits gesagt, auf 2 484 DM erhöht. Als völlig neue Leistung innerhalb des Familienlastenausgleichs führen wir einen Kindergeldzuschlag bis zur Höhe von 45 DM für alle Familien ein, und zwar zusätzlich zum Kindergeld, die vom Steuerfreibetrag nicht oder nicht in voller Höhe profitieren. Das bedeutet z. B. beim Kindergeld für das erste Kind nahezu eine Verdoppelung von jetzt 50 DM auf künftig 95 DM, und auch jedem weiteren Kind kommen diese mindestens 45 DM zugute. Wir werden das Baukindergeld verbessern. Allein dies alles zusammengenommen, was ich gerade gesagt habe, bedeutet ein Mehr im Familienlastenausgleich in der Größenordnung von über 8 Milliarden DM. Ich begrüße außerordentlich, daß der Bundeskanzler gestern noch einmal klar erklärt hat, daß diese Koalition auch in dieser Legislaturperiode die Anerkennung der Erziehungsjahre in der Rentenversicherung beschließen will. ({56}) Damit - ich darf dies einmal auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion sagen - werden wichtige, entscheidende Forderungen der Christlich Demokratischen Union zusammen mit den Freien Demokraten - was ich dankbar begrüße - realisiert. Die Einführung des Erziehungsgeldes, die Anerkennung der Erziehungsjahre sind wichtige Elemente unserer Familienpolitik gewesen, die früher keine Chance gehabt haben, weil die parlamentarischen Mehrheiten dafür nicht vorhanden gewesen sind. Sie sind gleichzeitig ein Beitrag zur Gleichberechtigung, zu mehr Wahlfreiheit für die Frauen. Diese familienpolitischen Entscheidungen- schreiben niemandem vor, weder dem Vater noch der Mutter, welche Aufgabe und welche Rolle sie übernehmen sollen. Wir wollen mit diesen Entscheidungen in der Familienpolitik - eine große Entscheidung angesichts knapper Kassen - erreichen, daß diejenigen, die sich für die Aufgabe in der Familie, für die Erziehung der Kinder entscheiden, endlich von ihrer massiven Benachteiligung befreit werden, in der sie sich bis auf den heutigen Tag noch befinden. ({57}) Mit dieser grundsätzlichen Weichenstellung, glaube ich, haben wir einen entscheidenden Beitrag auch zum sozialen Frieden geleistet. Die Kürzungen, die vorgenommen werden mußten, waren im übrigen auch Kürzungen, die einen wichtigen Beitrag für die kommenden Generationen geleistet haben, denn Abbau der Staatsverschuldung bedeutet gleichzeitig eine Verringerung der Ausbeutung der nach uns kommenden Generationen. ({58}) Dies ist ebenfalls im Zusammenhang mit unserer Aufgabe zu sehen, einen Grundwiderspruch unserer Zeit aufzuheben und zu lösen, einen Grundwiderspruch, der darin besteht, daß die Interessen der Gegenwart gegenüber denen der Zukunft dominieren. Wir haben durch unsere Familienpolitik einen entscheidenden Beitrag geleistet. Ich bin davon überzeugt, daß das Parlament in seiner Mehrheit den Vorschlägen der Bundesregierung folgen wird, daß die Interessen der Zukunft, die Interessen unserer Kinder und der jungen Menschen wieder ein größeres Gewicht bekommen gegenüber den Interessen der Gegenwart, als das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. ({59})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Geißler, Ihre Rede, ({0}) bei der Sie sich' zum großen Teil auch als Philosoph benehmen wollten, hatte auch eine Passage zum Menschenbild. Ich muß sagen: Wer das Menschenbild in unserer Gesellschaft lädiert sieht und nicht gleichzeitig Stellung z. B. zum Einfluß der neuen Medien auf die Familie nimmt - die neuen Medien überwuchern die Familie ja - und wer nicht die Erfahrungen beispielsweise aus Amerika mit in diese Debatte einbringt, wo Familien durch die Vielzahl der Medien zerstört wurden, der sollte meiner Auffassung nach nicht über die Familie schlechthin reden. ({1}) Wer die technisch-ökonomische Umwelt völlig extrapoliert, völlig aus der Diskussion läßt, sollte nicht die Familie preisen. ({2}) Meine Damen und Herren, mancher von uns wundert sich ohnehin, wenn Herr Geißler ein positives Menschenbild vermitteln will. Wer den politischen Kampf als Kriegshandwerk betreibt, sollte nicht über das Menschenbild reden. ({3}) Ich habe keine Veranlassung, im politischen Raum die GRÜNEN besonders zu verteidigen; ich muß nur sagen: Herr Hennig und Herr Geißler, wie Sie in den letzten Wochen mit diesem politischen Gegner umgesprungen sind, zeigt kein vorbildliches Menschenbild. ({4}) Hier spielt das Thema Glaubwürdigkeit herein. ({5}) Herr Geißler, Sie haben sich darüber beklagt, es sei eine Welle der Hysterie bei der Auseinandersetzung um Formaldehyd durch das Land gegangen. Sie haben erklärt, es sei ja nicht mehr rational, wie technische, ökonomische Prozesse bewertet würden. Haben Sie sich einmal überlegt, warum die Öffentlichkeit so hysterisch reagiert? Haben Sie einmal überlegt, warum diese Bundesregierung - was die Gesundheitsgefährdungen anbetrifft - so wenig Glaubwürdigkeit hat und so wenig zu einer rationalen Diskussion beitragen kann? ({6}) Das heißt: Ihre Unfähigkeit, sich mit Andersdenkenden hinsichtlich derartiger Probleme fair auseinanderzusetzen, führt dann natürlich auch zu Reaktionen, die die Probleme mehr verdecken als lösen. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zu Ihren Ausführungen zur Familienpolitik machen. Interessant war ja Ihr Beispiel zum Kindergeld. Wir haben an dieser Stelle oft gesagt: Ihre Reform führt dazu, daß der Reiche unter Einschluß der steuerlichen Regelung mehr Kindergeld bekommt als der Arme. Ihr Beispiel war ja auch schlagend: Der Haushalt, der 280 000 DM bezieht, bekommt unter Einschluß der steuerlichen Regelung mehr Kindergeld als der fünfköpfige Arbeitslosenhaushalt, den Sie selbst als Beispiel ausgewählt haben. Wer 280 000 DM verdient, bekommt über 600 DM, der fünfköpfige Arbeitslosenhaushalt bekommt 505 DM. Das ist Ihre Strategie in diesem Zusammenhang. ({7}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eines hinzufügen. In diesen Wochen wird in vielen Familien diskutiert: Was soll unsere Tochter, unser Sohn jetzt machen? Wir haben keinen Ausbildungsplatz; ({8}) wir haben keine Chance für die nächsten Jahre. - Für diese Probleme der Familien hat die Bundesregierung nichts anderes übrig als das, was Frau Wilms ständig macht: Sie warnt vor einer Hysterie bzw. vor dem Gerede über eine Ausbildungskatastrophe. Angesichts einer solchen Situation sollten Sie in der politischen Diskussion das Wort von der Kinderfreundlichkeit und Familienfreundlichkeit nicht in den Mund nehmen. ({9}) Denn wo ist die Zukunftssicherheit in den Familien, was die künftigen Lebensmöglichkeiten der jungen Menschen betrifft? Das heißt: Die Arbeitslosigkeit, die Massenarbeitslosigkeit - so vieler auch junger Menschen - hat die Familien außerordentlich belastet. Wir haben gestern vom Bundeskanzler und heute von Herrn Dregger gehört, wir seien in einem Wirtschaftsaufschwung, ({10}) jetzt gehe es aufwärts. Ich frage mich angesichts der Realität wirklich, ob Sie noch Kontakt zu den Familien und ihren Ängsten haben und mit den Familien sprechen. ({11}) Seit Ihrem Amtsantritt sind 400 000 Menschen zusätzlich arbeitslos geworden. Sie sagen: „Den Aufschwung wählen". Wird Ihnen nicht selbst klar, wieweit Sie sich mit dieser Art von Debatte, wir hätten einen Wirtschaftsaufschwung, von den Empfindungen und Gefühlen der Menschen entfernen? ({12}) Seit Januar, mitten in dem, was Sie Aufschwung nennen, sind zusätzlich 100 000 Menschen arbeitslos geworden, in einer Phase, in der Sie sagen, Sie hätten Ihre Wirtschaftspolitik praktisch realisiert. Was mich beunruhigt, was uns beunruhigt und was viele Betroffene, Verängstigte beunruhigt: Wir haben jetzt seit etwa zwei Jahren eine leichte Wirtschaftsbelebung gehabt. ({13}) Trotzdem wurde der Sockel von zweieinhalb Millionen Arbeitslosen überhaupt nicht tangiert. Das ist die Situation, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. ({14}) - Meine Damen und Herren, machen Sie sich doch bei all Ihren Zwischenrufen einen Moment klar: Ich habe jetzt nicht über eine Zahl gesprochen, sondern darüber, daß hinter dieser Zahl 2,5 Millionen Menschen und - angesichts der Durchschnittsgröße der Haushalte - weitere 7,5 Millionen Menschen stecken. Das heißt: 10 Millionen Menschen sind zu diesem Zeitpunkt von der Arbeitslosigkeit betroffen; aber Sie reden vom Aufschwung. ({15}) Das ist die Situation, die uns hier betreffen müßte und betroffen machen müßte. Die Regierung hat - heute durch Dregger als Fraktionsvorsitzenden und gestern durch den Bundeskanzler - schon dargestellt, daß sie, was den Arbeitsmarkt betrifft, keinen akuten wirtschaftspo5986 litischen Handlungsbedarf sehe. Die Regierung will also - das sieht man auch am Etat - nichts tun. ({16}) „Nichts" ist dabei noch außerordentlich zurückhaltend ausgedrückt. Im Grunde verschärft die Bundesregierung durch ihre Haushaltspolitik die Probleme am Arbeitsmarkt. Durch nichts wird das deutlicher als durch die unglaubliche Politik gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit; das ist die Versicherungsgemeinschaft der Arbeitnehmer. Zuerst wird durch Leistungskürzung für Arbeitslose und durch Beitragserhöhung gesamtwirtschaftlich Kaufkraft entzogen. Das heißt: Nachfrage wird abgebaut - und das mitten in einer konjunkturell noch sehr labilen Lage. Anschließend sammelt man die Überschüsse, die dadurch entstehen, ein und stellt sie in den Etat für das nächste Jahr ein. Statt dieses Geld also für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu verwenden, vereinnahmt man es beim Etat. Das nennt man dann Sparen. Meine Damen und Herren, das ist nicht Sparen, sondern das ist Vergeudung menschlicher Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit. ({17}) Übrigens scheint mir das ein Aspekt der Arbeitslosigkeit zu sein, der überhaupt nicht genügend diskutiert wird, nämlich daß man angesichts einer so hohen Arbeitslosigkeit eben nicht spart, wenn man Aktionsprogramme gegen die Arbeitslosigkeit ablehnt, sondern mit dem eigentlichen Kapital unseres Landes schlecht wirtschaftet, nämlich mit dem Leistungsvermögen seiner Bürger. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Jugendlichen. Ich habe schon erwähnt: Frau Wilms, Herr Blüm, alle wiegeln ab. Alle sagen: Was die SPD da sagt, Ausbildungskatastrophe, das stimmt nicht. ({18}) Fragen Sie doch einmal die Menschen, die Betroffenen im Saarland, in Emden, in Gelsenkirchen oder in Bremen und zunehmend j a auch im Süden, in Nürnberg oder in Ulm, ob es, wenn sie nach 50 oder 70 Bewerbungen jetzt, Mitte September, keinen Ausbildungsplatz haben, für sie und die Familie etwas anderes als eine Katastrophe ist. ({19})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da Sie Gelsenkirchen erwähnt haben, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß im Arbeitsamtsbezirk Gelsenkirchen im vergangenen Jahr das Angebot an Lehrstellen größer war als die Nachfrage und dies ein besonderer Ausdruck des Rekordangebots an Lehrstellen im letzten Jahr war? ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst ist das sachlich falsch. Aber ich will jetzt nicht Arbeitsamtsbezirk für Arbeitsamtsbezirk zitieren. ({0}) - Mein Herr, es kommt mir in dieser Frage darauf an, daß wir in diesem Parlament den großen gemeinsamen Willen erreichen und formulieren, daß diese Jugendarbeitslosigkeit im Jahre 1984 nicht zunimmt, sondern abnimmt. Darum geht es. ({1}) In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen der Sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratischen Fraktion den Kammern, den Betrieben, den Unternehmen für ihre Anstrengungen im Jahre 1984 ausdrücklich danken. ({2}) Wenn die Bundesregierung die gleichen Anstrengungen wie die Wirtschaft unternommen hätte, dann stünden wir besser da. ({3}) Aber im Gegenteil: Statt die Angebote der Städte, der Schulträger, freier Träger - von der Arbeiterwohlfahrt bis zur Caritas -, der Handwerks- und Industrie- und Handelskammern aufzunehmen - die haben nämlich alle gesagt, sie könnten zusätzliche außer- und überbetriebliche Ausbildungsstellen anbieten -, hat man stur nein gesagt und jede Sondermaßnahme im Bundesetat verweigert. ({4}) - Das ist die Wahrheit. Statt beispielsweise die ersparten 1,7 Milliarden DM, die nicht als Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit fällig geworden sind, für Sondermaßnahmen auszugeben, vereinnahmt der Bundesfinanzminister dieses Geld. Ich finde, man kann, ohne polemisch zu sein, sagen: Einige zehntausend Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, „verdanken" das dem sturen fiskalischen Denken von Herrn Stoltenberg. ({5})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte das jetzt im Zusammenhang abschließen. Die Bundesregierung hat sich mit der Arbeitslosigkeit, so meine ich, abgefunden. Sie richtet sich mit ihr ein. Um aber trotzdem der Kritik entgegentreten zu können, hat sie sich auf eine Strategie der Ausreden und der Alibis versteift. ({0}) Zuerst im Herbst 1982, dann im Jahre 1983 hat man ständig von einer Erblast geredet. Nachdem sich dieses Alibi der Erblast abgenutzt hat, kommt jetzt das Streikalibi: der Streik habe die Probleme hervorgerufen. ({1}) Beides ist nicht wahr. Wie könnte denn ein Streik im Frühjahr eine Nachfrageschwäche im Januar und Februar produziert haben? Diese ökonomiche Logik habe ich noch nicht verstanden. Übrigens habe ich vom Verband der Facheinzelhändler die Monatszahlen seit Januar - für sieben Monate, also für mehr als ein halbes Jahr - der Umsätze im Facheinzelhandel zugeschickt bekommen. Sie weisen von der ersten bis zur letzten Zeile Minuswerte auf. Es gab Minuszahlen, lange bevor der Streik in der Bundesrepublik überhaupt in der Diskussion war. Das heißt, Sie sollten sich, bevor Sie Ablenkungsmanöver starten, selber überlegen, was Sie durch Ihre Etatentscheidungen des letzten Jahres - das sieht im nächsten Jahres nicht besser aus - zur Nachfrageschwäche bzw. zur Selbstblockade der Konjunkturerholung in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben. Der Umfang und die Geschwindigkeit der Konsolidierung, die Sie betrieben haben, waren zu groß bzw. zu hoch. Weil es Mode geworden ist, englische Wirtschaftszeitungen zu zitieren, will auch ich eine zitieren. In ihr steht nun das Gegenteil dessen, was andere behaupten. Der „Economist", die berühmteste europäische Wochenzeitschrift für Wirtschaftsfragen, überschrieb vor einigen Wochen - vor genau 14 Tagen - einen Artikel zu Deutschland in der Rubrik World Business: „Die Wirtschaft expandiert, Arbeitsplätze gehen verloren." Und als weitere Überschrift des ganzen Artikels steht dort: „Westdeutschland war lange" - also exakt in der Zeit, die Sie mit Erblast in Verbindung bringen - „Westeuropas Modellwirtschaft. In vielen Aspekten ist sie es heute immer noch. Jetzt findet in Deutschland eine Erholung statt," - nun kommt es, meine Damen und Herren - „aber sie bringt keine neuen Arbeitsplätze." ({2}) Warum nicht? Weil der Staat mit dem Bundesetat Arbeitsplätze vernichtet. Ich werde Ihnen das jetzt in acht Punkten belegen. ({3}) Erstens. Es wurden Sozialleistungen gekürzt, und zwar insbesondere für die Bevölkerungsgruppen der sogenannten Schwachen, die ihr Geld ausgeben: Arbeitslose, Behinderte, BAföG. Damit wurde Kaufkraft vernichtet. Zweitens. Zusätzlich wurden noch öffentliche Investitionen gekürzt. Damit wurden unmittelbar in der Bauwirtschaft Arbeitsplätze vernichtet.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kolb?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte die Punkte im Zusammenhang vortragen. Drittens. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge wurden erhöht: Kaufkraft entzogen. Viertens. Die Beiträge zur Rentenversicherung wurden erhöht: Kaufkraftentzug. Fünftens. Die Mehrwertsteuer wurde erhöht: Kaufkraftentzug. Sechstens. Die heimlichen Steuererhöhungen - früher dramatisch beklagt - sollen jetzt faktisch bis zum Jahr 1988 hingenommen werden: Kaufkraftentzug. Siebtens. Die Rentenanpassung ist um ein halbes Jahr verschoben worden: also für dieses halbe Jahr Kaufkraftentzug. Achtens. Die Gemeindekassen wurden geplündert, weil ihnen Arbeitslosenlasten der Bundesanstalt für Arbeit übertragen wurden. ({0}) Acht Punkte der Kontraktion der Kaufkraft und der Schaffung von Arbeitslosigkeit. ({1}) Ohne Zweifel hätten auch wir in der Regierungsverantwortung über den einen oder anderen Punkt diskutieren müssen. Zur Zeit muß man den Haushalt vorsichtig fahren. Aber diese Mischung, diese Kombination, diese Mixtur war für die Konjunktur verheerend. Das ist die Ursache der Arbeitsplatzschwäche des Jahres 1984. ({2})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Elmar Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Roth, würden Sie so freundlich sein, dem Hohen Hause einmal zu erklären, welche Investitionsprogramme wir fahren könnten, wenn wir nicht 29,7 Milliarden DM für Zinsen bezahlen müßten, sondern für Investitionen verwenden könnten? Dann, glaube ich, wären die gesamten acht Punkte, die Sie angeführt haben, nicht nötig gewesen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, ich werde zum Schluß meiner Rede einen Investitionsprogrammvorschlag machen. ({0}) Dabei stellen wir auf die Bereitschaft der Bürger ab, für die Umweltinvestitionen einen Obolus zu zahlen. In diesem Programm verbinden wir einen aktiven Arbeitsmarktbeitrag mit nicht mehr Schulden und nicht mehr Zinslasten für den Bund. Machen Sie da mit. Das ist ein Vorschlag, der finanzierbar ist. ({1}) Man hat die Konjunktur nicht nur damit zum Wackeln gebracht, daß man Kaufkraft entzogen hat, sondern zusätzlich noch mit einer unseligen Steuerdiskussion. Bis heute ist ja nicht klar, was in der Steuerpolitik in den nächsten Jahren wirklich geschieht. FDP, CDU, CSU haben offenkundig verschiedene Zeitpunkte und Zielsetzungen vor Augen. Ich weiß jedenfalls nicht, ob ich Graf Lambsdorff glauben soll - dessen Durchsetzungsfähigkeit ich aus anderen Zeiten kenne - oder dem Herrn Bundesfinanzminister hinsichtlich des Zeitpunktes der Tarifreform. Wird das 1986 oder 1988 sein? Aber eines weiß ich ganz genau: daß es für eine Wirtschaft, die plant, verheerend ist, wenn sie keine klaren Steuergrundlagen hat. ({2}) Und dann diese fabelhafte Diskussion über Schuldzinsenabzug! Der Herr Bundeswirtschaftsminister war kaum im Amt, da hat er schon eine neue Steuersubvention vorgeschlagen. Ich habe gedacht: Ungerecht ist sie, unfair ist sie, aber sie hätte ohne Zweifel Wirkungen auf der Konsumgüternachfrageseite. Das ist überhaupt nicht zu bezweifeln. Ich war nicht dafür, weil ich finde, daß es Bedürftigere als die gibt, die beim Schuldzinsenabzug gefördert werden. Als Beispiel nenne ich die Arbeitslosen. Die Wiederherstellung des alten Rechts für sie brächte ja auch Kaufkraft. Aber mir ist j a auch dann eine Diskussion recht, wenn sie überhaupt aus dieser Massenarbeitslosigkeit herausführt. Auf der anderen Seite weiß ich: Einen Liberalen kann ich nie zur sozialen Gerechtigkeit verpflichten. ({3}) Meine Damen und Herren, kaum aber hatte Herr Bangemann erklärt, das wolle er, ist er in einer Sitzung zurückgepfiffen worden. Er sah dabei nicht sehr gut aus. Dann ist er für vier Wochen in seine schwäbische Wahlheimat verschwunden und hat kein Wort mehr gesagt. Das Setzen von verläßlichen Rahmenbedingungen - Sie haben in den Debatten hier im Bundestag über zehn, fünfzehn Jahre immer gesagt, daß Sie dies im Gegensatz zu den Sozialdemokraten tun wollten - bringt Klarheit für den Bürger und für den Unternehmer. Ich finde, an dieser Diskussion wird eben deutlich, daß ein wirtschaftspolitisches Konzept in diesem Kabinett nicht vorhanden ist. Wenn ich nicht einen Ordnungsruf bekäme, weil es ein falsches Bild ist, würde ich sagen: Der Fisch stinkt vom Kopfe. - Also muß ich ein anderes Bild nehmen. Oder ich benenne die Sache: Der Bundeskanzler versteht eben nichts von Wirtschaftspolitik und kann sich dann nicht durchsetzen, wenn der Finanzminister und der Wirtschaftsminister sich nicht einig sind. ({4}) In Erinnerung an frühere Aktivitäten muß ich sagen: Es müßte eben wieder regiert werden. ({5}) - Sie können ja einmal mit Herrn Lambsdorff oder mit irgendeinem von der FDP in Ihre Lobby hinausgehen und fragen, ob der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt entscheidungsorientierter, durchsetzungsfähiger und wirtschaftspolitisch kompetenter als der jetzige Bundeskanzler war. ({6}) Wenn sie nicht lügen, wissen Sie dann die Wahrheit. ({7}) Meine Damen und Herren, die Lage wäre nun noch viel dramatischer, wenn die Regierung durch die D-Mark-Abwertung und Dollaraufwertung nicht unwahrscheinlich Glück gehabt hätte. Ich muß hier allerdings einmal die Frage stellen: Wie stolz kann eine Regierung darauf sein, wenn der Dollar bei ihrem Amtsantritt 2,20 DM kostete, jetzt aber 3 DM kostet? ({8}) Eine Abwertung um 80 Pfennig ist der Stolz dieser Regierung. ({9}) Früher hörte ich es immer anders. Da war von der starken Mark die Rede. Jetzt ist es der starke Dollar. Das ist für Ihre Regierungszeit nun weiß Gott kein Ruhmesblatt. ({10}) Meine Damen und Herren, das ist an dem Dollarproblem aber gar nicht so entscheidend. Entscheidender ist an dem Dollarproblem folgendes. Jeder von uns schaut den hektischen Wechselkursmarkt, den internationalen Kapitalmarkt mit Sorgen an. Keiner hier im Raum weiß, ob nicht tatsächlich durch die Überexpansion und Überverschuldung in den USA der Dollar - künstlich aufgebläht - ganz schnell wieder in den Fahrstuhl nach unten geht. ({11}) Die Situation wäre dann die, daß in wenigen Wochen die Exporte der Bundesrepublik Deutschland in den gesamten Dollarraum, in all die Länder, die in Dollar ihre Rechnungen stellen, um 15 bis 20% teurer würden. Das heißt, das, was bisher ein Vorzug war, nämlich die Nachfrage von außen, könnte uns in wenigen Wochen zum Nachteil gereichen. Es gäbe dann einen Zusammenbruch des Exports. Meine Damen und Herren, eine Regierung, die wirtschaftlich kompetent ist, bereitet sich für diese Situation vor und hofft nicht nur auf den Export. Davon höre ich aber gar nichts. ({12}) Sie lassen den Binnenmarkt zusammenbrechen ({13}) und haben keine Möglichkeit, auf die Dauer weiterzukommen. ({14}) Das Gekreische über Experten oder sonstwas ist in dem Zusammenhang nicht so entscheidend die Frage, wie es denn wirklich in der Bevölkerung bei den Betroffenen aussieht. Ich finde überhaupt, daß wir in unserer politischen Diskussion in Bonn zu oft von der Lage der Arbeitslosen und von ihrer wirklichen Situation absehen. Ich möchte Sie jetzt bitten, für vielleicht fünf Minuten Geduld zu haben. Ich trage einen Fall vor, den wir zum Teil - jedenfalls in den wirtschaftlichen Folgen - gemeinsam verantworten. Lassen Sie uns dann einen Moment der Überlegung anschließen, ob wir in unserem Verhalten zur Massenarbeitslosigkeit in diesem Parlament so weiterdiskutieren können, wie wir es oft tun. Es handelt sich um eine 21jährige junge Frau, die eine Lehre als Bürokauffrau gemacht hat. Sie sagt - es war in einer Sprechstunde -: Ich habe zweieinhalb Jahre fotokopiert, Ablage gemacht, ein bißchen getippt. So richtig gelernt habe ich da nicht. Aber gut, ich war dort beschäftigt. Ich wußte aber auch: Ich werde anschließend nicht einen vollen Arbeitsplatz bekommen. Es hat mir einfach, so glaube ich aus heutiger Sicht, an Motivation gefehlt. Ich bin leider zweimal bei der Abschlußprüfung durchgefallen; so wenige sind das ja nicht. Jetzt ist sie arbeitslos. Sie hat sich sofort arbeitslos gemeldet. Dann bekam sie 70,20 DM Arbeitslosengeld in der Woche. Das war aus der letzten Ausbildungsbeihilfe errechnet, die 540 DM betrug. Ich höre immer wieder, 540 DM seien zuviel. Jetzt sehen Sie an diesem Fall, was das konkret bewirkt: Sie bekam im Monat 304,20 DM. Dann kam das Gesetz, über das ich vorher schon einmal kurz geredet habe, das für Ledige ohne Kinder eine Kürzung brachte. Dadurch bekam sie nicht mehr nur noch 304,20 DM, sondern nur noch 280 DM. ({15}) Jetzt stellen Sie sich vor, was ihre Empfindung gegenüber dem Parlament ist: Von 304,20 DM kürzte dieses Parlament mehrheitlich noch über 20 DM; sie soll nun von 280 DM leben, wo sie schon von 304 DM nicht leben konnte. ({16}) - Sie können diesen Fall nicht ruhig anhören, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben. Anders ist das nicht zu interpretieren. ({17}) Sie ist angewiesen auf einen Zuschuß von ihrer Mutter, die Witwe ist und 620 DM bekommt. ({18}) Dieses Beispiel zeigt doch, daß durch Entscheidungen in diesem Hause und durch diese Koalition eine neue Armut in einer zum Teil immer noch sehr reichen Gesellschaft entstanden ist. Das ist nicht in Ordnung. ({19}) Ich möchte durch dieses Beispiel auch einer willkürlichen und, wie ich finde, unmenschlichen Spaltung in unserer Gesellschaft entgegenwirken. Wir müssen die Kluft zwischen denen, die Arbeit haben, und jenen, die draußen vor sind - vorübergehend, so hoffe ich -, verengen und dürfen sie nicht durch unsere Etatbeschlüsse erweitern. Im Etat 1985 - genauso wie in den Jahren vorher - werden die Klüfte erweitert, werden die sozial Benachteiligten nochmal belastet. Das ist die Situation. ({20}) Ich finde, in der wirtschaftspolitischen Diskussion muß man diesen Aspekt mit berücksichtigen. ({21}) Sie reden nun davon, das Wachstum der nächsten Jahre brächte den Arbeitsmarkt wieder in Ordnung. Ich könnte lange aus einem Beitrag von Herrn Biedenkopf zitieren - ich vermute, daß Sie dem noch ein bißchen mehr glauben als mir -, der sich mit dem Wachstum und seinen Beschränkungen, was die Wirkung am Arbeitsmarkt anbetrifft, beschäftigt. ({22}) Wir wissen doch alle, daß Wachstumswellen in unserer Gesellschaft noch keine Investitionswellen in Richtung auf mehr Arbeitsplätze bringen, sondern es können auch Rationalisierungswellen sein. Versuchen Sie deshalb doch, ein Stück in unseren Überlegungen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit mitzudenken, und nehmen Sie einen Moment - wie Biedenkopf - Abschied vom rein expansiven, quantitativen Wachstumsdenken. Ich will jetzt nicht noch mal über Arbeitszeitverkürzung reden. Das haben wir dieses Jahr ein paarmal gemacht. Arbeitszeitverkürzung bleibt auf der Tagesordnung. Mir scheint noch wichtiger ein anderes Thema, jedenfalls kurzfristig, zu sein, eine gewaltige Chance für mehr Arbeitsplätze. Herr Hauff hat es heute früh schon angetippt. Wir haben die Umweltdebatte ja immer so gehabt: Umwelt kontra Investitionen kontra Arbeitsplätze. Wir haben nun in unserem „Sondervermögen Arbeit und Umwelt" demonstriert, daß das zusammenhängt, daß, wenn man nur will, viele, viele, unendlich viele Arbeitsplätze in dieser Gesellschaft zu schaffen sind, indem man die Umweltprobleme überzeugend und schnell angeht. ({23}) Laßt uns diese Chance doch gemeinsam ergreifen, zumal dann, wenn uns Bürger in fast jeder Debatte im Wahlkreis sagen: Ich bin bereit, ein paar Pfennige dazuzutun, wenn es für Arbeitsplätze und für Umweltschutzinvestitionen ist. ({24}) Die Bereitschaft der Bürger ist größer als unsere Bereitschaft zu solchen Zukunftsentscheidungen. Und das ist doch bedauerlich. ({25}) Sehen Sie: Wir haben einen Vorschlag erarbeitet, nach dem jedes Jahr 18 Milliarden DM im Umweltsektor investiert werden können. Das wären mit den Sekundäreffekten etwa 400 000 Arbeitsplätze, die auf Dauer jedes Jahr gesichert würden. Sie haben ja selber gemerkt, daß da etwas drinsteckt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat nun schnell ein Miniprogramm aufgelegt. Ich gehe sogar so weit: Wir machen das jetzt nicht kaputt durch Totreden, sondern wir sagen: Ein kleiner Anfang; laßt uns das in den Haushaltsausschußberatungen ausweiten, und macht ein großes Umweltinvestitionsprogramm! Da wäre doch etwas drin. ({26}) Denken Sie mal an die arbeitslosen Jugendlichen oder an die Arbeitslosen, die Sie aus Ihrem Wahlkreis kennen. Was würden die über Sie als Koalition sagen, wenn Sie das auf die Beine stellen würden! Die würden sagen: Endlich wird über Arbeitslosigkeit nicht nur geredet, sondern es wird etwas getan. Laßt uns das doch tun! ({27}) Soll es denn - ich weiß, ich gehe jetzt auf Glatteis - so sein, daß irgendwann wieder mal Leute sagen: Die in der Demokratie und im Parlament haben's nicht geschafft; jetzt kommen andere Kräfte, die das dann durchsetzen? ({28}) Wir haben doch die Erfahrung gemacht, daß das Parlament damals seine Glaubwürdigkeit verlor. Lassen Sie uns die Kräfte in diesem Parlament in der Zusammenarbeit aller Parteien - der GRÜNEN genauso wie der FDP und der CSU und der CDU und der SPD - in den weiteren Beratungen des Haushalts 1985 zusammenpacken! Laßt uns ein Investitionsprogramm Arbeit und Umwelt machen, das 300 000, 400 000 Arbeitsplätze schafft! Vielen Dank. ({29})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist verständlich, daß wir leider darauf verzichten mußten, das familienpolitische Konzept der SPD hier vorgetragen zu bekommen, ({0}) nachdem gestern Herr Apel vergeblich versucht hat, sich mit unserem Konzept auseinanderzusetzen, Bruchstücke herausgriff, darauf einschlug und heute hören mußte, was er da ausgebreitet hat, ist alles nur die halbe Tatsache gewesen. Es war wirklich falsch, Herr Apel, was Sie gestern über unser familienpolitisches Konzept gesagt haben. Das wäre noch nicht so schlimm, wenn wenigstens heute einer von Ihnen hierher gekommen wäre und sich Punkt für Punkt mit dem auseinandergesetzt hätte, was auf dem Tisch des Parlaments liegt. ({1}) Das wäre, Herr Roth, möglicherweise der Anfang einer guten Zusammenarbeit gewesen. ({2}) Aber sie wollen es nicht. Sie haben nichts. Deswegen wissen wir nicht, was man ineinanderfügen kann. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Ich möchte vor allem zur Familienpolitik sprechen. Aber da wir nicht aneinander vorbeigleiten wollen, greife ich auch einige Punkte von dem auf, was Sie, Herr Roth, gesagt haben. Zunächst zur Vielfalt der Medien. Auch Sie wollen mehr Programme, als es heute gibt. Das sollten Sie nicht verschweigen. Sie haben sich erst spät dazu bekannt; aber nach und nach kommen Sie damit rüber, mit halbem Herzen, mit Sowohl-alsauch, wie das bei Ihnen so oft der Fall ist. Sie sagen selbst: So, wie es heute ist, kann es nicht bleiben, wir wollen mehr Programme. Wenn auch Sie mehr Programme wollen, ist eine Frage, in welcher Trägerschaft. Aber es gibt noch eine wichtigere Frage. Die größere Programmvielfalt kann unter Umständen eine größere Herausforderung für die Familie sein - ich bestreite das nicht -, das muß nicht immer ein Segen sein. Dann müssen wir gemeinsam z. B. an einer umfassenden, hilfreichen Medienpädagogik arbeiten. Nicht Angst schüren, nicht auf Amerika verweisen! Was da ist, wollen wir in Gänze überhaupt nicht übernehmen. Wir wollen eine größere Vielfalt, und, Herr Roth, wir wollen vor allen Dingen ein besseres Familien- und Jugendprogramm in den neuen Medien, als es heute in den öffentlich-rechtlichen Anstalten geboten wird. ({3}) Sonst wäre es tatsächlich auch kein Fortschritt. Zu den Ausbildungsplätzen: Sie haben die ganzen Jahre nur lamentiert und kritisiert. Wo waren Sie eigentlich, als wir draußen von Tür zu Tür, von Betrieb zu Betrieb, von Bausteineaktion zu Bausteineaktion gegangen sind? ({4}) Wir haben nicht nur geredet, sondern wir haben Hand angelegt, wir haben mitgearbeitet. Ich sage Ihnen: Viele freie Initiativen vieler gesellschaftlicher Gruppen wären in Ihrem Konzept überhaupt nicht möglich gewesen, weil Sie immer den Eindruck erwecken, der Staat könne alles besser als die vielfältigen Kräfte der Gesellschaft und der Wirtschaft in ihren gemeinsamen Anstrengungen. ({5}) Es hat noch nie eine so hohe Zahl an Ausbildungsplätzen wie heute gegeben, und z. B. das Benachteiligtenprogramm der Bundesregierung ist heute mit mehr als doppelt soviel Geld versehen wie zu Ihrer Regierungszeit. ({6}) Wir haben nicht nur geredet, wir haben auch gehandelt. Wir sagen Ihnen auch: Es sind noch zu viele die keinen Ausbildungsplatz haben. Auch da können wir zusammenarbeiten, auch da richte ich den Appell an die Bundesregierung, das Benachteiligtenprogramm noch einmal ein bißchen aufzustocken. Es ist ein gutes Programm, es hilft vielen, es hilft den Schwächsten. Ich glaube, daß wir nicht nur im Jahre 1984, sondern auch im Jahre 1985 einen weiteren Fortschritt im Hinblick auf ein größeres Volumen, d. h. mehr Geld, für solche vorbildlichen Maßnahmen, verzeichnen können. Wir reden nicht nur, wir handeln. Das gleiche, Herr Roth, haben wir im Jugendschutz. 13 Jahre lang haben Sie gesagt: Nein, erst Jugendhilfe, das kommt später, wir haben noch keine Erkenntnisse, müssen Modelle durchführen, wissenschaftliche Untersuchungen. Dabei war der Videomarkt, und zwar der brutale, der menschenverachtende, schon lange auf dem Vormarsch. ({7}) Wir handeln jetzt. Wir beraten gemeinsam. Wir arbeiten auch mit Ihrer Fraktion, mit Herrn Jaunich und anderen, sehr gut zusammen. Es geht nicht nur um die Indizierung, es geht nicht um die Vorprüfung, es geht auch mal um den weiteren konsequenten Schritt: daß man das verbietet, worin man überhaupt keinen Sinn erkennen kann, was weder aktuell noch künstlerisch, sondern was nur menschenverachtend ist. Wir wollen es verbieten, wenn es auch das eine oder andere juristische Bedenken gibt. Wir haben hier eine klare Position bezogen. Wir wollen das Verbot für etwas Unsinniges, worin niemand einen Sinn erkennen kann. ({8}) Am meisten berührt mich immer Ihr Vorwurf, wir . hätten vor allem bei den sozial Schwachen gekürzt. ({9}) Ich darf Ihnen sagen: Man könnte zehn Minuten lang die Liste der Kürzungen verlesen, die Sie in Ihrer Regierungszeit vorgenommen haben. ({10}) Kürzung bei den Behinderten, Kürzung bei der Eingliederungshilfe, Kürzung bei der Rehabilitationsmaßnahme, Kürzung bei der Sparförderung für Soldaten, Verschlechterung der Voraussetzungen für das Mutterschaftsgeld usw. usw. Sie haben in 30, 40, 50 Fällen Sozialleistungen - jetzt kommt das Entscheidende - wahllos gekürzt. Haben wir denn den 18jährigen, den Ärmsten, ohne Arbeit, ohne Ausbildung, ohne Krankenversicherungsschutz allein gelassen? Die haben Sie doch seit Jahren allein gelassen. Die zählten noch nicht mal als Kinder. Aus dem dritten wurde das zweite, und deswegen wurde auch für die, die gar nicht betroffen waren, das Kindergeld gesenkt. Sie haben das getan, ohne sich überhaupt Gedanken darüber zu machen, in welcher Weise Sie die Familie umfassend treffen; denn Sie haben damit nicht nur den einzelnen, sondern die ganze Familie getroffen, und zwar im schlimmsten Fall mit einem Verlust von mehreren hundert Mark. ({11}) Das geschah jahrelang. Wir korrigieren es jetzt mit Minister Geißler, mit dieser Bundesregierung, mit dieser Koalition. ({12}) Warum haben Sie denn jahrelang das Mutterschaftsgeld nur für die Hälfte der Mütter gezahlt? Seit wann gibt es das denn, daß man von unterschiedlichen Klassen von Müttern ausgeht? Wir haben zwar infolge der Finanznot kürzen müssen, aber wir zahlen dieses Geld wenigstens für alle Mütter und machen keine Unterscheidung zwischen der einen und der anderen Gruppe, ({13}) weil es dafür keine hinreichenden Gründe gibt. ({14}) Zum Thema „Kindergeldkürzung für alle": Sie haben auf Wählerstimmen geschielt, aber nicht auf die Familien geschaut. ({15}) Kurz vor der Wahl das Kindergeld erhöhen, nach der Wahl für alle gleichermaßen das Kindergeld senken, was ist das? Das ist ja noch weniger als eine Wahltaktik, ({16}) das ist eine Mißachtung dessen, was man den Bürgern und den Wählern an Urteilsvermögen wirklich zutrauen kann und auch zutrauen sollte. ({17}) Sie haben jahrelang über die Vermögensbildung geredet. Wer hat die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand erhöht? Wir haben sie jetzt erhöht! Sie haben jahrelang über den Mißbrauch mit dem Bauherrenmodell geklagt. Wer hat das Bauherrenmodell eingegrenzt? Wir haben es eingegrenzt! So könnte man fortfahren. Diese große, abgrundtiefe Kluft zwischen Wort und Tat ist bei Ihnen wirklich ganz schrecklich. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn deswegen immer mehr Bürger weniger Vertrauen zu, Ihnen haben. ({18}) Wie ist es mit der Familienpolitik auf Bundes- und Länderebene? Es ist im Grunde eine Katastrophe, daß die Familie in Nordrhein-Westfalen so sehr schlechtergestellt ist als die Familie in Baden-Württemberg. Es gibt in allen CDU-geführten Bundesländern Familiengründungsdarlehen, besondere Familienförderungsprogramme, Solidarfonds zum Schutz von Mutter und Kind. Das gibt es nirgends in SPD-geführten Bundesländern. ({19}) - Genau das ist wahr. ({20}) Warum pochen Sie auf Rechtsansprüche, wenn es gute Erfahrungen mit einem Fonds zur Solidarität mit dem ungeborenen Leben gibt? Herr Roth, es wäre wirklich erstrebenswert gewesen, wenn wir uns wenigstens in dem einen Punkt hätten einigen können, nämlich in der Anstrengung, zum Schutz des ungeborenen Lebens mehr zu tun. Das wäre auch der Würde dieses Parlaments angemessen gewesen. Da pochen Sie auf Rechtsansprüche. Dem Bürger nützen Rechtsansprüche überhaupt nichts, ({21}) wenn nichts da ist, womit man diese Rechtsansprüche erfüllen könnte. ({22}) Deswegen haben wir gesagt: Auf freiwilliger Basis, in Solidarität und in Zusammenarbeit mit vielen gesellschaftlichen Gruppen kann eine große Welle der Solidarität in diesem Lande entstehen und wachsen, ({23}) um den Schutz des ungeborenen Lebens zu verstärken. Das ist auch notwendig, denn ich sage noch einmal, die Kinder von heute werden uns eines Tages fragen: Wie war es eigentlich 1984 bei der Etatberatung, als ihr wußtet, ihr lebt in einem Land mit einem hohen Wohlstand, und trotzdem habt ihr soviel Schulden gemacht? Es nützt den sozial Schwachen und den Kinderreichen überhaupt nichts, wenn mit immer mehr Schulden, mit einer immer höheren Staatsverschuldung immer höhere Leistungen gegeben werden, denn die, die solche Leistungen heute bekommen, müssen sie morgen unter Opfern und mit Zinsen und Zinseszinsen zurückzahlen. Mit Schulden immer neue Kindergeldleistungen zu erbringen, das ist wirklich keine Großtat, aber das haben Sie gemacht! ({24}) Wir wollen aber, daß durch Solidarität und durch Sparsamkeit in der Gegenwart genug Geld für die Investitionen der Zukunft bleibt, für die Investitionen, die die junge Generation morgen in eigener Verantwortung tätigen kann. Das ist verantwortungsvolle Politik für die sozial Schwachen und die Bezieher geringer Einkommen. ({25})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muß leider sagen: Das rote Lämpchen leuchtet auf.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Es liegt in Ihrer Entscheidung, Herr Abgeordneter, ob Sie eine Zwichenfrage zulassen.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident. - Bitte!

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich habe nur eine Frage: Können Sie mir ein Jahr sagen, in dem weniger Schulden gemacht worden sind als in den letzten beiden Regierungsjahren, materiell? ({0}) - Ich darf es noch einmal formulieren; offenbar haben Sie mich nicht begriffen: Gibt es ein Jahr, in dem ein Bundeshaushalt mit geringeren Schulden als denen, die Sie jetzt haben, ausgeführt worden ist? Zu unserer Zeit haben wir viel weniger Schulden gemacht. ({1})

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sind wirklich nicht leicht zu verstehen, das muß ich zugeben. Es ist aber tatsächlich so, daß weder in einem Bundesland noch auf Bundesebene eine Regierung, sowohl was die vergangenen zwei Jahre, als auch was den Blick in die Zukunft angeht, so schluderig mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen ist, wie Sie das in den vergangenen Jahren fertiggebracht haben. ({0}) Was einem so leid tut, ist, daß dies zu Lasten der kleinen und mittleren Einkommen gegangen ist und zu Lasten der Familien. Das versuchen wir nunmehr zu korrigieren. ({1}) Das hängt auch zusammen, wie Herr Geißler gesagt hat, mit Ihrem Menschenbild. ({2}) Vielleicht kann man doch noch einen Satz darüber verlieren.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter, ich möchte bitten, zum Schluß zu kommen.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es war immer, glaube ich, ein Fehler der SPD, daß sie die Sozialnatur des Menschen überbetont und die Individualnatur des Menschen nicht hinreichend berücksichtigt hat. Sie trauen den Bürgern, auch den Familien, zuwenig zu. Deswegen kann Ihr Werk auch nicht gelingen, und deswegen sind wir davon überzeugt, weil wir das bessere Menschenbild haben, unser christliches Menschenbild, ({0}) daß eben unsere Politik mit diesem Konzept und diesen Grundsätzen tatsächlich gelingen wird. Vielen Dank. ({1})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben heute morgen schon von Herrn Dregger eine Lektion über die Familie und über die Kinder bekommen und wie schön Kinder sind. Aber es ist doch interessant, daß er, wenn er von Kindern als dem kostbarsten Gut spricht, diese gleich im Zusammenhang mit Investitionsbegriffen nennt. Das ist ein durch und durch materieller Begriff, und oft reduziert sich das, was in unserer Umwelt mit Kindern gemacht wird, wirklich auf diesen materiellen Gehalt. ({0}) Ich finde es geradezu ungeheuerlich, daß gerade in Richtung auf die alternative, bunte und grüne Szene so getan wird, als ob dort die Kinder- und Menschenfresser säßen, wo man doch wirklich beobachten kann, daß dort tatsächlich im Sinne von sprießendem Leben Politik gemacht wird. ({1}) Ich will nicht verhehlen, daß es oft keinen großen Spaß macht, Zeitung zu lesen. So verging mir diese Lust am Zeitungslesen auch gleich, als ich dieses Jahr aus dem Urlaub heimkehrte und als erstes Herrn Geißlers Weisheiten über das vernehmen mußte, was die Frau wirklich will. Es ist schon eine Pikanterie für sich, daß bei uns die Frauenpolitik von Männern vertreten wird. Nach Meinung der Regierung sind wir wohl noch nicht so weit, daß wir uns selbst vertreten können, und deswegen ist es auch folgerichtig, daß zu der Weltfrauenkonferenz in Nairobi die deutsche Frauendelegation wieder von Herrn Geißler angeführt werden wird. ({2}) In Stuttgart auf dem CDU-Parteitag verkündete nun dieser Minister, daß Hausfrauen mit dieser selbst gewählten Aufgabe zufrieden seien und daß es gelte, sich gegen das Diktat verklemmter Feministinnen in den öffentlich-rechtlichen Medien zu wehren. ({3}) „Feministin" als Schimpfwort und „verklemmt" dazu, das ist so eine Ungeheuerlichkeit, so eine Unverschämtheit, daß wir Frauen eigentlich jede Auseinandersetzung mit diesem Herrn Minister verweigern sollten und auch mit einer Regierung, die es wagt, uns so einen Minister als Frauen- und Familienminister zu präsentieren.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geißler?

