Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 23. Januar 1984 hatte der Abgeordnete Glombig seinen 60. Geburtstag. Auch wenn er nicht im Saal ist, wünscht das Haus ihm noch alles Gute.
({0})
In zwei Gremien ist für den aus dem Bundestag ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Linde ein Nachfolger zu wählen. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der SPD im Vermittlungausschuß nach Art. 77 des Grundgesetzes als Stellvertreter des Kollegen Jahn ({1}) den Abgeordneten Porzner und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates den Abgeordneten Neumann ({2}) als Mitglied der Bundesrepublik Deutschland vor. Das Haus ist damit einverstanden. - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1983
- Drucksache 10/15 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Der Ältestenrat hat für die Aussprache eine Runde vereinbart. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung des Entwurfs gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Abgeordnete Reetz.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die GRÜNEN haben am 31. März 1983 den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Volkszählungsgesetzes 1983 eingebracht. Nach dieser langen Zeit befassen wir uns heute damit. Ich möchte schon sagen, daß es verwunderlich ist, daß dieser Gesetzentwurf erst heute auf der Tagesordnung steht. Inzwischen gab es, am 15. Dezember vorigen Jahres, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wir können heute sagen, daß das Bundesverfassungsgericht die Bedenken, mit denen wir GRÜNE den Gesetzentwurf begründet haben, umfassend berücksichtigt hat.
({0})
- Es kommt jetzt, warum. Es hat bestätigt, daß die durch dieses Gesetz angeordnete Datenerhebung Beunruhigung auch in solchen Teilen der Bevölkerung ausgelöst hat, die als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektieren, sich die für rationelles und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen. Es hat den § 9 Abs. 1 bis 3 des Volkszählungsgesetzes als mit dem Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes für unvereinbar und nichtig erklärt. Laut § 9 sollten die Angaben der Volkszählung über Vor- und Familiennamen, Anschrift, Telefonanschluß, Geschlecht, Geburtstag, Familienstand, rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, Staatsangehörigkeit sowie auch Nutzung einer Wohnung als alleinige Wohnung oder Haupt- oder Nebenwohnung zu Vergleichen mit den Melderegistern und deren Berichtigung verwendet werden können. Einzelangaben ohne Namensangabe hätten auch an die zuständigen Bundes- oder Landesbehörden und mit Ausnahme weniger Merkmale auch an sonstige öffentliche und nichtöffentliche Stellen übermittelt werden können. Den Gemeinden und Gemeindeverbänden hätten die statistischen Amter der Länder Einzelangaben ohne Namen und das Merkmal der Religionsgemeinschaft für Zwecke der Regionalplanung, des Vermessungswesens, der gemeindlichen Planung und des Umweltschutzes sowie für eigene statistische Aufbereitungen zur Verfügung stellen können.
Die GRÜNEN im Bundestag lehnen nicht grundsätzlich die Sammlung von Informationen für Planungen ab, wie es in der Begründung unseres Gesetzentwurfes schon am 31. März 1983 hieß.
({1})
Aber wir befürchten, daß die vorgesehene Volkszählung einen weiteren Schritt zum Überwachungsstaat dargestellt hätte.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als ein neues Recht geschaffen. Wir GRÜNEN sind nicht die Verfassungsfeinde, wie es der Bundesinnenminister im Frühjahr 1983 von uns behauptet hat. Wir wollten verhindern, daß auf der Grundlage der Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung die Rechte der Bürger und Bürgerinnen eingeschränkt werden und ihnen materielle Nachteile durch Datenmißbrauch entstehen; denn Datenschutz ist technisch nicht zu gewährleisten.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeiten gegen diesen Mißbrauch zwar nicht genügend wahrgenommen. Aber wir als Politiker könnten aus diesem Urteil lernen, daß nicht alles, was vom Recht her noch zulässig ist, auch politisch gegenüber dem Bürger verantwortet werden kann. Wir müssen entscheiden, inwieweit Datenerhebung sinnvoll ist oder als Eingriff in die bürgerlichen Rechte abgelehnt werden muß. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz betont in seinem uns kürzlich zugegangenen Sechsten Tätigkeitsbericht: Bürger, die befürchten müßten, daß ihre Lebensäußerungen für sie nicht wahrnehmbar oder in ihren Konsequenzen für sie nicht abschätzbar registiert würden, richteten ihr Verhalten danach aus und nutzten möglicherweise ihr verfassungsmäßig verbürgtes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nur eingeschränkt.
Das ist eine schwerwiegende politische Äußerung. Der Bundesbeauftragte deutet hier meiner Meinung nach an, daß es so, wie es in früheren Jahren die Lèibeigenschaft gab, auch eine Geisteigenschaft, und zwar eine anonyme, geben könnte, die die Menschen in individuellen Lebensäußerungen wie Spontaneität, impulsives Handeln, Aggressivität und Kritik hemmen könnte.
Wenn der Gesetzgeber Daten verlangt, so muß er auch die Legitimation staatlicher Informationsbeschaffung und -verarbeitung transparent machen. Entscheidend für die Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit personenbezogener Daten sind die der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Für die Bürger und die Bürgerinnen, die auf ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung bestehen, gibt es keine sie überzeugende Klarheit über den Zweck, dem ihre Aufgaben in unterschiedlicher Programmverarbeitung dienen. Wozu braucht die Bundesregierung die umfangreiche Volksaushorchung? Für statistische Zwecke? Jedem von uns geht allwöchentlich der statistische Wochenbericht des Statistischen Bundesamtes zu und damit die gesetzlich angeordnete Bevölkerungsfortschreibung als Auswahlgrundlage für den Mikrozensus.
Ausgangsbasis ist die Volkszählung von 1970. Bevölkerungsbewegungen sowie weitere ausführliche Zahlenangaben über Erwerbstätigkeit, Bautätigkeit, Wohnungen und Verkehr, Sozialleistungen, Preise und vieles andere mehr sind bekannt. Die modernen statistischen Methoden ermöglichen es auch, aus wenigen, sechs oder sieben, Einzelangaben unter hunderttausend Personen eine bestimmte herauszufinden. Mit Satellitenfotos - das
ist bekannt - kann im Gelände bis auf Stecknadelkopfgröße etwas ausgemacht werden. In Dateien der Sozialämter, der Wirtschaft, der Finanzbehörden, der Polizei und der Gemeinden sind die Bürger bereits erfaßt. Ich frage also: Wozu die Volkszählung?
Bei uns in Baden-Württemberg - wahrscheinlich auch in anderen Bundesländern - verfügt man über Notprogramme, Pläne für eine Lebensmittelversorgung in Kriegs- und Katastrophenzeiten, die samt den dazugehörigen Lebensmittelkarten bereits in den Schubladen der Ministerien liegen. Braucht man dazu die Daten der Volkszählung? Wozu sollen gebäude- und wohnungsstatistische Fragen beantwortet werden, ebenso die nach leerstehenden Wohnungen? Mit welchem Recht werden diese Angaben verlangt, fragt sich der Bürger, wenn er gleichzeitig erfährt, daß Verfassungsschützer in Hamburger Wohnungen Wanzen plazieren oder das Bundeskriminalamt in einer illegal angelegten Datei 4 000 Bundesbürger erfaßt hat, die in Wohngemeinschaften leben.
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Mit welchem Recht werde ich nach der Anzahl meiner Räume, die mindestens sechs Quadratmeter haben, oder nach der Höhe meiner Monatsmiete ausgefragt?
Mit welchem Recht wird Mitteilung über alle meine Lebensgewohnheiten verlangt, und ich selbst erfahre nichts? Ich weiß nicht, was auf der Müllhalde vor meiner Stadt gelagert wird oder wo genau die französischen Streitkräfte - wie z. B. in meiner Heimatstadt Offenburg - Munitionslager haben und ob dort Atommunition oder konventionelle Munition gelagert wird.
Wo und warum wird geschossen? Wo und warum werden Raketen installiert? Das alles und vieles mehr ist Geheimnis, und wenn ich danach frage, dann ist es Verrat.
Wir GRÜNEN wollten die Aufhebung des Volkszählungsgesetzes, weil wir wissen, daß das Recht auf Schutz der Persönlichkeit nicht mehr gewährleistet ist. Datenschutz ist ein Grundrecht. Aber wir zweifeln, daß in der elektronischen Datenverarbeitung Angaben wirklich gelöscht werden, die nicht mehr existieren sollen. Das können Sie vielleicht mit dem Kontobuch einer politischen Partei machen, indem Sie einige Seiten herausreißen und mit anderen Dokumenten zusammen in den Reißwolf der Dresdner Bank geben. Aber Datenbanken, die einmal zusammengetragen wurden, werden in externen Speichern gerettet, auf Band weggeschrieben oder mikroverfilmt und können jederzeit wieder hervorgeholt werden.
Wir haben große Befürchtungen im Hinblick auf die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet, z. B. in bezug auf die Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises. Im Sechsten Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz heißt es - ich zitiere -:
Die Entwicklung der Informationstechnologie ist gekennzeichnet durch die Verknüpfung von Daten, Text, Sprache, Schriftzügen und Bildern, die eine umfangreiche Darstellung und Überprüfung von Personen möglich machen können.
Die Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises bzw. Passes muß im Zusammenhang mit dieser Entwicklung gesehen werden.
Dieser Ausweis könnte gleichsam als Schlüssel für sämtliche staatlichen und wirtschaftlichen Informationssysteme dienen, so daß es mit seiner Hilfe auf Grund der zahlreichen Ermächtigungsvorschriften zur Datenübermittlung möglich wäre, personenbezogene Daten beliebig und für den Bürger unsichtbar bzw. undurchschaubar zwischen den Computersystemen der einzelnen Behörden, Verwaltungen und betrieblichen Informationssystemen hin- und herzuschieben.
Der Datenschatten des Bürgers, und er selbst soll die Angaben dazu in der Volkszählung liefern - das sind Orwellsche Realitäten.
Sämtliche Bedenken, die das Bundesverfassungsgericht nennt, wären laut „Handelsblatt" vom 16. Dezember bei vernünftiger Überlegung zu vermeiden gewesen, so die offenen Verstöße gegen andere, bereits vor dem Volkszählungsgesetz geltende Vorschriften oder - noch instinktloser - die Kombination von Melderegisterabgleich und statistischen Erhebungen sowie die Praxis mancher Städte, die Volkszählung mit Kopfprämien auf nicht gemeldete Einwohner zu verknüpfen.
Mehr als 30 Millionen Fragebogen sind nun Makulatur: das schrieb das „Handelsblatt". Das Volkszählungsgesetz wurde von den Klägerinnen und Klägern als „totale Verdatung" bezeichnet. Wir GRÜNEN haben das Gesetz abgelehnt und werden es auch in Zukunft tun. Wir fühlen uns schon zu stark von der Informationstechnik bedroht. Gerade weil wir eine Industriegesellschaft sind, die über die modernsten Technologien verfügt, wollen wir unsere Persönlichkeit und unseren eigenen Bereich erhalten, j a wir wollen ihn gegen eine totale Überwachung abschirmen.
Wir verlangen vom Gesetzgeber, daß er den Bürger gegen die Herrschaft der Technik schützt. Auskunft über sich selbst zu geben, wie es das Volkszählungsgesetz vorgeschrieben hatte, kann nicht die Pflicht des Bürgers sein. Auch er hat seinen sensiblen Bereich und auch er hat seine Geheimhaltung. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine erste wichtige Entscheidung in dieser Richtung gefallen. Es ist jetzt an uns, diesen Weg weiterzugehen. Ich würde es als verhängnisvoll ansehen, wenn die politischen Parteien den Widerstand gegen die Erfassung durch Informationssysteme nicht erkennen würden und die Menschen sich ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Konfrontation mit dem Gesetzgeber erzwingen müßten.
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Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung möchte ich gerne folgendes deutlich machen: Die Bundesregierung wird, wie angekündigt, in diesem Jahr 1984 einen Entwurf zur Neufassung des Volkszählungsgesetzes vorlegen. Die entsprechenden Vorarbeiten finden in enger Zusammenarbeit mit den Bundesländern statt; denn sie müssen ja die Durchführung der Volkszählung wahrnehmen. Ich darf hier sagen, wir werden alle Aufgaben, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ergeben, sehr solide angehen und darum bemüht sein, bei der Neufassung des Gesetzes die Auswertung des Volkszählungsurteils nachdrücklich vorzunehmen und das zu berücksichtigen, was dort zum Schutz der Bürger im Hinblick auf den Datenschutz verlangt wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Zweites anfügen. Ich meine, gerade auch nach dem, was Sie, Frau Kollegin, für die Antragsteller hier gesagt haben, muß doch deutlich gemacht werden: Der moderne soziale Rechtsstaat braucht aktuelle Daten, um seine Aufgaben für die Daseinsvorsorge der Bürger zu erfüllen.
({0})
Ich möchte deshalb hier nachdrücklich sagen: Wir begrüßen als Bundesregierung, daß das Programm der Volkszählung vom Bundesverfassungsgericht eindeutig unterstützt worden ist. Es ist wichtig, hier vor dem Parlament festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, dieses Programm der Volkszählung kann von einem modernen Rechtsstaat für die Erfüllung seiner Aufgaben durchgeführt werden. Das muß heute vor dem Parlament auch noch einmal begrüßt werden. Denn die Bundesregierung und auch dieses Parlament wollen j a eine Volkszählung nicht um ihrer selbst willen, sondern die Volkszählung soll ja dem Auftrag dienen, den wir alle miteinander für unsere Mitbürger haben. Und wer sich gegen dieses Mindestmaß an Datensammeln wendet, der wendet sich im Grunde gegen eine Aufgabe, die wir für die Bürger durchführen.
({1})
Ich meine, das sollte deutlich ausgesprochen werden. Deshalb begrüßt die Bundesregierung nachdrücklich, daß wir vom Bundesverfassungsgericht hören konnten, das Programm der Volkszählung ist zu unterstützen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit gerne auch noch eines sehr deutlich machen. Ich meine, nachdem eine neue Fassung des Volkszählungsgesetzes ausgearbeitet wird, solide ausgearbeitet wird, zusammen mit den Ländern und in Zusammenarbeit mit den Gemeinden, mit allen, die hier Verantwortung tragen, auch unter Berücksichtigung dessen, was uns die Beauftragen für den Datenschutz dazu gesagt haben, auch unter Auswertung des Urteils von Karlsruhe, sollten wir alle Verantwortlichen
aufrufen - dazu könnte auch die heutige Aussprache hier dienen -, daß die notwendige Volkszählung nicht nur gut vorbereitet, sondern auch unterstützt wird, damit sie zum Nutzen der Bürger durchgeführt werden kann. Frau Kollegin Reetz, ich möchte gerade nach Ihren Ausführungen, die Sie hier gemacht haben, sagen: Es hilft nichts, wenn Sie jetzt darangehen, neue Angst zu wecken, Sorgen zu schüren und auch Mißtrauen zu wecken. Ich meine vielmehr, es sollte das gehört werden, was z. B. das Bundesverfassungsgericht sagt - hier darf ich, Frau Präsidentin, das Bundesverfassungsgericht wörtlich zitieren -: Wenn die ökonomische und soziale Entwicklung nicht als ein unabänderliches Schicksal hingenommen, sondern als eine permanente Aufgabe verstanden werden soll, dann bedarf es einer umfassenden, kontinuierlichen sowie laufend aktualisierten Information über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zusammenhänge.
Ich möchte hier heute morgen ganz klar zum Ausdruck bringen: Die Bundesregierung wird sich in den vor uns liegenden Wochen in Auswertung des Urteils in enger Zusammenarbeit mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und anderen Verantwortlichen darum bemühen, so bald wie möglich in diesem Jahr die Neufassung des Volkszählungsgesetzes unter Berücksichtigung des Datenschutzes vorzulegen. Wir werden alles tun, damit die Daten gesammelt werden können, die der Staat, die insbesondere die Länder und alle Behörden der Daseinsvorsorge brauchen. Jeder Bürger kann sich darauf verlassen, daß dabei der Datenschutz gewahrt werden wird,
({2})
wie uns die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts einen Weg gewiesen haben.
Wenn Sie hier Zwischenrufe machen, dann möchte ich gern an etwas erinnern.
({3})
Wir haben als Bundesregierung ein Gesetz versucht auszuführen, das in diesem Hause einmütig verabschiedet worden ist.
({4})
Inzwischen haben wir eine Weiterentwicklung. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gesagt - dies konnte jeder vernehmen, als wir das Urteil und seine Begründung in Karlsruhe angehört haben -: Wir als Bundesverfassungsgericht, als höchstes deutsches Gericht, entwickeln unsere Rechtsprechung zu dem wichtigen Aufgabengebiet des Datenschutzes weiter. Diese Weiterentwicklung zum Nutzen der Bürger ist zur Kenntnis genommen worden und wird von uns solide und intensiv ausgewertet.
({5})
Jeder Bürger darf sich darauf verlassen, daß das Notwendige für seinen Schutz geschieht.
In diesem Zusammenhang bin ich sehr dankbar - das sage ich gerade nach den Zwischenrufen, die hier kommen -, daß der Datenschutzbeauftragte in seinem Bericht, den er dieser Tage vorgelegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat: Hier braucht keiner in unserem Land Sorge zu haben, daß es einen Überwachungsstaat gibt.
Frau Kollegin Reetz, Sie haben heute morgen wieder von Aushorchung gesprochen.
({6})
Dies ist nicht der Weg, auf dem wir das solide und sachlich für den Bürger tun können und tun sollen, was unser Auftrag ist.
({7})
Ich kann im Zusammenhang mit dem, was heute hier beraten wird, nur sagen: Die Bundesregierung wird ihren Beitrag leisten, damit eine Volkszählung in dem notwendigen Umfang stattfinden kann. Sie wird das Notwendige für den Datenschutz tun. Ich rufe alle auf,
({8})
daran mitzuwirken, daß wir unserer Verantwortung für die Daseinsvorsorge, für den Bürger und auch für den Datenschutz gerecht werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1983 zum Volkszählungsgesetz grundlegende und wegweisende Maßstäbe zur Garantie des Rechtes, des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung gesetzt, die weit über den heutigen Beratungsgegenstand hinausreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat auch die engen Grenzen und Möglichkeiten deutlich gemacht, wonach dieses Grundrecht im Interesse des Allgemeinwohls eingeschränkt werden kann.
Wer sich die großen Gefahren moderner zentraler und vor allem auch dezentraler Informationserfassung und -verarbeitung vor Augen hält und auch die Chancen sieht, die damit verbunden sind, wer sich an der Auseinandersetzung um die geplante Volkszählung zu Beginn des Jahres 1983 erinnert, der wird dem Bundesverfassungsgericht für sein Urteil und die Begründung ebenso dankbar sein wie für die friedenstiftende Wirkung, die das Urteil für die innenpolitische Diskussion ausgelöst hat.
({0})
Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, haben unsere Auffassung zur Volkszählung zuletzt am 17. März 1983 und am 30. März 1983, der dritten Sitzung dieses 10. Deutschen Bundestages,
Schäfer ({1})
deutlich gemacht. Wir haben deutlich gemacht, daß wir das Gesetz mit den anderen damals im Bundestag vertretenen Parteien gemeinsam beschlossen haben. Wir haben deutlich gemacht, daß die zwischenzeitlich durch den Vollzug und durch Stellungnahmen der Datenschützer neu aufgetauchten Bedenken, aufgegriffen werden müssen und daß vor der Durchführung der Volkszählung entsprechendes politisches Handeln notwendig ist.
({2})
- Ich wiederhole noch einmal, lieber Kollege Fischer, unsere Haltung in vier Punkten. Sie gelten heute unverändert im Grundsatz fort.
Erstens. Kein moderner Industriestaat kann auf Planungsdaten verzichten. Wir Sozialdemokraten bejahen daher im Grundsatz die Notwendigeit der Volkszählung.
({3})
Sie entspricht dem Sozialstaatsgebot - ich werde nachher noch darauf eingehen -, selbstverständlich unter strikter Beachtung aller dafür notwendigen Datenschutzsicherungsmaßnahmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Reetz?
Ja, bitte schön, gerne.
Herr Schäfer, ich möchte Sie fragen: Setzen Sie Volkszählung und Planungsdaten gleich?
Ich komme nachher darauf zurück und komme auch auf Ihren Vorschlag zurück, weil Ihr Vorschlag unter Datenschutzgesichtspunkten - da sollten Sie wirklich noch einmal das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lesen - ausgesprochen gefährlich ist. Sie wollen auf vorhandene Daten der Verwaltung zurückgreifen und sie zu statistischen Zwecken mißbrauchen. Gerade damit würde der unabdingbare Grundsatz, daß Verwaltungsdaten und statistische Daten nicht vermengt werden dürfen, durchbrochen.
({0})
Ihr Vorschlag ist ausweislich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts datenschutzfeindlich, weil der Grundsatz der Trennung von Verwaltungshandeln und statistischem Handeln durchbrochen würde. Ich bitte, das nach Würdigung des Bundesverfassungsgerichtsurteils wirklich noch einmal in Ruhe zu bedenken, was Sie hier ausgeführt haben, Frau Kollegin Reetz.
Also noch einmal: 1. kein Industriestaat kann auf Planungsdaten verzichten; 2. die unverzichtbare Trennung von Statistik und Verwaltungsvollzug muß wiederhergestellt werden. So unsere Forderung an das Volkszählungsgesetz 1983 am 30. März hier vor diesem Hause. Sie wissen, das Gericht hat den vorgesehenen Meldeabgleich als verfassungswidrig gekennzeichnet.
Schließlich unsere dritte Forderung an das damalige Gesetz: Die Art und Weise der Datenerhebung darf nicht gegen den Schutz persönlicher Daten verstoßen.
({1})
Beispielsweise muß bei der Auswahl der Zähler berücksichtigt werden, daß keine Personen als Zähler benannt werden dürfen, die durch die Erhebung, mit der sie betraut werden, in möglichen Interessenkonflikt mit ihren dienstlichen Obliegenheiten geraten. Deswegen haben wir beispielsweise - in Übereinstimmung mit der Gewerkschaft der Polizei - den Einsatz von Polizeibeamten als Zähler abgelehnt. Diese Forderung ist vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt worden. Ich verweise auf die Seiten 63 und folgende, wo für die Durchführung und die Art der Erhebung eine Reihe grundrechtssichernder Maßnahmen angemahnt und für unabdingbar notwendig erachtet werden.
Schließlich, meine Damen und Herren, unsere vierte Forderung vom 17. März im Schreiben unseres Fraktionsvorsitzenden an den Bundeskanzler und hier am 30. März im Deutschen Bundestag, die Bedingungen für die Weitergabe der Daten in § 9 des Volkszählungsgesetzes zu verschärfen. Wir haben angekündigt, wir würden eine Novelle zu diesen Bestimmungen einbringen. Wir haben Sie aufgefordert, die Volkszählung zum vorgesehenen Termin zu verschieben, damit diese Bedingungen in Ruhe geklärt werden können und das Volkszählungsgesetz verfassungssicher gemacht werden kann.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition
({2})
- und Sie von den GRÜNEN -, haben aus unterschiedlichen Gründen die Verschiebung der Volkszählung abgelehnt. Vor allem der Herr Bundesinnenminister - er ist nicht da, ich muß mich jetzt an Sie wenden, Herr Kollege Waffenschmidt - hat einen geradezu erschreckenden Mangel an Sensibilität dem Datenschutz gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ich will als Beleg, Herr Kollege Waffenschmidt, nur ein einziges Zitat bringen aus seiner Rede am 30. März. Er sagte zur Auswahl der Zähler, Herr Kollege Waffenschmidt: „Jedes Land" - und jede Gemeinde - „kann sich also verhalten, wie es will. Es kann Beamte, öffentliche Angestellte, Polizeibeamte, Steuerbeamte nehmen oder weglassen." Aber gerade das dürfen weder das Land noch die Kommune noch der Bundesgesetzgeber tun; das ist im Urteil ausdrücklich untersagt worden.
Schließlich, meine Damen und Herren, ist unser Bundesinnenminister, der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, ein Mann starker Worte. Er hat in einer fast eineinhalbjährigen Ministerzeit
Schäfer ({3})
kein einziges Gesetz durch den Deutschen Bundestag gebracht, kein einziges Gesetz!
({4})
Aber er hat das geistig-politische Klima in der Bundesrepublik verändert. Er steht tatsächlich für die Wende in der Innenpolitik, hin zu weniger Freiheitlichkeit und weniger Liberalität. Die Datenschutzfeindlichkeit des Innenministers allein reicht als Beleg dafür aus. Die Debatte um die Filmförderungsrichtlinie und die Äußerungen zum HartlingBericht des Hohen Flüchtlingskommissars sind weitere Belege.
Meine Damen und Herren, für uns ist es wahrhaftig kein Anlaß zur Freude, daß der Verfassungsminister vom Bundesverfassungsgericht zur Ordnung gerufen worden ist. Uns wäre es lieber, wir hätten einen Innenminister, bei dem die Freiheit der Bürger in besseren Händen wäre als bei Ihnen, Herr Bundesinnenminister.
({5})
Ich will noch etwas sagen zum Antrag der Fraktion der GRÜNEN, Frau Kollegin Reetz. Auch hier gilt unsere Auffassung unverändert. Wir lehnen in der Sache Ihren Antrag ab. Wir werden der Überweisung in die zuständigen Ausschüsse zustimmen. Sie lehnen ab, und haben es noch einmal deutlich gemacht, jede umfassende Erhebung zu statistischen Zwecken als „totale Erfassung des einzelnen Bürgers", als „Volksaushorchung". Wir bleiben dabei: kein moderner Industriestaat kann auf Planungsdaten verzichten. Wer dem modernen Industriestaat Planungsdaten verweigern will, verzichtet auf die Möglichkeit vorausschauender staatlicher Politik, Energiepolitik, Industriepolitik, Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik.
({6})
Sie haben für sich das Bundesverfassungsgericht reklamiert, in diesem Punkt zu Unrecht. Ich lese Ihnen die entsprechende Passage wörtlich vor, Frau Kollegin Reetz:
Erst die Kenntnis der relevanten Daten und die Möglichkeit, die durch sie vermittelten Informationen mit Hilfe der Chancen, die eine automatische Datenverarbeitung bietet, für die Statistik zu nutzen, schafft
- jetzt kommt die entscheidende Aussage die für eine am Sozialstaatsprinzip orientierte staatliche Politik unentbehrliche Handlungsgrundlage.
Ich füge hinzu:
Der Sozialstaat braucht entsprechende Planungsdaten, wenn er sein Sozialstaatsgebot erfüllen will.
Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich deutlich gemacht, daß die Art einer umfassenden Erhebung zu statistischen Zwecken unter strengen Datensicherungseinengungen nicht nur einen legalen Akt, sondern einen legitimen Akt staatlichen Handelns darstellt und notwendig ist, um auch den Verfassungsauftrag des Sozialstaates zu erfüllen.
