Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/30/1984

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Tagesordnung um die Zusatzpunkte 5 und 6 erweitert werden. Sie betreffen die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Das Haus ist damit einverstanden. - Ich danke Ihnen. Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde verlangt. Ich rufe diesen Zusatzpunkt auf: Aktuelle Stunde Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei angesichts der bedrohlichen Lage der Gefangenen in den türkischen Militärgefängnissen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schily. Ich mache noch einmal auf die Redezeit von fünf Minuten aufmerksam.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde auf Grund unserer großen Besorgnisse angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Situation der Häftlinge in türkischen Gefängnissen, insbesondere im Militärgefängnis Mamak, Ankara, beantragt. Nach verbürgten Informationen, die uns zugegangen sind, befinden sich seit dem 24. Februar 1984, also heute seit 36 Tagen, in den jeweiligen Haftanstalten insgesamt 510 Gefangene im Hungerstreik. Am Montag, dem 26. März 1984, seit Montag dieser Woche, begannen zehn der Hungerstreikenden das sogenannte Todesfasten, und jeden Tag kommen viele weitere hinzu. Zu dieser Stunde, befinden sich weit über 100 Gefangene im Militärgefängnis Mamak im Todesfasten. Todesfasten heißt, daß die Beteiligten, die bereits 30 Tage lang keine Nahrung zu sich genommen haben, jetzt auch die Zufuhr von Flüssigkeit ablehnen. Wer durch den Hungerstreik so geschwächt ist und keine Flüssigkeit mehr zu sich nimmt, kann innerhalb von zwei bis drei Tagen sterben. 49 Häftlinge sind bereits in Krankenabteilungen eingeliefert worden, zwei von ihnen schweben in akuter Lebensgefahr. Mit dem Ableben vieler dieser Häftlinge muß jederzeit gerechnet werden, auch jetzt in dieser Minute. Ich denke, in diesem Hause sollte Einigkeit darüber bestehen, daß für Demokraten die Forderungen, die von den Hungerstreikenden erhoben werden, Selbstverständlichkeiten sind, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieft sind. Die Forderungen lauten: Einstellung der Folter, Beendigung der Zwangsintegration in das militärische Erziehungsprogramm, Möglichkeit zur Prozeßvorbereitung durch Zugang zu Prozeßunterlagen, insbesondere Zustellung der Anklageschrift, und Möglichkeiten zu Gesprächen mit Anwälten. Bei allen 510 hungerstreikenden Gefangenen handelt es sich ausnahmslos um Untersuchungsgefangene. Gleichwohl werden sie gezwungen, ihre Anstaltskleidung zu tragen und sich einem militärischen Drill zu unterwerfen. Die Programme erstrecken sich über den gesamten Tag, so daß den Untersuchungsgefangenen keine freie Zeit verbleibt, die sie für die Vorbereitung auf ihre Prozesse benötigen. Die Verweigerung der Teilnahme an diesen Programmen wird mit Schlägen und Folter bestraft. Folter in Mamak und anderen Militärgefängnissen bedeutet Elektroschocks, Schläge auf alle Körperteile, Stockschläge auf die Fußsohlen, Verbrennen mit Zigaretten, sexuelle Folter und ähnliches. Wir haben den Herrn Bundesaußenminister und den Herrn Bundesverteidigungsminister, der sich gegenwärtig in der Türkei aufhält, eindringlich gebeten, sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei einzusetzen. Ich bin dem Herrn Bundesaußenminister dankbar, daß er sich bereit gefunden hat, mich vor kurzem zu einem Gespräch zu diesem Thema zu empfangen. Wir bitten die hier im Hause vertretenen Parteien, angesichts der gefährlichen Situation in der Türkei eine interfraktionelle Delegation zusammenzustellen, die sich möglichst schnell in die Türkei begibt, um dort für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. Ferner werden wir in der kommenden Woche einen Entschließungsantrag einbringen, der u. a. feststellt, daß in der Türkei bezüglich der Menschen4408 rechte auch bei Gefangenen gewisse Mindestanforderungen eingehalten werden müssen. Wir möchten an Sie alle im Namen der Gefolterten, ihrer Angehörigen, ihrer Frauen und Kinder sowie in Namen der Menschenrechte und der Humanität appellieren, in dieser Frage keine Fraktionsunterschiede aufkommen zu lassen, sondern sich in dem Bemühen zusammenzuschließen, diese Situation in der Türkei zu verändern. Bei Folter und unmenschlicher Behandlung, meine Damen und Herren, dürfen keine Aufrechnungen vorgenommen werden. Ich darf zum Schluß vielleicht ein Beispiel hierfür erwähnen. Es gehört zu meinen eindrucksvollen Erlebnissen als Parlamentsneuling, daß es im vergangenen Jahr möglich war, -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Schily, es tut mir furchtbar leid, Ihre Redezeit ist beendet.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich sage noch einen Satz: - - daß es also möglich war, daß vier Abgeordnete aus diesem Hause - Kollege Schulhoff, Kollege Hirsch, Kollege Müller von der SPD und ich - in einer humanitären Aktion zugunsten eines türkischen Häftlings in der Bundesrepublik gemeinsam tätig werden konnten. Ich hoffe, daß dieses Vorbild auch in diesem Fall Schule macht. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Pohlmeier.

Dr. Heinrich Pohlmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Menschenrechte ist ein wichtiges und ernstes Thema. Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, auch wir werden uns darin nicht durch Sie übertreffen lassen, daß wir überall in der Welt darauf pochen, daß Menschenrechte beachtet werden und ihre Wiederherstellung in allen Ländern der Welt gewährleistet wird. Aber das, was Sie hier jeden Freitagmorgen veranstalten, Herr Schily, geschieht sicher nicht in der richtigen Art und Weise, und hier ist sicher nicht der richtige Ort, das vorzubringen. Sie benutzen die Aktuelle Stunde wieder einmal, um politische Provokationen in die Welt zu setzen, ({0}) und zwar im Anschluß an Ihren Polittourismus in die Türkei. ({1}) - Herr Schily, ich gebe Ihnen ja zu, daß die Zustände in türkischen Gefängnissen schlimm sind. ({2}) Ich habe neulich den Bericht in der „Zeit" gelesen. Ich lasse einmal dahingestellt, was davon verifizierbar ist. Aber daß das unmenschlich und nicht hinzunehmen ist, ist natürlich eine Tatsache. Dagegen sperre ich mich überhaupt nicht. ({3}) Es versetzt einem Westeuropäer in der Tat schon einen Schock, wenn er hinter die Gitter orientalischer Verliese schauen kann. Aber der „Zeit"-Bericht, von dem ich hier spreche, beweist auch, daß es primär nicht politische Gründe sind, warum in der Türkei gefoltert wird. ({4}) Ganz offenkundig sind Inhumanität und Folter in diesem Land Relikte einer mittelalterlichen Vergangenheit, zurückzuführen auf ein ganzes Ursachenbündel, das wir heute morgen hier nicht weiter untersuchen können. Ich sage Ihnen noch einmal: Wir billigen diese Zustände natürlich nicht. Wir haben auch kein Verständnis dafür. Aber wir wollen sie ändern helfen. ({5}) Wie kann man das tun? Wie kann man dazu einen wirksamen Beitrag leisten? Das kann man, sehr verehrte Frau Potthast, nicht durch Tribunaltourismus, Polit-Happenings mit Ketten, Fernsehteam und Pressetroß tun, sondern nur durch das vernünftige, beharrliche Gespräch und durch den Ausbau unserer Beziehungen zur Türkei. ({6}) Die Demokratisierung ist seit dem letzten Jahr in diesem Land bemerkenswert in Gang gekommen. Die zivile Regierung Ozal hat sich gefestigt. Das Parteiensystem beginnt sich zu entwickeln, und zwar anders, als die Militärs das wollten. Die Gemeindewahlen vom letzten Sonntag bestätigen das überzeugend. Das türkische Volk beweist damit eine bemerkenswerte Reife. Diese Regierung und dieses politische System bekennen sich zum Westen, zu seiner politischen und seiner menschlichen Kultur. ({7}) - Sie bekennen sich dazu, habe ich gesagt. - Wenn wir der Türkei den Weg nach Europa und den Weg zur Humanität erleichtern wollen, dann ist das die beste Chance für mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Menschlichkeit und mehr gesicherte Freiheit in diesem Land. Also ich plädiere dafür, daß wir das Gespräch mit der türkischen Führung, mit den Menschen in dem Land und mit der Öffentlichkeit suchen. Dadurch können wir einen wirkungsvollen Beitrag zur Ausgestaltung der Menschenrechte leisten, ({8}) einen besseren als Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, mit ihren Provokationsveranstaltungen. ({9}) - Nun warten Sie doch, Herr Schily. Erstens. Ich fordere von der Türkei, daß sie den Art. 17 der neuen Verfassung, der Folterungen verbietet, jetzt mit Inhalt füllt. ({10}) Die frühere Militärregierung hat mit der Untersuchung der Foltervorwürfe und Ahndung von Folterungen begonnen - sicher noch nicht durchgreifend genug, ({11}) aber wir sehen den Anfang. Wir fordern seine Fortsetzung. Zweitens appelliere ich an die Türkei, die Prozesse gegen die Gewalttäter aus der Zeit vor der Militärregierung schnell zu beenden. ({12}) Ich glaube nicht, daß es richtig wäre, uns in die innertürkische Diskussion einzuschalten, ob und wieweit eine Amnestie für welche Gruppen von - jetzt noch - Untersuchungshäftlingen in Frage kommen kann und für welche nicht. ({13}) Das müssen wir, glaube ich, der Türkei überlassen. Drittens sind eine bessere Ausbildung und Disziplinierung der Polizei und der Sicherheitskräfte dringend geboten, ({14}) damit mit den atavistischen, mittelalterlichen Brutalismen Schluß gemacht wird. Aber sie sind natürlich nicht von heute auf morgen zu beseitigen. ({15}) Ernsthafte Anstrengungen aber kann man erwarten, besonders dann, wenn sich dieses Land sich zu Europa bekennt. Wir blicken, meine Damen und Herren, mit Erwartung auf die neue türkische Regierung. Wir haben aber auch Achtung vor ihrer Souveränität. Wir möchten dieser neuen türkischen Regierung einen konstruktiven Dialog anbieten und ihn auch tatsächlich führen. Ich glaube allerdings nicht, Herr Schily, daß eine offizielle Parlamentsdelegation dafür der richtige Weg ist.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.

Dr. Heinrich Pohlmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich sehr, meine Damen und Herren, und meine, daß wir gemeinsam einen vernünftigen Weg suchen sollten, der sicher nicht der Ihre sein kann. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Pohlmeier, welcher Ort - wenn nicht der Deutsche Bundestag - ist denn der richtige Ort für solche Debatten? ({0}) An diesem frühen Morgen war die Rede von Herrn Schily sachlich, Ihre Antwort polemisch. Als Freunde der Türkei drängen wir auf die volle Wiederherstellung der Menschenrechte und der demokratischen Grundfreiheiten. Die Türkei und die Bundesrepublik sind beide im Europarat und beide in der NATO. Daraus leiten sich unser Recht und unsere Pflicht ab, immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte und die volle Wiederherstellung der demokratischen Grundordnung zu drängen. ({1}) Es stimmt: Die Kommunalwahlen waren ein Fortschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei. Aber: Die Menschenrechte sind in der Türkei immer noch nicht voll gewährleistet. ({2}) Der Türkei fehlt es in der Frage der Menschenrechte noch immer an der Glaubwürdigkeit. ({3}) Noch immer sind die in der Verfassung vorgesehenen Grundrechte nicht voll wiederhergestellt. Noch immer sind die Rechte der Parteien die Rechte demokratischer Politiker, die Rechte der Gewerkschaften und die Rechte der freien Presse nicht voll gewährleistet. Vor allen Dingen aber kommt es zu zahlreichen skandalösen und unerträglichen Verletzungen der Menschenrechte, zu Folterungen und zur Mißachtung der Menschenwürde, vor allem in den Gefängnissen. Zahlreiche Anschuldigungen sind auch nach unserer Rechtsauffassung mit den Prinzipien eines demokratischen und pluralistischen Rechtsstaates nicht vereinbar. Aber auch der, der eines Vergehens beschuldigt wird, j a sogar der, der eines Verbrechens überführt wird, hat einen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf eine menschenwürdige Behandlung. ({4}) Die Verhältnisse in zahlreichen türkischen Gefängnissen - ich habe sehr gut in Erinnerung, daß unsere Parlamentarierdelegation unter der Leitung von Herrn Mertes trotz unseres Drängens damals Voigt ({5}) nicht die Möglichkeit hatte, in dieses eben genannte türkische Militärgefängnis zu kommen, um uns durch Augenschein davon zu überzeugen, ob dort menschenwürdige Verhältnisse herrschen -, die zahlreichen Prozesse und ihre Durchführung stellen eine Verletzung elementarster Menschenrechte dar. Deshalb meine ich, daß wir die Hungerstreikenden nicht nur verstehen, sondern daß wir den Hungerstreik selber verstehen müssen als einen Aufschrei von Türken für Humanität und Menschenrechte. Wir fordern daher die türkischen Behörden auf: Ändern Sie die unerträglichen Verhältnisse in den Gefängnissen. Schweigen wir nicht; sonst machen wir uns mitschuldig. ({6}) Weil wir uns mit denjenigen in den Gefängnissen solidarisieren und für ihre Menschenwürde eintreten, haben wir auch ein Recht, an sie zu appellieren, den Hungerstreik abzubrechen, um ihr Leben nicht zu gefährden. Aber ich frage auch: Warum weisen Sie die Idee einer gemeinsamen Delegation als polemisch zurück? Es gab einmal eine gemeinsame Delegation von CDU/CSU, FDP und SPD unter der Leitung von Herrn Mertes, die zu einem gemeinsamen Bericht geführt hat. Sie haben sie damals begrüßt. Warum soll im Namen der Menschenrechte nicht eine neue Delegation möglich und sinnvoll sein? ({7}) Ich finde, Sie sollten diesen Vorschlag nicht zurückweisen, nur weil Menschenrechte diesmal auch von GRÜNEN gefordert werden. Menschenrechte und die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte sind zu allen Zeiten zu unterstützen, von welcher Partei auch immer der Appell dazu kommt. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann sehr wohl zweifeln, ob die fünf Minuten Redezeit einer Aktuellen Stunde ausreichen, unser vielfältiges Verhältnis zur Türkei richtig zu definieren. Aber sie müssen ausreichen, um die Entschlossenheit dieses Hauses zu dokumentieren, an ein Land, das wir als Freund betrachten, das die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben hat, das Mitglied des Europarates ist, das ein wichtiger Verbündeter im Bereich der NATO ist, gemeinsam zu appellieren, es immer wieder daran zu erinnern, daß es zu den Grundregeln dieser Gemeinschaft gehört, die Menschenrechte in ihrer elementarsten Form zu wahren und zu achten, ({0}) daß es eines zivilisierten Landes nicht würdig ist, seine Gefangenen und diejenigen, von denen dieses Land meint, daß sie gegen seine eigene Rechtsordnung verstoßen, nicht menschenwürdig zu behandeln. Wir haben uns in diesem Hause mehrfach mit den inneren Verhältnissen dieses Partners und - ich wiederhole es - dieses befreundeten Landes beschäftigt. Ich denke, daß wir bereit sein sollten, die gemeinsame Entschlossenheit zur Einhaltung der Menschenrechte auch in der Türkei zu unterstreichen, ({1}) uns gemeinsam vor Ort in diesem Land über die aktuelle politische Lage zu informieren, uns gemeinsam zu bemühen, Kontakte zu der Regierung Özal zu knüpfen, so wie das manche Mitglieder dieses Hauses getan haben und so wie das der Bundesminister des Äußeren vor wenigen Wochen ja mit außerordentlichem Erfolg getan hat. Er hat ja erreicht, daß sich in einem umschriebenen Bereich eine wesentliche Besserung der Behandlung Gefangener abzuzeichnen beginnt. Ich denke, es wäre einfältig, zu glauben, daß wir auf die inneren Verhältnisse in der Türkei durch gewaltige Demonstrationen oder dadurch einwirken können, daß wir ein Transparent entfalten. ({2}) Damit kann man auf sich aufmerksam machen, aber man kann damit den Menschen nicht helfen, ({3}) wenn man bei den Politikern dieses Landes den Eindruck erzeugt, daß es nicht um den eigenen Weg zur Demokratie geht. Wir beobachten mit großer Sorgfalt, daß die Türkei einen mutigen eigenen Weg geht. Die nationalen Wahlen, bei allen Unvollkommenheiten des Beginns, die Akzeptierung der Wahlergebnisse durch den Nationalen Sicherheitsrat, die Zulassung der demokratischen Parteien bei den Kommunalwahlen mit einem beachtlichen Ergebnis - alles das sind Schritte eines Landes, das in vielen Beziehungen an Kreuzwegen steht: an dem Kreuzweg zwischen einem Industrie- und einem Agrarstaat, an dem Kreuzweg zwischen Europa und Asien, an dem Kreuzweg zwischen Demokratie und Militärregime. Ich denke, daß wir eine große Verpflichtung haben, auch dadurch, daß wir die Mitglieder dieses Landes, die bei uns wohnen, menschenwürdig behandeln, ({4}) ein Bild dafür zu liefern, welche Menschenwürde, welche Achtung vor den individuellen Rechten in einer Demokratie möglich und geboten sind. Lassen Sie uns nicht nur durch Demonstrationen, sondern auch durch unseren täglichen Umgang mit den türkischen Mitbürgern, die bei uns wohnen, dazu beitragen, daß das Bild Deutschlands, daß das Bild einer deutschen Demokratie, daß das Bild Europas überhaupt in der Türkei das Ansehen behält, das es über viele Jahrzehnte hinweg gehabt hat. Lassen Sie uns gemeinsam der Türkei helfen, den Weg zur Demokratie zu finden. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat vom Beginn der Militärherrschaft in der Türkei an die Entwicklung mit großer Sorge beobachtet. Die beiden Türkeiberichte der Bundesregierung haben das zum Ausdruck gebracht. Im Augenblick bereitet uns besondere Sorge, die Lage in bestimmten türkischen Militärgefängnissen, wo Häftlinge Forderungen erheben, die nach unserer Überzeugung bei Anlegung eines mindestrechtsstaatlichen Anspruchs als legitim zu bezeichnen sind. ({0}) In dem hier von Herrn Kollegen Schily geschilderten Fall scheint es so zu sein, daß ein Teil der beanstandeten Maßnahmen in der Sache eingestellt sind, andere nicht, daß aber die Häftlinge durch den Hungerstreik erreichen möchten, daß eine Rücknahme der jetzt gegebenen Verbesserungen vermieden wird, d. h. ein Zugeständnis der türkischen Verantwortlichen für die Beachtung dieser Mindestmaßstäbe. Die Bundesregierung appelliert an die türkische Regierung, vor allem aber an die für die Militärgefängnisse Verantwortlichen, diesen Weg zu beschreiten. Sie appelliert in Übereinstimmung auch mit Kollegen aus dem Deutschen Bundestag an die Hungerstreikenden, ihren Hungerstreik einzustellen. Wir begrüßen es, daß im Augenblick der Versuch unternommen wird, auch von einer von der Regierung eingesetzten Militärkommission, diesen Weg zu gehen und auf diese Weise die Einstellung des Hungerstreiks zu erreichen. Die Bundesregierung läßt sich bei ihren Appellen an die Verantwortlichen in der Türkei von der Erkenntnis leiten, daß gerade wir einen Anlaß haben, auch in unseren Beziehungen zu anderen Ländern durch unser Eintreten für die weltweite Beachtung der Menschenrechte einen Beitrag für Mindestansprüche bei der Durchsetzung von Menschenrechten auch dort zu leisten, wo andere Vorstellungen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung noch nicht verwirklicht werden können. Deshalb ist unsere Menschenrechtspolitik nicht einäugig. Sie ist aber dort anspruchsvoller, wo es sich um Länder handelt, die mit uns in einem Bündnis zur Verteidigung der Freiheit zusammengeschlossen sind. ({1}) Deshalb haben die Mitglieder der Bundesregierung, die in der Vergangenheit und wie in diesen Tagen Kollege Wörner die Türkei besuchten bzw. besuchen, ihr Recht, über diese Fragen zu sprechen, nicht nur aus der gemeinsamen Mitgliedschaft in der NATO hergeleitet, sondern auch aus unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Europarat und auch aus der Tatsache, daß die Türkei assoziiertes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, alles Gemeinschaften, für die die Wahrung der Würde des Menschen oberstes Ziel ist. Der deutsche Botschafter hat gestern ein weiteres Mal wegen der Lage in den türkischen Gefängnissen im Außenministerium vorgesprochen, die Sorge der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht und dort die Zusicherung erhalten, daß außer der Militärkommission sich auch eine Kommission der türkischen Regierung mit dieser Lage befassen wird. Die Bundesregierung wird diese Bemühungen fortsetzen. Sie würde sich durch eine Delegation des Deutschen Bundestags in ihren Bemühungen unterstützt sehen. ({2}) Ich möchte die Ausführungen meines Kollegen Hirsch unterstreichen. Ich glaube, wir erkennen im Augenblick den Beginn eines verstärkten Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Dieser Prozeß, der sich aus einer schweren inneren Entwicklung der Türkei ergibt, verdient unser aller Unterstützung. Deshalb sehen wir auch in der Zusammenarbeit der Mitglieder des Deutschen Bundestages mit Mitgliedern des neugewählten türkischen Parlaments einen geeigneten Weg, die demokratischen Kräfte in der Türkei bei der Überwindung der Relikte des Militärregimes zu unterstützen. ({3}) Die Bundesregierung glaubt, daß sie selbst und die Parteien des Deutschen Bundestages auf diesem Wege am geeignetsten dazu beitragen können, die Menschenrechtslage in der Türkei zu verbessern mit dem Ziel, daß den Betroffenen geholfen wird, daß aber auch ein uns verbündetes Land jenes Maß an Beachtung der Menschenrechte zeigt, das den Wert unserer Allianz ausmacht. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.