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte gnädige Frau, darf ich Sie fragen, woher Sie wissen, daß ich nach Nairobi fahre, nachdem feststeht - das kann nur ich beurteilen -, daß ich es selbst nicht weiß? ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir wollen uns vielleicht in einem Jahr wiedersprechen, Herr Geißler. ({0}) - Sie haben es bisher so gehandhabt. ({1}) Heute sind es also verklemmte Feministinnen, die Frauen, die mehr Familie-Freude-Frieden-Eierkuchen-Ideologie nicht mehr auf den Leim gehen und die oft aus eigener leidvoller Erfahrung haben lernen müssen, daß die Beschwörung der glücklichen Familie oft verlogen ist und auf dem Rücken der Frau ausgetragen wird. Daß diese Beschwörung der glücklichen Familie verlogen ist, sieht man z. B. an solchen Tatsachen, daß es pro Jahr 300 000 sexuell mißbrauchte Mädchen aus Familien gibt, oft von den Vätern, von Verwandten mißbraucht. Ich will damit nicht sagen, daß die Familie abgeschafft werden sollte. Aber sie muß in ihrer jetzigen Form in Frage gestellt werden. Es ist doch nicht so, daß unsere Gesellschaft wirklich sagen könnte, daß die Familie, wie sie im Augenblick aussieht, rundherum gut ist. Das ist doch einfach nicht so. ({2}) Früher wurden die Frauen, die für sich und andere entgegen den Normen der Männergesellschaften Freiräume zu erreichen suchten, als Hexen verfolgt. Hexen waren kluge und schöne Frauen. Sie kannten die Kunst der Geburtsheilkunde, die Schwangerschaftsverhütung und die Fruchtabtreibung. ({3}) So erweiterten sie das Selbstbestimmungsrecht der Frauen und wurden deswegen bekämpft. Hexen waren es früher, Feministinnen sind es heute. Wir wird es morgen aussehen? Es ist also ein Hohn, daß dieser Minister als Familienminister für uns Frauenpolitik gestalten will. ({4}) Aber ich will auch betonen, daß in diesem Ausspruch eigentlich eine gewisse Logik liegt. Denn betrachtet man die familienpolitischen Vorschläge, die Maßnahmen wie das Babyjahr, die Diskussionen um den § 218, die steuerlichen Vorhaben, die immer darin resultieren, alleinstehende Frauen zurückzusetzen, nur die Frau, die in der Ehe lebt, zu schützen, so zeigt sich tatsächlich, daß diese Regierung der Frau die Spielräume in Richtung einer echten Emanzipation tatsächlich nicht erweitern will. Diese Politik läuft darauf hinaus, die Rolle der Frau als Nur-Hausfrau, als möglichst billige Pflegerin, als verschiebbare Arbeitskraft, also weiterhin als Untergebene zu zementieren. ({5}) Die finanziellen Entscheidungen, an denen Sie jetzt herumbasteln, sind dabei nur kosmetische Pflästerchen. Nehmen wir z. B. das Erziehungsgeld, 600 DM ab 1986 für alle Väter und Mütter. Meine Herren Minister, wer von Ihnen oder wer aus den Reihen Ihrer Staatssekretäre oder selbst welcher Ihrer Chauffeure würden seinen Arbeitsplatz aufgeben, um für 600 DM die Familie zu ernähren? ({6}) Das heißt, bei dem Erziehungsgeld für Mütter und Väter, wie Sie es so pseudoemanzipiert nennen, kann man die Väter schon einmal herausstreichen. ({7}) Es ist also nur ein Trostpflaster für die Frau. Ich will natürlich gar nicht bestreiten: Es ist besser, wenigstens ein großzügiges Taschengeld zur Verfügung zu haben als gar nichts. Aber das dicke Ende kommt j a erst später. Denn von Arbeitsplatzgarantie, Herr Geißler, ist bereits nicht mehr die Rede. Schwuppdiwupp, diese Frauen hätten wir bereits vom Arbeitsmarkt. Und darum geht es nämlich. ({8}) - Es geht darum, Herr Geißler, daß es keine Ansätze gibt, daß Männer wirklich in die Aufgabenteilung hineingenommen werden. Der Frau wird die Heimkehr an den Herd ein kleines bißchen versüßt. ({9}) Herr Fink hat sich auch nicht versprochen, sondern nur verplappert, als er gesagt hat - ich zitiere das -: Es muß dafür gesorgt werden, daß die Frauen, die an einem Wiedereingliederungskursus teilnehmen, aber nicht unbedingt erwerbstätig werden wollen, nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, sondern die Möglichkeit erhalten, in wichtigen sozialen Bereichen ehrenamtlich zu arbeiten. Da hätten wir es nämlich genau. Das ist die Rolle, die Sie für die Frau in dieser Gesellschaft vorbereiten. ({10}) Es gibt noch andere Momente, die beweisen, daß Sie eine Emanzipation der Frauen verhindern statt ermöglichen wollen. Ihre Partei entdeckt jetzt wieder die Familie als sorgende Einheit; Alte, Pflegebedürftige, Eltern, Kinder sollen wieder möglichst lange zusammenleben können. ({11}) Das ist ein Modell, das auch wir grundsätzlich nicht ablehnen. Schließlich haben wir Vorschläge unterbreitet, das Heim- und Pflegewesen zugunsten anderer Lebensformen zu verändern, aber eben Lebensformen, die nicht letztlich auf dem Rücken der Frau ausgetragen werden. Wenn von Ihnen solche Vorschläge kommen, sollte frau wachsam sein, denn man muß sogleich den Bezug zu Herrn Stoltenbergs hochgelobter Haushaltssanierung herstellen, die ja gerade von der Kürzung sozialer Leistungen herrührt. Immerhin belaufen sich diese Kürzungen - da gehört die Operation '82 dazu - in den Jahren 1982 bis 1984 und damit das Volumen des Transfers in andere Bereiche auf 210 Milliarden DM, und diese Kürzungen landen letztlich im Alltag der Frauen, ({12}) denn Kürzungen der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz von Pflegegeldern und so weiter, der Ersatz von Hilfsmaßnahmen durch die billigere ambulante Hilfe gehen doch zu Lasten der Frauen. ({13}) Ihre ideologische Aufwertung der Frau als hehre Mutter und Sorgende hilft da nicht viel. Sie ist der notwendige Kleister, um das Sparwerk zusammenzuhalten. ({14}) - Ich habe leider keine Zeit mehr. ({15}) Herr Geißler, Sie sprachen heute morgen über die Familie und die Freiheit in der Familie. Meine Mutter hat ihr Mutterkreuz unter dem Faschismus bekommen. Das ist wohl nicht gerade ein rühmliches Beispiel für Familienförderung gewesen. ({16}) Es wird nicht möglich sein, meine Herren, die Frau so zu entlohnen, daß sie als Hausfrau finanziell den Erwerbstätigen gleichsteht. Das wird nicht möglich sein. Ich behaupte auch, daß die Frau aus ihrer sozial untergeordneten Rolle nur herausfinden kann, wenn sie nicht vom Erwerbsleben und damit vom öffentlichen und sozialen Leben ausgestoßen wird. ({17}) Da sind wir wieder beim Thema. Das heißt, daß Familienpolitik von den Männern und vom Arbeitsleben her gestaltet werden muß, und das heißt Arbeitzeitverkürzung für Frauen und Männer, damit von beiden die gesellschaftlichen Aufgaben wie Sorge- und Pflegearbeit übernommen werden und daß Erwerbs- und Hausarbeit zu gleichen Teilen aufgeteilt werden können. ({18}) Das ist das einzige Konzept für einen emanzipatorischen Ansatz. Ich möchte noch ganz kurz etwas anderes ansprechen, Herr Geißler. ({19}) Sie haben vielleicht gehört, daß es in der Bundesrepublik -

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Einen Moment, Frau Abgeordnete. - Herr Abgeordneter Geißler, es ist nicht üblich, hier einen Dialog zu führen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich Zeit bekomme, können wir ihn gerne hier führen. ({0}) Es haben sich inzwischen 135 Elterninitiativen in der Bundesrepublik gegründet, viele davon gegen Pseudo-Krupp, aber noch mehr gegen die Umweltgifte allgemein. Sie haben heute morgen nichts anderes getan, als die Probleme herunterzuspielen. Denn es ist doch so, daß tatsächlich die Frau, wenn sie heute vorhat, ihr Kind zu stillen, von den Ärzten gewarnt wird vor den schädigenden Stoffen. Nimmt sie Nestle plus Wasser, dann weiß sie in vielen Gegenden, daß der Nitratgehalt zu hoch ist. Nimmt sie Mineralwasser, muß sie aufpassen, nimmt sie den Schnuller, dann ist ein schädigender Weichmacher drin. In den Pampers ist PVC, und krabbelt das Kind auf dem Fußboden, dann muß sie vor asthmatischen Erkrankungen Angst haben. ({1}) - Das sind Tatsachen, Herr Geißler, an denen kann man nicht vorbeigehen. ({2}) Sie als Familienminister müßten sich in die vorderste Reihe der Umweltschützer stellen und eine wirkliche Entgiftung unserer Gesellschaft fordern. Das wäre Ihre Aufgabe. Da geht es auch nicht an zu sagen, die Zahl der Unfalltode sei viel höher als die der Krebstode bei Kindern. Das müßte demgegenüber heißen, daß Sie für neue Verkehrskonzeptionen eintreten müßten. Das wäre Aufgabe für einen Familienminister, wenn er sich wirklich um Kinder kümmern möchte. ({3}) Ich meine trotzdem, daß Frauen sich nicht entmutigen lassen sollten, Kinder zu bekommen. Es geht auch nicht darum, eine depressive Weltuntergangsstimmung zu verbreiten. Gerade die Elterninitiativen zeigen, daß Frauen kapiert haben, daß sie sich nicht auf das häusliche Leben allein beschränken können, daß die Politik letztlich bis in den Babykorb hineinreicht und daß sie deswegen selber mit eingreifen und mitgestalten müssen, weil von diesem Hohen Hause in dieser Richtung nichts zu erwarten ist. ({4})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Beck-Oberdorf hat gerade kritisiert, daß die Familienpolitik hier von Männern vorgetragen wird. An anderen Stellen wird kritisiert, daß Frauen in der Politik von den Männern immer genau auf die Gebiete der Frauenpolitik und Familienpolitik abgeschoben werden. Die GRÜNEN fordern, daß die Männer mehr Funktionen in der Familie übernehmen. Ich halte das für richtig. In der FDP-Fraktion ist zum Beispiel eine Frau zuständig für den Haushalt, und ein Mann ist zuständig für die Familienpolitik. Wir machen das. Die Gleichberechtigung ist bei uns nicht nur ein leeres Wort. Ich verstehe Ihre Argumente und Ihre Angriffe überhaupt nicht. ({0}) Meine Damen und Herren, der Haushalt 1985 ist nach vielen Haushalten der Vergangenheit ein Haushalt, der von uns Familien- und Sozialpolitikern nicht Einsparungen fordert, sondern wieder Gestaltung zuläßt. Erstmals ist wieder ein Familienlastenausgleich möglich, der - von der Finanzmasse her - diesen Namen auch verdient. Die Konsolidierung, auf die der Finanzminister so stolz hingewiesen hat - nicht nur er ist froh darüber -, war die Voraussetzung für diese Änderung in der Familienpolitik. Eimer ({1}) Eines hat sich gegenüber früheren Jahren jedoch grundsätzlich geändert. Wir verteilen nicht mehr von den Überschüssen, sondern wir müssen umstrukturieren. Wenn wir verteilen, dann müssen wir Farbe bekennen, denn wir müssen sagen, woher wir es holen wollen. Wohltaten auf Pump darf es nicht mehr geben; es wird sie auch nicht mehr geben, solange diese Koalition besteht. Wir werden nicht leichtfertig Spendierhosen anziehen. Die SPD - der Beitrag von Herrn Roth hat es j a gezeigt - macht es sich gar zu leicht. Sie hat die Notwendigkeit in einer Welt mit geringeren Wachstumsraten noch nicht verstanden. Eine Maßnahme im Rahmen des Familienlastenausgleichs steht ganz oben auf der Prioritätenliste der FDP: Das ist die Anerkennung der Erziehungsjahre. Die vorgesehenen Modelle der Rentenreform sind ohne die Anerkennung von Erziehungsjahren nicht denkbar. Familien mit Kindern sind in vielfacher Hinsicht benachteiligt. Diese Familien haben weniger Freizeit für sich persönlich, sie sind mehr abhängig, und sie haben ein geringeres Familieneinkommen, weil normalerweise nur eine Person verdient. Sie haben eine geringere Rente im Alter, und wenn die Eltern zum Pflegefall werden, müssen die Kinder die Kosten übernehmen. Wenn diejenigen, die keine Kinder haben, zum Pflegefall werden, muß der Staat die Kosten übernehmen. Das vorgesehene Erziehungsgeld muß unter den gleichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Es schafft einen Ausgleich zwischen denen, die Kinder erziehen, und denen, die keine Kinder erziehen. Es wird unabhängig davon ausgezahlt, ob vorher ein Arbeitsverhältnis bestand oder nicht oder ob der Mann oder die Frau zu Hause bleibt. Auch das ist ein Element der Gleichberechtigung, das in früheren Gesetzen nicht enthalten war. Ich mache aber keinen Hehl daraus, daß mir die vorgesehene Einkommensgrenze nicht sehr gefällt. Wenn man die soeben beschriebenen Effekte erreichen will, dann soll man das Erziehungsgeld etwas erhöhen, es dafür aber versteuern. Das bedeutet: Wenn eine Familie ein hohes Jahreseinkommen hat, dann muß sie hohe Steuern bezahlen und hat im Ergebnis weniger als die Familie, die ein geringes Jahreseinkommen hat und weniger Steuern entrichten muß. Diese Maßnahme ist sehr viel unbürokratischer; sie hat die gleiche soziale Wirkung wie Einkommensgrenzen. Lassen Sie mich noch ein bißchen auf die Einkommensgrenzen zu sprechen kommen. Wir haben eine ganze Reihe von Sozialgesetzen, in denen es Einkommensgrenzen gibt, z. B. das Kindergeld, BAföG, Wohngeld, Sparförderung, Wohnungsbauförderung, und beim Erziehungsgeld ist eine vorgesehen. ({2}) Wir setzen mit diesen Einkommensgrenzen die soziale Wirkung und die Leistungsbezogenheit des Steuersystems außer Kraft, und zwar mit sehr viel Bürokratie. Derjenige, dessen Einkommen sich diesem Schwellenwert nähert, hat - seien diese Schwellen auch noch so abgestuft und bestehen noch so viele Übergangsregelungen - keinen Vorteil mehr von Leistung. Wenn man Transferleistungen und Steuersystem zusammenfaßt - das muß man ja wohl auch machen, denn beides verordnet der Staat -, dann geht diese gemeinsame Grenzbelastung in vielen Bereichen gegen 100 %, ja sie kann sogar darüber liegen. Das heißt: Ein höheres Bruttoeinkommen kann ein niedrigeres Nettoeinkommen bedeuten. Ich meine, wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir aus diesem Teufelskreis herauskommen. Wir sollten dafür sorgen, daß die Leistungsfähigkeit in diesen Familiengesetzen nicht bestraft, sondern belohnt wird. ({3}) Der Schwerpunkt des Familienlastenausgleichs liegt jedoch nicht beim Erziehungsgeld, sondern bei den kinderbezogenen Leistungen. Ich will es etwas allgemeiner sagen, als der Bundeskanzler und der Finanzminister es getan haben: Bei gleichem Einkommen muß die Familie mit Kindern nach Steuern- und Transferleistungen deutlich mehr haben als Familien ohne Kinder. Hierin sind wir uns völlig einig. Das muß das Ziel unserer Politik sein. Hier ist wieder - das nehmen wir dankbar zur Kenntnis - Bewegung in die Familienpolitik gekommen; wir können Ungerechtigkeiten ausgleichen. Die Voraussetzung dazu - ich muß mich wiederholen - waren die Haushaltsbeschlüsse, die diese Koalition bisher getroffen hat. Was die Ausgestaltung im Detail angeht, so wird man sich damit noch näher befassen müssen. Das Prinzip der Freibeträge wirkt genau umgekehrt wie ein Kindergeld mit Einkommensgrenzen. Das kann notwendig sein, um die negativen Auswirkungen des einen Systems durch ein anderes System zu korrigieren. Hier - das ist zunächst noch meine persönliche Meinung - hebt ein System das andere auf, die Systeme neutralisieren sich, und übrig bleibt Bürokratie. ({4}) - Ich bin natürlich sehr erstaunt, daß ich Beifall von den Sozialdemokraten bekomme. Denn genau Bürokratie ist bisher immer das Konzept der Sozialdemokraten gewesen. ({5}) Wir sollten weiter nach besseren Lösungen suchen; wir bieten unsere Mithilfe an. Im übrigen glaube ich, daß wir es der Opposition zu leicht machen. Sie sucht sich nämlich aus unseren beiden Systemen das aus, was für ihre Propaganda besser ist, und vergißt, daß die ganze Wahrheit doch etwas anders ausschaut. Ich glaube, wir sollten hier ein System suchen, das es der Opposition nicht erlaubt, aus der Verantwortung und aus Vorschlägen so leicht herauszukommen. Entscheidend bei all diesen Lösungen der Sozialpolitik, der Familienpolitik ist aber, was am Ende Eimer ({6}) im Portemonnaie bleibt, auch und gerade im Portemonnaie des kleinen Mannes. Spätestens dann wird jeder wissen, was von dem Gerede der Sozialdemokraten zu halten ist. Ich bin überzeugt, wir werden diese Probe bestehen. Schon heute spürt jeder, was es bedeutet, daß die Inflation gesunken ist, daß er für mehr Geld nicht mehr weniger kaufen kann. Das hilft gerade auch dem kleinen Mann. In einem weiteren Punkt ist eine wichtige Korrektur vorgenommen worden: Junge Arbeitslose erhalten wieder Kindergeld. Das ist die Korrektur eines Gesetzes, das noch in der Zeit der alten Koalition auf hektische Art und Weise zustande gekommen ist. Neben diesem finanziellen Rahmen ist der geistige Hintergrund fast noch wichtiger. Minister Geißler hat darauf hingewiesen; ich bin ihm dafür sehr dankbar. Für uns Liberale ist es tatsächlich genauso wichtig, die Freiräume für Familien zu erweitern und vor allem vor den Ansprüchen des Staates und der Gesellschaft zu schützen. Freiraum ist nicht nur der finanzielle Freiraum, sondern auch der Raum, in dem sich Kinder in den Straßen unserer Städte bewegen können, es ist der rechtliche und vor allem der emotionale Freiraum. Ein wichtiger Punkt in dieser Familienpolitik - darauf wurde schon hingewiesen - ist das Jugendschutzgesetz. Nach den Anhörungen bin ich überzeugt, daß wir dieses Gesetz noch in diesem Jahr zügig und gut verabschieden werden. ({7}) Ich bin, meine Damen und Herren - damit will ich zum Schluß kommen -, dem Finanzminister für diese Politik, die zu einer straffen Kassenführung geführt hat, dankbar. Ich bin dankbar, daß die Inflation gesenkt worden ist. Ich bin dankbar, daß Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, daß man die Zukunft wieder gestalten kann. Gerade junge Leute sind darauf angewiesen, daß sie Zukunftsperspektiven haben, daß sie wissen, daß sie ihre Zukunft gestalten können. Die Voraussetzung dafür ist auch durch diesen Haushalt geschaffen worden. Wir werden diesen Weg unterstützen. Wir hoffen, daß wir auf diesem Weg noch weiter vorankommen werden. Vielen Dank. ({8})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Als nächster Redner ist der Herr Bundesminister für Wirtschaft gemeldet. Dr. Bangemann; Bundesminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte bietet Gelegenheit zu einer wirtschaftspolitischen Positionsbestimmung, und sie bietet auch Gelegenheit für die Opposition, sich mit der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung kritisch auseinanderzusetzen. Ob das, was bisher im Verlauf der Debatte der Kollege Roth dazu gesagt hat, das einzige bleiben wird, kann ich nicht beurteilen. ({0}) Wenn es die einzige Kritik bleibt, dann habe ich damit keine allzu großen Schwierigkeiten. ({1}) Zunächst einmal wird die Opposition bei allen Unterschieden im Grundsätzlichen der Regierung sicher zustimmen, daß zwei Ziele des Stabilitätsgesetzes auf jeden Fall erreicht sind, nämlich die Stabilität des Preisniveaus und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht. Erstmals seit 15 Jahren haben wir bei den Preisen eine Eins vor dem Komma und stehen damit auch international an der Spitze. Dies ist das Ergebnis unserer Finanz- und Wirtschaftspolitik und der an der Geldwertstabilität orientierten Geldpolitik der Deutschen Bundesbank. Eine solche Stabilität nur als haushalts- und finanzpolitischer Erfolg ist zu wenig. Bei der Wertung muß man berücksichtigen, was dieser Erfolg auch sozialpolitisch bedeutet. Ein derartiger Erfolg stärkt die Kaufkraft. Ein solches Ergebnis ist ein Erfolg auch für diejenigen, die allzu leicht bei wirtschafts- und tarifpolitischen Auseinandersetzungen vergessen werden. Man vergißt immer wieder, daß bei solchen Auseinandersetzungen über Lebensbedingungen nur eines Teils der Bevölkerung verhandelt wird und daß die Ergebnisse dieser Politik nur für einen Teil der Bevölkerung Rahmendaten ihres Lebens abgeben. Der große Teil derjenigen in unserer Bevölkerung, die nicht beschäftigt sind, vor allen Dingen auch derjenigen, die einmal beschäftigt waren, nämlich der Teil der Rentner, wird viel stärker von diesem Stabilitätserfolg betroffen, und zwar positiv, als alle diejenigen, die in den Tarifauseinandersetzungen von den Ergebnissen berührt werden. ({2}) Deswegen haben wir hier für jedermann das Fundament für verläßliche Zukunftsentscheidungen geschaffen. Auch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Wir werden auch 1984 einen Überschuß in der Leistungsbilanz haben. Dieser Erfolg läßt nur zu schnell vergessen, daß wir noch vor vier Jahren ein Defizit in der Leistungsbilanz von fast 30 Milliarden DM hatten. Heute gilt demgegenüber: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen ist deutlich verbessert. Wir haben uns vor kurzem in einer Studie mit diesem Problem im einzelnen befaßt, weil ja immer wieder die Behauptung aufgestellt wird, daß die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht mehr dem entspricht, was ein5998 mal als Standard und Niveau in der Vergangenheit festzustellen war. ({3}) Das ist falsch, ({4}) und zwar deswegen, weil eine einseitige Betrachtung zu diesem Urteil geführt hat. Man hat sich nämlich auf bestimmte Produktbereiche allein konzentriert. Es stimmt natürlich, daß wir in bestimmten Produktbereichen, etwa in der Mikroelektronik, hinter andere Länder zurückgefallen sind. Diesen Abstand muß man wieder aufholen. Da wir diese Vorteile anderer ja auch in unserer eigenen Produktion ausnutzen können, hat das aber nicht bedeutet, daß die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie im ganzen darunter gelitten hätte. ({5}) - Herr Roth, das ist deswegen keine Erblast, weil die Wirtschaftspolitik in der früheren Regierung ganz wesentlich von meinem Kollegen Lambsdorff geprägt worden ist. ({6}) Ein Erbe besteht ja immer aus verschiedenen Teilen: aus Immobilien, Mobilien und vielleicht aus der Kasse. Die Kasse haben wir, was wirtschaftspolitische Dinge angeht, von Graf Lambsdorff übernommen. Darüber können wir uns nur freuen - gemeinsam, wie ich hoffe. Diese internationale Wettbewerbsfähigkeit ist natürlich auch der wichtigste Grund dafür, daß unsere Exporte überproportional steigen. Der deutsche Anteil am Welthandel nimmt sogar zu. Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ist aber selbstverständlich keine für die Zukunft automatisch gesicherte Größe. Es wird zum Teil auch davon bestimmt, daß wir im Augenblick in der Tat ein Währungsverhältnis zum Dollar haben, das uns insbesondere im Export in die Vereinigten Staaten begünstigt. Nur, Herr Kollege Roth, wenn Sie das Dollar-DM-Verhältnis als einen Teil Ihrer Kritik herausgestellt und gemeint haben, die Wirtschaftspolitik dieser Regierung sei schon deswegen gescheitert, weil sie sich eigentlich schämen müsse, daß der Dollar jetzt 3 DM koste, dann muß ich Ihnen sagen: Das hätte ich von Ihnen als dem sogenannten Wirtschaftsexperten der SPD-Fraktion eigentlich nicht erwartet. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Da Herr Roth mir während meiner Krankheit einen Brief ins Krankenhaus geschrieben hat, möchte ich ihm diese Zwischenfrage jetzt sozusagen als Dank gestatten. ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind ja eigenartige Bedingungen, die man erfüllen muß, bevor man ins Gespräch kommt. Aber gut. Herr Bangemann, Sie haben das richtig empfunden: Ich habe das nicht als ein so ernstes Argument eingebracht. ({0}) Aber ich darf, Herr Bangemann, eine Frage stellen: Erinnern Sie sich an eine Wahlanzeige der CDU zum 6. März 1983, in der sie geschrieben hat, der DM-Kurs steigt, das haben wir nach der Wende hervorgebracht? Darauf bezog sich meine Bemerkung. ({1})

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Herr Roth, wenn Sie das so relativieren, können wir darüber sicher diskutieren. Ein solcher Kurs, der sich übrigens am freien Markt bildet - er wird ja nicht festgesetzt -, hat von daher gesehen natürlich unterschiedliche Elemente. Eines der Elemente, die man dabei berücksichtigen muß, ist natürlich auch die Stärke einer Wirtschaft. Bei dem hohen Dollarkurs spielt j a auch die Stärke der amerikanischen Wirtschaft, das Vertrauen in die amerikanische Wirtschaft eine Rolle. ({0}) - Moment. Sie sollten mit solchen Schlußfolgerungen nicht so vorschnell sein; denn wenn Sie wissen, daß im Verhältnis zur D-Mark der Dollarkurs weniger gestiegen ist als im Verhältnis zu anderen Währungen, werden Sie sagen müssen: Einerseits ist die amerikanische Wirtschaft stark, aber andererseits ist unsere Wirtschaft auch so stark, daß sich der Abstand zur D-Mark relativ geringer hält als zu anderen Währungen. ({1}) Wenn Sie sagen, es seien noch Risiken vorhanden, wenn man unsere zukünftige Ausfuhr betrachte, dann ist das auch richtig. Aber man muß wissen, daß z. B. 80 % unserer Ausfuhr in D-Mark abgewikkelt werden und nur 20% in anderen Währungen, die allerdings vorwiegend in Dollar. Bei der Einfuhr ist es so, daß 70% in D-Mark abgewickelt werden und 30 % in anderen Währungen, auch wieder überwiegend in Dollar. Mit anderen Worten: Wir haben eine gewisse Mischung des Währungsrisikos, weil wir zu einem großen Teil auch unsere eigene Währung zugrunde legen. Wir möchten aber schon an dieser Stelle betonen, daß wir bei der Verteidigung dieser Leistungsbilanz in Zukunft nicht einfach damit rechnen können, ein solch günstiges Austauschverhältnis bewahren zu können, ohne daß wir etwas Vernünftiges tun. Deswegen muß sich die Leistungs- und vor allen Dingen die Anpassungsfähigkeit unserer Wirtschaft immer wieder neu bewähren. Wer diese Wirtschaft nicht einem ständigen Druck zum Wandel aussetzt, wer ganz bewußt vermeidet, technologische Entwicklungen, außenwirtschaftliche Risiken oder auch sozialpolitische Entwicklungen sich auswirken zu lassen, wird die Anpassungsfähigkeit dieser Wirtschaft vermindern und damit dann in der Tat Zukunftschancen vermindern. Das wollen wir vermeiden. ({2}) Es kam vor allem darauf an, die Voraussetzungen und Bedingungen für wirtschaftliche Tätigkeit wieder zu verbessern. Die schöpferischen Kräfte in unserer Wirtschaft sollen sich wieder entfalten können. Leistung muß wieder ihren Lohn finden. Erfolg muß wieder respektiert werden. Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik erfordert viel Verständnis für die ökonomischen Notwendigkeiten bei jedem einzelnen. Aber er erfordert eben auch viel Verständnis gerade auch bei denjenigen, die diese wirtschaftspolitische Grundsatzbestimmung deswegen nicht mitvollziehen können, weil sie gegen die Grundwerte eingestellt sind, die hier notwendig sind, und dagegen etwas unternehmen. Wer in seiner generellen Politik, in seiner generellen Philosophie, wenn ich das einmal so sagen darf, nicht auf Leistung setzt, der wird eben eine solche auf Leistung bezogene erfolgreiche Wirtschaftspolitik auch nicht machen können. ({3}) Wer nicht auf die schöpferischen Kräfte setzt, wird eben solche Kräfte auch nicht freisetzen können. Er wird zur Reglementierung greifen wollen. Er wird Programme entwerfen. Er wird immer dann, wenn er ein Problem sieht, als erstes einmal ein Amt einsetzen, in der Hoffnung, daß ein Amt dieses Problem schon beseitigen werde. Das ist eine falsche Wirtschaftspolitik. ({4}) - Herr Roth, wenn Sie nicht glauben, daß wir diese schöpferischen Kräfte wieder freigesetzt haben, dann vergleichen wir das, was wir tun, doch einmal mit dem, was Sie vorgeschlagen haben. Was schlagen Sie in dieser Wirtschaftspolitik denn eigentlich vor? Was schlagen Sie in dieser Finanzpolitik vor? Wir haben die Rede von Herrn Apel hier doch alle gehört. ({5}) - Darauf komme ich gleich. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Ich will Ihnen einmal ein schöpferisches Programm vorlesen. Was würden Sie von einem solchen Programm halten? Zunächst einmal: Wer einen schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit versprechen würde, ist ein Lügner, denn Wunderrezepte zur Bekämpfung dieses Krebsgeschwürs gibt es heute nicht. ({6}) Man muß von verstärkten Exporten, wofür ein rückläufiger Preis- und Lohnkostenanstieg die wichtigste Voraussetzung ist, eine Belebung der Wirtschaft erwarten. Auch die Modernisierung der Wirtschaftsstruktur ist notwendig. ({7}) Um die so frei werdenden Arbeitskräfte nach ihrer Umschulung in anderen Unternehmen unterzubringen, muß man vor allen Dingen auf die mittelständische Wirtschaft vertrauen. Die Gründung solcher Firmen muß wesentlich erleichtert werden, weil sie, wie alle Erfahrungen zeigen, mehr Arbeitsplätze schaffen, relativ gesehen, als die Großindustrie. Schließlich brauchen wir eine Reform der Sozialgesetzgebung mit dem Ziel, die Flexibilität der Arbeitszeit zu fördern. - Das ist ein schöpferisches Programm. Es könnte fast genau das gleiche Programm sein, das wir hier verfolgen. Es ist aber das Programm des Herrn Fabius in Frankreich. ({8}) Diese Regierung in Frankreich - darüber soll kein Zweifel aufkommen - ist eine sozialistische Regierung. ({9}) - Nein, kommunistisch nicht mehr. Die Kommunisten sind ausgeschieden. ({10}) Als die Kommunisten noch in der Regierung waren, hat sie mit einem Programm begonnen, das dem entspricht, was Sie immer wieder vorschlagen. Sie hat nämlich die Wochenarbeitszeit um eine Stunde verkürzt. Sie hat Banken und Großunternehmen verstaatlicht. ({11}) - Sehr gut; na schön! ({12}) - Herr Roth, nehmen Sie doch einmal die Fakten zur Kenntnis. Ich zähle doch nur auf, was die französische Regierung im ersten Jahr nach ihrem Amtsantritt gemacht hat. Was hat sie erreicht? Das Defizit verstaatlichter Unternehmungen stieg von 3 auf 36 Milliarden französische Francs in einem Jahr. Der französische Franc mußte in einem Jahr dreimal abgewertet werden. Die Arbeitslosigkeit ist angestiegen, die Kaufkraft ist gesunken. ({13}) - Daß die Kaufkraft bei uns gesunken ist, können Sie ja nun nicht behaupten. Aber ich ziehe ja gar keinen Vergleich zu uns, sondern ich ziehe einen Vergleich zu dem, was jetzt die sozialistische Regierung in Frankreich gemacht hat. Sie hat gesagt: „Diese sozialistische Politik ist Unsinn; wir müssen eine andere machen; wir müssen die hier machen, und das ist eine liberale." ({14}) - Herr Roth, warten Sie ab. Ich komme noch auf alles. ({15}) - Ich werde so lange reden, bis ich bei Ihnen die ersten Zeichen der Besserung erkenne. ({16})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, selbst die beste und freieste Geschäftsordnung für Minister läßt das nicht zu. ({0})

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Ehe Kritik, gerade auch an den Arbeitslosenzahlen, geäußert wird, sollte man sich noch einmal in Erinnerung rufen, daß behauptet wurde, daß wir heute 3 oder 4 Millionen Arbeitslose haben müßten. Das Ziel des Stabilitätsgesetzes, daß wir Vollbeschäftigung erreichen müssen, haben wir nicht erreicht. Darum herumzureden ist vollkommener Unsinn. Genauso wie ich die Fakten aufzähle, die wir für uns in Anspruch nehmen können, so werde ich auch Fakten aufzählen, bei denen selbst diese Politik bis jetzt noch keine Änderung hat erreichen können. Wir haben allerdings den Anstieg der Arbeitslosigkeit gebremst. Das soll das Problem nicht mildern, aber es macht doch, wenn man sich einmal die Zahlen von 3 oder 4 Millionen vor Augen hält, deutlich, vor welchem Hintergrund wir diese „Erfolge" erreicht haben. Wir müssen uns, wenn wir uns mit den Ursachen der Arbeitslosigkeit beschäftigen, zunächst einmal darauf verständigen, eine schonungslose Analyse zu machen; schonungslos uns gegenüber, aber auch schonungslos dem Problem und den davon Betroffenen gegenüber. Sonst schaffen wir es nämlich nicht, dieses Problem wenigstens in Ansätzen einzukreisen und dann Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Überdurchschnittlich sind, wie die Strukturanalyse der Bundesanstalt zeigt, Arbeitnehmer ohne berufliche Qualifikation - in diesem Bereich noch einmal besonders ältere Arbeitnehmer ohne berufliche Qualifikation und Ausländer - von Arbeitslosigkeit betroffen. Ich sage das nicht, um jemanden zu beleidigen. Ich sage das auch nicht, um das Problem zu vermindern, sondern ich sage das, um die Tragweite des Problems aufzuzeigen. Wenn über die Hälfte der Arbeitslosen entweder Angelernte oder Arbeitnehmer sind, die überhaupt keine berufliche Qualifikation haben, dann müssen wir daraus Konsequenzen ziehen. Eine der Konsequenzen muß sein, daß man selbst dann, wenn man ein staatliches Beschäftigungsprogramm für wirkungsvoll hält, einräumen muß, daß man mit einem Beschäftigungsprogramm, das auf Dauer ausgerichtete Arbeitsplätze schaffen soll, die produktiv sein sollen, an dieser Kategorie von Arbeitnehmern direkt vorbeizielen würde. Beschäftigungsprogramme in sich sind schon unsinnig. Sie werden noch unsinniger, wenn man sich vorstellt, daß man diese Kategorie von Arbeitslosen damit nicht erreicht, es sei denn, man wollte Arbeitsplätze schaffen, die bloß eine künstlich aufgeblähte Möglichkeit bieten, ohne auf Dauer produktiv zu sein. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die auf einem hohen technologischen Niveau produzieren muß, um mit anderen Volkswirtschaften konkurrenzfähig zu sein, dann müssen wir an jeden, der in dieser Gesellschaft Arbeit sucht, den Anspruch stellen, daß er bezüglich seiner beruflichen Qualifikation alle Anstrengungen macht, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, weil wir ihm nämlich sonst einen Arbeitsplatz weder garantieren noch auf Dauer zur Verfügung stellen können. Das heißt also: Wir brauchen, um an diese Kategorie von Arbeitslosen heranzukommen, eine Anstrengung und eine Bereitschaft, diese Qualifikation zu erwerben, wenn sie noch nicht vorhanden ist. Wenn man das nicht voraussetzen kann, werden wir auf diesen Gebieten überhaupt keine Erfolge haben. Herr Apel hat ja auf Beschäftigungsprogramme verwiesen und aus verschiedenen Zeitungen zitiert. Ich verweise ihn auf die „Süddeutsche Zeitung", die j a sicher in dieser Frage als neutraler Beurteiler und Beobachter anerkannt werden wird. ({0}) - Na j a, wenn Sie sogar die „Süddeutsche Zeitung" nicht mehr als neutral anerkennen, was ist denn dann nach Ihrer Einschätzung neutral? ({1}) - Dann ist der „Vorwärts" neutral, und die „Tageszeitung" ist vielleicht ein etwas links von der Mitte stehendes Blatt. ({2}) Also die „Süddeutsche Zeitung" hat am 12. September geschrieben: Wer den Finanzminister auffordert, defizitfinanzierte Arbeitsplätze zu schaffen, hat die Mißerfolge der Finanzpolitik der 70er Jahre vergessen und verkennt die eigentlichen Ursachen der vielfach beklagten Abkoppelung von Wachstum und Beschäftigung. ({3}) Das ist das Problem. Und warum haben sich zu einem Teil Wachstum und Beschäftigung abgekoppelt? Aus zwei Gründen: weil ein Teil der in das Wachstum hineingehenden Investitionen Rationalisierungsinvestitionen sind, und zwar nicht mehr in einem nur mechanischen Sinn, sondern in der Anwendung und dem Aufgreifen moderner Technologien, und weil damit zugleich nicht eine hohe Zahl von quantitativen ArBundesminister Dr. Bangemann beitsplätzen, sondern von qualitativen Arbeitsplätzen geschaffen worden ist. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Roth - und damit komme ich zur neuen Technologie und wende mich im besonderen an die GRÜNEN, für die das j a ein besonderes Thema ist -: Wer den Einsatz von Technologie in unserer Wirtschaft verhindern oder auch nur verlangsamen will, der schafft zusätzliche Arbeitslosigkeit, weil er die Wettbewerbsfähigkeit dieser Wirtschaft damit zugrunde richten wird. ({4}) - Ja: die Auswahl der Technologie. Ich weiß, ({5}) daß wir heute nicht mehr das gleiche naive, ungebrochene Verhältnis zur Technologie haben. ({6}) - Na, also! Wenn Sie mir zwei Sätze lang zuhören würden, dann würden Sie merken, daß ich dieses ungebrochene Verhältnis nicht mehr habe. Wenn Sie mir aber keine Gelegenheit geben, das auszusprechen, dann können Sie nur ein Vorurteil über mich haben. Und das kann doch Ihrem Emanzipationsanspruch nicht entsprechen. ({7}) Natürlich sind wir in der Aufnahme moderner Technologie nicht mehr in dem Zustand der Unschuld, der das 19. Jahrhundert geprägt hat, übrigens damals unabhängig von jeder parteipolitischen Färbung fast jedermann; das ging von rechts bis ganz weit nach links; Kommunisten z. B. haben angenommen, daß sie den Kommunismus in der Sowjetunion einführen und erreichen können, nachdem sie die Sowjetunion elektrifiziert haben. So war damals die Naivität gegenüber modernem technologischen Fortschritt. Heute wissen wir, daß das in der Tat ein zu einfaches Verhältnis zur Technologie ist. Wir stehen sogar vor ganz neuen Herausforderungen. Bei der Anwendung von Gentechnologie und modernen biologischen Verfahren muß man selbstverständlich auch neue ethische Standards setzen. Aber man darf nicht von vornherein aus der Angst, daß man diese Probleme nicht bewältigt und daß man in neue Anforderungen geführt wird, eine solche Technologie ablehnen. Wer das tut, verschüttet Entwicklungschancen unserer Wirtschaft und damit die Möglichkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ein wichtiger Schlüssel dabei sind nach wie vor die Innovationen und innovativen Investitionen sowie eine ständige Verbesserung und Modernisierung unseres Produktionsapparats. Niemand kann bestreiten, daß die jährlichen Netto-Investitionen seit Anfang der 70er Jahre viel zu niedrig waren. Sie lagen 1982 in der gewerblichen Wirtschaft rund ein Viertel unter dem Stand von Anfang der 70er Jahre. Sie blieben damit sogar noch etwas unter dem bereits Mitte der 60er Jahre erreichten Niveau. Auf Grund dieser lang anhaltenden Investitionsschwäche hat sich zusätzlich zu dem technologischen Rückstand die Altersstruktur des Sachkapitalbestands der Unternehmen erheblich verschlechtert. Daß hier zwischen innovativen Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen ein gewichtiger Zusammenhang besteht, zeigt die Entwicklung in den USA und in Japan. Ich sage Ihnen das nur an Hand weniger Zahlen. Man verzeichnet in den USA einen Anstieg der Investitionen von 1982 auf 1983 um 14,2 % und von 1983 auf 1984, hochgerechnet auf Jahresmitte, um 20,6 % und in demselben Zeitraum einen Anstieg der Beschäftigung um 6,5 Millionen. Das heißt, selbst wenn sich dieser Zusammenhang etwas gelockert hat, gibt es ihn noch, und wir brauchen weiterhin Investitionen, die einen solchen Innovationsschub mit sich führen. Investitionen können aber nicht aus dem Boden gestampft werden, und deswegen brauchen wir eine langfristig ausgerichtete globale Beschäftigungs- und Wachstumsstrategie. Sie ist der einzige Weg, um einen durchschlagenden Erfolg auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Dazu gehört aber vor allem eine verläßliche, überzeugende und auch neue Perspektiven bietende Wirtschaftspolitik, die das Investitionsklima verbessert. Damit haben wir Erfolg gehabt. Die Unternehmen haben positiv reagiert. Die Bruttoanlageninvestitionen in der Wirtschaft waren vor dem Arbeitskampf real um 5,3 % höher als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die Inlandsaufträge in der Investitionsgüterindustrie waren in den Monaten Mai bis Juli - die Ergebnisse sind natürlich durch den Arbeitskampf beeinflußt worden, was niemand bestreiten kann - real immer noch um 6 % höher als zur gleichen Vorjahreszeit. Diese Zahlen ergeben sich einfach aus der Statistik, und niemand kann sie bestreiten. Deswegen verstehe ich nicht, warum die SPDArbeitsgruppe Haushalt zu der mehr als leichtfertigen Behauptung kommt, daß die Investitionskonjunktur noch nicht angesprungen sei. Als Sie diese Feststellung getroffen haben, Herr Roth, kannten Sie die Zahlen vom August wahrscheinlich noch nicht. Ich weiß nicht, ob Sie die Zahlen vom Juli schon kannten; Sie mußten sie eigentlich schon kennen. Diese Zahlen sind noch positiver, noch ausgeprägter als diese hier. Man kann bezüglich der Entwicklung der Konjunktur, mit der wir in diesem Jahr rechnen können, sagen: die Voraussage von 2,5 % war vorsichtig, aber realistisch. Sie wird erreicht werden, nicht auf Grund des Strohfeuers einer künstlich angeheizten Konsumkonjunktur, sondern im wesentlichen auf Grund der angestiegenen Zahlen bei den Investitionen. Das bedeutet: Auch im nächsten Jahr können wir auf Grund dieser Investitionen mit einer weiter wachsenden Kurve rechnen. Das sind Erfolge, die niemand bestreiten kann. ({8}) Nun weiß ich natürlich, daß die SPD sagen wird: Na schön, das hat dieses Problem der Arbeitslosigkeit nicht gelöst. ({9}) Ich will mich jetzt mit Ihnen nicht auf die Frage einlassen, ob wir etwas Positives bei den Zahlen der Kurzarbeiter, der neuen, der unbesetzten Plätze feststellen können. Eines ist sicher: Überall dort, wo wir bereits mit Erfolg Programme aufgestellt, finanziert haben und sie weiterlaufen lassen werden, können wir natürlich stärkere arbeitsmarktpolitische Effekte erzielen. Aus diesem Grund habe ich vorgeschlagen - ({10}) - Ich will es Ihnen gerade sagen. Sie müssen mir nachsehen, daß ich noch eine relativ geringe Erfahrung mit der Opposition habe; deswegen bin ich immer wieder - ({11}) - Herr Roth, wie lange sind Sie schon der wirtschaftspolitische Sprecher Ihrer Fraktion? ({12}) Das sind Sie schon ein paar Jahre. Wenn ich eine solche Rede gehalten hätte, wie Sie sie als wirtschaftspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion gehalten haben, würde ich an Ihrer Stelle mir gegenüber den Vorwurf der Inkompetenz nicht mehr erheben. Darüber sollten wir uns klar sein. ({13}) Aber ich bin noch unerfahren mit der Ungeduld, die Sie haben. Deswegen lassen Sie mich bitte einmal ausreden. ({14}) Wir haben ein Programm zur Förderung und Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Ich habe vorgeschlagen, daß dieses Programm in den jetzt beginnenden Gesprächen mit den Ländern daraufhin überprüft wird, wo wir zusätzliche Arbeitsmarkteffekte erzielen können. Das ist möglich. Ich bin z. B. der Meinung - wir werden sehen, wie weit wir auch mit den von der SPD regierten Ländern kommen werden -, daß man die Fördergebiete durchaus so abgrenzen sollte, daß die von Arbeitslosigkeit besonders betroffenen Gebiete und Regionen in besonderer Weise gefördert werden. Das Gießkannenprinzip hat da nicht viel Sinn. Wenn Sie in Ostfriesland beispielsweise eine Arbeitslosigkeit haben, die teilweise an 30 % heranreicht, müssen Sie insbesondere in diesem Gebiet etwas tun. ({15}) Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß die beiden Bereiche, in denen in der Vergangenheit neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind, nämlich der Bereich Handwerk und der Bereich Dienstleistungen, bisher aus diesem Programm ausgeschlossen waren. Das kann nicht richtig sein! Deswegen müssen wir Handwerk und Dienstleistungen in diesem Programm wesentlich stärker fördern, als es in der Vergangenheit der Fall war. Wir haben das in die Diskussionen eingebracht, und ich werde das vorschlagen. ({16}) Im übrigen darf ich Sie auch darauf hinweisen, daß wir beispielsweise unser Existenzgründungsprogramm, das sehr gut läuft, daß wir beispielsweise das Programm Forschung und Entwicklung, das wir jetzt ja noch durch das Programm des Kollegen Riesenhuber ergänzt haben, daß wir all diese Programme natürlich auch mit einem Arbeitsmarkteffekt betreiben. Das ergibt Zahlen, die an die Hunderttausende gehen. Von daher kann man nicht, wie man es j a immer wieder hört, sagen, von dieser Regierung werde nichts getan. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen hier - abgesehen von diesen Teilerfolgen bei Programmen, die wir bereits haben - noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen, daß eine unerhört wirkungsvolle Tätigkeit auch darin liegt: Wer dafür sorgt, daß eine freie Marktwirtschaft sich frei entfalten kann, der hat nicht nichts getan, sondern hat das Beste getan, was man heute auf der Welt tun kann, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. ({17}) Nur diejenigen, die Marktwirtschaft nicht verstanden haben, können überhaupt auf den Vorwurf kommen, daß der Staat alles selber machen muß, damit er dem Vorwurf, nichts getan zu haben, entgehen kann. ({18}) Meine Damen und Herren, wenn der Staat dafür sorgt, daß sich eine Wirtschaft ohne Beengungen, ohne Bürokratismus, ohne allzu enge - auch aus sozialen Intentionen kommende - Vorschriften entwickeln kann, werden Sie eine wirkungsvollere und im Grunde genommen auch sozialere Wirtschaftspolitik betreiben, als wenn Sie noch so viele Programme auflegen, Ämter einrichten, Investitionsprogramme machen und Investitionskontrollen durchführen. Ich würde es noch verstehen, wenn wir uns hier über theoretische Ansätze streiten müßten. Aber das Seltsame an solchen politischen Diskussionen ist ja, daß immer übersehen wird, daß das gar nicht notwendig ist, denn wir haben in der Geschichte überall praktische Erfahrungen gesammelt. Es gibt in der ganzen Wirtschaftsgeschichte kein einziges Wirtschaftssystem, das so sozial ist wie ein marktwirtschaftliches System. Das liegt vor allem daran, daß ein marktwirtschaftliches System effizient ist. Meine Damen und Herren, Effizienz bedeutet das Erstellen von Gütern und Leistungen auf einem geringen Kostenniveau. Das ist schon in sich sozial. Wenn man billiger wohBundesminister Dr. Bangemann nen kann, wenn man sich billiger ernähren kann, wenn man eine billigere Möglichkeit der Fortbewegung hat, wenn das alles dem einzelnen in seinem persönlichen Bereich zur Verfügung steht, und zwar auch noch zur freien Auswahl, wenn sich der einzelne also aussuchen kann, wohin er fahren will, dann ist das doch in sich die beste Sozial- und Gesellschaftspolitik, die man machen kann. ({19})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten BeckOberdorf?

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Bitte sehr.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, können Sie mir bitte sagen, wie es Ihnen möglich ist, alles auszuklammern, was ein Stückchen hinter diese logische Kette, die sie gerade gebildet haben, führt? Sie nennen das billigere Wohnen, und sie berücksichtigen z. B. überhaupt nicht Agrarimporte aus der Dritten Welt, wo die Armut zunimmt. Das müssen Sie doch zu Ihren Ausführungen hinzunehmen. Oder Sie sagen „billige Produktion" und es wissen doch alle, daß hier auf Grund der Vernachlässigung ökologischer Zusammenhänge billig produziert wird. Das können Sie doch nicht außer acht lassen!