({7})
Sie wenden nun ein, daß man auch auf andere Art und Weise - nicht durch totale Erhebung - die notwendigen Daten zum gleichen Zweck wird erreichen können. Wir haben bereits am 14. Juni 1983 in der SPD-Fraktion
({8})
diese Frage in einer großen Anhörung erörtert. Das Verfassungsgericht kommt im Kern zum gleichen Ergebnis. Es stellt fest, daß alternative Erhebungen zur Totalerhebung, die Sie vorschlagen, etwa auf Grund von Stichproben auf ausnahmslos freiwilliger Basis, etwa auf Grund einer Kombination zwischen Voll- und Stichprobenerhebung, gegenwärtig keine Alternative darstellen können, zu hohe Fehlerquellen enthalten und deswegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt die vorgesehene Art und Weise unter den strengen Maßnahmen des Datenschutzes notwendig ist, um staatliches vorausschauendes politisches Handeln zu ermöglichen.
({9})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe nur noch vier Minuten; es tut mir leid.
Das Verfassungsgericht weist zu Recht darauf hin, daß diese Aussage nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand, nach dem gegenwärtigen Erfahrungsstand zutrifft. Das Verfassungsgericht weist zu Recht darauf hin, daß auch die Frage der Art und Weise der Erhebung nach dem jeweiligen wissenschaftlichen empirischen Erkenntnisstand neu vom Gesetzgeber zu bewerten ist. Vor jeder Erhebung muß geprüft werden, ob auch die dafür vorgesehene Methode dem entsprechenden Datenschutzzweck und statistischen Erhebungszweck angemessen ist. Es genügt nicht, wie es geschehen ist, sich mit dem Hinweis auf die Methode von 1950 und 1970 zu begnügen nach dem Motto: Das haben wir immer schon getan. Wir Sozialdemokraten sind natürlich bereit, diese Methodik kritisch zu bewerten und zu würdigen. Ich sage es noch einmal: Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ist die vorgesehene Erfassung zu statistischen Zwecken ohne Alternative. Wir verwahren uns dagegen, jede Art von Volkszählung,
({0})
dieses notwendige Planungsinstrument, mit engen Sicherheitsauflagen, was den Datenschutz, was das Grundrecht des Menschen angeht, mit Worten, wie „Aushorchung" und „totale Erfassung", zu diffamieren.
({1})
Schäfer ({2})
Ich sage das ganz bewußt an die Adresse der Fraktion der GRÜNEN.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß ein persönliches Wort an den Bundesinnenminister sagen. Wir haben, Herr Bundesinnenminister, die Forderung, ja die inständige Bitte an Sie, vertrauensbildende Maßnahmen im Bereich des Datenschutzes jetzt hier zu schaffen. Sie haben wie kaum ein anderer bei der geplanten Durchführung der Volkszählung auf stur geschaltet, Sie haben alle Bedenken hinweggewischt, Sie haben sich gegen die mögliche Verschiebung gewandt. Wenn Sie am vorgesehenen Datum der Einführung des maschinenlesbaren fälschungssicheren Personalausweises zum 1. November 1984 festhalten - die Durchhalteparolen von Ihnen sind bekannt - laufen Sie in die nächste Sackgasse. Wir fordern Sie, Herr Bundesinnenminister, auch als Folgerung aus dem Urteil zum Volkszählungsgesetz auf:
({4})
Legen Sie einen Gesetzentwurf zur Aussetzung des Inkrafttretens dieses Gesetzes über den fälschungssicheren Personalausweis vor! Nehmen Sie die Bedenken der Datenschutzbeauftragten ernst! Sorgen Sie dafür, daß bei Bund und Ländern die notwendigen begleitenden Maßnahmen zur Einführung des neuen Personalausweises vor der Einführung realisiert sind!
({5})
Gehen Sie in die Länderinnenministerkonferenz, weisen Sie darauf hin, daß die Personalausweisgesetze der Länder entsprechend den Bedingungen der Datenschutzbeauftragten und des Volkszählungsurteils gestaltet werden müssen!
Lassen Sie mich schließen, meine Damen und Herren, mit einem Zitat, vor allem an Ihre Adresse, Herr Bundesinnenminister, aus dem Volkszählungsurteil. Unser höchstes Gericht schreibt in der Begründung auf Seite 53:
Eine Staatspraxis, die sich nicht um die Bildung eines solchen Vertrauens
- Vertrauen nämlich, daß der Bürger die Gewißheit haben kann, daß die Daten, die gespeichert werden, auf eindeutiger rechtlicher Grundlage und unter strenger Beachtung, Einhaltung des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung erfolgt ({6})
durch Offenlegung des Datenverarbeitungsprozesses und um strikte Abschottung bemühte, würde auf längere Sicht zu schwindender Kooperationsbereitschaft führen, weil Mißtrauen entstünde.
({7})
Ich fahre, an Ihre Adresse, Herr Bundesinnenminister, gewandt, mit dem Zitat fort:
Da staatlicher Zwang nur begrenzt wirksam werden kann, wird ein die Interessen des Bürgers überspielendes staatliches Handeln allenfalls kurzfristig vorteilhaft erscheinen.
So meint das Verfassungsgericht. Wir fordern Sie auf, Herr Bundesinnenminister: Legen Sie umgehend einen Gesetzentwurf vor, daß der Einführungstermin für den neuen Personalausweis zum 1. November 1984 aufgehoben wird, daß wir uns gemeinsam die Zeit nehmen, die mit der Maschinenlesbarkeit des Personalausweises verbundenen datenschutzrechtlichen Probleme mit der Bereitschaft gründlich zu erörtern, gegebenenfalls auch auf die maschinell lesbare Zone zu verzichten!
({8})
Leisten Sie einen Beitrag für mehr Datenschutz, was Ihre Auffassung angeht! Ergreifen Sie bitte diese vertrauensbildenden Maßnahmen: Unser Staat braucht in dem sensiblen Bereich der Überwachung der Bürger das Zutrauen der Bürger
({9})
auf die Rechtsstaatlichkeit, auf die Einwandfreiheit des staatlichen Handelns. Ich fordere Sie noch einmal auf: Leisten Sie dazu Ihren Beitrag, geben Sie Ihre datenschutzfeindliche Haltung auf!
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man von dem rhetorischen Teil unserer Darbietungen absieht, dann muß man sagen, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine ungewöhnlich einigende Wirkung gehabt hat. In der Tat ist es ein Urteil, das nicht nur zitierfähige, sondern zitierwürdige Sätze enthält, wohin man blickt. Eine bemerkenswerte Entscheidung, die in der Tat ein Grundrecht statuiert, das Grundrecht auf Schutz der persönlichen Daten, was bisher nur der Gesetzgeber im Land Nordrhein-Westfalen vollbracht hat.
Diese Entscheidung mahnt - unter Beschreibung der modernen Informationstechnologie - in der Tat zur Zurückhaltung. Die Richter sagen: Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und dauerhaft gespeichert werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa eine Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und ihm dadurch Risiken entstehen können, wird auf die Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte möglicherweise verzichten. - Man folgert daraus zu Recht, daß der Staat begründen muß, was er wann warum über den einzelnen wissen will. Das muß so sein, wenn wir in einem Staat leben wollen, der nicht schlicht auf den Gehorsam oder die Unterwerfung seiner Bürger, sondern auf ihre Mitwirkung setzt.
Das Urteil zeigt in gleicher Weise noch etwas anderes: daß es falsch ist, Datenschutz mit Technologiefeindlichkeit gleichzusetzen, daß Datenschutz - im Gegenteil - die Akzeptanz moderner Informationstechnologien steigert, also ihren Einsatz erleichtert, wenn der Bürger sicher ist, daß die Möglichkeiten, die diese Technologie bietet, nicht vom Staat, aber auch nicht von anderen Gruppen oder Organisationen mißbraucht werden.
({0})
- Verehrter Herr Kollege, das Kabelfernsehen werden weder Sie noch sonst jemand aufhalten. Ich bin auch nicht der Meinung, daß es aufgehalten werden muß. Vielmehr kommt es darauf an, wie man es organisiert; das ist das Problem.
({1})
Nun muß man zu dem Gesetzentwurf der GRÜNEN sagen, daß er zu dem Zeitpunkt, als er eingebracht wurde, am 31. März vergangenen Jahres, offenbar nicht weise war. Denn wenn wir den Gesetzentwurf damals akzeptiert hätten, dann hätten Sie das Verfassungsgericht ja um die Möglichkeit gebracht, die Entscheidung, die wir alle loben, überhaupt zu treffen. Das wäre in der Tat schade gewesen.
({2})
Heute ist der Gesetzentwurf ohne Bedeutung. Denn wir wissen, daß das Volkszählungsgesetz in vielen Einzelheiten nicht bestehen kann und daß es überhaupt nicht entscheidend ist, ob wir es aufheben, um ein neues zu machen, sondern daß es wichtig ist, daß wir uns entscheiden, ob und wie wir die Volkszählung durchführen wollen.
Da sagt nun der Gesetzentwurf in seiner Begründung - Frau Kollegin Reetz, Sie haben diese Formulierung in Ihren Ausführungen aufgenommen -, die Volkszählung sei eine Volksaushorchung.
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- Na gut, ich wollte nur warten, bis sie zuhört, aber ist egal. - Gerade in diesem Punkt, Frau Kollegin, können Sie sich auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht berufen. Denn das Verfassungsgericht sagt nun ausdrücklich: Das Erhebungsprogramm führt nicht zu einer mit der Würde des Menschen unvereinbaren Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit; es entspricht auch den Geboten der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit. Die Kritik, die das Gericht ansetzt, bezieht sich auf die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen und auf die Organisation der Datenerhebung, die in der Tat ungenügend war.
Dazu gehört die Entscheidung; die wir treffen müssen, wo eine repräsentative Erhebung ausreicht und wo man zu einer völligen Erhebung von Daten kommen muß. Es muß die Entscheidung getroffen werden, daß personenbezogene Daten mit festgesetzter Frist zu löschen sind. Es darf keine Weitergabe von Daten ohne Anonymisierung geben. Da werden die Länder und die Kommunen dazulernen müssen, die uns in diese Entscheidung hineingetrieben haben. Man muß den Bürger nachhaltig darüber aufklären, welche Angaben er freiwillig macht und zu welchen wir ihn verpflichten wollen. Es darf keine Kollision mit den beruflichen Interessen der Zähler geben. In der Tat ist der Gedanke, daß die Fragebogen in verschlossenen Umschlägen abgegeben werden könnten, ein richtiger. Und schließlich kann der Melderegisterabgleich nicht stattfinden.
Aber über allem steht die Frage, ob wir eine Volkszählung brauchen. Da scheint, glücklicherweise, eine Übereinstimmung darüber zu herrschen, daß der Staat zuverlässige statistische Daten j eden-falls über wirtschaftliche und über bestimmte Lebensverhältnisse braucht, wenn er vernünftige Entscheidungen treffen soll oder wenn er wenigstens die Chance zu vernünftigen Entscheidungen haben soll. Das folgt daraus, daß wir nun einmal nicht eine Horde von Robinsonen sind, sondern in einer Gesellschaft leben, die auf ein gewisses Maß an Zusammenarbeit angewiesen ist. Diese Motivation des Volkszählungsgesetzes bleibt unverändert bei aller berechtigten Kritik an den Unzulänglichkeiten des ersten Startversuches. Es muß also der mildeste Weg gefunden werden. Wir müssen sorgfältig prüfen, ob jede Fragestellung wirklich notwendig ist. Es muß glasklar die Anonymität gesichert bleiben, und es muß, um dieses Ziel zu erreichen, auch die Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern in dieser Frage, nicht nur in dem Punkt der Finanzierung, rechtzeitig sichergestellt werden.
Nun zurück zu den Eingangszitaten aus dem Urteil. Das Schöne an diesem Urteil, das Sie fast verhindert hätten, ist doch, daß es Bedeutung weit über das Volkszählungsgesetz hinaus hat, daß es wesentliche Wirkungen auf die notwendige Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes haben wird, daß es in der Tat, nach meiner Überzeugung, Auswirkungen auf das Personalausweisgesetz haben muß. Ich wiederhole hier, was ich schon einmal gesagt hatte: Ich bin der Überzeugung, daß das Personalausweisgesetz in seiner jetzigen Form den Anforderungen des Verfassungsgerichtsurteils nicht entspricht.
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Die Bedenken, die man äußern muß, beziehen sich nicht nur auf die bundesrechtliche Regelung, sondern auch auf eine ganze Reihe von Meldegesetzen der Länder, die das Melderechtsrahmengesetz des Bundes in einer so extensiven Weise auslegen, daß wir fragen müssen, ob wir nicht auch das Melderechtsrahmengesetz stringenter fassen müßten, um sicher zu sein, daß die Länder die Gebote des Verfassungsgerichtes in derselben Ernsthaftigkeit befolgen, wie wir das tun wollen.
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Mir wäre es lieber, wenn man rechtzeitig erreichte, daß die Länder autonom ihre bisherigen Positionen prüften.
Ich denke, daß das Urteil auch eine Auswirkung auf den Bereich der privaten Datenverarbeitung haben muß, wie manche Diskussion der Gegenwart
I)r. Hirsch
und dieser Tage zeigt. Wir müssen die Sorge des Bürgers ernst nehmen, zum Objekt der Verwaltung oder zum Objekt der modernen Technologie zu werden. Und wir dürfen nicht auf seinen Gehorsam setzen, sondern wir müssen uns bemühen, ihn zu überzeugen. Und darum begrüßen wir diese Entscheidung des Verfassungsgerichts, weil es nicht nur eine Entscheidung ist, die zur Zurückhaltung mahnt, sondern eine Entscheidung in bester liberaler Tradition ist.
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Das Wort hat der Abgeordnete Broll.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Volkszählungsgesetz ist in diesem Hause und vorher im Ausschuß nach Prüfung aller Kritik und aller Fragen, die in der Beratung aufgetaucht sind, einstimmig beschlossen worden. Nach bestem Wissen und Gewissen haben wir die Formulierungen getroffen. Dann hat das Bundesverfassungsgericht - auch zu meinem vorübergehenden persönlichen Arger, muß ich sagen; schließlich hatte ich erst wenige Tage vorher im Plenum zugunsten des Gesetzes gesprochen - den Vollzug des Gesetzs ausgesetzt und die ersten drei Absätze des § 9 als verfassungswidrig bezeichnet. Das waren übrigens jene Absätze dieses Paragraphen, die wir im Ausschuß von vornherein heftig diskutiert hatten. Wir waren uns bewußt, daß hier die Kritik am ersten einsetzen könnte. Dennoch waren wir auch auf Grund der Erfahrung, die ja die Wahrung des Statistikgeheimnisses bestätigt hatte,
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der Überzeugung, daß wir den Gemeinden auch bei diesem Volkszählungsgesetz wohl zutrauen könnten, sie würden das Statistikgeheimnis in rechter Weise wahren.
Nun liegt seit dem 15. Dezember das Urteil vor. Ein Antrag der GRÜNEN, das Gesetz abzuschaffen, ist angesichts dieses Standes völlig überflüssig.
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Es wundert mich nicht das Vokabular, mit dem die GRÜNEN ihren Gesetzesantrag auf der ersten Seite und der Rückseite in der Begründung begleiten. Da ist wie damals in der Kampagne um die Volkszählung von „Einschränkung der Freiheit des Bürgers" und von „materiellen Nachteilen durch Bruch des Datengeheimnisses",
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ferner von „Überwachungsstaat" und von „Volksaushorchung" die Rede.
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Das ist das Vokabular der Kampagne, mit der damals auch ein bißchen Hysterie erzeugt worden ist. Mich wundert nicht, daß Sie damals auf dem Höhepunkt dieser Kampagne so sprachen. Mich wundert ähnlich wie den Kollegen Hirsch mehr, daß Sie die
zehn Monate, die seitdem vergangen sind, nicht genutzt haben, um diesen Antrag stillschweigend zurückzuziehen. Er ist damals irgendwo in diesem Hause wie ein angefaulter Knochen vergraben worden, und jetzt meinen Sie, indem Sie ihn hervorziehen und ihn wieder zu beknabbern anfangen, könnten Sie diesem Rest noch etwas Vernünftiges abgewinnen.
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Ich hatte eigentlich gedacht, auch die GRÜNEN seien in der Lage, neue Themen zu erfinden, um neue Begeisterung für den gleichen Kreis der Bevölkerung zu bewirken, der ihnen üblicherweise folgt. Das scheint nicht der Fall zu sein.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte lieber erst einmal reden. Vielleicht im Laufe der Rede, Frau Präsident.
Aha.
Mich wundert es um so mehr, als man, wenn man den Spruch des Bundesverfassungsgerichts genau liest, zu der Erkenntnis kommen muß, daß neben Kritik an unseren Formulierungen, neben Ratschlägen für die Durchführung der statistischen Erhebung in dem Spruch eminent wichtige Sätze enthalten sind, die Volkszählung und Statistik überhaupt rechtfertigen.
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Ein Blick in den Spruch des Verfassungsgerichts zeigt, daß die wesentlichen Grundlagen des Volkszählungsgesetzes verfassungskonform sind. Im Gegenteil hat das Verfassungsgericht geradezu gesagt, dadurch, daß § 9 Abs. 1 bis 3 die Weitergabe statistischer Angaben ermöglicht, könne der Zweck der Statistik, nämlich die wahrheitsgemäße Angabe der einzelnen Fakten und die realistische Ausarbeitung dessen, was durch die Befragung der Bevölkerung eingekommen ist, gestört werden.
Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in Art. 73 des Grundgesetzes Statistik als eine der Aufgaben des Staates genannt wird und darum in sich schon ein durch das Grundgesetz schutzwürdiges Anliegen ist. Wie man angesichts dieser Aussagen des Verfassungsgerichts noch einen Antrag stellen kann, Volkszählung als solche abzuschaffen und durch andere, überhaupt nicht tragfähige Maßnahmen zu ersetzen, ist mir schlechterdings unverständlich. Es scheint das ein Zeichen zu sein für partielle Wahrnehmungsunfähigkeit, die wohl Voraussetzung ist für eine bestimmte fanatisierende Politik, wie sie für einige Bürger unseres Landes nicht untypisch ist.
Broll
Ich gehe so weit, zu sagen, daß durch dieses Verfassungsgerichtsurteil - so schockiert wir als Autoren dieses Gesetzes am Anfang über die Verfügung und über einige Sätze des Urteils auch gewesen sind - Volkszählung und Statistik überhaupt rechtlich abgesicherter sind als je, so daß wir in Zukunft bei einigen Statistiken überhaupt keinen Begründungszwang mehr haben, sondern einfach nur auf Sätze des Entscheids des Verfassungsgerichts rekurrieren müssen, um eine hinreichende Begründung zu haben. Das ist ein Erfolg jener Kampagne, meine sehr verehrten Damen und Herren, den sich ihre Autoren sicher nicht gedacht haben. Es kommt manchmal im Leben bei Kampagnen, bei Hysterien oder bei Bewegungen etwas heraus, aber nicht gerade das, was man gewünscht hat. Das ist der Gegenstand mancher Tragödie, aber manchmal wirkt es auch komisch, und dies scheint mir in diesem Fall - bei allem Respekt vor Ihrem Anliegen - so zu sein.
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Meine Damen und Herren, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat gesagt, daß die Verpflichtung, Religionsangaben zu machen, nicht die Freiheit des Religionsbekenntnisses beeinträchtigt. Es hat gesagt, daß die Verpflichtung, Auskünfte zu geben, einen Beamten oder Beauftragten in die Wohnung hereinzulassen, um den Fragebogen übergeben zu lassen, nicht die Unverletzlichkeit der Wohnung beeinträchtigt. Der Zwang zur wahrheitsgemäßen Aussage beeinträchtigt nicht - auch das steht im Verfassungsgerichtsentscheid - die Freiheit der Meinungsäußerung. Die informationelle Selbstbestimmung - jenes neue Grundrecht, sozusagen ein Seitentrieb des Art. 2 des Grundgesetzes - wird nicht beeinträchtigt durch die Verpflichtung, Angaben statistischer Art zu machen. Der Mensch - so wird sinngemäß gesagt - sei als Zoon politikon, als ein auf Gemeinschaft hin angelegtes Wesen, verpflichtet, auch jene Informationen zu geben, die ein Spiegelbild des sozialen Umfelds, seiner sozialen Eingebundenheit sind. Konkrete Zweckbindungen für einzelne statistische Angaben könnten bei Statistik nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden. Man müsse einen Schatz von Wissen in die Hände der Ämter geben, der aktuellen Bedürfnissen entsprechen könne.
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Der Katalog der Fragen selbst wird als durchaus normenklar und als mit der Würde des Menschen vereinbar bezeichnet. Stichproben, so sagt das Verfassungsgericht, können Gesamtzählungen nicht ersetzen, was ja auch einleuchtet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch deutlicher können die Grundlagen der Statistik und der Volkszählung bei allen Vorbehalten und Einwendungen im einzelnen überhaupt nicht genannt werden. So haben wir keinen Grund, dem Antrag der GRÜNEN zu folgen. Wir werden ihn ablehnen oder, falls das gefordert wird, der Überweisung an den Ausschuß zustimmen und diesem Gesetz dann im Ausschuß die Zustimmung verweigern.
Besonders interessant und amüsant war der Redebeitrag, den mein lieber Kollege Schäfer hier geleistet hat. Die SPD - immer wenige Meter, ich will nicht sagen: hinter dem Geist der Zeit, aber hinter den Stimmungen, die sich in der Bevölkerung, wie Frühjahrswinde wechselnd, ergeben - hat den Sprecher zu Fragen der Statistik gewechselt und meint, damit hinreichenden Grund auch für einen Wechsel in ihrer Haltung zu haben. Nun, das haben Sie in Nuancen getan. Im Grunde haben Sie, was die Stellung zu diesem Gesetzesantrag betrifft, die Linie weiterverfolgt, die Sie früher gehabt haben.
Daß Sie aber, lieber Kollege Schäfer, die Gelegenheit, über den Antrag der GRÜNEN zu debattieren, benutzen mußten, um Minister Zimmermann einen kleinen mitzugeben,
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nehmen wir Ihnen nicht übel. Das ist eine der wenigen Gelegenheiten eines Oppositionspolitikers, in die Presse zu kommen.
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Ob es Herrn Zimmermann nützt, ob er dadurch noch bekannter wurde, als er es ohne Sie ist, möchte ich bezweifeln. Die Repräsentativbefragungen zu der Frage, wie angesehen der Minister in der Bevölkerung eigentlich ist, deuten darauf hin, daß er einen so hohen Grad der Zustimmung genießt, daß er Ihrer Kritik eigentlich nicht mehr bedarf.
Was nun aber die Substanz dieser Kritik betrifft, so bitte ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch einmal folgendes zu bedenken. Es ist ganz richtig, daß Minister Zimmermann treuer als Sie selbst, die Sie dieses Gesetz mitbeschlossen haben, zu dem Gesetz gestanden und es in der Öffentlichkeit vertreten hat.
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Das ist es, was wir von einem Minister erwarten: daß er das Gesetz, das vom Parlament rechtmäßig beschlossen und verkündet worden ist, durchzuführen versucht. Wenn er dafür sorgt, daß nicht jede Kritik, nicht jedes Herummotzen
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an dem, was einmal beschlossen worden ist, zur Verunsicherung der Bevölkerung führt.
({7})
so ist das durchaus auch ein Beitrag zur Rechtssicherheit und zum Vertrauen, das der Bürger zu unserem Staat und auch zu uns als dem gesetzgebenden Parlament haben muß.
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Das hat überhaupt nichts mit der Tatsache zu tun,
daß Minister Zimmermann klug genug ist - als
Politiker und als Jurist -, um zu wissen, daß dieses
Broll
Urteil des Verfassungsgerichts für unsere Gesetzgebung Konsequenzen hat.
. Wenn Sie nur einen kleinen Blick in die Behörden werfen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen - Sie hätten theoretisch die Möglichkeit, das zu tun -, wüßten Sie,
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daß nicht nur die Beamten, die hier hinten auf der Bank sitzen, mit diesen Dingen fachlich beschäftigt sind, sondern auch eine ganze Reihe anderer Abteilungen sich intensiv mit den Konsequenzen des Urteils zum Volkszählungsgesetz beschäftigen. Sie können sicher sein, daß die Regierung hinreichende Vorschläge machen wird, um dem zu entsprechen, was wir alle als Konsequenz dieses Urteils erkennen.
Minister Zimmermann
({10})
hat es verstanden, die Rechtssicherheit, von der auch Sie heute gesprochen haben, dadurch wieder ein wenig in den Blick zu rücken, daß er auf jene Gefahren hinweist, die auch die Sicherheit und die Freiheit des Bürgers bedrohen.
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Der Bürger wird in unserem freiheitlichen Rechtsstaat nicht so sehr durch den Staat bedroht. Der Bürger wird vielmehr durch jene einzelnen oder Gruppen bedroht, die unter Bruch der Rechtsordnung und mit dem Willen, ihre eigenen Meinungen, ihre eigenen Vorurteile radikal durchzusetzen, die Freiheit, den Entfaltungsspielraum und die Rechtssicherheit der Mehrheit beschädigen. Es ist auch Aufgabe eines Innenministers, daß der die Rechtsordnung derer schützt, die treu zum Staate stehen, die nicht über ihre Grenzen stoßen
({12})
und einzig und allein von Rechtsbrechern und von solchen die sie selbst diffamieren, in ihren Rechten beeinträchtigt werden können. Dafür müssen wir diesem Innenminister danken.
Zum Schluß möchte ich Sie auf einen Gedanken hinweisen, den man nicht außer acht lassen darf.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burgmann?
Bitte schön.
Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Burgmann.
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, daß der Widerstand gegen die Volkszählung dazu beigetragen hat, ein Grundrecht der Bürger zu sichern?
Die Volkszählungskampagne hat den Hintergrund für eine tiefe Verunsicherung gegeben, die dann allerdings eines Urteils bedurfte. Insofern begrüßen auch wir dankbar dieses Urteil. Sie müssen aber doch zugeben, daß Sie die Kampagne, an der Sie wesentlichen Anteil hatten, mit wesentlich anderen Zielen als dem Ziel, ein Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zu begründen, geführt haben. Für Sie war das nur ein kleines Vorspiel für Kampagnen anderer Art, die Sie weiter im Sinn haben.
({0})
Das hat die Öffentlichkeit längst begriffen. Deswegen werden wir das, was Sie hier tun, genauso ernst nehmen, wie es ernstgenommen zu werden verdient: als in der Substanz geringfügig, aber als weitreichendes Ziel durchaus interessant.
Ich möchte - das sage ich zum Schluß - auf einen Aspekt dieses Urteils hinweisen, der in der Öffentlichkeit bisher noch gar nicht recht begriffen worden zu sein scheint. Das Verfassungsgericht hat nämlich entschieden: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden." Und das Gericht fährt dann fort: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht vereinbar eine Rechtsordnung, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß."