Antje Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000968, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bundesdeutsche Wirklichkeit als praktizierte Verfassung einer rechtsstaatlichen Demokratie läßt uns oft vergessen, daß es erst 39 Jahre her ist, daß bei uns Verfolgung, Folter und Mord zu Ende gingen, und daß viele Menschen, die damals entkamen, ausländischen Freunden ihre Rettung verdanken. ({0}) Ich sage dies, weil wir nicht mit dem moralischen Zeigefinger der Unfehlbaren in diese Diskussion gehen. ({1}) Aber wer Freiheit und persönliche Sicherheit genießt, wie wir es in diesem Lande tun, ist auch verpflichtet, sich über die Grenzen hinweg für Menschenrechte einzusetzen. Der Sinn dieser Debatte liegt in der Hoffnung, daß internationale Aufmerksamkeit und Verurteilung von politischer Verfolgung und Folter etwas bewirken und Erleichterung, ja, manchen Rettung bringen. ({2}) Der Umstand, daß uns mit der Türkei in der Geschichte stets freundschaftliche Beziehungen verbanden und daß wir Bündnispartner sind, mag diese Diskussion manchem schwierig erscheinen lassen, aber politische Rücksichtnahme muß dort enden, wo es um Folter, Verfolgung und Tod geht. ({3}) Wir erhoffen uns gerade als Partner mehr Echo in der Türkei, denn die Menschenrechtsfragen sind Kernstück der Politik, auch der internationalen Politik, wie die Vereinbarungen der jüngeren Geschichte beweisen, an denen ja die Türkei beteiligt ist. Auch der Staatsrat der Türkei hat ja durchaus in Verlautbarungen die Folter als Verbrechen gebrandmarkt. Es geht uns jedoch nicht um diese Erklärung des Staatsrates, sondern um die Wirklichkeit. Die türkischen Behörden haben in der türkischen Presse 30 000 politische Häftlinge eingeräumt, eine Zahl, die wir nicht kontrollieren können. Was in den Gefängnissen geschieht, wird uns nur durch anonyme, durch illegale, durch heimlich erlangte Berichte bekannt, die aber nicht unglaubwürdig sind. In diesen Berichten fehlt es an nichts an Grausamkeiten bis hin zur Mißhandlung von Kindern. Dies alles wissen wir, und wenn dann unsere Kommissionen etwa aus Hamburg oder Niedersachsen die Gefängnisse in der Türkei nicht betreten konnten, wie Karsten Voigt das gerade geschildert hat, müssen wir international über etwas reden, das uns nur auf illegalem Wege zugänglich wird. Wenn die Türkei allerdings denkt, daß niemand erfährt, was dort passiert, ist sie im Irrtum. Kein Land ist so dicht, daß nicht schließlich herauskommt, was dort geschieht. Die Signale sind angekommen, und das wollten wir den hungernden Menschen in der Türkei sagen. Die Türkei ist im westlichen Ausland jetzt so sehr bemüht, daß ihr demokratischer Fortschritt anerkannt wird. Wir wollen dies ja auch durchaus tun. Aber wir sagen, daß auch dieses Kapitel Menschenrechte für uns dazugehört und nicht ausgelassen werden kann. Die Frage, wie politische Machthaber - ich betone das Wort Machthaber - mit Andersdenkenden umgehen, ist auch eine Kernfrage dieses Prozesses. Das kann man nicht mit der lapidaren Bemerkung abtun: Das war dort schon immer so, oder: Es ist alles schon sehr viel besser geworden. Ich begrüße diese Aktuelle Stunde und auch die Erklärung des Bundesaußenministers heute. In dem Türkei-Bericht ist die entsprechende Passage über die Menschenrechte sehr schwach ausgefallen und gibt im wesentlichen die beschönigenden und verharmlosenden Erklärungen wieder, die die türkischen Behörden selbst dazu gegeben haben. ({4}) Natürlich freuen wir uns über alle Maßnahmen, die zur Verbesserung der Situation in den Gefängnissen führen, die die psychische und physische Folter eindämmen. Aber es gibt offensichtlich eine Kluft zwischen dem, was dort behauptet wird, und dem, was wirklich geschieht. Wir befassen uns mit dieser Kluft und dem, was dahintersteckt. Wir wollen von der Wahrheit reden und nicht von dem, was in manchen Stellungnahmen offiziell so harmlos dargestellt wird. Wir rügen die rauhe Alltagspraxis der Türkei und nicht ihre schönen Erklärungen. Ich habe die Berichte, z. B. der Hamburg-Kommission, gelesen und kann Ihnen sagen: Ich bin bestürzt. Ich appelliere ebenfalls an die Türkei, den Menschen hinter den Gefängnismauern die Rechte zuzugestehen und sie von den Verbrechen zu erlösen, die sie selber als Verbrechen gebrandmarkt haben. ({5}) Dies würde unsere Beziehung, Herr Außenminister, mehr als vieles andere sehr verbessern. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Graf Huyn.

Hans Huyn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000987, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorab sagen, daß unsere Fraktion der CDU/CSU voll und ganz nahtlos das unterstützt, was der Bundesminister des Auswärtigen soeben gesagt hat. ({0}) Ich bin der Meinung, daß auch hier alle Fraktionen dieses Bundestages in dieser Frage, die Menschenrechte betreffend, zusammenarbeiten sollten. Vielen der Worte, die Sie, Herr Kollege Voigt, und Frau Kollegin Huber gesagt haben, können wir alle zustimmen. Dies muß immer Gemeingut aller Fraktionen in diesem Hause bleiben, wenn es um die Rechte der Menschen geht, ganz gleich wo, in welchem Lande, unter welchem Regime und von welcher Seite. ({1}) - Dazu werde ich gleich etwas sagen. Denn ein Prinzip ist uns leider, wie ich manchmal das Gefühl habe - ich würde mich freuen, ich täuschte mich -, nicht gemeinsam. Wir, unsere Fraktion, bemühen uns jedenfalls, in dieser Frage der Menschenrechte nicht auf einem Auge blind zu sein. Wir haben aber sehr häufig den Eindruck, daß von der linken Seite dieses Hauses zwar El Salvador, aber nicht Nicaragua, zwar Chile, aber nicht Kuba, zwar Südafrika, aber nicht Mozambique, ({2}) zwar die Türkei, aber nicht Afghanistan, Vietnam oder die psychiatrischen Kliniken in der Sowjetunion oder etwa das Frauengefängnis Hoheneck in Mitteldeutschland gebrandmarkt werden. ({3}) - Ja, sehen Sie, aus Ihrer Reaktion ersehe ich schon, daß das genau richtig ist. ({4}) Was hier gesagt wurde, ich betone noch einmal: was von allen Fraktionen in diesem Hause gesagt wurde, die Menschenrechte in der Türkei betreffend, sollte Anliegen aller Fraktionen gleichermaßen sein. Auch wenn wir durch den Bericht der Bundesregierung und den Demokratisierungsprozeß wissen, daß es Verbesserungen gibt, müssen wir alles tun, solange diese Verbesserungen auf dem Gebiet der Menschenrechte noch nicht ausreichend sind, damit weitere Verbesserungen erreicht werden. Allerdings sollten wir nicht nur eine Momentaufnahme der Situation sehen, sondern wir sollten auch deren Ursachen sehen. Die Türkei ist der Südost-Pfeiler der Atlantischen Allianz und unserer Sicherheit. Die Sowjetunion hat seit langem eine Destabilisierungskampagne eingeleitet. ({5}) Wir wissen es von einem Mitarbeiter des KGB, Wladimir Nikolajewitsch Sacharow, der im Südjemen, in Ägypten und Kuwait für die 8. Abteilung der 1. Hauptverwaltung gearbeitet hat, der sich um den Aufbau der terroristischen Zellen in der Türkei bemüht hat, der die Stadtguerilla, die kurdischen und armenischen und rechtsradikale Gruppen in der Türkei aufgebaut hat. ({6}) Das hat dazu geführt, daß es 1977 250 Tote, 1978 1000 Tote, 1979 1500 Tote und 1980 bis zum Tage der Übernahme durch General Evren über 2 000 Tote durch Terrorismus gegeben hat. ({7}) Die Sowjetunion hat sich bemüht, die TPLA und Dev Genc zu unterstützen. ({8}) Liaison-Behörde war die sowjetische Botschaft in Damaskus. In den Lagern der PFLP unter Habbash sind die türkischen Terroristen ausgebildet worden. ({9}) Dem Zustand, der in der Türkei durch diese jahrelange systematische sowjetische Destabilisierung eingetreten ist, ist die Militärregierung entgegengetreten. Dies entschuldigt selbstverständlich keine Folter. ({10}) - Allerdings muß man die Ursachen sehen, man darf nicht nur die Auswirkungen sehen und dann, auf einem Auge blind, einseitig polemisieren. Dagegen wenden wir uns. Ansonsten werden wir überall und immer - ganz gleich, von welcher Seite die Menschenrechte beeinträchtigt sind - für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten, ({11}) und ich hoffe, dies tun wir alle gemeinsam. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.

Dagmar Luuk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001400, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedaure den Beitrag des Kollegen Huyn. Auch wenn er mit getragener Stimme vorgebracht wurde, enthielt er doch Polemik, ({0}) denn die Aktuelle Stunde beschäftigt sich heute mit der Lage in der Türkei, und es geht darum, was den Häftlingen in diesen Gefängnissen zugemutet wird. An anderer Stelle können wir uns auch mit der Lage der Häftlinge in anderen Ländern beschäftigen. Aber heute geht es um die Türkei. Dann ist es überhaupt nicht hilfreich, wenn Sie darauf verweisen, was anderswo auf der Welt passiert. ({1}) Im Zusammenhang mit dem, was hier schon zur Lage im Mamak-Gefängnis ausgeführt wurde, muß man auch erwähnen, was mit dem Disk-Prozeß passiert. Dieser Disk-Prozeß, der Gewerkschafter über drei Jahre unter ganz strengen Bedingungen in Untersuchungshaft hält, ({2}) ist allein schon ein Verstoß gegen die Menschenwürde, der offensichtlich auch Ihnen noch nicht aufgefallen ist, da Sie das hier nicht mit uns kritisieren und mit uns betroffen sind. Neben den Ansätzen, die Sie als positiv für die Türkei gewertet haben, muß aber noch ein anderer Prüfstein genannt werden, nämlich die sofortige Aufhebung des Kriegsrechts und auch der Beginn zumindest der Diskussion, wie eine Amnestie für politische Häftlinge aussehen kann. Denn eine Demokratie kann unter Kriegsrecht ganz bestimmt nicht atmen. In dieser Frage sind wir uns doch alle einig, und wir sind uns auch einig mit den Forderungen des Europäischen Parlaments. Das Europäische Parlament hat ein Hearing zur Menschenrechtssituation für den 26. April dieses Jahres beantragt. Leider hat die Türkei wissen lassen, daß sie sich an diesem Hearing nicht beteiligen wird und diesen Tatbestand der Untersuchung als Einmischung zu werten gedenkt. Ich meine, daß wir das alle miteinander zu bedauern haben. ({3}) Es ist auch so, daß sich in der Türkei noch weitere Provinzen unter einem Ausnahmezustand befinden und daß von den Militärs eingesetzte Gouverneure - und nicht die Zivilverwaltung - die Möglichkeit haben, Ausnahmeregelungen auszurufen, weitere Ausgangssperren und Einschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten zu veranlassen. Der Prozeß, den Menschenrechten in der Türkei wieder Geltung zu verschaffen, läuft außerordentlich mühselig und auch widersprüchlich ab. So hat der Oberste Gerichtshof zu Beginn dieses Jahres zwar erklärt, daß unter Folter erpreßte Geständnisse nicht mehr gegen die Angeklagten verwandt werden dürfen, aber er legt auf der anderen Seite den Gefolterten die Beweislast dafür auf, daß sie gefoltert worden sind, und anerkennt dabei nicht einmal ärztliche Atteste. Auf Klagen über unmenschliche Haftbedingungen gehen Staatsanwälte und Richter überhaupt nicht ein. Die Haftbedingungen der politischen Gefangenen seien ausschließlich Sache der Militärs, denen es unbenommen sei, mit den ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen dafür zu sorgen, daß Ordnung in den Gefängnissen herrscht. Angesichts dieser und anderer Tatsachen muß man laut und vernehmlich seine Stimme erheben und nicht hinter vorgehaltener Hand und hinter verschlossenen Türen. Das ist es, was wir in dem Bericht vermißt haben, was aber, Gott sei Dank, der Außenminister heute nachgetragen hat. Wir haben allerdings Zweifel, inwieweit er in der Bundesregierung damit Gehör findet, nachdem das, was er gesagt hatte, hier durch den Grafen Huyn so relativiert worden ist. ({4}) Die Lage der ethnischen Minderheiten in der Türkei ist, wie wir alle wissen, sehr problematisch. Meine Erfahrung ist, daß man diese Frage in der Türkei kaum ansprechen kann, weil das schlicht geleugnet wird. Ich glaube, daß Pharisäer und Zöllner nicht auf das biblische Gleichnis beschränkt sind, sie sind auch in der Menschenrechtspolitik weltweit vertreten. Auch wir sind ein Stück dieser Welt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Menschenrechtssituation in der Türkei und der Zahl der Asylbewerber bei uns. Ich meine, die Behandlung der Asylbewerber bei uns in der Bundesrepublik - Sie wissen, ich komme aus Berlin - verstößt in einigen Bereichen gravierend gegen die Menschenwürde. Ich meine die Lebensumstände der Asylbewerber, besonders derjenigen, die in Abschiebehaftanstalten sitzen, in denen es zu so fürchterlichen Unglücken wie dem in Berlin-Lichterfelde, das sechs Tote gefordert hat, kommen konnte -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, ich muß Sie bitten, Ihre Rede zu beenden. ({0}) Das hilft alles nichts. Die fünf Minuten sind um. Es tut mir leid.

Dagmar Luuk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001400, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, daß man diese Dinge im Zusammenhang sehen muß und beides zu berücksichtigen hat, wenn man Menschenrechte gerecht bewerten und gegen ihre Verletzung gemeinsam vorgehen will. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Hoffmann.

Ingeborg Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns mit Menschenrechten befassen, sollten wir dies in diesem Hause wirklich unter dem Gesichtspunkt tun, daß Menschenrechte unteilbar sind, daß Folterungen, Gefangennahmen von politisch Andersdenkenden und Zwang und Mißhandlungen weltweit Unrecht sind. ({0}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich immer wieder öffentlich und auch in stiller Diplomatie, leise, weltweit für die Menschenrechte eingesetzt. ({1}) Frau Hoffmann ({2}) Ich bin in der Fraktion Ansprechpartner für diese Frage und habe viele Fälle von Amnesty International und der IGFM in alle Länder weitergetragen, teilweise sogar Erfolge erreichen können. Ich weiß, wie schwer und wie vielschichtig diese Aufgabe ist. Meine Damen und Herren, selbstverständlich ist in der Türkei, leider, ein Zustand gegeben, den wir mit unseren westlichen Maßstäben auf keinen Fall akzeptieren können. Aber es kommt doch immer darauf an, wie man sich für diese Menschen einsetzt ({3}) und wie man Erfolg hat, um ihnen zu helfen. ({4}) Hier ist, glaube ich, gerade die Delegationsreise, die wir seinerzeit mit Dr. Mertes gemacht haben, ein gutes Beispiel, Herr Kollege Karsten. ({5}) - Ich weiß. Wir waren beide dabei. - Karsten Voigt, pardon. Entschuldigung. ({6}) Wir haben erlebt, wie klug und diplomatisch Menschenrechtsfragen angesprochen wurden, wie sie von den Verantwortlichen dort verfolgt wurden, wie wir insistiert haben und nachher auch Erfolg hatten und Antworten bekamen. Auch die Deklaration war ein Ergebnis dieser Reise. Deshalb finde ich, daß der Vorschlag des Bundesaußenministers, uns hier wieder auf eine ähnliche Reise zu begeben, durchaus auch von der CDU/ CSU-Fraktion voll unterstützt werden sollte. ({7}) Es kommt nur darauf an, unter welchem Tenor wir es tun. ({8}) Wir werden sicher nicht als Inquisitoren dort auftreten, sondern wir werden als NATO-Partner, Freunde dort auftreten ({9}) und uns bemühen, für die Menschen in den Gefängnissen etwas zu erreichen. Es gehört aber auch dazu, daß man die Fortschritte, die kleinen Fortschritte, aber zugegeben Fortschritte in der Türkei zur Kenntnis nimmt. Wenn wir auch in der Zukunft Einfluß behalten wollen, wenn wir auch in der Zukunft etwas erreichen wollen, dann müssen wir doch auch dies bitte feststellen. Und bitte vergessen Sie nicht, daß die Bevölkerung in der Türkei heute noch dafür dankbar ist, daß seit dem 12. September 1980 Frauen und Kinder ohne Gefahr für ihr Leben auf die Straße gehen können, daß das Recht auf Leben doch mindestens ein erstrangiges, ein vorrangiges Menschenrecht ist und daß das dort erreicht wurde! ({10}) - Wir müssen doch schauen: In diesem Fall hat dies für die Menschen die Sicherheit auf der Straße bedeutet, die Sicherheit, sich frei bewegen zu können. ({11}) Wir sollten jetzt versuchen, daß diese Fortschritte weitergehen, und wir unseren Einfluß klug fortsetzen. Die Bundesregierung hat sich immer wieder in der Türkei für die Menschenrechte eingesetzt. Sie hat Antworten bekommen und auf generelle Verbesserungen mit einigem Erfolg hingewirkt. Ich glaube, diesen Weg nach vorn sollten wir mit ständigem Drängen, nicht aber mit spektakulären Aktionen begleiten. ({12}) In diesem Entwicklungsland ist wie in anderen Entwicklungsländern auch die wirtschaftliche Entwicklung eine Basis für die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage. Großzügige Entwicklungshilfe ist also ebenfalls ein wichtiges Element unserer Menschenrechtspolitik. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir freuen uns darüber, daß es in diesem Haus einen Konsens gibt, der darauf hinausläuft, daß eine Parlamentariergruppe, aus Mitgliedern aller Fraktionen bestehend, sich um die Menschenrechte in diesem konkreten Fall der Türkei kümmern wird. Ich möchte für uns sagen, daß wir voll übereinstimmen, wenn es darum geht, daß über diesen konkreten Fall hinaus Menschenrechte in der ganzen Welt unser Anliegen sind ({0}) und, wie ich glaube, das Anliegen auch dieses ganzen Hauses sein sollten. ({1}) Wir sind in einer Situation, wo wir zu entscheiden haben und wo unser Handeln gefordert ist: zwischen einem Prozeß, von dem gesagt wird, daß man warten soll, bis sich die demokratischen Verhältnisse in der Türkei stabilisiert haben, und der Situation von Menschen, die keine Zeit mehr haben zu warten, weil sie unter Bedingungen inhaftiert sind, die es ihnen nicht ermöglichen, monatelang auf einen Demokratisierungsprozeß zu warten. ({2}) Wenn ich in der vergangenen Woche aus Gründen, die vielleicht manchem hier im Haus nicht einsichtig sind, es für richtig gehalten habe, zusammen mit anderen auf meine Weise, die mir angemessen ist, in der Türkei auf diese Menschenrechte aufmerksam zu machen, dann glauben Sie mir, daß das nicht gemacht worden ist, um irgendwelche Vorteile herauszuholen, sondern aus genau dem gleichen Grund, aus dem wir jetzt eine gemeinsame Gruppe zusammenstellen. Ich habe in den Stunden, in denen ich dort festgehalten, inhaftiert war, von deutschen, spanischen, griechischen und französischen Journalisten, die von der Straße weggeholt wurden, weil sie unsere Aktion gesehen hatten, erzählt bekommen, daß sie, ohne filmen zu dürfen, an einem Gerichtsprozeß im Gefängnis Mamak teilgenommen haben, wo die Gefangenen ihre Oberkörper entblößt haben, wo sie ihre Beine gezeigt haben, wo sie dem Richter die Foltermerkmale gezeigt haben. Ich glaube, auch wenn es Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung der NATO in diesem Hause gibt - mit Sicherheit gibt es die -, wenn es Meinungsverschiedenheiten über den Prozeß der inneren Entwicklung der Türkei sowohl vor dem Militärputsch als auch danach gibt, auch wenn es Meinungsverschiedenheiten über die Taten gibt, derer die jetzt Inhaftierten bezichtigt werden, so muß uns das doch in einem Punkt zur Einigkeit bringen, nämlich in der Forderung nach Beachtung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die auch die Türkei als NATO-Verbündeter unterzeichnet hat. ({3}) In dieser Konvention steht in Art. 3: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Was wir hier in diesem konkreten Fall Türkei tun, tun wir auch - dessen sollten wir uns bewußt sein - für unsere Gesellschaft. Denn auch bei uns gilt es das Augenmerk darauf zu richten, daß es, wenn auch nicht Folter und diese Dinge - das ist klar -, so doch in den Beziehungen der Menschen untereinander, der deutschen und der ausländischen Mitbürger unter uns, gewisse Dinge gibt. Das, was wir jetzt für die Türken in den Gefängnissen tun, tun wir auch für die Beziehungen unter uns in der Bundesrepublik. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Schwarz.