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Nein, wenn Sie mich danach fragen, will ich das selbstverständlich nicht außer acht lassen. Auf die Gefahr hin, daß der Kollege Gallus einräumen muß, daß ich auch von Agrarpolitik etwas verstehe, sage ich Ihnen folgendes. Ich bin überhaupt nicht Ihrer Meinung. Wissen Sie, warum nicht? Weil diese Europäische Gemeinschaft, die ja der Hauptträger von Entwicklungspolitik, auf jeden Fall von Agrarpolitik geworden ist, die einzige Gruppe von Ländern in der Welt ist, die gerade auf diesem Gebiet ganz dezidierte Entwicklungspolitik zur Förderung der Landwirtschaft dort vor Ort betreibt. ({0}) - Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir könnten, wenn wir wollten, hier genügend Zucker produzieren. Wir haben jetzt auch Überschüsse. Obwohl wir genügend Zucker produzieren könnten, haben wir den AKP-Ländern, insbesondere den karibischen Ländern, für die das eine traditionelle Produktion ist, Quoten zu festen Preisen eingeräumt, die sie bei uns absetzen können, damit sie davon leben können. Wir haben ihnen gleichzeitig gesagt, daß sie eigentlich von dieser Monokultur wegkommen sollten, denn wenn sie sich selbst ernähren, können sie nicht nur immer auf Exporterlöse schauen, sondern müssen in erster Linie etwas produzieren, damit sich ihre eigene Bevölkerung ernähren kann. ({1}) - Hier machen wir das j a. Mein verehrter Kollege, darf ich Ihnen einmal etwas sagen: Wissen Sie, mit welchen Entwicklungsländern wir die größten Schwierigkeiten haben, sie dazu zu bringen, eine eigene Agrarproduktion aufzubauen, damit sie ihre eigenen Leute ernähren können? Mit den Entwicklungsländern, die sich am weitesten weg von einem liberalen System befinden. ({2}) Je weiter weg sie von liberalen Überzeugungen in der Wirtschaftspolitik sind, um so eher neigen sie zu einem staatlichen Dirigismus, um so mehr gehen sie aber auch direkt an den Interessen der Bevölkerung vorbei. Dort werden dann nämlich die großen Flugplätze gebaut, und wir, die Europäer, müssen denen beibringen, daß sie erst einmal die Wasserversorgung in den Dörfern verbessern müssen, damit nämlich die Frauen in den Entwicklungsländern - wenn ich Ihnen das auch noch sagen darf, die Frauen in den Entwicklungsländern sind die eigentlichen Last- und Arbeitstiere in diesen Gesellschaftssystemen . ({3}) etwas davon haben. Das müssen wir den Leuten sagen. Auf die Idee kommen die nämlich gar nicht. ({4}) Jetzt möchte ich mich, nachdem ich mich schon in das Gebiet von Herrn Warnke eingemischt habe - ich bitte um Entschuldigung -, mit dem Streik befassen. Herr Apel und, wie ich glaube, auch Herr Roth, haben meine Äußerung zum Streik zitiert. - Herr Roth nicht, aber ich nehme an, Sie können sie auch zitieren; wenn Sie Herr Apel zitiert, können Sie sicher dasselbe sagen. ({5}) Ich möchte Ihnen dazu folgendes sagen: Natürlich wurde die Aufwärtsentwicklung durch die Arbeitskämpfe in der Metallindustrie und Druckindustrie unterbrochen. Das läßt sich nicht bestreiten. Das ist eine Feststellung, das ist kein Vorwurf, keine Wertung. An Tatsachen sollte aber niemand vorübergehen. ({6}) Es ist auch klar, Herr Kollege, daß natürlich ein solcher Arbeitskampf, besonders wenn er so erbittert ausgefochten wird, das Klima in der Wirtschaft beeinträchtigt. Das kann man auch nicht bestreiten. Das ist auch eine Tatsache, die nicht dazu führen muß, daß man einen Arbeitskampf gar nicht mehr macht, aber man muß damit rechnen, daß das der Effekt ist. Die Produktionsausfälle sind statistisch nachweisbar. Daran läßt sich auch nichts deuteln. Gerade deswegen habe ich vorgeschlagen, daß wir, nachdem wir noch volkswirtschaftlich verantwortbare Ergebnisse bei den endgültigen Tarifvereinbarungen erzielt haben, in Zukunft einen solchen ideologisch verhärteten Arbeitskampf vermei6004 den sollten, wenn doch beide Teile wissen, daß am Ende ein vernünftiges Ergebnis herauskommen muß. Deswegen bin ich sehr froh, daß die Gewerkschaften jetzt nach einer gewissen Zeit des Zögerns damit einverstanden sind, die Kamingespräche beim Bundeskanzler wieder aufzunehmen, denn wir werden die technologischen Herausforderungen, die einen Eingriff in manche liebgewordene soziale Position nach sich ziehen werden, nur bestehen, wenn wir sie gemeinsam bestehen. Wenn wir daraus ideologische Streitigkeiten machen, werden wir es nicht schaffen. Deswegen bin ich froh, daß wir nach diesem Streik zumindest in ein vernünftigeres Verhältnis kommen können. Was an dieser Bundesregierung liegt, vor allen Dingen was an dem Bundeskanzler liegt, da kann ich Ihnen versichern, ({7}) zu diesem Dialog sind wir bereit. Es liegt jetzt bei den Gewerkschaften, ob sie diese ausgestreckte Hand ergreifen wollen. ({8}) Wenn wir jetzt trotz der zurückliegenden Tarifauseinandersetzungen das Wachstumsziel noch erreichen können, dann spricht das für die Robustheit des durch den Vertrauensgewinn in Gang gesetzten Aufschwungs. Die Bedingungen für die Fortsetzung dieses Aufschwungs sind günstig. Produktion und Investitionen laufen wieder. Die Auftragseingänge steigen wieder, und die Vertrauensbasis wird breiter. Das wird auch 1985 anhalten. Wenn Sie immer wieder Wirtschaftsinstitute zitieren, dann sollten Sie sie ganz zitieren. Der Kollege Apel hat das RWI zitiert, wenn ich mich nicht täusche. Er hätte dann eigentlich auch einmal sagen müssen, was er zu den grundlegenden Positionen dieses Instituts sagt, das j a - wie auch wir - der Meinung ist, daß eine noch stärkere Konsolidierung allein geeignet ist und noch stärkere vernünftige Lohnpolitik Voraussetzungen schaffen kann für eine Verstetigung der Konjunktur. Man kann sich nicht aus einer ganzen Stellungnahme das herauspicken, was einem gefällt, und sich auf die Autorität eines solchen Instituts berufen und den ganzen Rest, der die Bundesregierung und ihre Wirtschaftspolitik bestätigt, weglassen. Das kann man nicht machen. Ich will nicht sagen, daß das unredlich ist. Aber das ist einfach kein guter Beitrag zu einer Diskussion, die wir ja gemeinsam führen wollen. ({9}) Natürlich gibt es auch Risiken, zum Teil solche, die wir nicht beeinflussen können: in den USA. Wir wissen nicht, wie sich die konjunkturelle Entwicklung dort gestalten wird. Wir haben einige Hoffnungen, daß sie das Verschuldungsproblem lösen können, jedenfalls in den Griff bekommen. Aber wir haben selbstverständlich nicht alles schon jetzt parat. Man kann aber sagen: Die positiven Faktoren - die Faktoren, die uns zu dem Urteil berechtigen, auch 1985 werde der Anstieg weitergehen - sind wesentlich deutlicher als diese Risiken. Es ist natürlich verfrüht, dazu schon jetzt Zahlen zu nennen. Es ist mir sicher gestattet, auch einmal jemanden zu zitieren. Ich habe kein Institut, sondern eine Landesbank ausgesucht, nämlich die Westdeutsche Landesbank; denn sie ist am unverfänglichsten. Niemand wird mir unterstellen, daß ich mir dort etwas bestellt habe. Die Westdeutsche Landesbank hat in einer interessanten Übersicht für das Jahr 1985 ein durchschnittliches Wachstum von 2,5% bis 3,0% vorhergesagt. Ich mache mir, wie gesagt, die Zahlen jetzt nicht zu eigen; denn ich glaube, daß es noch etwas zu früh ist. Aber diese Prognose zeigt, wie stark der Optimismus selbst bei diesen Instituten ist, die ja doch, Herr Roth, sicherlich einen tieferen Einblick in sozialdemokratische Gemütsgänge haben als ich. ({10}) Gerade die jüngste lange Rezessionsphase hat einerseits gezeigt, wie dringend nötig Wachstum z. B. für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung, für die Einhaltung unserer Verpflichtungen auch gegenüber den Entwicklungsländern ist. Wir haben jetzt z. B. im Lomé III - - Warum verziehen Sie Ihr Gesicht? Sie kennen doch sicher Lomé III, nehme ich an. - Wir haben trotz unserer Konsolidierungspolitik beispielsweise zugestimmt, dieses Programm um eine Milliarde ECU, also rund 2,5 Milliarden DM, auf 7 Milliarden ECU aufzustocken. Wer in der ganzen Welt, meine Damen und Herren, tut eigentlich soviel für Entwicklungspolitik wie diese europäischen Länder? ({11}) Die in den 70er Jahren erhobene Forderung nach Nullwachstum ist weitgehend verstummt. Warum? Weil man erkannt hat, meine Damen und Herren, daß in einem Wirtschaftswachstum, das auch qualitativen Anforderungen genügt, viele Probleme von heute überhaupt erst lösbar werden. Wir haben Umweltprobleme. Wir leben in einem schärfer werdenden Umweltbewußtsein. Das ist gut so. Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Wenn wir nicht bereit sind, moderne Technologien zu nutzen, dann werden wir neue Umweltschäden provozieren und die vorhandenen nicht oder nicht so schnell beseitigen können. In diesen modernen Technologien liegt auch eine Chance für die Bewältigung von Problemen der Umweltpolitik. Eines will ich Ihnen mit Deutlichkeit sagen: Wer z. B. gegen die moderne Biotechnik eintritt und sie als ein Kind des Teufels betrachtet, der argumentiert von einer Position des Luxus aus. Meine Damen und Herren, ich möchte einmal einen Politiker eines Landes fragen, in dem tagtäglich Menschen verhungern, ob der nicht sofort bereit wäre, Biotechnik anzuwenden, wenn er das Verhungern dieser Menschen verhindern könnte. ({12}) Hier argumentieren wir nämlich als Luxusgeschöpfe. ({13}) Weil wir Hunger bei uns nicht mehr kennen, glauben wir uns höhere moralische Standards leisten zu können. Wir schließen die Augen vor den Anforderungen von Millionen von Menschen auf der Welt, die um das nackte Überleben kämpfen. Auch das ist eine Position, die man einmal bedenken muß. ({14}) Das bedeutet auch für unsere Wirtschaft Wachstumschancen. Kein Mensch soll annehmen, daß Umweltpolitik immer nur Behinderung bedeutet. Deswegen wird sich diese Regierung auch aus wirtschaftspolitischen Gründen für ein umweltfreundliches Auto mit Vehemenz und mit Nachdruck einsetzen. Wir werden dafür eine Lösung finden, weil wir es auch aus wirtschaftspolitischen Gründen für richtig halten. Warum ist denn die französische und die britische Automobilindustrie in Amerika nicht so erfolgreich wie die deutsche? Weil sie sich nicht eingestellt hat und nicht einstellen wollte und konnte auf die härteren Umweltanforderungen in Amerika. Wir haben das getan, und wir haben dort unseren Markt behalten. Wer sich vom technologischen Fortschritt abkoppelt, wer glaubt, daß er in einem Gehäuse leben kann - das europäische Gewerkschaftsinstitut hat erst vor kurzem wieder den Vorschlag gemacht, wir sollten die Technologie langsamer entwickeln, und wenn die Japaner uns voraus seien, dann gebe es ein ganz einfaches Mittel, und zwar machen wir unsere Grenzen dicht und lassen das halt nicht mehr herein -, der erreicht erstens zu Hause keinen Schutz, und zweitens tut er etwas fundamental Negativeres, er beseitigt sämtliche Konkurrenzchancen, die wir auf dem Weltmarkt überhaupt noch haben. ({15}) Deswegen wird sich diese Regierung auch mit Vehemenz und mit Nachdruck darum kümmern, daß wir im Bereich der Außenhandelspolitik den freien Welthandel beibehalten, den wir heute haben. Da gibt es Gefahren. Im amerikanischen Kongreß gibt es über hundert Gesetzentwürfe, die protektionistischen Inhalt haben. Natürlich ist in Wahlkampfzeiten wie heute die Chance relativ gering, daß man für Freihandel Alliierte findet, wenn man sich vor den Wählern präsentieren und ihnen erklären muß, daß natürlich auch eine amerikanische Wirtschaft sich dem internationalen Wettbewerb stellen muß. Das müssen wir aber tun. Wir werden uns mit Nachdruck dafür einsetzen, daß die neue GATT-Runde gut vorbereitet wird, aber bald beginnt. Wir haben zunehmend subtile Praktiken, die protektionistischer Natur sind und die die Chancen unserer Wirtschaft behindern werden. Sie wissen, daß über 50 % unserer Industrieproduktionen exportiert werden und daß wir deswegen dafür sorgen müssen, daß wir diese Chancen nicht verlieren. Mehr private Initiative, mehr Flexibilität und Dynamik versprechen wir uns auch von den Bemühungen um Entbürokratisierung, um Abbau hemmender administrativer Regelungen und auch von der Politik der Privatisierung öffentlicher Beteiligungen und Dienstleistungen. Deswegen ist die Bereitstellung von Risikokapital so wichtig. Konkrete Vorschläge hierzu werden wir in Kürze auf den Tisch legen. Zu überlegen sind dabei die Abschaffung der Gesellschafts- und Börsenumsatzsteuer, die Erleichterung des Börsenzugangs für mittelständische Unternehmen und auch ein Organisationsgesetz für Unternehmensbeteiligungsgesellschaf ten. Diese Politik ist auch dann wichtig, wenn, wie wir jetzt sehen, unser Kapitalmarkt sehr robust ist. Wer hätte denn eigentlich erwartet, daß bei einer Zinsdifferenz von über 5% gegenüber dem amerikanischen Kapitalmarkt, bei der bekannten Robustheit auch der amerikanischen Wirtschaft und der damit verbundenen Sicherheit Anleger zwar nach Amerika gehen, dennoch aber unser Zinsniveau nicht nur stabil gehalten werden konnte, sondern sogar noch abgesunken ist. Was das für die privaten Investitionen bedeutet, ist überhaupt nicht abzumessen. Deswegen möchte ich mich bei dem Kollegen Stoltenberg ganz ausdrücklich bedanken. Eine Konsolidierungspolitik, die die öffentliche Hand als Nachfrager vom Kreditmarkt ausschließt, oder sagen wir einmal: nicht mehr im selben Umfang wie in der Vergangenheit dort auftreten läßt, schafft Freiräume für die private Nachfrage, hält das Zinsniveau niedriger und hat uns in die Lage versetzt, trotz des hohen amerikanischen Zinsniveaus ohne administrative Regelungen einen funktionierenden Kapitalmarkt bei uns aufrechtzuerhalten. ({16}) Nun noch ein Wort zur Forschungspolitik, weil Herr Roth mich auch darum gebeten hatte. Ich weiß, daß die Forschungspolitik, die die SPD fordert, als aktiv, vorausschauend bezeichnet wird, weil sie staatlichen Charakter haben soll. Sie haben das zuletzt in Ihrer Großen Anfrage zum Ausdruck gebracht. Ich halte eine solche Politik für verfehlt. Sie führt zu kollektiven Fehlinvestitionen, sie führt zu Subventionswettlauf, sie führt zu Wettbewerbsverzerrungen, zu Überkapazitäten, sie entmutigt Unternehmer und Arbeitnehmer. Ganz besonders gefährlich wäre der dadurch eingeleitete Förderwettbewerb zwischen den Staaten. Meine Damen und Herren, wenn die Bundesrepublik eine solche gezielte Forschungsförderungspolitik unter massivem Einsatz öffentlicher Mittel betreiben würde, dann bliebe sie j a nicht allein. Sie würde sofort die Konkurrenz Frankreichs, Großbritanniens, Japans und der USA herausfordern. Sie geraten unweigerlich in einen Subventionswettlauf, den wir vielleicht aushalten können, der aber zur Fehlleitung von öffentlichen Geldern führt. Öffentliches Geld, das Sie falsch investiert haben, fehlt Ihnen zweimal: Zum einen müssen Sie es aufbringen - entweder durch Steuern oder im Zweifel durch Schuldaufnahme -, zum anderen fehlt es der Wirtschaft dort, wo es produktive Wirkungen gehabt hätte. Deswegen ist eine sogenannte aktive Forschungsförderungspolitik das Gegenteil dessen, was wirkungsvoll ist. Sie können von dieser Bun6006 desregierung nicht erwarten, daß sie das Gegenteil von dem sucht, was wirkungsvoll ist, Herr Kollege Ehmke. ({17}) Herr Riesenhuber hält sich in diesen Definitionen. Deswegen ist seine Förderungspolitik ja wirkungsvoll. Wenn er die Ihre übernehmen würde, ({18}) würde er sich als Mitglied dieser Bundesregierung sicherlich nicht wohlfühlen. Diese Position und diese Wirtschaftspolitik der Bundesregierung können wir als Beitrag zu einer wirtschaftlichen Gesundung in diese Debatte einführen. Diese wirtschaftliche Gesundung hat aber nicht nur wirtschaftspolitische Effekte. Das war in der deutschen Geschichte schon immer so, und das wird auch so bleiben. Eine vernünftige, eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung, die durch eine zurückhaltende marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik möglich wird, geht in ihren politischen Wirkungen weit über das eigentliche materielle Wohlergehen der Menschen hinaus. Sie schafft nämlich als erstes gesellschaftliche Freiräume, die Sie auf keine andere Weise schaffen können. Staatlicher Dirigismus, Interventionismus, beschränken persönliche Freiheit nicht nur im Wirtschaftsbereich, sondern darüber hinaus. Menschen leben freier in einem Gesellschaftssystem, das sich von marktwirtschaftlichen Positionen bestimmen läßt. ({19}) Diese Wirtschaftspolitik enthält darüber hinaus auch eine sozialpolitische Komponente. Liberale Wirtschaftspolitik ist kein blutiger Kapitalismus, wie er noch in den Anfängen des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen war; er ist mit Recht kritisiert worden. In einer postindustriellen Gesellschaft ist diese Wirtschaftspolitik zutiefst auch Sozialpolitik, weil sie den Menschen die Möglichkeit gibt, selbst zu verdienen, und weil sie ihnen auch die Möglichkeit gibt, nach einem erfüllten Arbeitsleben eine Rente als sicher anzusehen. Das ist mit ein Bestandteil liberaler Wirtschaftspolitik. Deswegen verstecken wir uns auch nicht und lassen uns in eine Ecke drängen, indem man sagt: Ihr mögt zwar effizient sein, aber sozial seid ihr nicht. Im Gegenteil, diese Wirtschaftspolitik ist zutiefst sozial und wird deswegen von uns aus Gründen sozialer Gerechtigkeit vertreten. ({20})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Mit dieser Wirtschaftspolitik sind wir nicht nur national erfolgreich, sondern auch international. Die ganze Welt um uns herum - von wenigen Ausnahmen abgesehen - beginnt sich an den Grundsätzen dieser Wirtschaftspolitik auszurichten. Wir haben in der Europäischen Gemeinschaft erreicht, daß der verhängnisvolle Glaube an inflationäre Politik aufgehört hat. ({0}) Der Abstand der Inflationsraten ist geringer geworden. Wir haben es erreicht, daß die Welt - zwar noch nicht vollständig, aber zu großen Teilen - an den freien Welthandel als eine Entwicklungschance glaubt. Wir haben auch erreicht, daß in der Entwicklungspolitik die Chancen der Marktwirtschaft heute anders gesehen werden als in der Vergangenheit. Da wir dieses Modell in alle Länder um uns herum exportieren konnten und es überall angenommen worden ist, warum sollten wir es hier bei uns beenden? Das frage ich mich, und das wird sich der Wähler fragen. Darauf wird er eine eindeutige Antwort geben, meine Damen und Herren. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Simonis.

Heide Simonis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002178, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast, Herr Wirtschaftsminister - fast! -, könnte man Mitleid mit Ihnen bekommen. ({0}) Sie geben sich zwar Mühe, aber Sie haben offensichtlich überhaupt noch nicht begriffen, daß Ihr Kollege, der Finanzminister, Sie zu einer Art Frühstücksdirektor de luxe heruntergewürdigt hat. ({1}) Denn in dem strategisch wichtigen Moment, als der Amtswechsel stattfand, hat Herr Stoltenberg es für richtig gefunden, in Personalunion die Neuauflage des beliebten Boulevard-Stückes „Plisch und Plum" zu spielen. Und als der neue Wirtschaftsminister inthronisiert war, da war sein Haushalt um 10% gekürzt, und für die folgenden Jahre war auch nicht mehr viel da. ({2}) Zwar haben Sie noch versucht, in eilends zusammengerufenen Pressekonferenzen Meinungsführerschaft und Sachverstand nachzuweisen, aber das hat Ihnen dann der Stoltenberg auch noch vom Tisch gewischt. Das Geld war perdu, und im übrigen sind Sie um einige Zentimeter kürzergemacht worden, ehe Sie überhaupt angefangen haben. ({3}) A la bonheur, das war ein guter Start, das war ein gelungener Start. Was immer Sie an Vorstellungen zur Umstrukturierung, zu moderner Industrie- und Beschäftigungspolitik haben mögen - übrigens: das Wort „Arbeitslosigkeit" gibt es in Ihrem Sprachschatz offensichtlich überhaupt nicht -, ({4}) Sie werden von den Gnaden des Finanzministers abhängig sein, und dieser wird Sie Jahr für Jahr klammheimlich um Zentimeter kürzen, bis Sie nicht mehr da sind - so wie andere Minister in diesem Kabinett auch nicht mehr. ({5}) Herzlichen Glückwunsch zu diesem Start! Da nicht sein kann, was nicht sein darf, mußten Sie in der „Stuttgarter Zeitung" am 9. August 1984 auch ganz schnell bekanntgeben, daß die Regierung zwar höhere Arbeitslosigkeit und geringeres Wachstum befürchte, daß Sie aber keinen Handlungsbedarf sähen. Wie könnten Sie auch? Sie haben keinen Handlungsspielraum, wo sollen Sie dann den Handlungsbedarf sehen? Sie sind wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind. Wer kein Geld hat, kann auch nichts machen. Insoweit haben Sie sich ganz logisch verhalten. ({6}) Fasziniert von den sogenannten Spar- und Sanierungserfolgen des großen Finanzjongleurs Dr. Stoltenberg, verfolgt das staunende Publikum stumm das Geschehen, obgleich es weiß Gott Grund zur Klage gibt. Und hätten Sie sich die Mühe gemacht, die Pressenotizen noch einmal kurz durchzugucken, dann wäre Ihnen aufgefallen, daß selbst das Kieler Wirtschaftsforschungsinstitut, das doch sonst immer auf Ihrer Seite steht - ich habe jedenfalls noch nie etwas anderes erlebt -, Ihnen ein ziemlich düsteres Zukunftsbild mit auf den Weg gibt und Sie warnt, mit dem Blödsinn, den Sie angefangen haben, weiterzumachen, weil sonst ein schlimmer Konjunktureinbruch und höhere Arbeitslosigkeit zu befürchten seien. Das lesen Sie nicht, das sehen Sie nicht; Arbeitslosigkeit und Konjunktureinbrüche kommen in Ihrem Weltbild eben nicht vor. ({7}) Statt dessen: Weil Sie dies alles nicht zur Kenntnis nehmen wollen, werden die Titel Ihres Haushalts - wie in einer Fieberkurve - herauf- und heruntergefahren, als gäbe es überhaupt keinen Sinn, keine ordnende Hand hinter all dem, was Sie machen. Wie predigten Sie doch früher, als Sie in der Opposition waren, vor allem die Union? Verstetigung der Wirtschaftspolitik, Kalkulierbarkeit der Finanzpolitik, Verläßlichkeit. Ade, du schöner Traum! An die Stelle dieser Kriterien ist das Regiment der geänderten Richtlinien und der Verwaltungsvorschriften getreten - jedes Jahr eine andere Verwaltungsvorschrift, jedes Jahr andere Berechnungskriterien. Ich kann mir vorstellen, daß die Wirtschaft über diese Leistung der neuen Regierung erfreut ist. Welcher Sinn steht denn beispielsweise hinter der Tatsache, daß Sie den Mut haben, die Kohlehilfe-Titel um ein Viertel des 1984er Ansatzes zurückzunehmen, um mehr als eine halbe Milliarde DM? Soll denn der Markt dort heilend eingreifen, wo Sie zu bange sind, Herr Bangemann, um etwas zu tun? Soll der Markt das auf Null herunterbringen, was wir an Kohlevorrangpolitik von Ihnen immer hören? Dies ist doch eine Chimäre, an die Sie selber nicht mehr glauben; die Sie nur vor sich hertragen, wenn Sie in Nordrhein-Westfalen Stimmen gewinnen wollen. ({8}) Zu den Investitionshilfen für den Bergbau, die der Finanzminister mit seinem spitzen Stift um fast 100 Millionen DM gekürzt hat, sagte er, als er noch als Ministerpräsident in Schleswig-Holstein die Union vertreten hatte, in einer Sendung des ZDF zu dem damaligen Finanzminister, es sei unglaublich, daß die Investitionshilfen für den Bergbau in einer Zeit der Beschäftigungslosigkeit und Beschäftigungsschwierigkeiten um 100 Millionen DM zurückgefahren worden seien. Sekundiert haben damals die CDU-Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, die jetzt plötzlich in Schweigsamkeit verfallen sind. Eine Krähe pickt der anderen halt so ungern in der Öffentlichkeit ein Auge aus. Aber eigentlich müßten Sie sich wirklich schämen ob Ihrer Mutlosigkeit. ({9}) Offensichtlich hofft die ganze Regierung mitsamt der sie tragenden Koalition, daß sich mit der Zeit ein gnädiges Vergessen über Ihre großen Worte von gestern legen wird. Die neue Devise heißt sparen; sparen bis zum letzten Arbeitslosen, sparen bis zum letzten Arbeitsplatz. Wohin das noch gehen wird, weiß kein Mensch. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin Simonis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rumpf?

Heide Simonis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002178, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Sie kürzen in den Haushalten Wirtschaft, Verkehr, Forschung und Technologie mehr als 1 Milliarde DM an Investitionen. Das bedeutet, daß bei der Werften- und Reederhilfe, bei Kohle und Stahl nichts, aber auch gar nichts Neues kommt. Dies bedeutet, daß im Ruhrgebiet, in den Werftstandorten, im Saarland, also überall dort, wo die Arbeitslosigkeit, die bei Ihnen j a nicht vorkommt, besonders hoch ist, nichts, aber auch nichts geschehen wird, um die Hoffnungslosigkeit von drohender Arbeitslosigkeit zu beenden. Was machen Sie statt dessen? Sie überweisen in einem unglaublichen Finanztrick an das Saarland großmütig 3 Jahre lang je 100 Millionen DM. Jetzt rechne ich Ihnen einmal vor, wie das funktioniert. Da nimmt die Landesregierung des Saarlandes, die sowieso total pleite ist, 100 Millionen DM aus ihrer leeren Kasse, bezahlt aus dieser leeren Kasse die von Arbed Saar-Stahl an Bund, Land und Bank verpfändeten Grundstücke, und am Ende kommen vom Bund in die leere und bereits marode Kasse wieder 100 Millionen DM zurück. Das ist ein Finanzierungs- und Buchungstrick, mit dem nicht ein einziger Arbeitsplatz geschaffen wird, mit dem überhaupt nichts passieren wird, durch den vielleicht am Schluß die Gewinne der Banken etwas nach oben gehen werden. Ähnlich machen Sie es mit Bremen. Wo immer Sie Wirtschaftspolitik betreiben: Es ist ein Hin- und Herbuchen; es ist jedenfalls keine aktive Beschäftigungspolitik. ({1}) Für die konservative Regierung ist Arbeitslosigkeit offensichtlich ein selbstverschuldetes Schicksal. Diejenigen, die arbeitslos sind, scheinen arbeitsunfähig und arbeitsunwillig zu sein. Ausgrenzen, abschieben, an den Rand schieben - das ist Ihre Antwort für alle Probleme, die wir haben. Frauen gehören in Ihrem Weltbild sowieso an den Kochtopf, und für arbeitslose Jugendliche fällt Ihnen außer dummen Sprüchen auch nichts ein. ({2}) Ihr gewinn-, umsatz-, rentabilitäts- und leistungskonzentriertes Weltbild erlaubt es einfach nicht, Erbarmen mit denjenigen zu haben, die beim Tätigwerden des Big money im Wege stehen. ({3}) Gott erbarme sich unser, wenn Sie sich doch einmal erbarmen! Was hören wir dann von Sozialpolitikern aus Ihren Reihen? - Kleiderspenden aus der Kleiderkammer der Gemeinden, warme Decken und ein Süppchen. Das ist alles, wozu die leistungsorientierte Ellenbogenpolitik Ihrer Partei sich aufraffen kann, ({4}) jedenfalls nicht Teilhabe am Arbeitsmarkt, nicht ein gesichertes Einkommen, nicht Selbstverantwortung. Als Herr Stoltenberg noch Ministerpräsident war, da klang das allerdings ganz anders. Er erklärte am 4. Juli 1982 im Deutschlandfunk, die wichtigste innenpolitische Aufgabe unserer Zeit sei eine Lösung der bedrückenden Arbeitsmarktprobleme, denn sonst entstünde eine Vertrauenskrise in der Bevölkerung, weil die Absichtserklärungen der Politiker in Bonn, nämlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, und das tatsächliche Verhalten immer weiter auseinanderfielen. Wie wahr, Herr Stoltenberg! Er ist zwar nicht da, aber er kann es ja später nachlesen. ({5}) Er hat es offensichtlich nie nötig, da zu sein, wenn Wirtschafts- und Finanzpolitik in diesem Hohen Hause gelesen werden. Offensichtlich bestimmt das Sein doch das Bewußtsein; denn damals war Herr Stoltenberg noch Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und wollte Geld aus der Kasse haben. Das wollte er aus der Kasse der sozialliberalen Koalition haben, denn seine Partei war j a damals hier in Bonn in der Opposition. Heute, als Finanzminister und als „neuer" Wirtschaftsminister, befassen Sie sich natürlich nicht mehr mit solchen Petitessen. Heute widmen Sie sich dem Großen und dem Ganzen. Um Ihrer Politik den letzten Touch von Glaubwürdigkeit zu geben und von Glamour, bedienen Sie sich der Argumentationsweise der französischen Sozialisten. Wie merkwürdig! Die Affinität dieses Kabinetts zur Linkskoalition in Frankreich ist schon sehr verwunderlich, wenn man an die sonstige Aufgeregtheit denkt, mit der Sie jeden vermeintlichen und wirklichen Kommunisten verfolgen und die ein bißchen an die Aufgeregtheit einer Gouvernante in einem Mädchenpensionat erinnert, die einen jungen Mann in ihren Reihen vermuten muß. ({6}) Der Ausflug in die große Weltpolitik, der europäische Spaziergang, der uns gestern vorgeführt wurde, täuscht doch nicht darüber hinweg, daß überall dort in Europa und in Amerika, wo Konservative regieren, die Ungerechtigkeit in der Sozialpolitik zunimmt, die Dauerarbeitslosigkeit steigt und Menschen, die arbeiten wollen und arbeiten können, in Armut leben, weil man nichts, aber auch überhaupt nichts für sie tut. ({7}) Sie können sich das so lange leisten, wie Ihre eigene Wählerklientel offensichtlich noch zufriedengestellt ist. ({8}) Die weltpolitischen Ausflüge des Finanzministers, Herrn Stoltenberg, täuschen auch nicht darüber hinweg, daß er seine unausrottbare Neigung, Haushalte durch Buchungstricks, Umtitulierungen und Verstecken von Titeln auszugleichen, aus Schleswig-Holstein mit nach hier gerettet hat. Wo ist denn eigentlich die Bauernsubvention, wo sind die Bauernmilliarden geblieben? Stehen sie im Agrarhaushalt? Nein, die haben Sie als geringere Einnahmen einfach weggelassen; denn sonst wäre der Agrarhaushalt um 25 % gestiegen. Und wo waren damals - das geht nahtlos ineinander über - beim Weggang des Finanzministers aus Kiel - er war damals dort Ministerpräsident - jene 280 Millionen DM, nach denen der völlig verdatterte Landesminister in der Landtagsdebatte fragen mußte? Der Finanzminister mußte antworten, er finde sie leider nicht. Er fand auf einmal sein Loch in der Finanzkasse nicht wieder und erklärte kühl, dann würde er bei einem Gesamthaushalt von knapp 8 Milliarden DM eben die Nettokreditaufnahme auf mehr als 1,8 Milliarden DM, die Neuverschuldung auf 2,8 Milliarden DM heraufbringen. Wirklich eine wahrhaft saubere und stramme Leistung: fast ein Viertel dessen, was Sie im Haushalt haben, über Neuverschuldung zu finanzieren! Das ist der FiFrau Simonis nanzminister der Bundesrepublik geworden. Sie haben einen guten Griff gemacht. Man muß dem Herrn Finanzminister äußerst eiserne Nerven bescheinigen, ({9}) wenn gerade er den Mut findet, das Land Nordrhein-Westfalen und die dortige Regierung in einer derart platten Art und Weise anzugehen. Psychologisch betrachtet will er auf diese Art und Weise wohl sein eigenes schleswig-holsteinisches finanzpolitisches Chaos, das er hinterlassen hat, verarbeiten. ({10}) Oder hat er vergessen, hat er verdrängt, daß während seiner Zeit als Ministerpräsident - noch bis 1982 - Schleswig-Holstein die höchste Zinsbelastung, die größte Verschuldung, die höchste Ausgabensteigerung hinzunehmen hatte, während es bei den Investitionsquoten unter allen Ländern einen mickerigen, schamhaft verborgenen letzten Platz belegte? Wer dem Finanzminister und dem Wirtschaftsminister zugehört hat und der Meinung ist, daß deren beider Reden eigentlich ja ganz nett gewesen seien, der solle sich einmal vor Augen führen, wie beispielsweise die neue Regierung im Zusammenspiel mit der Landesregierung in Schleswig-Holstein die HDW-Sanierung betrieben hat. Bis einen Tag vor der Wahl haben Sie - man möchte es beinahe sagen - das Publikum belogen, indem Sie garantiert haben, daß alle Arbeitsplätze bestehenblieben. Und was haben Sie am 14. März 1982 gemacht? Mit der Kühlheit einer Salatgurke im Sommer sind Sie hingegangen und haben 4 000 Leute auf die Straße gesetzt. Das war dann Ihr Werftsanierungskonzept. Man kann zusammenfassen: Die Politik des Finanz- und des Wirtschaftsministers besteht darin, durch Kündigen zu sparen. So haben Sie es immer gemacht. So werden Sie es im Saarland machen. So werden Sie es nach den Wahlen in NordrheinWestfalen machen. Sie werden das nicht ändern, und immer sind die anderen daran schuld. Nie war es der Finanzminister, nie war es die Regierung. Der so oft beschworene sich selbst tragende Aufschwung findet nicht statt. Die Steuerreform, die größte aller Zeiten, wie Herr Kohl meint aber was bedeutet das schon? -, wird nicht stattfinden, jedenfalls nicht in dem Ausmaße, wie es versprochen worden ist. Im großen und ganzen produzieren Sie viel heiße Luft, um als Opferlamm dunkler Mächte, der Gewerkschaften, der Linken und aller möglichen Leute dastehen zu können, ({11}) während doch in Wirklichkeit bei all unseren Problemen der Finanzminister nicht das Opferlamm, sondern der Täter ist. ({12}) - Wissen Sie, mit Charme ist der Arbeitslosigkeit auch nicht beizukommen. Wenn Sie das glauben, müssen Sie auch erst einmal eine Charmestunde nehmen. ({13}) Die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik hält sich auf einem erschreckend hohen Niveau mit steigender Tendenz. Der Finanzminister lädt zu einer Pressekonferenz und feiert seine neuesten Sparerfolge. Die Dauerarbeitslosigkeit nimmt zu, die sogenannte stille Reserve ebenfalls. Dr. Stoltenberg äußert sich zufrieden über seine Sparerfolge. Frauen und ältere Arbeitnehmer finden kaum noch Arbeitsplätze. Dr. Stoltenberg strahlt über seine Sparerfolge. Zehntausende von jungen Leuten suchen vergebens eine Lehrstelle. Dr. Stoltenberg läßt über die Pressestelle seines Hauses die frohe Botschaft über die fortschreitende Sanierung des Haushalts verkünden. Immer weniger Arbeitslose erhalten Unterstützung. Die durchschnittliche Arbeitslosenunterstützung beträgt 900 DM im Monat, die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe liegt unter 700 DM. Der Finanzminister kassiert voraussichtlich 4 Milliarden DM von der Bundesanstalt für Arbeit und lobt öffentlich seine besonnene Haushalts- und Finanzpolitik. Der Wald stirbt und stirbt. Dr. Stoltenberg bedauert den Zustand des Waldes, ist aber der Meinung, die Sanierung der öffentlichen Haushalte habe den Vorrang. Die Zahl der Beschäftigten ist im ersten Halbjahr 1984 im Vergleich zum ersten Halbjahr 1983 um 130 000 gesunken. Das müßte Ihnen zu denken geben. Dem Finanzminister gehen immer noch nicht die Worte aus, um sich und seine erfolgreiche Politik zu loben und zu bewundern. Die Zahl der Insolvenzen steigt. Die Subventionen nehmen zu, nicht aber die Zahl der Existenzen. Lieber Herr Bangemann, die Zahl der Neugründungen war 1983 atemberaubend: Es waren 1 000. Wenn Sie davon schon beglückt sind, sind Sie als Wirtschaftsminister schnell zu beglücken. Das muß ich wirklich sagen. ({14}) Mittelfristig sinkt die Investitionsquote in den Haushalten. Der Hoch- und Tiefbau kommt in schweres Wasser. Der für 1984 angekündigte Investitionsboom bleibt aus. Die steuerlichen Subventionen steigen. Die Steuerlastquote steigt ebenfalls. Dr. Stoltenberg, selbsternannter Star des Kabinetts, ist immer noch nicht müde, sich selbst zu loben. Langsam wird das fast schon langweilig. Wie haben Sie diese ganzen Sparerfolge denn eigentlich geschaffen? Seit Dr. Stoltenberg Finanzminister ist und Herr Kohl versucht, Kanzler zu spielen, liefert die Bundesbank vollkommen gegen ihre sonstigen Gewohnheiten stillschweigend nahezu 40 Milliarden DM an Bundesbankgewinnen ab, und das Kabinett nimmt diese 40 Milliarden, ebenfalls vollkommen gegen seine sonstigen Gewohnheiten, stillschweigend ein, kassiert sie und bessert damit den Haushalt optisch auf. Es ist eigentlich fast schon zu verständlich, daß Sie so unruhig sind, denn Ihre Anhängerschaft droht im wilden Chaos unterzugehen. Herr Worms - er hat ja eine Wahl zu bestehen - steht an der Spitze derjenigen, die sagen, jetzt müsse es aus sein mit dem Sparen. Die Sozialausschüsse, schon immer das Radieschen auf der Fleischplatte der Konservativen, sind ebenfalls dieser Meinung. ({15}) Nach der Wahl wird das Radieschen im übrigen mit allen Anzeichen des Widerwillens abserviert, und es hat sich dann. Unbekümmert von solchen Petitessen wie wachsender Arbeitslosigkeit, wachsender Dauerarbeitslosigkeit, regionalen Schwächen und Umweltzerstörung kümmert sich in diesem Kabinett niemand - niemand! - um diese Probleme. Keiner fühlt sich aufgerufen. Der Wirtschaftsminister sieht keinen Handlungsbedarf. Wie soll er auch? Er hat j a kein Geld. Der Finanzminister findet sich sowieso immer prima, und dem Kanzler reicht es - ({16}) - Ich bin prima. Sie werden es nicht glauben. ({17}) Sie erlauben, daß ich noch einmal anfange. Wiederholungen sind manchmal gar nicht so schade. Der Wirtschaftsminister sieht keinen Handlungsbedarf. Der Finanzminister findet sich allemal prima, und dem Kanzler reicht, was hinten herauskommt - das reicht eben manchmal nicht -, und er hat beim Zuwarten auch keine Probleme. Natürlich haben Sie keine Probleme - das kann sein -; aber die Arbeitslosen, die Frauen, die keine Arbeitsplätze finden, die Sozialhilfeempfänger, die Jugendlichen haben bei Ihrer Warte- und Hinhaltestrategie in der Tat Probleme. ({18}) Wie sagte der Finanzminister in seinem Interview am 4. Juli 1982? Ich wiederhole es: Es könnte sonst eine Vertrauenskrise in der Bevölkerung entstehen, wenn die Absichtserklärungen der Politiker in Bonn, nämlich die Bekämpfung der zunehmenden hohen Arbeitslosigkeit, und das tatsächliche Verhalten in der Finanzpolitik immer mehr auseinanderfallen. Das spüren die Menschen. Man kann Ihnen, der gesamten Regierung und der Koalition, bestätigen: Sie tragen in großem Maße zu dieser Vertrauenskrise bei. ({19})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Niegel.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann selbstverständlich in der Geschwindigkeit und im Charme mit meiner Vorrednerin, der Frau Kollegin Simonis, nicht mithalten. ({0}) Ich hoffe aber, daß ich vielleicht etwas objektiver urteilen kann. Was wäre denn gewesen, Frau Kollegin, wenn Sie nach zwei Jahren Politik solche Ergebnisse hätten? Ich glaube, diese Ergebnisse sollte man sich auch ansehen. ({1}) Fast zwei Jahre harte politische Arbeit liegen jetzt hinter uns. Es war für uns, die wir diese Politik gestaltet haben, nicht immer einfach. Diese zwei Jahre waren aber auch für diejenigen nicht immer einfach, denen wir die Illusion eines über unbegrenzte Mittel verfügenden Versorgungsstaates nehmen mußten. Manche Eingriffe waren schmerzhaft, aber nur so konnte die dringend notwendige, viel zu lange hinausgeschobene Operation gelingen, mit der allein der Patient Bundesrepublik gerettet werden konnte. Wer die wirtschaftspolitische Bilanz, die Sie aufzuweisen hatten, mit verursacht hat, der müßte heute schweigen. Herr Apel oder Herr Roth oder Frau Simonis, Sie müßten schweigen. Sie müßten ein Büßergewand anziehen, in Sack und Asche gehen und Ihren Mund halten. Sie könnten praktisch nichts mehr sagen. ({2}) Trotz des härtesten Streiks in der Nachkriegsgeschichte, der die Konjunktur spürbar belastet hat, ist es uns gelungen, die Stabilität wiederherzustellen. ({3}) Das Sozialprodukt steigt wieder. Auf dem Arbeitsmarkt geht es zwar langsam aber stetig aufwärts. ({4}) Bessere Erträge verstärken die Investitionsneigung. Die Existenzgründungswelle verstärkt sich noch, d. h. es ist wieder Vertrauen in die Wirtschaftspolitik, in die Führung der Bundesrepublik vorhanden. ({5}) Die Zinsentwicklung fördert den Aufschwung, und auch die Insolvenzzahlen sinken. ({6}) Meine Damen und Herren, wie gesagt: Der Patient hat sich heute nach kurzer Zeit weitgehend erholt. Von den vier Zielen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wurden bereits drei erreicht, und das vierte Ziel werden wir mit unserer Politik auch noch erreichen. ({7}) Sicherlich, jeder der rund 2,2 Millionen Arbeitslosen ist einer zuviel. Wir wissen aber, daß wir dieses Problem weder mit wertlosen Arbeitsplatzgarantien noch mit sinnlosen und eher schädlichen Arbeitsbeschaffungsprogrammen bewältigen können. Unüberlegte Hektik ist hier vollkommen fehl am Platze. Wir können es bedauern, aber wir müssen einfach die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß der Beschäftigungsgrad der wirtschaftlichen Entwicklung immer hinterherhinkt. ({8}) - Frau Blunck, ich verstehe Sie leider nicht. Trotz dieser zeitlichen Verzögerung mehren sich die Hoffnungszeichen. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit ist zum Stillstand gekommen. 1984 sah die Statistik bisher in keinem Monat schlechter aus als im Jahre 1983. Das Horrorgemälde von über 3 Millionen Arbeitslosen, das gerade Sie an die Wand gemalt haben, hat sich als eine Fata Morgana und damit als eine Mies- und Stimmungsmache erwiesen. Und dies alles geschah vor dem Hintergrund der schweren Tarifauseinandersetzung im Frühsommer dieses Jahres, die weite Teile unserer Wirtschaft lahmlegte, die die Unternehmen verunsicherte und die verständlicherweise bei der Personaldisposition zu äußerster Zurückhaltung führte. Während wir diese schwerste Hypothek der alten Bundesregierung nur langsam tilgen können, konnten wir uns von der Last der ständigen Geldentwertung in kurzer Zeit befreien. Galoppierende Inflation war über Jahre hinweg der ständige Begleiter der von Ihnen geführten Bundesregierung. Das war Diebstahl, meine Kollegen von der SPD. Das war Diebstahl an unserer Volkswirtschaft. Das war Diebstahl am einzelnen Bürger. ({9}) Nach nicht einmal zwei Jahren Regierungszeit haben wir jetzt wieder stabiles Geld. Unsere Leistungsbilanz ist wieder in Ordnung. Auch in diesem Jahr können wir wie im Vorjahr wieder mit einem Überschuß rechnen. Das Defizit von rund 58 Milliarden DM in den Jahren 1979 bis 1981 ist nur noch ein Merkposten für die Würdigung der Leistung Ihrer Bundesregierung. Nach der längsten und schwersten Rezession der Nachkriegszeit befinden wir uns jetzt im zweiten Jahr des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs. Das Wachstum hat inzwischen eine erstaunliche Dynamik gewonnen. Das bestätigen auch die neutralen Forschungsinstitute. Es ist in einen sich selbst tragenden Aufschwung übergegangen. Manchem geht und ging es nicht schnell genug. Gerade Ihnen, die ja die Misere verursacht haben, geht es nicht schnell genug, meine Damen. Kaum ist ein Gewitter über die Konjunkturlandschaft hinweggezogen, verfallen Sie in unbegründeten Pessimismus. Natürlich hat uns der sinnlose Arbeitskampf geschadet. Natürlich werden wir in diesem Jahr nicht so viel Bruttosozialprodukt erwirtschaften, wie wenn etwa 5 Millionen Arbeitstage nicht ausgefallen wären. Die Frage ist aber doch, ob es mit diesem Ausfall sein Bewenden hat, oder ob auch die Dynamik des Wachstums Schaden gelitten hat. Die Produktions- und Auftragszahlen vom Juli sprechen eindeutig gegen die These, der wirtschaftliche Aufschwung habe nachgelassen. Das konjunkturelle Klima scheint durch das Frühsommergewitter nicht abgekühlt worden zu sein. Ich warne allerdings davor, die Wirtschaft in diesem Jahr noch mal einer Belastungsprobe zu unterziehen. Wenn nun auch noch der öffentliche Dienst die Trommeln zum Arbeitskampf rührt, könnte das Vertrauen in die Zukunft bei Wirtschaft und Bevölkerung endgültig erschüttert werden. Noch ein politisch motivierter Streik bringt auch denen nichts, die ihn mit ihrem Wohlwollen begleiten, meine Damen und Herren von der SPD. Wirtschaftliches Chaos hilft nur Extremisten und Chaoten. Die GRÜNEN mögen sich darüber freuen. Eine Partei wie die SPD, deren historische Verdienste um ein demokratisches Staatswesen nicht zu bestreiten sind und deren Bestreben es eigentlich sein müßte, wieder einmal regierungsfähig zu werden, kann sich aber aus ihrer Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit nicht einfach davonstehlen. Sie müssen hier klar sagen, ob Sie sich zur Verfolgung Ihrer politischen Ziele der Tarifauseinandersetzungen auch und gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes bedienen wollen. Wenn ich auch, abgesehen von der Gefahr, von der ich gesprochen habe, die weitere wirtschaftliche Entwicklung insgesamt positiv beurteile, kann ich doch nicht übersehen, daß es einige Branchen gibt, für die die Zukunft nicht so rosig aussieht. Mit den Problemen Kohle, Stahl und Werften werden wir uns noch längere Zeit zu befassen haben. Verständnis der gesamten Bevölkerung ist auch für die deutschen Bauern notwendig. Denn die der Landwirtschaft zugemuteten Eingriffe sind auch im Interesse der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes notwendig gewesen. ({10}) Ein Ausgleich jetzt mit der 5-Prozent-Mehrwertsteuerpauschale ist meines Erachtens gar kein Ausgleich, wenn man erfährt, daß in bestimmten Gegenden ein Getreidepreisrückgang gerade bei der heurigen späten Ernte - zum Teil ist das Getreide durch das schlechte Wetter noch auf dem Halm -, nämlich ein Minus von 10 bis 15 % bei den Getreideerlösen, zu verzeichnen ist und daß heute bereits die französischen Großhändler Getreide per Rhein um 10 % billiger als im Vorjahr anbieten. ({11}) Wenn die frühere Bundesregierung die Entscheidung getroffen hätte, daß nur die bis 1981 erzeugten Agrarprodukte absatzmäßig garantiert werden, und keine Mehrproduktion garantiert hätte, dann wären die jetzigen Opfer nicht notwendig gewesen und hätte sich die Situation schon längst wieder marktmäßig normalisiert. ({12}) Wenn wir jetzt unseren eigenen Bauern Produktionsbeschränkungen zumuten - das sage ich der Verhandlungsdelegation der Bundesregierung, die in Brüssel wegen der EG-Süderweiterung verhandelt -, dann muß dieser Grundsatz der Produktionseinschränkung bzw. der beschränkten Produktionsgarantie auch bei den Aufnahmeverhandlungen für die Süderweiterung der EG gelten. Ich denke an Olivenöl, Wein und Zitrusfrüchte. Das ist nämlich sonst ein Haushaltsrisiko, das wir nicht mehr kalkulieren können. Auch unsere Bauwirtschaft ist in einer strukturellen Veränderung begriffen. Die Bauinvestitionen leisten in diesem Jahr zwar noch einen positiven Wachstumsbeitrag. Aber in Zukunft wird das Baugeschehen in ruhigeren Bahnen verlaufen. Das Abflachen der mit dem wohnungspolitischen Sofortprogramm ausgelösten Anschlußeffekte im Wohnungsbau ist ein ganz normaler Vorgang. Es war konsequent, daß die Bundesregierung bei der Übernahme der Regierungsverantwortung mit dem Ende 1982 verabschiedeten wohnungspolitischen Sofortprogramm den Tiefpunkt in der Bau- und Wohnungswirtschaft, den Sie verursacht haben, meine Damen und Herren, überwunden und insgesamt zur konjunkturellen Wiederbelebung der Volkswirtschaft beigetragen hat. ({13}) Unbestritten ist, daß wir uns in einer Phase der Normalisierung des Wohnungsmarkts befinden. In weiten Teilen der Bundesrepublik haben sich die Mietwohnungsmärkte entspannt, und die Mietsteigerungsrate entwickelt sich seit April 1983 ohne Unterbrechung rückwärts und hat im Juli mit 3,5 gegenüber dem Vormonat einen neuen Tiefstand erreicht. Auch die Diskussion über die leerstehenden Wohnungen zeigt, daß der Mangel an Wohnungen in weiten Teilen der Bundesrepublik - ich sage nicht: überall - überwunden wurde. Nach dem Abflachen der durch das wohnungspolitische Sofortprogramm ausgelösten Anschlußeffekte muß deshalb wieder mit niedrigeren Fertigstellungsergebnissen gerechnet werden, mittelfristig mit rund 300 000 Wohnungen. Aber in diesem Jahr werden 400 000 Wohnungen fertiggestellt werden. Unsicher ist allerdings auch die Aussage über die mittelfristige Entwicklung im Wirtschaftsbau. Hier dürfte es im wesentlichen darauf ankommen, inwieweit eine positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu einer entsprechenden Nachfrage der Ausrüstungsinvestitionen führt. Vieles spricht für einen positiven Trend. Nun zur öffentlichen Baunachfrage. Ich halte wenig von der Diskussion über eine Bedarfssättigung in diesem Bereich. Die immer wiederholten Hinweise auf eine ausreichende Zahl von Schulen, Universitäten, Schwimmbädern, Verwaltungsbauten usw. kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es noch großen Bedarf im Verkehrswesen, im Umweltschutz und vor allem im Instandhaltungsbereich geben wird. Ich möchte hier gerade an die Genehmigungsbehörden, z. B. an die Regierungspräsidien appellieren, daß hier genügend Planungsrecht gerade im öffentlichen Straßenbau geschaffen wird, so daß hier die Bautätigkeit nicht durch zuviele Einsprüche lahmgelegt wird. ({14}) Gerade der Verlauf der öffentlichen Baunachfrage ist entscheidend von den Finanzierungsmöglichkeiten in den Haushalten der Gebietskörperschaften aller Ebenen abhängig. Ich bin überzeugt, daß die Verbesserung der Finanzlage der öffentlichen Haushalte künftig insgesamt auch wieder die Spielräume für Bauinvestitionen vergrößern wird. Die Haushaltskonsolidierung bei den Gemeinden ist nach meiner Meinung schon so weit fortgeschritten, daß die rückläufige Investitionstätigkeit der vergangenen Jahre in jedem Fall gebremst ist. Zusammenfassend möchte ich dazu noch sagen, daß es sowohl im Wohnungsbau wie im Wirtschaftsbau als auch im öffentlichen Bau in Zukunft auch große Bauaufgaben geben wird, so daß man generell nicht von einer Schwarzmalerei und von einer Katastrophenstimmung sprechen sollte. Das würde nur die Gefahr in sich bergen, daß es zu einer Verunsicherung und somit zu einer negativen Entwicklung kommt. Ich halte auch die Entscheidung des Bundeskabinetts für sehr wichtig, daß keine weiteren Maßnahmen zur Einschränkung des Bauherrenmodells geplant sind. Die steuerlichen Ungereimtheiten sind hier beseitigt. Der Bund wird den sozialen Wohnungsbau weiterführen. Der in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehene Finanzrahmen von über 1 Milliarde DM jährlich soll erhalten bleiben. Vorrangig soll allerdings der soziale Wohnungsbau der Förderung des Familienheimbaus dienen. Daneben muß natürlich der Bau von Mietwohnungen zur Beseitigung von Wohnungsnotständen in Bedarfsschwerpunkten fortgesetzt werden. Die Leitlinien für die geplante steuerliche Neuordnung sind ebenfalls zu begrüßen. Ein erster Schritt ist die neue Regelung des § 7 b des Einkommensteuergesetzes. Der berücksichtigungsfähige Betrag für die Herstellungs- oder Anschaffungskosten wird jetzt von 200 000 auf 300 000 DM angehoben. Das heißt, daß künftig acht Jahre lang 15 000 DM statt bisher 10 000 DM pro Jahr vom zu versteuernden Einkommen abgesetzt werden können. ({15}) Weiter: Für jedes im Haushalt lebende Kind wird zusätzlich zur Grundförderung eine Entlastung von 600 DM pro Jahr gewährt. Es ist noch offen, ob die Kinderkomponente von 600 auf 1200 DM aufgestockt werden kann und ob sie wie bisher als Abzug von der Steuerschuld oder als Freibetrag vom zu versteuernden Einkommen gewährt werden soll. ({16}) Stadterneuerung, Wohnungsmodernisierung, Wohnweltverbesserung, Maßnahmen der Ver- und Entsorgung und die Errichtung neuer Kommunikationssysteme werden zunehmende Bedeutung erlangen. Hierzu kommt vor allem der Ersatzbedarf im Verkehrsbereich. Ich begrüße diese Akzente, die die Aufstockung der Mittel gesetzt hat. Das gilt insbesondere auch für die Aufstockung der Mittel für den Streckenneu- und -ausbau der Bundesbahn und für den Straßenbau. Ich begrüße es, daß man hier gerade 150 Millionen DM für den Fernstraßenbau ansetzen konnte. Das ist eindeutig eine Forderung der CSU-Landesgruppe, die durch das Bundeskabinett und den Bundesfinanzminister erfüllt wurde. Die öffentlichen Auftraggeber sollen allerdings zur Verstetigung des Baugeschehens beitragen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, Sie haben Ihre Redezeit jetzt schon um über eine Minute überzogen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dabei müssen auch die Erfordernisse der regionalen Strukturpolitik beachtet werden. Wenn uns das Grundgesetz verpflichtet, in allen Landesteilen gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, müssen wir auch die benachteiligten und revierfernen Gebiete mit einer angemessenen Infrastruktur ausstatten und die Verbindung zu den zentralen Räumen verbessern. Das bedeutet u. a.: Fortschreibung des Bedarfsplans für den Bundesfernstraßenbau und bei der Verteilung der Mittel Berücksichtigung der Anbindung der revierfernen und strukturschwachen Räume.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Niegel, ich habe große Geduld, aber ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dem muß eine erhöhte Priorität zukommen. Meine Damen und Herren, ich hätte noch einiges zur Regionalpolitik zu sagen, ({0}) aber das mag einem anderen Beitrag vorbehalten sein. Abschließend darf ich festhalten: Wirtschaftliche Entwicklung, wirtschaftliches Wachstum und Investitionen sind auch eine Frage der Psychologie. Es ist in den zwei Jahren seit Oktober 1982 viel geleistet worden. Meine Damen und Herren, zerreden Sie das nicht!

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Niegel - Niegel ({0}): Wenn die SPD das erreicht hätte, hätte sie jeden Tag eine Sondermeldung über Rundfunk und Fernsehen losgelassen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Mein Versuch, ihn zum Ende zu bringen, ist nicht gerade sehr erfolgreich gewesen. Damit haben wir zwei Minuten weniger. Das Wort hat der Kollege Drabiniok.