Da ist nicht so sehr der Staat gemeint. Da sind alle jene gemeint, die Informationen über Personen sammeln, geheimhalten und bei irgendwelchen Gelegenheiten volle Breitseiten gegen einzelne Bürger unseres Staates abschießen. Dieses Urteil - so nehme ich an - wird eines Tages wie ein Damoklesschwert über manchen Presseorganen hängen,
({1})
die unter offensichtlichem Bruch dieses Rechts auf informationelle Selbstbestimmung versuchen, einzelne Bürger fertigzumachen.
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Darum sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf jene Mächte richten, die außerhalb des Staatsapparates in unserem Lande tätig sind. Auch insofern müssen wir dem Gericht dankbar sein, daß es dieses Urteil verkündet hat.
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/15 an den Innenausschuß zu überweisen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
Vizepräsident Frau Renger
eines Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Arbeitsförderung und der gesetzlichen Rentenversicherung an die Einführung von Vorruhestandsleistungen
- Drucksache 10/893 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Der Ältestenrat hat für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden? - Dann können wir sofort in die Aussprache eintreten. Das Wort hat der Abgeordnete Stutzer.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Erlauben Sie mir zunächst eine ganz persönliche Vorbemerkung. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was es heißt, arbeitslos zu sein, und wie schwer der Gang als Arbeitsloser zum Arbeitsamt ist. Das war in jungen Jahren. Heute stehe ich im 59. Lebensjahr. Wenn ich mich in die Lage versetze, heute wieder arbeitslos zu sein und erneut zum Arbeitsamt gehen zu müssen, dann weiß ich, daß dieser Gang nicht minder schwer wäre, als er es seinerzeit für mich gewesen ist. So wie es mir ergangen ist und ergehen würde, ergeht es vielen Tausenden von Menschen.
Ich habe dann das Glück gehabt, bei der Arbeitsverwaltung eingestellt zu werden. Ich kenne also das Arbeitsamt von beiden Seiten: einmal als Arbeitsloser vor dem Schalter und zum anderen als Mitarbeiter hinter dem Schalter. In der Zeit, als ich beim Arbeitsamt gearbeitet habe, hatte ich mit dem Personenkreis zu tun, über den wir uns jetzt unterhalten, nämlich mit den 59jährigen. Ich spreche also jetzt auf Grund meiner in der Praxis gemachten Erfahrungen.
Wie sah es aus? Der 59jährige meldete sich arbeitslos. Arbeitslosmeldung, Arbeitsberatung, Antragstellung waren und sind mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. Der Arbeitslose spielte dem Vermittler ein Theater vor, indem er sagte, er wolle ja gerne noch arbeiten - deshalb komme er ja zum Arbeitsamt - und deswegen beantrage er auch Arbeitslosengeld. Der Vermittler wußte an und für sich, daß der Arbeitslose nicht deshalb zum Arbeitsamt gekommen war, um vermittelt zu werden, sondern um nach einem Jahr seine Rente zu bekommen. Aber der Vermittler tat so, als ob er dem Arbeitslosen das glaubt. Es war also, wenn man es zusammenfaßt, ein unwürdiges und unehrliches Spiel. Man muß betonen, daß sich der Arbeitslose selbst in seiner Haut nicht wohlfühlt.
Das Arbeitsamt wurde mit Arbeiten belastet, die eigentlich nicht zu den ursprünglichen Aufgaben der Arbeitsverwaltung gehören. Die Arbeitslosenstatistik wurde mit diesem Personenkreis angereichert.
Wegen der Kürze der mir hier zur Verfügung stehenden Zeit erlauben Sie mir bitte, meine Damen und Herren, einige politische Bemerkungen, ohne daß ich auf die Einzelheiten der Vorlage eingehen möchte.
Die Väter der 59er Regelung dachten mit Sicherheit sozial. Sie dachten nämlich in erster Linie an die älteren Arbeitnehmer, die nach jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit ihren Arbeitsplatz verloren haben; sei es, daß ihr Betrieb in Konkurs gegangen ist, sei es, daß Betriebsabteilungen geschlossen wurden.
Wir wissen doch alle, daß solche Arbeitnehmer von 59 Jahren praktisch auch in einer Zeit der Vollbeschäftigung nicht zu vermitteln sind. Diese Arbeitnehmer sollten also - das halte ich heute nach wie vor für richtig - vor einem würdelosen Leben zwischen der Arbeitslosigkeit und dem Ruhestand geschützt werden.
Nur, meine Damen und Herren: Was hat sich denn hieraus entwickelt? Diese Regelung - hier erbitte ich Ihre Aufmerksamkeit - nahm jeder zweite Großbetrieb, aber nur jeder 14. mittlere Betrieb in Anspruch. Bei dieser Zählung sind noch nicht einmal die Kleinbetriebe bis zu 50 Beschäftigten berücksichtigt worden. Würde man alle Betriebe zusammenfassen, also auch die Kleinbetriebe einbeziehen, wäre dieses Verhältnis noch ungünstiger.
Die Zahlen zeigen also, daß diese Regelung vor allem eine Begünstigung für Großunternehmen darstellt.
({0})
Hier frage ich die Sozialdemokraten und die GRÜNEN: Wollen Sie das eigentlich?
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Ich habe beim Arbeitsamt mit diesen 59 Jahre alten Arbeitslosen viele Gespräche geführt. Mir ist in der Mehrzahl der Fälle gesagt worden, daß sich finanzstarke Großunternehmen unter Ausnutzung der 59er Regelung oft unter mehr oder weniger Druck von diesen älteren Arbeitnehmern freigemacht haben. Hier und da wurde diesen Arbeitnehmern die Arbeitslosigkeit noch „versüßt", indem der Unterschiedsbetrag zwischen dem Arbeitslosengeld und dem letzten Nettoentgelt ganz oder teilweise übernommen wurde.
So entledigte man sich langjähriger verdienter älterer Arbeitnehmer aus den verschiedensten Gründen, oft deshalb, weil diese älteren Arbeitnehmer - das liegt ja in der Natur der Sache - nicht mehr so leistungsstark waren, aber auch deshalb, weil die Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden. Für diese ausgeschiedenen älteren Arbeitnehmer ist lange nicht in jedem Fall ein jüngerer Arbeitnehmer eingestellt worden.
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Was das für viele ältere Arbeitnehmer bedeutet, die jahrzehntelang ununterbrochen treu gearbeitet haben und, wie wir es auch beim Arbeitsamt gesehen haben, kurz vor dem verdienten Ruhestand auf die Straße gesetzt und zum Arbeitsamt geschickt wurStutzer
den, brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht zu erklären.
Wir reden immer soviel -- leider auch gerade die Sozialdemokraten - von einer Humanisierung des Arbeitslebens. Wenn aber gleichzeitig die derzeitige praktische Durchführung der 59er Regelung gutgeheißen und verteidigt wird, wie ich es heute immer von den Sozialdemokraten höre,
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dann ist das, meine ich, unglaubwürdig; denn das, was in der Praxis geschieht, ist nun wirklich nicht human. Auch ohne eine Vorruhestandsregelung hätte es hier zu einer Änderung kommen müssen.
({4})
Jetzt, mit der beabsichtigten Vorruhestandsregelung ist es in meinen Augen sogar zwingend. Für mich steht hier der Mensch und nicht der finanzstarke Großbetrieb im Mittelpunkt. Wir müssen den Zugang für die Fälle, die ich soeben erwähnt habe, in die 59er Regelung erschweren. Jetzt komme ich auf den sogenannten Verschiebebahnhof zu sprechen. Die Unternehmen haben sich nämlich, und zwar wieder überwiegend die finanzstarken Großbetriebe, auf Kosten der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung über diese 59er Regelung entlastet. Und da es sich hier überwiegend eben um die großen gehandelt hat, ließen sie über die Preise und über Sozialversicherungsbeiträge ihre Personalpolitik von den kleinen und mittleren Betrieben mitfinanzieren.
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Allein im Jahr 1982 kostete diese 59er Regelung die Arbeitslosenversicherung 700 Millionen DM und die Rentenversicherung 1,7 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren von der SPD und auch von den GRÜNEN, Sie reden immer soviel von dem notwendigen Subventionsabbau. Was ist denn das hier, sind das nicht auch verdeckte Subventionen? Hier lese ich einmal vor, was Günter Döding, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten, auf der Arbeitszeitkonferenz von fünf DGB-Gewerkschaften am 2. Dezember 1982 in Hamburg gesagt hat. Er hat gesagt:
In der Regel sieht es aber so aus, daß zum Beispiel Männer in den erzwungenen Ruhestand geschickt werden, vier bis fünf Jahre bis zum 63. Lebensjahr Leistungen aus der Sozialversicherung beziehen, aber keine Beiträge mehr für sie entrichten. Für die Arbeitgeber ein zusätzliches Geschäft; denn die sparen auch hier noch.
Und Günter Döding zieht daraus den Schluß:
Die finanziellen Folgen der 59er Regelung aber haben alle zu tragen. Deshalb ist sie sozial und haushaltspolitisch nicht mehr tragbar. Wenn ihr so wollt, sind dies dem Grunde nach versteckte Subventionen zu Lasten der Allgemeinheit, und das alles ohne Wiederbesetzung der Arbeitsplätze.
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- Richtig, Kollege Kolb.
Nachdem ich mich nun kritisch zu der Praxis einiger - ich betone, einiger, nicht aller - Großunternehmen geäußert habe, möchte ich noch etwas zu den kleinen und mittleren Betrieben sagen. Die von der Koalition vorgeschlagene Neuregelung ist nicht nur ehrlicher und arbeitnehmerfreundlicher als die bisherige Praxis. Ich denke hier auch an die Solidargemeinschaft, die immer wieder betont wird. Sie ist vor allem auch mittelstandsfreundlich. Manche sagen sogar, sie sei zu mittelstandsfreundlich. Sie nimmt auch noch Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Unternehmen.
Die von der Koalition vorgesehene Erstattung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe und des vorgezogenen Altersruhegeldes während der Arbeitslosigkeit für die Dauer von drei Jahren wird so manchen finanzstarken Großbetrieb künftig davon abhalten, von der 59er Regelung Gebrauch zu machen. Und das, meine Damen und Herren, wollen wir j a auch.
Sie trifft nicht die Kleinbetriebe bis zu 20 Beschäftigten, wobei Lehrlinge und Schwerbehinderte nicht mitgezählt werden. Solche Betriebe brauchen nämlich nichts zu erstatten. Sie trifft auch weniger die Betriebe von 40 bis 60 Beschäftigten. Diese brauchen nur ein Drittel bzw. zwei Drittel zu erstatten.
Die gesetzliche Regelung, nach der die Erstattungspflicht bei unzumutbarer wirtschaftlicher Belastung entfällt, wird im Interesse der Rechtssicherheit konkretisiert. Meine Damen und Herren, ich meine, auch das ist zu begrüßen. So wäre es ein Nonsens, wenn wir z. B. von ARBED-Saarstahl eine Erstattung für die drei Jahre fordern würden. Denn wir wissen, daß ARBED-Saarstahl derzeit nur mit staatlichen Subventionen erhalten werden kann. Hier würde der Staat auf der einen Seite Subventionen zahlen, auf der anderen Seite würde das Geld zurückfließen.
Nun noch einmal zu den Kleinbetrieben bis zu 20 Beschäftigten. Es darf nicht passieren, daß diese Betriebe die geplante Vorruhestandsregelung unterlaufen, indem sie von der für sie verbesserten 59er Regelung Gebrauch machen. Man kann schon heute so etwas in den Fachzeitschriften lesen. Zweifellos ist diese Regelung für die Kleinbetriebe günstiger als die beabsichtigte Vorruhestandsregelung. Ich meine, daß hieran bei den tarifvertraglichen Regelungen über die Vorruhestandsleistungen gedacht werden muß. Auch im Ausschuß werden wir uns hierüber noch unterhalten müssen, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich mit einem Appell schließen. Mögen die Unternehmen das, was sie bisher für die 59er Regelung ausgegeben haben und was sie künftig noch ausgeben müßten, bei einer tarifvertraglich vereinbarten Vorruhestandsregelung dazutun, dann
werden wir eine für alle Arbeitnehmer attraktive Lösung finden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Fuchs.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb einer Woche hat sich der Bundestag mit den Vorruhestandsplänen der Bundesregierung zu befassen. Viel besser noch als das eigentliche Vorruhestandsgesetz, das wir am letzten Freitag beraten haben, macht das nachgeschobene Ergänzungsgesetz zur Änderung des Rentenrechts und des Arbeitsförderungsgesetzes das wahre Gesicht der Operation 59 deutlich. Das ganze Projekt der Bundesregierung ist keine vernünftige Vorruhestandsregelung, sondern eine sozialpolitische Mogelpackung, meine Damen und Herren.
({0})
Es ist ein Erpressungsversuch gegen diejenigen Gewerkschaften, die sich für die Verkürzung der Wochenarbeitszeit einsetzen. Es ist ein weiteres Stück Sozialabbau und die Fortsetzung des Versuchs, soziale Lasten auf dem Rücken einkommensschwächerer Bevölkerungsgruppen zu privatisieren.
({1})
Herr Bundesarbeitsminister Blüm, auch beim Vorruhestandsregelungsgesetz müssen wir an Ihnen kritisieren, daß Sie zwar schöne Worte machen, aber in Wirklichkeit nicht in der Lage sind, die Ihnen anvertrauten Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitslosen in der Bundesrepublik angemessen zu wahren.
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Die Bundesregierung hat Ihnen die Rolle des Verpackungskünstlers zugewiesen. Noch vor wenigen Wochen mußten Sie vor dem Bundestag Kürzungen im Sozialbereich von über 9 Milliarden DM jährlich vertreten und gleichzeitig beschäftigungspolitisch wirkungslose Steuergeschenke an Wohlhabende in Höhe von 3,5 Milliarden DM rechtfertigen.
({3})
Jetzt wollen Sie mit Hilfe des Vorruhestandsgesetzes optische Erfolge aufweisen und Ihr soziales Image verbessern.
In Ihrer Rede am letzten Freitag haben Sie versucht, uns Ihren Gesetzentwurf mit sieben Punkten schmackhaft zu machen.
({4})
Ich bin die sieben Punkte durchgegangen und stelle fest: Sechs von sieben Vorteilen sind in Wirklichkeit Nachteile und Schwachstellen Ihres Konzeptes. Aus Zeitgründen nenne ich nicht noch einmal diese Schwachstellen, Herr Kollege Stutzer, sondern
nehme einen Punkt aus den angeblichen Vorteilen heraus.
Der Bundesarbeitsminister sprach von dem besonderen Vorzug des Beschäftigungspaktes und von dem Zwang zu Sozialpartnerschaft. Dabei ist Ihr Entwurf sowohl in der zeitlichen Planung als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung jedes einzelnen Paragraphen darauf angelegt, in Absprache mit der Kapitalseite die Industriegewerkschaft Metall, Ihre eigene Gewerkschaft, unter Druck zu setzen und ihr in der entscheidenden Tarifauseinandersetzung um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit Steine in den Weg zu legen.
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Die Formulierung „Zwang zur Sozialpartnerschaft" haben Sie offensichtlich ganz wörtlich gemeint. Sie wollen der einen Seite, nämlich der Gewerkschaft, die Linie der Kapitalseite aufzwingen.
({6})
Das gehört doch zusammen. Haben Sie noch nicht begriffen, daß Sie hier ein Mogelpaket schaffen und so tun, als ob Sie damit auch nur einen einzigen Beitrag in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation leisteten?
({7})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Möglichkeit des vorzeitigen Rentenbezugs mit dem 60. Lebensjahr nach einjähriger Arbeitslosigkeit drastisch eingeschränkt werden. Sozialpläne der herkömmlichen Art werden damit in den allermeisten Fällen unmöglich gemacht. Das gleiche gilt auch für alle betrieblichen Vorruhestandsmodelle, die es bereits heute gibt, zum Beispiel beim Volkswagenwerk. Das alles soll rückwirkend zum 12. Januar wirksam werden. Das Auffangnetz des Sozialplans für die 59jährigen wird im Schnellverfahren rückwirkend abgeschafft, obwohl es noch gar keine tariflichen Vorruhestandsverträge gibt.
Gerade gestern, meine Damen und Herren, war in dpa-Nachrichten eine Meldung zu lesen, aus der zu entnehmen ist, wie sich die Sozialabbaupolitik der Bundesregierung für die Betroffenen auswirkt. Ich zitiere:
Voraussichtlich 35 Kurzarbeitstage bei VW Hannover; für die rund 19 500 Beschäftigten im VW-Transporterwerk Hannover wird es auf Grund der angespannten Absatzlage in diesem Jahr voraussichtlich 35 Tage Kurzarbeit geben.
({8})
Nach Angaben des Betriebsrates vom Mittwoch sind für das erste Halbjahr 25 und für die zweite Jahreshälfte 10 Tage vorgesehen. Die Kurzarbeit soll je nach Auftragslage für jeweils einen Monat beantragt werden. Für Januar und Februar sind es je vier Tage.
Frau Fuchs ({9}) Weiter später heißt es:
Auf Grund der vereinbarten Altersregelungen bei VW sind seit 1970 allein beim VW-Werk Hannover rund 50 000 Werksangehörige in den vorgezogenen Ruhestand gegangen. Bis 11. Januar dieses Jahres haben nach Angaben des Betriebsrates von den bisherigen Regelungen und der ausschließlich für das Transporterwerk geltenden 57er-Regelung 1 050 Arbeitnehmer Gebrauch gemacht. Inzwischen sind diese Regelungen für VW durch einen Bonner Kabinettsbeschluß hinfällig geworden.
({10})
In der hannoverschen Belegschaft wird deshalb nach den Worten von Mogwitz befürchtet, daß 1985 Entlassungen drohen.
Das sind die Konsequenzen Ihrer Politik.
({11})
Nun will ich Ihnen, Herr Kollege Stutzer, zugeben, man kann geteilter Meinung sein, ob die sogenannte 59er-Regelung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssystematik optimal ist.
({12})
Man kann auch darüber streiten, ob es richtig ist, die Rentenversicherung Risiken des Arbeitsmarktes tragen zu lassen
({13})
oder die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß die auf Grund eines Sozialplanes entlassenen 59jährigen Arbeitnehmer tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
({14})
Es gab in der Vergangenheit manchen Betrieb, der Personalverjüngung und Personalabbau auch aus eigener Kraft mit der entsprechenden sozialen Flankierung hätte bewältigen können, ohne dafür Mittel der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit in Anspruch zu nehmen. Aber diese Zweckentfremdung ist bereits von der sozialliberalen Koalition durch Einführung der Erstattungspflicht für das Arbeitslosengeld weitgehend abgestellt worden.
({15})
Aber Sie verkennen doch völlig, meine Damen und Herren, daß die 59er-Regelung ganz unzweifelhaft einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes geleistet hat. Was haben Sie denn eigentlich anzubieten außer der Abschaffung einer bewährten Regelung? Es wird doch zukünftig so sein, daß diese Betriebe junge Arbeitnehmer entlassen müssen, weil die älteren aus dem Erwerbsleben nicht mehr ausscheiden können.
({16})
Deswegen kann man auf dieses Instrument nicht verzichten, auch wenn es Schönheitsfehler haben mag, das will ich durchaus zugeben.
({17})
Aber Sie können nicht eine Regelung, die die Möglichkeit bietet, jüngere Arbeitnehmer zu halten und ältere Arbeitnehmer auf vernünftige Weise in den Ruhestand zu schicken, in der jetzigen wirtschaftlich schwierigen Situation einfach aufgeben, und deswegen muß diese Regelung erhalten bleiben. Sie könnte unverändert erhalten bleiben, meine Damen und Herren, wenn Sie eine vernünftige Vorruhestandsregelung einbringen würden.
({18})
Aber das, was Sie uns bieten - da komme ich auf die Mogelpackung, meine Damen und Herren -, ist knauserig und dürftig. Sie können doch Arbeitnehmern, die 40 oder 45 Jahre in einem Betrieb gewesen sind, nicht zumuten, am Ende ihres Arbeitslebens ihren Lebensstandard drastisch zu senken, Rentenversicherungseinschränkungen hinnehmen zu müssen. Und das auch noch als soziale Tat verkaufen, das nehmen Ihnen die Arbeitnehmer draußen nicht mehr ab.
({19})
Die bisherige 59er-Regelung ist auch für die Arbeitgeber günstiger als das, was Sie uns jetzt mit dem heutigen Gesetz anbieten. Wir haben das durchgerechnet. Danach ist es so, daß für die Arbeitgeber der Gesamtaufwand für das Vorruhestandsgeld sogar fast genauso hoch ist wie die verschärfte 59er-Regelung, weil nämlich der Zuschuß der Bundesanstalt zu niedrig ist. Deswegen glaube ich, Sie geben sich einer Illusion hin, wenn Sie meinen, mit Ihrer knauserigen Regelung würden Sie dazu beitragen, daß die 59jährigen von dieser Vorruhestandsregelung Gebrauch machen. Ich fürchte, daß die 59jährigen in den Betrieben bleiben und jüngere Arbeitnehmer auf der Straße bleiben. Das wird das Ergebnis Ihrer vorgeschlagenen Regelung sein.
Meine Damen und Herren, nun ein paar grundsätzliche Bemerkungen darüber, weshalb die 59erRegelung unangetastet bleiben muß. Sie wissen doch, daß ein Teil der Gewerkschaften den erklärten Willen hat, keine Tarifverträge zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit abzuschließen, sondern statt dessen die Wochenarbeitszeit verkürzen will.
({20})
Wenn es aber keine Vorruhestandsregelung gibt, dann muß doch das Netz der Sozialpläne nach dem bisherigen Muster bestehenbleiben, denn für diese Tarifbereiche muß es die Möglichkeit geben, Arbeitnehmer nach einjähriger Arbeitslosigkeit in die Rente zu schicken. Das müssen Sie doch auch akzeptieren, wenn Sie die Tarifautonomie so hochhalten, wie wir es tun.
Nun hat natürlich die Bundesregierung das gute Recht auf eine eigene Meinung über den Weg zur
Frau Fuchs ({21})
Arbeitszeitverkürzung. Aber sie hat nach unserem Verständnis nicht das Recht, den Gewerkschaften ihre Vorstellungen aufzuzwingen.
({22})
- Das tun Sie dadurch, daß Sie den Gewerkschaften, die die Wochenarbeitszeit verkürzen wollen, die bisherige Möglichkeit der 59er-Regelung wegnehmen, Herr Kollege! Und dies halte ich für einen gravierenden Eingriff in die Tarifautonomie.
({23})
Sie haben nicht das Recht, den Gewerkschaften Ihre Vorstellungen aufzuzwingen. Die praktische Demontage der 59er-Regelung ist deswegen nichts anderes als der Versuch, die Gewerkschaften gegen ihren Willen zum Vorruhestandsgeld zu zwingen, auch wenn sie wegen Besonderheiten ihres Tarifbereiches und ihrer Mitgliedschaft Gründe haben, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit vorzuziehen. Daß Sie dies wollen, meine Damen und Herren, ist doch ganz deutlich, weil Sie ganz kalt kalkulieren und die Möglichkeit einräumen, Tarifverträge durch einzelvertragliche Vereinbarungen zu unterlaufen. Das nenne ich einen Eingriff in die Tarifautonomie und einen Versuch, die Gewerkschaften organisatorisch zu schwächen und zu destabilisieren.
({24})
Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben in der Debatte der letzten Woche die Vorzüge starker Gewerkschaften gepriesen. Ihre eigene Gewerkschaft aber wollen Sie offensichtlich schwächen, und Ihrer eigenen Gewerkschaft wollen Sie den von ihr gewählten Weg erschweren. Ihre Rhetorik steht mal wieder im Widerspruch zu ihrem tatsächlichen politischen Handeln.
({25})
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß die weitere Einschränkung der Altersgrenze mit dem 60. Lebensjahr als Flankierung einer Vorruhestandsregelung überhaupt nicht nötig wäre - das habe ich schon gesagt -, wenn das Vorruhestandsregelungsgesetz vernünftig konzipiert und attraktiv gestaltet wäre. Deswegen haben wir in unserem eigenen Gesetzentwurf auch keine Einschränkung der 59er-Regelung vorgesehen. 59er-Regelung und Vorruhestandsgeld dienen doch auch unterschiedlichen Zwecken: Die 59er-Regelung soll in Einzelfällen unvermeidlichen Personalabbau sozial flankieren, das Vorruhestandsgeld soll den Arbeitsplatztausch zwischen älteren und jüngeren Arbeitnehmern ermöglichen. Beides kann nebeneinander bestehen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich erstens ein attraktives Finanzierungsangebot des Staates zum Vorruhestandsgeld, zweitens eine wirklich funktionierende und im praktischen Vollzug kontrollierte Wiederbesetzungspflicht und drittens der Ausschluß einzelvertraglicher Vereinbarungen und die Beschränkung auf tarifvertraglich vereinbarte Vorruhestandsregelungen.
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Alle diese Voraussetzungen sind in den Gesetzentwürfen der Bundesregierung nicht erfüllt. Die Bundesregierung hat sich offensichtlich auch keine Mühe gemacht, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Deswegen sage ich noch einmal: Das ist kein Gesetz für die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, sondern ein Gesetz gegen die 35-Stunden-Woche.
({27})
Die Mehrheitsfraktion kann nicht erwarten, daß sich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion an einem solchen Manöver beteiligt. Wir unterstützen alle Formen der Arbeitszeitverkürzung und überlassen es bewußt den Tarifvertragsparteien, aus der Besonderheit der jeweiligen Wirtschaftsbereiche heraus den richtigen Weg selbst zu wählen.
({28})
Der Gesetzgeber muß denjenigen Gewerkschaften, die die Lebensarbeitszeit verkürzen wollen, und auch denen, die die Wochenarbeitszeit verkürzen wollen, brauchbare Instrumente an die Hand geben, ohne sich in die Tarifentscheidungen einzumischen.
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Unser eigener Gesetzentwurf vom Sommer vorigen Jahres war deswegen - Sie werden mir nachsehen, daß ich dieser Auffassung bin - die richtige Alternative.
Meine Fraktion wird bei den Beratungen im Ausschuß zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit sein. Uns geht es darum, auch diesen schrecklichen Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, so weit zu verbessern, wie es irgend geht.
({30})
- Wir wollen ihn verbessern, weil uns daran gelegen ist, daß die älteren Arbeitnehmer nicht ins Gerangel geraten, sondern sozial flankiert in den Vorruhestand gehen können.
({31})
Ich nenne noch einmal die entscheidenden Voraussetzungen. Eine Altersgrenze von 58 Jahren wäre wichtig, ein höheres Versorgungsniveau, ein attraktiver Finanzierungsbeitrag des Staates, eine wirksame Wiedereinstellungspflicht, die volle Fortführung der Rentenversicherungsbeiträge. Meinen sie denn, es sei zumutbar, daß die Rentenversicherungsbeiträge vier Jahre lang nicht mehr von 100%, sondern von 65 % gezahlt werden? Ich nenne den Ausschluß einzelvertraglicher Vereinbarungen, den
Frau Fuchs ({32})
Verzicht auf Kleinbetriebsklauseln und die Aufrechterhaltung der 59er-Regelung.