Heinz Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002125, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist hier deutlich geworden, daß Menschenrechte nicht teilbar sind, daß Menschenrechte in der ganzen Welt unteilbar sind. Ich halte dies für wichtig. Folter ist nie entschuldbar. Folter ist nie ein Mittel, irgendwelche politischen oder anderen Ziele zu erreichen. ({0}) Der Herr Kollege Schily hat einen dramatischen Bericht über die Situation in der Türkei gegeben. Niemand von uns kann prüfen, ob die Zahl stimmt. Aber ich finde, es ist auch unerheblich, ob fünfzig Menschen gefoltert werden oder ob ein Mensch gefoltert wird. ({1}) Folter ist nie ein Mittel eines Rechtsstaates. Ich glaube, daß wir, die wir Freunde der Türkei sind - ich glaube nicht, daß alle hier Freunde der Türkei sind auch, wenn sie es sagen -, aus dieser Freundschaft heraus die Legitimation haben, ein offenes Wort zu sagen. Ein offenes Wort, in Freundschaft ausgesprochen, soll nicht verletzen, soll helfen. Ich glaube, wer es wirklich ernst meint um die Menschen, die in der Türkei Menschenrechtsverletzungen unterliegen, der sollte nicht verletzend reden, sondern der sollte freundschaftlich reden. Die türkische Regierung tut gut daran, wenn sie ihren Beitrag dazu leistet, daß es nicht möglich ist, irgendwelche Geschichten zu erzählen, wie das so aussieht. Es wäre im Interesse der türkischen Politik nützlich, im Interesse der türkischen Regierung, der Türkei selbst, wenn sie mehr Offenheit in dem zeigen könnte, was in ihrem Land geschieht. ({2}) Ich will zwei Vorschläge machen. Der türkische Halbmond sollte sich mit dem Internationalen Roten Kreuz in Verbindung setzen, um von dort Möglichkeiten zu bieten, objektive Informationen über die Zustände in türkischen Gefängnissen zu erreichen. Das wäre der eine Vorschlag. Vielleicht können wir auch, Herr Bundesaußenminister, Ihren Vorschlag unterstützen, daß der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Benda, die Möglichkeit bekommt, sich die Situation in der Türkei zu betrachten. Vielleicht sind dies Möglichkeiten, etwas zu tun. ({3}) - Ich rechne Sie nicht zu den Freunden der Türkei, die nun wirklich etwas wollen. Das beweist der Zwischenruf. Der Rechtsausschuß des Europarats wird Ende dieses Monats mit einer internationalen Delegation in die Türkei reisen, um die Menschenrechtslage zu überprüfen. Der Deutsche Bundestag wird dies tun. Ich möchte auf eines aufmerksam machen. Ich weiß nicht, ob die vielen Parlamentarier-Delegationsreisen - wir sagen ja zu dem Vorschlag - mittelfristig gesehen hilfreich sind oder ob nicht andere Möglichkeiten, die Zustände und die Bedingungen in türkischen Gefängnissen objektiv zu kontrollieren, wirkungsvoller sind. ({4}) Was wir tun können und was wir tun sollen, ist, die Bemühungen der jetzigen türkischen Regierung zu unterstützen; es ist hier darauf hingewiesen worden. Die Wahl des nationalen Parlaments war sicherlich nicht das, was wir nach unserem Verständnis demokratisch nennen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sowohl die Vorbereitung als auch die Durchführung der Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende unseren kritischen Vorstellungen über eine demokratische Wahl entsprechen und daß die Türkei auf einem guten Weg ist. Wer Freund der Türkei sein will, der sollte aus Sorge um die Menschen dort helfen. Ich möchte zum Schluß den Appell des Kollegen Voigt an die Hungernden unterstreichen: Hört auf mit dem Hungerstreik! Wir haben euch gehört. Wir werden Ihnen helfen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was aus den Mauern türkischer Gefängnisse über die Lage der Gefangenen zu uns dringt, löst Empörung aus. Es betrifft Zivilgefängnisse wie Militärgefängnisse. Erschütternd ist bereits die menschenverachtende und -unwürdige Behandlung bei dem, was dort wohl normaler Gefängnisalltag ist. Noch Erschreckenderes wird über die Lage der Gefangenen in den türkischen Militärgefängnissen berichtet. Direkt Betroffene, Angehörige oder Zeugen berichten, wie die Gefangenen dahinvegetieren, in überfüllten Räumen ohne ausreichende Schlafgelegenheit, bei Hitze und Kälte, unappetitlicher und mangelhafter Verpflegung, bei Gestank von Abfällen und Fäkalien. Es wird berichtet, daß Menschen mit Fäusten geschlagen, mit Fußtritten mißhandelt, mit Ketten geknebelt und mit Gewehrkolben traktiert werden. Es gibt Berichte über Folterungen durch Schläge mit Plastikschläuchen, Bewerfen und Belasten mit schweren Sandsäcken, Aufhängen an den Händen, Elektroschocks an Zunge, Körper und Genitalien, Schläge mit Holz- und Gummiknüppeln auf Hände und Fußsohlen, Bastonaden, Zwangslaufen auf Glasscherben, Eintauchen verwundeter Füße in Salzwasser und Scheinhinrichtungen. Besondere Brutalität zur Unterdrückung der ethnischen Minderheit der Kurden herrscht im Gefängnis von Diyarbakir. Dort soll erst in jüngster Zeit eine neue Folterzentrale eingerichtet worden sein. Es ist unsere Aufgabe - wir haben es hier heute getan -, der Stimme der Gefangenen, die im Getriebe der Folter gegen den Tod kämpfen, Gehör zu verschaffen. ({0}) Internationale Proteste und Besuchergruppen haben bei aller Verhärtung der türkischen Strukturen dennoch in begrenztem Maß für die politischen Gefangenen eine Schutzwirkung. Einige - meist bekanntere - Betroffene haben ihr Überleben den zahlreichen Interventionen aus dem Ausland zu verdanken. Aber auch die vielen leidenden Namenlosen brauchen unsere Fürsprache. Proteste dürfen nicht zur diplomatischen Routine oder gar zu Pflichtübungen am Rande von deutschtürkischen Regierungskontakten werden, sondern das Drängen auf die Achtung der Menschenrechte und die Abschaffung der Folter muß ein zentrales Anliegen unserer Politik gegenüber der Türkei sein und bleiben. ({1}) Bei seinem Besuch in der Türkei im letzten Jahr hätte Innenminister Zimmermann zu Beginn fast jedes seiner Gespräche weniger die alte deutschtürkische Waffenbrüderschaft beschwören sollen, sondern er hätte die moralischen Werte betonen sollen, denen sich die Länder der EG verpflichtet fühlen. Wirtschaftliche Stabilisierung und eventuell auch der Aufbau demokratischer Strukturen mögen als Prozeß zu begreifen sein. Der Schutz der Menschenrechte, insbesondere die Abschaffung der Folter in den Gefängnissen, kann unmittelbar erfolgen. Es muß von der türkischen Regierung nur wirklich gewollt werden. ({2}) Demokratie kann nicht herbeigefoltert werden. Niemand hat eine Entschuldigung, Menschen durch Folter zu quälen. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet, und wir treten um Punkt 9 Uhr in die weitere Tagesordnung ein. Ich rufe die Zusatzpunkte 5 und 6 der Tagesordnung auf: 5. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages - Drucksache 10/1201 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwenk ({1}) 6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages - Drucksache 10/1202 Berichterstatter: Abgeordneter Broll Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf den Drucksachen 10/1201 und 10/1202 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ge4418 Vizepräsident Frau Renger genprobe! - Enthaltungen? - Das ist so beschlossen. Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zu Änderung des Deutschen Richtergesetzes - Drucksache 10/1108 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({3}) Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ferner den Zusatzpunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Fischer ({4}), Dr. Jannsen, Frau Reetz, Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes - Drucksache 10/1184 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Im Ältestenrat ist für den Tagesordnungspunkt 23 und den Zusatzpunkt 2 eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart worden. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Begründung hat der Herr Bundesminister der Justiz.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Eine durchgreifende Umgestaltung der Vorbildung der Richter nach den Anforderungen der Zeit ist nicht erfolgt; sie harrt seit langem der Lösung." Mit dieser Feststellung wird in der „Deutschen Richterzeitung" das Problem der Juristenausbildung beschrieben, und zwar in der ersten Ausgabe dieser damals neu begründeten Zeitschrift vor nunmehr 75 Jahren, am 15. Januar 1909. Ich denke, schon dies macht deutlich, daß wir es hier mit einem ebenso schwierigen wie über die Zeiten hinweg bestehenden Problem zu tun haben, einem Problem, das sich heute verschärft stellt, weil es nach Ablauf der ingesamt dreizehnjährigen Experimentierphase, in der neue und unterschiedliche Ausbildungsgänge erprobt sind, dringend wieder einer Vereinheitlichung der Juristenausbildung bedarf. Die zunächst auf zehn Jahre befristete Experimentierphase, die dann noch um drei Jaher verlängert worden ist, läuft im September dieses Jahres aus. Es war sicherlich keine beneidenswerte Situation, feststellen zu müssen, daß nach einer langen Diskussion, in der man sich, aus welchen Gründen auch immer, nie auf einen Entwurf für die Neuordnung der Juristenausbildung hatte einigen können, in der neuen Legislaturperiode nur noch kurze Zeit für die Realisierung zur Verfügung steht. Hinzu kommt: Die Bedingungen für die Neuordnung der Juristenausbildung haben sich seit Beginn der Experimentierphase in zwei Punkten ganz grundlegend geändert. Der erste Punkt ist der starke Zustrom zum Jurastudium. Das Studium der Rechtswissenschaften war sicherlich seit jeher ein Massenfach, aber der Numerus clausus in anderen Fächern und die schlechten Berufschancen etwa für Lehrer haben dazu geführt, daß die Zahl der Studienanfänger seit 1971 noch einmal ganz enorm angestiegen ist. Weitere Belastungen der Universitäten und der Ausbildungskapazitäten der Praxis sind nicht mehr vertretbar. Der zweite Punkt ist die äußerst angespannte Haushaltslage in allen Ländern. Eine Neuordnung der Juristenausbildung, die mit einem wesentlichen finanziellen Mehraufwand verbunden ist, hat, ob es uns paßt oder nicht, keine Chance. ({0}) Vor dem Hintergrund dieser ganz harten Realitäten mußte mit den Ländern eine Verständigung erreicht werden. Das war angesichts der totalen Uneinigkeit, ja, der Ratlosigkeit, die noch auf der Justizministerkonferenz im Juni des letzten Jahres herrschte, und der Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Reformvorstellungen gewiß kein einfaches Unterfangen, zumal die Diskussion häufig ja unter ideologisch-parteipolitischen Frontbildungen geführt und dadurch die Erörterung der eigentlichen Sachprobleme manchmal vernebelt wurde. ({1}) Trotzdem ist es nun gelungen, vernünftige Lösungen zu entwickeln. Daß die vorgeschlagene Neuordnung der Juristenausbildung natürlich nicht allen Forderungen Rechnung tragen kann, die von den verschiedensten Seiten erhoben worden sind, kann eigentlich niemand überraschen. Der von der Bundesregierung jetzt vorgelegte Gesetzentwurf bietet Lösungen an, die unter den heutigen Bedingungen verwirklicht werden können. Die Lösungen halten an zwei unabdingbaren Zielen fest: an der Ausbildung zum Einheitsjuristen und der Vereinheitlichung der Ausbildung, soweit sie unbedingt notwendig ist. In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, daß es sich insbesondere der uns heute ebenfalls vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion der GRÜNEN zu einfach macht. Das Ziel der Vereinheitlichung erkennt verbal zwar auch er an, aber in der Sache will er die völlige Auseinanderentwicklung der Juristenausbildung fortsetzen, ja, zementieren. Zentrales Anliegen war 1971 und ist 1984 eine bessere Verbindung von Theorie und Praxis. Ohne die Bundesländer und ihre Universitäten mit auch finanziell nicht zu bewältigenden Maximalforderungen nach absoluter Vermengung theoretischer und praktischer Ausbildungsteile überzustrapazieren, wird in dem Entwurf der Bundesregierung unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Modellversuche das dringend Notwendige sichergestellt. Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, daß die inhaltliche Verbindung von Theorie und Praxis das Wesentliche ist. Die Zuspitzung auf die Fragestellung „Einstufigkeit oder Zweistufigkeit?" hat dies häufig verdeckt und eine ungute Polarisierung der Meinungen bewirkt. Für die inhaltliche Abstimmung und Verzahnung von Studium und Praxis schafft der Entwurf die erforderlichen Rahmenbedingungen. Der Student wird wesentlich intensiver als bisher an die Praxis herangeführt. Er muß während der Semesterferien insgesamt mindestens drei Monate lang an praktischen Studienzeiten teilnehmen. Die praktische Studienzeit ist damit so bemessen, daß sie nicht nur Praxisanschauung vermitteln kann,. sondern darüber hinaus die eigene Mitarbeit des Studenten ermöglicht. Für den Referendar ergibt sich dann eine bessere Verbindung von Theorie und Praxis dadurch, daß er während der Wahlstationen an einer Universität oder an der Verwaltungshochschule in Speyer oder bei einer Behörde oder einem Verband seiner Wahl ein Studium von einem halben Jahr absolvieren kann. Meine Damen und Herren, ein schwerwiegender Mangel der bisherigen Juristenausbildung ist das Fehlen einer frühzeitigen Leistungskontrolle; die im Vergleich zu anderen Studiengängen außerordentlich hohe Versagerquote bei der ersten juristischen Staatsprüfung zeigt dies überdeutlich. Künftig soll sich deshalb der Student bis zum Ende des zweiten Studienjahres Leistungskontrollen unter Prüfungsbedingungen stellen, die binnen eines Jahres einmal wiederholt werden können. Diese Leistungskontrollen werden eine Siebwirkung haben, vor allem aber eine rechtzeitige Signalwirkung für den Studenten. Ein frühzeitiges Ausscheiden ungeeigneter Studenten wird auf der anderen Seite die Ausbildungsbedingungen an den überfüllten Fakultäten verbessern und damit auch zu einer Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeit beitragen. Demgegenüber will der Entwurf der GRÜNEN von der frühzeitigen Leistungskontrolle absehen und damit an dem aus sozialen Gründen unhaltbaren Zustand festhalten, daß viele Studenten häufig erst als Familienväter über ihre mangelnde Eignung für den Juristenberuf unterrichtet werden. Besonderes Gewicht legt der Entwurf der Bundesregierung auf eine vertiefte Ausbildung durch exemplarisches Lernen. Während des Studiums soll sich der Student - seiner Neigung entsprechend - Wahlfächern widmen, die der Ergänzung und Vertiefung des Pflichtstudiums dienen. Die Präsidenten der Landesjustizprüfungsämter und die juristischen Fakultäten haben sich mittlerweise im vergangenen Jahr auf einen Stoffkatalog geeinigt, der sich nahtlos in den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf einfügt. Im Rahmen des Vorbereitungsdienstes wird die Vertiefung in erster Linie während der am Schluß der Referendarausbildung angesiedelten Wahlstationen stattfinden, für die ein halbes Jahr vorgesehen ist. Mit ihrer besonderen Ausgestaltung ist Wesentliches aus der Experimentierphase in den Entwurf der Bundesregierung übernommen worden, und zwar in einer Weise, die von den Fakultäten akzeptiert wird, die die Kosten in Grenzen hält und die sich damit auch tatsächlich verwirklichen läßt. Nach Ablauf von zwei Jahren Referendarausbildung und Ableistung des Hauptteils der schriftlichen Prüfung - bereits vor Beginn der Wahlstationen - hat der Referendar Gelegenheit, sich einem seiner Neigung entsprechenden Rechtsgebiet dann vertieft zu widmen. Die für die Entlastung der Wahlstationen vorgesehene Zweiteilung der zweiten Prüfung ist zwar beim Bundesrat auf Widerstand gestoßen, es ist jedoch überhaupt nicht zu übersehen, daß die Motivation, sich der Wahlstation wirklich vertieft zuzuwenden, bei jemandem fehlen wird und fehlen muß, der die gesamte schriftliche Prüfung noch vor sich hat. Ich bin aber zuversichtlich, daß sich die vom Bundesrat angesprochenen Fragen lösen lassen, und zwar in der Weise, daß sich durchaus das, was im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen ist, während der Beratungen und in der schließlichen Abstimmung durchsetzen wird. Die Anhörung der Verbände und die im Grundsatz positive Stellungnahme des Bundesrates haben die Erwartung der Bundesregierung verstärkt, daß der Entwurf die breite Akzeptanz finden wird und finden kann, die ein Vorhaben dieser Art braucht, um seine Ziele voll zu erreichen. Wenn auch über Einzelheiten noch gesprochen werden muß, hoffe ich insgesamt doch auf Zustimmung zu der vorgeschlagenen Synthese von Altbewährtem und jung Erprobtem. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({0}).

Gernot Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000551, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer Sie, Herr Justizminister, heute morgen hat reden hören und wer insbesondere wie ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, die sehr wortreiche Begründung Ihres Gesetzentwurfes auch noch lesen zu müssen, der wird sicherlich beeindruckt sein. Beeindruckt deshalb, weil eine Reihe hehrer, durchaus beachtlicher Grundsätze zitiert worden ist, von denen man sich bei der Formulierung dieses Gesetzentwurfes angeblich habe leiten lassen. Da ist die Rede davon, daß die praktische und theoretische Ausbildung enger verzahnt werden müsse. Da ist die Rede davon, daß das Erlernte wissenschaftlich vertieft werden müsse. Die Neugestaltung des Prüfungsverfahrens wird angesprochen. Schließlich wird die allzulange Dauer der juristischen Ausbildung beklagt. Man möchte sie abkürzen. Ganz am Rande hört man dann auch noch, daß die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der jetzt 13 Jahre dauernden Experimentierphase in diesem Gesetzentwurf berücksichtigt seien. Auch der Kollege Bohl von der CDU/CSU-Fraktion hat in der Debatte vom 25. November 1983 für seine Fraktion erklärt, daß die gesetzliche Neuregelung der Juristenausbildung dringend geboten sei und daß die Fischer ({0}) aus den Modellversuchen gewonnenen Erfahrungen unbedingt nutzbar gemacht werden müßten. Wer den Gesetzestext liest - und darauf kommt es schließlich an -, wird vergebens nach der Umsetzung dieser hehren Grundsätze suchen. ({1}) - Leider nicht. - Der Gesetzentwurf ist ein Schulbeispiel dafür, wie weit in der Politik Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen können. ({2}) Nun ist es kein Wunder, daß diejenigen - wenn ich einmal von den Claqueuren aus den eigenen Reihen absehe: ACDJ -, die von der Sache etwas verstehen, nur Kritisches hören lassen. Das gilt insbesondere dann, wenn man auch noch die vom Herrn Bundesjustizminister eben angesprochenen Verböserungsabsichten des Bundesrates in Betracht zieht. Da muß man sich nicht wundern, wenn der Deutsche Richterbund in einer Presseerklärung vom 6. Oktober 1983 sagt: Mit dem Entwurf werden die Hoffnungen all derer begraben, die sich in den verschiedenen Reformfakultäten mit großem Engagement für eine Verbesserung der allseits als reformbedürftig anerkannten Juristenausbildung eingesetzt haben. Am 1. März 1984 schreibt der Deutsche Richterbund an die SPD-Bundestagsfraktion: In der vom Bundesrat beschlossenen Fassung kann der Entwurf nicht mehr als eine Reform der Juristenausbildung bezeichnet werden. Und um das abzuschließen: Im April-Heft der „Deutschen Richterzeitung" schreibt der Landgerichtsvizepräsident Dr. Robert Herr - bekannt als Ausschußvorsitzender der Ausbildungskommission des Deutschen Richterbundes -: Der Berg hat gekreißt, und ein Mäuslein wurde geboren. Er nimmt damit ein Zitat von Karl-Heinz Krumm aus der „Frankfurter Rundschau" auf. Auch der Deutsche Anwaltsverein, der in dieser Frage ja durchaus konzessionsbereit war, schreibt am 8. Februar 1984, Herr Kollege Erhard, unter der Überschrift „Gnadenschuß für die Reform der Juristenausbildung": Das Reformziel, das im Gesetzentwurf nur in Ansätzen verwirklicht war, wird jetzt, nach den Ergänzungsvorschlägen des Bundesrates, völlig aufgegeben. ({3}) - „Gnadenschuß", so schreibt der Deutsche Anwaltsverein. In der „Deutschen Richterzeitung" heißt es im Januar-Heft 1984: So wird man zu einer Juristenausbildung zurückfinden, die weitgehend dem vor der Erprobungsphase herrschenden Zustand gleichkommt; es entspricht der Eigengesetzlichkeit politischer Logik, daß dabei die positiven Erkenntnisse der Erprobungsmodelle, wiewohl - für ihren Bereich - auch von maßgeblichen Politikern der unionsregierten Bundesländer hochgelobt, nahezu völlig auf der Strecke bleiben. ({4}) In einer Stellungnahme der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld vom 19. Januar 1984 heißt es: Die Neuregelungen leisten wenig und sind daher weitgehend ungeeignet, die dringend reformbedürftige Juristenausbildung zu verbessern. Professor Hart schreibt in der „Zeitschrift für Rechtspolitik" - um auch das noch zu sagen -: Es wird eine reformierte klassische Ausbildung in zwei Phasen sein, die mit den Experimenten der vergangenen 13 Jahre und ihren Erfahrungen nichts, mit der traditionellen zweiphasigen Ausbildung fast alles gemein hat. Das Ende der Reformphase scheint gleichzeitig das Ende der Reform zu sein. Wie wahr, meine Damen und Herren! Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, zementiert das überkommene zweistufige Ausbildungssystem, ein System, das namentlich auch von den Berufs- und Standesorganisationen der Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte immer wieder als unzureichend und mangelhaft kritisiert worden ist. Der Entwurf gibt vor, die dringend gebotene enge Verzahnung von theoretischer und praktischer Ausbildung zu verwirklichen. Doch auch davon kann keine Rede sein. In Wahrheit wird die hergebrachte und sich längst als fruchtlos erwiesene Einrichtung der sogenannten Ferienpraktika neu aufpoliert. Wer die Praxis kennt, weiß, daß entgegen Ihrer Auffassung, Herr Bundesjustizminister, den Auszubildenden dabei nicht die Rolle eines aktiven Mitarbeiters zufällt, sondern daß diese Rolle sich in einem passiven Herumsitzen erschöpft. ({5}) - Natürlich kann er das, Herr Bohl. Darüber wurde ja lange geredet. ({6}) Das wurde erprobt. Auch in unionsregierten Ländern wurde dies mit Erfolg erprobt. ({7}) Nur wollen Sie heute von Augsburg und ähnlichem nichts mehr wissen. Meine Damen und Herren, die immer wieder geforderte und - das ist ein zentraler Punkt - in den Modellversuchen jedenfalls bewährte Schwerpunktausbildung degeneriert in Ihrem Entwurf zu einer gesetzlichen Verankerung von Wahlpflichtfächern während des Studiums und einer Wahlstation in der praktischen Ausbildung. Das ist gemesFischer ({8}) sen an dem, was wir derzeit haben, wahrlich nichts Neues. Das wenige Neue, das noch vorhanden ist, nämlich der Abschluß der schriftlichen Prüfung vor Beginn der Wahlstation, soll, wenn es nach den CDU-geführten Bundesländern geht, noch weiter verwässert werden. Es wurde und wird immer wieder zu Recht beklagt - auch von Politikern der neuen Koalition -, daß den Juristen häufig das nötige Verständnis für die gesellschaftlichen Hintergründe und Auswirkungen rechtlicher Entscheidungen fehle. Deshalb sei es notwendig, gerade auch die Sozialwissenschaften stärker in die Ausbildung einzubeziehen. Doch nichts von alledem ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. Aber hier ist die Begründung wenigstens noch ehrlich. Die Einbeziehung der Grundlagenfächer und Nachbarwissenschaften wird als Ausbildungsziel oder Ausbildungsgrundsatz nicht mehr erwähnt, und die in § 5 a Abs. 2 enthaltene Floskel dient mehr, Herr Justizminister, der Beruhigung des eigenen Gewissen als der Veränderung des künftigen Ausbildungsgangs. Dabei sollte heute eigentlich jeder wissen, daß es zu Gerichtsurteilen wie etwa dem Frankfurter Urteil aus dem Jahr 1980, in dem einem Kläger die Beeinträchtigung seines Urlaubsgenusses bescheinigt wurde, weil er zusammen mit Schwerbehinderten in einem Hotel wohnen mußte, nur deshalb kommen konnte, weil dieser Richter diese Seite des menschlichen Lebens offenbar in der Ausbildung nie kennengelernt hat. ({9}) - Das halte ich in der Tat für ein Ausbildungsproblem. ({10}) Schließlich, meine Damen und Herren, wurde die Verkürzung der Ausbildungszeit als vorrangiges Ziel bezeichnet. Auch davon kann keine Rede sein. Sie, Herr Kollege Kleinert, der Sie ja von den Dingen etwas verstehen, wußten schon, weshalb Sie in der Debatte vom 25. November sagten, Sie hätten lieber ein anderes Gesetz verabschiedet - das sagten Sie sinngemäß -, ({11}) doch Sie hätten sich den Realitäten beugen müssen. ({12}) Doch wie sieht es denn mit den Realitäten aus? Da ist die Kostenfrage, die immer wieder hervorgehoben wird, doch außer Pauschalbehauptungen oder auf die reine Ausbildung bezogenen Kostenberechnungen habe ich bisher nichts gehört. ({13}) Abgesehen davon, Herr Kollege Erhard, daß es sehr zweifelhaft ist, ob man den Kostenfaktor bei der Reform der Juristenausbildung als maßgeblich ansehen muß - das ist wirklich sehr zweifelhaft -, meine ich, daß es schon sinnvoll gewesen wäre, das aufzunehmen, was bereits 1981 Professor Fleischmann vorgelegt hat, nämlich eine Kosten-NutzenBerechnung. Auch davon ist heute keine Rede mehr! ({14}) Interessant ist immerhin eines - das konzediere ich Ihnen -: daß sowohl in der Begründung des Gesetzes als auch auf dem sogenannten Vorblatt erwähnt ist, daß die Verkürzung der Ausbildung, so sie denn kommt, insbesondere unter Berücksichtigung der Zwischenprüfung durchaus dazu führt, daß die Ausbildung kostengünstiger ist. Nur frage ich mich, warum man, wenn das denn so ist, was wir ja behauptet haben, dann nicht Nägel mit Köpfen macht, warum man es bei einem Provisorium beläßt, wie wir es hier jetzt vorliegen haben. Dann kommt der zweite Einwand: die Ausbildungskapazitäten reichten nicht aus. Darüber, daß dies kein Argument ist, wurde im vergangenen Jahr schon gesprochen. In der Gesetzesbegründung wird dies auch nicht mehr allzu stark herausgestellt. Denn, meine Damen und Herren, wie will man sich eigentlich des Ansturms von jungen Studenten, die in die Ferienpraktika strömen, erwehren? Da sitzen dann doch vor einem Amtsrichter 30, 40 junge Leute, und sie sitzen eben nur, sie lernen die Praxis nicht kennen. Meine Damen und Herren, der wahre Grund des Widerstandes, der vornehmlich aus den Südstaaten unseres Landes kommt ({15}) - ja, und da kann ich mich nur dem anschließen, was der Kollege Kleinert, den ich erneut zitiere, in der letzten Debatte gesagt hat -, ist ein ganz anderer. Die Bremser sitzen in den Landesjustizverwaltungen, weil sie Mehrarbeit befürchten und weil sie, was noch schlimmer ist, befürchten, mitdenken und umdenken zu müssen. Daher kommt der Widerstand! ({16}) Meine Damen und Herren, wir alle sind uns sicher - so hoffe ich jedenfalls s- darin einig: Sollte das Gesetz bis zum 15. September 1984 in der jetzigen Form, die möglicherweise von der Bundesratsmehrheit noch verändert werden wird, verabschiedet werden, dürfte sich auf absehbare Zeit nichts mehr verändern lassen. ({17}) Es wäre jedoch eine Katastrophe und ein Armutszeugnis für den Gesetzgeber zugleich, wenn die Ju4422 Fischer ({18}) ristenausbildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch genauso aussähe, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war. ({19}) - Ja, ein paar gibt es, ein paar. ({20}) - Ja, Herr Bohl, das weiß ich. ({21}) Meine Damen und Herren, wir hätten dann eine Juristenausbildung - wie der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins dies im August 1983 bezeichnet hat - à la Bismarck. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. ({22}) - Das ist ein Zitat des Deutschen Anwaltvereins, Herr Kollege! - Wir bedauern außerordentlich, Herr Kleinert, daß die Gesetzentwürfe unter erheblichem Zeitdruck beraten werden müssen. ({23}) Auch das haben Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, zu vertreten, denn bei Ihrer Regierungsübernahme im Oktober 1982 lag ein fertiger Gesetzentwurf vor, ({24}) der ja die Zustimmung unseres früheren Koalitionspartners gefunden hätte. Herr Justizminister Engelhard hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, diesen Entwurf zur Grundlage der parlamentarischen Beratungen zu machen, ({25}) wie es j a auch in anderen Fällen geschehen ist, Herr Kollege Kleinert. Er hat es nicht getan; er mußte sich in dieser Frage - wie in anderen Fragen auch - dem Druck der CSU beugen, und er muß heute einen Entwurf vertreten, der nichts, aber auch gar nichts mit dem gemein hat, was den rechtspolitischen Vorstellungen der FDP zu Zeiten der sozialliberalen Koalition entsprach. ({26}) Vor diesem Hintergrund frage ich mich, was die in der übernächsten Woche vorgesehene Anhörung von Verbänden, Standesorganisationen und Fachleuten noch soll. Ich frage mich: Hat sie lediglich eine Alibifunktion, oder kann tatsächlich noch etwas verändert werden? Auf diese Frage erwarte ich eine klare Antwort, nicht zuletzt im Interesse derer, die am 11. April nach Bonn anreisen sollen. Meine Damen und Herren, es wäre unverzeihlich, wenn die Koalition ein Problem, an dem fast 13 Jahre gearbeitet worden ist, jetzt im Hauruckverfahren lösen wollte, ohne daß die bei den Modellversuchen gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse angemessen gewürdigt und berücksichtigt würden. Sollte dies tatsächlich beabsichtigt sein, so kann ich nur das wiederholen, was der von mir schon zitierte Vorsitzende der Ausbildungskommission des Deutschen Richterbundes, Dr. Robert Herr, am 29. September 1983 in der - zur Abwechslung - „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" geschrieben hat: Lieber gar keine Reform als diese. ({27})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das ist ja eine erfreulich lebendige Debatte. Das Wort hat der Abgeordnete Bohl. ({0})