Dieter Drabiniok (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000413, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Ich möchte einige Folgen der bisherigen Wirtschaftspolitik beschreiben. Was zur Zeit im Ärmelkanal durch den Untergang der „Mont Luis" passiert, hat unmittelbar mit diesem Haushalt und der dort festgeschriebenen Energiepolitik zu tun. Etwa 40 t der hochgiftigen Uranverbindung, von der keiner weiß, ob sie noch im Ärmelkanal oder sonstwo herumtreibt, kommen aus dem bundesdeutschen Reaktor Neckarwestheim und sollten in bundesdeutschen AKWs neu eingesetzt werden. Die Bundesregierung schweigt bis heute dazu und bleibt bei ihrer schlimmen Informationspolitik, auf die ich gleich eingehen werde. Die Katastrophe im Ärmelkanal beweist wieder einmal: Nicht nur die Menschen neben Atomkraftwerken leben in unmittelbarer Gefahr; Atommülltransporte zu Lande, zu Wasser und in der Luft kreuz und quer durch Europa gefährden tagtäglich uns alle. Erst der Unfall im Ärmelkanal bringt ans Tageslicht, welche Unmengen lebensgefährdender Atomtransporte für den Betrieb bundesdeutscher Atommeiler notwendig sind: Die abgebrannten Brennelemente kommen zur Wiederaufbereitung nach La Hague in den Nordwesten Frankreichs. Die wiedergewonnenen Uranreste kommen zur Umwandlung nach Pierrelatte in den Südosten Frankreichs. Das Uranhexafluorid kommt zur Verschiffung zurück zur französischen bzw. belgischen Küste. Per Frachter wird das chemisch aggressive Material, das bereits bei Zimmertemperatur ausdampft, durch den Ärmelkanal, durch die Nordsee und durch die Ostsee nach Riga in die Sowjetunion transportiert. Von dort kommt das angereicherte Uran zurück, um in einer bundesdeutschen Brennelementefabrik verarbeitet und nach einem weiteren Transport erneut dem Reaktorbetrieb zugeführt zu werden. Nur blinde Fortschrittsfanatiker können glauben, daß bei der großen Zahl der Atomtransporte nichts schiefgeht. Das Unglück der „Mont Luis" war nicht das erste, aber das schlimmste. Heute schließt niemand mehr aus, daß sich die Atomfässer jeder menschlichen Kontrolle entziehen. Falls ein einziger Behälter bei einer Meerestiefe von 10 m aufreißt, würde das Gift sämtliche Fische in einem Umkreis von einem Quadratkilometer töten. Die Energiepolitik der Bundesregierung stützt sich auf Uranhexafluorid, das mit dem Wasserstoff in der Luft genauso giftig reagiert wie mit Wasser. Allein im nordrhein-westfälischen Gronau sollen insgesamt 34 000 t Uranhexafluorid unter freiem Himmel gelagert werden. Nahezu täglich wird dieses Teufelszeug schon heute durch die Bundesrepublik kutschiert. Mit der „Mont Luis" ist entgültig die Illusion von den ungefährlichen Atomtransporten im wahrsten Sinne des Wortes zerbrochen, ({0}) und das ausgerechnet in dem Monat, in dem mit der Erstbelieferung des Atommüllagers in Gorleben die Zahl der Atomtransporte durch die Bundesrepublik sprunghaft ansteigen soll. Die Bundesregierung windet sich in geradezu lächerlichen Verrenkungen. Seit Mai 1983 liegt ihr eine amtliche Risikoanalyse von Atomtransporten vor, die aussagt, daß die Transporte das Gefährlichste an der ganzen Entsorgung sind und daß alle Menschen, die entlang der unzähligen Atomtransportstrecken wohnen, einer - ich zitiere - nicht zu vernachlässigenden radioaktiven Strahlung ausgesetzt sind. Im April 1984 wurde diese Studie erstmals von Bürgerinitiativen an die Öffentlichkeit gebracht. Der Bundesforschungsminister fühlt sich ertappt und spricht von „Rufschädigung", weil man die Studie angeblich nicht verheimlicht, sondern bereits an 100 Institutionen geschickt habe. Gleichzeitig erklärt das Land Niedersachsen, wo ab dem Tage X die Transporte rollen sollen, man wisse von nichts. Am letzten Freitag, offenbar nach Lektüre der Risikoanalyse, erklärte das niedersächsische Ministerium für Bundesangelegenheiten, man bedauere, daß die amtliche Studie veröffentlicht worden sei. Im übrigen stünden die „rein theoretischen Rechenoperationen" dieser Studie in gar keinem Zusammenhang mit dem in Kürze beginnenden Atomtransport in das Wendland. Mal wieder hören wir in gebetsmühlenhaftem Ritual, es bestehe keine Gefahr. Herr Riesenhuber, wir fordern Sie auf, der Öffentlichkeit unverzüglich reinen Wein über die tatsächlichen Gefahren der Atomtransporte einzuschenken. ({1}) Wir wollen wissen, wieweit die Bundesrepublik in die „Mont Louis"-Katastrophe verwickelt ist. Wir wollen ebenso wie Greenpeace und die Gewerkschaft der Seeleute in Großbritannien und Dänemark keinen einzigen weiteren Atomtransport, bevor nicht die wirklichen Risiken öffentlich diskutiert worden sind.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dieter Drabiniok (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000413, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, keine Zeit. Die atomare Bedrohung der Vorkriegszeit, in der wir jetzt leben, wird ergänzt durch eine schleichende Vergiftung unserer Umwelt. Dabei hat bisher fast ausschließlich die Verschmutzung der Außenluft mit ihren negativen Folgen für die Umwelt, die menschliche Gesundheit und bestimmte Güter im Vordergrund der Luftreinhaltepolitik gestanden. Der Formaldehydskandal hat jedoch vielen Bürgern die Vorstellung genommen, er könne in seinen eigenen vier Wänden ohne Gesundheitsgefährdung leben. Zahlreiche Publikationen aus dem In- und Ausland beweisen nachdrücklich, daß die Belastungen der Innenraumluft mit Schadstoffen zu Gesundheitsschäden führen können. Es fehlt immer noch eine gesetzliche Grundlage, die den Bürger in seiner Wohnung vor einer Belastung mit zum Teil hochgiftigen, krebserzeugenden Substanzen schützt. Die Kindergärten konnten nur aus arbeitsrechtlichen Gründen geschlossen werden, weil für Erzieher der Arbeitsplatz gesundheitlich nicht mehr zumutbar war. Für die Kinder war und ist kein Schutz vorhanden. Als wenn die Gesundheit unserer Kinder nicht mindestens genauso wichtig wäre wie die der Erwachsenen! ({0}) Und der verantwortliche Minister Geißler lügt noch frech, indem er behauptet - ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, ich muß Sie unterbrechen. - Herr Abgeordneter, würden Sie bitte einen Moment Ihre Rede unterbrechen. Ich muß Ihnen einen Ordnungsruf erteilen, weil Sie ein Wort verwendet haben, bei dem wir uns hier angewöhnt haben, es in der parlamentarischen Debatte nicht zu verwenden, nämlich „lügen". ({0})

Dieter Drabiniok (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000413, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Und der verantwortliche Minister Geißler sagt noch frech die Unwahrheit, indem er behauptet: Wir haben viel getan, sogar in Innenräumen haben wir einen Richtwert über Formaldehyd aus Spanplatten festgelegt, der „bereits weitgehend in die Praxis umgesetzt worden ist". Gleichzeitig verheimlicht er druckfertige Sachverständigenberichte von Umweltbundesamt und Bundesgesundheitsamt, die Formaldehyd als eindeutig krebserregend einstufen. Noch schlimmer, er trägt die politische Verantwortung für die skrupellosen Formaldehydbegasungstests an jungen Menschen in Berlin. ({0}) Mir kommt es so vor, Herr Geißler, daß die Gesundheit der Bevölkerung Ihnen verhältnismäßig schnuppe ist. Als Gesundheitsminister haben Sie genauso versagt wie Ihr Kollege Zimmermann, der einen Kniefall nach dem anderen vor der deutschen Automobilmafia macht. ({1}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, FDP, SPD und besonders Herr Dregger, Sie reden vom und fordern das umweltfreundliche Auto. Es handelt sich hierbei um einen widersprüchlichen, ja, schizophrenen Begriff, der der Orwellschen Sprachverdrehung entstammen könnte. ({2}) Ein umweltfreundliches Auto gibt es nicht und wird es nie geben. ({3}) - Und Sie müssen mal zum Frisör gehen. Selbst wenn endlich die notwendigen Katalysatoren eingebaut werden, wird dem Umweltfeind Nr. 1 nur ein Zahn aus seinem Giftgebiß gezogen. Der Kraftfahrzeugverkehr wird weiterhin Millionen Tonnen von giftigen Abgasen erzeugen. Der Reif en-abrieb, der übrigens jährlich eine zwei Zentimeter dicke Schicht auf unserem gesamten Straßennetz ausmacht, wird weiterhin die Umwelt und die menschliche Gesundheit gefährden. Das gleiche gilt für Asbest, Ölrückstände, Tausalz usw. ({4}) - Ach, hör doch einmal zu! Der vom Auto verursachte Straßenlärm wird für viele Bürger weiterhin der größte Streßfaktor bleiben. Die Produktion der umweltfeindlichen Kraftfahrzeuge stellt weiterhin die größte Rohstoffverschwendung unserer Industriegesellschaft dar - Ihnen macht's Freude, gell? -, ({5}) ganz zu schweigen von der irrsinnigen Energieverschwendung im Straßenverkehr und den Unfallopfern. Alles in allem: Das von Ihnen erträumte Umweltauto ist ein Hirngespinst. Meine Damen und Herren, Ziel einer menschenfreundlichen und ökologischen Verkehrspolitik muß es sein, den Menschen wieder die Freiheit zu schaffen, ohne Auto auskommen zu können. ({6}) Es muß endlich eine verkehrspolitische Zukunft geschaffen werden, in der jeder Bürger auch ohne Auto mobil ist und mit umweltfreundlichen sozialen und attraktiven öffentlichen Verkehrsmitteln in zumutbarer Art und Weise seine Mobilitätsbedürfnisse befriedigen und den Mobilitätszwängen nachkommen kann. ({7}) - Ganz schöner Mob hier. - Dazu brauchen wir dringend eine massive Förderung des öffentlichen Verkehrs. Wir fordern deshalb ein umfassendes Investitionsprogramm für die Bundesbahn und ein Zukunftsinvestitionsprogramm zum Aufbau eines attraktiven öffentlichen Personennahverkehrs im ländlichen Raum, ({8}) z. B. für die Einrichtung flächendeckender Rufbussysteme. ({9}) Im Gegensatz zu diesen notwendigen Maßnahmen betreibt der Verkehrsminister jedoch eine nostalgische Verkehrspolitik zur Förderung des Waldsterbens, wie insbesondere die Kahlschlagpolitik bei der Bundesbahn zeigt. Seit 1983 sind die Zuwendungen an die Bundesbahn zur Erhaltung der Liquidität um 47 % gekürzt worden. Die allgemeinen Investitionszuschüsse wurden um 700 Millionen DM, gleich 33 %, zusammengestrichen und die Investitionszuschüsse für Bahnfahrzeuge sogar von 107 Millionen DM auf Null gekürzt. Die schlimmen Folgen sind schon heute zu beobachten. Mehr und mehr Eisenbahnbrücken werden baufällig. Der Fuhrpark der Bahn ist völlig überaltert. Mehr und mehr Langsamfahrstellen müssen eingerichtet werden. Lastenbeschränkungen werden verordnet. Bereits ganze Strecken müssen aus technischen Gründen gesperrt werden. Große Teile des Eisenbahnnetzes verrotten. ({10}) Diese systematische Zerstörung von Eisenbahnvermögen führt zwangsläufig in die ökologische Sackgasse. Sie zeigt uns, daß diese Bundesregierung von den Zusammenhängen zwischen Verkehrspolitik und Umweltzerstörung nichts, aber auch gar nichts begriffen hat. ({11}) Bei der Bahn spielt dann auch plötzlich das Arbeitsplatzargument für die Bundesregierung keine Rolle mehr. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der diese Bundesregierung 80 000 sinnvolle Arbeitsplätze bei dem tatsächlich umweltfreundlichen Verkehrsträger Bahn vernichtet und ein weiteres Wachstum des Straßenverkehr§ fordert, offenbart die unerträgliche Heuchelei dieser Bundesregierung bei der Arbeitsplatzdiskussion. ({12}) Das Arbeitsplatzargument ist für diese Bundesregierung zum reinen Selbstzweckargument zur Verteidigung ihrer wirtschaftlich unsinnigen und ökologisch schädlichen Maßnahmen verkommen. Vielen Dank. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Beitrag des Kollegen Drabiniok nur ein Satz: Auch wir sind der Meinung, daß wir uns hier im Bundestag und in seinen Ausschüssen mit den neu erkannten Gefahren des Atommülltransports beschäftigen müssen. Wir Sozialdemokraten werden unseren Beitrag dazu leisten, daß es dazu kommt. ({0}) Aber ich habe Ihre Aufmerksamkeit auf einen besonderen Bereich zu lenken, zu dem ich in Anknüpfung an die Ausführungen meiner Kollegen Roth und Simonis leider wiederum deutlich machen muß, wie wortreiche und zugleich tatenlose Gelassenheit zum Markenzeichen dieser Bundesregierung wird, wo immer Schaden droht oder schon eingetreten ist. So will die Regierung offenbar auch die Ausbildungsplatzmisere bewältigen. Statt nachhaltiger Maßnahmen zur Abhilfe erleben wir verharmlosendes Gerede und auch hilflose Appelle. Die Zahlen strafen die Verharmloser schon jetzt Lügen. Daß mindestens 60 000 junge Menschen trotz aller Versuche und Bemühungen Ende September ohne Ausbildungsplatz sein werden, räumt inzwischen sogar die CDU/CSU ein. Es können aber leicht 100 000 und mehr werden. Fast 13.0 000 Jugendliche waren Ende August noch unversorgt. Das sind über 40 000 mehr als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Ende September 1983 blieben 48 000 junge Menschen ohne Ausbildungsplatz. Wie wir aus dem Berufsbildungsbericht 1984 wissen, kamen etwa 30 000 hinzu, die sich mangels einer Ausbildungschance vor allem in schulische Maßnahmen abdrängen ließen. Das sind also fast 80 000, für die im Gegensatz zum Wahlkampfversprechen des Bundeskanzlers keine Lehrstelle da war. Die Folgerechnung ist einfach. Wenn im August dieses Jahres die Zahl unversorgter Bewerber über 40 000 höher war als im Vorjahr, die Zahl unbesetzter Plätze aber nur 5 000 beträgt, so haben wir zum 30. September dieses Jahres 35 bis 40 000 unversorgte Bewerber mehr als 1983 zu erwarten. Etwa 80 000, meine Damen und Herren, dürften dann noch bei der Arbeitsverwaltung registriert sein, weitere 30 bis 40 000 ebenfalls wieder abgedrängt in andere Maßnahmen. Wir sollen die Lage nicht dramatisieren, belehren uns Bundesregierung, Koalition und Wirtschaft. Aber dessen bedarf es gar nicht. Die Zahlen, leicht nachvollziehbar, sprechen eine deutliche Sprache, und die ist dramatisch genug. ({1}) Wir sollen die Lehrstellenkatastrophe nicht an die Wand malen - haben Bundeskanzler und Bildungsministerin auch die Stirn, das dem einzelnen Jugendlichen zu sagen, dem trotz zahlloser Bewerbungen und verzweifelter Bemühungen von der Wirtschaft bescheinigt wird: Wir brauchen dich nicht, und du bekommst auch keine Chance. Herr Roth hat das heute schon im einzelnen ausgeführt. Da helfen dann keine guten Ratschläge, man solle nicht auf dem Traumberuf bestehen. Davon sind die meisten Jugendlichen weit entfernt. Nur überhaupt einen Beruf möchten sie erlernen. Schon rechnerisch - rein rechnerisch - haben Zigtausende von ihnen dazu keine Chance. Wenn der Staat den Arbeitgebern die praxisbezogene Berufsausbildung der Jugendlichen überläßt, - so formuliert es das Bundesverfassungsgericht 1980 so muß er erwarten, daß die gesellschaftliche Gruppe der Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer objektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, daß grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. ({2}) Das gilt auch dann, - immer noch Zitat wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung der übernommenen Aufgabe nicht mehr ausreichen sollte. Grundsätzlich alle also sollen die Chance erhalten, auch wenn das freie Spiel der Kräfte dafür nicht ausreicht. Die Pflicht der Wirtschaft und die Verantwortung des Staates sind damit unzweifelhaft festgestellt. Woher eigentlich sollen die betroffenen Jugendlichen Vertrauen zu dieser Gesellschaftsordnung und zu diesem Staat gewinnen, wenn ihr durch das Verfassungsgericht bestätigter Anspruch eine Farce bleibt? ({3}) Gewiß, die Wirtschaft hat das Ausbildungsangebot wiederum eindrucksvoll gesteigert. Diese Leistung erkennen wir an; auch wenn die Qualität des Angebots nicht immer befriedigt. ({4}) Aber die Anstrengung genügt nicht; denn grundsätzlich alle sollen eine Chance erhalten; aber davon sind wir leider weit entfernt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Dr. Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rossmanith?

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Kollege.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmude, ich will Sie nur fragen, ob Sie es als eine Farce ansehen, wenn im vergangenen Jahr 685 000 junge Menschen und in diesem Jahr über 700 000 junge Menschen eine Lehrstelle erhalten?

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie bitte zwei Minuten Geduld haben, werde ich Ihre Frage im Laufe meiner Rede genau beantworten. ({0}) Wir können der Wirtschaft nicht pauschal unsere Anerkennung aussprechen; denn die Ausbildungsleistungen der Betriebe sind sehr unterschiedlich. Ein immer noch großer Teil der Unternehmen trägt nichts oder fast nichts zur Ausbildungsleistung bei. Hamburgs Ausbildungsbeauftragter, der frühere Senator Günter Apel, fragt mit vollem Recht: „Warum greifen die Arbeitgeber selbst, ihre Kammern und Verbände nicht stärker durch?" Und das heißt: Warum nehmen sie denen, die nichts leisten, nicht wenigstens finanzielle Beiträge zu einer AusDr. Schmude bildung ab, die dann an anderer Stelle gewährt werden kann? ({1}) Der blinde Horror vor Ausbildungsumlagen blokkiert offenbar auch völlig naheliegende und einleuchtende Lösungen. Und was leistet die Bundesregierung? Wie nimmt sie ihre Verantwortung wahr, für die Ausbildung aller Jugendlichen zu sorgen, wenn es denn die Wirtschaft nicht kann? Die Wirtschaft kann es offenbar nicht, und sie sollte es freimütig zugeben, statt an falschen Annahmen festzuhalten und sich an Verschleierungsmanövern zu beteiligen. ({2}) Staatliche Hilfen weiterhin abzulehnen wäre in dieser Lage nur noch Ideologie, und zwar schädliche Ideologie zum Nachteil hilfsbedürftiger junger Menschen. ({3}) Ich sage es ganz deutlich: Wir klagen die Bundesregierung an, die Ausbildungsnot wider besserer Einsicht zu leugnen und zu verharmlosen. ({4}) In dem Bestreben, sich ihrer Pflicht zum Handeln zu entziehen, täuscht sie positive Erwartungen vor, ' die sie nach den schlechten Erfahrungen der letzten Jahre gar nicht haben kann. Eine spürbare Entspannung auf dem Lehrstellenmarkt hat Frau Bundesminister Wilms noch vor wenigen Tagen verkündet, und das bei 130 000 unversorgten Bewerbern Ende August. ({5}) Bedauerlicherweise helfen auch Wirtschaftsfunktionäre bei dieser Beschönigungskampagne. ({6}) Die Arbeitsämter, so heißt es - das wird Ihnen die Antwort geben -, hätten mit ihren Zahlen keinen ausreichenden Überblick. Das wird auch durch Wiederholung nicht wahr; denn feststeht: Die Arbeitsämter haben die einzig zuverlässigen Zahlen. ({7}) Diese Zahlen erlauben nach den Erfahrungen der Vorjahre schon jetzt die Schätzung, daß es am Ende dieses Monats 80- bis über 100 000 unversorgte Bewerber gibt. Es gibt ja kein Anzeichen dafür, daß die Entwicklung in diesem Jahr besser als 1983 verläuft, daß noch ein Wunder geschehen wird.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, es wird noch einmal eine Zwischenfrage erwünscht. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön.

Elmar Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmude, können Sie sich erinnern, daß die Arbeitsämter im vergangenen Jahr fast die gleichen Zahlen bekanntgegeben haben und Ihre Partei in Hessen auf Plakaten erklärte, zum Jahresende würden 200 000 Lehrstellen fehlen? Sie haben diese Zahl übrigens vorhin selbst genannt. Hier besteht doch die Schwierigkeit, richtige Zahlen zu ermitteln. Alle Jahre wieder wird das gleiche Spiel getrieben.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem wir das mehrere Jahre erlebt haben, haben wir hinreichende Erfahrungen, um aus den Zahlen die richtigen Folgerungen zu ziehen, und das habe ich getan. ({0}) Auf die Vernebelungskampagne sollten wir nicht jedes Jahr wieder hereinfallen. ({1}) Das Frohlocken über den angeblichen Rekord im Lehrstellenangebot verfehlt die Aufgabe, die die Bundesregierung hat. Denn die Rekordnachfrage, der Anspruch der jungen Menschen, setzt den Maßstab für die notwendige Ausbildungsleistung und sonst nichts! ({2}) Die Bundesregierung selbst hat diese Nachfrage kräftig hochgetrieben. Sie ist es doch, die für viele Familien die weiterführende Schulbildung der Kinder durch den BAföG-Kahlschlag unmöglich gemacht hat. Sie hat das Studium der BAföG-Empfänger finanziell erschwert. Der konservativen Abschreckungspropaganda gegen weiterführende Schulbildung und Studium hat sie mit solchen zerstörerischen Schlägen gegen die Chancengleichheit wirksam nachgeholfen. ({3}) Angesichts dessen ist es doch verständlich, daß junge Menschen verstärkt auf weiterführende Schulbildung verzichten und in die Berufsausbildung drängen. Der Bundeskanzler hat das gestern ausdrücklich begrüßt. Die Betroffenen aber machen die bittere Erfahrung, daß man sie in der beruflichen Bildung gar nicht will. Das alles ist nun keine schicksalhafte Entwicklung, die die Regierung hilflos über sich ergehen lassen muß. Hilfen sind möglich, aber von entsprechenden Maßnahmen ist nichts zu sehen. Wiederholt, zuletzt noch in der Bundestagsdebatte am 29. Juni, haben wir Sozialdemokraten mit konkreten Vorschlägen die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert. Wir haben gefordert, daß sie das Benachteiligtenprogramm aufstockt, im eigenen Einflußbereich weitere Ausbildungsplätze schafft, außerbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen zusätzlich bezuschußt und spezielle Förderprogramme, z. B. für Mädchen in wirtschaftlich schwachen Regionen, durchführt. Bundesregierung und Koalition haben das nicht nur abgelehnt, sondern haben uns ein weiteres Mal unnötige Dramatisierung vorgeworfen und unsere inzwischen bestätigten Vorhersagen als Horrorzahlen abgetan. Wie lange wollen Sie sich eigentlich um Ihre Pflicht drücken? Ist es Hilflosigkeit oder kalte Gleichgültigkeit, die Sie gegenüber der Notlage der von ihren Mißerfolgen gezeichneten Ausbildungsplatzsuchenden empfinden? Sie haben doch gerade in der beruflichen Bildung - als Ergebnis unserer Politik - eine gute Ausgangslage vorgefunden. ({4}) Wir sind es gewesen, - auch das will ich Ihnen einmal sagen -, die die berufliche Bildung im Betrieb und in der Schule aufgewertet haben. ({5}) Wir haben den Bau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten veranlaßt und gefördert, ohne die jetzt im Ausbildungsgeschehen das Chaos herrschen würde. ({6}) Wir haben rechtzeitig das Benachteiligtenprogramm begonnen, das auch den schwächeren Bewerbern um Ausbildungsplätze gleichwertige Chancen verschafft. ({7}) Es ist zwar ganz schön, daß dieses Programm, nachdem wir es begonnen haben, so wie es sein mußte, ausgeweitet worden ist. Aber wo bleiben, so fragen wir, die Erhöhungen, die jetzt notwendig sind, um es voll zur Wirkung zu bringen? ({8}) Es kann und darf doch nicht dabei bleiben, daß Sie buchstäblich nichts tun. Ich will mit meiner Kritik und meinen Vorwürfen Frau Bundesminister Wilms nicht persönlich angreifen. Denn ich weiß aus Erfahrung, daß der Bundesbildungsminister nicht der stärkste unter den Kabinettskollegen ist. Auch meine sozialdemokratischen Kollegen und ich, die dieses Amt vorher versehen haben, mußten um Geldmittel und Kompetenzen hart kämpfen. Aber wir haben es getan, ({9}) und zwar mit Nachdruck und gelegentlich sogar öffentlich. ({10}) Keiner von uns aber hat einer Regierung angehört, die die Bildungschancen der jungen Generation so vernachlässigt, das Bildungsministerium so gerupft und den Bildungsminister so schlecht behandelt hat, wie die jetzige Regierung es tut. ({11}) Soll denn auch noch aus der Sicht der beruflichen Bildung die unter anderem Aspekt bereits gestellte Frage nach der Existenzberechtigung dieses Ministeriums aufkommen? Wir fordern die Bundesregierung auf, dem drohenden Schaden sofort entgegenzuwirken, und schlagen dazu konkret vor: Stocken Sie die Geldmittel für das Benachteiligtenprogramm nach Maßgabe der Plätze auf, die bei den Trägern geeigneter Einrichtungen noch verfügbar gemacht werden können! Handwerkskammern, Innungen und andere bieten ihre Plätze seit Monaten an, aber sie bitten vergeblich um die notwendigen Finanzmittel. ({12}) Greifen Sie die Vorschläge unseres noch in diesem Juni in einem Antrag zum Berufsbildungsbericht 1984 vorgelegten Programms wenigstens teilweise auf, indem Sie zusätzlich Plätze im Bundesbereich schaffen, außerbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen bezuschussen und Sofortprogramme, vor allem für Mädchen, in Gang setzen! Finden Sie sich mit Ländern und Wirtschaft in einem großen Pakt für die Ausbildung zusammen, indem Sie verabreden, wie mit finanzieller Hilfe des Bundes und organisatorischen Anstrengungen der Länder gewerbliche Ausbildungsplätze in Berufsschulen nutzbar gemacht werden können! ({13}) Die Wirtschaft muß dazu wenigstens die Durchführung der notwendigen Praktika anbieten, und sie muß ihren Widerstand gegen die vollwertige Anerkennung solcher Ausbildungen endlich aufgeben. Sie darf anständigerweise nicht bei störrischer Verweigerung bleiben, obwohl sie selbst bei weitem nicht genug Ausbildungsplätze anbieten kann. ({14}) Bundesregierung und Koalition werden nicht ernsthaft geltend machen wollen, für solche Maßnahmen fehle es an Geld. Ein großer Teil des bei der Bundesanstalt für Arbeit anfallenden Überschusses kann für diese Zwecke sehr gut eingesetzt werden. ({15}) Wenn dem Bundesfinanzminister zinslose Darlehen von der Bundesanstalt zurückgezahlt werden, hat er das Geld unmittelbar zur Verfügung; er muß es nur einsetzen wollen. ({16}) Also, Möglichkeiten bestehen; Geld kann verfügbar gemacht werden. ({17}) Wenn Sie an die riesige Zahl der unversorgt bleibenden Bewerber denken, wenn Sie sich das Schicksal der einzelnen Jugendlichen vor Augen führen, denen Ausbildungsplätze und zugleich künftige Berufschancen versperrt bleiben, dann müssen Sie die möglichen Hilfsmaßnahmen auch wollen. ({18}) Sie sind zum Handeln verpflichtet, und Sie sind gefordert. Frau Minister Wilms, ich bin gespannt, was ich hier von Ihnen als Antwort darauf höre. ({19})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, das Wort hat die Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Frau Dr. Wilms. ({0})

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmude, ich möchte Ihren sehr pessimistischen und zum Teil irreführenden Ausführungen doch einiges entgegenhalten. Ich möchte zunächst vor aller Öffentlichkeit einmal ganz deutlich machen, daß das Angebot an Ausbildungsplätzen noch nie so groß war wie in diesem Jahr. ({0}) Lassen Sie mich hinzufügen - das nehme ich für mich und für die Bundesregierung in Anspruch -: Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze hat sich seit Amtsübernahme dieser Regierung um rund 70 000 erhöht. ({1}) Das sind 10% Erhöhung. Ein solches betriebliches Angebot - Herr Kollege Schmude, das wissen Sie genau wie ich - hätte der Staat nie geschafft. ({2}) Insgesamt erwarten wir in diesem Jahr ein Angebot von 715 000 bis 720 000 betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ich meine, daß diese Zahlen eindrucksvoll die Richtigkeit der Politik der Bundesregierung bestätigen; denn dieser Erfolg - 70 000 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze - wurde durch eine eindrucksvolle Entfaltung des gesellschaftspolitischen Engagements der Wirtschaft ermöglicht. Meine Damen und Herren von der Opposition, Appelle bringen eben doch sehr viel. Aber vielleicht begreifen Politiker, die sowieso nicht viel von der Marktwirtschaft halten, nicht, wie man auch mit marktwirtschaftlichen Elementen zu einer vollen Entfaltung der Kräfte kommen kann. ({3}) Die Bundesregierung hat durch die Zuverlässigkeit und Stetigkeit ihrer Bildungspolitik klare Ausgangspositionen und eindeutige Rahmenbedingungen für die duale Ausbildung gesetzt und damit auch in der Wirtschaft selbst die Voraussetzungen für die Steigerung des Ausbildungsplatzangebots geschaffen. Mißtrauen in der Wirtschaft, das durch Ihre Regierung begründet war, wurde abgebaut, und Ausbildungshemmnisse wurden beseitigt, ohne daß die Interessen der Jugendlichen vernachlässigt wurden. Meine Damen und Herren, die Flexibilität und die Leistungsfähigkeit des dualen Bildungssystems haben sich gerade in den letzten Jahren erneut gezeigt. Lassen Sie mich wiederholen, damit es jeder versteht: Kein staatliches Bildungsprogramm ist organisatorisch oder finanziell in der Lage, 70 000 zusätzliche Plätze innerhalb von zwei Jahren auf die Beine zu stellen, ({4}) denn dies kostet rund 1 Milliarde DM pro Jahr. Wir rechnen nämlich bei staatlichen überbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen mit 1,6 Millionen DM für 100 Jugendliche. Außerdem - auch das lassen Sie mich sagen - suchen die jungen Menschen erfahrungsgemäß eine betriebliche Ausbildung, erst in zweiter Linie eine außerbetriebliche oder eine schulische Ausbildung, wie sie durch staatliche Maßnahmen geschaffen werden. Ich denke, daß Sie, wenn Sie immer wieder von der Opposition her nach dem staatlichen Globalprogramm rufen, im Grunde genommen den Mechanismus des dualen Systems überhaupt nicht begriffen haben. ({5}) Herr Kollege Schmude, erlauben Sie mir, als Nachfolger im Amte folgendes zu sagen. Mitte der 70er Jahre haben Sie, die SPD-Kollegen im Amte, mit 460 000 betrieblichen Ausbildungsplätzen gerechnet. ({6}) Alle anderen Jugendlichen sollten auf schulische oder außerbetriebliche Maßnahmen verwiesen werden. Das war damals, Mitte der 70er Jahre, SPD-Politik. ({7}) Die Bildungspolitiker der SPD mußten sich in den letzten Jahren erst von ihrem Bundeskanzler Schmidt überzeugen lassen, daß das wohl nicht der richtige Weg gewesen sei und daß man einen anderen Weg einschlagen müsse.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Frau Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Bitte schön.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie bitte, Frau Minister, zur Kenntnis nehmen, daß wir keinerlei Globalprogramm fordern oder vorschlagen ({0}) und daß etwa in meiner Amtszeit, aber auch der meines Amtsvorgängers Helmut Rohde die von Ih6020 nen jetzt wiedergegebenen Annahmen schon längst inaktuell geworden waren? Weshalb bringen Sie die noch? Das ist doch irreführend.

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Damit man einmal sieht, welches der Ausgangspunkt unserer Politik ist und welches derjenige ist, den Sie bei Ihrer Politik zugrunde gelegt haben. Nicht mehr Sie persönlich. Ich habe gesagt: Mitte der 70er Jahre. Sie sind etwas später Bildungsminister gewesen. ({0}) Ich finde, man sollte sich auch zu seiner politischen Vergangenheit bekennen. Auch das gehört zum Geschäft. ({1}) Die Attraktivität der betrieblichen Ausbildung nimmt bei den jungen Menschen ohne Zweifel zu. Wir haben in diesem Jahr mit einem erneuten Anstieg der Nachfrage zu rechnen. Wir sehen, daß diese Nachfrage nicht mehr nur demographisch zu erklären ist. Hinter dieser gestiegenen Nachfrage nach betrieblichen Ausbildungsplätzen stehen auch - ich bekenne mich dazu - begrüßenswerte Änderungen im Bildungsverhalten. Eine zunehmende Zahl von Abiturienten strebt heute eine betriebliche Ausbildung an, weil sie als Akademiker für sich keine Berufschancen mehr sehen. Das muß man auch als eine nüchterne Tatsache festhalten. Auch immer mehr Mädchen sehen Berufschancen in der betrieblichen Ausbildung, was ich nur begrüßen kann. Ebenso begrüße ich, daß die Zahl der Jugendlichen, die keine Ausbildung anstreben, erfreulicherweise immer weiter sinkt. Aber auch eins muß erwähnt werden: Hinter dieser Nachfragesteigerung verbergen sich auch Arbeitsmarktprobleme. Jugendliche, die jetzt keinen Arbeitsplatz finden, wollen sich zusätzlich qualifizieren, also Bildung statt Arbeit. Alle diese Entwicklungen verstärken das aktuelle Lehrstellenproblem vor allem in Gebieten mit schwacher Wirtschaftsstruktur wie etwa in Nordrhein-Westfalen. In Süddeutschland gibt es kaum Lehrstellenprobleme. Auch das muß einmal festgehalten werden. ({2}) Die Lehrstellenproblematik zeigt nämlich die enge Verzahnung von erfolgreicher Wirtschaftspolitik, realistischer Bildungspolitik und von Arbeitsmarkt-und Ausbildungsmarktsituation. ({3}) Herr Kollege Schmude, Sie haben jetzt wieder mit den Bewerberzahlen hantiert. Ich muß Ihnen sagen - das tue ich in aller Deutlichkeit -, daß die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit im August einen Rückgang an unversorgten Bewerbern um 83 000 ausweisen, d. h. der Ausbildungsmarkt ist in voller Bewegung. Wir haben jetzt schon, in diesen Tagen, einen weiteren rapiden Rückgang zu verzeichnen. Die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zeigen weiterhin, daß es über 32 000 unbesetzte Ausbildungsstellen gibt. Wir wissen, daß sich längst nicht alle Ausbildungsbetriebe bei der Bundesanstalt melden - im Gegensatz zu den Jugendlichen, die sich dort fast alle melden. Die Kammerorganisationen melden gerade in diesen Tagen deutliche Zuwachsraten, ({4}) die jetzt im September höher liegen als im September des Vorjahres. Offensichtlich macht sich jetzt bemerkbar, daß es auf Grund des Streiks im Mai und Juni eine abwartende Haltung gab, die jetzt allmählich ausgeglichen wird. Ich muß hier etwas korrigieren. Der Kollege Roth hat heute morgen gesagt, ihm seien aus dem Einzelhandel rückläufige Zahlen bekannt. Uns sind diese Zahlen nicht bekannt. Ich habe extra recherchieren lassen. ({5}) - Dann habe ich Sie mißverstanden. Ich bitte um Entschuldigung. Dann möchte ich das korrigieren. Meine Damen und Herren, ich möchte hier also festhalten - dies ist der entscheidende Punkt -, daß der Ausbildungsmarkt in diesen Tagen in voller Bewegung ist. Herr Kollege Schmude, Sie lesen wie ich Zeitung. Wie kommt es denn, daß in einer Stadt wie Köln, meiner Heimatstadt, mit - leider - hoher Arbeitslosigkeit die Zeitungen jetzt mehrfach in der Woche ganze Listen von offenen Lehrstellen veröffentlichen? ({6}) Wie kommt es denn, daß dicke Artikel des Arbeitsamtes in Köln erscheinen, in denen man darauf hinweist, daß täglich Vermittlungen erfolgen und daß täglich ein rapider Abbau der Zahl von Bewerbungen zu verzeichnen ist? Wer angesichts solcher Artikel und der Erfahrungen, die jeder von uns täglich in seiner Heimatstadt macht, noch eine Katastrophenstimmung verbreitet und, wie es leider von Gewerkschaftsseite erfolgt ist, die Verelendung der Jugend als die neue Prophetie verkündet, der schadet der Jugend und hilft ihr nicht. Er verunsichert sie, anstatt ihr tatkräftig zu helfen. ({7})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Frau Bundesminister, Frau Weyel möchte eine Zwischenfrage stellen.

Gudrun Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Minister, ich freue mich, daß Sie Ihren Optimismus nicht verloren haben. Können Sie uns aber sagen, was Sie zu tun beabsichtigen, wenn sich im November oder Dezember herausstellt, daß Ihre optimistischen Annahmen doch falsch waren?