({33})
In diesem Sinne sind wir zur Zusammenarbeit immer gern bereit. - Vielen Dank.
({34})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Dies war die Welturaufführung der Sozialdemokratischen Partei: Die Sozialdemokraten verteidigen die Ausbeutung der Solidarkassen durch Großbetriebe.
({0})
Das ist in der Tat neu. Verehrte Frau Kollegin Fuchs, wer bezahlt denn den Sozialplan, den Sie gerade gefeiert haben, wer hat den Sozialplan bei VW bezahlt? Den haben all jene bezahlt, die sich einen VW gekauft haben - die Kosten sind nämlich in den Preisen gelandet -, und das waren Arbeitnehmer. Die Rentenversicherer haben das bezahlt, und das waren wiederum die Beitragszahler, die Arbeitnehmer. Wenn Sie so etwas verteidigen, entspricht das nicht unseren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.
({1})
Meine Damen und Herren, es wäre auch schlimm um meine Gewerkschaft IG Metall bestellt, wenn sie ihre Kampagne für die 35-Stunden-Woche, die ich nicht unterstütze, nur mittels einer Zweckentfremdung der Solidarkassen durchführen könnte; das kann auch die IG Metall nicht wollen.
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Deswegen kann es kein Zwang gegen die IG Metall sein. Sie haben die Wochenarbeitszeitverkürzung schlechter verkauft, als sie ist, als gäbe es sie nur unter der Bedingung, daß - flankierend - Sozialkassen geplündert werden. So schlecht ist meine Gewerkschaft nicht, daß sie darauf angewiesen wäre.
({3})
Sie haben das Thema Vorruhestand hier eingeführt. Deswegen will ich gern noch einmal den Unterschied zwischen Vorruhestandsregelung und der alten 59er-Regelung deutlich machen: Die 59er-Regelung arbeitet mit einer Entlassungsprämie, finanziert durch die Gemeinschaft; die Vorruhestandsregelung arbeitet mit einer Einstellungsprämie: Es gibt nur staatliches Geld, wenn eingestellt wird. Jetzt frage ich Sie: Was ist für den Arbeitsmarkt besser: die Entlassungsprämie nach der 59erRegelung oder die Einstellungsprämie nach der Vorruhestandsregelung?
({4})
Wir bezahlen für die Einstellung neuer Arbeitnehmer, Sie dagegen wollen Rationalisierung durch die
Solidarkassen prämieren. Ich kann nur fragen: Was ist daran sozial?
Herr Kollege Stutzer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es die Großbetriebe waren - jeder zweite Großbetrieb -, die dieses Angebot genutzt haben. Die Kleinbetriebe hatten nicht das Geld für Sozialpläne, die das Arbeitslosengeld aufstockten. Sie haben diese Pläne der Großbetriebe aber über die Preise mitfinanziert. Das ist die Umverteilung, die wir nicht wollen, die Umverteilung auf dem Buckel der Schwächeren, die Politik zugunsten der Großen und Starken. Das mag Ihre Vorliebe sein, unsere ist es nicht; wir sind sozial.
({5})
Frau Kollegin Fuchs, Sie haben hinsichtlich der sieben Vorteile, die ich hier in der letzten Woche zugunsten der Vorruhestandsregelung vorgetragen habe, von sechs behauptet, sie seien Schwachstellen. Ich war sehr gespannt, welche Sie nennen würden, aber Sie haben es als Betriebsgeheimnis bei sich gehalten, wo denn die Schwachstellen sind. Nur eine haben Sie verraten - und daß muß dann offensichtlich die größte Schwachstelle gewesen sein -: den Beschäftigungspakt. Ich bleibe dabei: Die Vorruhestandsregelung funktioniert gar nicht, wenn nicht Gewerkschaften, Arbeitgeber und Staat zusammenwirken. Wenn einer nicht mitspielt, kommt das Ganze nicht zustande.
({6})
Das ist der Unterschied zur 59er-Regelung. Da kann einer bestimmen: Ihr geht, und wir geben euch Geld; das ist kein Beschäftigungspakt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?
Aber bitte.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie sprechen von einem Beschäftigungspakt und tun so, als würde dadurch eine großartige Entlastung des Arbeitsmarktes erreicht. Ist Ihnen bekannt, daß sich der arbeitsmarktpolitische Effekt der Vorruhestandsregelung nach den Berechnungen des Arbeitsministeriums höchstens auf 35 000 beläuft
({0})
und nach unserer Rechnung nicht einmal 20 000 beträgt?
({1})
Sie sollten mit Rechnungen immer vorsichtig sein. Das Potential beträgt - wir haben davon gesprochen - 720 000 Arbeitnehmer über 59 Jahre. Die Zahl 35 000 ist eine Annahme unter der Bedingung, daß nur vier Gewerkschaften mitwirken. Aber es besteht kein Hindernis, daß alle Gewerkschaften mitmachen; dann ist das Potential noch sehr viel größer.
({0})
Wir können als Staat - sehen Sie, wie vorsichtig wir sind - nur ein Angebot machen. Die Gewerkschaften entscheiden dann frei darüber, welchen Weg sie gehen.
Frau Kollegin Fuchs, Günter Döding, dessen Gewerkschaftereigenschaften Sie sicherlich nicht in Frage stellen, bezeichnet die 59er-Regelung als eine Regelung zur Subventionierung der Großbetriebe zu Lasten der Allgemeinheit.
({1})
Ich befinde mich mit führenden Gewerkschaftern, deren Reputation Sie sicherlich nicht in Frage stellen, völlig in Übereinstimmung.
Meine Damen und Herren, ich will hinsichtlich der 59er-Regelung auch noch den Zusammenhang mit unserer Sozialpolitik herstellen. Wer Sozialpolitik auf Vertrauen gründen will - das wollen wir; es ist der wichtigste Bestandteil der Sozialpolitik -, muß sie solide finanzieren. Ein Blick in das sozialpolitische Gelände zeigt, daß es voller Seiteneingänge, voller Nebenwege ist, daß es von den Cleveren und Trickreichen genutzt wird. Wir wollen eine solche Sozialpolitik nicht, wir wollen nicht die Sozialpolitik der Verrenkungen. Wir wollen die Sozialpolitik des sauberen, geraden Weges, und deshalb haben wir Berufsunfähigkeitsrenten und Erwerbsunfähigkeitsrenten neu geordnet, und deshalb ordnen wir die 59er-Regelung, mit oder ohne Vorruhestand. Die Zweckentfremdung der alten 59er-Regelung wird von uns demontiert.
({2})
Wir hören auf mit der Verschiebung der Lasten. Niemand weiß mehr, wer die Hand in wessen Tasche hat. Zu guter Letzt bezahlen es die Arbeitnehmer.
Und ich will auf noch einen wichtigen Grundsatz hinweisen: Für die Arbeitnehmer ändert sich durch unseren Vorschlag gar nichts. Die können weiterhin mit 60 in die Rente gehen, wenn sie ein Jahr arbeitslos waren.
({3})
Das ist der eigentliche Sinn. Daran hat sich gar nichts geändert. Wer ein Jahr arbeitslos ist, dem ersparen wir einen Wartezustand zwischen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Rente. Mit 60 kann er dann in Rente gehen. Das einzige, was sich geändert hat, ist die Erstattungspflicht der Arbeitgeber. Und dagegen hat die SPD plötzlich etwas. Das muß man weitererzählen: Die SPD hat etwas dagegen, daß die Arbeitgeber der Solidargemeinschaft die Kosten ersetzen, die sie verursachen. Das ist doch unser Vorschlag.
({4})
Wir wollen, daß nicht nur das Arbeitslosengeld erstattet wird - das haben auch Sie bisher gewollt -, sondern auch Leistungen der Rentenversicherung. Warum wollen Sie die Rentenversicherung diskriminieren? Sie waren dafür, daß die Leistungen der Arbeitslosenversicherung erstattet werden müssen. Das haben Sie selber eingeführt. Aber der Rentenversicherung sollen diese Leistungen nicht erstattet werden. Haben Sie zwei Klassen von Sozialversicherung? Darf die Rentenversicherung ausgebeutet werden, während die Arbeitslosenversicherung geschützt wird? Was ist das für eine Logik der Sozialpolitik? Wenn der Arbeitslosenversicherung Leistungen erstattet werden müssen, dann hat auch die Rentenversicherung ein Recht, das Geld von den Arbeitgebern zu bekommen. Erklären Sie mir doch einmal, warum bei den einen ja und bei den anderen nein!
({5})
Daß wir den Mittelstand anders behandeln, hat seine guten Gründe. Erstens sind die Kleinbetriebe, wie die Statistik beweist, nicht die Spezialisten der Zweckentfremdung gewesen. Sie haben dieses Gesetz nicht so wie die Großbetriebe genutzt. Zweitens - ich gestehe - befindet sich das auch in einer Entsprechung zur Vorruhestandsregelung. Wir balbieren nicht alle über einen Kamm. Wir balbieren niemanden. Aber wir sind nicht für eine nivellierte Politik. Die Lage des mittelständischen ist eine andere als die des Großbetriebes. Dem werden wir nicht nur an dieser Stelle gerecht, sondern auch an anderer Stelle. Wir machen eine mittelstandsfreundliche Politik. Wir machen sie nicht nur dem Mittelstand, sondern auch den Arbeitnehmern zuliebe, die dort beschäftigt sind. Immer noch ist die Mehrzahl der Arbeitnehmer in kleinen und mittleren Betrieben tätig. Ich will die Großbetriebe nicht gegen die Kleinbetriebe ausspielen, ich sage nur: Eine Politik nur für die Großbetriebe findet mit dieser Regierung nicht statt. Das ist ein wichtiger Unterschied.
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Wir werden die Erstattungspflicht auch bei den Betrieben aussetzen, die in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind, bei den Betrieben, bei denen eine solche Erstattung zum Konkurs führen würde. Wir wollen niemanden ruinieren. Und von den Betrieben, die wir subventionieren müssen, lassen wir uns, wie der Kollege Stutzer schon richtig gesagt hat, nicht Geld erstatten, weil das eine Erstattungsillusion wäre. Wir müßten dem Geldbriefträger erst das Geld geben, das er uns dann wieder zurückgeben würde. Diese Art von Schaukel- und illusionärer Umverteilungspolitik gehört nicht zu unserem Repertoire.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir mit guten Gründen vor die Arbeitnehmerschaft treten können, indem wir darauf hinweisen, daß wir Lasten gerechter verteilen, daß für uns Sozialpolitik nicht erst auf der Ausgabenseite beginnt, sondern daß das Kriterium sozialer Gerechtigkeit auch an die Einnahmenseite angelegt werden muß. Verzerrungen auf der Einnahmenseite sind ebenso ungerecht wie Verzerrungen auf der Ausgabenseite. Wir machen eine Politik mit gleichen Chancen für jedermann, eine Sozialpolitik der Gerechtigkeit.
({7})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherige Diskussion hat unzweifelhaft ergeben, daß die Regierung die Abschaffung der 59er-Regelung betreibt, weil sonst die vom Arbeitsministerium unter Leitung des Herrn Blüm vorgetragene Vorruhestandsregelung noch mehr ein Schlag ins Wasser sein wird und nicht attraktiv genug ist. Obwohl die 59er-Regelung für die direkt betroffenen Arbeitnehmer bessere Regelungen als alles, was bisher vorhanden ist, enthält, ist ihre Abschaffung durch die Mehrheit dieses Hauses dennoch zu erwarten. Sie ist politisch nur möglich, weil sie zugleich entscheidende Nachteile beinhaltet.
Die 59er-Regelung ist geschaffen worden, um Arbeitnehmern, die vor Erreichung des 60. Lebensjahres ein Jahr arbeitslos waren, zu ermöglichen, in die Rente zu gehen, weil sie aller Voraussicht nach auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar waren. Aus diesem Instrument zum Schutz einzelner Arbeitnehmer ist zum Nachteil dieser Regelung ein Instrument zum Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen, vornehmlich in Großbetrieben, geworden. Ich denke besonders an VW, wo zusammen mit ausgeschütteten Abfindungssummen sozusagen in unsozialer Weise den Leuten Arbeitsplätze abgekauft worden sind. Statt Bemühungen gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen, die Verdrängung von Menschen aus dem Arbeitsprozeß und deren Ersetzung durch Maschinen, also das Hereinnehmen elektrischer Energie in die Betriebe und das Herauskomplimentieren von menschlicher Energie, zu unterstützen,
({0})
statt der Logik vom Verdrängungswettbewerb und der Vernichtung der Konkurrenz auf die Spur zu kommen und ihr eine eigene Logik der Erhaltung von Arbeitsplätzen und der Gestaltung menschengerechter Arbeitsplätze entgegenzusetzen; statt eine kritische Untersuchung von arbeitsplatzvernichtenden Vorgängen in der Produktion, sowohl was die Maschinenentwicklung in Richtung automatisierte Abläufe als auch was die Arbeitsorganisation betrifft, durchzuführen, haben sich die Verantwortlichen mit der 59er-Regelung vornehmlich in Großbetrieben auf die weiche Landung konzentriert und an dem eigentlichen Problem vorbeigedacht.
({1})
Trotzdem enthält die 59er-Regelung zur Zeit bessere Bedingungen, als sie gegenwärtig im Bereich der Gesetzgebung vorliegen. Sie ist zugleich eine unehrliche Regelung, die ausgenützt werden kann.
({2})
Aber ihre Abschaffung ist ein Mittel des Sozialabbaus, weil sie abgeschafft werden soll, obwohl es noch keine bessere Regelung gibt. Deswegen sind wir dafür, daß diese Regelung so lange erhalten bleibt, bis eine bessere Regelung an ihre Stelle getreten ist.
({3})
Das sollte sich vornehmlich der Arbeitgeberflügel
der CDU/CSU hinter die Ohren schreiben. Denn der
darin enthaltene gute Gedanke wird von dem Konzept überlagert, das Stoltenberg und Lambsdorff, die Minister des Sozialsparkurses, gegen das setzen, was Herr Blüm ursprünglich vielleicht gewollt hat. Unter dem Strich kommt eine Regelung heraus, die schlechter als die derzeit bestehende ist. Deswegen ist sie nicht akzeptabel.
Sie ist auch deshalb nicht akzeptabel, weil es hier um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument geht, wobei der einzelne Mensch völlig aus diesem Konzept herausfällt. Hier wird nur marktpolitisch und zuwenig menschlich gedacht.
({4})
Was kann der einzelne dafür, wenn er auf Grund von Industriepolitik arbeitslos wird, wenn er als überflüssig in diesem Produktionsprozeß bezeichnet wird? Wir können keiner Regelung zustimmen, die ihn in eine Situation bringt, die schlechter als die derzeitige ist.
({5})
Wir wollen keine Politik auf Kosten einzelner Menschen machen. Wir wollen nicht eine solche „politische" Haltung einnehmen, wie sie hier von den Parteien eingenommen wird.
Diese Abschaffung der 59er-Regelung im Zusammenhang mit dem Vorruhestandsgeld wird eingestandenermaßen auch als politische Methode gegen die 35-Stunden-Woche eingesetzt. Sie ist auch daher - das wurde schon in den vorhergehenden Beiträgen gesagt - als arbeitsmarktpolitisches Instrument untauglich, weil sie nur ganz wenigen zugute kommt. Selbst nach Ihren optimistischen Rechnungen kommen Sie auf nur 250 000 Arbeitsplätze, die dadurch zusätzlich geschaffen werden könnten. Das ist zuwenig angesichts einer Arbeitslosenzahl von 2,3 Millionen. Das heißt, allein reicht diese Maßnahme überhaupt nicht aus. Begleitende Maßnahmen müssen dazugehören.
Wegen der Kürze der Redezeit möchte ich folgendes anmerken: Es ist für uns als Opposition einfach unmöglich, gegen diese Konzepte, die hier vorgestellt werden, alternativ zu argumentieren, wenn wir in einer Runde auf eine Redezeit von fünf bis sechs Minuten gesetzt werden. Ich möchte das als Anregung anmerken. Diese Dinge können so nicht vorgetragen werden.
Wenn wir eine Arbeitszeit- und Arbeitsmarktpolitik betreiben, die nur auf die Fehlentwicklungen reagiert - auf falsche Entwicklungen in der Wirtschafts- und der Arbeitsmarktpolitik -, wenn wir uns sozusagen nur darauf konzentrieren, Mittel und Möglichkeiten zu finden, diese falsche Entwicklung korrigierend zu begleiten, dann sind wir - was die Perspektive betrifft - auf lange Sicht gesehen auf dem Holzweg, und die gegenwärtige Diskussion bleibt in dieser Problematik hängen.
({6})
Wir sagen, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur durch eine Politik möglich ist, die bei der Wirtschaftspolitik ansetzt.
Jetzt leuchtet die Lampe schon rot auf. Ich soll jetzt schon aufhören. Ich finde das unmöglich. Man sollte in einer Runde die Möglichkeit haben, mindestens zehn bis 15 Minuten zu sprechen. Das sollten Sie den Minderheiten eigentlich zubilligen.
Herr Kollege, ich glaube, wir müssen das an anderer Stelle besprechen. Wir haben eben beschlossen: eine Stunde für dieses Thema.
Ich meine, in einer Stunde sollte man zumindest der Opposition die Möglichkeit geben, zehn bis 15 Minuten zusammenhängend zu reden. Wenn das nicht möglich ist, zweifle ich an der Demokratiefähigkeit dieses Hohen Hauses.
({0})
Meine Damen und Herren, ich bin an die Geschäftsordnung gebunden.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Viele kluge Köpfe bemühen sich - auch heute morgen - mit großer Ernsthaftigkeit darum, Wege zu finden, die zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen können. Eine Vielzahl von Modellen ist in der Diskussion, und zwar in der richtigen Erkenntnis, daß es hier kein Patentrezept und nicht den einzigen Weg aus dieser Krise geben wird.
Ohne mich in die Tarifhoheit einmischen zu wollen, möchte ich sagen, daß niemand gut beraten sein kann, der darauf beharrt, daß einzig und allein die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich der Weg aus der Krise sein kann. Wer sich die Umfrageergebnisse zu diesem Thema einmal ansieht, wird sehen, daß ihm, wenn er darauf beharrt, die Truppen in zunehmender Geschwindigkeit in Richtung Lebensarbeitszeitverkürzung davonlaufen.
({0})
Wir Liberalen setzen uns für eine flexible Arbeitzeitgestaltung sowie für eine flexible Lebensarbeitszeit ein. Unserem Selbstverständnis entspricht es, daß dem einzelnen mehr Spielraum eröffnet werden muß, daß er darüber entscheiden kann, ob er länger oder kürzer arbeiten will. Schematische, strikte Altersgrenzen tragen den Bedürfnissen und auch dem vielfach vorhandenen Leistungsvermögen älterer Arbeitnehmer nicht Rechnung.
({1})
Es kann doch wohl nicht unsere Politik sein, in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft immer älter wird, die älteren Arbeitnehmer zu Arbeitnehmern minderer Güte zu stempeln, die - vorausgesetzt, daß sie weiterarbeiten möchten - weniger Rechte haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten, als jüngere. Wir finden uns nicht damit ab, daß Arbeitnehmer schon ab Mitte des fünften Lebensjahrzehnts als nicht mehr voll leistungsfähig betrachtet werden,
daß sie Schwierigkeiten haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten oder zu wechseln.
Deshalb haben wir auch die jetzige Praxis der 59er-Regelung als änderungswürdig erachtet. Herr Hoss, Sie haben eben selbst erläutert, wie sich diese 59er-Regelung von einer guten Absicht zu einem Ärgernis entwickeln konnte. Sie hat dazu geführt, daß insbesondere die Großunternehmen ältere Arbeitnehmer in Massen hinauskomplimentiert haben. Ich habe das in der letzten Woche bereits einmal konkretisiert. Das mag in einer Reihe von Fällen sicherlich den Wünschen der Betroffenen entsprochen haben. In vielen anderen Fällen haben sie sich diesem psychischen Druck aber nicht widersetzen können.
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Ärgernisse zu beseitigen, Frau Fuchs, kann doch nicht von Übel sein.
Die jetzt vorgelegte Regelung, die im Zusammenhang mit der Vorruhestandsregelung zu sehen ist, enthält einerseits verschärfende, aber andererseits auch eine Reihe erleichternde Elemente. Verschärfungen gibt es insoweit, als neben der bisherigen Erstattungspflicht für das Arbeitslosengeld nun" auch eine Erstattungspflicht für die Rentenversicherungsbeiträge aus dem vorgezogenen Altersruhegeld ab 60 und wegen Arbeitslosigkeit eingeführt werden wird. Erleichterungen sind dagegen insbesondere im mittelständischen Bereich vorgesehen, auf einem Sektor, der ganz besonders anfällig für zusätzliche bürokratische Belastungen ist. Mit dieser Regelung wird sichergestellt, daß Betriebe, die eine Arbeitnehmerzahl von unter 20-haben, von der Erstattungspflicht befreit werden.
({3})
Ebenso ist zu begrüßen, daß Schwerbehinderte und Auszubildende auf diese Quote nicht angerechnet werden. Dies trägt dazu bei, daß die Beschäftigung dieses Personenkreises nicht erschwert wird.
Meine Damen und Herren, zu berücksichtigen ist auch, daß diese neue, den Mittelstand und die Kleinstunternehmen begünstigende Regelung auch auf Altfälle Anwendung finden wird. Das heißt, die Erstattungspflicht etwa eines kleinen Handwerkers entfällt mit dem Inkrafttreten des Gesetzes ex nunc, auch wenn die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses z. B. bereits im Januar dieses Jahres vereinbart worden ist.
Als mittelstandsfreundlich möchte ich diese Regelung auch insofern bezeichnen, als für Unternehmen mit bis zu 40 Mitarbeitern die Erstattungsforderung um zwei Drittel reduziert wird, es de facto im großen und ganzen bei der jetzigen Rechtslage bleiben wird und auch von Unternehmen mit bis zu 60 Arbeitnehmern ein Drittel weniger erstattet werden muß.
Positiv ist nach unserer Ansicht auch zu bewerten, daß das Kriterium der unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung, das gerade in der Anfangsphase erhebliche Auslegungsschwierigkeiten mit sich gebracht hat und das ja bisher die VoraussetFrau Seiler-Albring
zung für den Wegfall der Erstattungspflicht bildete, konkretisiert wird.
Man wird in den Ausschußberatungen sicher zu prüfen haben, ob damit alle aufgetretenen Probleme abgefangen werden können. Insgesamt dient aber diese Konkretisierung unserer Ansicht nach der Rechtssicherheit und damit den Unternehmen.
Sicherlich mag man Bedenken dagegen haben, daß wie bisher all die Unternehmen ausgenommen werden, die öffentliche Zuschüsse bekommen. Dies kommt selbstverständlich den Krisenbranchen zugute, und es kommt auch - darüber sollte man sich keine Illusionen machen - den Großunternehmen zugute. Aber es scheint mir doch widersinnig zu sein, von der öffentlichen Hand zu verlangen, daß sie einerseits derartige Unternehmen unterstützt, andererseits aber durch eine Einforderung von Erstattungsbeiträgen die Existenz dieser Unternehmen wieder gefährdet.
({4})
Insofern ist diese jetzt vorgesehene Regelung nicht zu beanstanden.
Auch all diejenigen, die bis zum 1. Dezember 1984 mit ihrem Unternehmen - das betrifft einige große Unternehmen speziell in meinem Bundesland - eine entsprechende Vereinbarung zur Aufhebung des Arbeitsverhältnisses getroffen haben, brauchen keine Verschlechterung zu befürchten, denn bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses spätestens am 31. Dezember 1985 bleibt es bei der jetzigen Gesetzeslage. Ich meine, damit ist auch den Wünschen nach einer entsprechend langen Übergangsregelung sehr wohl Rechnung getragen worden.
Meine Damen und Herren, mit der Erschwerung dieser Regelung wird zugleich sichergestellt, daß die Arbeitnehmer, die am schwersten vermittelbar sind, nicht so leicht vor die Tür gesetzt werden. Es kann doch nicht angehen, daß wir Umschichtungspolitiken von Unternehmen mit öffentlichen Mitteln subventionieren. Das kann nicht unsere Aufgabe sein.
({5})
Sicher wird man Bedenken wegen der möglicherweise eintretenden oder länger andauernden Arbeitslosigkeit jüngerer Arbeitnehmer nicht von der Hand weisen können, aber diese haben - das wissen doch wir alle - eine ungleich größere Chance der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt als ältere Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel daran, daß über die Änderung einzelner Punkte in den Ausschußberatungen debattiert werden kann. Die Ankündigung der konstruktiven Mitarbeit durch Frau Fuchs ist sicher hochwillkommen. Nichts ist so vollkommen, daß es nicht verbessert werden könnte, selbst bei dieser Regierung nicht.
Grundsätzlich halten wir das Angebot der Vorruhestandsregelung, gekoppelt mit der Änderung der 59er Regelung, wie sie jetzt vorliegt, für eine sehr sinnvolle Möglichkeit zur Verringerung der Lebensarbeitszeit und für einen Beitrag zur Entspannung auf dem Arbeitsmarkt.
({6})
Ich glaube, wir sollten nicht - wie die Opposition - nach der Methode argumentieren, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, d. h. daß die Vorruhestandsregelung der Bundesregierung - wie Sie, Frau Fuchs, es ausgedrückt haben - keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken wird und daß es, weil es nicht in die Landschaft paßt, nicht zu Tarifverträgen kommen wird. Ich meine vielmehr, daß dies zusammen mit der flankierenden 59er Regelung einen - sicherlich nicht den einzigen, aber doch einen sehr sinnvollen - Weg zur Bewältigung des eingangs skizzierten Problems darstellen kann.
Ich danke Ihnen.
({7})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/893 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1984
- Drucksache 10/827 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Berichts der Bundesregierung über die gesetzlichen Rentenversicherungen, insbesondere über deren Finanzlage in den künftigen 15 Kalenderjahren ({1})
Gutachten des Sozialbeirats zu den Anpassungen der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1984 sowie zu den Vorausberechnungen der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzlage der Rentenversicherung bis 1997
- Drucksache 10/560 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß
Vizepräsident Wurbs
Nach einer Vereinbarung des Ältestenrats sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus mit dieser Regelung einverstanden? - Das ist der Fall.
Darf ich fragen: Wird zur Begründung das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verläßlichkeit und Vertrauen sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine solide Rentenpolitik. Wir wollen keine Rentenpolitik, die größere Erwartungen erzeugt, als sie Ergebnisse erzielen kann. Wir halten, was wir versprochen haben. Die nächste Rentenanpassung kommt pünktlich am 1. Juli 1984. Das ist der Unterschied zu manchen Vorbildern früherer Zeiten. Wir haben vor der Wahl die Rentenanpassung verschoben und nach der Wahl die von uns genannten Rententermine eingehalten. Sie wissen, daß das bei der Vorgängerregierung umgekehrt war. Sie hat die Anpassung der Renten immer nach der Wahl verschoben.