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den vorliegenden Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des deutschen Richtergesetzes, bringt er uns doch dem Ziel, die Juristenausbildung mit Auslaufen der Experimentierphase am 15. September 1984 wieder zu vereinheitlichen, einen großen Schritt näher. ({0}) Ich meine durchaus, daß der Gesetzentwurf die Chance eröffnet, die in den Modellversuchen in den vergangenen 13 Jahren gewonnenen Erfahrungen und auch die Erkenntnisse aus der Fachdiskussion für die künftige Juristenausbildung nutzbar zu machen. Die Einheitlichkeit der Juristenausbildung ist für uns deshalb so dringend geboten, weil wir nicht wollen, daß der Wechsel der Universitäts- und Ausbildungsorte für Studenten und Referendare und damit die Mobilität der Auszubildenden erschwert wird. Wir wollen auch nicht, daß die Vergleichbarkeit der Ausbildung in den einzelnen Bundesländern aufgehoben wird. Entschieden wir uns für etwas anderes, so wie es die GRÜNEN offensichtlich mit ihrem jetzt eingebrachten Gesetzentwurf wollen, brächte das für alle Beteiligten und für unser Rechtswesen schlechthin schweren Schaden mit sich. Wie ist nun die Ausgangslage, Herr Kollege Fischer, bei der beabsichtigten Neuordnung? - Die Hörsäle, das wissen Sie, sind total überfüllt. Auch die Kapazität an praktischen Ausbildungsstellen ist bei noch steigendem Andrang zum Vorbereitungsdienst absolut erschöpft. Hierzu einige Zahlen: Im Jahre 1953 studierten im Bundesgebiet etwas mehr als 11 000 Juristen. Bis 1969 verdreifachte sich die Studentenzahl auf über 33 000. Bis zur letzten Zählung, im Wintersemester 1981/82, versiebenfachte sich die Zahl auf über 77 000 Jurastudenten. Auf 800 Einwohner ein Jurastudent! Jährlich nehmen zwischen 12 000 und 13 000 Abiturienten das Jurastudium auf, also mehr als in den 50er Jahren insgesamt an den Universitäten studiert haben. ({1}) Nach der Prognose für die Studenten- und Referendarzeit muß nach dem KMK-Beschluß vom 11. Juli 1981 bis Ende dieses Jahrzehnts davon ausgegangen werden, daß pro Jahr 15 000 Studienanfänger da sein werden. Die Zahl wird bis Mitte der 90er Jahre bei ca. 12 000 Anfängern liegen. Die Referendarzahlen werden in den 90er Jahren zwischen 7 000 und 8 000 pro Jahr liegen. Das sind doch Zahlen, die nicht nur im Hinblick auf die Berufsaussichten der jungen Juristen erschreckend sind. ({2}) Angesichts dieser Zahl läßt sich schon aus rein organisatorischen Gründen ein System des mehrfachen Intervalls, also das System der einphasigen Juristenausbildung einfach nicht verwirklichen, ({3}) zumindest nicht in Flächenstaaten, in denen doch der ständige Wechsel von Theorie und Praxis nicht darzustellen ist. Wie soll das denn gehen? ({4}) Hinzu kommen auch - da muß ich Ihnen entschieden widersprechen - finanzielle Gesichtspunkte, die ich bereits in der Debatte im November letzten Jahres vorgetragen habe. Nach dem vom Justizministerium, Herr Kollege de With, im Jahre 1979 selbst eingeholten Gutachten kostet die universitäre Ausbildung eines Jurastudenten in der herkömmlichen Form ca. 25 000 DM, eine Ausbildung nach dem Intervall-Modell 49 000 DM, also fast das Doppelte. Bei der schwierigen Haushaltslage von Bund und Ländern ist dies doch wirklich ein ganz gewichtiges Argument. ({5}) Wir kommen bei nüchterner Analyse der Ausgangslage und bei sachgerechter Würdigung der finanziellen Gegebenheiten zu dem Ergebnis: ({6}) In und für die nächsten 15 Jahre kommt man einfach nicht umhin, als Gesetzgeber dem Intervall-Modell - ich füge hinzu: zumindest derzeit - eine klare Absage zu erteilen. Ich will Ihnen auch deutlich sagen, daß die Modellversuche, die über das Intervallmodell gelaufen sind, zeigen, daß nicht garantiert ist, daß unter den gegebenen Umständen eine weit bessere Ausbildung stattfindet. Hier verweise ich auf den Abschlußbericht über die Ausbildung in Regensburg und Augsburg, bei der die Ausstattung in finanzieller, personeller und sachlicher Hinsicht sehr gut war, von Professor Rolinski, der nachgewiesen hat, daß bei dem Intervallmodell eine weit bessere Ausbildung nicht eintritt. Bei einer entsprechenden politischen Würdigung und Gewichtung dieser Gesichtspunkte muß das doch ein durchschlagendes Argument sein. ({7}) Wenn wir - das soll auch gesagt sein - dem Intervallmodell, also der einstufigen Juristenausbildung, eine klare Absage erteilen, soll das nicht bedeuten, daß wir die herkömmliche Ausbildung nicht verbessern wollen. Wir wollen die herkömmliche Ausbildung nicht ohne jede Änderung fortsetzen. Das wäre auf Grund der Erkenntnisse und Erfahrungen, die wir haben, in der Tat nicht richtig. Aber unser Lösungsansatz besteht darin, auf der Grundlage der herkömmlichen Ausbildung zu einer Verbesserung der Juristenausbildung ({8}) unter Berücksichtigung der gewonnenen Erfahrungen zu kommen. Das scheint ein vernünftiger, realistischer und auch von den Ländern vollziehbarer Mittelweg zu sein. ({9}) Ich habe die Grundsätze, die uns bei unserer Beurteilung dieses Gesetzentwurfes leiten, und die Maßstäbe auch in der Debatte im November letzten Jahres vorgetragen. Ich darf darauf Bezug nehmen. Ich glaube, daß wir sinnvollerweise an der Gliederung in ein dreieinhalbjähriges zusammenhängendes Studium und eine darauf folgende zweieinhalbjährige praktische Ausbildung festhalten sollten. Durch die Verpflichtung des Studenten, in der vorlesungsfreien Zeit - ich bin da anderer Meinung als Sie, Herr Fischer - an praktischen Studienzeiten teilzunehmen, sowie die Möglichkeit des Referendars, im Rahmen der praktischen Ausbildung in der Wahlstation an die Universität zurückzukehren, wird eine sinnvolle Verbindung von Theorie und Praxis in beiden Ausbildungsblöcken eröffnet. ({10}) Ich füge hinzu, Herr Kollege de With: Hier bleibt den Ländern natürlich eine gewaltige Gestaltungsmöglichkeit. Es wird auch darauf ankommen, daß die Länder das Angebot, diesen Rahmen des Gesetzgebers entsprechend umsetzen. Wir begrüßen auch die vorgesehenen studienbegleitenden Leistungskontrollen unter Prüfungsbedingungen. Sie haben Signalfunktion und führen zu einer frühzeitigen Orientierung des Studenten über seine Eignung und zu einer Verbesserung der Ausbildung in den höheren Semestern. Wir gehen auch davon aus - da stimmen wir Ihnen zu, Herr Minister -, daß durch die Leistungskontrollen die durchschnittliche Studiendauer verkürzt und die Zahl der Kandidaten für beide Staatsprüfungen verringert wird. Wir bekennen uns auch dazu, wie in dem Gesetzentwurf dem Gedanken der Vertiefung in Studium und Vorbereitungsdienst Rechnung getragen wird. So soll sich der Student im Studium Wahlfächern widmen, die mit den Pflichtfächern im Zusammenhang stehen. Innerhalb des Vorbereitungsdienstes hat vor allem die Wahlstation den Zweck und die Aufgabe der Vertiefung. Deshalb erscheint es uns - hören Sie bitte zu, Herr Kollege Fischer, das wird Sie durchaus interessieren - im Interesse der Effektivität der Ausbildung in der Wahlstation und damit der Vertiefung sachgerecht, daß die schriftlichen Prüfungsarbeiten vor dem Beginn der Wahlstation zu erbringen sind. Das ist ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die Stellungnahme des Bundesrates. ({11}) Dadurch wird ermöglicht, dann nach Landesrecht vorzusehen, daß auch die sich auf die Pflichtstation beziehenden schriftlichen Leistungen nach der Ausbildung bei der Wahlstation zu erbringen sind. ({12}) Die Wahlstationen würden dann aber ganz überwiegend zur Examensvorbereitung dienen, wie j a die Erfahrung eindeutig lehrt. Damit würde aber gerade der Zweck der Wahlstationen, die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vertiefen, in der Schlußphase eindeutig verfehlt. Es sei zugegeben, daß das für die Länder zu praktischen Problemen führen kann, insbesondere bei den sogenannten Hausarbeitsländern, Herr Minister. Aber wir meinen, daß diese Bedenken gegenüber dem Grundanliegen, zu der wünschenswerten Vertiefung zu kommen, zurücktreten müssen. Wir halten auch die praktischen Probleme für lösbar. Sie müßten bei gutem Willen durchaus ausgeräumt werden können. Lassen Sie mich abschließend betonen, daß wir an einer zügigen Beratung im Rechtsausschuß sehr interessiert sind, damit wir bald zur Verabschiedung kommen können. Wir sind daher auch der Opposition dankbar, daß sie es ermöglicht, daß wir bereits am 11. April dieses Jahres zu dem öffentlichen Hearing kommen können. ({13}) Dabei sind wir auch, noch einmal an Ihre Adresse gerichtet, Herr Kollege Fischer, für weitere Verbesserungsvorschläge und Anregungen im Rahmen der Grundsätze, die ich schon im November formuliert habe, durchaus offen. Ich will freimütig bekennen, Herr Minister, daß auch wir uns einen längeren Beratungszeitraum im Rechtsausschuß sehr gewünscht hätten. Allerdings muß deutlich gesagt werden, daß wir durch Fehler und Versäumnisse in der Vergangenheit, unter sozialdemokratischer Verantwortung, in diese zeitliche Not gebracht worden sind. ({14}) - Also, Herr Kollege de With, gegen die Länder oder an den Ländern vorbei, wie es der SchmudeEntwurf offensichtlich beabsichtigte, kann man die Juristenausbildung wirklich nicht regeln, zumal die Länder in Ausbildungsfragen verfassungsrechtlich abgesicherte Kompetenzen haben. Wir wollen die Juristenausbildung mit den Ländern und nicht gegen die Länder hier verabschieden. ({15}) Wir begrüßen es daher, daß mit dem Bundesrat, der den Gesetzentwurf für alsbald realisierbar ansieht und ihn auch begrüßt hat, eine Grundübereinstimmung in dieser Frage besteht. Die noch offenen Fragen erscheinen uns wirklich - und zwar für Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung akzeptabel - lösbar. Wir sind sicher, daß wir zeitgerecht, möglicherweise mit weiteren Verbesserungen, zur Verabschiedung des Entwurfs in Bundestag und Bundesrat, der mitwirken muß - Zustimmungsgesetz -, kommen werden. Wir haben die begründete Zuversicht, daß wir mit dieser Neuordnung die Juristenausbildung auf eine solide Grundlage für die nächsten Jahre stellen. Die bewährte Gliederung der Ausbildung in ein rechtswissenschaftliches Vollstudium und eine zusammenhängende praktische Ausbildung wird maßvoll, sinnvoll und zeitgerecht ergänzt bzw. verbessert. Der deutsche Einheitsjurist mit vielseitiger beruflicher Verwendungsmöglichkeit und einem auch im internationalen Vergleich hervorragenden Standard wird auch in Zukunft nicht nur möglich, sondern Wirklichkeit sein. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Vogt ({0}).