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Vielen Dank, Frau Kollegin. Im nächsten Teil meiner Ausführungen werde ich darauf zu sprechen kommen. Wenn Sie erlauben, beantworte ich damit Ihre Frage. Meine Damen und Herren, von der Opposition wird - nicht heute hier, wohl aber draußen - polemisch so getan, als ob der 30. September nicht ein statistischer Stichtag sei, sondern für das Ende der Ausbildungskampagne stehe. Das ist eine Irreführung der jungen Generation. ({0}) Man scheint damit davon ablenken zu wollen, daß Sie - die SPD-Regierung im damaligen Gesetz ja gerade den 30. September als Interventionsdatum gesetzt haben, um nämlich zu prüfen, wie die Situation ist und was noch geschehen muß. Sie haben damals allerdings an ein gesetzliches Umlageverfahren gedacht. Wir denken nicht an eine solche Maßnahme. Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Der 30. September - und die Zeitungsberichte bestätigen das - markiert auch in diesem Jahr nicht das Ende der Ausbildungsbemühungen. Im letzten Jahr - Herr Kollege Schmude, das haben Sie eben vielleicht vergessen hinzuzufügen; deshalb sage ich es jetzt - wurden nach dem 30. September, dem statistischen Stichtag, noch über 30 000 junge Menschen vermittelt. Im frühen Frühjahr waren daher nur noch 12 000 junge Menschen ohne Ausbildungsstelle. Das ist ein Rest, der uns noch zu bedrücken hat, der aber längst keine Katastophe signalisiert. Das bleibt hier festzuhalten. Es ist im übrigen auch so, daß die Betriebe nicht immer alle Plätze besetzen können. Wir wissen nämlich - auch dies muß gesagt werden -, daß es Fälle gibt, in denen fünf Lehrlinge angenommen wurden, dann aber nur drei gekommen sind. Zwei Plätze sind frei geblieben. Das ist kein Einzelfall. Wir rechnen, daß etwa 90 000 Plätze auf diese Weise im August und September nicht besetzt werden. Hier ist also noch eine kompakte Kapazität vorhanden, die freigeschaufelt werden muß, damit ein zusätzliches Angebot gemacht wird. ({1}) - Jetzt keine Frage mehr. Wir wissen auch, daß die Kammern sich in diesen Tagen sehr bemühen - durch Ausbildungsberater, durch Werber, übrigens mit Unterstützung aus Geldern meines Hauses, wie hier hinzugefügt sei -, noch neue Betriebe für die Ausbildung zu gewinnen. Meine Damen und Herren, ich sage aber auch, daß in dieser Ausnahmesituation der Überlast Bund, Länder und Gemeinden flankierend zur Lösung der Probleme beitragen müssen. Wir werden jetzt in diesen Wochen auf allen Ebenen - ich betone: auf allen Ebenen - noch zu entscheiden haben, wo, für wen und in welchem Umfang flankierende Hilfen erforderlich sind. In Regionen mit besonderen Schwierigkeiten und für spezielle Gruppen von Jugendlichen helfen Bund und Länder ja schon gezielt. Das Benachteiligtenprogramm der Bundesregierung leistet hier einen ganz besonders wichtigen und effektiven Beitrag. 13 000 Jugendliche - einige tausend mehr als im Vorjahr - werden in diesem Jahr versorgt werden können. Hinzu kommen die gezielten Hilfen im Sinne der berufsvorbereitenden Maßnahmen durch das Arbeitsförderungsgesetz bzw. Arbeitsbeschaffungsprogramme. Durch unkonventionelle Maßnahmen von Industrie, Handwerk und Handel werden, falls es örtlich erforderlich ist, auch noch zusätzliche überbetriebliche Kapazitäten zu schaffen sein. Die Bundesregierung aber - das möchte ich noch einmal mit Blick auf die Wirtschaft sagen - lehnt auch in diesem Jahr eine direkte Subventionierung betrieblicher Ausbildungsplätze ebenso ab wie eine gesetzliche Umlagefinanzierung. Solche Maßnahmen zerstören das duale System, wecken Attentismus und Mitnahmeeffekte bei den Betrieben. Sie schaffen keine zusätzlichen Ausbildungsplätze. Darauf aber kommt es an. ({2}) Ich denke, wir werden alle in den nächsten Wochen durch sehr aktive Politik, die die Bundesregierung schon immer betrieben hat, noch unseren Beitrag leisten. Es ist ja einfach nicht wahr, daß wir nichts tun. ({3}) Wir werden weiter unsere aktive Politik fortführen. ({4}) - Aber sehr effektiv; 70 000 zusätzliche Plätze! Ich finde das nicht schlecht. ({5}) Es gibt 13 000 Plätze durch das Benachteiligtenprogramm und insgesamt 1,4 Milliarden DM schon heute an Zuschüssen von Bundesseite. Ist das nichts für die berufliche Bildung? - Ich wäre da vorsichtig. Lassen Sie mich zum Abschluß sagen, daß alle Beteiligten noch ihren Beitrag in diesen Herbstwochen leisten müssen. Die Jugendlichen müssen sich umschauen, sie müssen sehen, was es hier für Angebote gibt. Es sind wertvolle und wichtige Angebote. Man muß sich persönlich bewerben, man muß sich bei Mehrfachbewerbungen abmelden, die Betriebe müssen noch einmal zulegen, die überbetrieblichen Maßnahmen der Wirtschaft sind voll auszuschöpfen; Bund, Länder und Gemeinden können durch flankierende vorübergehende schulische Maßnahmen und außerbetriebliche Maßnahmen, falls erforderlich, unterstützend helfen. Die Ausbildungskampagne 1984 ist nicht zu Ende; sie geht weiter, sie ist in vollem Gange. Statt Katastrophenstimmung und Pessimismus sollten wir uns alle lieber im Engagement für unsere Jugend üben. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aber natürlich, was denken Sie wohl? Ich werde eine ganz friedliche Rede halten. Frau Minister Wilms, ich finde, diese Kölner Zeitung sollte auch einmal eine Liste der noch einen Ausbildungsplatz Suchenden veröffentlichen. Ich glaube, so eine dicke Zeitung gibt es in Köln gar nicht, die dies alles aufnehmen würde. ({0}) Wir ermutigen auch heute ausdrücklich Handwerk und Betriebe, für Ausbildungsplätze zu sorgen. ({1}) Ich sage Ihnen eindeutig: Wir wären froh, wenn es gelingen könnte, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Ich hatte nur bei Frau Wilms den Eindruck, daß zu ihr andere Leute als in unsere Sprechstunden kommen. Zu uns kommen doch die Eltern, die verzweifelt sind, zu uns kommen doch die Eltern der Mädchen, die sich zum zwanzigsten- oder dreißigstenmal beworben haben und keinen Ausbildungsplatz finden. Deswegen ist es richtig und wichtig, daß die Opposition erneut auf einem besonderen Programm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit beharrt. ({2}) Nun ist ja die Debatte hochinteressant. Ich muß noch einmal kurz auf die denkwürdigen Passagen der Debatten heute morgen zur Frauenpolitik zurückkommen. Wissen Sie, meine sozialdemokratischen Kolleginnen und ich sind einigermaßen betroffen, wie über Frauenpolitik, Familienpolitik und deren Verzahnung miteinander gesprochen wird. Da sagt der Fraktionsvorsitzende der CDU - haben Sie das eigentlich gehört, meine Damen und Herren? -, die Frauen mit den kleinen Kindern sollten und müßten vorübergehend außerhalb der Erwachsenenwelt leben. Das bietet er jungen Müttern an und sagt kein Wort von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die ganze Heuchelei, die aus diesen Worten spricht, kann ich nur ablehnen. ({3}) Und der Familienminister! Also, wenn er sich zur Frauenpolitik äußert, dann laufen einem Schauer den Rücken runter. Denn er hat wirklich überhaupt nicht begriffen, daß er über Familienpolitik so viel reden kann, wie er will, wenn es nicht gelingt, den jungen Frauen Zuversicht zu vermitteln, daß es eine Lebensperspektive gibt, wie man Beruf und Familie miteinander vereinbaren kann. Da kann er noch soviel Kindergeld ausgeben: Die Frauen werden ihr Geburtenverhalten nicht ändern. ({4}) - Ja, wir haben Zuversicht verbreitet. Darauf komme ich jetzt noch. Wissen Sie: Der Familienminister hat nichts anderes vor, als auf dem Feld der Familienpolitik seine Aggressionen loszuwerden. ({5}) Aber das ist typisch für ihn. Denn er will mit dieser Kampagne wie mit der Kampagne gegen „Pro familia" eigentlich ja nur den Boden für gesellschaftspolitischen Rückschritt bereiten. Das ist sein wirkliches Ziel. ({6}) Herr Eimer, nicht jede Kürzung, die die sozialliberale Koalition durchführen mußte, war ökonomisch oder sozialpolitisch sinnvoll. Ich finde es hochinteressant, daß Sie, wenn wir Kürzungen vorgenommen haben, daraus die Rechtfertigung nehmen, weiter zu kürzen. ({7}) Tatsache bleibt doch: Sie haben das Kindergeld gekürzt. ({8}) Sie haben das Wohngeld gekürzt. Sie haben die BAföG-Leistungen gekürzt. Und wenn Herr Geißler seine früheren Studien über die neue Armut ernst nehmen würde, dann müßte er sich schämen. Denn er produziert neue Armut in diesem Land. ({9}) Und nun kommt der fabelhafte Kinderfreibetrag. Wie war das vor einem Jahr, meine Damen und Herren? Erinnern wir uns: Herr Geißler erklärte ganz stolz, die Kürzung des Kindergelds werde einkommensabhängig gestaltet. Denn, so sagte Herr Geißler, der Generaldirektor brauche kein Kindergeld; der könne aus seinem sonstigen Einkommen für seine Kinder sorgen. Die einkommensabhängige Kürzung war der große sozialpolitische Fortschritt. Und nun kommt der Kinderfreibetrag über die Steuern und gibt dem Generaldirektor ein Vielfaches der Kürzung zurück. Das ist die Scheinheiligkeit Ihrer Politik. ({10}) - Ja, Sie sollten mal lesen, was über das Ergebnis dieser Familienpolitik von den Bischöfen und den katholischen Familienverbänden gesagt wird: Wir gehen in der Familienpolitik auf eine neue Armut zu. Und dies hat nicht nur mit Geld etwas zu tun, sondern auch mit der Frage, wie man eigentlich Beruf und Familie vereinbart und welche Perspektive man den Müttern gibt. ({11}) Und da reicht es nicht aus, das Erziehungsgeld auch den nicht erwerbstätigen Frauen zu geben, wenn Sie nicht zugleich eine Arbeitsplatzsicherung für den gesamten Zeitraum durchsetzen. Und ich frage, Herr Geißler: Wann kommen Sie denn mit einem Elternurlaub, der diesen Namen verdient? Frau Fuchs ({12}) Und nun geht's los, meine Damen und Herren. Bald werden die Frauen in diesem Land ein weiteres „Wunder" erleben. Wenn nun die Frauen denken, von dem Arbeitsminister werde sozialpolitischer Fortschritt ausgehen und die Frauen könnten wenigstens von ihm Verbesserung erwarten, dann werden sie sehr enttäuscht, denn außer seiner fabelhaften „Neuen Mütterlichkeit" hat er den Frauen Vernünftiges nicht anzubieten. Wir stehen vor einer Reform der Hinterbliebenenrente, die wesentliche Elemente enthält. ({13}) Der Herr Bundesarbeitsminister aber verläßt den gesellschaftlichen Konsens, den wir alle miteinander in jahrelanger Arbeit erarbeitet haben. Wir wollten doch nicht nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwirklichen, das für die Männer die Gleichberechtigung im Hinterbliebenenfall fordert. ({14}) - Dagegen habe ich gar nichts, meine Herren! Wir wollten doch zugleich, daß die soziale Sicherung der Frau im Alter verbessert wird ({15}) und daß die Frauen nicht mehr darauf angewiesen sind, zur Sozialhilfe zu gehen. ({16}) Nun frage ich Sie, meine Damen und Herren von der CDU: Können Sie es vertreten, daß die Frauen, die auf Witwenrente angewiesen sind, auf 60 % ihrer Rente hängenbleiben? ({17}) Können Sie es vertreten, daß die Frauen weiterhin zur Sozialhilfe gehen? Ich halte es deswegen für unerträglich, daß dieses Modell, das Herr Blüm vorschlägt, von Ihnen akzeptiert wird. ({18}) - Ja, wir haben Vorschläge. Nun gibt es etwas Neues. Jetzt hat sich die Bundesregierung dazu durchgerungen, die Anerkennung der Kindererziehungszeit in der Rentenversicherung vorzusehen. ({19}) - Das ist gut. Bei diesem Konzept sind wir alle einig, weil Versicherungslücken geschlossen werden sollen, weil die Frauen - so dachten wir eigentlich immer -, die ohne Mutterschaftsurlaubsgeld, ohne Kindergeld in sehr schwierigen Zeiten ihre Kinder großgezogen haben, es auch heute noch verdient haben, zu ihrer Rente einen Zuschlag zu erhalten. Deswegen wollten wir allen Frauengenerationen ein Jahr Kindererziehungszeit anerkennen. Dies war unsere sozialpolitische Forderung. ({20}) Aber nun hören wir, daß sich die Regierung geeinigt hat. Was kommt dabei heraus? Dieses Erziehungsjahr gibt es nur für die zukünftigen Rentnerinnenfälle, d. h. die Generation, die ihre Kinder wirklich unter schwersten Bedingungen großgezogen hat, geht leer aus. Das ist die Familienpolitik und die Frauenpolitik dieser Bundesregierung. ({21}) Nun fragen Sie: Wie soll das finanziert werden? Wenn ich den Kuhhandel richtig verstanden habe, so wird es zwar aus dem Bundeshaushalt finanziert, aber wie wird denn dieses Loch im Bundeshaushalt zugeschüttet? Es wird zugeschüttet, indem die Bundesanstalt für Arbeit einen Kredit zurückzahlen muß, der ihr eigentlich angesichts der jetzigen Situation bleiben müßte. ({22}) Konsequenz: Die Arbeitslosen und die Versicherten zahlen für die Anerkennung dieser Kindererziehungsjahre. Das ist ein Skandal. ({23}) Von dem Arbeitsminister ist also, meine Damen, nicht viel zu erwarten, was die Frauenpolitik anlangt. Ob er sozialpolitischen Fortschritt vortragen kann, werden wir nachher hören. Es ist interessant, daß er als der fröhlichste Arbeitsminister gilt; das finde ich gut. Die früheren waren übrigens auch nicht unfröhlich; das möchte ich hier sagen. ({24}) Aber auch der fröhlichste Arbeitsminister sollte sich an das erinnern, was ich ihm vor einem Jahr gesagt habe. Ich habe gesagt: Sie, Herr Arbeitsminister, sollten mit dem lauten Indianerspielen draußen aufhören, Sie sollten sich auf den Hosenboden setzen und Ihre Schularbeiten machen, weil Sie sonst das Klassenziel nicht erreichen. ({25}) Heute stellen wir fest: Er hat weiter Indianer gespielt und seine Schularbeiten nicht gemacht; ({26}) denn die erneuten Finanzlöcher in der Rentenversicherung und die dramatische Kostenentwicklung im Gesundheitswesen gehen ausschließlich auf das Konto von Herrn Blüm; sie sind Ergebnis seiner Politik. ({27}) Frau Fuchs ({28}) Nach dem Sozialabbau - wir hören ja: Kürzungen gibt es nicht weiter - geht der Arbeitsminister nun daran, Schutzrechte abzubauen. Sie, Herr Arbeitsminister, sagen Beschäftigungsförderungsgesetz, meinen aber Schwächung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. ({29}) Diese Politik ist arbeitnehmerfeindlich. ({30}) Wir nennen das Gesetz ein Entlassungsförderungsgesetz. ({31}) - Was fehlt, Herr Kolb, ist doch nicht die Flexibilisierung. Flexibilisierung ist etwas Schönes. Wenn sich die Arbeitnehmer aussuchen könnten, wie sie ihr Leben gestalten und wir z. B. einen Elternurlaub hätten, der den Namen verdient, dann wären wir ein richtiges Stück weiter. Wenn Flexibilisierung hieße, wir würden die Teilzeitarbeit sozial und arbeitsrechtlich vertretbar machen und z. B. die 390DM-Grenze in der Sozialversicherung abschaffen, dann wären wir mit von der Partie, wenn es gelte, so etwas durchzusetzen. Aber Flexibilisierung heißt doch bei Ihnen Abbau von Schutzrechten. Arbeitsplätze fehlen, nicht Schutzrechte sind zuviel. Nun frage ich: Wieso wird eigentlich, wenn ich Schutzrechte abbaue, ein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen? Ich habe das nie begriffen. ({32}) Und wieso werden eigentlich, wenn es bei Konkursen keine Sozialpläne gibt, Arbeitsplätze geschaffen? Die heutigen Möglichkeiten der Befristung von Arbeitsverträgen reichen aus. Ziel des Arbeitsministers ist es nur, die Stammbelegschaften reduzieren zu können, um andere Arbeitnehmer zu heuern und zu feuern. Nicht umsonst wird immer auf das amerikanische Vorbild hingewiesen. ({33}) Von den hohen Ansprüchen der Bundesregierung ist nichts als heiße Luft übriggeblieben. ({34}) „Wir schaffen Arbeit, beseitigen die Jugendarbeitslosigkeit und stellen die soziale Gerechtigkeit für alle wieder her", so hieß es im Wahlprogramm der CDU 1983. Aber die Tatsachen sind ganz anders. Als de FDP ihr politisches Hemd wechselte, lag - dies nur als ein Beispiel - die Arbeitslosenzahl bei 1,8 Millionen. Nach fast zwei Jahren konservativer Regierung sind über 400 000 Arbeitslose hinzugekommen. Meine Damen und Herren, ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Im Kommunalwahlkampf von Nordrhein-Westfalen behauptet Herr Geißler in einem Rundschreiben dreist, seit März 1984 habe die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 abgenommen. In diesem Wahlkampf wird auch noch mit der Zahl der Arbeitslosen ({35}) Schindluder getrieben. ({36}) Meine Damen und Herren, ich möchte etwas hinzufügen. Wir reden im Rahmen unseres sozialen Sicherungssystems zu Recht von den über 2 Millionen registrierten Arbeitslosen. ({37}) Aber wissen wir eigentlich, wie viele sich gar nicht mehr registrieren lassen? Wissen Sie eigentlich, wie viele Frauen es gibt, die schon lange die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben haben, wie viele Mädchen nach der Schule in den Haushalten versickern? Ich behaupte, die Abeitslosenzahl liegt weit höher als bei den registrierten 2,2 Millionen Arbeitslosen, von denen wir heute sprechen. ({38}) Ein weiteres Beispiel sind die Ausbildungsplätze. Sie haben einen gigantischen Sozialabbau betrieben. Sie kennen die Zahlen, nach denen der berühmte kleine Mann durch den Sozialabbau und die Abgabenerhöhungen der letzten Zeit bis Mitte der 80er Jahre mit rund 175 Milliarden DM belastet wird. Der sozial Schwächere wird einseitig belastet, und gleichzeitig werden Unternehmer und Besserverdienende um rund 35 Milliarden entlastet. Der Kommentar von Wissenschaftlern dazu ist: Hinter dem Tarnbegriff „Sparpolitik" verbirgt sich eine Politik der Einkommensumverteilung von unten nach oben. - Dieser Feststellung ist nichts hinzuzufügen. ({39}) Auch der Arbeitsminister findet sich mit der Massenarbeitslosigkeit ab. ({40}) Diese Bundesregierung schreibt die Zahl von 2 Millionen Arbeitslosen in der mittelfristigen Finanzplanung bis an das Ende der 80er Jahre hinein fest, und auch im Sozialbudget wird bis über die 80er Jahre hinaus von dieser hohen Massenarbeitslosigkeit ausgegangen. ({41}) - Nein, das steht in den Berichten! Schauen Sie sich doch die Finanzplanungsberichte an, schauen Sie sich den Sozialbereich an! Überall dort ist die Arbeitslosenzahl mit mehr als 2 Millionen angegeben. Das heißt, Sie finden sich mit der Massenarbeitslosigkeit ab. Frau Fuchs ({42}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen aber: Wer sich damit abfindet, gefährdet den sozialen Frieden ({43}) und versündigt sich an Millionen von Arbeitslosen und ihren Familien. Wer so handelt - und da ist ja der politische Kampf, den Sie wollen -, nimmt bewußt eine Spaltung unserer Gesellschaft in Arbeitsbesitzer und Habenichtse in Kauf. Das ist das, was Sie dabei wollen! ({44}) Wem schon die Arbeitslosen und ihre Familien nicht am Herzen liegen, der soll doch bitte zur Kenntnis nehmen, wie teuer diese Arbeitslosigkeit ist. Allein 55 Milliarden - Sie kennen die Zahl - geben wir aus, um Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Steuerausfälle zu verkraften. Insgesamt aber errechnet man, daß diese Arbeitslosigkeit einen volkswirtschaftlichen Schaden von mehr als 100 Milliarden DM verursacht. Diese Probleme vernachlässigen Sie total, denn alles, was Sie tun, ist Haushalt konsolidieren, und Sie konsolidieren zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme. Darauf werde ich gleich noch einmal eingehen. ({45}) Jetzt gibt es einen fabelhaften Sündenbock, das haben wir heute morgen auch schon gehört: Der Arbeitskampf ist schuld daran, daß die Konjunktur eingebrochen ist. Der Arbeitskampf, so habe ich auch vernommen, war ({46}) etwas Unsinniges. Dabei geht es doch darum: Auch wenn wir Wachstum erreichen - wofür wir sind -, auch wenn wir die Zahlen sorgfältig prüfen, bleibt die Massenarbeitslosigkeit in den 80er Jahren bestehen, wenn wir nichts tun. Ich höre aus dem Regierungslager keinen Satz dazu, wie Sie eigentlich der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen durch den technologischen Wandel begegnen wollen. ({47}) - Nein, ich will ihn nicht aufhalten, Herr Kolb. Sie haben überhaupt kein Konzept zur sozialen Gestaltbarkeit des technologischen Wandels. ({48}) - Er läuft seit zehn Jahren, Herr George, das ist ganz richtig, aber seit zehn Jahren hat es in diesem Lande auch - bis auf die letzten Jahre - kontinuierlich Arbeitszeitverkürzungen gegeben. Deswegen brauchen wir als ein Element der Wirtschaftspolitik Arbeitszeitverkürzungen auf breiter Front. Wenn Sie sich in den Nachbarländern umschauen, so täuschen Sie sich, wenn Sie meinen, daß dieser Arbeitskampf, der Kampf um die 35-StundenWoche, auf Deutschland beschränkt bleibt. Ganz im Gegenteil, dieser Arbeitskampf mit seinem Ergebnis hat wichtige Impulse für die wirtschaftliche und tarifpolitische Diskussion im ganzen europäischen Rahmen ausgelöst. ({49}) - Die teuerste Arbeitslosigkeit, Herr Cronenberg, ist die Arbeitslosigkeit von zwei Millionen Menschen, die eine Arbeitszeitverkürzung auf Null haben. Wenn Sie dies doch endlich einmal begreifen würden! ({50}) Und wenn Sie weiter begreifen würden, daß wir die Arbeitslosen bezahlen müssen! Sie sind sich doch im klaren darüber, daß es Arbeitszeitverkürzungen gibt. Ich freue mich schon auf eine Debatte, die wir in fünf Jahren führen, in der wir alle selbstverständlich davon ausgehen, daß wir in Richtung 35Stunden-Woche gehen. Da werden Sie sagen: Na ja, so falsch war es damals nicht. Sie haben manchmal in der Geschichte der CDU/CSU Ihre Position ändern müssen. Auch hier werden Sie von der Tarifpolitik der Gewerkschaften eingeholt. Meine Damen und Herren, bei den Arbeitslosen ist nun noch das Makabre, daß trotz dieser Höhe der Arbeitslosenzahlen die Bundesanstalt für Arbeit Geld übrig hat. ({51}) Der Herr Bundesfinanzminister hat das damit begründet, daß die Bundesregierung in ihrer ersten Voraussage mit einer höheren Zahl von Arbeitslosen gerechnet habe, und nun sei das nicht so schlimm geworden, und deswegen brauche die Bundesanstalt für Arbeit dieses Geld nicht. Ich hoffe, er hat sich inzwischen belehren lassen, daß das eine ganz unsinnige Erklärung für die Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit ist, denn die Wahrheit ist eine andere: Fast zwei Drittel der registrierten Arbeitslosen erhalten keinen Pfennig Arbeitslosengeld. Eine ständig steigende Zahl von Arbeitslosen ist auf Arbeitslosenhilfe angewiesen, und über 630 000 gemeldete Arbeitslose erhielten vor einem Jahr weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe. Das heißt also, die ständige Verschlechterung auf dem Arbeitsmarktsektor, der Struktur des Arbeitsmarkts ist es, die zu diesem Überschuß geführt hat. Wer Kommunalpolitik macht, der weiß, daß die Kommunen die Lasten zu tragen haben. Wir hatten gestern eine denkwürdige Diskussion mit einem CDU-Kollegen, der das aus kommunalpolitischer Sicht zu Recht hier gebrandmarkt hat. Und dann wird gesagt: Liebe Kommunen, investiert doch, schafft Arbeitsplätze. Das geht nur dann, wenn man die Kommunen von den Kosten der Arbeitslosigkeit entlastet, denn die finanzielle Bewältigung der Arbeitslosigkeit ist nicht Aufgabe der Kommunen, vielmehr wäre es die Aufgabe der Bundesanstalt Frau Fuchs ({52}) für Arbeit, für ausreichendes Arbeitslosengeld zu sorgen. ({53}) Meine Damen und Herren, diese Massenarbeitslosigkeit - über die wir noch vertieft diskutieren werden; unsere Vorschläge dazu sind diskutiert worden - und ihr Finanzbrocken ({54}) - darauf komme ich gleich; das bilden Sie sich nur ein; ich werde Ihnen gleich eine Antwort geben - bleiben der Dreh- und Angelpunkt auch für die soziale Sicherung. Das bekommt zur Zeit der Arbeitsminister zu spüren. Noch vor wenigen Monaten glaubte der Bundesarbeitsminister, er sei der Retter der Rentenversicherung. Er sagte ganz stolz: Die Bundesregierung hat in wenigen Monaten in einem zweimaligen Kraftakt die Rentenversicherung aus der Gefahrenzone gebracht und die Weiche für ihre langfristige Stabilisierung gestellt. Herr Blüm, was ist von diesem stolzen Wort eigentlich übriggeblieben? Sie erleben doch jetzt Ihr rentenpolitisches Waterloo. ({55}) Die Konsolidierung der letzten zwei Jahre war nämlich falsch angesetzt. Warum? Die wirtschaftlichen Annahmen über die Entwicklung der Zahl der Beschäftigten und die Löhne wurden von der tatsächlichen Entwicklung schnell eingeholt. Der Rentenversicherung, die in diesem Jahr mit Ach und Krach gerade noch über die Runden kommt, werden im nächsten Jahr rund 3 Milliarden DM in der Kasse fehlen. Der negative weitere Trend ist absehbar, meine Damen und Herren. Denn die Bundesregierung geht selbst heute noch von Lohnsteigerungen von 4,6% im nächsten Jahr und einer Zunahme der Beschäftigung von 0,7% aus. Sie haben es noch nicht nach unten korrigiert, Herr Bundesarbeitsminister. Wenn Sie das tun müssen, bringt es weitere Löcher in die Rentenfinanzen. Das ist auch die traurige Realität. ({56}) Dieses ist das Ergebnis Ihrer Politik, Herr Bundesarbeitsminister. ({57}) Sie haben im letzten Jahr einen wichtigen sozialpolitischen Fehler gemacht. Sie haben nämlich die Bundesanstalt für Arbeit von der Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose nennenswert entlastet. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen, Herr Cronenberg: Die Arbeitslosigkeit darf nicht auf die Rentenfinanzen total niederschlagen. Dieses ist der strategische Ansatz. Wenn Sie das nicht korrigieren, dann wird der Bundesarbeitsminister immer wieder Löcher in der Rentenversicherung haben. Deswegen haben Sie die Schuld; denn Sie haben im vorigen Jahr die falsche Entscheidung getroffen. ({58}) - Herr Kolb, ich sage es Ihnen noch einmal. Sehen Sie, ich erkläre es Ihnen ganz langsam. ({59}) Wenn die Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslose Rentenversicherungsbeiträge an die Rentenversicherung zahlt, ({60}) dann ist die Rentenversicherung - die ja für die Arbeitslosigkeit nichts kann - unabhängiger von der Arbeitslosigkeit. Dann hätten wir Atem, um zweierlei zu tun, was ich wichtig finde. Wir würden das Risiko der Arbeitslosigkeit dort konzentrieren, wo es ansteht, nämlich bei der Bundesanstalt für Arbeit, und wir hätten Atem, um die anderen Probleme in der Rentenversicherung, die wir alle kennen ({61}) demographische Entwicklung, Hinterbliebenenreform, Wertschöpfungsbeitrag -, zu lösen. Wir müßten nicht mit Herrn Blüm, dem Vorsteher dieses Verschiebebahnhofs, immer Katz und Maus spielen. ({62}) Nun wollen Sie die Beiträge hin- und herschieben. Ich finde das unglaublich. Nein, dies ist ein Punkt einer aktiven Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Die Massenarbeitslosigkeit, Herr Kollege, ist kein individuell versicherbares Risiko. Deswegen ist es richtig und vernünftig, wenn sich auch der Staat an der Finanzierung von Massenarbeitslosigkeit beteiligt. Wenn Sie nur die Überschüsse nähmen - obwohl das ein anderes Kapitel ist -, dann könnten Sie am strategisch richtigen Punkt ansetzen und die Rentenversicherung von dieser Situation unabhängig machen. Die BfA mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Herrn Quartier gibt diese Empfehlung. Die ganzen Rentenversicherungsträger sagen: Dies ist der strategisch richtige Weg. - Es wäre sinnvoll, wenn der Bundesarbeitsminister dies lernen würde und sich auch dafür einsetzen könnte. Ein weiteres Debakel erlebt der Herr Bundesarbeitsminister in der Gesundheitspolitik. Sie, Herr Blüm, haben nichts dagegen unternommen, daß die pharmazeutische Industrie weiter überhöhte Gewinne macht. Sie haben nichts dagegen unternommen, daß die Kassenärzte und Zahnärzte sich wieder kräftige Honoraraufbesserungen genehmigt haben, und Sie haben nichts dagegen unternommen, Frau Fuchs ({63}) daß die Hersteller von Heil- und Hilfsmitteln nach zwei Jahren Preisstillstand sich wieder kräftig bedienen. Ich sage Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister: Fröhliche Appelle in der Gesundheitspolitik nützen überhaupt nichts. Sie haben es mit einem Machtbereich zu tun, der gern verdienen möchte zu Lasten der Sozialversicherung. Deswegen ist es an der Zeit, daß Sie auf die bewährten Instrumente zurückgreifen, die wir Ihnen angeboten haben, und sie ergänzen. ({64}) - Herr Cronenberg, wollen Sie als Unternehmer, daß die Beiträge erhöht werden? Soll es denn wirklich so sein, daß Sie Steuerentlastung machen für jene, die jenseits der Beitragsbemessungsgrenze verdienen, aber Erhöhungen von Sozialversicherungsabgaben für jene, die im Rahmen der Sozialversicherungsbeiträge verdienen? Das kann nicht Sinn Ihrer Politik sein. Deswegen fordere ich den Arbeitsminister auf, zumindest die Herbstsitzung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen zu nutzen, um gesetzgeberische Maßnahmen anzukündigen und durchzusetzen. Wir wollen Ihnen dabei gerne helfen, Herr Bundesarbeitsminister. Vor gut einem Monat haben Sie, Herr Blüm, Ihre Parteifreunde aufgefordert, ein Faß aufzumachen und die Regierungserfolge zu feiern. In einem Schreiben an Ihre Gewerkschaft, der IG Metall, haben Sie sich selber die Silberne Ehrennadel der Rentner wegen Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit der Rentenversicherung verliehen und die Güldene Entlastungsnadel wegen Konsolidierung der Krankenversicherung angeheftet. Heute malen Sie uns wahrscheinlich wiederum ein rosarotes Bild. Ihre Realitätsblindheit, Herr Arbeitsminister, nimmt langsam kanzlerhafte Züge an. ({65}) Aber Eigenlob und Schönfärberei sind bei Ihnen Ersatz für eine solide zukunftsweisende Politik. Wir werden Sie aus Ihrer Verantwortung nicht entlassen. Sie haben als Arbeitsminister keinen Grund zum Feiern. Sie haben sich weder ein Bier verdient noch das Ehrenschild der Rentner, noch die Entlastungsnadel der Krankenversicherung. ({66}) Wenn die bisherige Politik des Arbeitsministers, Herr Kolb, eine Auszeichnung verdient, dann ist es die für die reparaturanfälligste Politik, nämlich die Silberne Zitrone. Vielen Dank. ({67})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Fuchs, bevor ich mich mit Ihrer Rede und Ihren Darlegungen zur Rentenversicherung auseinandersetze, möchte ich gern noch eine Bemerkung und einen ernsthaften Appell im Zusammenhang mit der Ausbildungsproblematik im Namen meiner Fraktion voranstellen. Herr Kollege Schmude, niemand leugnet dieses befristete, aber deswegen nicht weniger bedrükkende Problem. Sie haben hier Prognosen und Zahlen genannt, die, wenn sie einträfen, in der Tat diese Besorgnis noch verstärken müssen. Aber ich möchte schon daran erinnern dürfen, daß ähnliche Prognosen im Vorjahr zu - erfreulicherweise, meine ich - sehr viel weniger dramatischen Ergebnissen geführt haben. Insgesamt zeichnet sich eine erfreulich hohe Zahl von Beschäftigungsverhältnissen für Auszubildende ab. Ich meine, wir sollten gemeinsam hoffen, daß das Ergebnis dieses Jahres genauso positiv sein wird wie im vergangenen Jahr. Es gibt ja in der Tat - Frau Wilms hat das von hier aus gesagt - positive Anzeichen für eine solche Entwicklung. Aber ich habe eine ganz große Bitte an alle Kollegen. Wir alle erhalten in diesen Tagen Protestbriefe, in denen darüber geklagt wird, daß über Bedarf Ausgebildete bei öffentlichen Stellen und privaten Unternehmen nicht eingestellt werden. Ich höre, daß Kollegen Verständnis für solche Proteste haben. Meine Bitte an das ganze Haus ist, die einstellenden öffentlichen und privaten Unternehmer nicht dadurch zu verunsichern, daß man sie, wenn sie über Bedarf ausgebildet haben, hinterher an den Pranger stellt, weil sie die Auszubildenden nicht übernommen haben. Ich möchte Sie über alle Fraktionsgrenzen hinaus sehr ernsthaft bitten, kein Verständnis für solche Proteste aufzubringen. ({0}) Frau Kollegin Fuchs, verständlicherweise hat das Thema Rentenversicherung einen erheblichen Teil dieser Haushaltsdebatte und auch Ihrer Rede in Anspruch genommen. Ich möchte auf Ihre Darlegungen eingehen. Die Rentenversicherung ist eine Säule unserer sozialen Sicherheit. Sie wird durch Beiträge finanziert. Berechnungsgrundlage für diese Beiträge ist nun einmal der Lohn bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Deswegen haben - insofern unterliegen Sie einem großen Irrtum, Frau Kollegin Fuchs; das kam in Ihren Darlegungen zum Ausdruck - die Tarifabschlüsse selbstverständlich und erwartungsgemäß einen ganz erheblichen Einfluß auf die Finanzen der Rentenversicherung. Abgesehen davon, daß der in meinen Augen überflüssige und vermeidbare Streik der Sozialversicherung 200 Millionen bis 300 Millionen DM Mindereinnahmen gebracht hat, muß man feststellen, daß die erwartete Entgeltsteigerung, die in der Tat Grundlage der mittelfristigen Finanzplanung war, nicht eingetreten ist. Die Bundesregierung hat - Sie haben es gesagt - in der mittelfristigen Finanzplanung - auch Sie haben einmal daran mitgeschrieben - für 1985 eine Entgeltsteigerung in Höhe von 4,6 % prognostiziert. Vor Abschluß der Tarifverträge haben viele - auch ich - immer wieder darauf hingewiesen, daß mehr Freizeit und eine ge6028 Cronenberg ({1}) ringere Lohnerhöhung notwendigerweise negative Rückwirkungen auf die finanzielle Situation der Rentenversicherung haben muß. Das ist eine Frage der Logik. Nachdem nun statt mehr Lohn mehr Freizeit vereinbart worden ist, muß die Entgeltsteigerung für 1985 selbstverständlich korrigiert werden. Ich schätze, sie dürfte irgendwo zwischen 3% und 3,5% liegen. Aber 1% weniger Entgeltsteigerung - wer weiß das besser als Sie? - bedeutet natürlich einen großen Beitragsausfall. Deswegen versteht es sich im Grunde genommen von selber, daß wir uns angesichts der schwierigen Liquiditätslage der Rentenversicherung, in der sie sich schon seit Jahren befindet, nunmehr mit dieser veränderten Situation auseinandersetzen müssen. Daß da ein Handlungsbedarf besteht, leugnet niemand. Frau Kollegin Fuchs, wer diesen Fehlbetrag allerdings der Bundesregierung oder dem Bundesminister Norbert Blüm anlasten will, ({2}) der hat - das muß ich jedoch sagen - die Gesamtsituation wirklich nicht begriffen, der analysiert nicht sauber, sondern der phantasiert - wie Sie, Frau Fuchs - unsauber. ({3}) Wir müssen, so meine ich, im Interesse einer sachlichen Diskussion sauber zwischen kurzfristigen Problemen, die sich aus dieser veränderten Entgeltsituation ergeben, langfristigen Strukturproblemen, die Sie angesprochen haben, und der Frage der Hinterbliebenenversorgung, zu der ich sogleich auch einige Bemerkungen machen will, unterscheiden. Im Hinblick auf die langfristige strukturelle Konsolidierung unserer Rentenversicherung - das ist ein Problem, mit dem wir, d. h. der Kollege Ehrenberg, Frau Fuchs, der Kollege Glombig und ich, uns oft auseinandergesetzt haben - ist folgendes festzustellen: Um eine strukturelle Verbesserung in der Rentenversicherung zu erreichen, stehen uns im Grunde genommen nur drei Faktoren zur Verfügung, und zwar die Beitragshöhe, das Rentenniveau und strukturelle Leistungen. Meiner festen Überzeugung nach kann in dieser Diskussion Deiner dieser Faktoren tabu sein. Die Lösung der kurzfristig anstehenden Liquiditätsprobleme, die sich aus dieser verlangsamten Entgelterhöhung ergeben, ({4}) darf, Frau Kollegin Fuchs, keine zusätzliche Belastung des Faktors Arbeit zur Folge haben. Es dürfen die Sozialversicherungsbeiträge meiner festen Überzeugung nach insgesamt nicht steigen; denn sonst machen wir keine gescheite Beschäftigungspolitik. ({5}) Und eigentlich, Frau Kollegin Fuchs, müßte es jedermann im Hause, der die vier Säulen unserer sozialen Sicherheit, nämlich Krankenversicherung, Arbeitslosenvesicherung, Berufsgenossenschaft und Rentenversicherung, als Versicherungssysteme versteht, für selbstverständlich halten, daß ein Mehrbedarf mehr Leistung, mehr Beiträge, Beitragsveränderungen bedeutet und daß Minderausgaben in anderen Systemen selbstverständlich zu Beitragssenkungen führen müssen. Wer aktive Beschäftigungspolitik betreiben will, wer für die Lösung des von Ihnen, Frau Fuchs, hier mit Recht dargestellten Problems der Arbeitslosigkeit sorgen will, muß dafür sorgen, daß der Faktor Arbeit nicht teurer wird, nicht überproportional steigt. ({6}) Wer von dem Grundsatz der Beitragsstabilität in der Sozialversicherung ausgeht, muß in der Tat hier dafür sorgen, daß eine solche Politik unterstützt und nicht bekämpft wird. ({7}) Lassen Sie mich nun noch ein paar klarstellende Bemerkungen zu dem verdammten „Verschiebebahnhof" machen. ({8}) In der Vergangenheit sind gelegentlich Finanzmassen von dem einen Sicherungssystem in ein anderes Sicherungssystem verschoben worden ({9}) - selbstverständlich -, und das Ganze ist undifferenziert als Verschiebebahnhof bezeichnet worden. ({10}) - Herr Kollege Ehrenberg, ich komme darauf, Sie können ganz ruhig sein. Im Gegensatz zu einigen Kollegen der Opposition, die ihre Meinung geändert haben, und im Gegensatz zu einigen Kollegen des Koalitionspartners, die ihre Meinung erfreulicherweise ebenfalls geändert haben, habe ich das Glück, hier in der Kontinuität meiner Argumentation zu stehen. ({11}) Ehrlich gesagt, schon der Begriff „Verschiebebahnhof" ist im Grunde genommen Quatsch, ist Blödsinn. Denn was geschieht auf einem Verschiebebahnhof? ({12}) Nach meinem Verständnis werden da Waggons aufs richtige Gleis gebracht - nicht mehr und nicht weniger, und das ist eine sinnvolle Tätigkeit. Das, was man aber kritisieren sollte - früher hat die CDU das getan, heute tut es die SPD -, sind unsystematische Verschiebungen von Finanzmassen zwischen den einzelnen Sicherungssystemen. Es gibt sozusagen eine wünschenswerte und lobenswerte Kontinuität, und es gibt genau das Gegenteil, eine - jedenfalls für mich - erschreckende Kontinuität, und zu dieser erschreckenden Kontinuität - lassen Cronenberg ({13}) Sie mich das mit allem Freimut sagen - gehört das Verhalten der Opposition. ({14}) Egal, wer gerade die Funktion des Kritikers wahrnimmt, er bemüht sich nicht um objektive Bewertung und Alternativen, sondern macht mehr mies. Viele Kollegen aus der SPD haben die richtigen Erkenntnisse aus der Regierungszeit schneller vergessen, als einige Kollegen aus der CDU/CSU das in der Regierungszeit gelernt haben. ({15}) Der Vorwurf, Finanzmassen würden unzulässigerweise von einem Sicherungssystem auf das andere verschoben, ist dann gerechtfertigt, wenn dies unsystematisch geschieht. Wenn Lohn nach wie vor Bemessungsgrundlage für die Abführung der Beiträge in der Sozialversicherung ist und wenn dies richtigerweise auch für Lohnersatz zutrifft, dann sind alle Maßnahmen richtig und gerechtfertigt, die diesem Grundsatz entsprechen. Also grundsätzlich muß gelten, daß Lohn und Lohnersatzleistung gegenüber dem jeweils anderen Sozialversicherungssystem abgabepflichtig sind. Dabei versteht sich von selbst, daß Rentner keine Beiträge zur Rentenversicherung oder zur Arbeitslosenversicherung zu zahlen haben. Und wenn gegen diesen Grundsatz verstoßen wird, ist Kritik berechtigt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, aber, Herr Kollege, ganz schnell, weil ich nicht mehr viel Zeit habe.

Dr. Herbert Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000445, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Cronenberg, würden Sie nicht zugeben, daß - mit Blick auf die Arbeitslosigkeit - nicht der Lohnersatz Grundlage für die Rentenversicherungsbeiträge sein kann, wenn Sie Beitragsstabilität wollen, sondern daß auch für die Arbeitslosen - genau für die Arbeitenden - volle Beiträge entsprechend ihren Bezügen zu zahlen sind? Nur dann ist die Rentenversicherung konjunkturunabhängig, sonst nicht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Ehrenberg, ich habe von dieser Stelle aus immer gesagt - dabei bleibe ich -, daß der Lohnersatz die Berechnungsgrundlage ist. Sie haben möglicherweise in einem Punkt Ihrer Kritik recht, nämlich daß es falsch ist, die Ansprüche der Arbeitslosen in der Rentenversicherung nach dem fiktiven Lohn zu berechnen, nicht nach dem abgeführten Beitrag für das Arbeitslosengeld. In der derzeitigen Diskussion um die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge ist es aus den dargelegten Gründen nicht mehr als legitim, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, möglicher Überschüsse in einem anderen Sicherungssystem für Beitragssenkungen zur Verfügung zu stellen; denn für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, für das Nettoeinkommen unserer arbeitenden Menschen ist die Gesamtbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge entscheidend. Daß dieser wiederholte Wunsch, Beitragsstabilität zu erreichen, keine Marotte von mir ist, mögen Sie, Frau Fuchs, bitte an folgendem Zitat, das ich Ihnen genüßlich vorführe, erkennen. Jemand hat gesagt: In der Tat bin ich nach wie vor der Meinung, daß ein Teil der strukturellen Schwierigkeiten in unserer Wirtschaft in den letzten Jahren darauf zurückzuführen ist, daß in Teilen unserer Wirtschaft die Arbeitslöhne so hoch gestiegen sind und daß sie nicht mehr mit einer hohen Beschäftigung vereinbar sind. ({0}) Ein wesentlicher Teil dieser Fehlentwicklung hat sicherlich auch darin bestanden, daß innerhalb der Qualifizierung der Arbeitskraft, innerhalb der einzelnen Lohntabellen die Differenzen sehr zusammengerückt sind, so daß minder qualifizierte Arbeitskraft relativ teuer wird, daß minder qualifizierte Arbeitskräfte in höherem Maße arbeitslos werden und durch Maschinen oder andere Rationalisierungsmaßnahmen ersetzt werden. ({1}) Meine Damen und Herren, dieses Zitat stammt von Professor Schiller. Man kann Professor Schiller, der sicher kein Vorkämpfer für eine angebliche soziale Demontage ist, nur Beifall zollen. Verehrte Frau Kollegin Fuchs, wir sehen das Problem der Arbeitslosigkeit in dem Umfang, wie es vorhanden ist, genauso ernst wie Sie. Aber wir sind auch stolz darauf, daß Ihre Prognosen und die der wirtschaftswissenschaftlichen Institute, nach denen wir jetzt 3 Millionen Arbeitslose haben sollten, Gott sei Dank nicht eingetreten sind. ({2}) Ich bin sicher, daß Sie über diese Tatsache, daß es sich bei Ihnen um eine Fehlprognose handelte, ebenso froh sind wie ich, wobei ich verstehen kann, daß Sie das nicht gern der Regierung gutschreiben. ({3}) In der Rentenversicherung - ich möchte noch ein paar Bemerkungen zur Hinterbliebenenversorgung machen - stehen wir noch vor der Lösung dieses Problems. Ich möchte hier in allem Freimut bekennen: Ich habe den Stein der Weisen noch nicht gefunden. ({4}) - Frau Kollegin Fuchs, ich gehe darauf ein. Alle bisher diskutierten Modelle weisen erhebliche Schwächen auf. Wer das Gegenteil behauptet, hat sich nicht ernsthaft mit der Problematik beschäf6030 Cronenberg ({5}) tigt. Die SPD verkündet - ich meine: zur Vermeidung innerparteilicher Schwierigkeiten - schlicht und ergreifend: 70%ige Teilhaberrente ist kostenneutral. ({6}) - Ich gehe darauf ein. Sie fordert darüber hinaus die Erhöhung der Mindestrente. Damit die Behauptung der Kostenneutralität noch stimmt, soll, wie Sie eben wieder ausgeführt haben, die Bundesanstalt für Arbeit lokker und leicht 5 Milliarden DM an den Rentenversicherungsträger überweisen. Daß damit eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung vorprogrammiert wird, wird freundlicherweise verschwiegen. Von stabilen Sozialversicherungsbeiträgen, wie sie auch Professor Schiller verlangt, kann überhaupt keine Rede mehr sein. Wenn das Ganze nicht stimmt, dann soll der Bund das Geld nachliefern, notfalls auf Pump - wie gehabt. ({7}) Mein Respekt, Frau Kollegin Fuchs, vor den Sozialpolitikern der SPD ist viel zu groß, als daß ich unterstelle, sie meinten das alles so ernst, wie sie es hier vorgetragen haben. ({8}) Wie schon dargelegt: Die Anpassung im Oppositionsverhalten an Ihre Vorgänger, Frau Kollegin, ist erstaunlich groß. Die Diskussion um die verschiedenen Modelle in der Hinterbliebenenversorgung ist nicht abgeschlossen. ({9}) Die ernsthaft diskutierten Modelle setzen nach Meinung und Überzeugung der Koalitionsfraktionen die Einführung eines Erziehungsjahrs in der Rentenversicherung voraus. ({10}) Sowohl die Hinterbliebenenrente mit Freibetrag als auch das Teilhabermodell bedienen sich eines gewissen Anrechnungsverfahrens. Was wie und in welcher Höhe angerechnet wird, ist in beiden Modellen umstritten. Für mich wird bei der endgültigen Beurteilung von großer Bedeutung sein, ob und in welchem Umfang kindererziehende und berufstätige Frauen benachteiligt werden oder nicht, ob und in welchem Umfang freiwillige Zusatzversicherungen bei der Anrechnung berücksichtigt werden, ob und in welchem Umfang notwendige Übergangsregelungen getroffen werden können, ob und in welchem Umfang ein praktikabler Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Sicherungssystemem - z. B. Rentenversicherung, Beamte - gefunden werden kann. ({11}) Lassen Sie mich auch einem verbreiteten Mißverständnis entgegentreten bzw. dieses Mißverständnis ausräumen: FDP und, soweit ich weiß, auch Norbert Blüm werden sich nachdrücklich dafür einsetzen, daß die bestehenden Renten im Zusammenhang mit der Hinterbliebenenversorgung nicht geändert werden. Die Verunsicherung von Rentnern in diesem Zusammenhang ist im Grunde genommen hanebüchen. Meine herzliche Bitte an alle Kollegen: Lassen Sie uns gemeinsam, Frau Kollegin Fuchs, bemüht sein, eine sozial vertretbare und systematisch zu verantwortende praktikable Lösung zu finden, ohne dabei Parteiprogramme zum Fetisch zu erheben. Die Gefechtslage, Frau Kollegin - BDA, Bund Deutscher Arbeitgeber, und SPD gemeinsam für Teilhaberrente, CSU und DGB gemeinsam für Anrechnungsmodell -, sollte eine sachliche und offene Diskussion ermöglichen. ({12}) Sie können dazu sicher sehr viel Besseres beitragen, als Ihre Ausführungen von eben das vermuten lassen. - Herzlichen Dank. ({13})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich bei dieser Debatte als jemand, der nicht in der Kontinuität der Wirtschafts- und Sozialpolitik dieses Hauses oder der Regierung steht, ob sie uns inhaltlich weiterbringt. Ich möchte Ihnen einmal, um uns wieder auf den Boden zurückzuführen, einige Zitate vorlesen. Auf der Grundlage dieser Zitate können wir dann vielleicht zu einer gründlicheren Beratung kommen, die das Wesentliche trifft. 1981 sagte anläßlich von Kürzungsmaßnahmen der SPD/FDP-Regierung von dieser Stelle aus Haimo George, sozialpolitischer Sprecher der CDU/ CSU, zur SPD und FDP gewandt: „Sie sind auf dem besten Wege, aus dem fortschrittlichen Arbeitsförderungsgesetz ein Armutsgesetz zu machen." Norbert Blüm warf der SPD vor, sie lasse das Sieb des sozialen Netzes schneller rattern, durch das die Schwachen aussortiert würden. Und an anderer Stelle, anklagend: „Wie breit muß Armut sein, um als verbreitet anerkannt zu werden?" Zu dieser Zeit, 1981, sprachen die Vertreter der SPD in der Regierung folgende Worte: „Die Novellierung war längst überfällig. Es war notwendig, Wildwuchs zu beschneiden, überzogene Ansprüche zurechtzurücken." Es fällt nicht schwer zu sehen, daß die Rollen in der Sozialpolitik und in der Wirtschaftspolitik vertauscht sind. Es ist makaber - das gebe ich den Bürgern draußen zu bedenken -, daß es dieselben Personen sind, die in Opposition und Regierung gegenteilige Verhaltensweisen demonstrieren. Ich denke, daß es an der Zeit ist, die Debatte auf das Wesentliche zurückzuführen, damit wir wenigstens versuchen, weiterzukommen. ({0}) Es gibt nämlich in der ganzen Sache eine Kontinuität - wenn man nicht an die Kontinuität der FDP denkt, die abgesehen von kurzen Abständen immer dabei war, bei der alten Regierung und bei der neuen -: ({1}) In dem Maße, wie seit 1977/78 die Wirtschaftsentwicklung rückläufig und die Wachstums- und Wegwerfgesellschaft in Schwierigkeiten geraten ist, ist der Sozialabbau in dem Bestreben in Gang gesetzt worden, die Wachstumsgesellschaft, die Leistungsgesellschaft zu erhalten. Das ist, glaube ich, noch in den anderen Parteien drin, sowohl in der SPD als auch in denjenigen, die jetzt in der Regierung sind. Ich möchte das auch den Kollegen aus meiner Fraktion sagen, die heute schon von Koalitionen mit der SPD sprechen, obwohl einige dieser wichtigen Fragen noch nicht geklärt sind. Ich bitte das zu bedenken. Verglichen mit der Debatte des letzten Jahres sind wir in der Realität, in den realen Verhältnissen wirklich nicht weitergekommen. Vielmehr möchte ich sagen, daß wir noch mehr runtergekommen sind. Schauen wir uns den Kreis der 2,3 Millionen Arbeitslosen einmal etwas näher an. Ich gehe davon aus, daß die Zahl sich so zusammensetzt, daß ca. 1 Million davon Arbeitslosengeld von der Bundesanstalt für Arbeit erhalten, daß ca. 600 000 Arbeitslosenhilfe erhalten und daß ca. 700 000 unter die Sozialhilfe fallen und von der Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr finanziert werden. Das zeigt, wie mit Mitteln aus dem gesamten Sozialversicherungswesen und - darauf werde ich noch zu sprechen kommen - der Bundesanstalt für Arbeit der Haushalt saniert wird. Finanzminister Stoltenberg stellt sich hier hin und sagt: Seht nur, was wir für eine vernünftige Sparpolitik gemacht haben. - Er vergißt dabei allerdings zu sagen: auf Kosten der Armen und derjenigen, die am meisten betroffen sind. ({2}) Das gilt für alle drei Teile der Sozialpolitik. Das gilt erstens für die Sozialversicherung, zweitens für den Gesundheitsbereich und drittens für den Arbeitsbereich. Über die Renten sagte Herr Blüm: Wir machen die Renten sicher. Er hat den Rentnern große Versprechungen gemacht. Bei einer Bürgerumfrage kam heraus, daß Anfang 1983 noch 49 % der Meinung des Ministers waren, daß inzwischen - im August 1984 - aber 59 % der Bürger der Bundesrepublik die Hoffnung auf sichere Renten, auf Sicherheit in der Rentenfrage aufgegeben haben. Das ist auch kein Wunder. Es wird schließlich schon wieder von neuen Rentenlöchern gesprochen. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt für Angestellte Quartier hat mit Vorwürfen insbesondere an das Arbeitsministerium, an Minister Blüm, davon gesprochen, daß die Rentenversicherung derzeit ohne Liquiditätsreserven sei und von der Hand in den Mund lebe. Wenn man es richtig nimmt, werden also die Mittel, die im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung aufgebracht werden, benutzt, um die Neuverschuldung des Staatshaushaltes herunterzudrücken. Wir kommen in diesem Zusammenhang besonders auf einen Punkt, den wir schon im letzten Jahr in der Haushaltsdebatte angesprochen haben. Ich meine die Frage des Bundeszuschusses. Wir sprechen von einem Rentenbetrug, weil der Bund, weil das Finanzministerium seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, den gesetzlichen Rentenversicherungen die Beträge zu zahlen, die ihnen durch sachfremde Leistungen entstanden sind. Wegen der Auswirkungen von Gesetzen, die hier in diesem Hause beschlossen worden sind, die im Grunde nichts mit der Rentenversicherung zu tun haben, bei denen aber den gesetzlichen Rentenversicherungen die Auflage gemacht wurde, Zahlungen zu leisten, ist der Bund verpflichtet, einen entsprechenden Bundeszuschuß zu zahlen. Aus Diskussionen im letzten Jahr mit den gesetzlichen Rentenversicherungen haben wir festgehalten, daß der Bund den Rentenversicherungen für das vergangene Jahr 19 Milliarden DM schuldet und daß diese 19 Milliarden DM nicht gezahlt worden sind. Wir haben einen Antrag eingebracht, der im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung behandelt wurde. Die Kollegen aus allen Parteien, die dort saßen, haben gesagt: Wir wissen, daß es sich hier um ein ernstes Problem handelt und daß das, was die Grünen hier sagen, nicht aus der Luft gegriffen ist. Getan wurde aber nichts. Unser Antrag wurde abgelehnt. Angesichts dieses Rentenbetruges - als solchen möchte ich ihn noch einmal bezeichnen -, daß hier auf Kosten der Rentner, auf Kosten der Sicherheit ihrer Renten der Staatshaushalt saniert wird, werden wir in diesem Jahr wiederum einen Antrag einbringen, um die Kollegen aus den anderen Parteien zu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen, bis wir in dieser Frage einen Schritt weitergekommen sind, da wir die Hoffnung in diesem Punkt nicht ganz aufgeben wollen. Die Hinterbliebenenversorgung - dazu kann ich nur ganz kurze Worte sagen - ist ein trauriges Kapitel. Man hat acht Jahre Zeit gehabt, diese Frage zu lösen. In den letzten Monaten kommt man nun mit einem Ergebnis heraus. Ich möchte es kurz so bewerten: Der Berg kreißte, geboren ward ein Mäuslein. ({3}) Die eigenständige Sicherung der Frau wird nicht herbeigeführt. Diese Sicherung, die unser Ziel ist, wird nicht im Ansatz erreicht. Die Abhängigkeit der Frau von dem Mann in der Rentenversorgung wird festgeschrieben. Wir werden noch in diesem Herbst ein Rentenmodell vorstellen, das die altersmäßigen Veränderungen der Bevölkerung, die Wirtschaftsentwicklung und auch das solidarische Prinzip berücksichtigt und das die Grundprinzipien einer Grundrente, die jedem Bürger zusteht, einer obligatorischen Zusatzrente und von freiwilligen individuellen Möglichkeiten im Rentenbereich beinhaltet. Zweiter Punkt: Das Gesundheitswesen. Eine beispiellose Kostenexplosion ist im Gange. Von 1970 bis 1984 sind die Kosten von 70 Milliarden DM auf 230 Milliarden DM angestiegen. Im Durchschnitt wächst die Kostenlast im Gesundheitsbereich um rund 10 Milliarden DM jährlich. Die Grundlage dafür sind nach unserer Meinung die Veränderungen, die in den Lebensbedingungen unserer Bürger vorgenommen wurden. Das wird von Ihrer Seite überhaupt nicht akzeptiert, es wird aber notwendig, daß Sie erkennen, daß da etwas zu tun ist. Ich kann das immer nur schnell stichpunktartig machen. Nach Angabe des Gesundheitsministeriums beruhen 85 % aller Todesfälle mittlerweile auf Zivilisationskrankheiten. Das Ministerium rät vom häufigen Verzehr von Leber, Nieren und Pilzen ab. Wir werden informiert, daß in Fleisch Rückstände von Cadmium, Blei, Hormonen, Antibiotika und Nitraten zu finden sind, in Fisch Quecksilber, Arsen, Pestizide, in Gemüse Schwermetalle und Nitrate vorhanden sind. Ich glaube, daß hier der Zusammenhang zwischen der Gesundheitspolitik und der Art und Weise, wie unsere Wirtschaft organisiert ist, nach welchen Prinzipien produziert wird und was die Motive für die Produktion sind, sowie der Zusammenhang zu den sozialen Folgekosten sehr deutlich wird. Es zeigt sich, daß wir darangehen müssen - ob Sie das nun gerne hören oder nicht -, die auf Gewinn und Kapitalvermehrung und auf rücksichtslose Konkurrenz gegeneinander angelegte Wirtschaftsordnung daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie dadurch Schäden in der Gesellschaft und bei den Menschen anrichtet, und daß wir an diesen Punkten anfangen müssen, zu korrigieren. ({4}) Ich möchte nur auf die Pharmaindustrie verweisen. Wir wissen, daß ungeheure Mengen von Medikamenten angeboten, verkauft und konsumiert werden. Ich sage Ihnen: Unsere Pharmaindustrie ist so organisiert, daß um so mehr Gewinne in der Pharmaindustrie gemacht werden, je mehr Tabletten produziert und verkauft werden. Das ist das maßgebliche Motiv, Medikamente herzustellen, Tierversuche zu machen und andere Dinge zu tun. ({5}) Ich denke, daß wir dieses Prinzip angehen und hier zur Debatte stellen müssen. Ich bitte Sie, sich mit solchen Gedanken anzufreunden, obwohl das für Sie sicher schwer ist. Machen Sie mit uns gemeinsam Anstrengungen in dieser Richtung, um die weitere Verschlechterung der Gesundheit der Bevölkerung zurückzudrängen. ({6}) Eine weitere Frage - ich muß das jetzt zusammenfassen, weil ich nur noch eine Minute Redezeit habe - besteht im Arbeitsbereich. Es gibt auf dem Gebiet des Arbeitsbereiches eine ganze Reihe von Initiativen. Herr Blüm wird ja nach mir sprechen. Das Bundesministerium für Arbeit überschlägt sich geradezu, um Arbeitsplätze in dieser alten Struktur zu schaffen. Ich sage nur „Pharmaindustrie", um diese alte Struktur zu bezeichnen. Es wird nicht daran gedacht, Überlegungen in eine Richtung anzustellen, wie man nicht durch einen Kapitalanreiz zur Forcierung der alten Wachstums- und Wegwerfgesellschaft Arbeitsplätze schafft, sondern wie man durch die Stärkung des Faktors Arbeit, durch die Beseitigung von Arbeitslosigkeit in einer neuen Richtung zu Arbeitsplätzen kommen will. Ich will Ihnen, Herr Blüm, eine Zahl dazu sagen, wenn Sie die Arbeitslosigkeit beseitigen wollen. Wir haben über 2 Millionen Arbeitslose. Ein Arbeitsplatz kostet bei seiner Schaffung mittlerweile 400 000 DM. ({7}) Wenn Sie das erreichen wollen, brauchen Sie, um die 2 Millionen Arbeitslosen wegzubringen, um für die Arbeitslosen Arbeitsplätze zu schaffen, insgesamt 800 Milliarden DM. Und das wird nicht gehen. ({8}) Es geht nicht darum, Anreize für das Kapital zu schaffen, billige Arbeitsplätze zu schaffen, bei denen die Rechte der Arbeiter und Angestellten mit Füßen getreten werden, wie Sie das mit Ihrem Beschäftigungsförderungsgesetz machen, dessen wesentliche Bestandteile darin bestehen a) eine Verschlechterung des Sozialplanes vorzusehen, b) die Kündigungsschutzfristen der Arbeitnehmer zu verschlechtern und c) die Erweiterung des modernen Sklavenhandels durch Arbeitnehmerüberlassung noch auszudehnen. Die Zukunft unserer Arbeitsplätze - und das sage ich besonders auch den Gewerkschaften und meinen Kollegen in den Betrieben - besteht nicht darin, auf Arbeitsplätze in der Wachstumsindustrie, in der Wegwerfgesellschaft zu setzen, sondern besteht darin - wie mein Kollege Hans Verheyen in seinem ersten Beitrag zur Haushaltsdebatte gesagt hat -, daß wir anfangen, unsere Wirtschaft umzuorientieren, aus der schadstoffproduzierenden Chemieindustrie eine sanfte Chemieindustrie zu machen, aus der schadstoffproduzierenden Energieerzeugung - Buschhaus - eine dezentrale, umweltschonende und rohstoffschonende Energieerzeugung zu machen. Das ist genau der Weg, den wir weiter gehen wollen. Meine Zeit erlaubt es mir nicht, dies weiter auszufühen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({9})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Her' ren! Ich bedanke mich sehr für diese DiskussionsBundesminister Dr. Blüm runde, auch für die friedlichen Beiträge der Opposition. Ich weiß nicht, warum Sie mich heute zum zweitenmal hier als Indianer vorführen. Was haben Sie eigentlich gegen Rothäute, Frau Fuchs? ({0}) Aber wenn wir unsere Meinungsverschiedenheiten schon in der Welt von Karl May und Märchen austragen, so hat mich Ihre Rede eher an Dornröschen erinnert: kurz vor einem hundertjährigen sozialpolitischen Schlaf, wartend auf einen Prinzen, der es weckt. ({1}) - Nein. Soweit ich weiß, sucht die SPD den Prinzen aus dem grünen Wald. ({2}) Ich will meine Rede mit der Wiederholung einer Selbstverständlichkeit beginnen. Aber Wahrheiten kann man j a nicht oft genug wiederholen. ({3}) Politik für die Preisstabilität: das ist die wichtigste soziale Politik, die eine Regierung machen kann. ({4}) Senkung der Preissteigerungsrate ist Einkommensverbesserung ohne Lohnerhöhung. ({5}) - Sie sollten die Rentner fragen, ob es für sie eine Platitüde ist, daß 1981, zur Zeit der SPD-geführten Regierung, die Renten um 4 %, die Preise aber im gleichen Jahr um 5,9 % stiegen. ({6}) Das ist keine Platitüde. Das war Kaufkraftverlust trotz hoher Rentensteigerung.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Sperling?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Blüm, stimmen Sie mir zu, daß einer Rentnerin, die jetzt Krankenversicherungsbeiträge zu zahlen hat und deren Miete unter den gesenkten Wohngeldgrenzen liegt, auch eine sinkende Preissteigerungsrate nicht hilft, weil ihr Realeinkommen auf Grund der sozialen Maßnahmen der von Ihnen mit gebildeten Bundesregierung sinkt?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Kollege, ich kann Ihnen dies nicht bestätigen, weil die Zahlen eine andere Sprache sprechen. In diesem Jahr werden die Renten durchschnittlich um 2,8% steigen. Sie müssen die 4,6% des ersten halben Jahres mit den 1,3% des zweiten halben Jahres zusammenzählen. Das sind einfache Gesetze. Das ist noch nicht mal Mengenlehre. Das ist im zweiten Schuljahr zu lernen. Bei Teilung durch 2 entsteht der Durchschnitt. Dann haben wir 2,8. Und 2,8 liegt 1,1 Prozentpunkte über der Preissteigerungsrate. Das ist der wesentliche Unterschied zu Ihrer Zeit. ({0}) Aber wenn Sie schon danach fragen, will ich Ihnen das auch für die Löhne vorführen. 1982 - das war Ihr Abschiedsjahr - lag die Lohnsteigerung bei 4,2 % und die Preissteigerung 5,3%. 1.984, nach zwei Jahren unserer Regierungszeit: Lohnsteigerung 3,4 bis 3,5%, Preissteigerung 1,7%. Jetzt frage ich Sie, jetzt frage ich die Arbeitnehmer, jetzt frage ich die Rentner: Wo fahren die kleinen Leute besser? Ich sage: Sie fahren am besten bei stabilen Preisen. Und dafür haben wir die Voraussetzungen geschaffen. ({1}) Wenn Sie mich schon nach Zahlen fragen: Die Löhne lagen in ihrer Entwicklung 1982, in Ihrem letzten Jahr, um 5 Milliarden hinter der Inflation. Heute liegen sie 4 Milliarden darüber. Für die Schulden behaupte ich das gleiche. Schulden abbauen ist ein sozialer Dienst. Wer bezahlt denn die Zinsen? Ich habe es hier schon mehrmals gesagt. Die Zinsen werden aus den Steuergeldern auch der Arbeitnehmer bezahlt. Wer erhält die Zinsen? Die, die dem Staat Geld leihen konnten. Das sind nicht die Rentner, das sind nicht die Sozialhilfeempfänger, das sind nicht die kinderreichen Familien. Das sind die Bessergestellten. Ihre Schuldenpolitik war eine geräuschlose Umverteilung von unten nach oben. Und damit machen wir jetzt Schluß. ({2}) 28 Milliarden DM, meine Damen und Herren - man muß es ganz langsam aussprechen, um sich die vielen Nullen vorzustellen -, ({3}) zahlen wir in diesem Haushalt nur für Zinsen. Was könnte ein Sozialminister mit 28 Milliarden DM anfangen, wenn er nicht die Erblast der SPD abzutragen hätte! Und Sie fragen mich, wie lange wir noch von Erblast reden. So lange bis Ihre Schulden abgebaut sind. ({4}) Wir könnten, um es in Zahlen auszudrücken, die Renten mit diesem Geld um 20 % steigern, wir könnten ein Mutterschaftsgeld von 1 000 DM pro Monat vier Jahre lang zahlen, müßten wir nicht die Erblast der SPD abtragen. ({5}) Sie haben bestellt, und wir bezahlen - das ist die alte Zechprellermethode. ({6}) Als wir die Regierung antraten, hatte die Bundesanstalt für Arbeit 13 Milliarden DM Defizit. Das ist so viel, wie der ganze Kriegsopferhaushalt aus6034 macht. Jetzt, im September 1984, streiten wir uns über einen möglichen Überschuß bei der Bundesanstalt für Arbeit. Wenn man das vor zwei Jahren angekündigt hätte, man wäre der Hochstapelei verdächtigt worden. Nach zwei Jahren streiten wir über einen möglichen Überschuß, nachdem es zwei Jahre vorher ein Defizit von 13 Milliarden DM in der Bundesanstalt gab. ({7}) Sie haben das Haus ramponiert, wir haben es renoviert, und jetzt sagen Sie, die Vorhänge würden nicht richtig hängen. ({8})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hoss?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte schön, Herr Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ist Ihnen klar, daß die Überschüsse, von denen Sie sprechen, deshalb zustande kommen, weil viele Arbeitslose als Langzeitarbeitslose aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen, von der Bundesanstalt nicht mehr finanziert werden, daß Sie dadurch Gewinne machen, was aber nicht daran liegt, daß Sie die Arbeitslosenzahl runtergedrückt hätten, die heute höher ist als zu Beginn Ihrer Regierung? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Kollege, ich werde in meiner Rede auf diesen Tatbestand noch zurückkommen. Ich finde, das große Problem sind die Langzeitarbeitslosen. Aber nicht jeder, der aus der Arbeitslosenhilfe herausfällt, fällt in die Armut. Wir haben hier ein Anrechnungssystem, in dem Familieneinkommen und Vermögen berücksichtigt werden. Da herauszufallen, heißt nicht in jedem Fall, in die Armut zu fallen. Im übrigen will ich auch im Respekt vor Ihrer Leistung folgendes sagen: Wir haben einen Sozialstaat aufgebaut, auch mit Gewerkschaften und Sozialdemokraten, der verhindert, daß in unserem Staat Massenelend entsteht. Stellen Sie die Landschaft nicht so dar, als seien die Arbeitslosen in einem Massenelend! Wer das so bezeichnet, der handelt zynisch gegenüber den wirklich Elenden auf dieser Welt, die Hunger leiden. ({0}) Gott sei Dank passiert das in unserem Staat nicht mehr. Meine Damen und Herren, auch noch ein anderer Punkt. Wir haben eine Politik betrieben, die die Zinssenkung um 3,7 % möglich machte. Das ist ein Nachschub für Investitionen, da die Kreditfinanzierung billiger wird, von 30 Milliarden DM. 30 Milliarden DM werden ganz lautlos in die Wirtschaft gepumpt. Und Sie gackern und gackern über Ihre Ergänzungsabgabe, die noch nicht einmal ein Fünftel von dem bringt, was wir in der Wirtschaft durch Zinssenkung erreicht haben. ({1}) Das ist überhaupt ein Unterschied, der auch ein gewisser Wettbewerbsnachteil für uns ist: Sie verkünden lauthals, was Sie nie zustande gebracht haben, wir handeln stillschweigend, und niemand redet darüber. Deshalb will ich heute darüber reden. Denn es darf sich nicht der politische Brauch einstellen, daß das Reden schon Handeln sei. Im Reden waren Sie 13 Jahre lang Weltmeister. ({2}) Ich glaube, die große Sorge um die Arbeitslosen verbindet uns. Bei über 2 Millionen Arbeitslosen kann hier niemand unbesorgt über die Sozialpolitik reden. Aber ich will auch da wieder die Proportionen herstellen, damit uns die Schuldzuweisung nicht von der Frage wegführt, wie wir den Arbeitslosen helfen. Es geht nicht nur darum, wer schuld hat, sondern es geht zu guter Letzt darum, wie wir den Arbeitslosen helfen. Wenn sie das so darstellen, als sei die neue Regierung an der Höhe der Arbeitslosigkeit schuld, sage ich Ihnen: 1969, als Sie hier angetreten sind, gab es 108 000 Arbeitslose, als Sie sich verabschiedet haben, gab es 1 900 000, fast 2 Millionen, Arbeitslose. In den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit hat sich die Zahl der Arbeitslosen verdoppelt. Daß eine Wende hier nur in einer großen Kurve vorstellbar ist, hat Ihr eigener Fraktionsvorsitzender und damaliger Kanzlerkandidat im Wahlkampf selber dargestellt. Auf die Frage, wieviel Zeit er denn benötige, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, sagte Herr Vogel - ich zitiere -: Wenn Sie mich fragen, welchen Zeitraum ich brauche, um diesen Prozeß der weiter ansteigenden Arbeitslosigkeit zu bremsen und dann umzukehren, dann antworte ich, daß dies eine Aufgabe für eine volle Regierungsperiode ist. Das, was Ihr eigener Kanzlerkandidat im Wahlkampf gesagt hat, müssen Sie auch uns schon zubilligen. Wir werden unsere ganze Kraft dafür einsetzen. Ich sehe auch, ohne schon Entwarnung geben zu können, Lichtstreifen: Die Zahl der offenen Stellen hat um 13,1 % zugenommen. Arbeitsvermittlung: plus 12,5 %. Kurzarbeit: um 44 % zurückgegangen; im August 14,1 % weniger Betriebe in der Kurzarbeit. Die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen liegt erstmals unter der Durchschnittsarbeitslosigkeit. Das alles sind keine Angaben, die zum Jubel Anlaß geben, aber sie wirken dem Fatalismus, wir kämen nicht vorwärts, entgegen. Freilich ist es ein schwieriger Weg, ein Weg auch der Anstrengung. Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, wir würden nichts tun? Als ich mein Amt übernommen habe, gab es 29 200 ABM-Arbeitsplätze, Arbeitsplätze durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Im August dieses Jahres gibt es nicht 29 200, sondern 81 900. Das ist eine Steigerung von 285 %. ({3}) Wie kommen eigentlich Sie, die ein Drittel von dem gemacht haben, was wir gemacht haben, dazu, uns vorzuwerfen, wir würden nichts tun? Das kommt mir so vor wie einer, der mit Mühe und Not über den Vorgartenzaun klettert und dann sagt: die Ulrike Meyfarth ist nicht hoch genug gesprungen. So ähnlich ist das! ({4}) Zur beruflichen Bildung: Wir haben in der Jahresmitte 214 000 Mitbürger in der beruflichen Bildung, Umschulung und Fortbildung. Das sind 9,3 % mehr als im letzten Jahr der SPD-geführten Regierung. Die Mittel für berufliche Bildung, Fortbildung und Umschulung - Sie sprechen j a dauernd von Kürzungen - sind gegenüber dem Jahre 1982 um 20 % erhöht worden. 20 % Mehrausgaben! Wir haben die Kurzarbeiterregelung für die Stahlarbeiter auf drei Jahre verlängert. Wir haben durch 36 Anpassungsschichten verhindert, daß im Bergbau trotz großer Strukturveränderungen - Umstellungen, Zechenstillegungen - Entlassungen nötig wurden. Meine Damen und Herren, der Vorruhestand ist der größte tarifpolitische Renner dieser Saison. Jetzt schon, vier Monate nachdem wir das Gesetz in diesem Hause verabschiedet haben, sind 240 000 ältere Arbeitnehmer, Arbeitnehmer über 58 Jahre, berechtigt, den Vorruhestand mit Hilfe eines Tarifvertrages in Anspruch zu nehmen. So schnell haben die Tarifpartner noch nie ein gesetzliches Angebot verwirklicht. Jetzt will ich, um ein Beispiel für die Prognosefähigkeit der Opposition zu geben, hier doch noch einmal den Gesetzgebungsgang zu Ihrer Erinnerung Revue passieren lassen. 28. 12. 1983: Anke Fuchs bezeichnet die Vorruhestandsregelung hier im Hause als eine Mißgeburt. 20. 1. 1984: Der Kollege Dreßler bezeichnet sie als eine Mißgeburt. Sehr variantenreich und geschmackvoll ist das sowieso nicht. ({5}) Egon Lutz ({6}) - wie immer in der vollen Kraft seiner Vorausschau - sagt am 20. 1. 1984: Das Blümsche Modellchen wird nur dann Wirklichkeit, wenn diese unsere Republik einem kollektiven Schwachsinn an-heimfällt. Er fährt fort: Keine Gewerkschaft kann den schlitzohrigen Versuch, die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit gegen eine so vage Vorruhestandsregelung einzutauschen, nachvollziehen. Der Kollege Heyenn hat am 20.3. die Vorruhestandsregelung als tot bezeichnet. So schnell ist noch kein Toter lebendig geworden wie diese unsere Vorruhestandsregelung. ({7}) Ich muß so angesehene Gewerkschaften wie IG Bergbau, IG Textil und Bekleidung, Gewerkschaft Nahrung, Genuß und Gaststätten, Deutsche Angestelltengewerkschaft, IG Bau in Schutz nehmen, Kollege Lutz, gegen den Verdacht, sei seien schwachsinnig. Sie sind vernünftig, denn sie haben gehandelt. ({8}) Selbst die IG Metall, die einst die Vorruhestandsregelung als „politische Gesinnungslumperei" bezeichnet hat, ist in den Schlichtungsverhandlungen in den Hafen der Vorruhestandsregelung eingelaufen. Unsere Vorruhestandsregelung war ein tarifpolitischer Volltreffer. Wenn ich diese Ihre Aussagen mit dem Ergebnis vergleiche, da kann ich nur sagen: Die Treffsicherheit sozialdemokratischer Prognosen entspricht der Zielgenauigkeit einer Schrotflinte, die unter die Dampfwalze geraten ist. ({9})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lutz?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, es ist ja sehr erheiternd, wie Sie uns hier vorzuführen trachten. Sie sind aber sicher fair genug, dem Hause mitzuteilen, daß die erste Vorruhestandsregelung von der SPD-Bundestagsfraktion hier eingebracht wurde. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Lutz, soll ich Sie daran erinnern, daß Sie 13 Jahre regiert haben und in diesen 13 Jahren noch nicht den Ansatz einer Vorruhestandsregelung vorgelegt haben? Sie haben sie erst vorgelegt, als Sie dafür keine Mehrheit mehr hatten, offenbar als garantiert war, daß sie nicht durchsetzbar ist. ({0}) - Herr Kollege Heyenn, lassen Sie mich fortfahren. Ich will auch die Rückkehrförderung darstellen. Der Kollege Dreßler - ich habe ihn gerade gesehen - hat sie am 10. November 1983 als „unbrauchbar" bezeichnet, und das Protokoll verzeichnet den sozialdemokratischen Zuruf: „Mist ist das!" Inzwischen haben wir 14 000 Anträge auf Rückkehrförderung und an Stelle der von uns geschätzten 55 000 Anträge auf Auszahlung der Rentenversicherungsbeiträge nicht 55 000, sondern 140 000. Unsere eigenen Erwartungen wurden übertroffen. Ich finde, daß die Rückkehrförderung eine humanitäre Geste mit der Entlastung unseres Arbeitsmarktes verbindet. Wir haben unseren ausländischen Mitbürgern den Weg in die Heimat erleichtert. Wir legen ein Bündel von beschäftigungspolitischen Maßnahmen vor, ein ganzes Bündel: Beschäftigungsförderungsgesetz, eine neue Arbeitszeitordnung, Jugendarbeitsschutznovelle, Schwerbehin6036 dertennovelle. Es wird bei Gelegenheit der Beratung dieser Gesetze ausführlich darüber gesprochen werden können. Lassen Sie mich den Hauptnenner nennen, der diesen Gesetzen, den vielfachen Initiativen zugrunde liegt. Ich glaube, wir dürfen soziale Politik, die diesen Namen verdient, nicht nur für diejenigen machen, die drin im Erwerbsleben sind. Soziale Politik, die diesen Namen verdient, muß sich um die Außenstehenden kümmern, um die Ausgeschlossenen, und das sind die Arbeitslosen. Das ist der erste Adressat unserer sozialen Hilfe. ({1}) Denn es könnte j a sein - in diese Skepsis sollten wir uns schon bringen -, daß die, die drinnen sind, sich häuslich einrichten in der Erwerbsgesellschaft, daß eine neue Klassengesellschaft entsteht und daß die Früchte des konjunkturellen Aufschwungs in der Festung Erwerbsgesellschaft verteilt werden. Es geht darum, Zugbrücken herunterzulassen, Zugang den Arbeitslosen zu schaffen. Das ist das Motiv für unsere Beschäftigungspolitik. Wenn gesprochen wird von einer Politik des „Heuerns und Feuerns": Von Feuern kann keine Rede sein. Eine Politik, die das Heuern leichter möglich macht, das ist der Sinn dieser unserer Arbeit. Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund in seiner Presseerklärung behauptet, mit unserem Beschäftigungsförderungsgesetz, mit den befristeten Arbeitsverträgen würde den Arbeitslosen der Kündigungsschutz genommen, so kann ich das nur als eine Freudsche Fehlleistung betrachten. Arbeitslose haben keinen Kündigungsschutz, die haben nämlich gar keine Arbeit. Das ist eher der Offenbarungseid, daß alles durch die Brille derjenigen gesehen wird, die Arbeit haben, und das ist eine Brille der Privilegierten. Laßt uns auch neue Perspektiven in die Sozialpolitik einbringen. ({2}) Befristete Arbeitsverträge, weil es darum geht, jene Verspätung nicht eintreten zu lassen zwischen konjunkturellem Aufschwung und Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt, weil es zu verhindern gilt, daß Überstunden an die Stelle von Einstellungen treten. Es wird Sie sehr überraschen, daß die sozialistische Regierung Spaniens, die Sie ja sicherlich nicht mit den gleichen Attacken belegen wollen ({3}) - ich bin jetzt bei Spanien; die Auswahl ist groß -, jetzt in einem neuen arbeitsrechtlichen Gesetz befristete Arbeitsverträge bis zu drei Jahren bei Neugründungen zuläßt, offenbar aus der gleichen Einsicht wie bei uns. Sie sehen, nicht alle Sozialisten sind ohne sozialpolitische Vernunft. ({4}) Teilzeitarbeit. Ich habe jene Arroganz nie verstanden, die den Bürgern vorschreiben will, mit wieviel Stunden Arbeitszeit sie zufrieden sein mögen. Da gibt es 238 000 Arbeitslose, die gar keinen Vollerwerbsplatz wollen. Wieso maßen Sie sich an, denen zu sagen: Keine Teilzeitarbeitsplätze sollen für euch geschaffen werden; ihr müßt in die Vollerwerbsarbeit? Es gibt über 2 Millionen Erwerbstätige, von denen wir wissen, daß sie mit weniger Arbeitszeit zufrieden wären. Wie borniert, wie einfallslos ist diese Gesellschaft, daß sie die Wünsche von Arbeitnehmern nicht miteinander verbinden kann? Die einen wollen täglich vier Stunden arbeiten und werden auf null gehalten, die anderen müssen acht Stunden arbeiten, obwohl auch sie mit vier zufrieden wären. Laßt uns doch eine Politik machen, die nicht aus den ideologischen Lehrbüchern ihre Rezepte nimmt, sondern aus den Lebensgewohnheiten, aus den Erfahrungen der Bürger. ({5}) Mutterschutz. Meine Damen und Herren, wir wollen, daß die Kosten des Mutterschutzes nicht dem einzelnen Betrieb aufgelastet werden, sondern daß die Ausgleichskasse bei den Krankenkassen auch die Kosten des Mutterschutzes übernehmen kann. Wir wollen die Kosten vom einzelnen Betrieb abkoppeln. Das ist eine Politik, die die Vermittlungschancen der jungen Frauen erhöht. Das ist eine Politik für die Frauen und nicht gegen die Frauen. ({6}) Wir wollen bei der Bundesanstalt für Arbeit das Monopol nicht auflösen - es soll jetzt nicht die große Geschäftemacherei bei der Arbeitsvermittlung beginnen -, aber sie muß mit den Gutwilligen kooperieren, vom hohen Roß herunter und sich mehr unter die Leute mischen. Das ist, glaube ich, das Gebot der Stunde. ({7}) Es ist widersinnig, daß in einer Zeit, in der wir geradezu Suchtrupps anstellen müssen, jeden Lehrplatz zu finden, diejenigen, die helfen wollen, mit Bußgeldern bedroht werden, ({8}) statt daß sie ausgezeichnet werden. ({9}) Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für die Arbeitszeitordnung. Sie stammt aus einer Welt, die nicht die unsrige ist. Keiner von uns hier in diesem Hause wird sich jenem Geist verpflichtet fühlen, der 1938 ein obrigkeitsstaatliches Gesetz geschaffen hat, das gar keinen Platz hatte für Gewerkschaften und Arbeitgeber. Die gab es nämlich damals nicht. Da gab es den Reichstreuhänder der Arbeit. Ich bin nicht dessen Nachfolger. Da gab es die Gefolgschaft. Die Arbeitnehmer sind nicht Gefolgschaft. Wir wollen ein neues modernes Arbeitszeitgesetz, das auch den Tarifpartnern neue Möglichkeiten gibt, auch neue Lasten der Verantwortung. Es ist bequemer, sich alles vom Gesetzgeber regeln zu lassen. Wir wollen in diesem Arbeitszeitgesetz auch Frauenarbeitsrechte daraufhin überprüfen, ob sie nicht Sperrechte sind. Ich habe nie verstanden, wieso es unterschiedliche Pausenregelungen für weibliche und männliche Beschäftigte geben soll. Ich habe noch nie entdeckt, wie an einem FließBundesminister Dr. Blüm band die Frauen eine halbe Stunde früher Pause machen als die Männer. Das ist eine Regelung, die fern aller Praktikabilität ist. Wir wollen auch überprüfen, ob das, was als Männerberuf ausgegeben wird, wirklich ein Männerberuf von Natur ist oder vielleicht nur aus altem patriarchalischem Vorurteil. Manches, was als Männerberuf verteidigt wird, kann genausogut von Frauen bewerkstelligt werden. Ich würde keiner Frau den Beruf des Bergmanns wünschen. Aber warum nicht Schlosser, warum nicht auch auf dem Bau, wenn sie will? ({10}) - Warum nicht Kamerafrau? Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz werden wir ohne viel Aufwand 7 Gesetze und 22 Verordnungen außer Kraft setzen. Die alte Arbeitszeitordnung hat nämlich nur mit tausend Ausnahmen funktioniert. Wenn wir so weitergemacht hätten, wäre das Buch der Ausnahmen dicker geworden als die Gesetzessammlung. Wir wollen den Jugendarbeitsschutz neu regeln. Kann mir jemand erklären, wieso aus Gesundheitsschutzgründen der 16jährige Lehrling anders behandelt werden soll als der 16jährige Arbeitnehmer? Der eine darf um sechs Uhr anfangen, der andere erst um sieben. Gibt es jemanden, der mir erklären kann, welcher gesundheitspolitische Unterschied darin besteht, daß der eine Lehrling ist und der andere Arbeitnehmer? Solche Verrücktheiten werden wir beseitigen. Schwerbehindertennovelle, eine Politik für die Behinderten. Wenn der Behindertenbegriff immer mehr ausufert, werden die tatsächlich Behinderten nur neue Konkurrenten um die Arbeitsplätze bekommen. Das kann nicht der Sinn unserer Behindertenpolitik sein. ({11}) Die Jungsozialisten haben diese Gesetzgebung - Herr Präsident, Sie mögen mir verzeihen, ich zitiere im Originalton - eine „politische Sauerei" genannt. Jeder drückt sich so aus, wie es seinem politischen Niveau entspricht. Andere Sozialdemokraten haben schon früh erkannt, daß Änderungen notwendig sind. Herr Posser, der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, hat vor dem Bundesrat erklärt: Wir wissen alle, daß Einschränkungen unvermeidlich sind. Seit Jahren sage ich, daß im Bereich der Schwerbehinderten einiges korrigiert werden muß. - Deshalb seien Sie vorsichtig mit einfacher Schuldzuweisung! Sie müssen nämlich dann auch vertreten, warum in Nordrhein-Westfalen die Förderung für Behinderteneinrichtungen um 52,5% zurückgenommen wurde. ({12}) - Um 52,5%, von 32 auf 15 Millionen DM. - Sie müßten vertreten, warum die Rehabilitationseinrichtungen für Obdachlose gestrichen wurden. Stellen Sie die Welt nicht so einfach dar, als wären Sie die großen sozialpolitischen Beglücker und diese Regierung nichts anderes als herzlose Einsammler. So ist die Welt nicht. Wir befinden uns in einer Welt, in der wir mit knappen Mitteln haushalten müssen. ({13}) Ich zitiere aus einer Rede eines von mir sehr geschätzten Kollegen, der fragt: Sind heute Rentenbezieher noch die Unterprivilegierten unserer Gesellschaft, die, weitgehend befreit von Sozialabgaben und direkten Steuern, oft genug neben ihrer bruttoangepaßten Rente weitere Einkünfte kulminieren können? Wie groß müßte eigentlich der Anreiz sein, damit es attraktiv bleibt, sich auch unter schwierigen Bedingungen um Arbeit zu bemühen und dann motiviert zu werden, die besten Arbeitsergebnisse zu erzielen. Dieses Zitat stammt aus der Abschiedsrede des ehemaligen Finanzministers Hans Matthöfer. Ich sagte schon, ich stehe nicht hier, um das Los der Arbeitslosen in irgendeiner Weise zu verniedlichen. Ich warne jedoch auch vor Katastrophenmeldungen. Es hat sich zwar die Quote zwischen Arbeitslosengeldbeziehern und Arbeitslosenhilfebeziehern verschoben; das ist das Ergebnis von Langzeitarbeitslosigkeit. Die Gesamtquote ist jedoch so gut wie unverändert: 1978 67,8 %, 1984 67,5 %. Meine Damen und Herren, Gegenstand dieser Debatte war auch die Rentenpolitik. Dazu möchte ich an den Anfang meiner Ausführungen den Appell an unsere älteren Mitbürger richten: Laßt euch nicht in Angst treiben. Sie können ganz sicher sein - daran kann niemand interessiert sein; wer da sein parteipolitisches Süppchen kochen wollte, würde sich die Finger verbrennen -, liebe ältere Mitbürger, Monat für Monat, pünktlich zum Zahltermin wird Ihre Rente gezahlt. Dafür garantiert der Bund auch mit seiner Bundesgarantie. ({14}) Es ist wahrscheinlich, daß die Rente langsamer steigt, nicht mehr so schnell, wie in der Vergangenheit, aber sie bleibt zuverlässig. Vergessen Sie nicht: Das Nettorentenniveau war nie so hoch wie in diesem Jahr; nur einmal ganz kurzfristig 1977 war es um ein paar Zehntel höher. Nie gab es ein höheres Nettorentenniveau als im Jahre 1984. Das Nettorentenniveau betrug 65,2 %. Von einem Bankrott der Rentenpolitik zu sprechen und ähnlichen großen Geschossen würde ich warnen. Wir stürzen die älteren Mitbürger nur in eine Unsicherheit, die nicht gerechtfertigt ist und die wir ihnen auch auf Grund eines Lebens, in dem sie viel mitgemacht haben, nun wirklich nicht zumuten können. Wir sind nicht über den Berg, Frau Kollegin Fuchs. Ich stehe hier nicht wie mancher meiner Vorgänger und Ihr verehrter ehemaliger Bundeskanzler, der sagt, es gebe nur Problemchen. Nein, es gibt Probleme, natürlich. Aber hätten wir nur auf dem Stand weitergearbeitet, den uns die SPD hinterlassen hat, hätten wir 1984 am Ende des Jahres eine Rücklage von nicht 1,1 Monatsausgaben, son6038 dern von 0,4. Die Rentenversicherung wäre zusammengebrochen. Wie kommen Sie eigentlich dazu, uns Vorwürfe zu machen, wenn das, was Sie uns hinterlassen haben, ein rentenpolitischer Trümmerhaufen war? ({15}) Wir hätten 0,4 Monatsausgaben als Rücklage gehabt. ({16}) Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ({17}) hat ausgerechnet: Hätten wir nichts weiter gemacht, als das fortzuführen, was wir von Ihnen übernommen haben, hätten wir 1986 bei der BfA 7 Milliarden DM Defizit, minus 0,7 Monatsausgaben. Ich sage noch einmal: Es gibt Probleme. Nur, meine Damen und Herren: Wir haben der Rentenversicherung durch Leistungsminderung und Einnahmeverbesserung 89 Milliarden DM mehr beschafft. Zieht man selbst jene Maßnahme ab, die Sie kritisiert haben, nämlich die Veränderung der Bemessungsgrundlage, dann sind es immer noch über 60 Milliarden DM mehr. Hätte die Rentenversicherung diese 60 Milliarden DM nicht, dann wäre sie zahlungsunfähig. Wir haben doch nicht gespart, weil Sparen ein Selbstzweck ist, sondern wir sparen, um die Renten sicherer zu machen. Meine Damen und Herren, das von Ihnen vorgelegte Rentenkonzept würde nach unseren Berechnungen Mehrausgaben in Höhe von 10 Milliarden bis 12 Milliarden DM verursachen. Das macht die Rente auf gar keinen Fall sicherer. Wissen Sie, Ihre rentenpolitische Buchführung erinnert mich immer an das Schulmeisterlein Wuz von Jean Paul; dessen Haushaltsführung war immer ausgeglichen, weil er nur die Ausgaben gezählt hat. Ich habe Ihre Politik nie verstanden: Die Einnahmen wollen Sie nicht erhöhen, und Ausgaben wollen Sie nicht zurücknehmen. Ja, was wollen Sie denn, kann ich da nur sagen. Zaubern kann man auf dieser Welt - jedenfalls in der Politik - nicht. Die von uns ergriffenen Maßnahmen sind Bausteine für eine Strukturreform. Wir haben die Renten aktualisiert. Hätten wir das nicht getan, dann hätten sich Löhne und Renten auseinanderentwikkelt. Wir haben Erwerbs- und Berufsunfähigkeit so geregelt, daß dies nicht der bequeme Seiteneinstieg für diejenigen ist, die gar nicht erwerbstätig sind. Damit haben wir die Rentenversicherung ihrer eigentlichen Zweckbestimmung zugeführt. Ich gestehe jedoch, daß sich ein Teil des Spareffekts erst in der Zukunft entfaltet, weil wir ja an keiner Stelle in den Besitzstand eingegriffen haben. Frau Fuchs, lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen erhobenen Kritik an der Veränderung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung sagen. Bis 1978 gab es null Beiträge von der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung. Dann haben Sie die Beiträge von 100 % des letzten Bruttolohns berechnet. In Ihren letzten Atemzügen in der Regierung haben Sie selber vorgeschlagen, wieder auf 70 % zurückzugehen, und zwar auch hinsichtlich der Bewertung dieser Zeiten bei der Rentenleistung. So vollmundig wie Sie würde ich hier nicht erklären, die Beiträge an die Rentenversicherung müßten völlig unabhängig sein. Sie haben sie mindestens um 30 % wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt. Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung dazu machen: Ich glaube, es gehört zur Ehrlichkeit, festzustellen: Es gibt überhaupt keine Sozialversicherung - sie kann heißen, wie sie will: Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung -, die vom Arbeitsmarkt abgekoppelt ist. Es ist nichts anderes als eine Lebenslüge zu behaupten, es gebe eine Sozialversicherung, die sozusagen auf der Insel der Seligen lebt. Sie lebt immer nur von den Beiträgen derjenigen, die Arbeit haben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, ich will einmal sehen, ob es mir angesichts Ihres Redetempos gelingt, Sie zu unterbrechen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rappe? - Bitte schön, Herr Rappe.