Die Erhöhung der Renten 1984 entspricht der der Löhne des Jahres 1983. Die Löhne haben sich nach den jetzigen Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 1983 um 3,3 % erhöht. Das ist der Satz, um den auch die Renten steigen werden.
Von den so erhöhten Renten werden 2 % Krankenversicherungsbeitrag abgezogen, so daß am 1. Juli dieses Jahres die Renten entsprechend den Angaben des Statistischen Bundesamtes, wie sie jetzt vorliegen, um 1, 2 % erhöht werden.
Ich will auf die Bedeutung dieser Rentenerhöhung hinweisen. Wäre diese Rentenerhöhung ausgefallen, wären nicht nur die Renten des Jahres 1984 um 1,2% niedriger, sondern der geringere Stand würde sich auch über alle folgenden Jahre fortpflanzen. Insofern entscheidet die Rentenanpassung - j a oder nein - nicht nur über das Rentenniveau im aktuellen Jahr, sondern sie hat ihre Wirkungen auf die Zukunft.
Der Krankenversicherungsbeitrag der Rentner entspricht der Solidarverpflichtung auch unserer älteren Mitbürger, für ihre Krankenversicherung einen individuellen Beitrag zu leisten. Die Idee, von jedem Rentner auch einen individuellen Krankenversicherungsbeitrag zu erheben, wurde schon im Jahre 1978 durch das 21. Rentenanpassungsgesetz von der früheren Regierung in die Tat umgesetzt. Ich will das klarstellen, nicht um die neue Regierung aus der Verantwortung hierfür zu nehmen, sondern um der heutigen Opposition jede Fluchtmöglichkeit zu verstellen. Sie war nämlich damals Regierung.
Ich will auch ausdrücklich erklären, daß ich mich nach wie vor zu dieser Idee bekenne, daß ich dies nach wie vor für den richtigen Weg halte. Das Nettorentenniveau wird auch im Jahre 1984 nicht absinken. Das ist, wie ich meine, eine wichtige Mitteilung für unsere älteren Mitbürger. Es wird sogar von 64,8 % im Jahre 1983 auf 65,2 % im Jahre 1984 leicht ansteigen.
Die Renten entwickeln sich so wie die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer. Wir halten uns also an die Grundsätze, die wir auch schon vor der Wahl verkündet haben. Auch die Arbeitnehmer leben ja nicht von ihrem Bruttoeinkommen. Zwischen dem, was auf dem Lohnstreifen unter „brutto" steht, und dem, was im Geldbeutel landet, liegt der Zugriff des Finanzamts und der Sozialversicherung.
({0})
Über den Lebensstandard entscheidet der Nettolohn. Deshalb sind für uns die verfügbaren Einkommen der Maßstab für die Entwicklung der Renten.
Die Rentner gehen in das Jahr 1984 mit einer Rentenerhöhung von 4,6 % netto, die vom 1. Juli 1983 stammt. Ab 1. Juli 1984 kommen die 1,2 % hinzu. Bezogen auf das ganze Jahr haben wir es also mit einer durchschnittlichen Erhöhung von 2,9 % zu tun. Der Durchschnitt ergibt sich aus den 4,6 % des ersten Halbjahres und aus den 1,2 % aus dem zweiten Halbjahr. Um den Durchschnitt zu ermitteln, muß die Summe durch zwei geteilt werden.
Um diese Größenordnung von 2,9 % herum werden sich auch mit großer Wahrscheinlichkeit die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer entwickeln. Das Nettorentenniveau hat heute einen hohen Stand erreicht. Es war in der ganzen Geschichte der Rentenversicherung nur 1977 kurzzeitig höher.
Heute erhält ein Rentner nach 40 Versicherungsjahren 65 % des Nettoeinkommens eines vergleichbaren aktiven Arbeitnehmers. Nach 45 Versicherungsjahren beträgt die Rente 73 % des entsprechenden Nettoeinkommens des Arbeitnehmers.
Ich füge hinzu: Für diese Rente braucht sich kein Rentner bei irgend jemandem zu bedanken. Auch die Bundesregierung feiert sich nicht wegen dieser Rentenerhöhung. Die Rentner haben sich ihren Anspruch durch lebenslange Arbeit und Beitragsleistung selber verdient. Kein Rentner ist Almosenempfänger.
({1})
Jeder Rentner empfängt eine Rente, die Alterslohn für Lebensleistung ist. Dieses Prinzip „Leistung für Gegenleistung" wollen wir uns in der Rentenversicherung erhalten.
Die Jungen, die heute Beiträge für unsere Rentner zahlen, erwerben sich durch diese Beiträge auch den Anspruch, daß sie, wenn sie alt sind, von der nachfolgenden Generation genauso behandelt werden. Alt und jung sitzen in einem Boot. Die Rentenversicherung ist nichts für Konflikttheoretiker. Die Rentenversicherung ist eine Einrichtung, die vom Zusammenhalt der Generationen getragen wird. Wenn alt und jung nicht zusammenhalten, bricht die Rentenversicherung zusammen. Nicht
Generationenkonflikt, sondern Generationensolidarität - das ist die Gesinnung, von der unsere Rentenversicherung getragen wird.
Um diesen Zusammenhalt der Generationen plausibler zu machen, haben wir die Rentenanpassung aktualisiert. Das ist wieder so ein rentenchinesisches Wort, das ich gern in den normalen Sprachgebrauch übersetze: Bisher folgte die Rentenerhöhung der Lohnentwicklung, die drei Jahre zurücklag. Jetzt wird sie unmittelbar an die Lohnentwicklung des vorhergehenden Jahres angekoppelt. Das schafft deshalb mehr Plausibilität, weil auf diese Weise der Zusammenhang zwischen Lohn und Rente enger wird.
Der alte Zustand mit der Verzögerung von drei Jahren hat häufig dazu geführt, daß einmal die Löhne davongelaufen sind - dann haben sich die Rentner beschwert -, daß ein anderes Mal die Rentenerhöhung höher war als die Lohnsteigerung - dann haben sich die Lohnempfänger beschwert, weil der Abstand so auseinandergerissen war.
Wenn wir den Abstand verringern, stabilisieren wir die Verständlichkeit des Umlagesystems. Ich will nicht verheimlichen, daß wir dabei auch Geld gespart haben, als wir das zu diesem Zeitpunkt eingeführt haben. Aber ich verstecke und entschuldige diese Sparmaßnahmen gar nicht; denn diese Sparmaßnahmen haben wir der Not gehorchend durchgeführt.
({2})
Das waren Rettungsaktionen. Wir sparen nicht aus Lust und Laune, sondern um das Sozialsystem sicherer zu machen. Mit Versprechungen und Prognosen werden ja bekanntlich keine Renten finanziert, sondern nur mit den harten Eingängen aus der Arbeit.
({3})
Unser wichtigster Beitrag zur Rentenversicherung ist deshalb Vollbeschäftigung. Wenn wir für Vollbeschäftigung sind, wenn wir eine Politik für Vollbeschäftigung machen - und Sie wissen ja, daß wir dem Trend das Genick gebrochen haben, daß die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl zurückgeht -, machen wir nicht nur eine Politik für die Arbeitslosen - das würde bereits genügen -, sondern auch eine Politik für die Rentner. Denn je mehr Arbeitslose es gibt, um so mehr ist die Rente gefährdet. Die Rente lebt immer nur von den Eingängen derjenigen, die Arbeit haben. Deshalb ist Vollbeschäftigung die beste Rentenpolitik und eine gute Wirtschaftspolitik die wichtigste Voraussetzung für eine solide Sozialpolitik.
({4})
Die Sozialpolitik lebt auch nicht auf einer Insel, unabhängig von wirtschaftlichen Entwicklungen. Wenn die Preise davongaloppieren, werden dadurch auch die Rentner geschädigt. Wir haben die Preissteigerung halbiert, sie beträgt nicht mehr 6 %, sondern nur noch 3 %. Das ist so viel wert wie eine Rentenerhöhung. Was hätten Rentner beispielsweise
von einer Rentenerhöhung von 5 %, wenn anschließend die Preise um 6 % steigen? Gar nichts.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Matthöfer? - Bitte.
Herr Bundesminister, wären Sie so freundlich, zu wiederholen, wie hoch die jährliche Preissteigerungsrate war, als Sie Ihr Amt antraten?
Sie pendelte in den Jahren um die 6 %.
Sind Sie bereit, Herr Bundesminister, sich von einem sachverständigen Beamten aufklären zu lassen, wie hoch sie tatsächlich war?
Aber bitte. Ich habe nicht behauptet, daß sie in jedem Augenblick dieses Jahres bei 6 % lag. Ich habe nur darauf aufmerksam gemacht, daß in Ihrer Regierungszeit Preissteigerungsraten von 6 nicht nur möglich, sondern wirklich waren. Darauf wollte ich aufmerksam machen.
({0}) Wir haben die Preissteigerungsrate halbiert.
Meine Damen und Herren, ich will die Erfolge einer soliden Rentenpolitik nicht nur an dieser Stelle deutlich machen, verehrter Kollege Matthöfer, ich habe noch andere Beweisstücke vorzuführen. Die Früchte einer soliden Politik zeigen sich auch im Ergebnis des letzten Jahres. Die Renteneinnahmen sind höher als erwartet. Im Rentenanpassungsbericht 1983 haben wir die Schwankungsreserve der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten auf der Basis der tatsächlichen Entwicklung bis zum September 1983 auf 13,9 Milliarden DM geschätzt. Die Schwankungsreserve ist das Polster der Rentenversicherung. Das erste vorläufige Rechnungsergebnis für 1983 zeigt, daß es nicht 13,9 Milliarden DM, wie wir geschätzt haben, sondern 15 Milliarden DM waren, also 1,1 Milliarden DM Mehreinnahmen. Darüber sollten wir uns alle freuen, denn das ist ein Stück mehr Sicherheit für die Rentner. Diese 1,1 Milliarden DM mehr Renteneinnahmen stammen aus Pflichtbeiträgen. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, daß die Kurzarbeit zurückgegangen ist. Vielleicht ist auch das ein wichtiges Kontrastprogramm, Herr Kollege Matthöfer, wenn ich Sie auf diesen Unterschied noch aufmerksam machen darf. Damit komme ich ja auf Ihren früheren Bereich. Unsere Ergebnisse sind besser als unsere Erwartungen. Bei Ihnen war das genau umgekehrt. Sie sind immer hinter Ihren Prognosen hergelaufen; Sie sind immer wie Kimble auf der Flucht vor Ihren positiven Angaben davongelaufen. Wir lassen uns lieber durch die Wirklichkeit überholen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Matthöfer? - Bitte.
Herr Kollege Blüm, wären Sie bereit sich zu erkundigen, wie hoch die Voraus3532
schätzungen für das Defizit 1979, also drei Jahre vor Ihrem Amtsantritt, waren und wie hoch dann tatsächlich das Defizit in der Schlußabrechnung war? Dann werden Sie feststellen, daß der Ablauf dieses Jahres keinesfalls ein einzigartiger ist, sondern daß ein solcher Ablauf früher schon festzustellen war.
Herr Kollege Matthöfer, ich rede nicht über die Schätzungspolitik im allgemeinen, sondern ganz speziell über die Rentenpolitik. Da hat der von Ihnen beratene Bundeskanzler vor einer bestimmten Wahl die Rentenprobleme auf Grund Ihrer Prognosen als Problemchen bezeichnet, und nach der Wahl hat die Wirklichkeit leider dieses schönfärbeische Wolkenkuckucksheim zum Zusammenbruch gebracht. Sie waren der Baumeister.
({0})
Wenn wir uns schon korrigieren müssen, bin ich eher für bessere Realitäten als für bessere Prognosen. Wir lassen uns lieber durch die Realitäten überholen als durch die Prognosen. Wenn schon Schönfärberei, dann ist die schöne Realität besser als die schöngefärbte Prognose.
({1})
1984, das will ich bekennen, ist noch ein schwieriges Jahr. Aber die gesetzliche Mindestliquidität wird bis zum Jahresende 1984 erreicht und überschritten. Es ist auch noch ein schwieriges Jahr, weil unsere Sparmaßnahmen erst im Laufe der Zeit ihre Wirkung entfalten. Wir haben keine Renten gekürzt. Die Sparmaßnahmen entfalten ihre stabilisierende Wirkung im Verlauf der Entwicklung.
Kernstück des Rentenanpassungsberichts ist die Vorausberechnung der finanziellen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung in den nächsten 15 Jahren. Wir haben die Annahmen der alten Bundesregierung auch dort korrigiert. Bei uns waltet mehr Vorsicht. Wir gehen nicht von überhöhten Lohnannahmen aus. Denn von Annahmen werden keine Beiträge gezahlt, sondern nur von wirklichen Löhnen. Sonst hätte auch ich schönere Annahmen. Wenn die Annahmen die Finanzierung sicherstellen würden, würde ich sagen: Laßt uns die Annahmen verdoppeln.
({2})
In allen unseren vorsichtigen Berechnungen wird, zumindest in einigen Jahren, die Schwankungsreserve aufgebaut, also trotz zurückgenommener Annahmen: Aufbau der Rücklagen. Rücklagen - ich sage es noch einmal - sind das Sicherheitspolster der Rentenversicherung. Ich bekenne hier, daß die Einmonatsrücklage nicht unser Ziel in der Rentenpolitik ist. Wir wollen ein stärkeres Polster.
({3})
Das Schiff darf nicht bei jeder Welle den Grund schrammen. Wir wollen ein Stück mehr Sicherheit und damit mehr Ruhe in die Rentenversicherung bringen.
Nach dem Gutachten des Sozialbeirats, das Ihnen zusammen mit dem Rentenanpassungsbericht vorliegt, zeigen die Ergebnisse der Vorausberechnung insgesamt ein gutes Bild für die Rentenversicherung. Nach Auffassung des Sozialbeirates bietet die Finanzentwicklung bis zum Ende der 90er Jahre auch bei den ungünstigen Annahmekombinationen keinen Anlaß zu aktueller Besorgnis. Ich mache darauf aufmerksam, es ist noch derselbe Sozialbeirat, der schon vorher im Amt war. Er steht überhaupt nicht in dem Verdacht, von uns bestellt zu sein. Ich schätze seinen objektiven Rat wie in früheren Zeiten so auch heute sehr hoch. Dieser Sozialbeirat sagt:
Die von der Bundesregierung angestrebte Verbesserung der Finanzlage der Rentenversicherung ist erforderlich, reicht zunächst aber auch aus, um die Finanzierung der Renten und deren weitere Anpassung nach dem jetzt vorgesehenen Verfahren sicherzustellen.
Untergangsmeldungen sind völlig fehl am Platz. Wir machen eine solide Rentenpolitik. Wir wollen die Renten auf eine verläßliche Grundlage stellen. Ich bin weit davon entfernt, vor Sie zu treten und zu sagen, wir könnten jetzt die Hände in den Schoß legen. Wir müssen in der Tat weitere Strukturmaßnahmen treffen. Aber das, was wir gemacht haben, hat den Sozialbeirat bereits zu dieser Äußerung veranlaßt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Ich möchte mich nur vergewissern, ob wir von den gleichen Berichten ausgehen, da wir die Zukunft der Rentenversicherungen von Ihnen in so schönen und erfreulichen Daten dargestellt bekommen. Nach Ihrem eigenen Bericht, Seite 16, ist nur unter den günstigsten Annahmen bei einer ständigen Lohnerhöhung von 5% und beim besten Beschäftigungsstand, den Sie prognostizieren, die Rente in dem 15-Jahres-Zeitraum gesichert, bei allen anderen Annahmen nicht. Das haben Sie selber geschrieben. Aber vielleicht haben Sie noch ein Geheimdossier, in dem sich die Zahlen ganz anders darstellen.
Verehrter Herr Kollege Lutz, vielleicht ist Ihnen in der Hitze Ihres oppositionellen Eifers entgangen, was ich gesagt habe. Deshalb zitiere ich mich jetzt:
In allen unseren vorsichtigen Berechnungen wird, zumindest in einigen Jahren, die Schwankungsreserve aufgebaut.
Das habe ich gesagt, und das steht in Übereinstimmung mit dem, was der Bericht ausweist.
({0})
Blinder Eifer schadet nur. Vielleicht verständigen wir uns in Zukunft auf die Texte, die vorliegen, und auf das, was ich sage.
Meine Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, daß eine solche Rentenformel, wie wir sie brauchen, eine Rentenformel ist, die um so sicherer
ist, je mehr sie dem parteipolitischen Streit entzogen ist. Wie Sie wissen, gehe ich ja keinem Streit aus dem Wege. Der parlamentarische Streit ist ja auch ein Teil unseres gemeinsamen parlamentarischen Lustgewinns. Davon lebt ja die Demokratie, daß gestritten wird. Nur sollte sich dieses Parlament in allem parteipolitischen Streit auch fähig zeigen, in einigen Fragen den Konsens, die Übereinstimmung, möglich zu machen. Ich denke, gerade für die älteren Mitbürger wäre es eine große Beruhigung, wenn sie wüßten, daß die Rente aus dem Streit der Parteien herausgebracht ist, daß sie auch von der Hektik des Gesetzgebungsverfahrens abgehängt und auf eine Formel gestellt wird, die auf Generationen hinaus wasserdicht ist.
Deshalb lade ich noch einmal zu einer großen rentenpolitischen Einigung ein. Ich weiß - das will ich dankbar anerkennen -, daß die Bereitschaft dazu auf allen Seiten vorhanden ist. Nur parteipolitische Fanatiker wollen auf dem Buckel der alten Leute Rentenpolitik machen. Aber es gibt in dieser Frage nur einen gemeinsamen Erfolg oder den gemeinsamen Verlust des Vertrauens unserer älteren Mitbürger.
Ich denke, daß wir in eine solche Rentenformel auch die Entwicklung der Bevölkerung einbauen müssen, wenn sich die Rentenversicherung selber steuern muß. Wenn die Bevölkerung zurückgeht, verändert das auch die Belastung der Aktiven. Aber ich denke, daß Bevölkerungsrückgang nicht nur von den Aktiven getragen werden kann, daß wir eine Formel brauchen, die solche Rentenbelastungsverschiebungen von Beitragszahlern, Rentnern und Staat abfängt, eine Rentenformel, in der diese drei Komponenten enthalten sind. Denn wenn wir die Last nur den Beitragszahlern aufbürden, könnten Beiträge zustande kommen, die über die Leistungsfähigkeit unserer Kinder hinausgehen. Eine familienfeindliche Politik - das zeigt sich an dieser Stelle - benachteiligt nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder, denn diese müssen dann die Beiträge der noch nicht geborenen Zeitgenossen mit bezahlen. Weil das so ist, kann eine solche Entwicklung nur von allen Beteiligten - von Beitragszahlern; Rentnern und Staat - aufgefangen werden.
Der Übergang in verändertes Verhalten hat immer Umstellungen zur Folge. Die Umstellung in unserem Alterssicherungssystem kann allerdings nicht nur von der Rentenversicherung getragen werden. Ich beharre deshalb, meine Damen und Herren, darauf, daß auch die Alterssicherung des öffentlichen Dienstes auf den Prüfstand muß. Die Lasten der Zukunft können nicht allein von den Rentnern getragen werden. Umstellung und Harmonisierung heißt nach meinem Verständnis - damit nicht falsche Hoffnungen entstehen - nicht Nivellierung. Wir sind gegen eine Politik der Gleichmacherei. Die Eigenständigkeit der öffentlichen Alterssicherung muß gewahrt werden, und der Beamtenstatus kann auch nicht durch die Hintertür aufgerollt werden. Aber Bevölkerungsentwicklung und ihre Folgen stellen nicht allein der Rentenversicherung eine Aufgabe. Das kann nicht allein die Rentenversicherung auffangen. Das muß von allen getragen werden, auch von unseren Mitbürgern im öffentlichen Dienst. Gemeinsam müssen wir uns auf den Weg nach einem neuen Gleichgewicht von Ansprüchen und Belastungen machen, von Einnahmen und Ausgaben. Bezahlt wird soziale Sicherheit zu guter Letzt früher oder später auch immer vom Empfänger. Deshalb braucht unser Sozialsystem Balance, wenn es nicht kippen soll.
Von der im Gesetz vorgesehenen Rentenanpassung werden 13 Millionen Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung und rund eine Million Renten der gesetzlichen Unfallversicherung sowie 610 000 Renten der Altershilfe für Landwirte erfaßt. Wir geben ihnen heute gemeinsam die gute Nachricht: ihre Rente wird erhöht. Wir betreiben eine Rentenpolitik, die die Renten sicherer macht.
Vor uns liegen noch schwere Aufgaben. Wir werden sie am besten lösen, wenn wir zur Gemeinsamkeit bereit und fähig sind.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, Sie stimmen mit mir darin überein, wenn ich sage, daß Herr Blüm uns lieb und teuer ist.
({0})
Er wird uns eigentlich immer teurer als lieber, und diese Entwicklung möchte ich gern verhindern, mit seiner Hilfe. Ich meine, es geht nicht nur darum, lieb zu scheinen, sondern man muß auch lieb sein.
({1})
Er beweist immer wieder, wenn er hier ist, daß er ein großer Demagoge vor dem Herrn ist.
({2}) Er nimmt es auch in der Sache,
({3})
ich will nicht sagen, mit der Wahrheit nicht so genau; dies könnte unparlamentarisch sein. Aber er nimmt es nicht immer ganz genau.
({4})
Da liegt ein Unterschied; ich weiß, Herr Präsident, daß Sie hinter mir sitzen, und ich werde mich sehr hüten, hier etwas zu sagen, was nicht in Ordnung wäre.
Und was die Betroffenen angeht, da kann ich nur sagen: Er wird vom Blickpunkt der Betroffenen her in die Sozialgeschichte unserer Republik eingehen als der teuerste Arbeitsminister aller Zeiten - vom Blickpunkt der Betroffenen her!
({5})
- Na ja, wenn wir jetzt noch Plaketten für Punkte
der Ehrlichkeit vergeben, Herr Kollege Kolb, dann
gehören Sie - davon bin ich überzeugt - auch mit zu den Ersten.
({6})
Sie sollten Ihr Licht da nicht unter den Scheffel stellen.
Nun, der Herr Bundesarbeitsminister hat hier immer von Verläßlichkeit und Solidität gesprochen, und er hat dabei die Stimme in einer Weise gehoben, wie man das eigentlich selten bei ihm erlebt. Da hatte ich den Eindruck, er hatte Mühe, an sich selbst zu glauben.
({7})
Dies ist ein psychologisch sehr interessanter Vorgang. Er hat dann einem meiner Freunde gegenüber, ich glaube, es war der Kollege Lutz, auf Grund einer sehr vernünftigen Frage, die er gestellt hat, die aber nicht ganz so vernünftig beantwortet worden ist, vom blinden Eifer gesprochen. Ich finde, dieser „blinde Eifer" ist im Zusammenhang mit der Zusicherung, daß gerade er und seine Regierung in Sachen Sozialpolitik besonders verläßlich und solide seien, ein Ausspruch, den wir uns sehr merken müssen.
({8})
Dies müssen wir auch immer wieder auf den Prüfstand der Politik heben und ihm, wenn es notwendig ist, auch vorwerfen.
Herr Bundesarbeitsminister, es war zu erwarten, und ich bin darauf vorbereitet, daß Sie die heutige Rentendebatte dazu benutzen würden, große Erfolge Ihrer Rentenpolitik zu feiern und die Lage der Rentenversicherung der Rentner in möglichst gutem Licht darzustellen. Dafür habe ich übrigens volles Verständnis. Wer würde das an seiner Stelle nicht tun!
({9})
- Gut, darüber reden wir gleich noch! - Aber bei all den frohen Botschaften von der wiederhergestellten Ordnung in der Rentenversicherung, vom beginnenden Aufschwung und von der gesicherten Zukunft werden - dies sage ich nun wirklich so, wie ich es meine - wesentliche Teile der Wahrheit unterdrückt. Dies ist doch wohl ein parlamentarischer Ausdruck, mit dem ich niemandem zu nahe trete. Ich will diesem Bundesarbeitsminister auch nicht zu nahe treten, weil er mir persönlich außerordentlich sympathisch ist; das kann ich nicht leugnen. Aber ich finde das, was gesagt werden muß, muß gesagt werden, auch in aller Härte. Sie verschweigen, Herr Minister, daß die auf den ersten Blick als völlig normal erscheinende Rentenanpassung zum 1. Juli dieses Jahres in Wirklichkeit durch schwere und schwerste Opfer im Einzelfall - dies wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre in katastrophaler Weise herausstellen - und durch empfindliche Einschnitte in das soziale Netz erkauft worden ist,
({10})
und durchaus nicht mit dem Ziel, nun die Finanzen
der Rentenversicherung sicherzumachen, sondern
mit dem auch immer wieder zugegebenen Ziel, erst einmal die Lücken im Haushalt zu schließen.
({11})
Dies ist für die Betroffenen natürlich nur sehr schwer einsehbar.
Um diese Rentenanpassung, diese mageren 1,2 %, die davon übriggeblieben sind, über den Kabinettstisch zu bekommen, wenn ich das so ausdrücken darf, mußte Herr Bundesarbeitsminister Blüm eine weitere empfindliche Absenkung des Rentenniveaus hinnehmen. Dies ist nicht zu bestreiten, gemessen an dem ursprünglichen Recht, von dem wir bei der Neuordnung der Rentenversicherung im Jahre 1957 ausgingen. Dies ist natürlich eine Frage des Zuwachses; dies gebe ich zu. Dabei haben wir auch eine gehörige Verantwortung aus der Zeit der sozialliberalen Koalition. Bis zum Jahre 1983 waren es etwa 12 %; aber wir sind davon ausgegangen, daß dies genug sein müßte und sollte, und es ist in der Tat für die Betroffenen katastrophal, daß darauf nun bis zum Jahre 1986 noch einmal 8 % kommen sollen. Da kann man nicht so tun, als hätte das, was Sie hier in den letzten Jahren vorgenommen haben, für den einzelnen überhaupt keine Auswirkung. Es hört sich nämlich so an, als ob das Rentenniveau bis zum Jahre 1995 oder 2000 erhalten bleibt und keiner an dieser Entwicklung der Sozialgesetzgebung Schaden nimmt. Dies ist so nicht richtig, und dies muß hier klargestellt werden.
({12})
Dies kann man wirklich nur jemandem erzählen, der keine Knöppe an der Hose hat, wie der Hamburger sagt. Da müssen wir wirklich ehrlich miteinander umgehen.