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und, vor allem, in Solidarität: Liebe Juristinnen und Juristen in der Ausbildung! Ich beginne mit einem der wohl berühmtesten deutschen Juristen und zitiere: Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew`ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte Vernunft wird Unsinn, Wohlstand Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, ({0}) Erstmalig in der leidvollen deutschen Juristengeschichte ist 1971 der Versuch gemacht worden, mit Jahrhunderten starrer Rechtsanwendungstradition schon in der Ausbildung des angehenden Juristen Vogt ({1}) zu brechen, und zwar durch eine Verschränkung von Theorie und Praxis, durch den Versuch, dem jungen Juristen schon in einer frühen Phase seiner Ausbildung die gesellschaftlichen Bezüge des Rechts zu vermitteln. Willkommene Nebenwirkung dieser sogenannten einphasigen Juristenausbildung war und ist noch, in all den Fällen, wo sie weiterhin praktiziert wird, die Verkürzung der Ausbildungszeit, Herr Engelhard. So sagt der jetzige Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg in einem durchaus kritischen Rückblick auf seine Bielefelder Erfahrungen mit der einstufigen Juristenausbildung: Ich zitiere - ich hoffe, diesmal ist das Zitat für Sie eine Wohltat -: Soweit man das zur Zeit erkennen kann, sind die Absolventen der Bielefelder Ausbildung in der beruflichen Ausbildung und in der beruflichen Praxis keineswegs schlechter als vergleichbare Assessoren. ({2}) - „Sie sind allerdings durchweg fünf Jahre jünger", heißt es weiter in dem Zitat, Herr Kleinert. Was hinzugefügt werden muß: Sie können sich bei einer solchen Ausbildung auch in bezug auf das Lebensalter mit der Kollegin und dem Kollegen aus EG-Ländern wie Frankreich und Italien messen. Der frühvergreiste, innerlich gebrochene, durch die unendliche Stoffülle verunsicherte Jurist deutschen Typs, der sich in seiner Verängstigung als Vielzweckwaffe einer jeden Obrigkeit einsetzen ließ, schien durch die Reform von 1971 tendenziell der Vergangenheit anzugehören. Erstmals hätte Justitia das von Goethe in dem eingangs gewählten Zitat beklagte Krankhafte abstreifen können. Erstmals keimte die Hoffnung, der Alptraum eines Volksgerichtshofsrichters Rehse oder des ihn freisprechenden Nachkriegsrichters Oske könne der Vergangenheit angehören. Das Bild vom fürchterlichen Juristen à la Filbinger hätte vielleicht verblassen können. Der sich bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit als Volljurist rühmende und so Kritik in Schach haltende Bürokrat höherer Weihe von der Spezies, wie sie soeben in mannigfacher Verkörperung vom Ministerialrat bis zum Minister durch den Untersuchungsausschuß Kießling gestelzt und gestolpert ist, wäre vielleicht nach und nach einem demütigeren, praxisnäheren Typus Jurist gewichen. Denn hinter den Reformbestrebungen von 1971 stand doch auch der Verdruß über einen Juristen, der nur stur Gesetze anwendete, welche Gesetze er auch immer anwendete. ({3}) - Das waren doch politische Richter! Die haben's nur nicht gemerkt. Das waren die grausamen Positivisten, ({4}) die wegen eines Scherzes in der nationalsozialistischen Zeit Urteile mitverantwortet haben, z. B. Herr Rehse, deren Beratung Roland Freisler schon mit dem Satz eingeleitet hatte: „Rübe runter!" ({5}) - Das ging dann in der juristischen positivistischen Anwendung j a ganz korrekt zu, Herr Kollege. Oder ich erinnere an die Erbgesundheitsgerichte, wo man sich berühmt hat, daß nun diese beiden Stände der Mediziner und der Juristen zueinander gefunden haben und wo man z. B. angeblich Erbkranke sterilisiert hat. Alles juristisch korrekt, Herr Kollege! Und Sie sagen, das waren keine politischen Urteile. ({6}) - Es hat damit zu tun. ({7}) Die Reformen ließen sich gut an. Das 1971 einstimmig vom Bundestag angenommene Experiment der einstufigen Juristenausbildung ({8}) hat gerade in den letzten Jahren Zuspruch und Ermutigung gefunden. Noch 1977 wurden derartige einstufige Ausbildungsgänge z. B. in Bayreuth eingeführt. Die Aufnahmekapazität der meisten Einstufenmodelle konnte vergrößert werden. So nehmen z. B. zur Zeit in Bielefeld 440 Studienanfänger und -anfängerinnen ihre juristische Ausbildung auf. Der Anteil der Absolventen der einstufigen Juristenausbildung beläuft sich gegenwärtig auf etwa 10 %. Theoretiker und Praktiker stimmen weitgehend darin überein, daß sich die einstufige Juristenausbildung bewährt hat. Noch am 25. Januar dieses Jahres hat eine öffentliche Anhörung des Justizausschusses des nordrhein-westfälischen Landtags zu einer uneingeschränkt positiven Beurteilung geführt, der sich übrigens auch Ihre CDU-Kollegen im Ausschuß angeschlossen haben. Ein umsichtiger Gesetzgeber würde nach der zwölf-, dreizehnjährigen Erprobungsphase sorgfältig die Ergebnisse der über das ganze Bundesgebiet gestreuten Experimente auswerten. Er würde die Berufsorganisationen der Juristen um ihre Meinung fragen - daß dies nicht geschehen ist, haben wir von dem Kollegen der SPD gehört - und schließlich zu einem wohl abgewogenen Urteil hinsichtlich der Fortschreibung und der Verankerung der neuartigen Ausbildungsform kommen. Ginge die Initiative vom zuständigen Bundesjustizminister aus, so hätte dieser bei sorgfältigem Abwägen des Für und Wider einen beachtlichen, wissenschaftlich vorgehenden Apparat zur Seite. Meine Damen und Herren, das ist aber leider nur die Bilderbuchvorstellung oder die Träumerei eines Vogt ({9}) Erstsemesters in Staatsbürgerkunde. Denn was geschieht in Wirklichkeit? Da das Experiment Einphasenausbildung nach dem Willen des Gesetzgebers von 1971 1984 auslaufen soll, erwacht die kranke Hierarchie eines deutschen Ministeriums und produziert einen Gesetzentwurf, der von Hessens Justizminister, dem derzeitigen Vorsitzenden der Justizministerkonferenz, „ein Werk der Enkel Kaiser Wilhelms" genannt wurde. ({10}) - Also, meinetwegen: der ehemalige Vorsitzende. Der Herr Bundesminister Engelhard, der, wäre er weitsichtiger gewesen oder besser beraten worden, wirklich genügend Zeit zur Bewertung des Experiments gehabt hätte, sieht sich unter Zeitdruck und liefert ein Konstrukt, das, wie Karl-Heinz Krumm zu Recht beklagt, „aus kleinen Retuschen des Herkömmlichen und Etikettenschwindel besteht" und „auch bei großzügiger Interpretation die Bezeichnung Reform nicht verdient". ({11}) Herr Justizminister Engelhard, Sie kommen mir vor wie ein Examenskandidat, der wie gelähmt die ersten Stunden der Klausurarbeit vertrödelt und dann in der letzten Stunde unter psychischem Druck, den Sinn der Aufgabe verkennend, eine ihm bekannte Entscheidung den an sich zu lösenden Sachverhalt aufquetscht. ({12}) Der Unterschied zu dem Kandidaten, der sich durch die schlechte Zeiteinteilung die Aussicht auf ein gutes Examen verbaut, ist freilich der, daß Sie mit Ihrer gesetzgeberischen Tatbestandsquetsche ganzen Generationen künftiger Juristen ein Stück Zukunft verbauen und der ganzen Gesellschaft die Chance rauben, einen wirklichkeitsnäheren, dem real existierenden Mitmenschen gerecht werdenden Juristenstand zu erleben. ({13}) Ich zitiere wieder den schon erwähnten Kommentator einer Frankfurter Zeitung. Er sagt - und ich schließe mich ihm an Man wollte in diesem Bereich die Zukunft gewinnen und hat die Vergangenheit zementiert. ({14}) Ich habe hier nicht die Zeit, näher auf den SPD-Entwurf einzugehen. Aber ich schließe mich dem Befund eines sachkundigen Kritikers, nämlich Professor Dieter Hart, an. Er nennt den SPD-Vorschlag „reformorientiert, aber chancenlos", während aus seiner Sicht der Regierungsentwurf „chancenreich, aber orientierungslos" ist. Meine Damen und Herren, haben wir wirklich nur die Wahl zwischen diesen beiden Extremen? Die GRÜNEN versuchen, der gesellschaftlichen Pattsituation - insbesondere, wenn man die Betroffenen bedenkt - in der Beurteilung der beiden zur Zeit konkurrierenden Ausbildungskonzepte gerecht zu werden. Der entscheidende Ausgangspunkt unseres Gesetzentwurfs ist der, daß ein langfristiges Reformvorhaben wie die Juristenausbildung nicht unter dem Druck gegenwärtiger Kapazitätsprobleme gelöst weden kann. Wir alle würden unseren Beruf zur Gesetzgebung verfehlen, wenn wir, geschockt durch den zu erwartenden Andrang, in den kommenden Jahren der Juristenschwemme dadurch beikommen wollten, daß wir die Studenten durch die altbekannte Knochenmühle der zweiphasigen Juristenausbildung aus Kaiser Wilhelms Zeiten leiten würden. Wir schlagen vor, endlich die einstufige Ausbildung als gleichberechtigt anzuerkennen und dadurch im anspornenden Nebeneinander zweier Ausbildungsgänge weitere praktische Erfahrungen zu sammeln. ({15}) Ein entscheidender Vorteil unseres Vorschlages ist, daß sich unter dem Eindruck der in der Praxis um fast ein Drittel kürzeren Dauer der einphasigen Juristenausbildung eine Entwicklung hin zu einer Verkürzung auch der herkömmlichen zweiphasigen Juristenausbildung ergeben wird. Ich kann im übrigen auf die Ihnen schriftlich vorliegende Begründung verweisen. Wenn den künftigen Jurastudenten eine Wahl zwischen einstufiger und zweiphasiger Ausbildung erhalten bleibt, dann haben wir als Gesetzgeber all denen eine Entfaltungschance gelassen, die - wie die Reformatoren des Jahres 1971 - erkannt haben, daß Praxis ohne Theorie blind, Theorie ohne Praxis aber leer ist. Die Verschränkung von Theorie und Praxis, wie sie die einstufige Ausbildung anstrebt, hilft, diesem Dilemma zu entgehen. Wer dies auf der Grundlage der bisherigen Experimente skeptisch sieht, hat das Wahlrecht und kann sein Heil im altvertrauten Ausbildungsmodell suchen, wenn er meint, dies unbedingt tun zu müssen. Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein ehrlicher Kompromiß, und ich bitte Sie, sich damit zu befreunden. Danke schön. ({16})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich verstehe jetzt etwas besser, warum sich die GRÜNEN bei Abstimmungen so häufig erst erheben, wenn Enthaltung aufgerufen wird. Ihr Vorschlag entspricht völlig dieser Grundtendenz, die mir übrigens menschlich sehr sympathisch ist, die aber unsere Gesellschaft nicht weiterbringen kann. Sie sagen: Laßt doch jeden machen, wie er will, und jedes Land, wie es will. - Und dann haben wir, weil Sie nämlich die Praxis nicht bedenken, die Kleinert ({0}) Situation, daß die Leute noch mehr als bisher in folgender Weise - so ähnlich wie beim Einzugsgebiet einer Molkereigenossenschaft - studieren: möglichst nahe an zu Hause, Beine unter Vaters Tisch strecken. Hinterher wundert man sich dann und schiebt es auf die Anlage des juristischen Studiums, daß die Leute nicht die geringsten Lebensbezüge in ihren Beruf einbringen. Das fängt schon einmal damit an, daß sie nicht in jungen Jahren einmal eine Reihe möglichst weit von zu Hause entfernter Universitäten aufgesucht und sich anderen Leuten und anderen Gebräuchen und Sitten gestellt haben. Außerdem glaube ich, daß ein ganzes Rudel von Psychologen und Soziologen an einer juristischen Fakultät nicht halb so viel Nützliches stiften können wie die Betätigung im Studentenschnelldienst, ({1}) wo man nämlich ganz einfach und klar noch einmal etwas mit der Hand anfaßt, bevor man sich der reinen Theorie zuwendet. Ich halte das für viel besser. ({2}) Im übrigen, damit Sie mich bloß nicht mißverstehen: Für mich gibt es kein Problem mit der einphasigen und zweiphasigen Ausbildung. Ich habe schon mehrfach an dieser Stelle versucht, das deutlich zu machen. Ich bin ganz weit weg von der hier zu Recht schon beklagten ideologischen Verhärtung in dieser Frage. Ich würde es sehr begrüßen - Herr Fischer hat mich aufgefordert, das noch einmal zu bestätigen, und ich tue es gern -, wenn wir zu einer praxisorientierten, moderaten einstufigen Ausbildung kommen könnten. Das wäre eine Konsequenz aus den Experimenten der zurückliegenden Jahre, die ich sehr begrüßen würde. Nun ist es natürlich nicht so, wie Sie meinen, nämlich daß Herr Justizminister Engelhard jetzt hier irgend etwas unter Zeitdruck machen würde; Zeit war vielmehr satt da. Man hat j a diese Experimentierphase begonnen, um in Ruhe zu überlegen und auszuprobieren. Das haben sowohl Herr Vogel als auch Herr Schmude getan. Sie haben die Zeit genutzt, und sie haben durchaus vernünftige Entwürfe unterbreitet, die ja jetzt nur wieder vorgelegt worden sind. Aber sowohl Herr Vogel als auch Herr Schmude sind natürlich an den gleichen Länderjustizministerien - übrigens weitgehend ohne Ansehen der politischen Couleur; machen wir uns da nichts vor - gescheitert wie jetzt Herr Engelhard auch. Wir haben mit den Kollegen der CDU/CSU im Deutschen Bundestag bei Gesprächen über das, was in der jetzigen Koalition hier sinnvollerweise zu tun wäre, sehr rasch Einigkeit über eine dem, was schon früher vorgelegt worden ist, verhältnismäßig entsprechende - bei der Namensgebung will ich vorsichtig sein - einstufig moderierte, zweistufige Ausbildung erzielt. ({3}) Damit hat man sich auch früher schon gequält, und darauf kommt es gar nicht an. Es kommt auf eine möglichst gute Durchdringung von Theorie und Praxis an, und diese Durchdringung wird in dem jetzigen Entwurf nicht so erreicht, wie wir uns das wünschen. Das scheitert daran, daß man einfach nicht bereit ist, das Risiko einzugehen, das man verwaltungsmäßig eingehen müßte, wobei man dem insbesondere - das muß man als mildernden Umstand wohl gelten lassen - wegen der dramatisch angeschwollenen Zahl der Studierenden organisatorisch nicht gewachsen ist. Ich wäre dafür gewesen, dies zu wagen; die Länderjustizministerien wagen es nicht. ({4}) Dann hätten wir in der Tat jetzt nur die Möglichkeit, auf den Entwurf der GRÜNEN zurückzugreifen, um aus dem Dilemma herauszukommen, wobei wir dann jedes Land machen lassen würden, was es gern möchte. Dann hätten wir eine völlig uneinheitliche Ausbildung, dann hätten wir keine freie Wahl des Studienplatzes mehr, und dann hätten wir keine Vergleichbarkeit, keine Versetzungsmöglichkeiten zwischen den Bundesländern. Das wäre die Alternative. Angesichts dieser zugegebenermaßen sehr, sehr unerfreulichen Alternative haben wir uns nun mit dem Bundesjustizminister dafür entschieden, einen zweifellos nicht befriedigenden, aber den einzigen, wie Sie selbst zitiert haben, aussichtsreichen Weg zu gehen, um wenigstens die Einheitlichkeit zu bewahren. ({5}) Denn zum Schluß wird es nicht so sehr auf die Ausbildung ankommen, was hier heute schon mehrfach angeklungen ist. Der Frankfurter Richter, der diesen Rollstuhlfahrerfall entschieden hat, hätte eine anständige Kinderstube gebraucht. Man braucht überhaupt nicht zu studieren, um zu wissen, daß eine solche Entscheidung unmöglich ist. ({6}) Ich brauche keine zusätzlichen Momente in der juristischen Ausbildung, um zu wissen, daß so ein Urteil nicht geht. Wir können uns hier natürlich Urteile besonderer Art reihenweise erzählen. Ich kann Ihnen auch sagen, daß es nicht sehr erfreulich ist, daß es ein im übrigen in anderer Richtung sehr verdienter und auch sehr temperamentvoller Senatspräsident aus Stuttgart kürzlich fertiggebracht hat, mit seinem Senat zu entscheiden, daß der Ehemann, der seiner Frau zu Hause die Bankunterlagen zum Mitunterschreiben hinlegt, nach § 56 der Gewerbeordnung als reisender Vertreter der Bank tätig gewesen und daß deshalb der Vertrag nichtig ist. ({7}) Man muß erst einmal darauf kommen, daß der Ehemann mit seiner Ehefrau in dieser Form nicht mehr zu Hause eine kleine geschäftliche Angelegenheit Kleinert ({8}) erledigen kann, sondern daß das gegen die Gewerbeordnung verstößt. ({9}) Mit solchen Geschichten können wir uns länger erheitern, und ich erwähne es nur, weil ich der Meinung bin: Zum Schluß wird es auf die Personen und darauf ankommen, wie sie sich erst zu Hause, dann in ihrem Studium und anderwärts entwickelt haben. Da wäre es wünschenswert, auch von seiten des Studiums das Optimale zu tun, damit diese Entwicklung zu einem vernünftigen Juristen weiter begünstigt wird. Vielen ist es ohne frühzeitige Vergreisungserscheinungen gelungen - Sie haben einen anderen Weg gewählt, um der Vergreisung zu entgehen, wenn ich das richtig gelesen habe -, noch einigermaßen frisch zu bleiben. Da habe ich überhaupt keine Komplexe. ({10}) Die entscheidende Stelle Ihres Entwurfs bzw. seiner Begründung scheint mir zu sein, daß existenzbedrohende Prüfungen zur Unzeit vermieden werden müssen. ({11}) Da kommen wir an einen interessanten Punkt. Ich bin nämlich der Meinung, daß uns Wähler weglaufen, weil wir nicht den Mut haben, junge Leute zur rechten Zeit zu fordern, Leistung zu bringen, ({12}) und weil wir nicht den Mut haben, ihnen klar zu sagen, daß es für sie allein ein ganz großer Schaden ist, wenn sie nicht in jungen Jahren und im Studium echt gefordert werden und auch die Möglichkeit haben, ihre Leistungen durch Prüfungen - wie soll das sonst gehen - unter vernünftigen Bedingungen zu überprüfen, denn das Leben ist schließlich auch eine Prüfung. Für die 77 000 Studenten, die heute Jura studieren, wird das Leben eine furchtbare Prüfung. Das verdanken wir u. a. Leuten wie Herrn Picht und einer großen Zahl seiner Mitstreiter, die das Marketing für den öffentlichen Dienst erfunden und als eine Verbesserung unseres Bildungswesens ausgegeben haben. ({13}) Diese Äußerung ist nicht sehr beleidigend, weil die meisten dieser Menschen das Wort „Marketing" sprachlich überhaupt nicht einordnen und sich unter dem Begriff nichts vorstellen können. Ich bin der Meinung, daß wir den Studenten ganz dringend helfen müssen, die durch ein verkehrt angelegtes Schulsystem und durch die Feigheit anderer Leute, eine klare Entscheidung über die zu einem Numerus-clausus-Verfahren führenden Gründe zu treffen, in das Jurastudium als ein Überlaufbecken für all diejenigen gedrängt werden, die das Abitur haben, aber nicht recht wissen, was sie damit machen sollen. Dies ist eine Zumutung an die jungen Leute, deren tragische Bedeutung diese erst erkennen werden, wenn sie versuchen, in diesem Beruf hinterher ihren Gelderwerb zu finden. Wir haben jetzt die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das wenigstens einigermaßen gutgeht, nachdem es schon katastrophal angelegt ist. Ob man für sein Studium einen Schönfelder, einen Vorlesungssaal oder ein kompliziertes Instrumentarium braucht, kann für die Anwendung von Zulassungsbeschränkungen in der einen oder anderen Richtung überhaupt nicht entscheidend sein. ({14}) Genau dieser Fehler ist hier gemacht worden, und zwar auf dem Rücken junger Leute und ihrer Zukunftsaussichten. Darüber müssen wir nachdenken. Unabhängig von der Frage „einstufig oder zweistufig?" möchte ich erreichen, daß es eine Unterweisung gibt in der Technik der geistigen Arbeit, in der Büroorganisation, im Umgang mit einem Computer, im Abrechnungswesen. Hier nenne ich beispielsweise auch den Umgang mit der Gebührenordnung der Anwälte. Die Leute werden j a alle Anwälte; denn die öffentliche Hand, die an dem jetzt über uns hereinbrechenden Überfluß an Juristen nicht ganz unbeteiligt war, hält sich sorgfältig frei und wird keinen zusätzlich einstellen. Es werden also Scharen von Rechtsanwälten in die Welt gebracht. Das wird große Probleme mit sich bringen, die ich gar nicht weiter ausbreiten will. Ich möchte die Situation positiv sehen. Dies heißt: Dann muß man durch die Ausbildung - ich wiederhole mich: egal, ob zweistufig oder einstufig - dafür sorgen, daß die Leute für einen praktischen Beruf besser geschult sind, daß sie mit Techniken vertraut gemacht werden. Dazu brauche ich weder Psychologen noch Soziologen, sondern Betriebswirte, Praktiker, die den Leuten beibringen, was auf sie hinterher im Leben zukommt und wie sie in ihrem Beruf etwas werden können. Wenn man so verfährt, zeichnet sich die Möglichkeit ab, daß wenigstens einige mehr in diesem Beruf später auch Geld verdienen und für unser Land nützlich tätig werden können, eine Möglichkeit, die ich zur Zeit jedoch überhaupt nicht sehe. Die aufgezeigte Möglichkeit wird dadurch erschlossen, daß der Beruf des Anwalts wesentlich erweitert wird. Nicht nur im Bereich der Steuerberatung, sondern auch im Bereich der Unternehmensberatung kann in der Rolle als Vertrauensmann gegenüber den Mandanten auch auf Gebieten, die über das rein Rechtliche hinausgehen, nämlich eine Leistung erbracht werden, die es dem einen oder anderen Unternehmen erspart, dafür jemand mit fester Besoldung einzustellen, sondern es dem Unternehmer angezeigt erscheinen läßt, dafür lieber zu seinem Anwalt zu gehen, um sich mit ihm zu beraten. Zu diesem Zweck darf aber der werdende Anwalt im Studium nicht irgendwelche zusätzlich verblasenen Theorien, sondern muß er viel mehr Wissen von der Wirklichkeit unserer Welt und unserer Wirtschaft aufnehmen, damit er dadurch mehr Berufschancen erhält. Das ist etwas, was wir jetzt in einer verfahrenen Situation nur noch tun Kleinert ({15}) können, um den jungen Leuten zu helfen: die Chancen durch eine bessere und praxisnähere Ausbildung breiter machen. ({16}) Ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, daß dort im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung etwa dreimal so viele Anwälte tätig sind wie bei uns. Das geht darauf zurück, daß die Ausbildung dort derart praxisbezogen ist und die Anwälte offensichtlich so viel tüchtiger und lebensnäher sind, daß es den Unternehmern geraten erscheint, in viel stärkerem Maße den Freiberufler in Anspruch zu nehmen, als fest besoldete Leute für die gleichen Tätigkeiten einzustellen. Wenn wir dies nicht erreichen, dann werden die ganzen Bildungspolitiker um uns Juristen herumstehen und sagen: Das haben wir nicht gewollt, wir haben uns das mit dieser Juristenschwemme alle ganz anders vorgestellt. Dann wollen wir uns als Juristen vernünftigerweise darum bekümmern. Wir haben bedauernswerterweise zwar nur die klassische Ausbildung gehabt - ich würde den jungen Leuten gern eine viel bessere Ausbildung gönnen -, aber wir sind mit unserer Ausbildung immer noch in der Lage, zu erkennen, daß das, was Sie wollen, nicht annähernd so gut ist wie das, was ich soeben ein wenig anzudeuten versucht habe und was den jungen Leuten helfen wird - im krassen Gegensatz zu anderen Ideen. Danke schön. ({17})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache. Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/1108 und 10/1184 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sowie an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß der Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN unter Tagesordnungspunkt 24 betreffend Änderung des Einkommensteuergesetzes - das ist bereits gestern mitgeteilt worden - zurückgezogen worden ist. Ich rufe also den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes - Drucksache 10/1189 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Rechtsausschuß Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? ({1}) - Sie schließen das mit ein, Herr Dr. Kreile? Gut, ich glaube auch, daß wir Begründung und Debatte zusammenfassen können. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache, die die Begründung mit umfaßt. Dazu hat zuerst das Wort Herr Dr. Kreile.

Prof. Dr. Reinhold Kreile (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsdient! Meine Damen und Herren! Der Große Senat des Bundesfinanzhofs hat im Februar 1984 zwei bemerkenswerte und für die Fortentwicklung des Steuerrechts, insbesondere des Bilanzsteuerrechts, bedeutsame Entscheidungen veröffentlicht. Anlaß für diese Entscheidungen war die Frage, ob eine im Zusammenhang mit dem Betrieb stehende Geldbuße als Betriebsausgabe abgezogen werden kann. Der Große Senat hat diese Frage auf Grund des derzeit geltenden Steuerrechts bejaht, gleichzeitig aber den Gesetzgeber darauf hingewiesen, daß es seine Sache sei, die Gesetzeslage in Ordnung zu bringen. Dies tun wir nunmehr durch Vorlage eines von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragenen Gesetzes, ({0}) eines Entwurfs, der die steuerliche Abzugsfähigkeit von Geldbußen und Geldstrafen als Betriebsausgaben oder als Werbungskosten ausschließt. Dies ist keine Korrektur der Entscheidung des obersten deutschen Finanzgerichts, des Bundesfinanzhofs, sondern wir respektieren den Hinweis des Bundesfinanzhofs, daß es Sache des Gesetzgebers sei, hier zwischen dem steuerrechtlichen Betriebsausgabenprinzip und dem strafrechtlichen Zweck der Geldbuße abzuwägen. Diese Abwägung nimmt der Gesetzgeber nunmehr vor und entscheidet sich dafür, daß der strafrechtliche Zweck der Geldbuße, ein unlauteres Gewinnstreben präventiv zu bekämpfen, den Vorrang hat. Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs ist deswegen so bedeutsam, weil sie bei dieser schwierigen und höchst unpopulären Frage mit einem der Grundprinzipien unseres Rechtsstaates Ernst machte, nämlich dem Prinzip der Gewaltenteilung. Der Bundesfinanzhof hat in seiner Entscheidung klar herausgearbeitet, was Sache der Rechtsprechung ist, und ebenso klar herausgearbeitet, was Sache der gesetzgebenden Gewalt ist, und daß eine Vermischung beider Gewalten das Recht nicht fördert, sondern zerstört. Es scheint mir deswegen wichtig zu sein, einige der Grundüberlegungen des Bundesfinanzhofs hier noch einmal festzuhalten. Das Gericht weist zunächst auf den auch im Einkommensteuerrecht verankerten Grundsatz hin, daß Betriebsausgaben Aufwendungen sind, die durch den Betrieb veranlaßt sind. Sie sind dann durch den Betrieb veranlaßt - sagt der Bundesfinanzhof -, wenn sie objektiv mit dem Betrieb zusammenhängen und subjektiv dem Betrieb zu dienen bestimmt sind. Betriebsausgaben mindern den Gewinn - so die klare, am Bilanzsteuerrecht orientierte weitere Feststellung des Bundesfinanzhofs -, es sei denn, daß das Gesetz einzelne Betriebsausgaben vom Abzug ausdrücklich ausschließt. Genau das aber tut das geltende Gesetz nicht. Der Bundesfinanzhof arbeitet das mit folgenden Überlegungen heraus - ich darf zitieren -: Steuerrechtlich ist der Abzug der Geldbuße bei der Ermittlung des Gewinns eine notwendige Folge des steuerrechtlichen Nettoprinzips. Der Steuerpflichtige erfüllt durch Zahlung der Geldbuße den Tatbestand einer Betriebsausgabe. Diese ist bei der Ermittlung des Gewinns abzuziehen. Das BVerfG hat das steuerliche Nettoprinzip, das ein Ausfluß der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist ({1}), grundsätzlich anerkannt, dem Gesetzgeber aber zugestanden, einzelne Betriebsausgaben vom Abzug auszuschließen ({2}). In der bisweilen recht hitzig geführten Debatte um diese Entscheidung des Bundesfinanzhofs wurde der Begriff der „Einheit der Rechtsordnung" beschworen, wonach es nicht vertretbar erscheine, Straf- und Geldbußen durch Zulassung der steuerlichen Abziehbarkeit teilweise auf die Allgemeinheit zu überwälzen. Der Bundesfinanzhof hat hier die Dinge mit einer interessanten Bemerkung zurechtgerückt, wenn er darauf hinweist - ich darf nochmals zitieren -: Von „Überwälzen auf die Allgemeinheit" könnte man nur dann sprechen, wenn durch den Abzug der Betriebsausgaben ein bestehender Steueranspruch des Staates gekürzt würde. Das aber ist nicht der Fall; der Abzug der Betriebsausgaben dient der Feststellung des Steueranspruchs, ... Der Abzug von Betriebsausgaben ist daher kein „Steuervorteil", ..., sondern eine notwendige Folge des steuerlichen Nettoprinzips. Es ist deswegen Sache des Gesetzgebers, die Einheit der Rechtsordnung zu gewährleisten. Deswegen ist es auch Sache des Gesetzgebers, Geldbußen und - insoweit klarstellend - auch Geldstrafen durch gesetzliche Regelung vom Betriebsausgabencharakter auszunehmen. Der Gesetzgeber hat sich dieser seiner Aufgabe durch die nunmehr vorgelegten Gesetzentwürfe in der größtmöglichen Schnelligkeit angenommen. Der von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragene Gesetzesvorschlag zielt darauf ab, daß nicht nur für die Zukunft das bisher insoweit unvollständige Gesetz vervollständigt wird, sondern auch die noch offenen Fälle der Vergangenheit demselben Abzugsverbot unterworfen werden. Hier wird man jedoch sicherlich noch einige Überlegungen darüber anstellen müssen, ob es sich um eine im steuerlichen Bereich nicht zulässige Rückwirkung des Gesetzes handelt oder um eine steuerlich zulässige Gestaltung der noch offenen Fälle. Dabei geht es nicht um die Frage, ob bei einer Änderung der Rechtsprechung ein Vertrauensschutz besteht oder ein Vertrauensschutz behauptet werden kann. Vielmehr geht es darum, ob Steuerpflichtige darauf vertrauen können, daß ein bestehendes Gesetz bei ihnen angewendet wird, und zwar in der Auslegung, die das höchste Steuergericht diesem bestehenden Gesetz gibt. ({3}) Unsere Begründung, eine Rückwirkung sei deshalb zulässig, weil die Betroffenen nicht hätten damit rechnen können, daß der Bundesfinanzhof das Gesetz in einer bestimmten Weise auslegt, bedarf deswegen noch einer recht vertieften verfassungsrechtlichen Betrachtung, die wir in den Ausschüssen mit Sicherheit vornehmen werden. Ich sagte zu Beginn, daß die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, die Anlaß zu unserer heutigen Gesetzgebung sind, nicht nur bemerkenswert, sondern in vielerlei Hinsicht grundlegend sind. Ich wiederhole: Diese Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, diese Beschlüsse des Großen Senats haben das Verhältnis zwischen Gesetzgebung einerseits und Rechtsprechung andererseits erneut deutlich gemacht, vor Grenzüberschreitungen zwischen den verschiedenen Gewalten des Staates gewarnt. Die Klarheit, welche der Richter von dem Gesetz erwartet, das er anwenden soll, werden wir nunmehr durch unsere gemeinsame Gesetzesinitiative schaffen. Ich danke Ihnen. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Mertens ({0}).