Hermann Rappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, können Sie bestätigen, daß alle Rentengesetze - wenn ich mich nicht ganz täusche - seit den 50er Jahren mindestens zwischen den großen Gruppen in diesem Haus immer einstimmig angenommen worden sind, und sehen Sie nicht auch die Gefahr, daß Sie mit einer Rede wie der heutigen diesen Konsens zwischen den beiden großen Gruppen über die weitere Gestaltung der Rentengesetzgebung möglicherweise aufs Spiel setzen?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein, Herr Kollege Rappe, die Wahrheit kann den Konsens j a nicht zerstören. Ein Konsens, der auf Unwahrheit beruht, wäre ein Trugkonsens. Damit Sie mich recht verstehen: Ich habe j a nicht kritisiert, daß Ihre Partei die Bemessungsgrundlage auf 70 % gesenkt hat - ich senke sie ja noch weiter, nämlich auf die Höhe der Lohnersatzleistung -, ich habe nur kritisiert, daß Sie so tun, als sei 100 % ein Naturgesetz und jeder, der davon abweiche, begehe Verrat an der Rentenversicherung. Gegen diese politische Schizophrenie habe ich mich hier gewandt, gegen sonst nichts. ({0}) Ich will Ihnen das auch gern an Hand von Zahlen belegen. Von 1978 bis 1982 - das war die Zeit, als die Bemessungsgrundlage noch 100 % betrug - gab es vom Bund an die Bundesanstalt einen Zuschuß von 17,5 Milliarden DM. In der gleichen Zeit hat die Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung 17,3 Milliarden DM gezahlt. Was ist das eigentlich für eine Sozialpolitik im Karussell? Sie können regeln, wie Sie wollen, es bleibt immer dabei: Aus der Arbeit wird bezahlt. Wir machen keine Politik mit Schleiern. Wir verschleiern die Tatsachen nicht. Tatsache ist, daß die Sozialversicherung aus den Erträgen der Arbeit bezahlt wird. Deshalb halte ich es für konsequent, daß die Beiträge auch nur von dem Geld gezahlt werden, das der einzelne für seine Arbeit erhält. Meine Damen und Herren, ich will noch etwas zu den Finanzproblemen sagen. Als ich im Zusammenhang mit der Arbeitszeitdebatte vor dem Deutschen Bundestag mehrfach darauf hingewiesen habe, daß es ein Dilemma gebe - die Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich geht gegen die Arbeitslosen, Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich geht gegen die Rentner -, da ertönte - das ist auch im Protokoll nachzulesen - schallendes Gelächter der Opposition. Sie haben behauptet, ich würde mit Rentnerangst Politik machen. Jetzt stellt sich heraus, wie recht ich hatte. Um zu erkennen, daß eine Lohnpolitik, die zu 2 % Lohnerhöhung führt, weil sie die Arbeitszeitverkürzung verkraften muß, die Rentner vom produktiven Fortschritt abhängt, braucht man natürlich kein Rentenpolitiker zu sein. Da genügt die Kenntnis des kleinen Einmaleins. Daß wir einen solchen Abschluß nicht in unsere eigenen Vorausberechnungen einstellen konnten, versteht sich von selbst. Denn dann hätten wir ja ein Ergebnis eingestellt, das wir gar nicht erwarteten. Wir hätten sozusagen im vorhinein resignativ dem zugestimmt, was für die Rentenversicherung schädlich ist. ({1}) Meine Damen und Herren, die Hinterbliebenenrente hat hier in der Debatte schon großen Raum eingenommen. Ich will daher für meinen Teil nur sagen: Was in 13 Jahren nicht zustande gekommen ist, müssen wir jetzt in zwei Jahren schaffen. Ich hoffe, daß wir die ersten parlamentarischen Schritte noch in diesem Jahr tun. Für mich bleibt wichtig: Die eigene Rente, durch Beiträge erworben, die Lohnersatzrente, darf bei keiner Reform, bei keiner Veränderung zur Disposition stehen. ({2}) Sonst zerstören wir den Leistungszusammenhang. Ein Weiteres: Die Witwen, die jetzt eine Hinterbliebenenrente erhalten, brauchen nicht zu befürchten, daß sich an ihrer Rente etwas ändert. Wir diskutieren gemeinsam - gemeinsam - nur über die Zukunft der Hinterbliebenenreform, nicht über die Vergangenheit. Ich glaube, wir sind es den älteren Mitbürgern schuldig, dies zu sagen. Was den Konsens anlangt: Ich gestehe, es gab diesen Konsens; ich selber habe mich an ihm beteiligt. Ich habe davon nichts zurückzunehmen, aber jeder kann doch durch Erfahrung klüger werden. Bemühen wir uns um einen neuen Konsens! ({3}) - Frau Kollegin Fuchs, das, was wir jetzt diskutieren - die Fraktionen haben das letzte Wort -, kann durch Diskussion noch besser werden. Aber wenn ich es richtig sehe, gibt es nur noch zwei bedeutende Sozialverbände, die Ihrer Auffassung sind. Das eine ist die Sozialdemokratische Partei, das andere ist der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände; das ist Ihr Konsenspartner. ({4}) Das ist ein etwas neues Unionsgefühl. ({5}) Wir dagegen befinden uns in Übereinstimmung mit vielen Frauenverbänden und auch mit den Gewerkschaften. Meine Damen und Herren, ich will jetzt gar nicht hämisch diskutieren, nur, damit das nicht so dargestellt wird, als sei Ihre Position über jeden Zweifel erhaben, folgendes: Da lese ich von einer immerhin so bedeutenden Genossin wie Christine Schmarsow, der stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, die Sätze: Die Hinterbliebenenversorgung ist neu zu regeln. Das Teilhaberentemodell der SPD ist aus frauenpolitischer Sicht abzulehnen. ({6}) Originalton stellvertretende Vorsitzende, nicht Blüm. Sie sagt weiter: Aber auch neue Modelle wie das Blümsche Anrechnungsmodell verdienen unvoreingenommene Prüfung. Ich mache nichts anderes, als Sie zu einer unvoreingenommenen Prüfung einzuladen. Es kann keine Hinterbliebenenrentenreform geben, die von den berufstätigen Frauen bezahlt wird; das kann es nicht geben! Wir können nicht eine Frauengruppe gegen die andere ausspielen. ({7}) Ich war immer und bin ein großer Anhänger und Verehrer der Hausfrauen, aber es kann nicht so sein, daß die Aufwertung der Hausfrau mit einer Abwertung der berufstätigen Frau verbunden ist. ({8}) Das sind alte, klassenkämpferische Gesichtspunkte, die meiner Überzeugung nicht entsprechen. Da mich der Kollege Rappe vorhin so freundlich gefragt hat, will ich in Erinnerung rufen, daß sein Gewerkschaftskongreß, der Gewerkschaftskongreß, der ihn auch wieder zum Vorsitzenden gewählt hat, wozu wir ihm sicherlich alle gratulieren, in einem Antrag festgelegt hat: Falls eine Teilhaberente von 75 % der gemeinsamen Rentenansprüche nicht durchsetzbar ist, sehen wir mit dem derzeit diskutierten Modell, das eine Einkommensanrechnung mit dynamischen Anrechnungsfreibeträgen vorsieht, eine gangbare Zwischenlösung. So tief können die Gräben doch gar nicht sein, als daß wir nicht bis zur letzten Minute den Versuch unternehmen, parteipolitisches Prestige hintanzustellen und die Sorge für die Rentner ganz nach vorn zu stellen. ({9}) Das ist jedenfalls meine Einladung. Meine Damen und Herren, ich will diesen sozialpolitischen Überblick nicht ohne einen Blick auf die Lage auch der Arbeitnehmer abschließen. Ich stelle mit großem Bedauern fest, wie schnell sich die SPD von den Arbeitnehmern entfernt, so schnell, daß ein so bedeutender Gewerkschaftsvorsitzender wie Adolf Schmidt Gefahr läuft, außerhalb der Sichtweite der SPD zu geraten. Was wäre eigentlich passiert, wenn in einer Unionszeitung dasselbe gestanden hätte wie im „Vorwärts"? Den Einsatz, den Adolf Schmidt für die Arbeitnehmer in Buschhaus hier im Deutschen Bundestag geleistet hat, vergleicht der „Vorwärts" folgendermaßen - ich zitiere -: Mit einer solchen Argumentation kann man auch für die Todesstrafe eintreten, weil man dem Scharfrichter die Freude an der Arbeit nicht nehmen will. ({10}) Wohin sind die Sozialdemokraten gekommen, wenn sie die Lebensarbeit, den großen Einsatz, die großen Verdienste eines Adolf Schmidt mit solchen Vergleichen diffamieren! ({11}) Ich sehe auch, daß es nicht geht, daß Sie jedem gerecht werden wollen. Die Kollegin Hartenstein verkündete am 30. August im sozialdemokratischen Pressedienst: Formaldehyd verbieten. Fünf Tage später verkündete der Genosse Reimann - ich habe ihn hier auch gesehen das Gegenteil. Das geht eben nicht. Man kann nicht den Arbeitern die Treue versprechen und dann mit den GRÜNEN in die Ehe eintreten. Beides zusammen geht nicht. ({12}) Man muß sich entscheiden, sonst betreibt man politische Bigamie. Meine Damen und Herren, ohne jede Aggression: Ich betrachte die alternative Bewegung als eine spätbürgerliche Bewegung. Das sind die Grüße aus dem 19. Jahrhundert. Das ist die Verbindung aus deutscher Romantik - Reformhaus - und denjenigen Marxisten, die diese Idylle als Wirtstier für ihren Agitprop mißbrauchen wollen. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Minister?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte schön.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Burgmann.

Dieter Burgmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000311, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Blüm, können Sie jetzt vielleicht verstehen, daß ich den Eindruck habe, daß Sie von dem, was sich an sozialer Bewegung in den letzten Jahren in der Bundesrepublik entwickelt hat, überhaupt nichts verstanden haben?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

War das eine Frage, Herr Oberlehrer, oder war das eine Zensur? Wenn es eine Zensur war - die Schule habe ich schon hinter mir. Diese Art von Qualifizierung finde ich eigentlich nicht sehr diskussionsfähig. Aber lassen wir es. Ich betrachte jedenfalls die GRÜNEN in der Tat als den Gruß aus dem 19. Jahrhundert. Was die Großeltern der grünen Bewegung nicht geschafft haben, nämlich die Arbeiterbewegung niederzukämpfen, das versuchen ihre Enkel durch die Konfusion mit der Arbeiterbewegung. ({0}) Kohleenergie ist zu schmutzig, Atomkraft ist zu gefährlich - wollen Sie denn ein Walzwerk mit einem Mühlrad betreiben? Wie soll denn eine Industriegesellschaft mit Arbeitsplätzen aussehen? Ich sehe in dieser grünen Bewegung den romantischen Widerspruch zur Realität, eine Realitätsverweigerung: verteidigen - ja, aber ohne Waffen; sparen - ja, aber ohne Einbußen; Medikamente sicherer machen - aber ohne Tierversuche. Die Welt, in der Politik gemacht wird, ist nicht voraussetzungslos. Güter müssen abgewogen werden, Kompromisse müssen gefunden werden. Das Erwünschte muß machbar gemacht werden. Wir machen nicht Politik im Phantasialand, sondern hier auf dieser Erde. Man kann nicht schwimmen ohne Wasser, weil das Wasser zu naß ist. Man kann nicht Skifahren ohne Schnee, weil es zu kalt ist. Man kann nicht Gewichtheben ohne Hantel, weil es zu schwer ist. Mit anderen Worten: Man kann nicht ernten, wenn man nicht bereit ist, sich vorher der Arbeit des Säens zu unterziehen. ({1}) Deshalb bleibt die Politik ein anstrengendes Geschäft, ein Geschäft, das mit Realitäten zurechtkommen muß und nicht im Wolkenkuckucksheim der Ideologen seine Heimat finden kann. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Sieler.

Wolfgang Sieler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die blümige Rede, die wir gerade gehört haben, ({0}) hat nicht sehr viel Neues gebracht. Herr Minister, ich hatte allerdings gehofft, daß Sie ein bißchen mehr auf die inhaltlichen Probleme eingehen, die meine Kollegin vorhin vorzutragen versucht hat. ({1}) Erlauben Sie mir - weil auch meine Zeit sehr begrenzt ist -, noch einmal auf einige wenige Dinge einzugehen und Sie zu bitten, darauf doch, wenn es irgend geht, eine klare Antwort zu geben; denn wir befinden uns ja in einer Haushaltsdebatte, in der auch der Haushalt des Arbeitsministers zur Diskussion steht und die finanziellen Beziehungen dieses Haushaltes zu untersuchen sind. Für mehr als 80 % unserer Bürger ist das Netz der sozialen Sicherheit eine entscheidende, wenn nicht überhaupt die wichtigste Lebensgrundlage. Mit immerhin 57,6 Milliarden DM ist ja der Einzelplan 11 der finanziell gewichtigste Punkt; vielleicht auch aus diesem Grunde wohl der Haushalt, der aus der Sicht des Bundesfinanzministers am leichtesten zu schröpfen ist, weil sich ja die Betroffenen nicht so leicht wehren können, wie das beispielsweise die Landwirte tun können. ({2}) Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 26. Juli 1984 in seiner ,,Sozialpolitischen Information" den vom Kabinett beschlossenen Haushalt 1985 als eine große sozialpolitische Beruhigung bezeichnet. ({3}) Herr Kollege Blüm, Sie haben u. a. weiter gesagt - ich zitiere -: Jetzt trägt die Sparanstrengung im Sozialetat auch ihre sozialen Früchte. Nun, wie schaut denn diese große Beruhigung aus? Es gehört nach meiner Einschätzung schon eine gehörige Portion Selbstbetrug dazu, die Kürzung seines Etats in der Größenordnung von 1 855 Millionen DM oder 3,1 % als eine große Beruhigung zu empfinden, ({4}) während der Gesamthaushalt noch um 1,2 % steigt und der Verteidigungshaushalt gar um 3,7 wächst. Der Bundesfinanzminister reduzierte diesen Tatbestand der Kürzung im Sozialhaushalt gestern in seiner Einbringungsrede auf den geringen Mittelbedarf bei der Bundesanstalt für Arbeit. Nun, darauf werde ich noch kurz eingehen. Die Kürzung im Sozialhaushalt des Bundes zeigt doch in Wirklichkeit die Politik, die dahinter steht, für die auch Sie, Herr Arbeitsminister, eingetreten sind und eintreten. Man kann sie auf eine einfache Formel bringen: Soziale Sicherheit runter und Rüstungsausgaben rauf. Das ist die Devise. ({5}) Das ist keine Politik für Arbeitnehmer, die Sozialdemokraten mittragen können. ({6}) - Vielleicht kann man auf der Regierungsbank einmal ein bißchen zuhören.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Sieler, ich darf Sie einen Moment unterbrechen. Wenn Sie drei dort - nicht der Arbeitsminister, der zuhört, aber die anderen drei dort - darauf acht geben, daß andere zuhören wollen. ({0})

Wolfgang Sieler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Jetzt kann hier der Herr Minister wieder besser zuhören. Erlauben Sie mir, Herr Minister, daß ich nun einmal die sozialen Früchte Ihrer Sparanstrengungen etwas untersuche. Sie haben nämlich den Arbeitnehmern in unserem Lande Früchte in die Hand gedrückt, die rundherum faul sind und die Sie ihnen für gutes Geld andrehen wollten. Sie wundern sich nun, daß die Arbeitnehmer diese Früchte nicht wollen. Schauen wir uns doch einmal das Ergebnis Ihrer Bemühungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit an. Die Bundesregierung versprach, die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Was ist davon übriggeblieben? Wie gehabt veröffentlicht die Bundesanstalt für Arbeit Monat für Monat die Arbeitslosenzahlen, zwischen 2,2 und 2,3 Millionen. Dabei wird ein ganz wichtiger Tatbestand übersehen, auf den ich noch kurz einzugehen versuche. Herr Minister, Sie haben vorhin so getan, als sei die Arbeitslosigkeit rückläufig. ({0}) Sie kennen doch die saisonbereinigten Zahlen - ich habe sie hier - aus der Bundesanstalt für Arbeit. Ich muß sie Ihnen doch wohl nicht vorlesen. Wir haben es mit einem stetigen Weiterwachsen der Arbeitslosigkeit zu tun. ({1}) Die Gesamtzahl derer, die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit erhalten, nimmt ebenso ab wie die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger. Die Zahl der Arbeitslosen steigt ebenso wie die Zahl derjenigen, die nur noch Arbeitslosenhilfe erhalten. Inmitten dieser Entwicklung werden der erstaunten Öffentlichkeit die nicht benötigte Liquiditätshilfe der Bundesanstalt für Arbeit von 1,7 Milliarden DM und weitere Einsparungen in der Größenordnung von 3,5 Milliarden DM für 1984 als Überschüsse offeriert und als Sparerfolge gefeiert. Übrigens, Herr Minister, Sie wissen j a ganz genau, daß das genau der Geldbetrag ist, der bei den Rentenversicherern fehlt. ({2}) Meine Damen und Herren, ein Blick hinter die Kulissen zeigt die bittere Wahrheit. Es ist halt schlicht falsch, wenn der CSU-Landesgruppenvorsitzende, wie gestern getan, behauptet, die Arbeitslosigkeit sei zum Stillstand gekommen. ({3}) Tatsache Nummer 1 ist: Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ständig zu, wie die Entwicklung bei der Arbeitslosenhilfe beweist. In diesem Punkte gehe ich davon aus, daß auch Ihr Ansatz, Herr Minister, für 1985 nach oben korrigiert werden muß. Zweitens. Zu den offiziell gemeldeten Arbeitslosen - das Registrierungssystem unserer Bundesanstalt weist 2 316 000 aus - müssen noch rund eine Million weitere arbeitslose Arbeitnehmer gezählt werden, die aus dem Leistungsbezug herauskatapultiert worden sind, herausgeflogen sind und die resigniert haben, weil sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt sehen und nach vier Monaten nicht mehr in der Statistik der Bundesanstalt erscheinen. Das ist die sogenannte stille Reserve, in der sich überwiegend Frauen bewegen. In Wirklichkeit ist die Arbeitslosigkeit inzwischen also auf über 3,2 Millionen angewachsen. Einen Großteil dieser Arbeitslosen trifft man dann bei den Sozialämtern wieder. ({4}) Auch das ist ein „Erfolg" Ihrer Politik, daß Sie die Kosten auf die Kommunen, auf die Gemeinden und Städte, hingeschoben haben. Herr Minister, das haben Sie als Proportion, die stimmt, bezeichnet. Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, daß die Proportionen von Ihnen zuungunsten der sozial Schwachen in dieser Gesellschaft verschoben worden sind. Das hier auf dem Tisch liegende Zahlenwerk, das der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, ist im Grunde nichts anderes als eine optische Täuschung und ein zynischer Versuch, von den wirklichen Zuständen auf dem Arbeitsmarkt abzulenken. ({5}) - Schauen Sie es sich einmal genau an. Dann werden Sie das auch feststellen. Nun zu den Überschüssen. Ich will einer Legendenbildung in diesem Bereich vorbeugen. Die wahren Ursachen für diese Überschüsse sind doch folgende. Erstens. Immer weniger Arbeitslose erhalten Arbeitslosengeld. Das kann man an den Zahlen der Bundesanstalt nachweisen. Ich brauche sie nicht zu wiederholen, Herr Minister; Sie kennen sie ja. Zweitens. Der Pro-Kopf-Betrag für jeden Arbeitslosen wurde von Ihnen drastisch gesenkt. Drittens. Die Beitragsbelastung für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber wurde massiv erhöht. Das hat auch das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München in diesen Tagen so dargestellt. Damit nicht ganz in Vergessenheit gerät, wie diese Mittel aufgebracht wurden, möchte ich noch einmal die Maßnahmen in den Haushaltsbegleitgesetzen für das Haushaltsjahr 1984 nennen, die Arbeitslosen weniger gebracht und andere Arbeitslose, vorwiegend Frauen, ganz aus der Geldleistung der Bundesanstalt ausgeschlossen haben. Bei den Beitragszahlern wurden das Urlaubsgeld, das Weihnachtsgeld, das Krankengeld, das Verletztengeld in die Beitragspflicht einbezogen und der Weihnachtsfreibetrag abgeschafft. Den Arbeitslosen wurden das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe, das Kurzarbeiter- und das Schlechtwettergeld gekürzt und die Leistungsdauer erheblich verringert. ({6}) Für die Umschüler und Rehabilitanden wurden die Hilfen drastisch gekürzt. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe für einen Familienvater beträgt nach den Unterlagen der Bundesanstalt für Arbeit - das ist die Zahl für den Monat August; jetzt müssen Sie einmal ganz genau hinhören - 798,97 DM. In der Stadt Duisburg - davon konnten wir uns vor wenigen Tagen im dortigen Arbeitsamtsbezirk überzeugen - beträgt sie 726 DM. Leider ist der Kollege Hoppe nicht da, der gestern wieder einmal die eigenen Kräfte, die man mobilisieren müsse, hier angesprochen hat. Ich möchte den Kollegen Hoppe hier einmal fragen: Welche eigenen Kräfte kann eigentlich ein solcher Familienvater, der mit seiner Familie von diesem Geld leben muß, noch entfalten, wenn er zwei Jahre arbeitslos ist und in der Zwischenzeit auch seine bescheidenen Ersparnisse verbraucht hat? Soll er dann vielleicht noch seine Wohnungseinrichtung verhökern? ({7}) Meine Damen und Herren, die Verschiebung der Lasten auf die gesetzliche Rentenversicherung hat nunmehr deutliche Milliarden-Löcher in die Finanzreserve gerissen. ({8}) - Das ist eine Tatsache. Daran kommen Sie doch wohl nicht vorbei. Die Bundesregierung hat einmal versprochen, und zwar sehr vollmundig, die Renten mittelfristig auf eine solide Finanzgrundlage zu stellen. Nun, Herr Minister, für den Bundeskanzler war Anfang September dieses Jahres die Frage der Beitragserhöhung bei der Rentenversicherung kein Thema. Er hat damit auch die Diskussion Ihres Parlamentarischen Staatssekretärs, des Kollegen Höpfinger, was die Beitragsfrage betrifft, recht abrupt beendet. Er hat aber auch nicht gesagt, wie denn die Renten 1985 gesichert werden sollen. Die gesetzlichen Rentenversicherer haben bereits 1984 auf ihre angespannte Liquiditätslage hingewiesen. ({9}) Inzwischen wissen wir aber auch, wie verheerend sich die quasi Halbierung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose durch die Bundesanstalt für Arbeit, d. h. die Wiederanbindung der gesetzlichen Rentenversicherung an die Konjunkturschwankungen, an die Schwankungen des Arbeitsmarktes auf die finanzielle Seite der Rentenversicherung ausgewirkt hat. ({10}) Herr Kollege, die Schwankungsreserven sind zwischenzeitlich auf eine Monatsausgabe zurückgegangen, die Liquiditätsreserve auf eine halbe Monatsausgabe, also bereits an die untere Grenze der Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherer. Meine Damen und Herren, die Rentenversicherungsträger rechnen schon gar nicht mehr mit der Entgeltsteigerung von 4,6 %, weil sie sie für utopisch halten. Im Gegenteil: Die Alternativrechnungen der Rentenversicherungsträger in diesen Tagen, Herr Minister, gehen von einer Entgeltsteigerung 1985 von 3 bis höchstens 3,5 % aus, die auch ich für realistisch halte. Daraus werden die wirklichen Beitragseinnahmen bei den Rentenversicherern deutlich. Dies zeigt, daß die Liquiditätsreserve 1985 bereits zwischen 0,4 und null Monatsausgaben - aber nicht nur kurzzeitig - in den Berechnungen erscheint. ({11}) Da, meine Damen und Herren, entsteht eine Finanzlücke von nicht weniger als 5 Milliarden DM, wenn nicht sogar mehr. Dieses Geld fehlt den Rentenversicherern. Das - auch wenn Sie das bestreiten wollen - ist doch wohl eindeutig gleichzusetzen mit Zahlungsunfähigkeit, wenn nicht drastische Maßnahmen ergriffen werden. Herr Kollege Blüm, wissen Sie, die Warnung vor der Angstmacherei hilft uns da natürlich auch nicht weiter. Wir müssen hier über Fakten und Daten reden. Das, was Sie hier vorhin gesagt haben, haben Sie, als Sie noch hier unten auf der Abgeordnetenbank saßen, in der gleichen Weise vom Tisch gewischt, als die frühere Regierung dieselben Argumente, die Sie heute vorgetragen haben, vorgelegt hat. Der Kanzler sagt ganz vollmundig, Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung seien kein Thema; Ende der Durchsage. Herr Bundesarbeitsminister Blüm sagt - diese Formulierung hat mich besonders gefreut, sie ist Ihnen ja eigen, Herr Kollege Blüm -: „Eine schmerzstillende Nachricht: Keine Sozialleistung wird gekürzt." Nun sage ich allen Ernstes: Eine sehr erfreuliche Nachricht für die 13 Millionen Rentner so nach dem Motto: keine Sorge um eure Renten, wir wissen bloß nicht, wo das Geld dafür herkommt. ({12}) Meine Damen und Herren, das hat mit einer soliden Haushalts- und Sozialpolitik überhaupt nichts mehr zu tun. ({13}) Das ist sozialpolitisch unverantwortlich und bringt den Generationenvertrag, den wir alle gemeinsam aufgebaut haben und erhalten wollen, ernsthaft in Gefahr. ({14}) Und das, verehrter Herr Kollege Blüm, ({15}) ist die Ausgangslage für den Haushalt Ihres Ressorts. Der Herr Bundesminister Blüm kann gar nicht so schnell bei allen möglichen Gruppierungen die Mäuse einsammeln, die der Herr Bundesminister Geißler und seine anderen Kabinettskollegen die Beträge austeilen. Ich weiß sehr wohl, Herr Kollege Blüm, in welcher schwierigen Situation Sie angesichts der Tatsache sind, daß der Herr Bundesfinanzminister natürlich sagt: Was interessieren mich diese Fragen; ich will, daß die Nettokreditaufnahme nicht in dieser Weise steigt. Und Sie feiern das noch als einen großen Erfolg! Angesichts der gravierenden Finanzprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung und der vollmundigen Versprechungen zu der noch vor uns stehenden Reform der Hinterbliebenenversorgung sind wir gespannt, Herr Blüm, welches sozialpolitische Windei Sie uns denn nun wohl wieder servieren wollen. Den Herrn Bundesfinanzminister, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt - ich bin froh darüber -, frage ich deshalb: Wie ist denn nun die realistische Finanzlage der Rentenversicherungsträger, und welche Beitragserhöhungen oder welche Leistungseinschränkungen sind für 1985 notwendig, um das Rentenniveau zu erhalten, von dem Herr Kollege Blüm vorhin gesprochen hat und an dem nicht er allein schuld ist? Zweitens: Wie sollen denn nun die Kindererziehungszeiten bei der gesetzlichen Rentenversicherung berechnet und finanziert werden, von denen Sie landauf, landab reden? Drittens: Aus welchem Topf soll das zugesagte Babyjahr letztlich bezahlt werden? Denn wenn ich es richtig mitgekriegt habe, hat der Herr Bundesminister Blüm sich hingestellt und gesagt: Ich habe Einigkeit mit meinem Herrn Finanzminister; das bezahlen wir aus dem noch offenen Kredit, den die Bundesanstalt zurückzahlen muß. Einen Tag später kann man in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen, daß der Herr Bundesfinanzminister weiß Gott noch gar nicht damit einverstanden ist, daß das aus dem Bundestopf zu bezahlen ist. Sie, Herr Kollege Blüm, verwalten auch 1985 ein wachsendes Heer jüngerer und älterer Arbeitsloser, die ohne Zukunft in eine neue Armut hineinrutschen und hineingetrieben werden. Als verantwortlicher Minister tun Sie nichts, um das zu verhindern. Im Gegenteil, Sie versuchen, den Menschen draußen faules Obst als Delikatesse anzudrehen. Sie haben eine sichere Finanzgrundlage für die Renten versprochen. Wir stehen statt dessen und trotz gravierender Einschnitte in das Leistungsrecht vor der schwersten Bewährungsprobe seit Bestehen unserer Rentenversicherung. Vielleicht hört der Herr Bundesarbeitsminister noch mal kurz zu. ({16}) Und nun, lieber Kollege Blüm - so sage ich mal als Gewerkschaftskollege -: Einem Gewerkschafter müßte sich eigentlich der Magen umdrehen, wenn er sehenden Auges in eine Situation hineinläuft, in der er das Prädikat „Minister für Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit" zu erhalten droht. ({17}) Wir Sozialdemokraten werden unsere Vorschläge zur Lösung dieser Schwierigkeiten in den kommenden Haushaltsberatungen einbringen und alles unternehmen, um Schaden vom System unserer sozialen Sicherheit abzuwenden. Ich bedanke mich. ({18})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedmann.