Zahlreiche, im Einzelfall sehr drastische Eingriffe in individuelle Leistungsansprüche - ich habe davon bereits gesprochen - werden ihr Weiteres tun. Der Bruch des Vertrauens gegenüber den freiwillig Versicherten und die massiven Kostenverlagerungen in andere Zweige der Sozialversicherung, die hingenommen werden mußten, verschleiern eigentlich nur die wahren Vorgänge bei dem Versuch der sogenannten Konsolidierung. Darüber wird gar nicht mehr gesprochen, dies wird als Selbstverständlichkeit hingenommen. In der Zeit, als die CDU/CSU in der Opposition war, haben diese beiden Herren, die jetzt die Regierung dort repräsentieren, nämlich der Herr Bundesarbeitsminister und vor allem mein sehr geschätzter Freund Heinz Franke, jetzt Parlamentarischer Staatssekretär, die vernünftigsten Vorschläge zur Konsolidierung der Rentenfinanzen in Bausch und Bogen abgelehnt und bis aufs Messer bekämpft.
({13})
Heute geht es Ihnen nicht weit genug. Jetzt kommt das Interessante, Herr Bundesarbeitsminister - Herr Präsident, ich bitte im vorhinein, dies nicht als persönliche Beleidigung zu betrachten -: Ich finde, dieser Arbeitsminister hat eine hervorragende Gabe, aus sozialen Exkrementen Gold zu machen.
({14})
Ich finde, Herr Blüm ist der Böttger dieses Jahrhunderts, zumindest auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Da ist er überhaupt nicht mehr zu überbieten.
({15})
Die Einschnitte in das soziale Netz - Frau Fuchs hat bereits darauf hingewiesen - summieren sich auf über 9 Milliarden DM. Davon wird von seiten der Regierung kein Wort gesagt. Dies müssen wir immer wieder hervorheben. Gleichzeitig haben Sie, nämlich die Rechtskoalition, den Wohlhabenden Steuergeschenke in einer Höhe von 3,5 Milliarden DM gemacht. Auch das ist eine geschichtliche Tatsache.
Der geringste Teil - ich sage es noch einmal - der Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung war hausgemacht. Ganz überwiegend haben die Opfer der Rentner nicht zur langfristigen Sanierung der Renten, sondern zu Stopfung der Löcher im Bundeshaushalt gedient. Auch für die Betroffenen muß immer wieder klar werden, wozu ihre Opfer eigentlich gedient haben. Über diese Dinge darf bei der ersten Lesung des Rentenanpassungsgesetzes 1984 und des Rentenanpassungsberichtes 1983 nicht hinweggegangen werden.
Ich möchte zwei Beispiele nennen. Diese Regierung und diese Regierungsmehrheit bekommen immer feuchte Augen, wenn es um Fragen der Familienpolitik geht und will uns ständig weismachen, daß die Interessen der Familien im Vordergrund der politischen Betrachtung und Handlung stehen müssen. Sie hat sich nicht entblödet, als erstes die Kinderzuschüsse für die vorzeitig Berufs- und Erwerbsunfähigen, die noch nicht so alt sind, die Kinder haben, die noch zur Schule gehen, die trotz Zurechnungszeiten usw. besonders niedrige Renten haben, zu streichen und ihnen in Aussicht zu stellen, im Jahr 1987 könnte zu ihren Gunsten vielleicht etwas passieren.
({16})
Das ist doch nicht seriös, dies ist doch nicht in Ordnung!
({17})
Einen zweiten Punkt will ich Ihnen nennen: Wir haben während der Zeit der sozialliberalen Koalition mit Erfolg - ({18})
- Aber bester Herr Pohlmann, wir werden nachher, wenn die Plenarsitzung vorbei ist, noch einmal darüber reden, und ich werde Ihnen verschiedenes in Erinnerung rufen.
In der Zeit der sozialliberalen Koalition wollte die FDP - da gibt's zwar auch einige, die ich außerordentlich schätze, aber nicht ihre Politik - schon 1977 beim 20. Rentenanpassungsgesetz die Renten der gesetzlichen Unfallversicherung mit in diesen Anpassungsverbund hineinnehmen. Sie wollte zugunsten der Unternehmer Geld sparen, obwohl die gesetzliche Unfallversicherung überhaupt nicht notleidend ist, und die Haftpflichtansprüche der Arbeitnehmer gegenüber ihren Arbeitgebern, die durch das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung abgelöst werden, auf den gleichen Anpassungssatz bringen, d. h. den Anstieg des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner bei der Anpassung der Unfallrenten mit anzurechnen. Dann bezahlen die Unfallrentner einmal einen Beitrag zur Unfallversicherung in Höhe eines Krankenversicherungsbeitrags der Rentner, zum anderen einen Beitrag in gleicher Höhe zur Rentenversicherung und haben trotzdem unter Umständen nicht in einem einzigen Fall überhaupt gegenüber der Krankenversicherung einen Anspruch. Dies dient alles zur Selbstfinanzierung dieser Leistung auf Kosten derjenigen, die darauf angewiesen sind. In der sozialliberalen Koalition haben wir das erfolgreich verhindert.
Die Beamten sind die gleichen geblieben - das ist kein Vorwurf gegen die Beamten; die sind jeder Regierung gegenüber loyal; das ist nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht - und haben versucht, das unter der neuen Regierung endlich durchzusetzen. Ich kann nur sagen: mit Erfolg, mit der entsprechenden Hilfe der FDP.
({19})
Aber dies ist, so meine ich, einem individuellen Rechtsanspruch, dem Sie sonst immer das Wort reden, nicht dienlich. Sie behaupten immer, wir seien Systemüberwinder, wir würden alles über einen Kamm scheren. Nein, Sie machen das, Sie machen das ohne Not, wenn es um Ausgaben geht,
({20})
selbst dort, wo überhaupt gar keine finanzielle Not entstanden ist.
An diesem Beispiel mag man erkennen, daß es nicht dasselbe ist, ob Sozialdemokraten oder Christliche Demokraten oder Freie Demokraten Sozialpolitik machen, daß es hier erhebliche Unterschiede gibt; auf die möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal hingewiesen haben.
({21})
Sie haben auch Unrecht, Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie sich die in der Tat leicht gebesserte aktuelle Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung als Erfolg anrechnen. Die Liquiditätsprobleme des Jahres 1984 werden wahrhaftig schwierig genug bleiben. Wenn wir bei der Lösung dieser Probleme helfen können, werden wir das tun. Es ist aber ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der Rentenversicherung, daß die Renten in diesem Jahr zeitweilig auf Pump ausgezahlt werden müssen.
({22})
Auch das ist eine Tatsache, die Sie verschweigen, die übrigens von dem Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in dem Gespräch, das wir in der vorigen Woche in Berlin mit ihm hatten, bestätigt worden ist. Wir hoffen sehr, daß die Zusagen der Bundesregierung, was die Überwindung dieser Schwierigkeiten angeht, in vollem Umfange erhalten bleiben.
Daß die Liquiditätsprobleme nicht noch schlimmer sind und daß sie nicht ganz so schlimm sind, wie man noch vor einigen Monaten befürchten mußte, verdanken Sie nicht Ihrer Politik, Herr Blüm, wie Sie es hier auch in Antworten auf Fragen von Herrn Matthöfer dargestellt haben. Auch verdanken Sie diese Entwicklung nicht dem angeblichen Aufschwung.
({23})
Die Ursache dafür liegt allein in der Tatsache, daß das Rechnungsergebnis des Jahres 1983 bei den Rentenversicherungsträgern um etwa 1 Milliarde DM günstiger ausgefallen ist, als man ursprünglich angenommen hatte.
({24})
- Ich sage Ihnen: Dies hat mit dem Aufschwung im Augenblick so viel zu tun wie die Kuh mit dem Foxtrott.
({25})
Das haben wir doch, meine ich, bei der Erörterung des Rentenanpassungsberichtes klargestellt. Selbstverständlich ist diese glücklich gefundene Milliarde für die Rentner und die Rentenversicherung erfreulich. Aber es wäre unredlich, wenn die Bundesregierung die Korrektur eines Schätzfehlers als politischen Erfolg feierte.
({26})
Tatsache ist, daß sie mehr Glück als Verstand gehabt hat. Aber das muß man eben haben. Das haben wir oftmals nicht gehabt. Dafür können wir Sie nicht verantwortlich machen. Sie sind ein glücklicher Mensch.
({27})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Ja.
Herr Kollege Glombig, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
({0})
daß die Erhöhung der Mehreinnahmen bei den Rentenversicherungsträgern primär aus Pflichtbeiträgen herrührt, d. h. hier auch der Aufschwung sichtbar wird, der sich, wenn auch langsam, auf dem Arbeitsmarkt abzuzeichnen beginnt?
Das ist eine
({0})
Komponente dieser Entwicklung, aber nur eine. Die Zunahme an Rentenversicherungsbeiträgen ist doch nicht nur auf konjunkturelle Entwicklungen zurückzuführen. Dafür gibt es auch noch einige andere Ursachen. - Aber ich finde, es hat keinen Zweck, hier Ausschußsitzungen zu wiederholen. Sie stehlen mir nur die Zeit. Und der Präsident sagt dann - und das ist Ihre alte Taktik -: Die Redezeit ist beendet.
Vor allem,-Herr Franke, Herr Bundesarbeitsminister, ist die Zukunft der Rentenversicherung durchaus nicht so ungetrübt, wie Sie sie darstellen. In der mittelfristigen Rechnung des Rentenanpassungsberichts wird zwar ein Anstieg der Schwankungsreserve der Rentenversicherungsträger auf 1,9 Monatsausgaben bis zum Jahre 1987 prognostiziert, aber diese günstige Rechnung kommt nur zustande, weil Sie mit Beschäftigungshypothesen arbeiten, die mit der tatsächlichen Lage auf dem Arbeitsmarkt kaum etwas gemein haben. Damit die Rechnung stimmt, müßte die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer in den nächsten Jahren jeweils um 0,9% steigen. Eine solche optimistische Annahme steht im Widerspruch zu den Planungen der Bundesregierung. Im Finanzplan für die Jahre 1983 bis 1987 wird nämlich nur mit einer jährlichen Beschäftigungszunahme von 0,25 % gerechnet. Die Bundesregierung selber glaubt also nicht an ihre eigenen Prognosen. Das finanzielle Risiko der Rentenversicherung in den nächsten Jahren ist also trotz aller Einsparungen noch immer beträchtlich.
Wenn die Zahl der Beschäftigten in den nächsten Jahren, entgegen den Annahmen der Bundesregierung, nicht so steigen sollte, sondern auf dem Niveau von 1983 verharrte, was anzunehmen nicht sonderlich pessimistisch wäre, würden sich die Mindereinnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung auf 3,5 bis 4 Milliarden DM summieren.
({1})
Auch die langfristigen Rechnungen im Rentenanpassungsbericht 1983 zeigen, wie groß die Herausforderungen der Zukunft sind. Unter den verschiedenen Varianten, die dort aufgeführt sind, kann man allein diejenigen als einigermaßen realitätsnah betrachten, die mit nicht mehr als 4 % durchschnittlicher Lohnsteigerung und mit sogenanntem niedrigem Beschäftigungsstand rechnen. Dem niedrigen Beschäftigungsstand, nach der Definition der Bundesregierung, entspricht immerhin nur ein jährlicher Beschäftigungszuwachs von 0,2% in dem gesamten Dreijahreszeitraum von 1984 bis 1987. Ich will trotz meines Mißtrauens in die Beschäftigungspolitik der Bundesregierung hoffen, meine Damen und Herren, daß diese Annahme zutreffen wird. Aber sie ist auf jeden Fall immer noch sehr optimistisch, wenn nicht zu optimistisch, wenn z. B. das zurückliegende Jahrzehnt zum Vergleich herangezogen wird, in dem die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nicht gestiegen, sondern gesunken ist. Und davon muß man wohl auch in der Zukunft ausgehen.
({2})
Aber alles in allem wird man, ohne schwarz zu färben oder schwarz zu sehen, aus den Zahlen des Rentenanpassungsberichtes entnehmen können, daß die Renten trotz der hinter uns liegenden massiven Einschnitte höchstens noch bis zum Ende der 80er Jahre ohne Beitragssatzerhöhungen oder weitere Leistungskürzungen finanzierbar sein werden. Was weitere Leistungskürzungen angeht, so habe ich die traurige Hoffnung, daß da schon viel eher etwas passiert. Ich glaube, daß man mit Beitragssatzsteigerungen nicht bis zum Jahre 1995 oder bis
zum Jahre 2000 wird warten können. Schon der nächste Konjunkturabschwung in der Mitte oder in der zweiten Hälfte der 80er Jahre könnte wieder eine akute Finanzierungskrise auslösen.
Ich sage dies alles nicht, um Panik hervorzurufen, wie es CDU und CSU - ich habe es vorhin bereits gesagt - früher in ihrer Oppositionszeit ständig getan haben, ohne auch nur den geringsten eigenen positiven Vorschlag zur Lösung der Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung und ihrer Finanzierung in ihrer Zeit der Opposition vorzulegen.
({3})
- Herr Jagoda, dies ist nachprüfbar. Dies habe ich besonders schmerzlich empfunden, Sie sind ja erst seit 1980 Mitglied dieses Hohen Hauses. Schon vorher hat sich das alles abgespielt. Seit 1975 war es der ständige Versuch, die innerparteiliche oder, besser gesagt, die innerpolitische Auseinandersetzung mit der Angst der Rentner anzuheizen. Dies ist doch seit 1975 gängige Praxis in der Politik der CDU/CSU.
({4})
Vielleicht kann das Herr Kollege Cronenberg bestätigen. Er wird ja wohl nach mir sprechen.
Zweifellos sind die Renten in dem Sinn sicher, daß sie auch in Zukunft gezahlt und, in welchem Umfang auch immer, jährlich erhöht werden. Aber das genügt nicht. Die Generationensolidarität kann auf die Dauer nur dann erhalten werden, wenn das Rentensystem in sich selbst stabilisiert und die Kette von Rentenoperationen beendet wird. Dazu muß die Rentenversicherung auf langfristig tragfähige finanzielle Grundlagen gestellt werden. Dies ist bis jetzt trotz aller massiver Kürzungen von seiten dieser Regierung und dieser Regierungsmehrheit nicht geschehen. Im Gegenteil. Die Rentenfinanzen sind nach wie vor höchst empfindlich gegenüber wirtschaftlichen Störungen, und die Frage, wie der Rentenberg der 90er Jahre bewältigt werden könnte, ist noch immer nicht beantwortet.
({5})
- Na, darüber spreche ich gleich mal, Herr Kolb, wie empfindlich.
Die Rentenpolitik der CDU/CSU-FDP-Regierung hat nicht nur zur Lösung dieser Probleme nichts beigetragen, sondern sie auf lange Sicht noch verstärkt. Ich erinnere nur an die Halbierung der Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslose und an die Beitragsbelastung für die Einmalzahlungen, mit der zwar kurzfristig Löcher gestopft, aber langfristig zusätzliche Ausgaben programmiert worden sind. Wir haben doch den Beitrag der Bundesanstalt für Arbeit für die Arbeitslosen an die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt, um die Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung konjunkturunabhängig zu machen.
({6})
Nun wollen Sie mir doch nicht erzählen, daß Sie die Finanzen der Rentenversicherung dadurch sicherer gemacht haben, daß dies zurückgenommen worden ist, aber die Leistungen weit über dem Gegenwert der Beitragszahlung in diesen Fällen stehen. Im Hinblick auf das, was der Bundesarbeitsminister zu der Rede von Frau Fuchs gesagt hat, nämlich es sei bei der 59er-Regelung eine Diskriminierung der Rentenversicherung, wenn sie nichts zurückgezahlt bekommt, frage ich: Ist es denn keine Diskriminierung der Rentenversicherung, wenn sie von seiten der Bundesanstalt für das Risiko des Alters nicht den ausreichenden Beitrag bekommt, damit diese Renten finanziert werden können?
({7})
Mehrere Milliarden gehen der Rentenversicherung dadurch verloren. Dies ist doch nicht in Ordnung. Wir müssen die Dinge doch dort in Ordnung bringen, wo die Finanzmisere entsteht oder entstanden ist.
({8})
Die SPD-Bundestagsfraktion, Herr Kollege Jagoda, hat bereits mehrmals, zuletzt im Entschließungsantrag zur dritten Beratung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984, verdeutlicht, wie wir uns in den Grundzügen eine dauerhafte Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung vorstellen. Hier gibt es teilweise Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsminister.
Die für uns entscheidenden Punkte sind:
Erstens. Die Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosen - hier gibt es keine Übereinstimmung - entsprechend dem entgangenen Brutto-Arbeitsentgelt. Damit soll, wie gesagt, die Rentenversicherung wieder unabhängiger von der Arbeitslage gemacht werden. Außerdem ist es richtig, wie gesagt, die sozialen Risiken in dem Teilbereich der Sozialversicherung zu finanzieren und zu konsolidieren, in dem sie entstanden sind.
Zweitens. Modifikation der bruttolohnbezogenen Rentenformel. Damit wollen wir sicherstellen, daß die Rentenanpassungen im Fall einer notwendig werdenden Beitragssatzsteigerung in dem Umfang korrigiert werden, in dem die Nettolöhne durch die Beitragserhöhung vermindert werden. Mit dieser demographischen Komponente in der Rentenformel kann auch angesichts wachsender demographischer Belastungen das Rentenniveau gesichert werden. Hier gibt es wohl in etwa auch eine Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsminister.
Drittens. Stabilisierung des Bundeszuschusses. Damit soll gewährleistet werden, daß sich der Bund ebenfalls stärker am demographischen Risiko der Alterssicherung beteiligt, als dies gegenwärtig der Fall ist. Hier hätte ich eine etwas deutlichere Aussage des Bundesarbeitsministers erwartet.
({9})
Wir wollen ihn dabei unterstützen. Wir sind zwar
politische Gegner, aber - vor allem in der Sozialpolitik - keine Feinde. Es gibt durchaus auch über3538
einstimmende Zielsetzungen. Dazu muß man sich bekennen. Man muß sich - vor allem, wenn man eine verhältnismäßig schwache Position in der Regierung hat - auch der Hilfe der Opposition vergewissern. Das liegt im Interesse der Menschen, die davon betroffen sind.
({10})
Viertens. Gesetzliche Institutionalisierung der sozialen Ausgewogenheit und flexible Anpassungsmechanismen. Hier habe ich eine zustimmende Äußerung des Arbeitsministers nicht gehört. Wir wollen, daß punktuelle Eingriffe des Gesetzgebers in das Leistungs- und Finanzierungsrecht der Rentenversicherung dadurch überflüssig gemacht werden, daß etwaige zusätzliche finanzielle Belastungen sozial ausgewogen auf Beitragszahler, Rentner und Staat verteilt werden. In dem letzten gibt es wieder Übereinstimmung, wenn ich das richtig verstanden habe, was der Arbeitsminister hier gesagt hat.
Fünftens. Lösung des verfassungsrechtlichen Problems der steuerlichen Behandlung von Alterseinkünften in dem Sinne, daß die Rentner keinesfalls im Ergebnis zugunsten des Fiskus - sowohl des Landes- und Gemeindefiskus, als auch des Bundesfiskus - zusätzlich belastet werden. Es wäre doch ein Schildbürgerstreich, wenn dieses Geld in die Kasse des Fiskus wandert und die Rentenversicherung dieses Geldes verlustig geht, so daß ihre Finanzierung weiterhin unsicher bleibt. Wer will dies denn politisch verantworten? Da müssen wir auch einmal über den eigenen Schatten springen. Ich warne alle diejenigen, die die reine Lehre durchführen wollen, indem sie meinen, aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen sollte man uns als die politisch Verantwortlichen hierzu zwingen, einen solchen unsinnigen Weg zu gehen.
({11})
Wir sollten uns dagegen gemeinsam auflehnen. Dies ist ein Unsinn. Das bedeutet, daß wir eine rentenversicherungsinterne Lösung jeder steuerrechtlichen Lösung vorziehen.
Sechstens. Umstellung der Arbeitgeberbeiträge in der Sozialversicherung von der Lohnsummenbasis auf die Wertschöpfungsbasis, damit Unternehmen sich nicht mehr durch Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen der Verpflichtung zur Finanzierung der sozialen Sicherung entziehen können.
({12})
Hierzu habe ich von dem Bundesarbeitsminister überhaupt nichts gehört.
Siebtens. Einstieg in die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme auf der Grundlage der Vorschläge der Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme. Der Bundesarbeitsminister hat hierzu einige Dinge gesagt, die ich beachtlich finde. Ich möchte ihm dafür danken.
({13})
Ich möchte dies aus meiner Sicht noch einmal
ausdrücklich unterstreichen und unterstützen. Auf
die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme
möchte ich deswegen etwas näher eingehen - nicht zu lange, denn ich bin gleich am Ende meiner Redezeit -; denn dieser Problemkomplex steht auch nach unserer Auffassung in engem Sachzusammenhang mit der Frage der langfristigen Finanzierbarkeit unserer Alterssicherung insgesamt. Die soziale Sicherung im Alter ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Keine Bevölkerungs- oder Berufsgruppe, auf welche besondere Tradition - ich will das nicht weiter ausschmücken, darüber ließe sich noch etwas Lustiges sagen - sie sich auch berufen mag, darf von der Verpflichtung ausgenommen werden, zur Lösung der schwerwiegenden Probleme beizutragen, die infolge der Veränderung der Alterspyramide auf uns zukommen.
Die Finanzierung der Alterssicherungssysteme darf nicht isoliert als ein Problem der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten betrachtet werden. Sie berührt alle Zweige des Alterssicherungssysteme. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind die Schwierigkeiten nur deutlicher erkennbar, weil alljährlich langfristige Vorausberechnungen veröffentlicht werden. Deswegen ist das auch ständig ein Punkt der öffentlichen Auseinandersetzung und der auch konträren politischen Auseinandersetzung. Darin war Herr Franke in der Vergangenheit ja ein Meister.
({14})
Ich bin davon überzeugt, daß die Probleme der Alterssicherungssysteme nur gelöst werden können, wenn es gelingt, die insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmittel gerechter zu verteilen. Zu einer solchen schrittweisen Gesamtreform der Alterssicherungssysteme gibt es nur eine Alternative, und zwar eine schlechtere: daß immer nur bei den Schwächeren gespart wird, daß die ohnehin üppiger ausgestatteten Sonder- und Zusatzversorgungssysteme unberührt bleiben und daß sich allmählich eine Klassengesellschaft in der Alterssicherung ausbildet, wenn wir sie dort nicht schon haben. Deshalb ist die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme nicht irgendein überflüssiges sozialpolitisches Nebengebiet, sondern die Voraussetzung dafür, daß in den nächsten Jahrzehnten unser soziales Sicherungssystem in den Grundzügen intakt bleibt und daß die Solidarität der Generationen aufrechterhalten werden kann.
Vor rund einem Monat hat die noch von der letzten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, der anzugehören ich die Ehre hatte - ja, das war eine Ehre -, ihr umfangreiches Gutachten der Öffentlichkeit vorgestellt. Diese Kommission hat das weitverzweigte und unübersichtliche Alterssicherungssystem mitsamt seinen Unterschieden sorgfältig und umfassend dargestellt und die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten mit vielen zahlenmäßigen Belegen deutlich sichtbar gemacht. Darüber hinaus hat die Kommission eine Reihe von Änderungsvorschlägen erarbeitet, die auf der einen Seite geeignet sind, unser Alterssicherungssystem gerechter auszugestalten, die aber auf der anderen Seite sowohl die gewachsenen StruktuGlombig
ren respektieren als auch den Betroffenen keine unzumutbaren Opfer abverlangen.
Die Bundesregierung wäre - Herr Bundesarbeitsminister, ich glaube, bei Ihnen renne ich vielleicht offene Türen ein;
({15})
ich sage das im Blick auf die gesamte Bundesregierung - gut beraten, wenn sie diese Vorschläge sehr wohlwollend prüfen und auf ihrer Grundlage gesetzliche Initiativen einleiten würde, und zwar sehr bald. Ich persönlich meine, daß es ein sozialpolitischer Skandal wäre, wenn die vorzügliche Arbeit der Sachverständigenkommission, an der zeitweise auch Herr Staatssekretär Franke beteiligt war und deren Empfehlungen im übrigen die Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, der SPD-Bundestagsfraktion und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt haben, praktisch umsonst gewesen sein sollte.
({16})
- Das ist nun wirklich das letzte, was ich sagen möchte: Zu den beherzigenswerten Anregungen gehören aus meiner Sicht die Vereinheitlichung und die Dynamisierung der Hinzuverdienstgrenzen in Rentenversicherung und Beamtenversorgung, die Einführung eines einheitlichen Steigerungssatzes und einer Zurechnungszeit in der Beamtenversorgung, so daß die Höchstversorgung erst nach 40 oder 50 Dienstjahren erreicht wird, und die schrittweise Einführung des eigenen Altersversorgungsbeitrags der Beamten; dafür muß die Beamtenbesoldung wieder an die Tarifbewegung der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes angekoppelt und ein sozialer Ausgleich für die unteren Besoldungsgruppen geschaffen werden.
({17})
- Meine Damen und Herren, ich hatte mir eigentlich vorgenommen, noch eine Stunde zu reden,
({18})
aber meine Fraktion ist da immer sehr rigoros mit mir. Auch will ich es mir mit dem Präsidenten nicht verscherzen. Ich danke sehr für das Verständnis, das Sie mir damit entgegengebracht haben, meine Langschwätzerei anzuhören.
({19})
Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne haben Abgeordnete des finnischen Reichstages Platz genommen. Ich habe die hohe Ehre, sie im Deutschen Bundestag zu begrüßen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen nützliche Gespräche in der Bundesrepublik sowie einen guten Aufenthalt in unserem Lande!
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Glombig, Sie haben nach einem sehr humorvollen Beginn im Mittelteil Ihrer Rede doch ein sehr trübes Bild der Rentenversicherung gezeichnet.
({0})
Aber auch noch so wortreiche Ausführungen können nicht darüber hinwegtäuschen: Keine Rente wird gekürzt, die Renten werden pünktlich zum 1. Juli 1984 erhöht.
({1})
Dafür, daß dies überhaupt möglich ist, möchte ich hier vorweg dem Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm sehr herzlich danken, denn seine Politik hat sichergestellt, daß auch die Renten wieder sicher geworden sind.
({2})
Lieber Herr Kollege Glombig, Sie sagen, die Tatsache, daß wir die Renten jetzt erhöhen können,
({3})
sei durch Sparopfer erkauft worden. Ich sage Ihnen: Wenn der Bundesarbeitsminister nicht sofort nach der Regierungsübernahme gehandelt hätte, hätten wir heute nicht über die Rentenerhöhung zu reden brauchen, sondern wir hätten über die Frage sprechen müssen, ob wir die Renten überhaupt noch bezahlen können.
({4})
Denn wenn er nicht sofort gehandelt hätte, hätten wir die Renten seit Sommer 1983, also seit mehreren Monaten, überhaupt nicht mehr bezahlen können.