Dr. Franz Josef Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001481, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anlaß für unsere heutigen Beratungen sind zwei Entscheidungen des Bundesfinanzhofs, veröffentlicht am 20. Februar 1984. In diesen Urteilen hat der Große Senat, abweichend von der bisherigen ständigen Rechtsprechung, Geldbußen, die wegen betrieblich veranlaßter Ordnungswidrigkeiten festgesetzt worden sind, als steuerlich abziehbare Betriebsausgaben anerkannt. Diese Entscheidung hat spektakuläre Schlagzeilen gemacht. Zum besseren Verständnis: Hintergrund dieser Entscheidung waren Klagen einer Hamburger Kosmetikfirma und der Stadtsparkasse Hildesheim. Im ersteren Fall wurde ein Bußgeld von 10 000 DM wegen Verstoßes gegen Wettbewerbsbestimmungen und im zweiten Fall ein Bußgeld von 800 000 DM deshalb verhängt, weil die Sparkasse ohne die erforderlichen Genehmigungen Wertpapiere ins Ausland verkauft hatte. Der Senat hat es für zulässig gehalten, diese Geldbußen steuerlich abzusetzen, und hat zur Begründung erstens ausgeführt, es gebe im Einkommensteuerrecht keine Sondervorschrift über die Dr. Mertens ({0}) Nichtabsetzbarkeit von Geldbußen, und zweitens stehe es dem Fiskus nicht zu, moralische Bewertungen vorzunehmen, weder bei den Einnahmen noch bei den Ausgaben. Wenn z. B. der Liebeslohn versteuert werden müsse, dann sei ein Bußgeld wegen einer verbotenen Preisabsprache als Betriebsausgabe auch steuermindernd. So der Tenor der Begründung. Meine Damen und Herren, in einem Rechtsstaat gebietet es die Einsicht, sich mit Kritik an der richterlichen Gewalt zurückzuhalten, weil sonst das Prinzip der Gewaltenteilung und das allgemeine Rechtsempfinden Schaden nehmen können. Ich will mich an dieses Gebot halten. Dennoch müssen einige rechtliche Anmerkungen gestattet sein. Die Entscheidungen des Großen Senats halte ich rechtlich nicht für zwingend. Es trifft zwar zu, daß das Steuerrecht keine ausdrückliche Regelung vorsieht, aber ich meine, Rechtslehre und Rechtsprechung haben genügend rechtstheoretische Instrumente entwickelt, um Gesetzeslücken zu schließen. Unter anderem hat im Steuerrecht der Gedanke der Rechtseinheit eine 60jährige Tradition. Dieser Grundsatz hat bisher verhindert, daß jemand, der ein Rechtsgut verletzt, die finanziellen Folgen dieser Rechtsverletzung auf die Allgemeinheit überwälzen konnte. Im übrigen läßt ein Blick in das Ordnungswidrigkeitengesetz erkennen, daß dort gerade die Verletzung einer betriebsbezogenen Pflicht Voraussetzung für die Verhängung einer Geldbuße gegen ein Unternehmen ist. Mit der Einheitlichkeit der Rechtsordnung aber läßt es sich nur schwer vereinbaren, gerade dieser Betriebsbezogenheit im Steuerrecht mit einer Abzugsfähigkeit ins Gegenteil zu verkehren. Schließlich heißt es expressis verbis in den Einkommensteuer-Richtlinien, daß Geldstrafen und Geldbußen nicht abzugsfähig sind. Daß es auch anders geht, hat der BFH selbst demonstriert, indem er in jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung entschieden hat - ich zitiere aus einem Urteil -: Die Rechtsordnung bildet eine Einheit, so daß es nicht angeht, Geldstrafen mittelbar dadurch zu mildern, daß ihre Entrichtung zu einer Steuersenkung führt. In Abkehr von dieser Rechtsprechung hat sich der BFH nun ausschließlich am Buchstaben des Gesetzes orientiert. Das gibt mir Anlaß zu einer letzten Bemerkung. Die ungute deutsche Rechtstradition des Rechtspositivismus, die nur nach dem Buchstaben, nicht aber nach dem Geist des Gesetzes fragt, sollte nicht wieder aufleben. Gerichte haben eben nicht die Aufgabe, lediglich Rezeptbuchurteile zu fällen; sonst könnte man sie auch durch Computer ersetzen. Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen Satz zu dem Interview sagen, das der Präsident des BFH dem „Handelsblatt" gegeben hat, in dem er das Urteil auch inhaltlich verteidigt. Herr Klein hat dort ausgeführt, bei der Versteuerung der Einkommen gelte das Prinzip „pecunia non olet", und es sei nicht verständlich, warum diese Wertneutralität bei den Ausgaben nicht gelten solle. Dieses Argument überzeugt mich nicht. Ich kann keinen Widerspruch zwischen einem Abzugsverbot von Geldbußen und der Besteuerung sittenwidriger Geschäfte erkennen. Beide Vorschriften haben denselben Grundgedanken. Es widerspricht der Steuergerechtigkeit, unzulässiges oder allgemein mißbilligtes Verhalten steuerlich zu begünstigen. Ich sehe jedenfalls keine doppelte Moral darin, wie Herr Klein zu meinen scheint, wenn wir als Steuergesetzgeber heute gemeinsam zu einer Gesetzesänderung antreten. Meine Damen und Herren, wie dem auch sei, es käme einem politischen Skandal gleich, wenn wir es bei dieser Rechtslage beließen. Die groteske Situation wird besonders deutlich, wenn man sie auf die Ebene des großen Geldes überträgt. Im September 1983 hat das Kartellamt mit 55 Millionen DM das bislang höchste Bußgeld gegen 77 Baufirmen verhängt. Im größten Bauskandal der Nachkriegszeit hatten die Unternehmen jahrelang Preise für Fabriken und Punktürme, für Kasernen und Krankenhäuser, für Brücken und Bankgebäude abgesprochen, und nach Schätzung von Experten sind dabei private Bauherren und der Staat um dreistellige Millionenbeträge geprellt worden. ({1}) - Sehr richtig. - Die betroffenen Unternehmen hätten jetzt allen Grund, tief durchzuatmen, wenn es bei dieser Rechtslage bliebe, denn von den verhängten 55 Millionen hätte der Steuerzahler möglicherweise 30 Millionen zu berappen. Aber auch Geldbußen wegen Verstoßes gegen Umweltbestimmungen können abgesetzt werden. Verklappt eine Firma ohne Erlaubnis Schadstoffe ins Meer, läßt ein Chemieunternehmen giftige Abwässer in den Rhein oder wird auf einer Mülldeponie heimlich Dioxin vergraben, Geldbußen könnten beim Finanzamt gegen die Gewinne aufgerechnet werden. Da müßten sich doch gerade die Unternehmen bestätigt fühlen, die Millionen damit verdient haben, daß sie die Kartellgesetze und die Umweltbestimmungen gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Aber auch kleine Sünden würden preiswerter. Autofahrer, die auf dem Weg zur Arbeit zu schnell gefahren sind, könnten das Strafmandat als Werbungskosten in die Steuererklärung einsetzen. Je höher das Einkommen, desto größer fiele die Steuerentlastung aus. Unternehmen könnten bis zu 70 % Steuern sparen. Ein Bußgeld von 1 Million DM könnte dann in Höhe von 700 000 DM auf die Allgemeinheit übergewälzt werden. Die kapitalkräftigsten Sünder würden also am meisten profitieren. Man müßte dann nur noch auf die sprichwörtliche Findigkeit mancher Abschreibungsfirmen vertrauen und könnte dann vielleicht sein Geld gewinnbringend in Bußgeldbescheide investieren. ({2}) Dr. Mertens ({3}) Dieser Zustand würde, wie der Kollege Gattermann formuliert hat, dazu führen, das gesamte System der Geldbußen ad absurdum zu führen, ja, mehr noch, meiner Meinung nach würde es regelrecht zum Rechtsbruch einladen. Verkehrs-, Wirtschafts- und Umweltsünder dürften die Kosten ihres individuellen oder unternehmerischen Fehlverhaltens der Allgemeinheit aufbürden. Der Staat honorierte per Finanzamt, was er zuvor bestraft hat. Meine Damen und Herren, das Rechtsempfinden muß vor Schmerzen aufschreien, ({4}) aufschreien angesichts einer Situation, die vom normalen Steuerzahler und Staatsbürger als unerträglich empfunden wird. Dieser Rechtszustand darf nicht bestehen bleiben. Er ist ordnungspolitisch nicht hinzunehmen, weil letztlich die Berechtigung staatlichen Strafens in Frage gestellt wird, weil nebenbei die Moral im Straßenverkehr untergraben wird, weil damit der Devise „Der Zweck heiligt die Mittel" gefolgt würde. Dieser Zustand würde auch zweierlei Recht auslösen: Er stellte die Wirtschaftstätigkeit über das Privatleben und erhöbe die freie Marktwirtschaft über die Soziale Marktwirtschaft. Niemand darf sich wundern, wenn unter diesen Umständen sogar Betrügereien als Kavaliersdelikte erscheinen. Wir müssen die Steuergesetze so ändern, daß Ordnungswidrigkeiten im Bereich der Wirtschaft nicht länger für „in Ordnung" befunden und als reguläre Geschäftspraktiken anerkannt werden. Der steuerliche Freifahrtschein für Gesetzesübertretungen muß schleunigst eingezogen werden. Bußgelder müssen ohne Wenn und Aber weiter von den Verursachern gezahlt werden. ({5}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion hat von Anfang an eine beschleunigte Gesetzesänderung gefordert. Wir begrüßen deshalb, daß auch die Regierungsfraktionen schnell gehandelt haben. Wir unterstützen auch den Nichtanwendungserlaß des Bundesfinanzministers, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, diese Meinung nicht immer vertreten haben. ({6}) Sozialdemokratische Finanzminister haben deshalb herbe Kritik hinnehmen müssen. Wir unterstützen diesen Entwurf, halten ihn aber noch nicht für umfassend genug. Für uns ist nicht plausibel, daß Geldbußen, die von ausländischen Gerichten und Behörden außerhalb der EG verhängt werden, steuerlich absetzbar sein sollen. Uns erscheint es aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung geboten, die Nichtabzugsfähigkeit auch auf diese Fälle auszudehnen. Dabei gehen wir davon aus, daß das Abzugsverbot dann nicht gelten kann, wenn die Sanktionen wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung - im Sinne von ordre public - widersprechen würden. Wir begrüßen daher nachdrücklich die Initiative des Landes Schleswig-Holstein, das im Bundesrat dieselbe Meinung vertreten hat. Schließlich meinen wir, daß auch die mit einem Rechtsverstoß verbundenen Gerichts- und Anwaltskosten vom steuerlichen Abzug auszuschließen sind. Es ist nicht einzusehen, daß bei einer Verurteilung in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeiten-verfahren die Allgemeinheit die Gerichts- und Anwaltskosten, die in erheblichem Umfange anfallen können, mittragen soll. Auch die Verfahrenskosten sollen den Täter persönlich treffen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie diese Anregungen und diese Vorschläge der sozialdemokratischen Fraktion im weiteren Gesetzgebungsverfahren mit berücksichtigen würden. Ich danke Ihnen. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit seinem Beschluß hat der Große Senat des Bundesfinanzhofes den Gesetzgeber in Handlungszwang gebracht. Er hat eine jahrelange Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes und des Bundesfinanzhofes aufgegeben, nach der betrieblich bedingte Geldbußen als steuerlich nicht abzugsfähig erklärt wurden. Selten ist eine BFH-Entscheidung öffentlich so kritisiert worden wie diese, bis hin zu hämischen Kommentaren. Die FDP-Fraktion wird sich an dieser politisch wirksamen Schelte des Bundesfinanzhofes nicht beteiligen. Denn zum einen war es seit längerem absehbar, daß der Bundesfinanzhof zu einer solchen Entscheidung kommen würde, ({0}) abzulesen aus dem Vorlagebeschluß des I. Senates vom 28. April 1982, abzulesen aus einer ensprechenden vorausgehenden Rechtsprechung. Zum anderen aber schließt sich die FDP dieser Gerichtsschelte deshalb nicht an, weil der Bundesfinanzhof in dankenswerter Weise endlich einmal wieder einen tragenden Grundsatz unseres Steuersystems deutlich herausgestellt hat, nämlich den Grundsatz, der in der politischen Diskussion - leider auch gelegentlich in der Anwendungspraxis der Exekutive - immer wieder vergessen wird, daß die Einkommen- und die Körperschaftsteuer Überschüsse und Gewinne besteuern und daß der Gewinn der Saldo aus Betriebserträgen und betrieblich veranlaßten Aufwendungen ist. Was betrieblich veranlaßte Aufwendungen sind, bestimmt in einer freien Wirtschaftsordnung vom Grundsatz her zunächst einmal die Unternehmensleitung und nicht die Finanzverwaltung. Will der Gesetzgeber - dies hat der BFH klar herausgestellt - im Einzelfall von diesem Grundsatz abweichen und bestimmte Kategorien von Betriebsausgaben steuerlich nicht anerkennen, dann muß er ein konkretes Abzugsverbot in das Gesetz einfügen. Dies ist bei Geldbußen und Geldstrafen bisher nicht geschehen. Die Entscheidung des BFH ist eine logische Konsequenz aus diesem Tatbestand. Damit aber nun kein Irrtum aufkommt: Die FDPFraktion unterstützt den materiellen Inhalt dieser Gesetzesvorlage aus vollster Überzeugung. Die rechtspolitischen Zielsetzungen, die mit Geldbußen und Geldstrafen verfolgt werden, erfordern zwingend die steuerliche Nichtabzugsfähigkeit. Dies aber hat der Gesetzgeber eben festzustellen. Für die FDP ist es unbestritten, daß Sinn und Zweck von Geldstrafen und Geldbußen einer wesentlich höherrangigen Zielsetzung dienen als der eben von mir herausgestellte steuersystematische Grundsatz. Bei aller grundsätzlichen Unterstützung dieses Gesetzentwurfes möchten wir aber doch auf zwei Punkte aufmerksam machen. Der Umstand, daß der Gesetzentwurf von CDU/ CSU, SPD, FDP und nunmehr auch von den GRÜNEN gemeinschaftlich wortgleich mit der Regierungsvorlage eingebracht worden ist, bedeutet nach unserer Auffassung nicht, daß die parlamentarischen Beratungen auf eine reine Formsache zu reduzieren seien. Vor allem ist die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Rückwirkung des Abzugsverbots sorgfältig unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Dabei ist die Frage zu stellen, ob diese Prüfung auf einen sehr restriktiven Vertrauensschutzbegriff reduziert werden kann. Es ist insbesondere zu prüfen, welche Bedeutung es für diesen Vertrauensschutz hat, wenn sich in der Anwendungspraxis der Finanzverwaltung bei EG-Bußen bisher eine höchst unterschiedliche Handhabung vollzogen haben sollte. Die zweite Bemerkung betrifft das grundsätzliche Verhältnis zwischen Legislative, Exekutive und Rechtsprechung. Es muß einmal wieder im Gesamtzusammenhang des Verhältnisses der Verfassungsorgane diskutiert werden, was eigentlich Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung bedeuten. ({1}) Meine Damen und Herren, es muß in demselben Gesamtzusammenhang auch geprüft werden und einmal darüber gesprochen werden, wie es eigentlich mit dem Selbstverständnis des Parlaments zu vereinbaren ist, daß durch das Parlament schnellstens botmäßig zu reparieren ist, was nach Meinung der Rechtsprechung im Exekutivverhalten falsch ist. Diese Frage würden wir im Sinne des Selbstverständnisses des Parlaments gern einmal ausführlich diskutieren. Wir haben einen Gesetzentwurf mit rechtspolitisch außerordentlich interessanten Fragen zu beraten. Wir begrüßen es deshalb sehr, daß auch der Rechtsausschuß an diesen Beratungen beteiligt wird. Wir schließen dabei nicht aus, daß wir uns zu den angeschnittenen verfassungsrechtlichen Fragen auch die Meinung der verfassungsrechtlichen Wissenschaft anhören werden. Wir werden uns dennoch für eine sehr gründliche, aber auch eine sehr zügige Beratung dieses Gesetzes einsetzen. Herzlichen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krizsan.

Julius H. Krizsan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001220, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leeres Haus! Ich freue mich, daß der eingebrachte Gesetzentwuf der GRÜNEN Sie zu schnellem Handeln gezwungen hat. Ich bin mir sicher, daß Sie sonst wieder eine lange Bank gefunden hätten, auf die die notwendige Steuerrechtsänderung geschoben worden wäre. Ich bin mir deshalb sicher, weil eben trotz besseren Wissens nicht früher gehandelt wurde. Ich kann auch Herrn Mertens nicht so richtig verstehen, der hier in eine große Schelte des Gerichts ausbricht. Herr Mertens, schon Ihre Regierung hätte doch tätig werden können. Das Problem war ja immerhin seit April 1982 bekannt, als der I. Senat des Bundesfinanzhofs diese Rechtsfragen dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt hat. Dabei lautete die Begründung, daß die Nichtabzugsfähigkeit von Geldstrafen und Geldbußen im Gesetz nicht geregelt sei. Deshalb ist in der Anfang des Jahres 1983 erschienenen Auflage des Steuerlehrbuchs von Tipke auch zu lesen, daß - ich zitiere - der Gesetzgeber baldmöglichst den § 12 Nr. 3 Einkommensteuergesetz ergänzen und ohne Rücksicht auf die Entscheidung des Großen Senats klarstellen sollte, daß Geldstrafen und Geldbußen nicht abgezogen werden dürfen. Die Regierung, oder besser gesagt: die Regierungen haben jedoch untätig auf die Entscheidung gewartet und auch noch nicht gehandelt, als diese am 21. November 1983 getroffen wurde. Warum? Der Handlungsbedarf war dem Bundesfinanzminister doch klar. So hätte spätestens direkt nach der Bekanntgabe ein Gesetzentwurf aus dem großen Apparat des Finanzministeriums kommen müssen. Aber statt dessen mußten auch bei dieser Selbstverständlichkeit erst die GRÜNEN initiativ werden, ehe die Regierung reagierte. Ich spreche von Selbstverständlichkeit, weil es widersinnig wäre, wenn die Wirkung von ordnungspolitischen Maßnahmen des Staates im nachhinein durch finanzpolitische Maßnahmen geändert würde. Die GRÜNEN würden dieses insbesondere für den Umweltbereich verurteilen. Das angestrebte Ziel unserer Politik ist es zwar, Produktionsweisen und Produkte, die zu nicht behebbaren Umweltschäden führen können, gänzlich abzuschaffen. Insofern ist die Bestrafung von Umweltschädigern nur ein Hilfsmittel der Umweltpolitik. Aber die Wirkung dieses Instruments darf nicht noch weiter ausgehöhlt werden. Dabei werden für die Betriebe hohe, schmerzhafte Bußgelder - wie z. B. im Fall der Farbwerke Hoechst - ohnehin fast nie verhängt. Leitende Angestellte dieses Werks waren im Februar 1981 zu einem Bußgeld von insgesamt 1,45 Millionen DM verurteilt worden, weil im Zeitraum von 1977 bis 1980 täglich - das bitte ich zu bedenken - bis zu 800 Tonnen Salzsäure in den Main geleitet worden waren. Die Folge war eine katastrophale Übersäuerung des Untermains, wodurch die Gewässerökologie total zerstört wurde, die Fische krepierten und die Möglichkeiten zu ihrer Fortpflanzung auf ungewisse Dauer vernichtet wurden. Der heutige Grenzwert für diese Firma beträgt 10 bis 12 t Salzsäure pro Tag. Der Anreiz, diese Grenzwerte einzuhalten, wäre sozusagen mehr als halbiert, wenn drohende Bußgelder als Betriebsausgaben abzugsfähig wären. ({0}) Bußgelder beinhalten mithin einen Ansatz, um die Folgen von Umweltverschmutzung dem verursachenden Betrieb anzulasten. Würde eine Strafzahlung für eine begangene Schädigung, die allein aus Profitinteresse erfolgte, abzugsfähig sein, würde das Verursacherprinzip im nachhinein doch wieder durch das Gemeinlastprinzip ersetzt. Es wäre unserer Meinung nach auch grober Widersinn, daß der Autobesitzer, der zwei Liter Altöl vom Ölwechsel ins Erdreich abläßt, wenn er erwischt wird, das Bußgeld in voller Höhe tragen muß, während der Tankstellenbesitzer die Strafhöhe für das Ablassen von 500 Litern Altöl durch den Abzug als Betriebsausgaben verringern könnte. Um Mißverständnissen vorzubeugen, will ich hier gleich klarstellen, daß wir beider Verhalten in keinem Fall entschuldigen. Allerdings werden die ökologischen Schäden nicht dadurch verringert, daß sich die Justiz auf Kleinverschmutzer konzentriert und die größten Verschmutzer ungeschoren läßt. Die größten Wasserverschmutzer sind übrigens fast immer die Unternehmen mit den besten Bilanzen. Wir GRÜNEN sind gespannt, zu welchem Ergebnis die Strafanzeige führen wird, die die GRÜNEN Saar gegen die Gesellschaft für Verbrennung von Abfallstoffen in diesem Monat erstattet haben, weil der begründete Verdacht vorliegt, daß 1974 infolge eines Betonbeckenbruchs 20 000 l Altöl ins Erdreich gedrungen sind und die Firma nichts unternommen hat, um die Folgen dieser Katastrophe einzugrenzen. Allerdings will ich die möglichen Folgen der Entscheidung des Bundesfinanzhofs für den Umweltbereich nicht überbewerten. Das wirklich Beklagenswerte an dieser Sache ist, daß die Frage der Absetzbarkeit von Bußgeldern wegen eines Verstoßes gegen Umweltbestimmungen gar keine so große Rolle spielt, weil bei den meisten Verstößen gar keine Bußgelder verhängt werden oder sie eine unbedeutende Höhe haben oder überhaupt keine Ordnungswidrigkeit angezeigt werden kann, da die Umweltverschmutzung mit behördlicher Genehmigung erfolgt, wie es z. B. bei der von Herrn Mertens schon erwähnten Dünnsäureverklappung in der Nordsee der traurige Fall ist. Deshalb können sich Umweltschützer meist nicht auf den juristischen Weg begeben und sich schon gar nicht auf diesen verlassen, sondern müssen andere Wege gehen. Und wenn sie diese anderen Wege dann gehen, sind es paradoxerweise die Umweltschützer, gegen die dann Verfahren eröffnet und drastische Ordnungsgelder verhängt werden. ({1}) Und da diese nicht - ich betone: nicht - im Zusammenhang mit einer Gewinnerzielung stehen, sondern genau wie bei Demonstrationen gegen militärische Aufrüstung dem Ziel dienen, die Lebensgrundlagen der Menschen zu erhalten, werden diese Ordnungsgelder dem Bereich der privaten Lebensführung zugeordnet. Das ist unserer Meinung nach absurd. Wir meinen, daß man gerade in diesem Punkt - das als Anregung für den Herrn Voss aus dem Finanzministerium -, den Sinn, den politischen Zweck und die Zielgruppen dieser Bußgelder überdenken sollte. ({2}) - Danke schön. Wir meinen: Da gibt es noch eine Menge zu tun. Vielen Dank. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herr Dr. Voss.

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt, daß der vorliegende Gesetzentwurf von allen vier Fraktionen des Deutschen Bundestages unterstützt wird; denn es erscheint notwendig, die steuerliche Abzugsfähigkeit von Geldstrafen und Geldbußen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten auszuschließen, und zwar nicht nur, weil sonst Steuereinbußen und Steuerausfälle in einer beträchtlichen Größenordnung zu befürchten wären, sondern auch, weil nicht hingenommen werden kann, daß die Wirkung einer Geldbuße oder einer Geldstrafe, wie hier bereits einige Male zum Ausdruck gekommen ist, dadurch gemildert wird, daß solche staatlichen Sanktionen steuermindernd berücksichtigt werden können. Staatliche Sanktionen können ihren Zweck nur dann erfüllen, wenn sie den Täter oder das Unternehmen, für das der Täter gehandelt hat, in voller Höhe treffen. Der vorliegende Initiativgesetzentwurf entspricht vollinhaltlich dem von der Bundesregierung bereits am 14. März dieses Jahres beschlossenen Gesetzentwurf. Es hätte daher, Herr Kollege Krizsan, nicht der Initiative der GRÜNEN bedurft, um den notwendigen Rechtszustand hier wiederherzustellen. Die Bundesregierung hat unmittelbar nach Bekanntwerden der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs die notwendigen gesetzgeberischen Schritte in die Wege geleitet. Aber angesichts der zahlreichen Einzelfragen, die zu prüfen waren, war dies schneller nicht möglich. Der Gesetzentwurf ist dem Bundesrat als besonders eilbedürftig zugeleitet und auch in den AusParl. Staatssekretär Dr. Voss schössen des Bundesrates schon behandelt worden. Auf Einzelheiten des Gesetzentwurfs will ich hier nicht eingehen. Das kann in den weiteren parlamentarischen Beratungen geschehen. Aber auf einen grundsätzlichen Punkt will ich doch besonders hinweisen. Der Gesetzentwurf soll die Praxis der Nichtabsetzbarkeit von Geldbußen und Geldstrafen, so wie sie vor der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs bestand, wiederherstellen; nicht mehr und nicht weniger. Es ist also nicht beabsichtigt, ein verschärftes Abzugsverbot hier einzuführen, das kommt besonders dadurch zum Ausdruck, daß auch in Zukunft Verfahrenskosten, z. B. Anwaltskosten und Gerichtskosten, nach wie vor abzugsfähig sind, sofern sie betrieblich und beruflich veranlaßt sind. Das war so, und das soll so bleiben. Ich gehe bei der vorliegenden Sach- und Verfahrenslage, insbesondere angesichts der einmütigen Haltung aller Fraktionen davon aus, daß der vorliegende Gesetzentwurf zügig beraten und verabschiedet werden kann. Danke schön. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Ausprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/1189 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf: Beratung des Jahresberichts 1983 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages - Drucksache 10/1061 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß Ich begrüße unseren Wehrbeauftragten und freue mich, daß wir in die erste Beratung seines Berichts eintreten können. Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Frau Krone-Appuhn.