Prof. Dr. Bernhard Friedmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Ich habe alle Redebeiträge dieser inzwischen zweitägigen Debatte aufmerksam verfolgt, und ich versuche, aus der kritischen Distanz nun meinen Beitrag einzubringen. Es fiel mir auf, daß in vielen Beiträgen aller Fraktionen die Sorge über die Arbeitslosigkeit ehrlich immer wiederkehrte. Wir sollten uns nichts vormachen: 2,2 Millionen Arbeitslose, das ist eine drükkende Last, die uns alle belastet. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir mit dieser Last fertigwerden. Ich kann nur wiederholen, was ich früher schon immer wieder gesagt habe: Hinter den nüchternen Zahlen stehen Menschenschicksale, stehen Menschen, die sich von unserer Gesellschaft nicht mehr anerkannt fühlen, weil sie keine bezahlte Arbeit mehr haben, und hinter den Arbeitslosen stehen deren Familienangehörige, die gleichermaßen unter diesem Schicksal leiden. Nun wäre es bei Gott verkehrt und verdreht, wenn wir diese Last Norbert Blüm und dieser Regierung allein aufladen würden. Wir können nun spitz auf Knopf hin- und herrechnen, wie viele es mehr sind als damals bei der Regierungsübernahme; aber ausgeleuchtet wird die Situation vor Aussagen von Oppositionspolitikern, daß wir im vergangenen Jahr im Winter mit 3 Millionen Arbeitslosen hätten rechnen sollen, und von Aussagen von DGB-Vertretern, daß wir im kommenden Winter mit 4 bis 5 Millionen Arbeitslosen zu rechnen hätten. ({0}) Dies tritt nicht ein. Man kann daran herumdeuteln, wie man will: Die Anstiegskurve der Arbeitslosigkeit ist abgestoppt, die Hinwendung zum Schlimmen ist geändert. Das sollen wir hier mit Anerkennung aussprechen und auch dem Arbeitsminister und seinem Hause danken. ({1}) Ich bin überhaupt davon beeindruckt, wie viele gute Ideen aus diesem Arbeitsministerium unter Führung von Norbert Blüm und seinen beiden Parlamentarischen Staatssekretären hervorkommen. Denn der Arbeitsmarkt war nun einmal verkrustet; das müssen wir sehen. Ich denke an den Fall, daß so manche Frau, die heute vollberuflich beschäftigt ist, lieber halbtags arbeiten würde, wenn sie einen Halbtagsplatz fände. ({2}) - Ich schließe die Männer nicht aus. Es gibt auch Männer, die lieber halbtags arbeiten wollten, wenn sie irgendwo einen halben Arbeitsplatz, Frau Däubler-Gmelin, bekämen. ({3}) Nun bekommen wir von Arbeitgeberseite immer wieder zu hören, es sei teurer, zwei Teilzeitkräfte statt einer Vollkraft zu beschäftigen. An diesem Argument ist etwas dran, und deshalb möchte ich den Arbeitsminister und seine Herren bitten, hier von der politischen Seite her gegenzuhalten. Es gibt viele Berufe, in denen ein und derselbe Arbeitsplatz durchaus von Teilzeitkräften ausgefüllt werden kann. Hinter der Verkaufstheke kann morgens eine andere Verkäuferin stehen als am Nachmittag. Im Friseurgeschäft kann uns morgens eine andere Dame oder ein anderer Herr bedienen als am Nachmittag. Es gibt viele, viele Plätze, die wirklich unter Teilzeitkräften aufgeteilt werden können. Das sollten wir nutzen und notfalls steuerlich begünstigen. Hier sind wir Politiker gefordert. ({4}) Nun, ist meine Damen und Herren, vor allem bei Oppositionspolitikern heute immer wieder zu hören gewesen, daß zwar ein Wirtschaftswachstum vorhanden sei, aber daß man davon am Arbeitsmarkt nichts spüre. Herr Roth von der SPD hat sogar behauptet, es sei gar kein wirtschaftlicher Aufschwung, weil man davon auf dem Arbeitsmarkt nichts merke. ({5}) Es ist richtig, bei all den Konjunkturschwankungen, die wir immer wieder haben, haben die Aufschwünge immer wieder bewirkt, daß auch der Arbeitsmarkt entlastet wurde. Nun wird gesagt, dieses Mal sei dies nicht so. Einen Grund dafür hat der Wirtschaftsminister heute morgen genannt, als er sagte, der Wirtschaftsaufschwung werde mit moderner Technologie bewirkt. Es seien also modernere, leistungsfähigere Maschinen, die mehr produzierten, ohne daß mehr Menschen in Arbeit kämen. Das ist sicher ein Grund, aber da kommen andere Gründe dazu, und einen Hinweis dafür gibt uns die Zahl der Entwicklung der Kurzarbeiter. Wir wissen doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie es in einem Betrieb zugeht, der bisher nicht genug Arbeit hatte. Mancher Arbeitgeber hat aus Verbundenheit zu seinen Mitarbeitern die Leute durchgehalten, wenn es die Ertragslage zuließ, auch wenn die Beschäftigungssituation nicht stimmte. ({6}) Wir müssen heute dankbar anerkennen, daß es solche sozial verantwortungsbewußten Arbeitgeber in reicher Zahl gegeben hat. ({7}) - Das stimmt, Herr Kolb. Es waren überwiegend die Mittelständler und die Kleinen, bei denen auch die ganz persönliche Bindung zum Chef besteht. Andere Betriebe sind verstärkt in Kurzarbeit ausgewichen. Jetzt, wo die Auftragslage wieder besser wird, beschäftigen diese Betriebe natürlich zunächst einmal die Kurzarbeiter wieder voll. Das ist auch der Grund, warum wir im Augenblick nur noch 215 000 Kurzarbeiter haben. Das sind ein paar hunderttausend Kurzarbeiter weniger, als wir bisher hatten. Manche Betriebe, die sich ihrer Aufträge noch nicht sicher sind, weichen - ich muß sagen: leider - zunächst in Überstunden aus. Ich würde es lieber sehen, wenn sie mehr in Neueinstellungen ausweichen würden. Aber bis eben neue Kräfte eingestellt werden, werden zunächst diese Reserven ausgenutzt. Das ist der eigentliche Grund, warum trotz steigenden Sozialprodukts der Arbeitsmarkt zwar bei den Kurzarbeitern, aber bei den Arbeitslosen noch nicht richtig entlastet wird. Hier setzt Norbert Blüm mit seinen Leuten richtig an, wenn er sagt: Künftig soll es in beschränktem Umfange möglich sein, zeitlich befristete Arbeitsverträge abzuschließen; denn dann, wenn im Augenblick gerade eine gute Auftragslage da ist, ist es doch besser, wenn ein Unternehmer jemanden auf Zeit einstellt, als wenn er auf Überstunden ausweicht, und es ist doch, wie er selber sagt, besser, zeitlich befristet Arbeit zu haben, als unbefristet arbeitslos zu sein. ({8}) Ein zweites fiel mir immer wieder auf. Es ist vor allem von Ihrem wirtschaftspolitischen Sprecher, Herrn Roth, kritisiert worden, daß die Kürzung von bestimmten staatlichen Transferleistungen zu einem Nachfrageausfall führe, was der Beschäftigungslage abträglich sei. Nun wollen wir uns doch nichts vormachen: Es ist eine Grundregel jeder Volkswirtschaft, daß staatliche Transferleistungen eben nicht so arbeitsplatzschaffend sind wie investive Ausgaben. Wenn also bei staatlichen Transferzahlungen gespart wird und wenn statt dessen Luft für staatliche oder private Investitionen geschaffen wird, erreicht man auf dem Arbeitsmarkt mehr, als wenn man nur - wenn auch in erhöhtem Maße - Geld für den Konsum ausgibt. ({9}) - Deshalb, Herr Glombig, ist es durchaus richtig, daß man gekürzt hat, soweit es unumgänglich war, daß man aber die Investitionen jetzt wieder nach oben treibt - sie werden im nächsten Jahr höher sein als im laufenden Jahr - und daß man auch insoweit der privaten Wirtschaft Anreize gegeben hat. Ein drittes. Wir haben hier wiederholt über die Zinsen gesprochen. Haben Sie schon einmal bedacht, was es bedeutet, wenn nicht nur der Staat und die Wirtschaft, sondern auch der einzelne weniger Zinsen zahlen muß? Beim Staat ist es ja leider so, daß er für seine Zinszahlungen einfach neue Kredite aufnimmt. Das ist doch die gegenwärtige Situation: Die Höhe der derzeitigen Neuverschuldung bewegt sich in der Größenordnung der Zinsen, die wir für alte Schulden zahlen müssen. Man nimmt also genauso viel Kredite auf, wie man Zinsen zahlen muß. Die Zinssätze, die für den Staat gelten, gelten auch für den Privaten; sie sind für ihn eher noch höher. Wenn es also durch eine Konsolidierungspolitik des Staates möglich ist, die Zinsen insgesamt zu drücken, entlastet dies auch den privaten Kreditnehmer. ({10}) Denken wir doch an den Fall, daß jemand ein Haus baut. Wie schnell nimmt man 300 000 DM Kredit auf, um ein Einfamilienhaus bauen zu können! Wenn man durch diese Konsolidierungspolitik auch nur 2 % weniger Zinsen zahlen muß, sind das im Jahr 6 000 DM weniger Zinsen, sind es für den einzelnen im Monat 500 DM weniger Zinszahlungen. Das ist ein Betrag, für den mancher halbtags arbeiten gehen muß. ({11}) Das heißt, die staatliche Konsolidierungspolitik, wie Finanzminister Stoltenberg sie betreibt, hat nicht nur zu einer Preisstabilität, die dem einzelnen sehr wohl maßgeblich hilft, sondern auch zu einer wesentlichen Zinsentlastung der Kreditnehmer geführt. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum es möglich geworden ist, uns im Zinsniveau so von den Amerikanern abzuhängen. In diesem Jahr zahlen nämlich Bund, Länder und Gemeinden in Form von Zinsen und Tilgungen mehr an den Kapitalmarkt zurück, als sie umgekehrt vom Kapitalmarkt aufnehmen. Der Staat gibt also im Augenblick etwas mehr an den Kapitalmarkt ab, als er vom Kapitalmarkt wegnimmt. Damit ist dieser enorme Zinsdruck, den der Staat bisher durch seine überhöhte Kreditnachfrage entfaltet hat, im Augenblick weg. Dies ist der eigentliche Grund, warum wir zinsmäßig von den höheren amerikanischen Zinsen weggekommen sind, Herr Wieczorek, das ist also eine Folge der Konsolidierungspolitik, wie wir sie betrieben haben. Nun haben wir kritisiert und immer wieder bedauert, daß wir 2,2 Millionen Arbeitslose haben. Wir haben aber nicht davon gesprochen, daß wir 6 Millionen Schwarzarbeiter haben. Diese Schwarzarbeiter haben etwas zu tun, haben zu arbeiten. Das heißt, Arbeit ist da. Die arbeiten auch nicht umsonst. Die Frage ist nur: Wieviel Arbeit haben wir, die wir bezahlen können? Wäre die Arbeit in dem Umfang, wie sie auch von Schwarzarbeitern gemacht wird, offiziell bezahlbar, dann hätten wir so gut wie keine Arbeitslosen. Mit anderen Worten, wir müssen uns ernsthaft fragen, wie hoch und wie weit wir mit unserem Lohnniveau gehen können. Ich möchte hier nicht fordern, daß wir die Löhne senken müßten. Welcher Arbeitnehmer könnte schon auf die jetzt vorhandene Kaufkraft verzichten! Aber aus dem Beispiel müssen wir die Lehre ziehen, daß wir alle bei Lohnerhöhungen kurzzutreten haben. Wenn in der zurückliegenden Situation, als es wegen der Arbeitszeitverkürzung auch zu Streiks kam, immer wieder behauptet wurde, 35 Stunden schafften neue Arbeitsplätze, und hinterher angesichts der erzielten Lösung das Arbeitswissenschaftliche Institut in Nürnberg sogar gesagt hat, es seien 95 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, so bezweifle ich dies schlicht und einfach. In der Zwischenzeit ist die Zahl aus Nürnberg relativiert worden. Man hat gesagt, das seien in der Hauptsache Arbeitsplätze, die sonst verlorengegangen wären und so jetzt erhalten würden. Aber mir gibt es immer wieder zu denken, daß Länder, in denen mehr als 40 Stunden gearbeitet wird, weniger Arbeitslose als wir haben. Daraus leite ich für mich ab: Wie wäre es denn, wenn wir einmal anders herum diskutierten; wie wäre es, wenn wir uns bereit erklärten, zum jetzigen Lohn nicht 40, sondern 42 Stunden zu arbeiten? Die Folge ist doch ganz logisch: Die Stückkosten würden niedriger. Wir sind ein Land, das vom Export lebt. Jeder vierte Arbeitsplatz hängt vom Export ab. Auf dem Weltmarkt begegnen wir der Konkurrenz von Ländern, die niedrigere Löhne haben. Mit anderen Worten, wenn wir für den jetzigen Lohn mehr arbeiten, werden wir konkurrenzfähiger und können damit Arbeitslosigkeit abbauen. Das heißt, die Diskussion in Richtung Arbeitszeitverkürzung läuft vollkommen verkehrt, wenn damit gemeint ist, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hoffmann? - Bitte.

Hans Joachim Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000937, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich jetzt von Ihrer neuen Lohntheorie ein bißchen fasziniert bin, möchte ich Sie nur fragen: Wie kommt es dann eigentlich, daß in Staaten, in denen länger gearbeitet wird und niedrigere Löhne gezahlt werden, beispielsweise in Großbritannien, die Arbeitslosigkeit nicht extrem gesunken ist? ({0})

Prof. Dr. Bernhard Friedmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens. Warum bringen Sie jetzt nicht das Beispiel Japan und Beispiele anderer asiatischer Länder, die genau dies belegen, was ich eben gesagt habe, Herr Hoffmann? Zweitens. Die Gesamtsituation in England hat sich unter der jetzigen Premierministerin erheblich verbessert. In diesem Jahr wird Nürnberg erfreulicherweise keinen Liquiditätszuschuß des Bundes benötigen. Es ist damit zu rechnen, daß in Nürnberg ein Überschuß von etwa 3 Milliarden DM entstehen wird. Ich möchte Ihnen auch sagen, womit das zusammenhängt. Wir haben Nürnberg Anfang dieses Jahres 2 380 000 Arbeitslose unterstellt. Es werden im Schnitt voraussichtlich 2 280 000 sein. Dadurch sparen wir natürlich Geld. Außerdem haben wir weniger Kurzarbeiter. Dadurch wird das Ergebnis günstiger. Das heißt, der Bund muß keinen Zuschuß für Nürnberg zahlen. Die vorgesehenen und bereitgestellten 1,7 Milliarden DM werden nicht benötigt. Sie stehen - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen - zu keinerlei Verteilung via Nürnberg zur Verfügung. Nun ist eben kritisiert worden, auch von meinem Vorredner, Herrn Sieler, man sehe doch daran, daß der Haushalt von Herrn Blüm im nächsten Jahr niedriger sei, wie unsozial wir vorgingen. Das ist eine nur oberflächliche Betrachtungsweise. Der Haushalt dieses Jahres ist deshalb um 1,8 Milliarden DM niedriger, weil dieses Mal kein Zuschuß für Nürnberg vorzusehen ist ({0}) und weil der zu vergleichende Haushalt letztesmal noch einen Zuschuß enthielt, der gar nicht benötigt wird. Das heißt, es ist in der Tat die Nürnberger Situation, die das Bild hier verschiebt. Nach Ihrer Theorie wären wir ja furchtbar sozial, wenn wir mehr Zuschüsse an Nürnberg zahlen müßten, weil wir mehr Arbeitslose hätten. Das kann doch nicht Sinn dieser Erfindung sein. ({1}) Nun noch ein offenes Wort - auch wenn es falsch ausgelegt werden könnte - zu den anstehenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Ich halte es für bedenklich, wenn im öffentlichen Dienst mehr Arbeitszeitverkürzung eingeführt würde, sofern damit Neueinstellungen beabsichtigt sein sollten - diese Einschränkung muß ich machen. Denn Neueinstellungen im öffentlichen Dienst bedeuten eine höhere Belastung der öffentlichen Haushalte und gefährden damit die schwierigen Sanierungsbemühungen. ({2}) Insoweit kann ich nur größte Zurückhaltung bei Neueinstellungen für Arbeitszeitverkürzungen im öffentlichen Dienst empfehlen. Ich möchte auch Zurückhaltung empfehlen, wenn es um die Vorruhestandsregelung geht, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Im privaten Bereich verteilen sich die Mehrkosten des Vorruhestands auf den Staat via Nürnberg und auf den privaten Arbeitgeber. Im öffentlichen Bereich, wo der Staat zugleich Arbeitgeber ist, ist dies eine andere Situation. Dort belastet es den Staat ausschließlich. Deshalb Vorsicht bei Vorruhestandsregelungen im öffentlichen Bereich und deshalb äußerste Vorsicht bei weiteren Arbeitszeitverkürzungen im öffentlichen Bereich! ({3}) Meine Damen und meine Herren, eines müssen wir dennoch zur Kenntnis nehmen. Die Schwierigkeiten im sozialen Netz, über die wir auch heute wieder sprechen, hängen ursächlich damit zusammen, daß wir 1982 nicht nur einen hohen SchuldenDr. Friedmann berg, sondern auch ein finanziell ausgezehrtes soziales System übernommen haben. ({4}) Wir werden die Dinge durchaus wieder in Griff bekommen. Niemand soll hier wegen der Rentenversicherung Angst erzeugen. Sie wissen genau, daß der Staat verpflichtet ist, die Zahlung der Renten immer sicherzustellen. ({5}) - Liebe Frau Fuchs, ich bin in der schwierigen Lage, das von Ihnen übernommene Erbe hier einigermaßen mit über die Runden bringen zu müssen. ({6}) Wenn es hier zu gewissen Beitragsverschiebungen kommt, die durchaus möglich sind, wird dies sicher nur eine vorübergehende Lösung sein können. Denn die strukturelle Neuordnung, die in der Rentenversicherung notwendig ist, bis hin zur Hinterbliebenenversorgung, wird ohnehin eine Neuordnung erfordern. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und insbesondere herzlichen Dank dem Arbeitsministerium für seine Arbeit. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit einem Dank an den Bundesarbeitsminister, mit dem der Kollege Friedmann seine Ausführungen abgeschlossen hat, werde ich nun leider nicht beginnen können, aber das hat wohl auch keiner erwartet, nehme ich an. ({0}) - Sie sollten sich keinen neuen Kollegen wünschen, das wäre für Sie gar nicht so sehr gut. Ich muß trotzdem sagen, daß mir Herr Friedmann imponiert hat; nicht deswegen, weil ich mich fast keinem Teil seiner Rede übereinstimme, sondern weil ich finde, daß er sich wohltuend von der Art und Weise der Darstellung des Herrn Bundesarbeitsministers abgesetzt hat. Der Herr Friedmann hat, finde ich, in seriöser Art und Weise gesprochen. Man muß nicht mit ihm und seinen wirtschaftspolitischen Theorien übereinstimmen. Ich bin kein Wirtschaftspolitiker. Ob er es ist, weiß ich nicht. Mitunter klang mir das abstrus. Wir können ja alle auch einmal danebenhauen. Aber ich will dies heute abend gar nicht entkräften oder entwerten, denn ich meine, daß jeder Kollege die Möglichkeit haben muß, über solche Gedanken auch bei einer Haushaltsdebatte einmal zu reden, anstatt sich hier nur gegenseitig zu beschimpfen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Opposition, sondern auch für die Koalition. Nun muß ich sagen - ich habe das wiederholt hier ausgedrückt -: Die Stilart des Bundesarbeitsministers - der mir persönlich nicht unsympathisch ist: ({1}) ich sage das immer wieder - ist auf Dauer für mich unerträglich. ({2}) Sie ist für mich deswegen zunehmend unerträglich, weil ich den Eindruck habe und glaube das auch belegen zu können, daß er zunehmend die Unwahrheit sagt ({3}) oder aber, noch präziser, Halbwahrheiten sagt und die Köpfe der Leute draußen vernebelt. Ich finde, dies ist eigentlich auch sehr unchristlich, was er macht. Dies ist auch menschlich nicht in Ordnung, wenn er eine Politik vertreten muß, die er normalerweise wohl nicht vertreten hätte, jedenfalls nicht zu der Zeit, in der er auch hier als Wortführer der Opposition aufgetreten ist. Da haben wir ihn ganz anders gehört, was die Verängstigung und Verunsicherung der Rentner angeht; denn er war ein Meister in der Verunsicherung der Rentner ({4}) und hat nichts ausgelassen, um die sozialliberale Koalition zu kritisieren. Bei dieser Kritik kam auch damals bereits ein Teil von der FDP, als sogenannte Liberale. Diese sind dann inzwischen zur Rechtskoalition übergeschwenkt, jedenfalls diejenigen die geblieben sind. ({5}) In diesem Punkt ist die Kontinuität auf dieser Seite erhalten geblieben. Aber es ist auch folgendes richtig - und auch das wurde zumindest angezweifelt von Herrn Blüm -: daß wir alle Sozialgesetze in der Zeit der sozialliberalen Koalition einstimmig beschlossen haben. Mir soll auch niemand etwas von den Sozialausschüssen sagen. Herr Blüm ist ja nicht nur Arbeitsminister, er ist j a auch Vorsitzender der Sozialausschüsse der CDU. Da passiert doch folgendes. Die Sozialausschüsse - er selbst also - beschimpft sich über die Presseorgane der Sozialausschüsse. Dann stellt er sich hin und sagt: Bei dieser Äußerung war ich Arbeitsminister, und bei jener war ich Vorsitzender der Sozialausschüsse. Diese Widersprüche aufzulösen, auf der einen Seite die Regierung zu beschimpfen, auf der anderen Seite diese Regierungspolitik zu vertreten, das ist schon ein Kunststück. Die damalige Opposition - die heute größte Regierungspartei - hat diesen Gesetzen nicht nur zugestimmt, sie hat draufgesattelt. ({6}) Sie hat 1972 in einer, ich sage: unglaublichen Art und Weise draufgesattelt, uns unter Druck gesetzt, und zwar aus Gründen, die ich hier nicht darstellen muß, die Sie alle kennen. Im Jahre 1972 hat es zwei Rentenanpassungen gegeben, auf Druck der CDU/ CSU und auf Druck der Sozialausschüsse der CDU mit der Begründung, daß ein Nachholbedarf bei den Rentnern bestünde. ({7}) Natürlich schleppen wir dies alles mit uns einher, neben all den schönen anderen Sachen, die dann draufgesattelt worden sind. ({8}) - Ich sage dies nur im Zusammenhang mit dem Stichwort Erblast. Sie sind dafür etwas zu jung; Sie wissen nun wirklich nicht, was in dieser Beziehung eine Erblast ist. - Die Erblast ist ein Propagandatrick, weiter nichts. ({9}) Sie sind eines Tages dran. Sie können hier nicht immer weiter mit dieser Erblast operieren. ({10}) - Warum soll ich mich als Sozialpolitiker angesichts der unsinnigen Dinge, die ich höre, nicht einmal aufregen? Herr Blüm hat es doch auch getan. Er ist ja immer sehr gut, wenn er sich aufregt, jedenfalls für die Ohren anderer, nicht für meine. Ich glaube, wir sollten hier zu einem sachlicheren Stil zurückkehren. ({11}) Man muß die Feststellung treffen, daß die Massenarbeitslosigkeit Jahr für Jahr weiter zunimmt. Eine gegenteilige Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. Seit Anfang dieses Jahres ist die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl - auf die kommt es an! - um über 100 000 gestiegen. ({12}) Die Rechtskoalition kümmert das wenig. Sie ignoriert das. Besser gesagt: Es kümmert sie überhaupt nicht. Sie versucht, dies zu leugnen, statt diese Tatsache anzuerkennen. Wenn wir dies gemeinsam anerkennen würden, dann hätten wir doch auch das Gefühl dafür, daß nicht die Bekämpfung der Arbeitslosen, sondern die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Unterstützung der Kommunen in ihrem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit unsere gemeinsame Aufgabe ist. ({13}) Das haben Sie anscheinend nicht erkannt. Wenn hier immer vom Konsens die Rede ist, dann ist das auch Geschwätz. Ich sage das ganz brutal, weil ich das so oft aus dem Munde des Arbeitsministers höre. In Wirklichkeit tut sich nichts. Es wird nach draußen so getan, als ob, und wenn wir dem nicht zustimmen, dann wird noch so getan, als hätten wir einem vernünftigen Kompromiß nicht zugestimmt. So einfach ist das.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben das Wort, Herr Kolb.

Elmar Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001170, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Glombig, sind Sie nicht der Meinung, daß die derzeitigen Lohn- und Lohnnebenkosten einen sehr starken Druck in Richtung Rationalisierung bringen, wie das Beispiel der berühmten Halle bei VW sehr deutlich zeigt?

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage noch einmal: Ich bin im Gegensatz zu Ihnen nicht der großartige Wirtschaftspolitiker, für den Sie sich ausgeben. Aber ich weiß, daß die Wirtschaftspolitik eine so exakte Wissenschaft, wie Sie tun, nicht ist. Ich habe den Eindruck, daß die Behauptung, es sei doch so, längst nicht belegt ist. Darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen; man kann sehr unterschiedliche Arbeiten darüber lesen. Angesichts dessen werden Sie von mir doch nicht erwarten, daß ich hinsichtlich der Beurteilung eines solchen Sachverhalts ausgerechnet - lassen Sie es mich einmal so sagen - dieser Richtung zustimme. Das werden Sie von mir nicht erwarten; das werde ich auch nicht tun. Ich werde aber auch nicht sagen: Dies kommt als Faktor für die Entwicklung solcher Kosten, die unter Umständen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entgegenstehen, überhaupt nicht in Frage. Ich glaube, daß das sehr unterschiedlich ist und daß man das nicht alles über einen Leisten schlagen darf. ({0}) Im übrigen aber hoffe ich, daß Sie mit mir darin übereinstimmen, daß im Entwurf des Haushaltsplans für 1985 Beschäftigungspolitik so gut wie nicht stattfindet. ({1}) Ich glaube, dies ist eine wichtige Feststellung. Sie steht im Gegensatz zu dem, was Herr Blüm, aber auch was Herr Stoltenberg und andere hochrangige Vertreter der Bundesregierung in diesen Tagen hier immer wieder behauptet haben. Bitte, weisen sie mir doch in einem Punkte nach, daß ich unrecht habe. Lassen Sie uns doch einmal wirklich über die Fakten dieses Entwurfs des Haushaltsplans 1985 reden und nicht weiterhin Nebel verbreiten! Wo sind denn nun eigentlich die Ansätze zu einer wirkungsvollen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit? Wir müssen feststellen, daß die Arbeitsämter zur Zeit vielfach nicht in der Lage sind, die sich aus dem Arbeitsförderungsgesetz ergebenden Rechtsansprüche zu erfüllen, weil kein Geld vorhanden ist, obwohl zur gleichen Zeit eine öffentliche Debatte - ({2}) - Das ist kein Quatsch. - Haben Sie gesagt: „Quatsch"? ({3}) Dann nehmen Sie das sofort zurück, bevor der Präsident Sie rügt! ({4}) Ich finde, man muß als Abgeordneter - vor allem als Wahlkreisabgeordneter - auch einmal ins Arbeitsamt seines Wahlkreises gehen und mit den Leuten sprechen, die darauf warten, vermittelt zu werden. Dabei kann von Vermittlung überhaupt keine Rede sein, weil die Mitarbeiter der Arbeitsämter vollkommen überlastet sind. Sie können sich daher nicht mit den arbeitslosen Arbeitnehmern beschäftigen. Ein Sachbearbeiter im Arbeitsamt ist für über 800 „Klienten" zuständig und kann die Arbeitslosigkeit im Grunde genommen nur verwalten. Dies ist kein Vorwurf an die Adresse der Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit, schon gar nicht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsämter - dies auf gar keinen Fall! Aber wenn Sie dies beobachten, wenn Sie sich darum kümmern, dann werden Sie eben feststellen, daß dort auch das Geld nicht vorhanden ist, um Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, der Arbeitsförderung, der Umschulung und der Eingliederungshilfen zu bedienen. Da sagen Ihnen viele Arbeitsämter: Wir haben kein Geld mehr. In anderen Arbeitsämtern wird gesagt: Wir müssen das vorhandene Geld strecken, weil wir danach keines mehr haben. Ist das im Rahmen einer Debatte, die um einen sogenannten Überschuß von 4 Milliarden bei der Bundesanstalt für Arbeit geht, nicht makaber? Ist das nicht makaber im Hinblick darauf, daß 1,7 Milliarden DM Liquiditätshilfe des Bundes für die Bundesanstalt für Arbeit schon zum jetzigen Zeitpunkt abgezogen werden? Ich finde dies sehr makaber. ({5}) Nun, die Rechtskoalition ({6}) beharrt weiter auf ihren falschen Rezepten, koste es die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen, was es wolle. Hauptsache, sage ich einmal, für diese Rechtskoalition ist, den Unternehmen bleiben massive Steuervorteile. ({7}) - Was für eine Opposition? ({8}) - Ach was, Sie haben doch nun wirklich keine Ahnung. Ich werde von den eigenen Freunden „beschimpft", weil ich ein „rechter" Sozialdemokrat sei, aber Sie kommen her und sagen, ich sei ein Linksoppositioneller. Ich meine, Sie wissen nun wirklich nicht mehr, was Sie reden. ({9}) Ganz abgesehen davon: Muß man linksoppositionell sein, wenn man sein Herz für Arbeitslose entdeckt? ({10}) - Da brauchen Sie aber noch eine erhebliche Entwicklung. Bei Ihnen wird das, so befürchte ich, nicht erreichbar sein. ({11}) - Ja, ja, nun lassen Sie einmal, ich muß Ihnen ja auch nicht dauernd gefallen. ({12}) Meine Damen und Herren, ich möchte hier feststellen, daß immer mehr Arbeitslose zur Arbeitslosenhilfe und zur Sozialhilfe abgeschoben werden. Nun komme ich zu dieser unglaublichen Art der Darstellung dieses Sachverhalts durch Herrn Blüm. Ich finde, dies ist nun schon zynisch, wenn nicht gar beleidigend. ({13}) - Aber sicher, aber sicher, aber ganz bestimmt, Herr Jagoda. Vielleicht wären Sie etwas sensibler, wenn Sie die ganze Entwicklung der Sozialpolitik besser übersehen könnten. ({14}) Dies ist kein Vorwurf, aber ich finde, man kann sich doch hier nicht hinstellen und sagen, in der Zeit der sozialliberalen Koalition hätten wir ein Defizit bis zu 13 Milliarden DM gehabt. Heute nun verkürzt man die Leistungen für das Arbeitslosengeld und für die Arbeitslosenhilfe und tut dies nicht nur zu Lasten der Arbeitslosen, sondern vor allem zu Lasten der Kommunen. Eine solche Art von Politik auf Kosten anderer Leute ist, so finde ich, ein Skandal. ({15}) Dies kann man nicht genug hervorheben und nicht genug brandmarken. ({16}) - Also, wissen Sie, wir sind doch auf eine solche Idee nicht gekommen. Zu keiner Zeit der sozialliberalen Koalition sind wir auf diese Idee gekommen. ({17}) - Das sage ich Ihnen nach der Sitzung. Denn so viel Zeit habe ich ja gar nicht, um diese merkwürdigen Fragen von Ihnen zu beantworten. Also, von einem Aufschwung für den Arbeitsmarkt - ich glaube, darum geht es hier in erster Linie - kann überhaupt keine Rede sein. ({18}) Statt die Beschäftigung zu fördern, legt Bundesarbeitsminister Blüm ein Entlastungsförderungsgesetz vor, um den Druck auf die Arbeitnehmer in den Betrieben weiter zu verstärken und um die Stammbelegschaften in Betrieben mit diesem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz weiter abzubauen. ({19}) - Ja, dabei bleibe ich. Ich habe Herrn Blüm das oft genug gesagt, auch schon in einer Fernsehdiskussion. Wenn er das ignoriert, ist das sein Bier. ({20}) Aber das ist die Realität. Ich finde, alles andere ist ein Vernebeln der Gehirne. Da Herr Blüm so unter dem Druck der Politik dieser Koalition steht, macht er als christlicher Gewerkschaftler derartige Verrenkungen, um die Leute glauben zu machen, dies sei eine Politik in ihrem Interesse, d. h. im Interesse der Beschäftigung, d. h. im Interesse der Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Ich kann nur mit den Gewerkschaften sagen, diese Art von Gesetzgeber wird nicht einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz schaffen. ({21}) Ich sage Ihnen, dies nachzuweisen ist sowohl im Positiven als auch im Negativen nicht ganz einfach. Ich muß Ihnen sagen: Auf einer so schwachen Grundlage solche Behauptungen aufzustellen, dazu gehört doch eine gewaltige Brust. ({22}) - Das mag ja sein; aber jedenfalls besser als Sie. ({23}) Um dieses Ziel besser zu erreichen, verschafft die Rechtskoalition ({24}) den Arbeitgebern die erforderlichen Instrumente, und zwar durch die Ausdehnung der Leiharbeit, durch die Zulassung befristeter Arbeitsverträge ohne sachlichen Grund. Es geht hier um das Fehlen des sachlichen Grundes; befristete Arbeitsverträge gab es schon immer. Aber jetzt sollen befristete Arbeitsverträge ohne sachlichen Grund möglich sein. Ein weiteres Instrument ist der Ausbau variabler Arbeitszeiten ohne ausreichenden arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. Es ist doch nicht so, daß wir gegen eine gewisse Flexibilität für diejenigen sind, die halbtags arbeiten wollen. Das ist doch nicht unser Problem. Das Problem ist, das für diese Arbeitskräfte ein ausreichender arbeits- und sozialrechtlicher Schutz nicht gewährleistet ist. ({25}) Dies wird auch mit dem Gesetz, das hier vorliegt, nicht erreicht. Darüber werden wir uns ja unterhalten müssen. ({26}) Meine Damen und Herren, ich sehe mit Grausen, daß mir meine Zeit wegläuft. ({27}) - Das ist richtig. Wenn Sie nicht so merkwürdige Zwischenrufe angebracht hätten, wäre das sicherlich auch gelungen, aber so war es nicht zu erreichen. Ich wollte mich jetzt noch einem anderen Punkt zuwenden, nämlich der Rentenpolitik. Nirgendwo ist der unseriöse und unsoziale Charakter der Politik der CDU/CSU/FDP-Koalition augenfälliger als in der Rentenpolitik. ({28}) - Das will ich Ihnen jetzt beweisen. Hier steht die Regierung praktisch vor dem Bankrott. Nun sagt Herr Blüm, dies sei unglaublich, dies gehöre in die Kategorie „Verängstigung der Rentner". ({29}) Das macht er nun selbst. Das, was er uns immer angedichtet hat, entwickelt sich bei Ihnen als handfeste Gefahr. Darüber möchte ich im Moment mit Ihnen reden, weil Herr Blüm es versäumt hat, Sie darüber aufzuklären, was auf uns alle zukommt. ({30}) Dies hat er einfach verschleiert, dies hat er einfach nicht dargestellt. Ende nächsten Jahres wird es in den Rentenkassen wieder einen Fehlbetrag von 1 bis 2 Milliarden DM geben. Über die Ursachen kann man sich streiten. Dies ist ein Faktum. Noch schlimmer steht es mit der Liquidität. Die flüssigen Mittel werden im nächsten Jahr buchstäblich bis zum letzter Heller aufgebraucht sein. ({31}) - Ich kann Ihnen nur sagen: Dies ist ein einmaliger Zustand. Unter der sozialliberalen Koalition wurde ein solcher Zustand nicht erreicht ({32}) Das heißt, der Liquiditätsbedarf könnte im Herbst nächsten Jahres 6 Milliarden DM betragen. ({33}) - Daß gerade Sie mir das sagen, Herr Jagoda, finde ich geradezu spaßig. Sie sind ein Spaßvogel. ({34}) Das heißt, wenn nicht erneut saniert wird, ist die Rentenversicherung zahlungsunfähig. Natürlich wird saniert. Diese Regierung war im Sanieren immer groß und wird im Sanieren auf Kosten der Rentner auch immer groß sein. Da habe ich gar keine Bedenken; ({35}) nicht, daß die Leute nicht ihre Rente bekommen, aber es ist doch die Frage, auf welchem Niveau sie ihre Rente bekommen. Das ist der Punkt. ({36}) Dies alles geschieht - das ist das Interessante - nach den enormen Sparopfern, welche die Regierung den Rentnern bereits abverlangt hat. ({37}) Nach unserer Meinung trifft die Schuld daran allein die Regierung selbst. Die Regierung hat die Probleme selbst verursacht. Sie hat - ich wiederhole es - 5 Milliarden DM jährlich aus den Rentenkassen in den Bundeshaushalt abgezweigt, indem sie die Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosen, welche die Bundesanstalt für Arbeit zu zahlen hat, mehr als halbierte. Grundlage ist ja die Sozialleistung, die viele nicht mehr bekommen. Deswegen scheiden sie auch aus. Aber denen, die diese Leistung noch bekommen, werden die Beiträge auf der Ebene dieser Sozialleistungen gezahlt. Aber sie bekommen - das hat Herr Cronenberg angesprochen - trotzdem eine Leistung im Rahmen eines Leistungsrechts, das sich auf viel höherem Niveau befindet als ein Beitrag entsprechend der Leistung der Sozialleistung.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, darf ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ein gewaltiges Problem. Ich kriege keine Redeverlängerung?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben sie schon bekommen, Herr Abgeordneter.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe sie schon bekommen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Von Ihrer Fraktion.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut, dann will ich jetzt auch Schluß machen. Ich will damit sagen, daß die Frage der Finanzierung der Rentenversicherung unlösbar zusammengehört mit der Finanzierung der Bundesanstalt für Arbeit und mit der Finanzierung der Leistungen, die die Rentenversicherung für Arbeitslose aufbringen muß. Wenn Sie dieses Problem nicht lösen, werden Sie immer ein Finanzierungsproblem haben: einmal bei der Bundesanstalt für Arbeit und einmal bei der Rentenversicherung.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, das war ein guter Schlußsatz; ich finde, wir sollten damit Schluß machen.

Eugen Glombig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000690, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich empfehle Ihnen: Machen Sie wenigstens die Rentenversicherung konjunkturabhängig und geben Sie ihr die Möglichkeit, ihren Verpflichtungen durch Zahlung von Beiträgen für die Arbeitslosen nachzukommen. Schönen Dank. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Schlatter.

Günter Schlatter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001977, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die Sozialpolitik gibt, denke ich, Anknüpfungspunkte für einige steuerpolitische Bemerkungen; denn mindestens nach unserem, dem sozialdemokratischen Verständnis hat Steuerpolitik ja auch etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. ({0}) Im Finanzplan der Bundesregierung, den wir ja nun auch in der ersten Lesung behandeln, wird die geplante Steuerreform als eine soziale Wohltat angekündigt; denn dort heißt es j a: Erst haben wir konsolidiert - sprich: Sozialabbau betrieben -, und nun können wir das, was übrigbleibt, im Rahmen eines Steuerentlastungsprogramms neu verteilen. Die Frucht der Konsolidierung ist sozusagen die Steuerreform. Ich will zu dieser Behauptung eine Meinung neben anderen zitieren. Ich will in diesem Zusammenhang die „Wirtschaftswoche" zitieren, die in ihrer heutigen Ausgabe schreibt: „Was hier herausgekommen ist in der Bemühung der Regierungskoalition und der Bundesregierung, ist kein Jahrhundertwerk, es ist ein schwindsüchtiger Wechselbalg geworden." ({1}) Das ist das Zitat aus einem Blatt, das sicherlich nicht den Oppositionsparteien nahesteht, sondern in der Vergangenheit sehr viel Sympathie für die Regierungspolitik bekundet hat. Dieses Urteil der „Wirtschaftswoche" steht nicht allein, sondern reiht sich ein in viele Urteile der Fachwelt. Ich denke, dieses Urteil kann auch belegt werden, z. B. im Zusammenhang mit dem Stichwort heimliche Steuererhöhungen. Der Finanzplan nennt ein Entlastungsvolumen von 20,2 Milliarden DM, das bei der Lohn- und Einkommensteuer geplant ist. Dieses Ziel soll bis 1988 erreicht werden. Im gleichen Zeitraum wird das Lohnsteueraufkommen um 70 Milliarden DM auf 196 Milliarden DM ansteigen. Das sind 60 % mehr. Die Arbeitnehmereinkommen wachsen in diesem Zeitraum bis 1988 um 30 %; so jedenfalls die Vorausschätzungen. Jetzt kommt der wichtige Punkt: Rechnerisch müßte also die Lohnsteuer 1988 um mindestens 30,5 Milliarden DM gesenkt werden, wenn man die Belastung nur auf das Niveau des Jahres 1982 zurückführen wollte. ({2}) - Was wir gemacht haben, werde ich Ihnen gleich erzählen. - Hinter diesen Ziffern verbirgt sich das bekannte Problem der heimlichen Steuererhöhungen. Das heißt letztlich, daß die öffentlichen Haushalte bis zum Einsetzen der versprochenen Steuerreform, aber auch darüber hinaus in erheblichem Umfange über die Einnahmeseite saniert werden, Herr Bundesfinanzminister, und zwar vor allem auf dem Rücken der Lohnsteuerzahler. Die geplanten steuerlichen Entlastungsmaßnahmen finanzieren sich nicht nur selbst, sondern viele Milliarden der heimlichen Steuererhöhungen bleiben Verfügungsmasse für die öffentlichen Haushalte. Nun will ich Ihnen nicht vorenthalten, Herr Bundesfinanzminister, daß Sie die heimlichen Steuererhöhungen zur Verringerung der Haushaltsdefizite nutzen. Das haben auch - damit komme ich auf das Stichwort zurück - sozialliberale Bundesregierungen vor Ihnen getan. Die SPD-geführten Regierungen haben aber auch immer wieder. Senkungen der Lohn- und Einkommensteuertarife vorgenommen. Allein die von 1977 bis zum Ende der von uns geführten Bundesregierung beschlossenen Steuerentlastungsmaßnahmen ergeben bis heute ein Entlastungsvolumen von netto - ich betone: netto -33 Milliarden DM jährlich. Der damaligen CDU/CSU-Opposition war das alles nicht ausreichend. Sie haben unter dem Schlagwort von den heimlichen Steuererhöhungen eine massive Kampagne betrieben, bei der sich vor allen Dingen der jetzige Parlamentarische Staatssekretär Dr. Häfele hervorgetan hat. Ich bedaure, daß er nicht da ist, weil ich ihm etwas entgegenhalten will. ({3}) Die Feststellung, die er heute in einer schriftlichen Antwort auf eine Abgeordnetenanfrage trifft, das Problem der heimlichen Steuererhöhungen sei dank der Erfolge der Konsolidierungspolitik weitgehend entschärft, und die von der Bundesregierung vorgesehene Entlastung sei deshalb eine reale Steuersenkung zugunsten der Steuerzahler, ist j a schlicht falsch. Sie ist falsch, und sie ist eine Propagandaformel. Diese Feststellung, die Herr Häfele in der Antwort auf eine Frage getroffen hat, wird z. B. durch die Tatsache widerlegt, daß selbst nach dieser versprochenen größten Steuersenkung aller Zeiten die niedrigere reale Steuerbelastung des Jahres 1982 für die Lohnsteuerzahler nicht erreicht wird. Das heißt, die Belastung der Arbeitnehmer mit Steuern und Abgaben wird auch 1988 höher sein als jemals zu Zeiten der sozialliberalen Koalition. Das sage ich mit Blick auf Ihre Frage vorhin, Herr Kollege, was wir in der Regierungsverantwortung getan haben. Daß diese Belastung höher ist als jemals zu Zeiten der sozialliberalen Koalition, ist ein trauriger Rekord für eine Bundesregierung, die versprochen hat, die Steuerlast zu senken. An die Adresse des Herrn Häfele sei im übrigen gesagt: Wenn Sie schon diesen Fakten, soweit sie die SPD vorträgt, widersprechen, so hoffe ich, daß Sie nicht widersprechen, wenn der bayerische Ministerpräsident Strauß - das hat er im Mai 1984 in einer ZDF-Sendung getan - feststellt: Wir verstehen unter Steuerreform die ganze oder teilweise Nicht-mehr-Erhebung der sogenannten heimlichen Steuererhöhungen. Das ist klar, das ist eindeutig. Das ist genauso klar und eindeutig wie das Eingeständnis von Graf Lambsdorff in der „Süddeutschen Zeitung" vom 31. August 1984, die geplante Steuerreform gleiche die heimlichen Steuererhöhungen nicht aus. ({4}) Dem habe ich nur hinzuzufügen, daß sich die Union in unterschiedlicher Verantwortung schwertut. Die Wahrheit ist parteiisch - dieses Wort von Bertold Brecht bestätigt sich heute wieder einmal durch die Haltung der Union. Der Zynismus, mit dem nun all das, was Herr Häfele, der Bundesfinanzminister, die Union in den Jahren der Opposition an Grundsätzlichem in der Steuerpolitik vorgetragen haben, zum ideologischen Papperlapapp erkärt wird, ist an unserer Debatte schon bemerkenswert. ({5}) Im übrigen: Warum verschleiern Sie, Herr Bundesfinanzminister, eigentlich den Zusammenhang zwischen heimlichen Steuererhöhungen, Haushaltskonsolidierung und Steuerreform? Ich will es Ihnen sagen: Wenn Sie sich zu den Fakten bekennen, müßten Sie nämlich gleichzeitig zugeben, daß Sie Ihre selbstgefällig vorgetragenen Erfolge aus den Taschen der kleinen Leute finanzieren. Sie müßten gleichzeitig zugeben, die Steuer- und Sozialabgabenlast für die Durchschnittsverdiener in nie gekannte Höhen getrieben zu haben. Sie müßten zugeben, daß Sie die Opfer- und Leistungsbereitschaft der kleinen Leute in unserem Lande schamlos ausnutzen. ({6}) Ich will das auch mit einem Beispiel aus Ihrer eigenen Entlastungsrechnung belegen. Vorrangiges Ziel - dies will ich als Meinung der SPD vorwegschicken - einer Tarifreform muß es sein, ein Abflachen vor allem in den unteren Progressionszonen zu erreichen. Dort befinden sich die meisten der progressiv besteuerten Steuerpflichtigen. Außerdem steigt dort die Grenzbelastung am stärksten. Ich füge allerdings hinzu: Es muß auch für die Bezieher niedriger Einkommen natürlich einiges übrigbleiben; denn auch dort hat in den letzten Jahren der reale Einkommenszuwachs abgenommen. Auch dort hat die Sozialabgabenlast kräftig zugenommen. Was geschieht nun tatsächlich? Was planen Sie? Die Steuerentlastung für ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem - zugegeben - SpitzeneinkomSchlatter men von 300 000 DM beträgt ab 1986 durch das, was Sie vorhaben, bei der Tarifreform 3 200 DM im Jahr, beim Kinderfreibetrag 1 630 DM. Ich addiere den Wegfall der Investitionshilfeabgabe ab 1985 in Höhe von 6 913 DM hinzu. Sie entlasten also ab 1986 dieses Spitzeneinkommen jährlich mit 12 000 DM, also monatlich mit 1 000 DM. Dagegen steht meinethalben das Ehepaar mit zwei Kindern, aber mit einem monatlichen Einkommen von nur 1 660 DM, also sehr wohl ein Durchschnittseinkommen. Die vergleichbare Jahresentlastung beträgt 784 DM, also monatlich 65 DM. 1 000 DM beim Spitzeneinkommen monatlich, 65 DM beim Durchschnittseinkommen! Das sind nicht Zahlen, die ich gerechnet habe. Sie haben sie gerechnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, allerdings bisher nicht dem Parlament. Ich wäre dankbar, Herr Bundesfinanzminister, wenn auch das Parlament endlich nicht nur die Eckdaten der Tarifreform, sondern das ausgerechnete Ergebnis Ihrer Pläne auf den Tisch bekäme. ({7}) Wenn man die Fakten zusammenzählt, dann bleibt folgendes festzustellen:

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wartenberg?

Günter Schlatter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001977, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber bitte, natürlich.

Dr. Ludolf Georg Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schlatter, bin ich richtig informiert, daß das eine parlamentarische Anfrage des Kollegen Spöri war und daß das Parlament mit der Beantwortung durch den Finanzminister auch diese Information bekam?

Günter Schlatter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001977, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Sie liegen nicht richtig mit dieser Aussage. Ich habe aus der Pressemitteilung des Bundesfinanzministers zitiert, in der die Berechnungsbeispiele der Öffentlichkeit dargestellt worden sind. Es waren Einzelbeispiele. Ich reklamiere hier nicht Einzelbeispiele, sondern ich möchte endlich einmal die gesamten Fakten der Tarifreform auf dem Tisch des Parlaments haben, damit man über die Beispiele, die Sie bisher willkürlich herausgegriffen haben und die schlimm genug sind, auch einmal parlamentarisch reden kann. ({0}) Jetzt komme ich zu den Fakten, die ich aufzählen will. Die in den Jahren 1983 und 1984 beschlossenen Haushaltsgesetze und Haushaltsbegleitgesetze des Bundes waren durchgängig nach einem Rezept gestrickt: Wenige werden begünstigt, während die große Mehrheit der Bevölkerung mehr bezahlen soll. Das wird jetzt fortgesetzt durch eine Steuerreform, die im Kern eine der größten ungerechten Umverteilungsaktionen zum eigentlichen Gegenstand hat. Das führt übrigens dazu, daß diese Steuerreform sehr viel stärker zu Lasten der Länderhaushalte und der kommunalen Bereiche finanziert wird als zu Lasten der Bundeskasse. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Familienlastenausgleich machen. Er hat j a in der heutigen Debatte eine Rolle gespielt. Sie sagen, Prunkstück Ihrer Steuerreform soll die Neuordnung des Familienlastenausgleichs werden. Sie verschweigen dabei, daß durch die Haushaltsbegleitgesetze 1983 und 1984 die Familien jährlich um über 2,5 Milliarden DM geschröpft werden. Rechnet man die Einsparungen beim Kindergeld durch die demographische Entwicklung hinzu, so ist das fast der Betrag, den Sie nun den Familien zurückgeben wollen. Aber - das ist entscheidend - Sie geben nicht dort zurück, wo Sie vorher genommen haben. Profiteure sind auch hier wieder die Spitzenverdiener, die über Kinderfreibeträge ein Vielfaches dessen erhalten, was Sie dem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt mit Kindern zukommen lassen wollen. Auch hierzu ein Beispiel: Ein Arbeitnehmerhaushalt mit monatlich 3 300 DM Einnahmen müßte es auf acht Kinder bringen, um die Entlastung zu erreichen, die Sie für Spitzenverdiener mit monatlich 25 000 DM bei nur einem Kind vorgesehen haben. Acht Kinder beim Durchschnittshaushalt gegenüber einem Kind beim Haushalt der Spitzenverdiener! So betreiben Sie den Familienlastenausgleich. Im Wahlkampf haben die Unionsparteien die Kappung des Kindergeldes für höhere Einkommen als große soziale Tat gefeiert. Diese Kappung soll offenbar auch zukünftig bestehen bleiben. Aber die Behauptung, sie werde nur ergänzt durch Kinderfreibeträge, ist irreführend. Diese Behauptung soll verschleiern - das wird Ihnen aber nicht gelingen -, daß die Bundesregierung in Wirklichkeit beabsichtigt, die Kappung des Kindergeldes unwirksam zu machen. Ihr steuerpolitisches Prunkstück, der Familienlastenausgleich, entpuppt sich mehr und mehr als eine Mogelpackung. Nun reizt das Thema, auch noch ein paar Bemerkungen zur Steuervereinfachung zu machen. Denn auch die haben Sie sich auf die Fahnen geschrieben. ({1}) - Herr Geißler, wenn Sie „Propaganda" schreien, dann muß ich sagen: Ich war sehr enttäuscht, daß Sie heute morgen nichts anderes geleistet haben, als auf den Beitrag, den Herr Apel in diesem Zusammenhang gestern hier vorgetragen hat, zu sagen, er habe mit falschen Zahlen operiert. ({2}) Wenn Sie in die Vorlagen der Bundesregierung schauen und die Antwort des Bundesministers am Anfang lesen, finden Sie die Zahlen, die ich verwende und die Herr Apel verwendet hat. Und wenn Sie sagen, sie sind falsch, müssen Sie sich an den Bundesfinanzminister halten, aber nicht an die SPD-Opposition. ({3}) Ich. fasse zusammen und komme zum Resümee: Auch wir Sozialdemokraten sehen steuerpolitischen Handlungsbedarf. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie?