({5})
Daraus ergibt sich, daß das Sparen schon einen Sinn hatte und hat, daß die Politik des Sparens nicht umsonst war, sondern den Rentnern wieder sichere Renten gebracht hat.
({6})
Wir standen ja, überhaupt nicht vor einer Alternative. Wir mußten handeln, damit die Renten überhaupt weiter bezahlt werden konnten. Den Zwang zum Handeln haben Sie durch Ihre Mißwirtschaft bewirkt.
({7})
Wir werden heuer bei der Rentenanpassung erstmals die Situation haben, daß die Rentenerhöhung aktueller an der Lohnentwicklung ausgerichtet wird, nämlich an dem Lohnanstieg im Jahre 1983. Nach dem Verfahren, das bisher gültig war, wäre der Lohnanstieg der Jahre 1980 bis 1982 maßgebend gewesen. Ich meine, das ist ein sehr gewichtiger sozialpolitischer Fortschritt; denn damit werden die Renten stärker an die aktuelle Einkom3540
mensentwicklung angepaßt, und der Solidaritätscharakter der Rentenfinanzierung wird den Beitragszahlern, aber auch den Rentenempfängern deutlicher gemacht.
({8})
Nun gibt es ja Zahlenspielereien - auch hier heißt es wieder, es gebe weniger - über die Prozentsätze, über die Höhe der Renten. Abgesehen davon, daß es bei Ihnen überhaupt nichts gegeben hätte, wenn Sie so hätten weiterwirtschaften können, darf ich doch einmal in Erinnerung rufen, wie es denn wirklich ausschaut.
({9})
Die Rentenerhöhung richtet sich also nach der Lohnentwicklung 1983. Nach den vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes waren bei den Bruttoentgelten Anstiege von 3,3 % im Durchschnitt zu verzeichnen. Um diesen Prozentsatz sollen die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und auch die Altershilfe für Landwirte zum 1. Juli 1984 angehoben werden.
Da aber zum gleichen Zeitpunkt - das muß man hinzufügen - die zweite Stufe der Beteiligung der Rentner an den Beiträgen für ihre Krankenversicherung um zwei weitere Prozentpunkte der Rente wirksam wird
({10})
- von der SPD eingebracht -, beträgt die effektive Rentenerhöhung 1,2 %. Um diese 1,2 % werden auch die Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung angepaßt.
Ein richtiges und ein sachgerechtes Bild, Herr Kollege Glombig, ergibt sich bei der Beurteilung des Jahres 1984 aber nur, wenn man berücksichtigt, daß im ersten Halbjahr 1984 noch die Rentenerhöhung vom 1. Juli 1983 wirkt. Diese Erhöhung betrug unter Berücksichtigung des Krankenversicherungsbeitrages netto 4,6 %.
({11})
Auf das ganze Jahr 1984 gerechnet wird der Rentner 1984 also 2,9 % mehr bekommen, und das bereits unter Berücksichtigung der Krankenversicherungsbeiträge.
({12})
Damit erreichen wir, daß eine gleichgewichtige Entwicklung zwischen Arbeitnehmereinkommen und Renten im Jahre 1984 erfolgt.
Nun darf man, wenn über die Rentenerhöhung diskutiert wird, nicht alleine den Prozentsatz der Erhöhung anschauen - er ist für sich alleine nicht aussagefähig -, sondern man muß auch fragen:
Was kann der Rentner mit dieser Erhöhung kaufen? Hier kann man einfach nicht wegdiskutieren, daß wir bei der Preissteigerungsrate von 5,6 % auf 2,6 % heruntergefahren sind. Das sind 3 %.
({13})
3 % Senkung des Preisanstiegs sind genausoviel wie eine Steigerung der Renten um 3 %.
({14})
Durch die Anpassung der Renten ergeben sich vom 1. Juli 1984 bis Ende Juni 1985 in der Rentenversicherung Mehraufwendungen von 5,3 Milliarden DM, in der Altershilfe für Landwirte von 75 Millionen DM und in der gesetzlichen Unfallversicherung von 86 Millionen DM.
Die Finanzierung der Renten ist gesichert, wenngleich die Kassenlage in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten im Jahre 1984 angespannt sein wird. Nur, Herr Kollege Glombig: Hier von „Renten auf Pump" zu reden, ist unredlich, denn diese Anspannung der Kassenlage ist allein darauf zurückzuführen, daß die Einnahmen und Ausgaben im Jahresverlauf einfach nicht gleichmäßig fließen.
({15})
Dieser Tatsache wird Rechnung getragen. Die Engpässe werden mit Sicherheit überwunden durch ein Vorziehen der Raten des Bundeszuschusses und durch geeignete Maßnahmen der Selbstverwaltung.
Ich darf abschließend sagen: Auch wenn Sie immer etwas anderes behaupten, es besteht überhaupt keine Veranlassung, die Rentner zu verunsichern oder Angst zu produzieren. Die Rentner können sich darauf verlassen, daß ihre Rente sicher ist und auch im Jahre 1984 pünktlich bezahlt wird.
({16})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Potthast.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorgelegte Gesetzentwurf über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1984 ist der Versuch der Bundesregierung, den im wahrsten Sinne des Wortes skandalösen Sozialabbau bei den Rentnern und Rentnerinnen mit getarnten Zahlen zu verschleiern. Es wird behauptet, daß sich die Renten um 2,9 % über das ganze Jahr 1984 verteilt erhöhen. Damit ist nach Meinung der Bundesregierung die Zielsetzung einer gleichwertigen und gleichmäßigen Entwicklung von Renten und verfügbaren Arbeitnehmereinkommen, die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 gesetzlich festgeschrieben wurde, erfüllt.
Doch wie sieht es tatsächlich aus? Die Renten sollen am 1. Juli 1984 um 3,4 % erhöht werden. Gleichzeitig soll allerdings ein Krankenversicherungsbeitrag von 2 % erhoben werden. Das heißt, was hier passiert, ist eine Rentenabsenkung; denn wie die Bundesregierung richtig feststellt, bleiben damit
von den sogenannten Rentenerhöhungen gerade 1,3 % übrig. Zusätzlich wird durch die willkürliche Verschiebung des Anpassungszeitpunkts vom 1. Januar 1984 auf den 1. Juli 1984, d. h. um ein ganzes halbes Jahr, die ohnehin schon geringe Erhöhung für 1984 um die Hälfte gemindert. Mithin beträgt die reale Erhöhung der Renten ganze 0,65 %.
({0})
Wenn wir diese Zahlenspiele fortsetzen, können wir feststellen, daß es sich anstelle einer Erhöhung in Wirklichkeit um eine reale Rentenabsenkung von ca. 2,5 % handelt.
({1})
Vergessen wurde nämlich bei der Berechnung der Bundesregierung die Preissteigerungsrate, die allein 3 % beträgt, während im selben Zeitraum die Unternehmergewinne um rund 11 % steigen sollen.
({2})
- Sollen; richtig.
({3})
- Sie gestatten, daß ich zu Ende rede.
Sehen wir uns das doch einmal näher an. Der Bericht der Bundesregierung vom 2. November 1983 legt ja eine Unmenge von Zahlen offen. Ich möchte jetzt ein Beispiel anführen, das ziemlich plastisch aufzeigt, welche konkreten Auswirkungen diese sogenannte Rentenanpassung für die Bezieher und Bezieherinnen von niedrigen Renteneinkommen hat.
Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht ausdrücklich, daß die durchschnittliche Rentenhöhe im Juli 1983 bei den Männern 756,80 DM betragen hat, während die Frauen zum selben Zeitpunkt 661,20 DM erhielten. Umgerechnet bedeutet dies, daß die durchschnittliche Rentnerin eine Rentenanpassung in Höhe von 4,29 DM monatlich erhält, und das bei einer Preissteigerungsrate von über 3%, die umgerechnet im Budget dieser Rentnerin knapp 20 DM ausmacht, 20 DM, die sie also mehr zu zahlen hat. Das heißt, sie bekommt 4,29 DM heraus dafür, daß sie 20 DM daraufzuzahlen hat. Milchmädchenrechnung von unserem Bundesminister? - Nein, das ist schon faustdicker Betrug an den Rentnern und Rentnerinnen.
({4})
Der Betrug an den Rentnern und Rentnerinnen hat allerdings schon eine lange Tradition. Auch die frühere, die sozialliberale Koalition macht ja da keine Ausnahme. So änderte sie ab 1978 die Bestimmungen zur Errechnung der allgemeinen Bemessungsgrundlage mehrmals willkürlich und erreichte es so, daß mit dieser Täuschungsaktion der Rentenzuwachs ab 1978 um 21,8 % niedriger angesetzt wurde, als es bis dahin der Fall war.
Ein weiteres Beispiel von Rentenschummelei ist der unzureichende und stets gekürzte Bundeszuschuß zur Rentenversicherung seit 1957. Nach der Hochrechnung von Experten entgingen der Versichertengemeinschaft bisher rund 150 Milliarden
DM, ich wiederhole: 150 Milliarden DM. Das ist wohl eine ganz schöne Summe, denke ich. Seit Jahrzehnten dient also die gesetzliche Rentenversicherung als Selbstbedienungsladen für den Staatshaushalt. Das heißt, der Bundeshaushalt wird auf Kosten der Solidargemeinschaft entlastet. Wäre die Bundesregierung ihren Verpflichtungen nachgekommen und hätte sie der gesetzlichen Rentenversicherung die durch Gesetz auferlegten Fremdleistungen ersetzt, so wie wir das in unserem Antrag „Sofortmaßnahmen; Erhöhung des Bundeszuschusses" gefordert haben, hätte die Bundesregierung die jetzt angewendeten Tricks nicht nötig, um eine langfristige Finanzierung der Renten sicherzustellen. Oder anders; dadurch, daß der Rentenversicherung der reguläre Bundeszuschuß vorenthalten wird, gerät die gesetzliche Rentenversicherung auch nach Ansicht von Klaus Hoffmann, des Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt in Berlin, in Lebensgefahr. Denn auch er stellt fest, die Rentenversicherung hängt sozusagen „am Tropf". Die bisher durchgeführten Maßnahmen der Bundesregierung zur Sanierung der Renten, nämlich rigorose Streichmaßnahmen auf dem Rücken der sozial Schwachen, sind der untaugliche Versuch, grundsätzliche längerfristige Probleme kurzfristig lösen zu wollen.
Der Ist-Zustand der Rentenmisere ist dadurch gekennzeichnet, daß über 500 000 alte Menschen -500 000 -, vor allem Frauen, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze der Sozialhilfe leben. In diesem Fall würde ich gern einmal wissen, Herr Blüm, wie es mit Ihrem Ausspruch steht „von der Leistung, die eine Gegenleistung erhalten muß".
Die Ist-Situation der Rentenmisere ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, daß bei verschiedenen Bevölkerungsschichten ganz verschiedene Maßstäbe angelegt werden. Das heißt, vor allem die Beamten der höheren Einkommensklassen, aber auch die Selbständigen sowie die Angestellten und Arbeiter der höheren Lohngruppen im öffentlichen Dienst werden gegenüber Arbeitnehmern der unteren und mittleren Einkommensklassen stark begünstigt.
/Weiterhin wird in den nächsten Jahren die menschliche Arbeit durch die Maschinenarbeit immer mehr an Bedeutung verlieren, was für ein einkommenbezogenes Rentensystem katastrophale Folgen haben wird.
Statt jedoch nach grundsätzlichen Lösungen zu suchen, geht das Flickwerk der Bundesregierung weiter. Das beweist auch der Bericht der Bundesregierung über die gesetzlichen Rentenversicherungen. Hier wird offensichtlich davon ausgegangen, daß die Wirtschaftskrise eine vorübergehende „Grippe" ist und daß sich das Wirtschaftswachstum unbegrenzt nach der „Genesung" fortsetzt mit der Perspektive, so aus den Schwierigkeiten herauskommen zu können. Angenommen, es gelänge tatsächlich - was nicht sehr wahrscheinlich ist -, daß sich das Wirtschaftswachstum langfristig beleben läßt, dann würde das zum totalen und endgültigen Kollaps für unsere natürliche und soziale Umwelt führen, da die Folgeschäden einer erhöhten Produktion zunehmend sichtbar werden. Wir soll3542
ten endlich Abschied nehmen von der Ansicht, daß vermehrtes Wirtschaftswachstum unsere Probleme lösen hilft.
Es ist deshalb nach unserer Ansicht eine falsche Politik, Löhne und Gehälter mit immer mehr Sozialabgaben zu belasten.
({5})
Dies führt nur dazu, daß in der Wirtschaft Arbeit durch Kapital wegrationalisiert wird und statt dessen Maschinen eingesetzt werden. Sozialabgaben - das ist unter Vorschlag - dürften zukünftig nicht mehr lohnbezogen, sondern müssen wertschöpfungsorientiert sein.
({6})
Hier wäre die Besteuerung von Maschinen zu erwähnen.
Es kann nicht weiter angehen, daß sich Großunternehmen durch Wegrationalisierung von Arbeit ihrer sozialen Verantwortung dadurch entziehen, daß sie auf ihre Rationalisierungsinvestitionen keine Sozialabgaben für die Gesellschaft mehr zu entrichten haben.
({7})
Weiterhin müßte endlich dem Wirrwarr der verschiedenen Alterssicherungssysteme ein Ende gesetzt werden.
Wir fordern deshalb ein einheitliches Rentenversicherungssystem, in dem alle Bevölkerungsschichten, seien es Beamte, Selbständige, Freiberufler, Landwirte, Angestellte oder Arbeiter, versichert sind. An der Alterssicherung sollen gerechterweise alle einen Anteil tragen. Die Harmonisierungskommission hat dazu interessante Empfehlungen abgegeben. Es bleibt aber wohl abzuwarten, was die Regierung hieraus macht.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für uns die Gleichstellung der Frauen im Rentenrecht. Die bisherige Rentenpolitik ist eine patriarchalische, da sie Frauen in dieser Gesellschaft durchweg benachteiligt - Frauen, die in un- und unterbezahlten Bereichen arbeiten, dort Schwerstarbeit verrichten, was j a niemand von Ihnen leugnen wird, und die dadurch die niedrigsten Renten in diesem System überhaupt beziehen.
({8})
Wie sehen Sie, Herr Blüm, in diesem Fall Ihren Ausspruch von der erbrachten Leistung, die eine Gegenleistung erfordert?
Kernpunkt einer GRÜNEN-Rentenpolitik ist also die Forderung nach einer eigenständigen Rente der Frau und damit die Abschaffung der Hinterbliebenenversorgung. Wichtiger Bestandteil einer zukunftsorientierten Rentenpolitik ist nach unserer Ansicht auch die Einführung einer Mindestrente für alle. Denn es ist skandalös, daß gerade Frauen, die durch Gebären und Erziehen von Kindern diese
Gesellschaft reproduzieren, im Alter unterversorgt sind.
({9})
Die Bundesregierung ist deshalb aufzufordern, endlich mit dem Flickwerk aufzuhören und sich Gedanken um ein langfristiges System zu machen, welches Menschen im Alter eine halbwegs soziale Sicherung gewährt.
Danke.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute den Rentenanpassungsbericht und den Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung der Renten diskutieren, dann sollten wir uns alle redlicherweise ins Gedächtnis zurückrufen, daß es nicht sehr lange her ist, nur eine kurze Zeit, daß alle Seiten dieses Hauses die Entwicklung mit großer Sorge betrachtet haben.
Ich darf in diesem Zusammenhang an die Äußerung der Kollegin Fuchs vom 25. Oktober 1983 erinnern, in der sie eine Nachbesserung der Sanierungsaktion kurzfristig für fast unvermeidlich gehalten hat. Sie war überzeugt, daß etliche Milliarden in der Kasse fehlten. Einen Tag später hat sie noch einmal zum Ausdruck gebracht, daß spätestens nach der nächsten Steuerschätzung, also im November, eine Korrektur nach unten dringend erforderlich sei.
({0})
Ich werde mich hüten, solche Prognosen als unseriös hinzustellen. Aber ich darf, hoffentlich für das ganze Haus, feststellen, daß wir alle gemeinsam mit Zufriedenheit zur Kenntnis nehmen können, daß die Entwicklung nicht ganz so schlecht gelaufen ist, wie sie prognostiziert worden ist.
({1})
Wie Sie wissen, neige ich persönlich eher zu einem gesunden Pessimismus als zu einem übertriebenen Optimismus. Um so erfreulicher ist es doch, daß wir feststellen dürfen, daß wir am Ende des vorigen Jahres ca. 90 000 Arbeitslose weniger hatten, als ursprünglich prognostiziert. Die Liberalen haben von dieser Stelle durch alle ihre Sprecher immer wieder die Gelegenheit wahrgenommen, darauf hinzuweisen, daß es keine isolierten Politikbereiche gibt, sondern daß wir den Zusammenhang zwischen Finanz-, Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik für außerordentlich wichtig halten.
Lassen Sie mich deswegen bei dieser Gelegenheit noch einmal darauf hinweisen, daß für die Beitragseinnahmen folgendes gilt. Unser Rentenversicherungssystem ist nun einmal zum größten Teil ein beitragsorientiertes Versicherungssystem, ein Umlagesystem. Frau Kollegin Potthast, ich muß Sie bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam machen, daß Ihre Forderung an die öffentliche Hand von 150
Milliarden DM - um hier auch die Relationen klarzustellen -, von einem Jahr Rentenausgaben, so wie Sie es begründen, falsch ist. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich das mit dieser Deutlichkeit sage. Die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherungsträger sind, gemessen am Haushalt des Bundes, immer konstant zwischen 9 und 11 % gewesen.
({2})
- Natürlich, die Zuschüsse im Verhältnis zu den Rentenversicherungsträgern, meinen Sie, sind abgesenkt worden. Aber das geschah zu Recht.
({3})
Sie müssen bitte, bevor Sie sich ans Rechnen begeben, wissen, was dabei herauskommt. Schauen Sie es sich genau an. Sie werden feststellen, daß diese meine Thesen richtig sind. Es ist ein alter Streit mit dem jetzigen Parlamentarischen Staatssekretär Franke gewesen, der im Laufe der Zeit auch zu dieser richtigen Erkenntnis gekommen ist.
({4})
Ich bin gerne bereit, Ihnen auch in diesem Punkte Nachhilfestunden zu gehen.
Voraussetzung für die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung ist die Gesamtlohnsumme. Nicht die Beitragssatzerhöhungen helfen, sondern nur die Gesamtlohnsumme, ein höheres Bemessungsvolumen für Beiträge. Deswegen brauchen wir nicht Beitragssatzsteigerung, sondern müssen dafür sorgen, daß möglichst viele Arbeitslose möglichst schnell in ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis kommen. Das ist Aufgabe unserer Politik.
({5})
Die Voraussetzung für Wiedereinstellung und Neueinstellungen ist eben Arbeit. Arbeit muß akquiriert werden, hängt nicht nur von der Innovationsfähigkeit der Unternehmen, der Tüchtigkeit der Ingenieure und Kaufleute und, nicht zu vergessen, sondern an erster Stelle zu nennen, vom Fleiß der Arbeitnehmer ab, sondern hängt auch mit der Wettbewerbsfähigkeit zusammen. Wettbewerbsfähigkeit hängt mit Kosten zusammen. Die Bundesrepublik ist ein sehr kostenträchtiges und ein rohstoffarmes Land. Wir können nur einen Teil unserer Kosten bestimmen. Lassen Sie mich dies alles stichwortartig, weil schon so oft hier gesagt, noch einmal aussprechen.
({6})
Deswegen ist es so entscheidend wichtig, daß die Kosten, Herr Kollege Buschfort, die wir hier selber bestimmen können - Lohn und Lohnnebenkosten; Lohn durch Tarifvertragsparteien, Lohnnebenkosten zum großen Teil durch dieses Haus -, so sind, daß wir Arbeit ins Land hereinholen können, daß wir wettbewerbsfähig sind. Nicht die Erhöhung des Beitrages, sondern vernünftiges Verhalten von Tarifvertragsparteien und des Gesetzgebers sind Voraussetzung dafür, daß möglichst viele Menschen in
Arbeit und Brot kommen und damit auch möglichst hohe Beitragseinnahmen vorhanden sind. Die Gesamtlohnsumme gibt die richtige Bemessung.
Meine Damen und Herren, wir leben in einer Zeit der Prognosen. Es ist fast ein Prognose-Fetischismus ausgebrochen. Sie haben ja eben in dem Disput Matthöfer - Blüm gesehen, wie man so Prognosen bewerten kann. Als unumstößliche Wahrheit wird uns seit Jahr und Tag verkauft, wir brauchten ein ganz bestimmtes Wachstum - mehr als 3 % -, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Diese Theorie wird fast wie ein Evangelium verkündet. Ich bin bereit, an das Evangelium zu glauben, aber nicht an diese Prognosen.
({7})
Ich habe da erhebliche Zweifel. Ich kann mich noch gut erinnern, wie uns seit 1973 als unumstößliche Wahrheit verkündet wurde, jedes Prozent Bruttosozialproduktwachstum löst ein Prozent mehr Energiebedarf aus. OPEC und die explosionsartigen Steigerungen des Ölpreises haben auch die Wirkung gehabt, daß es diesen Automatismus nicht mehr gibt. Wir haben beachtliche Steigerungen des Bruttosozialprodukts seit 1973 zu verzeichnen, und der Verbrauch an Primärenergie ist wesentlich geringer gestiegen. Das hat natürlich auch damit zu tun, wie der Preis für 01 gestiegen ist, und mit den Reaktionen auf solche Maßnahmen. Für uns sollte dies eine Warnung sein. Diese als Evangelium verkündete Prognose hat sich eben als falsch herausgestellt. Ich hoffe, daß das auch bei anderen Prognosen so sein wird.
Nicht Prognose-Fetischismus sollte Grundlage unserer Beurteilung des Rentenanpassungsberichts sein. Mit Recht erklärt der Sozialbeirat, daß der Rentenanpassungsbericht nicht den Charakter einer Prognose hat, sondern eine oder, besser gesagt, viele Modellrechnungen darstellt. Für uns ist dieser Rentenanpassungsbericht von besonderer Bedeutung, weil er sozusagen ein Frühwarnsystem für die Entwicklung unserer Rentenversicherung darstellt. Verschiedene Modellrechnungen und notwendig erfolgende Korrekturen dienen einer Verbesserung dieses Instrumentariums.
Meine Damen und Herren, über die Notwendigkeit, unser Rentenversicherungssystem zu konsolidieren, hat es in der Vergangenheit zwischen allen Seiten des Hauses keinen Streit gegeben. Die Parteien waren sich über die Notwendigkeit der Konsolidierung völlig einig. Streit gegeben hat es - hier muß ich Eugen Glombig bestätigen, daß er eben den Streit der Parteien untereinander durchaus korrekt dargestellt hat - darüber, wie das Problem gelöst werden soll. Manche Einsicht - das trifft für die derzeitige Opposition wie für die Regierung zu - ist dann durch den Stellungswechsel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank gefördert worden, und dies nehmen wir mit Freude zur Kenntnis; denn es bestätigt unsere Argumentation.
({8}) Ja, Einsicht!
Eine Hauptursache für die Entwicklung unserer Rentenversicherung ist auch die Tatsache, daß viel mehr Menschen früher in die Rente gegangen sind, als wir dies ursprünglich erwartet hatten; deswegen die Korrekturen auch im BU- und EU-Bereich. Ursache ist auch die uneingeschränkte bruttolohnbezogene Anpassung über lange, zu lange Zeiträume hinweg, der wir, wie bekannt, immer sehr kritisch gegenübergestanden haben. Eine weitere Ursache ist die mißbräuchliche Anwendung der 59er Regelung; das war Gegenstand der Diskussion hier heute morgen. Auch die flexible Altersgrenze für Schwerbehinderte ist Mitursache für den zu verzeichnenden Konsolidierungsbedarf. Unbestritten sind so - meiner Auffassung nach unsystematisch - erhebliche Lebensarbeitszeitverkürzungen in der Vergangenheit praktiziert worden. Im Grunde genommen ist es erstaunlich, daß wir dies alles ohne nennenswerte Beitragssteigerung überhaupt überstanden haben.
Wie schon gesagt, wissen wir seit etlichen Jahren, daß ein beachtlicher Konsolidierungsbedarf auf uns zukommen würde und noch zukommen wird. Aus diesem Grunde hatten die Liberalen in ihren 32 Thesen, 1979 verabschiedet, eine stärkere Aktualisierung - so These 20 - verlangt. Wie Sie wissen, ist man diesen Vorstellungen gefolgt. Aus dem gleichen Grunde hatten wir in These 16 die Einbeziehung der den Renten vergleichbaren Alterseinkommen in die Beitragspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung verlangt. Dies ist unserer Auffassung nach ein Stückchen Beitragsgerechtigkeit und bringt selbstverständlich auch Mehreinnahmen, die wir wünschten. Also ein erfolgreicher Konsolidierungsvorschlag. In These 19 hatten wir den Vorschlag gemacht - Sie erinnern sich: damals haben beide Seiten des Hauses uns dafür geprügelt -, die Renteneinkommen sich so entwickeln zu lassen wie die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer. In diesem Punkt besteht Gott sei Dank heute Konsens zwischen den Parteien.
Diese Beispiele mögen beweisen, daß es uns in den vergangenen Jahren durchaus gelungen ist, zu einem nicht unerheblichen Teil unsere politischen Vorstellungen in die Gesetzesrealität umzusetzen. Immerhin möchte ich jetzt aber darauf hinweisen, daß wir trotz der Konsolidierungsmaßnahmen im Jahre 1983, Frau Potthast, trotz aller Einschnitte ein sehr hohes, fast das höchste Rentenniveau haben, das es in der Republik je gegeben hat. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir weltweit mit Abstand das allerhöchste Rentenniveau, das es überhaupt gibt. Die Rechnung von Minister Blüm ist richtig. Wir haben knapp 3 % Rentensteigerung. Sie, Frau Potthast, haben nur das halbe Jahr berechnet. Sie müssen das auf das ganze Jahr berechnen, und in diesem Jahr ist das Wachstum der Renten unter Berücksichtigung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner knapp 3 % gewesen. Zum Teil ist das mehr als das reale Wachstum der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer.
({9})
Damit kommen wir dem von uns seit langem vertretenen Ziel einer möglichst gleichgewichtigen Entwicklung der Renten näher.
Eugen Glombig hat an dieser Stelle zu Recht auf die Unterschiede zwischen liberaler, sozialdemokratischer und christlicher Sozialpolitik hingewiesen. Das Beispiel, lieber Eugen Glombig, das Sie gebracht haben, daß wir uns immer - das ist richtig geschildert worden - gegen eine stärkere Erhöhung der Unfallrenten als der gesetzlichen Renten ausgeprochen haben, scheint mir falsch. Es war und ist unser Ziel, daß sich Kriegsopferrenten, gesetzliche Renten
({10})
- kein Einheitssalat - und die Unfallrenten parallel entwickeln, was wir für die Kriegsopferrenten auch gemeinsam beschlossen haben.