Ursula Krone-Appuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001226, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, daß die verfassungsrechtliche Position des Wehrbeauftragten als Hilfsorgan des Deutschen Bundestages durch die Neufassung des Gesetzes für den Wehrbeauftragten gefestigt ist. Die stärkere organisatorische Zuordnung zur Verwaltung des Deuschen Bundestages erleichtert die Arbeit des Wehrbeaufragten, und der Personalaustausch mit dem Bundesministerium der Verteidigung stellt dem Amt das nötige fundierte Fachwissen zur Verfügung. Die Möglichkeit, Soldaten einzuladen, wird sich sicher dahin auswirken, daß der Wehrbeauftragte auch in Bonn engere Kontakte zur Truppe hat. Wir brauchen uns allerdings nicht darüber zu wundern, daß der Wehrbeauftragte bei Soldaten immer wieder ein Informationsdefizit bezüglich der Institution des Wehrbeauftragten beklagt. Unsere Soldaten lieben nun einfach einmal Belehrungen über Institutionen nicht. Darin ist das begründet. Wir begrüßen besonders, daß der Wehrbeauftragte ein Referat für Fürsorgeangelegenheiten im Ausland eingerichtet hat. Alle Mitglieder des Verteidigungsausschusses, die z. B. in Amerika waren, wissen genau, vor welchen Problemen unsere Soldatenfamilien im Ausland stehen. Wir sind froh darüber, daß der Wehrbeauftragte das Family-supportProgramm der amerikanischen Luftwaffe studiert hat und auch für unsere Soldaten empfiehlt. Die Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft ist für uns eine Selbstverständlichkeit geworden. Bei über tausend Kommunalpolitikern in Uniform braucht man sich nicht mehr darum zu sorgen, daß die Bundeswehr möglicherweise ein Staat im Staate wird. Wir sollten uns allerdings Gedanken darüber machen, daß die Gesellschaft zu hohe Ansprüche an unsere Soldaten gestellt hat. Wenn in mehreren hundert Fällen unsere Soldaten Demonstrationen vor Kasernentoren erleben mußten, die sich zwar nicht gegen die Bundeswehr, wohl aber gegen die Nachrüstung richteten, so müssen wir uns ernsthaft fragen, ob diese Demonstrationen, die sich im Prinzip gegen unsere Politik richteten, den Soldaten nicht überfordern. Die Soldaten haben sich während der Friedensdemonstrationen vorbildlich verhalten ({0}) dafür sollten wir ihnen von dieser Stelle aus ausdrücklich danken -, ({1}) zumal die Demonstranten zum Teil Versuche unternommen haben, gewaltsam in militärische Sicherheitsbereiche einzudringen. Das Demokratieverständnis der Soldaten wurde durch provokatorisches Verhalten der Anhänger der Friedensbewegung manchmal ernsthaft strapaziert. Aus dem Bericht des Wehrbeauftragten geht eindeutig hervor, welche zusätzliche Dienstzeitbelastung, Verzicht auf Wochenendfahrten und Freizeit von den Soldaten erbracht werden mußten. Wir alle sollten uns einmal fragen, ob wir es den Hütern unserer äußeren Sicherheit zumuten können, daß sie alle diese Opfer zugunsten von Leuten bringen müssen, die sich auf Demokratie berufen und sich vor unsere Kasernentore legen und im Grunde doch wohl das Demokratieverständnis überstrapazieren. ({2}) Wenn auch die Mehrheit der Friedensbewegung keine Aktionen vollbracht hat, die sich gegen die Streitkräfte richteten, so bin ich doch der Meinung, daß sich die Dinge, die sich an einigen Standorten ereignet haben, keinesfalls wiederholen dürfen, weil sie mit Demokratie nichts zu tun haben, Herr Kollege. ({3}) Während dieser ganzen Nachrüstungsdebatte haben die Politiker vielfach die Verteidigung der Verteidigungsprobleme den Soldaten überlassen. Das war nicht richtig, weil es den Primat der Politiker außer acht läßt. So etwas sollte sich in Zukunft nach meinem Dafürhalten auch nicht wiederholen. ({4}) Die berichteten Scherze auf Kosten Untergebener sind nach meinem Dafürhalten ein Zeichen dafür, daß einige Soldaten, auch in Vorgesetztenfunktion, die Grundsätze der Inneren Führung immer noch nicht begriffen haben. Ganz sicher lockern flotte Soldatensprüche, über die ein Oberst der Bundeswehr ja einmal ein sehr nettes Buch geschrieben hat, den Dienstbetrieb auf. Aber der vom Wehrbeauftragten geschilderte zum Teil sehr rüde Umgangston muß dringend abgestellt werden. ({5}) Die zum Teil brutalen und gesundheitsgefährdenden Aufnahmerituale, von denen der Wehrbeauftragte ausführlich berichtet hat, müßten nach meinem Dafürhalten endgültig verboten werden. Im Rahmen der Debatten zum Wehrbeauftragtenbericht haben wir uns bereits mehrfach mit dieser Problematik beschäftigt. Um so erstaunlicher ist es, daß solche Vorkommnisse immer noch Gegenstand unserer Diskussion sein müssen. Wir begrüßen es, daß der Bundesminister der Verteidigung eine Führungshilfe an die Verbandsund Einheitsführer herausgeben will, mit der er auf die Gefahren übermäßigen Alkoholgenusses hinweisen will. Auf diese Weise wird es hoffentlich bald möglich werden, Mißhandlungen im Dienst, die unter Alkoholeinfluß zustande kommen, endgültig abzustellen. Besorgniserregend ist die Tatsache, daß sich immer noch schwere Unfälle, zum Teil auch mit Todesfolge, beim Umgang mit Waffen ereignen. Wenn man über die Gründe dafür nachdenkt, muß man zu dem Ergebnis kommen, daß vermutlich die Ausbildung in den Streitkräften immer noch zu wenig praxisbezogen ist und die spielerische Darstellung von Waffengebrauch in Wildwestfilmen, die ja von Soldaten häufig gesehen werden, die möglichen Folgen des Schußwaffengebrauchs verharmlost. Hier sind gründliche Instruktionen und schärfste Dienstaufsicht genauso erforderlich wie häufiges Üben gerade mit scharfer Munition, damit den Soldaten klar wird, welche Konsequenzen der Umgang mit Schußwaffen in Wirklichkeit hat. Wenn deutsche Gerichte in ihren Urteilen kritisieren, daß junge und unerfahrene Soldaten bewaffnet auf Streife geschickt werden, dann ist das nach meinem Dafürhalten kein Organisationsfehler bei der Bundeswehr, sondern das ist Truppenalltag. Aus diesem Grunde ist es aber notwendig, Soldaten so oft wie möglich im Schußwaffengebrauch zu trainieren, damit sie sich darüber klar werden können, welche Folgen der Umgang mit Waffen haben kann. Wir werden uns bei der Beratung des Berichts des Wehrbeauftragten im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages einmal gründlich mit den Fragen der Gesundheitsfürsorge befassen müssen. ({6}) Ich möchte dem Wehrbeauftragten an dieser Stelle sehr herzlich dafür danken, daß er dieses Thema in seinem Jahresbericht 1983 so gründlich behandelt hat. ({7}) Offensichtlich muß der Sanitätsbereich vom Bürokratieballast befreit werden. Die aufgezeigten Organisationsmängel könnten abgeschafft werden, denn es gibt medizinische Untersuchungsstellen, z. B. in Fürstenfeldbruck, die so hervorragend organisiert sind, daß Wartezeiten entfallen. Der geschilderte Vorfall aus dem Bereich der Pioniertruppe zeigt, daß in einer Armee, in der der Mensch im Mittelpunkt stehen soll, leider immer noch die nötige Kameradschaft und menschliche Zuwendung fehlt. Angesichts der Medizinerschwemme, die in der Presse und von den berufsständischen Organisationen der Ärzte lebhaft bedauert wird, müßte es auch möglich sein, mehr längerdienende erfahrene Sanitätsoffiziere für die Bundeswehr zu gewinnen. Die aufgeführten Klagen über Grundwehrdienst leistende Ärzte sind meines Erachtens berechtigt. Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht die Einführungslehrgänge vor der Truppenverwendung verlängern, um eine angemessene Gesundheitsfürsorge im Truppenalltag gewährleisten zu können. ({8}) Es ist bedauerlich, daß es in der Bundeswehr immer noch Vorgesetzte gibt, die die Empfehlungen der Truppenärzte nicht beachten, wodurch den Soldaten leider zusätzlich oft gesundheitliche Schäden zugefügt werden. Die Kommandeure unserer Divisionen sollten die Offiziere und Unterführer nachdrücklich darauf hinweisen, daß solche Vorkommnisse bei der Truppe in Zukunft zu unterbleiben haben. Die bereits vom Bundeskanzler in der Regierungserklärung angesprochene Wehrgerechtigkeit ist bei den geburtenstarken Jahrgängen besonders schwer zu verwirklichen. Wir sollten dennoch strikt darauf achten, daß die Abiturienten unmittelbar nach Schulabschluß in die Truppe einberufen werden. Besondere Sorge machen sich unsere Divisionskommandeure in strukturschwachen Gebieten um die Soldaten, die die Bundeswehr verlassen und keinen Arbeitsplatz haben. Jeder Soldat bringt ein persönliches Opfer für die Aufrechterhaltung unserer Sicherheit. Aus diesem Grunde sind wir verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß er nach der Entlassung aus der Truppe auch einen Arbeitsplatz erhält. ({9}) Wir Politiker müssen uns darum kümmern, daß jeder Soldat, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat, bevorzugt einen Zugang zu einem Studien- und Ausbildungsplatz erhält. ({10}) Fazit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist, daß wir uns noch einmal vor Augen halten müssen, daß der seit 1978 viel zitierte „Mensch im Mittelpunkt der Streitkräfte" nun endlich einmal Realität im Truppenalltag zu werden hat. ({11})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage des Jahresberichts 1983 kommt der Wehrbeauftragte einem Auftrag dieses Hohen Hauses nach. In seinen Vorbemerkungen führt er aus, daß durch die Neufassung des Wehrbeauftragtengesetzes eindeutig klargestellt wurde, daß er bei all seinen Aufgaben als Hilfsorgan des Deutschen Bundestages handelt. Durch die Erweiterung seiner Amtsbefugnisse, so führt der Wehrbeauftragte weiter aus, sei ihm ein wirksames Instrument für die effektive Ausübung der parlamentarischen Kontrolle über die Streitkräfte an die Hand gegeben. Herr Wehrbeauftragter, mit Ihnen freuen wir uns, daß dies gelungen ist, und danken schon jetzt ihnen und Ihren Mitarbeitern für den umfassenden Jahresbericht 1983. ({0}) Der Jahresbericht 1983 weist aber wiederum einige bemerkenswerte Vorgänge aus, darunter „alte Bekannte", aber auch neue Tendenzen nach dem Regierungswechsel, die hellhörig machen müssen. Ohne auf alle Einzelbeispiele hier einzugehen, möchte ich doch dem Bundesminister der Verteidigung sehr nahelegen, in seiner schriftlichen Stellungnahme zum Jahresbericht 1983 deutlich herauszuarbeiten, wie er auf die geschilderten Vorgänge zu reagieren gedenkt. Wir erwarten, daß die klaren Feststellungen und eindeutigen Forderungen des Wehrbeauftragten ernstgenommen und erfüllt werden. Wir erwarten ebenso, daß die schriftliche Stellungnahme zügig erarbeitet wird, damit der Verteidigungsausschuß seine Beratungen über beide Berichte aufnehmen kann. Gespannt sind wir allerdings auf die Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung, der zum erstenmal, auf Antrag der sozialdemokratischen Mitglieder des Verteidigungsausschusses, binnen Jahresfrist über seine vollzogenen Maßnahmen zum Vorjahresbericht 1982 Rechenschaft ablegen muß. Der Verteidigungsausschuß hatte einmütig die berechtigte Kritik des Wehrbeauftragten übernommen, daß die Forderungen des Wehrbeauftragten, seine Ratschläge und Empfehlungen oft nur halbherzig oder überhaupt nicht befolgt worden sind. ({1}) Wir stimmen dem Wehrbeauftragten ausdrücklich zu, wenn er ausführt, daß polemische Angriffe auf im Bundestag vertretene Parteien oder andere Gruppierungen, ausfallende Äußerungen über Politiker, Abgeordnete und Amtsträger nicht mit den im Soldatengesetz niedergelegten Pflichten vereinbar sind. Wir stimmen auch überein, wenn der Wehrbeauftragte feststellt, daß überall dort, wo die Debatte über die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland und die damit verbundene Friedensdiskussion mit Toleranz und gebotener Umsicht geführt wurde, bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen eine sachbezogene Auseinandersetzung möglich war. Dies war ein demokratisches Lehrbeispiel. Besser konnte keine politische Bildung in der Bundeswehr sein. Wir möchten deshalb alle Vorgesetzten, die diesen Weg gegangen sind, in ihrer Auffassung bestärken. Es geht auch nicht an, daß Äußerungen, seien sie nun pro oder kontra Nachrüstung, dienstrechtlich unterschiedlich bewertet werden. Hier erwarten wir vom Bundesminister der ,Verteidigung eindeutige Klärungen. ({2}) Zeitgemäße Menschenführung, wichtiger Bestandteil der Offiziers- und Unteroffiziersausbildung, verliert ihren Wert, wenn der berüchtigte Kasernenton das Handeln von Vorgesetzten bestimmt. Wir bringen kein Verständnis für Dienstvorgesetzte auf, die sich zu Späßen und Scherzen auf Kosten Untergebener hinreißen lassen. Die geschilderten Beispiele über Aufnahmerituale, Unteroffizierstaufen oder wie immer sie genannt werden, sind nicht nur abstoßend, nein, sie verletzen die Würde des Menschen. ({3}) Diesem Verhalten muß ein Riegel vorgeschoben werden. Welche fatalen Auswirkungen das schlechte Vorbild von Dienstvorgesetzten beim Umgang mit Schußwaffen haben kann, belegen die tragischen Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang. Hier gilt es aufzuarbeiten. Das Thema Wehrgerechtigkeit und Wehrsolderhöhung steht für uns Sozialdemokraten in einem unmittelbaren Zusammenhang. Wer so lange über beide Themen redet, aber nichts tut, verliert an Glaubwürdigkeit. ({4}) Wenn junge Menschen ein persönliches Opfer für die Gemeinschaft zu erbringen haben, dann muß auf ihre dringenden Sorgen, wie Ausbildungsplatz, Studium und Arbeitsplatz, eine Antwort gefunden werden. Das setzt flexibleres Handeln voraus, als es bisher Praxis ist. Verwendungsstau, hohe Dienstzeitbelastungen, häufige Trennungen von der Familie verlangen baldige Antworten, die das Ministerium diesem Hause bisher schuldig blieb. ({5}) Viele Soldaten lassen sich nicht mehr mit Worten vertrösten, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, auch nicht mehr chloroformieren. Wir sind gespannt, wie die Antworten dieser Regierung lauten. ({6}) Die Unzulänglichkeiten in der Gesundheitsfürsorge, Mängel bei der Einberufung zu Wehrübungen sind Probleme, die wir aufarbeiten müssen. Pflichtverstöße höherer Dienstgrade sind keine Kavaliersdelikte. Sie sind zu ahnden. Recht darf nicht gebeugt werden. Es darf nicht der Eindruck im Raum stehenbleiben, Wehrpflichtige würden strenger bestraft als Offiziere. ({7}) Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages kann deshalb sicher sein, daß die SPD-Bundestagsfraktion seinen Bericht aufarbeiten wird. Den Bundesminister der Verteidigung möchte ich auffordern, das Liederbuch der Bundeswehr, wie in dem Bericht des Wehrbeauftragten vermerkt, an einigen Textstellen zu überarbeiten. Ich zitiere hierzu die zweite und die vierte Strophe des Panzerliedes. ({8}) - Herr Kollege Weiskirch, wir können es nachher vielleicht gemeinsam singen. - Die zweite Strophe heißt: Mit donnerndem Motor so schnell wie der Blitz, dem Feinde entgegen im Panzer geschützt, voraus den Kameraden, im Kampfe ganz allein, so stoßen wir tief in die feindlichen Reih'n. ({9}) - Herr Kollege Berger, jetzt kommt die vierte Strophe: Und läßt uns im Stich einst das treulose Glück und kehren wir nicht mehr zur Heimat zurück, trifft uns die Todeskugel, ruft uns das Schicksal ab, dann ist uns der Panzer ein ehernes Grab. ({10}) Wir meinen: Falsches Heldentum sollte überwunden werden. Ich kann nur sagen: Wir fordern Sie auf, das mit uns gemeinsam zu tun. Wir werden also die Initiative des Bundesministers der Verteidigung im Ausschuß gern entgegennehmen. Deshalb unsere dringende Bitte: Nehmen Sie sich des Liederbuchs an, und streichen Sie diesen Text! Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung des Jahresberichts 1983 an den Verteidigungsausschuß zu. Vielen Dank. ({11})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde die Schwerpunkte in dieser Debatte etwas anders setzen. Der Wehrbeauftragte beginnt auch den Jahresbericht 1983 wieder mit einem Kapitel über den Schutz der Grundrechte und die Grundsätze der Inneren Führung. Ein Ziel der Inneren Führung ist, so stellt der Wehrbeauftragte fest, die Streitkräfte nahtlos in unseren freiheitlich-demokratischen Rechts- und Sozialstaat einzubinden und sie darüber hinaus in unsere Gesellschaft zu integrieren. Diese Integration in die Gesellschaft ist ein ständiger Prozeß. Das Prinzip der Inneren Führung hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Bundeswehr als ein Teil der demokratischen Gesellschaft von den Bürgern angenommen wurde. Die Innere Führung muß deshalb gewahrt und weiter ausgebaut, sie muß immer wieder neu belebt werden. Wir Politiker nehmen die Bundeswehr gern vor ungerechtfertigten und polemischen Angriffen in Schutz, weil sie ihren Auftrag zur militärischen Friedenssicherung von uns, den Politikern, erhalten hat und für alle Bürger erfüllt. Wir können die Bundeswehr aber schlecht in Schutz nehmen, wenn sie ihr Ansehen durch eigenes Fehlverhalten, und sei es auch nur das Fehlverhalten von Minderheiten, belastet, wenn sie z. B. die Prinzipien der Inneren Führung vernachlässigt, die Meinungsfreiheit der Soldaten ohne dienstliche Notwendigkeit beschneidet oder die Rechte der Bürger in Uniform mißachtet. Solche gelegentlichen Mißstände, wie sie der Wehrbeauftragte. festgestellt hat, müssen beseitigt und für die Zukunft möglichst ausgeschlossen werden. Als anschauliches Beispiel für den fortgeschrittenen Integrationsprozeß hat der Wehrbeauftragte zu Recht begrüßt, daß ein immer größerer Teil der Soldaten zu einem politischen Engagement außerhalb der Kasernen bereit ist. Die von ihm zitierten 1129 Kommunalpolitiker in Uniform sind ebenso wie das zunehmende Engagement der Soldaten in gesellschaftlichen Gruppen und in Verbänden ein Zeugnis dieser Bereitschaft und belegen den fortgeschrittenen Integrationsprozeß. Die dienstlichen Probleme, die sich aus der politischen Betätigung der Soldaten ergeben, müssen aber gesehen und berücksichtigt werden. Wir wünschen hier mehr Flexibilität und weniger Bürokratie. Wenn die Bundeswehr Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse von Spitzensportlern nimmt, müssen auch die politisch engagierten Soldaten Rücksicht erwarten dürfen. Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft, meine Damen und Herren, ist diesen Preis wert. ({0}) Dieses politische Engagement der Soldaten ist gesellschaftlich nicht nur toleriert, es findet auch Anerkennung. Von der FDP wird dies ausdrücklich gewünscht. ({1}) Das bedeutet für uns, daß sich Soldaten außerhalb des Dienstes zu allen politischen Fragen äußern können. Die Meinungsfreiheit des Bürgers in Uniform darf auch nicht vor der Sicherheitspolitik haltmachen. Ich vermisse in dem ansonsten mit vielen Beispielen angereicherten Bericht, daß er sich zur Einschränkung der Rechte der Soldaten zur politischen Betätigung nicht konkreter geäußert hat. Ich begrüße daher, daß das Bundesverwaltungsgericht in den nächsten Wochen einen ganz konkreten Fall entscheiden wird. Damit wird - hoffentlich - durch ein oberstes Bundesgericht mehr Klarheit über die Möglichkeiten der politischen Betätigung der Soldaten geschaffen. Der Wehrbeauftragte stellt allgemein fest, daß Meinungsäußerungen pro und kontra Nachrüstung dienstrechtlich in unterschiedlicher Weise bewertet wurden. Ich hätte es begrüßt, wenn auch hier Einzelfälle, die zur Sorge um das Ansehen der Bundeswehr Anlaß geben, im Bericht genannt worden wären. Denn in den Medien war einiges über angebliche dienstliche Benachteiligung solcher Soldaten zu lesen, die sich gegen die Nachrüstung ausgesprochen hatten. ({2}) Für uns Politiker, die wir hieraus Konsequenzen zu ziehen bzw. anzuregen hätten, wäre es hilfreich, dazu etwas aus berufenem Munde, nämlich vom Wehrbeauftragten, zu hören. Ich stelle für die FDP fest: Die Bundeswehr hat 1983 ihre Bewährungsprobe bestanden. Die Nachrüstungsdiskussion war zum Prüfstein für das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft geworden. Die Bundeswehr hat sich der Auseinandersetzung mit den Kritikern der Sicherheitspolitik gestellt. Sie hat teilweise vorbildlich zur Versachlichung der Diskussion beigetragen. ({3}) An den differenzierten Positionen, die viele Soldaten dabei bezogen hatten, hat sich auch gezeigt, daß die Bundeswehr kein Staat im Staate ist, daß die Soldaten, vor allem die Wehrpflichtigen, ein repräsentativer Querschnitt durch unsere pluralistische Gesellschaft sind. Es ist bedauerlich, daß sich manche Nachrüstungsgegner von übertriebenen Emotionen hinreißen ließen ({4}) und statt Kritik an der Sicherheitspolitik Polemik an der Bundeswehr geübt haben. Vor solchen unsachlichen und ungerechtfertigten Angriffen möchte ich die Bundeswehr und die Soldaten ausdrücklich in Schutz nehmen. Meine Damen und Herren, nicht die Bundeswehr bestimmt die Sicherheitspolitik, sondern das Parlament und die demokratisch gewählte Regierung. Die Bundeswehr hat den Auftrag nur zu erfüllen, den die Politik ihr zuweist - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Politik - nicht die Bundeswehr - bestimmt, welche Waffen zu diesem Zweck angeschafft werden. Die Bundeswehr ist also der falsche Adressat für Opposition und Protest. Diese Adressaten können nur wir als Politiker, die Regierung und die Parteien, sein. Die Bundeswehr und die Soldaten haben es nicht verdient, daß sie für einen Auftrag beschimpft werden, den nicht sie, sondern den wir hier im Parlament definieren. ({5}) Der Wehrbeauftragte wünscht, daß der Bundesminister der Verteidigung seine Auffassung zum Traditionsverständnis in den Streitkräften bald zum Ausdruck bringen möge. Wir wissen, daß der Minister kurz nach seiner Amtsübernahme die Überprüfung der gerade erst von seinem Vorgänger erlassenen Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr angeordnet hat. ({6}) Lassen Sie mich aber, Herr Kollege, zu den Apelschen Richtlinien eines sagen: Ihr Entstehungsprozeß war vorbildlich. Ich erinnere an die Debatte „Soldat und Gesellschaft" im April 1981 hier in Bonn, an der neben der Bundeswehr viele politische und gesellschaftliche Gruppen, so etwa die Kirchen und die Jugendverbände, beteiligt waren. Die Ergebnisse dieses offenen Meinungsbildungsprozesses wurden Bestandteil des Traditionserlasses. Er entspricht in den wesentlichen Punkten dem Grundgedanken - da werden Sie mir auch nicht widersprechen - einer in die demokratische Gesellschaft eingebetteten Armee. Ich habe Verständnis dafür, wenn ein Minister nicht einfach ungeprüft alles übernimmt, was sein Vorgänger erlassen hat. Ich meine aber, daß die Überprüfung dieser Traditionsrichtlinien nicht hinter verschlossenen Türen vonstatten gehen sollte. ({7}) Denn die Traditionsrichtlinien für die Bundeswehr sind auch von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Die Art und Weise, wie die Bundeswehr auftritt, wie und welche Traditionen sie pflegt, ist entscheidend für ihr Ansehen und für das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Die Bundeswehr muß sich nach unserer demokratischen Gesellschaft ausrichten und nicht umgekehrt. Der Wehrbeauftragte hat das wichtige Problem der Wehrgerechtigkeit vor allem unter dem Aspekt der studierwilligen Abiturienten abgehandelt. Es ist zu begrüßen, daß es im vergangenen Jahr gelungen ist, Studienzeitverluste für Abiturienten durch Flexibilität der Wehrersatzbehörden und der Truppe weitgehend zu vermeiden. Der Bericht berücksichtigt aber kaum, daß eine größere Zahl Jugendlicher nach dem Abschluß der Lehre keine Stelle findet, weil sie den Arbeitgebern nicht sagen können, wann sie zum Wehrdienst einberufen werden. Ich weiß, daß es nicht immer möglich ist - das wurde auch schon ausgeführt -, junge Männer direkt im Anschluß an die Lehre einzuberufen. Unabdingbar scheint mir aber zu sein, daß sich der Bundesverteidigungsminister um mehr Einberufungsklarheit bemüht. Das heißt, den Jugendlichen ist frühzeitig und verbindlich mitzuteilen, wann sie nach Abitur, wann sie nach der Lehre mit der Einberufung rechnen müssen. Gestatten Sie mir zwei Abschlußbemerkungen. Die im Bericht aufgezeigten Mängel dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß unsere Bundeswehr eine Armee von hoher Qualität ist und damit ein zuverlässiger Faktor der militärischen Friedenssicherung. Das ist nur möglich, weil unsere Soldaten und ihre Angehörigen bereit sind, erhebliche Belastungen auf sich zu nehmen. Dem gilt der ausdrückliche Dank der FDP-Bundestagsfraktion. ({8}) Unser Dank gilt aber auch dem Wehrbeauftragten, dessen Bericht wieder zeigt, daß er seinem Auftrag, als Anwalt der Soldaten tätig zu sein, wiederum voll gerecht geworden ist. ({9}) Auch darauf dürfte es zurückzuführen sein, daß der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages von den. Soldaten zunehmend als „unser Wehrbeauftragter" bezeichnet wird. Herr Wehrbeauftragter, darauf können Sie stolz sein. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Vogt ({0}). Herr Vogt, wir haben mehrere - Vögte darf ich, glaube ich, nicht sagen - Vogts, die nacheinander das Wort bekommen. Deshalb der Zusatz.