Günter Schlatter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001977, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Nicht mehr. Meine Redezeit ist abgelaufen. Auch wir sehen Handlungsbedarf. Bei der Tarifreform geht es aus unserer Sicht um ein Abflachen der Grenzbelastung vor allem in der unteren Progressionszone und um eine kräftige Aufstockung des Grundfreibetrags. Das hilft mindestens zwei Dritteln der privaten Haushalte. Beim Familienlastenausgleich bleiben wir bei der Konzeption des für alle gleich hohen Kindergelds, das wir an Stelle der von Ihnen wieder eingeführten Kinderfreibeträge natürlich erhöhen wollen und erhöhen müssen. Im übrigen wiederholen wir unsere Vorschläge auf Einführung einer Ergänzungsabgabe und auf Kappung des Ehegattensplittings. Das alles sind für uns Elemente einer steuerpolitischen Strukturreform, die einer wirklichen Politik der Arbeitsplatzsicherung und des Umweltschutzes eine neue finanzpolitische Schwungkraft verleihen würden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Wartenberg.

Dr. Ludolf Georg Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehrter Herr Kollege Schlatter, Sie sind neugewählter stellvertretender steuerpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion. Im Rahmen des Amtes, in das Sie neu gewählt wurden, haben Sie natürlich das Bedürfnis, Aktivität zu zeigen und das vorgezogen haben zu wollen, was in der ersten Lesung erst im Dezember dieses Jahres kommt, nämlich die Aussprache in diesem Hause über das, was Sie zitiert haben, nämlich das Steuerentlastungsgesetz mit dieser deutlichen Steuersenkung. Erlauben Sie mir, einige grundsätzliche Anmerkungen zu dem zu machen, was Sie hier ausgeführt haben. ({0}) - Es war schon so im Detail, daß wir das an Hand der Zahlen, die uns rechtzeitig zugestellt werden, sehr gründlich beraten werden. Wenn Sie, lieber Herr Schlatter, zwischen dem, was wir in der Opposition gesagt haben, und dem, was wir heute nur tun können, einige Widersprüche entdecken, dann liegen sie darin, daß das Desaster in den Finanzen noch wesentlich größer ist, als wir damals vermutet haben. ({1}) Wenn man Finanzpolitik, in diesem Fall Steuerpolitik, betreibt, dann sollte man sich zumindest vier Grundregeln der Finanzpolitik vor Augen halten. Die erste bei der gesamten Betrachtung ist, daß man nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt. ({2}) Die zweite ist, daß man, wenn man die Einnahmen des Staates verstärken will, umgekehrt die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft und die Steuerquellen des Staates stärken muß. Daraus folgt, als dritte Grundregel für die Steuerpolitik, daß sie nur dann sachgerecht ist, wenn sie an die Leistungsfähigkeit anknüpft. Beispiel: Ein Ehepaar ohne Kinder ist steuerlich leistungsfähiger als ein Ehepaar mit Kindern. Wenn man Steuerpolitik macht, muß man - die vierte Grundregel - natürlich auch die Grundrechenarten beherrschen: Addition, Prozentrechnung u. ä. Da kommt man zu dem einfachen Ergebnis, daß 5 % von 30 000 DM wesentlich mehr sind als 10 % von 10 000 DM; für die, die nicht folgen können: im einen Fall 1 500 DM und im anderen Fall 1 000 DM. ({3}) - Also wenn ich um Prozentsätze senke und die Leistungsfähigkeit berücksichtige, wird der Prozentsatz, und sei er noch so gering, immer zu anderen absoluten Beträgen führen. Aber wer das nicht beherrscht, appeliert eben an den Neidkomplex und versucht, Demagogie zu machen, und vermißt dann die sachgerechte Politik. Wer als Steuergesetzgeber diesen Regeln nicht folgt, der verhält sich doch wie eine Räuberbande, die bald diesen und bald jenen anfällt. ({4}) - Herr Spöri, ich hatte nicht vor, die Debatte lange zu verlängern. Lassen Sie mich das zu Ende führen. Wir haben die erste Lesung im Herbst dieses Jahres. ({5}) Wenn Sie die Frage der Finanzierung dieses Steuerentlastungspakets ansprechen, die gesamten 12 Jahre Ihrer Regierungszeit zusammenfassen und dort nur die Steuerentlastung herausstellen, sei es erlaubt, einmal darauf hinzuweisen, daß es nie eine Steuerentlastung gegeben hat, die nicht durch andere Steuererhöhungen gegenfinanziert wurde. Das Einkommensteuerreformgesetz von 1974 wurde durch den Abbau der Sparförderung und Vermögensteuer mit 3 Milliarden DM gegenfinanziert, das Einkommensteuergesetz 1976 wurde durch die Erhöhung von Tabaksteuer und Branntweinsteuer in Höhe von 1,6 Milliarden DM gegenfinanziert, das Steueränderungsgesetz 1977 wurde durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer in Höhe von 6,2 Milliarden DM gegenfinanziert, und das Steuerentlastungsgesetz 1980 wurde durch Mineralöl- und Branntweinsteuererhöhungen in Höhe von 3,8 Milliarden DM gegenfinanziert. Insoweit haben Sie dieses Parlament niemals mit einem Gesetz konfrontiert, das, wie es in unserem nun deutlichen Versuch eindeutig der Fall ist, eine klare Steuerentlastung vorsieht. ({6}) Wenn Sie das Gesamtpaket bewerten, dann wäre es in der Aussprache zum Haushalt und zur mittelfristigen Finanzplanung auch richtig, den Gesamtzusammenhang zu sehen, der auch für die Steuerpolitik gilt. Dieser Gesamtzusammenhang, steuerpolitisch, finanzpolitisch, läßt sich an drei Punkten charakterisieren. Zunächst kam es uns darauf an, dafür zu sorgen, daß die darniederliegende Wirtschaft in Gang gebracht werden kann, und die jetzigen Ergebnisse zeigen, daß dies auch mit einem Dutzend kreditfinanzierter Beschäftigungsprogramme nicht so wie mit den in den vergangenen Jahren verabschiedeten Steuerentlastungsgesetzen erreicht worden wäre. Der zweite Punkt ist, daß wir von vornherein als zweiten Schritt vorgesehen haben, die steuerliche Benachteiligung der Familien mit Kindern zu beseitigen. Was wir vorschlagen, ist das klassische duale System in der steuerlichen Berücksichtigung von Kindern, einmal ein Freibetrag in Höhe von rund 2 400 DM und zum anderen mit einer deutlichen sozialen Komponente versehene Kindergeldzahlungen, die ab 1986 so verbessert werden, daß für die Geringverdienenden, bei denen die erhöhten steuerlichen Kinderfreibeträge nicht so voll zum Tragen kommen, ein Kindergeldzuschlag von rund 45 DM gewährleistet ist. ({7}) Wenn man das mit dem dann sich aus dem Mutterschaftsgeld entwickelnden Erziehungsgeld für fast ein Jahr zusammennimmt, ist das ein deutlicher Schritt in Richtung auf den zweiten Punkt, nach dem Ingangsetzen der Wirtschaft, nämlich die Familienpolitik zu verbessern, Berücksichtigung von Kindern, Förderung und Beachtung der Belastungen, die eine Familie mit Kindern hat, zumindest so weit, wie es finanzpolitisch überhaupt zu verantworten ist. Als Drittes - das steht auch in der Regierungserklärung - das Bemühen, die Einkommen- und Lohnsteuertarife deutlich zu senken. Ich darf Ihnen ganz offen sagen: Was jetzt vorgelegt wird, ist keine Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs, ({8}) aber was sich jetzt als größte Entlastung in der Geschichte der Bundesrepublik abzeichnet, ist ein Schritt in die Reform. ({9}) Denn wenn wir den Haushalt in den nächsten Jahren weiter so vorsichtig fahren und in der Wirtschaft mit einem derartigen Erfolg weiterarbeiten können, dann ist dieser erste Schritt durch einen zweiten und gegebenenfalls einen dritten Schritt in eine echte Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifen zu transferieren. Darunter verstehe ich z. B. eine lineare Kurve im progressiven Bereich. ({10}) Das ist in zwei Schritten für 1986 und 1988 geplant. Wenn Sie diese drei Punkte zusammenfassen, Erfolg in der Wirtschaftspolitik, z. B. geringere Zinsbelastung, deutliche familienpolitische Komponente, Kinderfreibeträge, Kindergeld, Erziehungsgeld, und die Tarifentlastung, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß und viel Staunen bei den Rechnungen, die dann im Vergleich zu dem herauskommen, was gewesen wäre, wenn wir so weitergemacht hätten, wie Sie das getan haben. ({11}) Aber eines dürfen wir auch ganz offen bekennen: Natürlich gelingt es uns angesichts der Haushaltslage nicht, die heimlichen Steuererhöhungen voll zurückzuzahlen. Das haben wir auch niemals gesagt. ({12}) Es wäre wünschenswert. ({13}) wenn die heimlichen Steuererhöhungen total zurückgezahlt werden könnten. ({14}) In unseren Oppositionsjahren haben wir das immer wieder gefordert. ({15}) Ich habe gleich am Anfang gesagt, daß das Desaster wesentlich größer war, als wir vermutet hatten. Insoweit gelingt es uns nicht, die heimlichen Steuererhöhungen total zurückzuzahlen, aber wir gehen einen deutlichen Schritt zurück, und wenn wir am Ende des Jahres 1986 oder 1987 feststellen, daß die gesamtvolkswirtschaftliche Steuerquote nicht wesentlich höher ist als zu der Zeit, in der wir die Regierung übernommen haben, nämlich im Jahre 1982, ist das angesichts der bis dahin erfolgten Haushaltssanierung ein großartiger Erfolg. ({16})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich zu den Grundlagen des Haushalts, den wir hier heute diskutieren, zurückkomme, nämlich zur wirtschaftlichen Situation. Wir haben ja nach der Planung noch ein wenig Zeit übrig, und deshalb möchte ich dazu noch einige Anmerkungen machen. Die Regierungskoalition lobt natürlich insbesondere die Neuverschuldung von 24 Milliarden und weist auf die niedrigen Preissteigerungsraten hin. Es ist Ihr gutes Recht, daß Sie die positiven Seiten herausheben; es ist unsere Pflicht, gewissermaßen auf die schwierigen Probleme hinzuweisen, die wir eben auch haben und nicht verschweigen dürfen. Ich weiß nicht, ob man die Neuverschuldung von 24 Milliarden so loben kann. Sie ist ganz zweifellos niedriger als früher, aber im nächsten Jahr steigt sie, so habe ich gesehen, wieder auf 26 Milliarden an, und die Bundesbankgewinne von 10 Milliarden sind ja auch ein Beitrag dazu gewesen, die Neuverschuldung so zu reduzieren. ({0}) Die CDU lobt jetzt vor allem die geringen Preissteigerungen im laufenden Jahr. Wir begrüßen sie ebenfalls. Erlauben Sie mir aber, darauf hinzuweisen, daß wir im Jahre 1967/68, als Sozialdemokraten die Wirtschaftspolitik bestimmten, das ganze Jahr über Preissteigerungen von unter 2 % hatten. ({1}) Nach heutigem Maßstab hatten wir damals aber absolute Vollbeschäftigung. Erkauft wurde die positive Preisentwicklung in diesem Jahr durch erhebliche Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften bei stark sinkenden Lohnstückkosten und bei einer Arbeitslosenzahl von 2,1 Millionen im Sommer dieses Jahres. ({2}) Das ist eine erschreckende Entwicklung. ({3}) Meine Damen und Herren, seit Herbst 1982, seit Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben, hat die Zahl der Arbeitslosen um weitere 400 000 Menschen zugenommen, und dabei ist die Zahl der Arbeitslosen eher zu niedrig als zu hoch angesetzt. Viele Arbeitsuchende melden sich erst gar nicht mehr beim Arbeitsamt, weil es doch keinen Zweck hat, weil sie resigniert haben. Inklusive der Dunkelziffer an Arbeitsuchenden, die wir eben haben, muß festgestellt werden: Wir haben bereits heute eine Arbeitslosenzahl von rund 3 Millionen, und das macht verständlicherweise große, sehr große Sorgen. Viele Menschen in den Betrieben haben Angst, haben große Angst um ihren Arbeitsplatz. Allein in meinem Wahlkreis gibt es vier Unternehmen, die bereits weitere Entlassungen angekündigt haben. ({4}) Die Lage ist also leider nicht dazu angetan, so, wie Sie es machen, große Hoffnungen zu erwecken. Der Zuwachs des Bruttosozialprodukts wird in diesem Jahr 2,5% betragen. Das ist nicht schlecht. Im nächsten Jahr wird er aber - das sind seriöse Schätzungen - geringer ausfallen. Die Bundesregierung rechnet im mittelfristigen Trend, bis 1988, ebenfalls mit einer Steigerungsrate von 2,5 % p. a. Ich frage mich: Wie ist das möglich? Haben Sie möglicherweise durch Regierungsbeschluß den Konjunkturzyklus abgeschafft? Es ist doch damit zu rechnen, daß ab 1986 wiederum eine Abschwung-phase einsetzt, so daß Sie, da Sie in diesem Jahr nur 2,5% haben, niemals auf 2,5% im Durchschnitt kommen werden. Viel, sehr viel hängt vorn Export ab - das gebe ich gerne zu -, aber der verspricht erheblich abzunehmen, wenn die Vereinigten Staaten darangehen, ihr Haushaltsdefizit zu verringern. In dem Moment wird auch der Dollarkurs deutlich nach unten gehen, und in dem Moment werden die Exporte der Bundesrepublik Deutschland erheblich abnehmen. Machen Sie sich doch nichts vor; es hat doch keinen Zweck. Der private Verbrauch in unserem Lande stagniert. Wo sollte auch eine Steigerung herkommen? Die Löhne steigen j a real auch nur minimal. Aber viele Einzelhändler in diesem Lande wissen das ganz genau. Ihr Umsatz steigt eben nicht mehr, sondern ist in der letzten Zeit zurückgegangen. Erlauben Sie mir einige wenige Anmerkungen zum Haushalt '85. Über ihn ist bereits viel gesagt worden. Ich möchte zwei Dinge kritisieren, nur zwei Dinge, die mir wichtig erscheinen. Der Haushaltsansatz trägt nicht zu Wachstum und zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei. Bei einer Steigerung von 1,2 % und einem Wachstum des Sozialprodukts von 2,5 wirkt er zwingend kontraktiv. Für uns ist jedoch Finanzpolitik nach wie vor ein wichtiges Mittel der Konjunkturpolitik. ({5}) Sie reden außerdem viel - Herr Cronenberg - über den Abbau von Subventionen. Da wird aus allen Reihen lautstark getönt. Einige neuere Subventionszahlungen und Steuergeschenke hätten jedoch ohne Erhöhung der Neuverschuldung konjunkturwirksam und arbeitsplatzerhaltend ausgegeben werden können. Die enormen Zahlungen von Agrarsubventionen an landwirtschaftliche GroßbeDr. Jens triebe haben meines Erachtens die Kompetenz, die Durchsetzungsfähigkeit und die Glaubwürdigkeit von Finanzminister Stoltenberg erheblich reduziert. Meine Damen und Herren, in der Bauwirtschaft - fragen Sie mal die Bauunternehmen; wir sind ja von der Bauindustrie und vom Baugewerbe gerade angeschrieben worden - arbeiten zur Zeit 1,1 Millionen Menschen, und der zuständige Minister Schneider hat angekündigt, es würden 1988 200 000 weniger sein. 200 000 Arbeitslose mehr kommen allein aus der Bauwirtschaft. In diesem Jahr hat die Bauwirtschaft 2 000 Firmenzusammenbrüche zu verzeichnen, im Aufschwungsjahr 1984! Das ist die höchste Zahl an Firmenzusammenbrüchen, die jemals in der Bauwirtschaft aufgetreten ist. Das sind Tatsachen, die können Ihnen auch andere erzählen. Herr Herion, der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, wird Ihnen das bestätigen. 60 % der Aufträge kommen aus dem Bereich der öffentlichen Hand. Dabei soll aber keiner behaupten, im Baubereich gäbe es nichts mehr zu tun. Ich meine, es gibt da noch viel zu tun, sehr viel Arbeit. Es geht im Baubereich um die Verbesserung des Wohnumfeldes, um die Modernisierung alter Häuser, um die Schaffung beruhigter Zonen, um die Entschärfung von Kreuzungen oder um den Bau von Bahnübergängen und dergleichen mehr. Ich hoffe, dieser Regierung ist klar, daß die Güter, die in diesem Jahr nicht produziert werden, nicht etwa im kommenden Jahr zusätzlich produziert werden können. Was einmal an Bruttosozialprodukt ausgefallen ist, kann nicht durch verstärkte Arbeit nachgeholt werden. Ein Wort zur europäischen Stahlindustrie. Sie leidet aus meiner Sicht noch immer unter erheblichen Strukturveränderungen. Aber Ursache für diese Strukturveränderungen sind die weltweite Arbeitsteilung, neue Ersatzprodukte und die wettbewerbsverzerrenden Subventionen in anderen EG-Ländern. Ich finde, es ist völlig abwegig, wenn Regierungspolitiker versuchen, dem Land NordrheinWestfalen die Schuld an dieser Krise in der Stahlindustrie zuzuschieben. Das geht beim besten Willen nicht. Wir Sozialdemokraten begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich das Positionspapier der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie: Die Subventionszahlungen in Europa müssen Ende 1985 endgültig abgebaut sein. Die Bundesregierung muß vorher dafür sorgen, daß der vereinbarte Kapazitätsabbau von allen europäischen Ländern eingehalten wird. Es war aus meiner Sicht bereits ein Fehler, daß der damalige Wirtschaftsminister diesem Subventionsunwesen zugestimmt hat. Aber ich sehe die Sachzwänge, unter denen er stand. Jetzt muß die Bundesregierung die Einhaltung der Absprachen garantieren. Wir werden auf dieses Thema zurückkommen. ({6}) Leider müssen wir befürchten, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung die einmal gemeinsam getragene Kohlevorrangpolitik langsam, aber sicher aufgibt, Herr Spies. Wir Sozialdemokraten finden uns nicht damit ab, daß die Investitionshilfen für den Bergbau im Haushalt 1985 erneut gekürzt werden. Wer Vorrang für umweltfreundliche Kohle will - und wir wollen das -, der muß dafür sorgen, daß die Fernwärme weiterhin ausgebaut werden kann. Aber zusätzliche Hilfen werden hier bedauerlicherweise nicht zur Verfügung gestellt. ({7}) Seit jeher erbringt das Land Nordrhein-Westfalen auf diesem Felde erhebliche finanzielle Leistungen. Vorrang für die Kohle in der Energieversorgung ist im übrigen keine Verpflichtung eines einzelnen Landes, sondern das ist eine Aufgabe der Bundesregierung und des Gesamtstaates. Erlauben Sie mir ein Wort zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in der Ruhrkohle AG, die in der Öffentlichkeit viel Wirbel hervorgerufen hat. Ich meine, die Bundesregierung hat sich bei dieser Neuordnung nicht mit Ruhm bekleckert. Hier wird jetzt ein Produktionsunternehmen durch die Aktienmehrheit bei den Elektrizitätsversorgungsunternehmen völlig von seinen Abnehmern abhängig gemacht. Die vertikale Konzentration schreitet in diesem Bereich erneut weiter voran. Der Energiesektor wird weiter monopolisiert, eine Tendenz, vor der man nicht lautstark genug warnen kann. Ich meine auch, das Kartellamt muß, wenn es glaubwürdig bleiben will, dafür sorgen, daß diese Fusion ebenfalls abgemahnt wird. Meine Damen und Herren, die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich im nächsten Jahr nicht verbessern. Sie ist von vielen Rednern aus meiner Fraktion deutlich geschildert worden. Es ist schon dramatisch und erschreckend, wie wenig die Regierungskoalition über dieses brennende Problem Nummer 1 gesprochen hat. ({8}) Die regierungsamtlichen Optimisten handeln aus meiner Sicht leichtfertig, wenn sie immer wieder behaupten, das sei ein Problem, das sich von alleine löst. Es wird sich niemals von alleine lösen, und Ihre Politik führt mit Sicherheit nicht dazu, daß die Arbeitslosigkeit abnimmt, sondern sie wird weiterhin steigen. ({9}) Ich meine, mit Seelenmassage - wie sie von Ihnen praktiziert wird - und mit frommen Wünschen ist das Problem eben nicht zu lösen. Wer nur in Optimismus macht und den Unternehmen quasi Psychoquanten verabreicht, kennt nicht die ehernen Gesetze einer marktwirtschaftlichen Ordnung. ({10}) Notwendig sind neben dem Gewinn, der bei einigen schon wieder sprudelt, wesentlich niedrigere Zinsen und vor allem zusätzliche Nachfrage. Die fortgesetzte Demontage der sozialen Leistungen löst die Arbeitsmarktprobleme mit Sicherheit ebenfalls nicht. Notwendig wäre ferner eine zukunftsorientierte Innovations- und Technologiepolitik. ({11}) Nur wenn wir das Produktivitätsniveau der Volkswirtschaft insgesamt stärken, können wir uns steigende Löhne und hohe Sozialleistungen in der Zukunft erlauben. Besondere Anreize sind dabei notwendig für umweit- und sozialverträgliche Verfahren. Wir dürfen und können die Augen nicht davor verschließen, daß in Japan und in den USA, auch in Frankreich, massiv mit staatlichen Geldern Industriepolitik betrieben wird. Wer das ignoriert, verspielt die Zukunft unseres Landes. Die SPD-Bundestagsfraktion hat mit ihrer Initiative Arbeit und Umwelt den Weg aufgezeigt, wie die Probleme angepackt werden können. Hierunter fällt auch das von der nordrhein-westfälischen Landesregierung vorgeschlagene Bundesprogramm für Luftreinhaltung bei Kohlebetrieben in Feuerungsanlagen. Ziel des vorgeschlagenen Förderungsprogramms des Landes Nordrhein-Westfalen ist es, die notwendigen Umrüstungsersatzbauten zu beschleunigen und insbesondere zur Verringerung des Schwefeldioxids und des Stickoxids beizutragen. Die Initiative soll Innovationsanreize geben, um die größtmöglichen Emissionsminderungen durch fortschrittliche Verfahren mit geringstem Mitteleinsatz zu ermöglichen und darüber hinaus auch insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Kohle zu stärken. Eine umweltfreundliche Kohlepolitik ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, zu deren Lösung es einer nationalen Anstrengung bedarf, wie ich es schon hervorgehoben hatte. Vor allem in den Gemeinden - auch darauf hatte ich hingewiesen - sind viele Infrastrukturinvestitionen nötig, ja überfällig. Sie sind in der letzten Zeit auf Grund der Finanzlage sträflich vernachlässigt worden. Sie müssen in dieser Zeit angepackt werden. Die Kommunen haben ein Anrecht darauf, entsprechende Finanzmittel aus der konsumtiven Masse des Bundes zur Verfügung gestellt zu bekommen. Im übrigen verlangt die Lage auf dem Arbeitsmarkt entsprechend dem geltenden Stabilitäts- und Wachstumsgesetz nach einer Konzertierten Aktion. Wir Sozialdemokraten stehen für eine derartige Strategie des sozialen Konsenses. Alle Länder, die diese Strategie praktiziert haben, sind nachweisbar besser gefahren als andere. Wenn der neue Bundeswirtschaftsminister Bangemann diese Idee aufgreift, so ist das gut. ({12}) Aber wenn er gleichzeitig den Gewerkschaften möglicherweise mit einem Verbändegesetz droht, so ist das, gelinde gesagt, etwas sehr ungeschickt. Ich komme zum Schluß. Auch die Unternehmer wissen im übrigen mittlerweile, was sie an der früheren Regierung hatten. ({13}) Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Professor Rodenstock, meinte unlängst: Was wir brauchen, ist eigentlich eine langfristige Orientierung. - Selbst in der konservativen „Wirtschaftswoche" war in der vorigen Ausgabe zu lesen: Viele Unternehmer haben Sehnsucht nach Helmut. - Allerdings nicht dem jetzigen, sondern dem vorigen. Vielen Dank. ({14})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Spies von Büllesheim.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Jens, der beste Satz, den Sie gebraucht haben, war der: Der Bürger weiß inzwischen, was er an der alten Bundesregierung hatte. ({0}) Da stimmen wir Ihnen voll zu, nur in einem völlig anderen Sinne. Es ist ja, wenn man Ihre Rede gehört hat, ungemein erstaunlich, was dieser SPD so alles einfällt, nachdem sie 13 Jahre regiert hat und 13 Jahre gestalterische Möglichkeiten hatte. ({1}) Sie beschäftigen sich mit Umwelt und haben vorher nichts getan. Sie beschäftigen sich mit allen möglichen Fragen. Das muß doch dem Bürger als Wortgeklingel vorkommen, ({2}) denn auch der einfache Bürger wird doch fragen: Warum hat denn diese SPD diese schönen Gedanken, die doch alle so leicht zu verwirklichen sind und die jetzt eine geistige Leistung sind, die aber in der Vergangenheit eine politische Leistung hätten sein sollen, nicht verwirklicht? Sie haben auch von der Kohle gesprochen. Sie haben dazu gesagt, daß die Regierungsparteien dabei seien, die Kohlevorrangpolitik, die bis dahin gemeinsam war, aufzugeben. Herr Kollege Jens, das wird immer wieder behauptet, das wird immer wieder gesagt, das wird aber auch durch vielfache Wiederholung nicht richtiger. Ich weiß zwar auch, daß wir vor dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen stehen und daß Sie natürlich immer noch auf die Stimmen der Bergarbeiter hoffen. ({3}) Aber ob Sie diese Stimmen der Bergarbeiter mit falschen Behauptungen einfahren können, nämlich mit der Behauptung, daß die Kohlevorrangpolitik aufgegeben wird, halte ich für sehr zweifelhaft. Der Bergarbeiter wird Ihnen nicht vergessen, wie das mit Buschhaus war. ({4}) Der Bergarbeiter wird auch dem „Vorwärts", diesem Parteiblatt, nicht vergessen, was über den Bergarbeiterführer, nämlich über den Kollegen Adolf Schmidt, gesagt worden ist. Sie können beruhigt sein, denn es liegen mehrfach schriftliche Erklärungen dieser Bundesregierung vor - abgestimmt mit der IG Bergbau, abgestimmt mit den Regierungsparteien, getragen auch von den Landesregierungen -, daß die Kohlevorrangpolitik eben nicht aufgegeben wird. Sie haben auch von der Neuordnung der Eigentumsverhältnisse bei der RAG gesprochen. Sie haben beklagt, daß nunmehr die Kohleverbraucher, nämlich die Elektrizitätswirtschaft, einen bestimmenden Einfluß bei der RAG erhalten werden. Ich muß Sie daran erinnern, daß durch die gefundene Lösung ein Ergebnis verhindert worden ist, daß viel schlechter gewesen wäre: Das Land NordrheinWestfalen hätte sich nämlich mittelbar an der RAG beteiligt; ursprünglich war sogar geplant, daß es sich unmittelbar beteiligen sollte. Das aber hätte nun wirklich nicht im Interesse der Bergarbeiter, insbesondere nicht im Interesse des Landes Nordrhein-Westfalen gelegen. Es ist schon so, wie Sie gesagt haben: Die Kosten für die Kohlevorrangpolitik als einer Politik der Energiesicherung müssen bundesweit getragen werden. Dazu hätte es nicht gepaßt, wenn das Land Nordrhein-Westfalen bei der RAG, der bei weitem größten Gesellschaft, einen bestimmenden Einfluß bekommen hätte. Herr Jens, Sie machen sich auch ehrliche Sorgen um die Konjunktur. Sie sorgen sich, obwohl wir in diesem Jahr einen Zuwachs des Sozialprodukts von real 2,5 % zu verzeichnen haben. Ich glaube, das ist zumindest eine gute Grundlage. Darüber hinaus haben wir ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht und gleichzeitig auch Preisstabilität, so daß drei Forderungen des Stabilitäts- und Wachstums-Gesetzes erfüllt sind. Wenn Sie sich angesichts eines Wirtschaftswachstums von real 2,5 % Sorgen machen, dann muß man sich fragen, wo denn Ihre diesbezüglichen Sorgen waren, als Sie regiert haben. Ein solches reales Wachstum des Sozialprodukts hat es, wie Sie aus Ihrer Regierungszeit wissen, seit Jahren nicht mehr gegeben. Es gibt für die Politik der Bundesregierung wohl kein besseres und unabhängigeres Zeugnis als das Testat des Direktoriums des Internationalen Währungsfonds, das die in der Bunderepublik Deutschland erzielten Erfolge als das Ergebnis einer optimalen Kombination konsequent betriebener fiskalischer Konsolidierungspolitik, flexibler Geldpolitik und systematischer Strukturanpassung bezeichnet hat. Ich glaube, ein besseres Zeugnis kann man dieser Bunderegierung wohl nicht ausstellen. Sie haben natürlich recht, wenn Sie die Arbeitslosigkeit in dieser Republik beklagen. Wir beklagen diesen Umstand ja mit Ihnen, aber Sie haben kein Recht, sich zu beklagen, denn Sie wissen genau - an dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei -, daß die tieferen Ursachen dieser Arbeitslosigkeit in Ihrer Regierungszeit zu suchen sind. Seit dieser Zeit rollt der Zug, und diese Bundesregierung hat ihn abgebremst. Es ist einfach nicht abzuleugnen - darauf wurde in der Debatte mehrfach verwiesen -, daß wir einen positiven Beschäftigungstrend verzeichnen können. Die wiedererreichte Stabilität des Geldwertes bringt den Arbeitnehmern nach Jahren des Rückgangs oder des Stillstandes wieder einen Zuwachs des Reallohnes; das ist es, was die Bürger dieses Landes unmittelbar spüren. Aber die Wirkungen gehen natürlich weiter. Die Stabilität des Geldwertes bringt vor allem Vertrauen: Der Unternehmer hat wieder eine klare Kalkulationsgrundlage; die Kapitalanleger legen ihr Kapital mittlerweile auch wieder in der Bundesrepublik an; auch das Ausland schöpft wieder Vertrauen. Anders könnte man es nämlich nicht erklären, daß trotz einer Zinsdifferenz zu den Vereinigten Staaten in Höhe von nunmehr 5 %, die es in diesem Ausmaß noch nie gab, keine wesentlichen Kapitalabschlüsse aus der Bundesrepublik Deutschland mehr erfolgen. Wie wäre es um unsere wirtschaftliche Entwicklung und um die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bestellt - so ist zu fragen -, wenn wir noch Zinssätze in Höhe von 11 % und mehr hätten? Das würde nicht nur, wie geschehen, die Finanzierungspläne für Tausende von Eigenheimen völlig durcheinanderbringen, zu weiteren Pleiten und Unternehmenszusammenbrüchen führen, sondern auch die unternehmerische Risikobereitschaft und die Investitionstätigkeit bei uns wieder auf das Niveau zurückwerfen, das unter der Regierung Schmidt zu verzeichnen war. Stabilität ist eben eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der Beschäftigungslage. Das ist zwar, wie wir wissen, vor Jahren durch das berühmte Zitat des Bundeskanzlers Schmidt - lieber 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit - bestritten worden, aber die bittere Erfahrung im eigenen Land und entsprechende Beispiele im europäischen Ausland haben wohl auch den Wirtschaftspolitikern der Opposition die Erkenntnis nahegebracht, daß eine inflationäre Entwicklung den Boden für eine zunehmende Arbeitslosigkeit und Stabilität den Boden für eine zunehmende Beschäftigung bereitet. Herr Kollege Roth, sind Sie eigentlich noch gern an Ihre Kritik an der Deutschen Bundesbank im Zusammenhang mit den Zinsen erinnert? Haben Sie nicht Maßnahmen der Deutschen Bundesbank gegen die hohen Zinsen gefordert? Wo ist Ihre Kritik geblieben? Sie sehen heute, daß wir uns von den amerikanischen Zinsen haben abkoppeln können, eben deshalb, weil wir Ihren Rezepten nicht gefolgt sind. Das müssen wir doch einmal ganz klar feststellen. ({5}) Was immer Sie in dieser Debatte an Konzepten zur Senkung der in Ihrer Regierungszeit entstandenen Arbeitslosigkeit angeboten haben - Herr Kollege Jens, Sie sind ja noch einmal auf das „Sonder6060 vermögen Arbeit und Umwelt", auf das Beschäftigungsprogramm des DGB eingegangen -, was immer Sie anzubieten haben, hat eine Wurzel, nämlich - wieder einmal - vermehrte Ausgaben des Staates, Geld ausgeben, das nicht vorhanden ist. Denn wir müssen doch wirklich daran erinnern, daß unser Haushalt eben noch keineswegs saniert ist, sondern daß wir* immer noch mit einer ganz erheblichen Neuverschuldung leben müssen. Mit diesen Programmen bieten Sie das an, was wir gehabt haben und was wir nicht mehr wollen, nämlich das Material für ein weiteres beschäftigungspolitisches Strohfeuer, das die gegebenen Probleme nicht löst und - anders als ein Strohfeuer sonst - nicht nur harmlose Asche zurückläßt, sondern eben Schulden. Diese Schulden - mehrere Redner, insbesondere auch Bundesminister Blüm, haben darauf hingewiesen - und die Verzinsung dieser Schulden schränken unseren politischen Handlungsspielraum, wie wir alle wissen, stark ein. Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Dort, wo Sozialisten regiert haben, bleibt immer ein Denkmal zurück, das an ihre Regierungszeit erinnert, das Denkmal einer hohen Staatsverschuldung. Diese Weisheit haben wir hier in der Bundesrepublik Deutschland j a auch erlebt. ({6}) Otmar Emminger, der frühere Präsident der Deutschen Bundesbank, hat gerade in diesen Tagen die Politiker in der „FAZ" davor gewarnt, die Politik hohen Haushaltsdefizits etwa nachzuahmen. ({7}) - Herr Roth, Sie waren mit Herrn Emminger nie einverstanden, aber er ist ja hinsichtlich der wirtschaftlichen Betrachtung wohl oben geblieben. - Wir haben ganz andere Verhältnisse als die Vereinigten Staaten, und zwar deswegen, weil das Ausland nicht bereit sein würde, diese erheblichen Defizite bei uns so mit leichter Hand zu finanzieren, wie das in den USA der Fall ist. Da werden auch heute Dollar-Bonds im Vertrauen auf die gewaltige Wirtschaftskraft dieser starken, großen Nation gekauft. Zum anderen - und das ist viel zu wenig bekannt - sind der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt und auch der Grad der Verschuldung in den Vereinigten Staaten immer noch geringer als bei uns. Wie oft haben wir in den letzten zwei Jahren von den Bänken der Opposition Negativbetrachtungen zur Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher gehört. Da nutzte es uns gar nichts, darauf hinzuweisen, daß wir diese Politik im Rahmen der Wende eben nicht kopieren, sondern unseren eigenen, den uns angemessenen Weg gehen würden. ({8}) „Reagonomics", „Thatcherismus" - diese Worte wurden von den Bänken der Opposition fast wie Schimpfworte gemeint oder jedenfalls gebraucht. Es ist erstaunlich, daß wir in dieser Debatte ähnliches eben nicht mehr gehört haben; wohl deswegen, weil die mit diesen Worten angegriffene Politik in den jeweiligen Ländern offensichtlich Erfolg gehabt hat. Vor einigen Tagen hat man erstaunt in der Presse gelesen, daß die Wissenschaftler des DGB jetzt sogar in eine Lobpreisung der Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan eingetreten sind. Sie sprechen von einem Beschäftigungswunder in den USA. Dort habe man das Beschäftigungsziel im Verhältnis zu dem Stabilitätsziel sehr viel ernster genommen als bei uns. Man empfahl - wie könnte es auch anders sein - die Inkaufnahme größerer Haushaltsdefizite auch bei uns. Das haben wir auch hier in dieser Debatte immer wieder gehört. ({9}) Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir uns das nicht leisten können. Aber man muß auch darauf verweisen, daß diesen Erfolgen der Wirtschaftspolitik in den USA ein starkes Sparprogramm vorausging; ein Sparprogramm, das zu einer erheblichen Verringerung der Inflationsrate geführt hat. Wenn wir die Erfolge gerade auf diesem Gebiet betrachten, über das wir uns hier viel unterhalten, dann muß man einmal darauf hinweisen, daß seit November 1982 in den USA 6,3 Millionen neue Arbeitplätze geschaffen wurden, davon allein im Jahre 1983 4 Millionen. Ich glaube, daß es sich durchaus lohnen würde, auf die speziellen Gründe einzugehen, warum das in den USA so war. Aber ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen. Um einer Ermahnung des Herrn Präsidenten, der sein Mikrofon schon eingeschaltet hat, zuvorzukommen, will ich schließen. Ich will nicht mehr auf die vielen Fragen eingehen, die in dieser Debatte angesprochen wurden. Wir haben im Wirtschaftsausschuß Gelegenheit, sie wie immer freundschaftlich, angemessen und sachlich zu erörtern. Vielen Dank. ({10})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Professor Hauchler.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf am Ende dieses langen Debattentags Ihren Blick auf ein Thema lenken, das im Streit um Arbeit, Umwelt, Gesundheit, um den inneren und äußeren Frieden der Deutschen leicht aus dem Blickfeld gerät. Ich meine die im Vergleich zu unseren Verhältnissen viel tiefere und dramatischere Not, in der sich die Dritte Welt befindet. ({0}) Hunderte von Millionen Menschen sind betroffen. Wenn wir keine andere Politik betreiben, werden wahrscheinlich Milliarden Menschen in ein Elend ohnegleichen hineinlaufen. Gestatten Sie mir, daß ich hierzu noch einige Anmerkungen mache. Die Bundesregierung sieht in ihrem Haushaltsentwurf vor, daß 1985 die Ausgaben für die Entwicklungshilfe stärker steigen als die Gesamtausgaben, nämlich um 3 % gegenüber 1,2 %. Was auf den ersten Blick löblich erscheint, entpuppt sich jedoch bei näherem Hinsehen als schöner Schein; denn Maßstab des entwicklungspolitischen Engagements ist nicht das, was auf Grund früherer Zusagen heute und morgen abfließt und durch Sie ausgegeben wird, sondern Maßstab ist das, was an Neuzusagen in einem Entwicklungshaushalt 1985 steht. Da ergibt sich ein anderes Bild. Wenn man die Verpflichtungen bei der Internationalen Entwicklungsorganisation und der Afrikanischen Entwicklungsbank korrekt auf mehrere Jahre anrechnet und verteilt, dann steigen die Neuzusagen im Entwicklungshaushalt um magere 11 %. Das ist bei weitem kein Ausgleich für den Kahlschlag, den Sie, Herr Warnke, und die Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren betrieben haben. Was wir für die Entwicklungshilfe aufwenden, steht in einem krassen Mißverhältnis zu dem, was wir in die Rüstung stecken. ({1}) Wir sehen zu, wie die Verelendung in der Dritten Welt wächst, während wir gleichzeitig immer mehr Waffen produzieren. Drei Viertel der Weltbevölkerung verfügen heute über ein Fünftel des Welteinkommens, verbrauchen ein Viertel der Mineralien, verfügen über ein Siebtel der Energie. Diese drei Viertel der Weltbevölkerung können nur über ein Viertel des Weltgetreides verfügen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Entwicklungsländer beträgt 8 % desjenigen der Industrieländer. Gleichzeitig explodieren die Rüstungsausgaben. Die Londoner „Defence Weekly" schätzt die Militärausgaben 1984 auf tausend Milliarden Dollar. ({2}) - Sie sollten ruhig zuhören, wenn wir über diese Probleme sprechen. ({3}) Oder geht Sie das Schicksal von Millionen Menschen in der Dritten Welt nichts an? - Offenbar nicht. Der Verlust an Rohstoffen, die unproduktive Bindung von Know-how und Sparkapital schreien zum Himmel. Von 1960 bis 1982 sind die Militärausgaben weltweit siebzehnmal stärker gestiegen als die Entwicklungshilfe. Und jährlich verschlingt die Rüstung zwanzigmal mehr als das, was wir für die Dritte Welt ausgeben. Wenn wir einen einzigen modernen Panzer nicht produzierten, könnten 1000 Klassenzimmer für 30 000 Kinder gebaut werden. Wenn ein Atom-UBoot der Trident-Klasse nicht vom Stapel liefe, könnten vier Millionen Hektar Land vor Überflutung geschützt werden oder 200 Millionen Hacken zur Bodenbearbeitung finanziert werden.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Boroffka?

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Peter Boroffka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000236, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wissen Sie, daß nach Untersuchungen internationaler Behörden die Rüstungsausgaben gerade der Länder der Dritten Welt erheblich stärker gestiegen sind als die der sogenannten zivilisierten Länder? ({0})

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist bekannt, daß auch die Länder der Dritten Welt Rüstungsgüter importieren, sich zum Teil auch mit deutscher Hilfe, mit deutschen Blaupausen an Waffenproduktion heranmachen. Ich meine aber, wir sollten als westliche Industriestaaten nicht so hochmütig sein zu sagen: Wir rüsten auf, und die Entwicklungsländer können auf Waffen verzichten. Wenn Südafrika gegen Simbabwe Spionagetrupps schickt, wenn Südafrika in Angola und in Mosambik einfällt, dann können Sie nicht erwarten, daß diese Länder vor solcher Agression waffenlos dastehen. ({0}) Können wir weiter zusehen, wie die Länder des Südens immer mehr in die Knie gehen, während der Norden vor immer neuen Waffen starrt? Sollen wir ohnmächtig mit ansehen, wie immer mehr Waffen für die Vernichtung und immer weniger Brot für das Leben produziert werden? Wir müssen endlich den zerstörerischen Zusammenhang zwischen Überrüstung und Unterentwicklung aufbrechen und Entwicklung durch Abrüstung in Gang setzen. Das ist nämlich wirklich die einzige realistische Chance. Die SPD-Bundestagsfraktion hat diesen Gedanken in den Mittelpunkt des Zukunftsprogramms Dritte Welt gestellt, das Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt am 30. August 1984 vorgestellt haben. In diesem Programm wird eine zusätzliche Anstrengung der Industrieländer für die Dritte Welt gefordert, die der des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Anders als damals kann es aber nicht darum gehen, die Entwicklungsländer in das System der Industrieländer einzubinden und sie noch abhängiger zu machen. Notwendig ist vielmehr eine Zusammenarbeit, die die Identität und Selbstbestimmung der Entwicklungsländer respektiert. ({1}) Das Zukunftsprogramm Dritte Welt will einen Weltentwicklungsfonds, der - von der Tagespolitik der Regierungen unabhängig - den ärmsten Entwicklungsländern durch Abrüstung in Ost und West Selbsthilfe ermöglicht. Die Projekte sollen an den drei zentralen Hindernissen für eine sich selbst tragende Entwicklung in der Dritten Welt ansetzen: Überschuldung, ungleiche Welthandelsbedingungen und binnenwirtschaftliche Strukturschwäche. Dementsprechend fordern wir für die ärmsten Länder: erstens eine internationale Entschuldungsaktion; zweitens die Verbesserung der Austauschbedingungen und freieren Zugang der Entwicklungsländer zu den Industriemärkten; drittens integrierte Programme zur nachhaltigen Steigerung der Produktivität in Landwirtschaft und Kleinge6062 werbe und zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen in den Entwicklungsländern, von denen wir langfristig auch abhängen. Das Zukunftsprogramm Dritte Welt soll die bestehenden Projekte und Institutionen nicht ersetzen, sondern durch einen zusätzlichen quantitativen und qualitativen Impuls ergänzen. West und Ost gemeinsam müssen dabei mit dem Süden zusammenarbeiten. ({2}) - Ja, auch mit Herrn Honecker hätte man darüber sprechen können. Warum nicht? ({3}) Für die Durchführung kann weitgehend auf erfahrene Institutionen im Verband der Vereinten Nationen zurückgegriffen werden. Über den Einsatz der Mittel sollte ein Gremium international anerkannter Politiker entscheiden, die nicht im politischen Tagesstreit der Regierungen stehen. Es sollte paritätisch mit Vertretern des Nordens und des Südens besetzt werden. Das Programm soll grundsätzlich mit Zuschüssen arbeiten, denn es wäre j a unsolide, wenn wir die Sicherung der Grundbedürfnisse, die eben nie rentabel im kurzfristigen Sinn sein kann, mit immer neuen Zins- und Tilgungslasten verbinden. Innerhalb der Entwicklungsländer wären Fonds aus Gegenwertmitteln in Landeswährung zu bilden, aus denen weitere Investitionen für die innere wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Länder finanziert worden könnten. Meine Damen und Herren, Entwicklungspolitik muß zum einen umfassender und längerfristig konzipiert werden und darf zum anderen nicht weiter zum Instrument der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West mißbraucht werden. Zum ersten. Die Zusammenarbeit mit der Dritten Welt ist schon viel zu lange Türöffner kurzfristiger Wirtschaftsinteressen der Industrieländer. ({4}) Die Bundesregierung handelt unverantwortlich, wenn ihr Entwicklungsminister Entwicklungshilfe zuallererst als Wohltat für die deutsche Exportwirtschaft versteht. ({5}) Nicht immer sind solche Wohltaten auch Wohltaten für die Entwicklungsländer. Das wissen wir inzwischen. Was haben Sie, Herr Minister Warnke, sich dabei gedacht, als Sie vor wenigen Monaten in Pakistan bei Projektverhandlungen von heute auf morgen und offenbar auf Grund eines schnellen Telex aus München ein großes Projekt für ländliche Entwicklung strichen und dafür zig Millionen deutscher Steuergelder für ein digitales Fernsprechsystem zusagten? Wem nützen denn diese modernen teuren Apparate, den Bauern und Handwerkern oder den Militärs in Pakistan? Es verdichtet sich der Verdacht einer Zweckentfremdung von Entwicklungshilfemitteln. Wir werden Fällen in Bangladesch, in Kenia und in Portugal sorgfältigst nachgehen. Was soll man davon halten, wenn Sie die Entwicklungshilfe für die Schwellenländer erhöhen und dafür bei den ärmsten Ländern Afrikas kürzen? Begreifen wir doch endlich, daß Entwicklungspolitik weniger mit Hilfe im engeren Sinn als zunehmend mit einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung zu tun hat. Hier liegt die Wurzel des Problems. Nicht kurzfristige Wirtschaftsförderung unter dem Deckmantel von Almosen, sondern ein langfristiger Solidarpakt zwischen Nord und Süd ist die Antwort auf die Probleme der Dritten Welt. Nicht kurzsichtige Liefermöglichkeiten liegen in unserem Interesse, sondern Anstöße für eine Entwicklung des Südens, die sich eines Tages selbst trägt und von äußerer Hilfe unabhängig wird. ({6}) Nur politisch und sozial stabile Länder des Südens garantieren uns die Rohstoffe, die wir auf die Dauer brauchen. Nur entwickelte Volkswirtschaften des Südens sind auf Dauer gute Handelspartner. Nur wenn im Süden der Hunger beseitigt und die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten werden, wird es nicht zu Kriegen um Rohstoffe und Märkte kommen. Zum zweiten. Die Dritte Welt darf nicht länger Gefechtsfeld geopolitischer, militärischer und ideologischer Ost-West-Konkurrenz sein. Was dachte sich die Bundesregierung dabei, als sie einem Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds an das Apartheid-Regime in Südafrika zustimmte, gleichzeitig aber billigte, daß der Fonds durch seine Auflagen Länder wie Brasilien, die Dominikanische Republik, Tunesien und andere sozial und politisch destabilisierte und in die Inflation trieb? Wem anders nutzt denn diese Politik als den westlichen Geschäftsbanken? Wie kann die Bundesregierung Entwicklungszusagen an Nicaragua brechen, gleichzeitig aber deutsche Waffenexporte in den Sudan und in Pinochets Chile gestatten? Erklären Sie mir das, Herr Minister Warnke. Dürfen die ideologische Haltung und die Position im Ost-West-Streit wirklich der Maßstab für die Entwicklungszusammenarbeit sein? Was die Welt und wir brauchen, ist nicht eine Ausdehnung des Kalten Krieges über die ganze Welt, sondern eine Verantwortungsgemeinschaft von Ost und West als Sicherheitspartnerschaft im Norden und als Entwicklungspartnerschaft für den Süden. Was könnte zwischen West und Ost denn eigentlich vertrauensbildender sein als ein gemeinsamer Beitrag zur Entwicklung der Dritten Welt und zur Bewahrung des Friedens? Denn den Frieden bewahren wir nicht so sehr durch ein Gleichgewicht von Auf- oder Abrüstung, sondern durch posiDr. Hauchler tive Kooperation über gesellschaftlich unterschiedliche Auffassungen hinweg. ({7}) Die Zukunft aller wird nur dann dauerhaft gesichert sein, wenn alle begreifen - auch Sie -, daß Süd und Nord, West und Ost Teil einer Welt sind und nur gemeinsam überleben können. Nirgendwo - auch bei uns nicht - ist noch ein Separatfrieden mit dem Wohlstand möglich. Sagen Sie nicht vorschnell, der Osten würde sich auf eine solche Entwicklungspartnerschaft nicht einlassen. Jüngste Äußerungen der Ostblockführer deuten darauf hin, daß auch dort Abrüstung zur Entwicklung ein Thema geworden ist. Die SPD-Bundestagsfraktion hat mit dem Obersten Sowjet eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit den Möglichkeiten der Entwicklung durch Abrüstung befassen soll. Ein erstes Gespräch wird im Juli von Egon Bahr, Uwe Holtz und Peter Würtz in Moskau geführt. Wir werden diese Perspektive weiter verfolgen. Wir hoffen, daß auch die Bundesregierung ihre Kontakte mit den Staaten des Ostblocks in diesem Sinne nutzen wird. Ost und West müssen endlich ernsthaft über die Entwicklung der Dritten Welt reden und nicht um die Entwicklung immer neuer Waffen konkurrieren. ({8}) Wer das Zukunftsprogramm Dritte Welt ins Reich der Illusionen verweist, der muß beweisen, daß er einen realistischeren Weg weiß, um zu verhindern, daß Rüstung auch ohne Krieg tötet. Sie tötet jetzt jährlich mehr Menschen, als in den Kriegen der letzten 35 Jahre umgekommen sind. Wer im Schlepptau der Supermächte abwartet, bis diese sich aus eigenen Stücken bewegen, der blendet sich aus der Verantwortung aus und nimmt untätig hin, daß wir alle mit in die Katastrophe gerissen werden. Wer Entwicklung durch Abrüstung will, der muß mehr planen für die Entwicklung und weniger für die Rüstung. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher - entgegen dem Entwurf der Regierung - für den Haushalt 1985 eine Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen im Etat des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu Lasten des Verteidigungshaushalts. Konkrete Anträge werden wir anläßlich der weiteren Haushaltsberatungen stellen. Meine Damen und Herren, wir alle sollten erkennen, daß sich im armen Süden eine Tragödie globalen Ausmaßes anbahnt, die in wenigen Jahren wie ein Flächenbrand auf den reichen Norden übergreifen wird, wenn in der Dritten Welt die Wälder abgeholzt sind, die Wüsten sich noch weiter ausgedehnt haben, Wälder und Böden vergiftet sind, wenn die Energie- und Mineralreserven zu Ende sind, wenn bei explodierenden Bevölkerungs- und Städtewachstum Hunger, Krankheit und Arbeitslosigkeit zu einem Ausmaß von Sterben, Verelendung und Erbitterung führen, das unsere heutige Vorstellungskraft sprengt.

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen. Ihre Zeit ist schon überschritten.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, im Süden tickt eine ökologische soziale und politische Zeitbombe. Sie wird bald hochgehen, wenn die Weichen der Entwicklungs- und Weltwirtschaftspolitik heute nicht neu gestellt werden. Danke schön. ({0})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. September 1984, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.