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben es im Verteidigungsausschuß j a auch manchmal schwer, etwa mit den Namen Biehle, Hiehle. ({0}) All die Vögte - ich gebe Ihnen recht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Berkhan, Sie haben in Ihrem Bericht u. a. ausgeführt, daß die Kommandeure Ihnen gesagt hätten, die Masse der Soldaten habe sich von der Debatte um die Nachrüstung nicht besonders berührt gezeigt. Bei den in diesem politischen Bereich interessierten Soldaten, so sagen Sie, gab es Befürworter und Gegner der Nachrüstung. Einige bekannten, aktiv in der Friedensbewegung mitzuarbeiten. Sie sahen hierin keinen Widerspruch zu ihrem Dienst. Ihre Beobachtungen stimmen mit unseren Beobachtungen insofern überein, als einige Soldaten darin keine Widerspruch zu ihrem Dienst gesehen haben, daß sie sich dezidiert gegen die Nachrüstung ausgesprochen haben. Übereinstimmung besteht allerdings nicht hinsichtlich der Einschätzung, daß die Thematik die Soldaten nicht berührt habe. Dann führen Sie aus, daß einige Chefs und Kommandeure es nicht immer einfach gehabt hätten, mit Untergebenen Fragen der Nachrüstung zu erörtern. Sie bescheinigen diesen Vorgesetzten die gebotene Umsicht und Toleranz. Sie deuten aber auch an, daß es Ausnahmen gegeben hat. Ich meine, es hätte bei dieser Andeutung nicht bleiben dürfen, sondern Sie hätten konkrete Fälle nennen sollen. Uns liegen einige dieser Fälle vor. So sind z. B. einem Hauptmann, der Mitglied der Partei DIE GRÜNEN ist, vom Amt für Sicherheit der Bundeswehr die Sicherheitsbescheide der Stufe I und II entzogen worden. ({1}) - natürlich ist das für Ihr Demokratieverständnis selbstverständlich -, was nicht nur Einfluß auf seine Beförderungswürdigkeit bedeutete, sondern auch den Vollzug seiner verdienten und bereits schriftlich angekündigten Beförderung zum Major verhinderte. ({2}) - Das ist doch der Punkt, den wir jetzt zu klären versuchen. Sie wissen ja, Herr Würzbach, daß Herr Bastian in dieser Angelegenheit an Sie geschrieben hat. Herr Bastian teilt uns mit, ({3}) daß Sie, Herr Würzbach, ihm mitgeteilt hätten - das ist sein gegenwärtiger Erkenntnisstand -, daß das Beschwerdeverfahren noch nicht abgeschlossen sei und daß die Gründe nicht genannt werden könnten. Deshalb sind wir - auch in einer Solidarität zu dem Betroffenen - selbstverständlich gehalten, hier öffentlich nachzufragen, was denn der wirkliche Grund ist. Aber das ist ja nicht der einzige Fall. Wir sind gespannt auf Ihre Antwort. Möglicherweise sagen Sie, der Umstand, daß er Mitglied dieser Partei ist und sich gegen die Nachrüstung ausgesprochen hat, sei nicht der Grund. ({4}) - Also ist es nicht der Fall, daß dies der Grund ist. ({5}) - Wir würden das gern öffentlich erörtern. Ich möchte auch dem Wehrbeauftragten ans Herz leVogt ({6}) gen, sich mit diesem Fall zu beschäftigen. Es ist nämlich nicht der einzige derartige Fall. ({7}) Wenn wir die uns bekannten Informationen zusammenfassen, kommen wir zu dem Ergebnis, daß unter rechtsmißbräuchlicher Auslegung gesetzlicher Bestimmungen, nämlich des Verbots der politischen Betätigung im Dienst, der Pflicht zum treuen Dienen, wie es da heißt, und des Gebots, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik einzutreten, die Rechte politisch engagierter Soldaten eingeschränkt werden. Davon besonders betroffen sind Soldaten, die im Herbst 1983 einen in der Öffentlichkeit als „Darmstädter Signal" bekannten Aufruf aktiver Soldaten gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen in unserem Land mit unterzeichnet haben und damit ohne Verletzung ihrer Treuepflicht lediglich von ihrem selbstverständlichen Recht auf außerdienstliche politische Betätigung Gebrauch gemacht haben. Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Da ist ein Oberleutnant, ebenfalls Mitglied der Partei DIE GRÜNEN. Er ist am 25. November 1983 von seinem Bataillonskommandeur mit einem strengen Verweis bestraft worden, weil er am 26. September 1983 in der Kaserne mit einem Kameraden über dieses bereits genannte „Darmstädter Signal" gesprochen hatte. Auch wenn der Straftenor der Disziplinarmaßnahme nicht erkennen läßt, gegen welche Dienstpflicht dieser Oberleutnant verstoßen haben soll, so ist doch offenkundig, daß sein Gespräch mit einem Kameraden vom Bataillonskommandeur als Verstoß gegen das Verbot der politischen Betätigung im Dienst gewertet worden ist. Diese Bewertung ist rechtlich unhaltbar, weil das Soldatengesetz lediglich die politische Betätigung im Dienst und die Werbung für bestimmte politische Meinungen innerhalb von Kasernen verbietet, aber doch keinesfalls eine absolute politische Abstinenz von Soldaten verlangt, schon gar nicht in einer von der ganzen Nation als Schicksalsfrage empfundenen Frage, erst recht nicht ein persönliches Gespräch mit einem Kameraden in der Kaserne über dieses Thema. ({8}) Trotzdem ist über die von dem Oberleutnant rechtzeitig eingelegte Beschwerde nach unserer Kenntnis bisher noch nicht entschieden worden, ganz im Gegenteil. ({9}) Nach einem sogenannten Verhör des Betreffenden durch zwei Angehörige der MAD-Gruppe München am 30. November 1983 ist ihm mit Schreiben dieser MAD-Gruppe vom 19. Januar 1984 ebenfalls der Entzug der Sicherheitsstufen I und II mitgeteilt worden. Damit werden wie schon bei dem erstgenannten Fall auch in diesem Fall gegen einen dienstlich untadeligen Offizier laufbahnschädigende Maßnahmen verfügt, die ihn auf Dauer erheblich benachteiligen müssen. Da bisher der Dienst dieses Oberleutnants nicht beanstandet worden ist, muß als Grund - davon gehen wir zunächst einmal aus - für diese Benachteiligung allein sein Engagement in der Partei DIE GRÜNEN bzw. sein Engagement gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen in unserem Land vermutet werden. ({10}) Auch der Ablauf der Befragung dieses Offiziers durch Angehörige des MAD, über die er ein Gedächtnisprotokoll gefertigt hat, bestätigt diese Vermutung. Dabei ist festzustellen, daß die Art und Weise der Befragung nur als Gesinnungsschnüffelei bewertet werden kann, die wegen der beschämenden rechtlichen Unkenntnis der MAD-Angehörigen besonders peinlich wirkt. So müßte z. B. auch den Fragestellern bekannt sein, daß § 8 des Soldatengesetzes allein die rechtsstaatliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zum Inhalt hat, aber keinerlei Hinweise auf die Bündnisverpflichtungen unseres Landes enthält und schon gar nicht bestimmte Strategien der NATO schützt, die ja, wie wir inzwischen wissen, auch beispielsweise beim ehemaligen Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Herrn Kissinger, sehr umstritten sind und ihm als sehr gefährlich erscheinen. ({11}) Er hat sich ja vor kurzem im „stern" dazu geäußert. Ich möchte hier ausdrücklich noch einmal auf einen Passus in einem Brief des Kollegen Bastian an den Bundesverteidigungsminister hinweisen, in dem er sagt: Nach Ihren eigenen betrüblichen Erfahrungen mit der Qualität von MAD-Ermittlungen sollte dieser Vorgang Sie nun endlich veranlassen, jeder Art von Gesinnungsschnüffelei durch Angehörige dieses Dienstes unverzüglich ein Ende zu setzen. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, würden Sie eine Frage des Abgeordneten Biehle zulassen?

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Alfred Biehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000176, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute darf ich einmal Sie fragen, Herr Kollege Vogt; bisher war das immer umgekehrt. Herr Kollege Vogt, Sie haben eine Reihe von Fällen aus dem personellen Bereich aufgezeigt und daraus Schlußfolgerungen gezogen. Meine Frage ist: Haben Sie, ehe Sie diese Schlußfolgerungen gezogen haben, dies noch einmal überprüft und sich beim BMVg oder wo auch immer erkundigt, ob Ihre Schlußfolgerung richtig ist, oder sind das nur Vermutungen auf Grund von Veröffentlichungen?

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Kollege Bastian hat sich in der Weise, die ich vorhin schon beschrieben habe, beim BMVg erkundigt, und ihm ist mitgeteilt worden, daß Beschwerdeverfahren in einzelnen Fällen noch laufen und daß man vorher nichts Definitives mitteilt. ({0}) Ich möchte aber, daß den Betroffenen - ich nenne jetzt die Namen nicht, aber die Fälle sind ja identifizierbar - der Schutz der Öffentlichkeit zuteil wird und daß wir bei unserer weiteren Diskussion mit dem Wehrbeauftragten Gelegenheit haben, auch solche Fälle zu überprüfen und anzusprechen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sitzen auf der Abgeordnetenbank. Aber Sie haben jederzeit das Recht, von dorther zu kommen und das Wort zu verlangen.

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Warum haben Sie, wenn Sie das so genau wissen, das dem Kollegen Bastian auf seine Frage hin nicht mitgeteilt? Ich kann Sie also nur ermutigen, das noch zu tun. Ich könnte noch einige derartige Fälle darlegen, erspare mir das aber und komme zum Ende. Herr Berkhan, ich meine, es wäre gut gewesen, Sie wären bei der Praxis, die Sie in dem vorjährigen Bericht geübt haben, geblieben. Darin haben Sie nämlich einen Passus über Soldaten, die die Dienstpflicht verweigern, gehabt; wir nennen sie „Totalverweigerer". Sie haben das putzigerweise „Dienstleistungsverweigerung" genannt, aber es war nicht der Dienstleistungssektor gemeint. Die Totalverweigerer sind Leute, die unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen durchsetzen wollen, daß in diesem Lande ein wirklicher Friedensdienst geleistet wird. Ich wäre Ihnen dankbar -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Vogt - Vogt ({0}) ({1}): Ja, ich komme zum Ende. - Ich wäre Ihnen dankbar und wäre auch den Kollegen im Verteidigungsausschuß dankbar, wenn es bei den weiteren Beratungen noch gelingen könnte, diese Fälle, die auch sehr zahlreich und betrüblich sind, in diesen Bericht aufzunehmen. Danke schön. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).

Ekkehard Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002386, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal dem Herrn Wehrbeauftragten namens der Republikaner dafür danken, daß er seinen Bericht an den Bundestag nicht nur sehr ausführlich, sondern auch, wie wir meinen, so angelegt hat, daß er eklatante Schwächen und Mängel, die erkannt sind, aufzeigt und auch einer Lösung zuführen möchte. Das ist aber ein Punkt, bei dem ich gleich vorab auch Kritik anmelden möchte. Denn bei diesem Bericht müssen wir die gleichen Fehler erleben und zur Kenntnis nehmen wie bei den Berichten der vergangenen Jahre. Das heißt, dieser Bericht ist für viele eine Routinearbeit geworden, und es gibt darüber eine Routineberatung. Ich denke, es deprimiert, wenn man erleben muß, daß in der Vergangenheit erkannte Fehler einfach nicht abgestellt worden sind. Zum ersten Punkt, zur Frage der Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft, muß ich anmerken, daß es zwar sehr positiv ist, wenn das Bundesministerium der Verteidigung eine erste Tagung für Kommunalpolitiker durchgeführt hat. Wenn man aber vor Ort hört und sich sagen lassen muß, wie einzelne Kommunalpolitiker in Uniform aller Parteien - so muß ich sagen - erhebliche Schwierigkeiten haben, ihren Vorgesetzten Sinn und Zweck ihres Auftrages und die Notwendigkeit klarzumachen, auch entsprechende Zeit für die Durchführung dieses „bundeswehrzivilen" Auftrages zu erhalten, dann muß ich schon meine Stimme erheben. Denn es ist auch bei der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen in Bayern wieder festgestellt worden, daß es vielfältig keine Selbstverständlichkeit ist, wenn ein Soldat ein kommunales Mandat anstrebt. Wenn man über die Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft spricht und sich dafür sichtbar ein Mandatsträger zur Verfügung stellt, ist es für mich unerträglich, wenn sich ein kommunaler Mandatsträger in Uniform praktisch immer wieder vor seinem Vorgesetzten rechtfertigen muß, daß er dieses Mandat erhalten hat und sich dafür zur Verfügung stellt. ({0}) Gleichermaßen muß ich feststellen, daß Soldaten, die sich in politischen Parteien engagieren, auch durch sehr geschickten psychologischen Druck von bestimmten Aktivitäten abgehalten worden sind. Das gilt für Informationsfahrten nach Bonn oder zum Europa-Parlament. Unter dem Vorwand, dienstlich nicht abkömmlich zu sein, werden diese Soldaten von den Fahrten ausgeschlossen. Das heißt, politische Arbeit von Soldaten im Sinne von Staatsbürger als Soldat ist heute nach langer Zeit der Existenz der Streitkräfte nicht selbstverständlich. Ein zweiter Punkt, den ich aus dem Bericht herausgreifen möchte, befaßt sich mit der ansteigenden Zahl von Dienstpflichtverletzungen von Soldaten und Vorgesetzten. Hierbei fällt mir auf, daß bei den Eingaben an den Herrn Wehrbeauftragten zu Fragen des Führungsstils, des Führungsverhaltens Voigt ({1}) von Vorgesetzten, zu Pflichtverstößen von Vorgesetzten gegen das Soldatengesetz bzw. gegen sonstige soldatische Verpflichtungen und Pflichten, zu Verstößen gegen das Prinzip von Befehl und Gehorsam, aber auch gegen die Wachvorschriften insgesamt, wenn man das von 1982 bis 1983 vergleicht, eine Steigerung von 61 % feststellbar ist. Ich möchte nicht mit Zahlen operieren. Was mir aber auffällt, ist eine eklatante Steigerung von Pflichtverstößen von Vorgesetzten. Wenn dann dazukommt - ich muß mich j a auf den Bericht stützen -, daß diese Pflichtverstöße von Vorgesetzten unter Alkoholeinfluß passieren, und dann noch als Drittes dazukommt, daß relativ milde Strafen dafür ausgesprochen werden, dann habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, daß in dieser Armee Pflichtverstöße nicht stärker geahndet werden. Lassen Sie mich einmal ein Beispiel herausgreifen. Da heißt es in dem Bericht: So richtete ein Feldwebel als Leitender eines Flugabwehrschießens sein auf munitioniertes Maschinengewehr von einem Kraftfahrzeug herab auf Untergebene, weil diese wegen einer vorangegangenen Ladehemmung an seinem Maschinengewehr über ihn gelacht hatten. Der Feldwebel wurde mit einem strengen Verweis belegt. Dieses Beispiel macht deutlich, daß sich einige Vorgesetzte Dinge herausnehmen, aber andere Vorgesetzte nicht den Mut haben, daraus die Konsequenzen zu ziehen, indem sie diese Leute entsprechend bestrafen. Wenn ich das auswerte, dann muß ich sagen: Mangelnde Dienstaufsicht, auch höherer Vorgesetzter, ist eine wesentliche Hauptursache dafür, daß im nachgeordneten Bereich Pflichtverstöße so geschehen konnten. Es ist auch ein Ausdruck einer gewissen Mentalität von Verteidigungsbeamtentum, und zwar nicht von Soldaten, die ganz klar in Befehl und Gehorsam eingebaut sind. Diese Schlamperei in Uniform auf Kosten junger Soldaten muß sofort beendet werden. Da gibt es überhaupt keinen Spielraum, kein Abwarten. Weil wir den Mechanismus von Vorgesetzten und Untergebenen in den Streitkräften haben, kann jeder Vorgesetzte sofort solche erkannten Mängel abstellen. Dafür braucht er nicht erst auf einen Bericht des Wehrbeauftragten zu warten. ({2}) Ich ziehe daraus die Folgerungen, daß das Bundesministerium der Verteidigung die im Soldatengesetz vorgesehenen Pflichten eines jeden Vorgesetzten nach meiner Auffassung, nach Auffassung der Republikaner strenger beachten und das Strafmaß härter anlegen muß. Auch präventive Maßnahmen im Hinblick auf Alkoholmißbrauch sind dringend geboten. Wir haben kein Verständnis dafür, daß junge Soldaten auf Grund von Bequemlichkeit, lascher Dienstauffassung und großzügiger Kumpanei zu Schaden kommen. Das hat auch nichts damit zu tun, daß man ein neues Gesetz braucht. Meine Damen und Herren, Sie brauchen nur die vorhandenen Vorschriften mit Inhalt auszufüllen und dem Vorgesetzten, der durchgreifen will, Mut zum Durchgreifen zu machen. Es darf nicht so sein, daß er das Gefühl hat, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. ({3}) - Selbstverständlich. Man muß nur aufpassen, daß man nicht darunterkommt, wenn man von der CSU kommt. ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen dritten Fragenkomplex anschneiden, weil er für viele Soldaten wichtig ist, die normalerweise gar keine Gelegenheit dazu haben, ihre Sorgen vorzutragen. Das sind die Soldaten, die im Ausland als Stammpersonal eingesetzt sind oder aber bei Übungen dorthin abgestellt werden. Aus eigener Anschauung kann ich Ihnen sagen, daß die Mängel dort - darüber haben wir auch im Verteidigungsausschuß beraten - teilweise eklatant sind. Sie müssen abgestellt werden. Es ist nicht einzusehen, daß dies unter dem Vorwand unterbleibt, bürokratische Hemmnisse, die Verwaltungsvorschriften oder die finanztechnischen Vorschriften im Hinblick auf die Abwicklung von Betreuungsmaßnahmen ließen das nicht zu. Ich sage Ihnen: Hier muß das Ministerium auf Grund der aktuellen Lage kurzfristig auch dem vor Ort befindlichen Kommandeur einen entsprechenden Spielraum einräumen, das zu tun, was für die Soldaten, die dort stationiert oder in Übung sind, notwendig ist. Es ist doch deprimierend, wenn die Vertrauensmänner der übenden Einheiten oder auch die Vertrauensmänner des Stammpersonals immer wieder Vorschläge an Abgeordnete, an den Wehrbeauftragten usw. machen, die Mängel dann aber nicht abgestellt werden, obwohl eindeutige Erfahrungsberichte vorliegen. Ich meine, hier ist in erster Linie die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gefragt. Wenn nach einer gewissen Zeit keine Änderung erfolgt, muß dann auch öffentlich gefragt werden. Lassen Sie mich zusammenfassen. Ich möchte mich für den Bericht des Wehrbeauftragten, über den ich hier gesprochen habe, ausdrücklich noch einmal dankend aussprechen. Dieser Bericht zeigt Mängel auf. Der Bericht wird aber natürlich eine Farce bleiben, wenn diese Mängel nicht abgestellt werden. Wir werden deshalb nach einer gewissen Zeit nachfragen, mit welcher Priorität, mit welcher Schnelligkeit und mit welcher Wirksamkeit diese Mängel abgestellt werden. Wir wollen nämlich erreichen, daß der Wehrbeauftragte in seinem Bericht auch einmal eine positive Bilanz über die Streitkräfte zieht, die tagaus, tagein ihre Pflicht als Staatsbürger, als Soldat tun, selbstverständlich im Auftrage für dieses Land, um die Freiheit zu verteidigen. Wenn wir einen solchen Bericht vor uns liegen haben, wird die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft erst sichtbar, sonst nicht. Danke schön. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache. Der Wehrbeauftragte, Herr Berkhan, wird im Ausschuß zur Beratung der aufgeworfenen Fragen zur Verfügung stehen. Er selbst ist interessiert, in der abschließenden Aussprache über seinen Bericht im Plenum das Wort zu nehmen. Ich nehme an, daß ihm dies dann eine oder mehrere Fraktionen entsprechend unserer Geschäftsordnung ermöglichen werden. Der Ältestensrat schlägt vor, den Jahresbericht 1983 des Wehrbeauftragten - Drucksache 10/1061 - dem Verteidigungsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit der vorgeschlagenen Überweisung einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir stehen damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. April 1984, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.