({11})
Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß auch die Unfallrenten durch Beiträge, hier allein der Arbeitgeber, finanziert werden, und auch dies sind Kosten in der Kalkulation der Betriebe, die die Wettbewerbsfähigkeit genauso wie die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und zu anderen Versicherungen bestimmen. Der Unterschied unserer Sozialpolitik in diesem Bereich zu der Sozialpolitik der Sozialdemokraten ist richtig geschildert worden. Ich meine, wir nehmen hier die richtige Position ein.
({12})
Da mir die Zeit wegläuft, möchte ich hier noch auf einige wichtige Punkte hinweisen, was die Zukunft anbelangt. Richtig ist, wie ich soeben schon gesagt habe, daß der Konsolidierungsbedarf in Zukunft vorhanden ist, und zwar trotz der Äußerung des Sozialbeirats, daß wir bei in etwa ruhiger Entwicklung, d. h. keine großen Streiks, keine Ölkrisen, keine sonstigen krisenhaften Entwicklungen, bis 1993 nicht mit großen Beitragserhöhungen zu rechnen haben.
Aber ebenso richtig ist es, daß wir die Hinterbliebenenversorgung in Kürze zu regeln haben und die Strukturprobleme der Rentenversicherung in dieser Legislaturperiode, möglichst in diesem Jahr, anzufassen haben. Ich möchte hier darauf hinweisen, daß die Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung für uns eine große Bedeutung hat. Wir legen Wert darauf, daß die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts, die allen bekannt sind, erfüllt werden. Es wird darum gehen, dafür Sorge zu tragen, daß die Teilhabe des hinterbliebenen Ehepartners an der Rente des Verstorbenen beitragsgerecht und sozial vertretbar geregelt wird. Ich verweise hier auf die These 27 unseres Programms und möchte daran erinnern: Dort haben wir betont, daß die Eheleute ihre in der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften auch bei unterschiedlichen Erwerbseinkommen gemeinsam erwirtschaftet und insofern auch einen gemeinsamen Anspruch haben. Die Redlichkeit gebietet es aber festzustellen, daß unter Berücksichtigung der von uns immer wieder verCronenberg
langten Kostenneutralität mancher Wunsch- und Blütentraum nicht in Erfüllung gehen wird.
Meine Damen und Herren, wir haben uns bei einigen Maßnahmen, die zur Konsolidierung unseres Rentenversicherungssystems beigetragen haben, schwergetan. Ich möchte hier auf die sogenannte Zwölftelung, auf die Einbeziehung der Einmalzahlungen, hinweisen. Ich unterstreiche, was der Sozialbeirat meint, daß die Einbeziehung dieser Sonderzahlungen systematisch richtig gewesen ist, aber es bestehen erhebliche Bedenken, ob das nun wirklich praktikabel sein wird. Es ist ein bißchen so wie bei Radio Eriwan: theoretisch ja, praktisch nein. Mit Sicherheit werden allerdings einige kluge Kommentatoren, des BMA die Hinweise gegeben haben, wie die Dinge von den Buchhaltern zu praktizieren sind, mit dieser Regelung einige persönliche Erfolge erzielen, und die gönne ich ihnen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?
Ich habe wirklich nur noch zwei Minuten, Kollege Heyenn, und ich habe schon vieles, vieles streichen müssen. Bedauerlicherweise muß ich den Teil aus meiner Rede nehmen, wo ich mich mit den sozialdemokratischen Gegenvorschlägen auseinandersetzen wollte. Ich werde also nach einer anderen publizistischen Möglichkeit suchen müssen.
({0})
Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine höchstentwickelte Industriegesellschaft mit einem sehr, sehr hohen Lebensstandard, mit hoher - sehr hoher - sozialer Sicherheit. Unser Land hat in den Grundsystemen unserer sozialen Sicherheit, Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, unbestritten Probleme. Wahrscheinlich ist der Gesamtanteil dessen, was wir vom gemeinsam erwirtschafteten Bruttosozialprodukt für unsere soziale Sicherheit ausgeben, zu hoch. Mit Sicherheit aber ist er in den vergangenen Jahren überproportional gestiegen.
Die Finanzierung dieser Systeme wird auf Dauer nur möglich sein, wenn wir alle zusammen entsprechende Leistungen erbringen. Indikator für diese unsere Leistung ist das Bruttosozialprodukt, so zweifelhaft der Indikator im Einzelfall auch sein mag. Dies ist der Grund, warum wir uns immer wieder für Wachstum einsetzen, uns um sinnvolles Wachstum bemühen. Wir wollen nicht Wachstum um jeden Preis, sondern sinnvolles Wachstum. Aber, meine Damen und Herren, Peter Gillies hat recht, wenn er in der „Welt" von gestern sagt: „Wachstum ist das Ergebnis aller Anstrengungen einer Volkswirtschaft, nicht ihre Voraussetzung." Dies zu verdeutlichen war mein Bemühen heute.
Recht herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich hier nicht mit den Worthülsen des Bundesarbeitsministers auseinandersetzen.
({0})
Die materiellen Einschnitte sind j a gravierend genug. Die Arbeitnehmer, die Betriebsräte und Gewerkschaften sprechen mit Recht von einer sozialen Demontage.
({1})
Die äußerst mageren Anpassungssätze kürzen ja die Renten dauerhaft, Herr Kollege Seehofer; daran geht ja nun gar kein Weg vorbei. Ihre Sparpolitik wird auf dem Rücken der Rentner und der Arbeitnehmer betrieben. Die ersteren haben weniger Einkünfte, die anderen müssen höhere Beiträge bezahlen, und eine wirtschaftliche Perspektive kann ich nicht erkennen.
({2})
Denn wir werden - wir beklagen das außerordentlich - nach den neuen Zahlen von Herrn Stingl j a wohl 2,5 Millionen Arbeitslose registrieren müssen. Sie tun nicht genügend gegen diese Arbeitslosigkeit und für Vollbeschäftigung.
({3})
Sie reden nur und belasten die Arbeitnehmer in unerhörter Weise.
({4})
Die Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, haben - entsprechend ihrer Tradition - die Rentner in diesem Hause nie verunsichert.
({5})
Sie haben immer zu dem, was sie gesagt haben, gestanden.
({6})
Wir haben Renteneinkünfte, ein Rentenniveau erreichen können,
({7}) von dem Sie ja nur träumen.
({8})
Darum haben Sie seinerzeit die Angst gerade dieser älteren Bevölkerungsgruppe in unverantwortlicher Weise, ja in einer Weise geschürt,
({9})
die ich hier nur als unmoralisch bezeichnen kann. Wir werden uns also, Herr Kollege Seehofer, nicht daran beteiligen, die Rentner zu verunsichern,
({10})
sondern wir freuen uns, wenn jetzt auf Grund von Kalkulationsfehlern bei der Vorausberechnung jetzt eine Milliarde DM mehr verbucht werden kann. Das ist eine gute Sache.
({11})
- Sie werden noch durch das Höllenfeuer der Rentenfinanzierung gehen
({12})
und dann die negative Phantasie Ihres Ministers abdecken müssen; dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.
({13})
Wir erinnern uns alle noch an das Gezerre im Kabinett um die Anpassung der Renten im Frühsommer; das Ergebnis ist ja sehr mager: 1 %. Hier ist gesagt worden, es sei etwas mehr. Jedenfalls, es ist ein sehr, sehr mageres Ergebnis. Wir Sozialdemokraten haben die Renten in unserer Regierungszeit Gott sei Dank kräftig erhöhen können.
({14})
Wir haben, meine Damen und Herren, die finanzielle Situation der älteren Mitbürger nachhaltig verbessern können, wenngleich wir in den 70er Jahren - das wird hier gar nicht verschwiegen - natürlich schmerzliche Konsolidierungsmaßnahmen getroffen haben.
({15})
Wir haben dies aber unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit getan, Herr Kollege George.
({16})
Das finde ich bei Ihnen nicht. Und ich bleibe hier ganz, ganz sachlich.
({17})
Durch Ihre Politik, Herr Bundesarbeitsminister, verehrte Kollegen von der Koalition, gerät vieles in Gefahr, was in den letzten Jahren erreicht worden ist. Die Armut unter älteren Menschen nimmt zu. Sie kennen den Appell der großen Sozialorganisationen und Familienverbände in dieser Richtung. Schätzen Sie das nicht gering. Viele Kleinrentner werden wieder stärker auf die Sozialhilfe angewiesen sein. Ich kann Ihnen nur sagen: Dieses Ergebnis Ihrer Politik, Kollege Blüm, lehnen wir Sozialdemokraten ab.
({18})
Ich darf kurz in Erinnerung rufen, wie diese harten Eingriffe vorgenommen worden sind. Da war zunächst einmal die fällige Rentenanpassung um 5,6 % um ein halbes Jahr verschoben worden.
({19})
Dann kam der Krankenversicherungsbeitrag, den die Rentner selber aufzubringen haben. Schließlich haben Sie die Aktualisierung beschlossen. Das alles führt zu dauerhaften Verminderungen des Anpassungssatzes um 2 und mehr Prozent. Sie haben in das Sozialleistungssystem bei der Einschränkung der Berufs- und der Erwerbsunfähigkeitsrenten kräftig eingeschnitten. Und wenn Frauen mit 40 Versicherungsjahren - das ist das extremste Beispiel - nicht mehr, obwohl der Mediziner den Gesundheitszustand entsprechend beurteilt, Anspruch auf eine solche Rentenleistung haben, dann werden Sie damit sehr viele treffen, die ein fast erfülltes Arbeitsleben hinter sich haben.
({20})
Wenn diese Versicherten auf derartige Leistungen keinen Anspruch mehr haben, ist das doch soziale Demontage.
({21})
Hier treffen Sie ganz besonders die Familien und die Frauen. Es ist schon ein beispielloser Vorgang, was Sie hier gemacht haben. Für mich ist das unerhört.
Was die weitere Entwicklung angeht, so ist uns bekanntgeworden, daß Sie Herrn Stoltenberg bei der Reform der Hinterbliebenenversorgung nachgeben mußten - dort sollen 700 Millionen DM eingespart werden -({22})
und daß von Ihrer Seite die vorgezogene Rente für Frauen ab 60 Jahren geopfert werden soll. Das können Sie alles dementieren,
({23})
ich sage Ihnen, was mir bekanntgeworden ist.
({24})
Und wir werden uns darüber auseinandersetzen, meine Damen und Herren.
All dies wäre vermeidbar gewesen, sehr geehrter Kollege Blüm, wenn Sie nicht selber die Rentenfinanzen durcheinander gebracht hätten.
({25})
- Sie haben assistiert; wie könnte es anders sein? Andernfalls wären diese Eingriffe zu Lasten der Rentner nicht nötig gewesen. Der größte Sündenfall, den wir immer wieder anprangern werden, ist die Beschneidung der Rentenversicherungsbeiträge, die die Bundesanstalt für Arbeit für die Bezieher ihrer Leistungen während unserer Regierungszeit gezahlt hat. Das ist doch ein ganz entscheidender Punkt. Heute hat die Rentenversicherung dadurch, daß Sie das geändert haben, jährlich 5 Milliarden DM weniger an Einnahmen, ein gewaltiger
Aderlaß. Die Gewerkschaften sprechen bei Ihrer Sozialpolitik von einer sozialen Demontage.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Ja.
Herr Kollege Urbaniak, können Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß, wenn der Lohn die richtige Bemessungsgrundlage für die Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen ist, auch der Lohnersatz die richtige Bemessungsgrundlage ist, und würden Sie mir weiterhin zustimmen, daß, wenn Sie auf dem Weg, wie Sie ihn vorschlagen, 5 Milliarden DM von der Arbeitslosenversicherung in die Rentenversicherung transferierten, dieses Loch eben bei der Arbeitslosenversicherung aufträte?
Kollege Cronenberg, es kommt doch darauf an, die soziale Sicherheit vor den Konjunkturausschlägen möglichst zu bewahren.
({0})
Wir haben damals gemeinsam den Weg gefunden, eine solche Entwicklung zu betreiben. Ich sage hier: Nicht die soziale Sicherheit ist zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit. Und die müssen Sie bekämpfen.
({1})
- Nein. Wir sind dabei und haben eine ganze Reihe von Vorschlägen und ernst zu nehmender Gesetzentwürfe eingereicht. Wenn Sie sich denen zuwenden, werden wir mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit schneller fertig.
({2})
- Sie erzeugen Monat für Monat - wir bejubeln das doch gar nicht -, Herr George, zahlenmäßig mehr Arbeitslose, als die sozialliberale Koalition jemals gehabt hat. Sie sind im März ein Jahr an der Regierung. Wann wollen Sie eigentlich damit beginnen, daß eine dauerhafte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit spürbar und in allen Bereichen tatsächlich erfolgt? Das ist doch nicht zu erkennen.
({3})
Ich komme zum Schluß, Herr Kollege. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben uns in der vorigen Woche in der Ihnen eigenen Art gesagt: Wenn Oma und Opa wieder mehr zu sagen haben, brauchen wir vielleicht weniger Sozialarbeiter. Ich nehme diesen Satz zum Anlaß, Sie aufzufordern: Kümmern Sie sich mehr um Oma und Opa, damit den Rentnerinnen und Rentnern weitere Belastungen erspart bleiben! Das wäre Ihre Aufgabe.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber und - ich füge hinzu - verehrter Herr Kollege Glombig, ich möchte zu einigem, was Sie in Ihrer zweigeteilten Rede ausgeführt haben, etwas sagen; nicht zum ersten Teil - das war die Abteilung Polemik -, aber zum zweiten Teil, wo Sie sich wirklich mehr den Sachfragen zugewandt haben: Wer eine Rentenniveauabsenkung dieses Ausmaßes während Ihrer Regierungszeit vorgenommen hat, der sollte zu diesem Teil hier nicht eine solche Rede halten.
({0})
Und Sie sollten, Herr Kollege Glombig, auch nicht glauben - selbst wenn Sie es nicht mehr hören können, muß es wiederholt werden -, daß eine 13jährige Mißwirtschaft einschließlich des ordnungspolitischen Durcheinanders, das Sie hinterlassen haben, es doch einfach nicht zuläßt, daß wir dies alles in einem einzigen Jahr in Ordnung bringen.
({1})
- Das ist leider nicht zulässig, Kollege Heyenn. Ich glaube, der Präsident würde das unterbinden.
({2})
Das gilt auch vor allem, Kollege Glombig, für den Bundeszuschuß. Sie können ganz sicher sein: Wir werden nach einem Schuldenteilabbau auch das mit dem Bundeszuschuß in Ordnung bringen.
({3})
Kollege Urbaniak, nur eines zu Ihrer Behauptung, daß der Finanzminister 700 Millionen DM bei der Hinterbliebenenrente kürzen oder abziehen will. Das ist so etwas mit den Zahlen bei den Sozialdemokraten! Wie gehabt.
({4})
- Entenfabrikation; ja.
Ich will nun für meine Fraktion einen Beitrag zum Rentenanpassungsbericht leisten.
({5})
Denn der Rentenanpassungsbericht 1983 ist ein erfreuliches Dokument, in dem sich die Sanierungspolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der CDU/CSU-FDP-Koalition deutlich zeigt. Der Bericht weist sowohl im Leistungsteil wie in den Teilen, die die mittel- und langfristige Finanzentwicklung behandeln, positive Aspekte auf.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Heyenn?
Nein, ich möchte das Konzept jetzt ganz vortragen. Ich habe nur eine begrenzte Redezeit.
({0})
- Das gilt für alle.
Dieser Rentenanpassungsbericht zeigt weiter, daß mittel- und langfristig die Rentner und Versicherten sicher sein können, daß sie die mit hohen Beiträgen erworbenen Ansprüche auch auf lange Sicht erhalten werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Rentenanpassungsbericht zeigt, daß die Renten sicher sind. Dies ist eine erfreuliche Tatsache.
In den Berechnungen über die mittel- und langfristige Finanz- und Liquiditätslage der Rentenversicherung sind die Sanierungsgesetze - das Haushaltsbegleitgesetz 1983 und das Haushaltsbegleitgesetz 1984 - mit ihren zugegeben teilweise schmerzhaften Maßnahmen berücksichtigt. Sie zeigen ihre positiven Wirkungen auf die Finanzlage. Eine Situation, die seit Jahren erhofft worden ist, die lange ausgeblieben ist, die aber nach der Übernahme der Regierung durch Bundeskanzler Kohl verwirklicht werden konnte.
({1})
Meine Damen und Herren, der Bericht zeigt weiter, daß in diesem Jahr in einigen Monaten noch gewisse Liquiditätsprobleme auftreten können, aber Mittel und Maßnahmen bereitstehen, diese zu überwinden.
Kollege Glombig, Sie haben das eben im Zusammenhang mit dem Präsidenten der BfA dargestellt. Dazu kann ich nur sagen: Ich hatte da eine andere Einschätzung. Wir waren offensichtlich in zwei verschiedenen Sälen. Er hat nämlich gesagt, daß die Liquiditätsprobleme, die sich aus der Vorausschätzung des Jahres 1983 ergeben, erheblich eingedämmt sind, und daß die Rentenversicherungsträger möglicherweise nur ganz geringe Beträge benötigen, um die Liquiditätsprobleme zu lösen.
Meine Damen und Herren, der Rentenanpassungsbericht 1983 informiert das Parlament zum 26. Mal seit der von der CDU/CSU initiierten und durchgesetzten Rentenreform 1957 über die finanzielle Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Wie in den bisherigen Rentenanpassungsberichten werden sowohl die nächste Rentenanpassung - also: Rentenerhöhung - im Jahre 1984 begründet, als auch finanzielle Modellrechnungen für den mittelfristigen Zeitraum von 1983 bis 1987 und für einen 15-Jahres-Zeitraum von 1983 bis 1997 vorgelegt.
Meine Damen und Herren, ein Teil des Sozialbeirats, dessen Gutachten dem Rentenanpassungsbericht beigefügt ist, weist zwar unter dem verteilungspolitischen Aspekt darauf hin, daß die faktische Erhöhung der Renten zum 1. Juli 1984 unter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten und der Zunahme der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer liegen dürfte, andere Mitglieder des Sozialbeirats weisen aber zu Recht darauf hin, daß es auf das Nettorenteniveau ankomme, das nicht abgesunken sei, und sie weisen darauf hin, daß die Jahresdurchschnittserhöhung gesehen werden müsse, die deutlich höher ausfalle.
Lassen Sie mich nun einige Aussagen zu den mittelfristigen Aspekten der Finanz- und Liquiditätslage der Rentenversicherung machen. Der Rentenanpassungsbericht 1983 geht von einer Schwankungsreserve von 13,9 Milliarden DM Ende 1983 aus. Das sind 1,3 Monatsausgaben. Die Beitragsentwicklung war allerdings insbesondere in den letzten Monaten des Jahres 1983 günstiger als erwartet, was wir sicher alle begrüßen, so daß die Schwankungsreserve Ende Dezember 1983 gut 15 Milliarden DM betrug und 1,4 statt 1,3 Monatsausgaben als Reserve zu verzeichnen waren.
In bezug auf die Annahmen, mit denen jede Vorausschätzung steht und fällt, geht der Rentenanpassungsbericht für 1984 von 3,8 % und für die Jahre 1985 bis 1987 von 4,6% Bruttoentgeltsteigerung aus. Bei dieser Annahme errechnet sich eine Erhöhung der Schwankungsreserve bis 1987 auf 22 Milliarden DM oder 1,9 Monatsausgaben. Wenn man - dies will ich gerne hinzufügen - wie die Rentenversicherungsträger und wie die Pessimisten mit einer geringeren Lohnsteigerungsannahme von 3,4% im Jahre 1984 und 3,5% in den Folgejahren eine vorsichtigere Rechnung aufmacht, steigt die Schwankungsreserve trotzdem ab 1984 wieder an, wenn auch wesentlich langsamer. Meine Damen und Herren, die Berechnungen zeigen: Es besteht kein Grund zur Panik. Sie zeigen aber auch, daß die Sanierung der Rentenfinanzen noch nicht völlig abgeschlossen ist und daß sich an die Akutphase der Sanierung, die wir jetzt wohl hinter uns haben, eine Konsolidierungs- und Reformphase anschließen muß.
Wir wissen, daß wir den Rentnern mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984, aber auch mit dem letzten Rentenanpassungsgesetz erhebliche Opfer abverlangt haben. Diese Opfer waren aber notwendig, um die Erblast, die uns auferlegt worden war, abzutragen und die pünktliche Rentenzahlung 1983 und 1984 zu gewährleisten. Trotz erheblicher Einschnitte der sozialliberalen Koalition in das Rentenrecht haben wir eine miserable Situation in der Rentenversicherung vorgefunden, eine Situation, die mein Kollege Franke in früheren Jahren in den Beratungen zum Rentenanpassungsbericht immer wieder deutlich gemacht hat.
({2})
- Ja, er hat auch noch viel hinzugefügt; er hat sich nie auf diese Dinge beschränkt.
({3})
Das ist völlig richtig; ich stimme Ihnen ausnahmsweise zu.
Um dies klar zu sagen und um Mißverständnissen entgegenzuwirken: Die Regierung Schmidt hat den Rentnern durch ihre Sanierungsgesetze seit 1978 - einschließlich des Rentenanpassungsgesetzes 1982 - Renteneinbußen von insgesamt 10,9 % zugemutet. Herr Kollege Glombig, ich bleibe noch unter Ihrer Zahl!
({4})
Dagegen hat die neue Regierung Kohl den Rentnern bis einschließlich 1984 trotz der einschneidenGünther
den - so will ich sie nennen - Notmaßnahmen nur 4,9% an weiteren Opfern abverlangt.
({5})
- Meine Damen und Herren, es ist gut, daß Sie nicht drangeblieben sind;
({6})
dann wäre das alles noch viel schlimmer geworden.
({7})
Zu den langfristigen Vorausberechnungen der Rentenfinanzen - auch dazu will ich noch einiges sagen - ist anzumerken, daß sich ab 1990 die Geburtenentwicklung stärker bemerkbar macht, daß sich die Relation zwischen Beitragszahlern und Rentnern verschlechtert und daß die höhere Lebenserwartung und die steigende Zahl eigener Rentenansprüche von Frauen in den Finanztableaus negativ wirken. So gewichtig die einzelnen Risikofaktoren auch für die zukünftige Finanzlage der Rentenversicherung sind, so wenig besteht Anlaß, die zukünftige Situation der Rentenversicherung zu dramatisieren. Eine vernünftige, solide Wirtschafts-und Finanzpolitik, die ein höheres Wachstum und einen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit bewirkt, wird auch die langfristige Situation der Rentenfinanzen wieder in einem günstigen Licht erscheinen lassen.
Schon jetzt zeigt sich, daß die Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung, auch die langfristigen Probleme, lösbar sind. Allerdings müssen - dies ist und wird geschehen - Sanierungs- und Reformmaßnahmen frühzeitig und konsequent ergriffen und durchgeführt werden.
Wir haben uns in der Vergangenheit bei der Gestaltung des Rentenrechts durch die langfristigen Vorausberechnungen teilweise reichgerechnet, indem wir günstige Entwicklungen, etwa Lohnannahmen, einfach fortgeschrieben haben. Ich erinnere an das Rentenreformgesetz von 1972. Meine Damen und Herren, man darf aber auch nicht den Fehler machen, daß man sich, indem man negative Trends fortschreibt, armrechnet und in diesem Zusammenhang einer Übersanierung das Wort redet. Die Bundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen keine Übersanierung, denn das System der beitragsbezogenen, leistungsorientierten Rente hat sich insgesamt bewährt und sollte intern erhalten bleiben.
Bei einer vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik, flankiert von einer - dies will ich besonders betonen - wirkungsvollen Familienpolitik, ist das System langfristig zu erhalten. Voraussetzung ist allerdings, daß spektakuläre Leistungsverbesserungen unterbleiben. Wir können es uns nicht leisten - denn dies würde mit Sicherheit das System sprengen -, die Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung um einige Jahre abzusenken oder großzügige Ausweitungen der beitragslosen oder der beitragsgeminderten Zeiten durchzuführen.
Das System der gesetzlichen Rentenversicherung muß weiter konsolidiert und in einigen Teilen reformiert werden. Reformbereiche sind beispielsweise die vom Bundesverfassungsgericht auferlegte Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung und die Neubewertung der beitragslosen und der beitragsgeminderten Zeiten, eine Neuregelung, die ebenfalls - wie die Lösung des erstgenannten Problems - möglichst kostenneutral durchgeführt werden müßte.
({8})
Wer meint, da zulegen zu können, oder mit neuen Belastungen kommt, macht die Fehler der Vergangenheit. Jede Leistung muß finanziert werden. Das will ich besonders denen sagen, die immer meinen, daß der liebe Gott am Ende schon alles regele.
Eines der schwierigsten Probleme wird der notwendige Einbau einer bevölkerungspolitischen Komponente in die Rentenformel sein. Die Last, die sich aus der Bevölkerungsentwicklung für die mit dem Umlageverfahren arbeitenden Rentenversicherungsträger ergibt, kann weder von den Rentnern allein noch von den Beitragszahlern allein getragen werden. Solche extremen Lösungen, wie sie in den „Prognos"-Zahlen zum Ausdruck kommen - da ist ja bis zum Jahr 2030 von 35% Beitragssatz oder der Halbierung des Rentenniveaus die Rede -, sind weder politisch durchsetzbar noch akzeptabel. Rentenkürzungen erheblichen Ausmaßes werden von uns ebenso abgelehnt wie massive Beitragserhöhungen für die Versicherten.
Bis 1990 ist nach den Berechnungen im übrigen genügend Zeit - Frau Fuchs, Sie sind dazu herzlich eingeladen -, eine bevölkerungspolitische Komponente zu entwickeln und in die Rentenformel einzubauen, damit die dann auftretenden demographischen Belastungen gerecht auf Rentner und Versicherte verteilt werden können. Es wäre wünschenswert, wenn insbesondere die wohl unumgängliche Änderung der Rentenformel, aber auch die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Änderung der Besteuerung der Alterseinkünfte - die man in dem Strukturreformgesetz verbinden könnte - in diesem Parlament mit möglichst breitem Konsens verabschiedet werden könnten. Wir können uns über vieles lauthals streiten. Aber lassen Sie uns die Rentenprobleme möglichst gemeinsam lösen.
({9})
In dieser wichtigen Frage geht es nämlich um ein Stück sozialen Frieden, den wir j a wohl alle erhalten wollen. Ich wünsche mir, daß die Sachkenner der Opposition hier viel Spielraum bekommen. Dabei könnten auch einige Probleme der Harmonisierung der Alterssicherungssysteme mit gelöst werden.
Ich muß - die Lampe leuchtet - zum Schluß kommen. Ich denke, sowohl die Regierung wie auch die Koalitionsfraktionen sind in der Tat in der Lage, die Probleme zu lösen. Sie sind jedenfalls fest dazu entschlossen. Ich hoffe, daß wir am Ende doch noch
eine gemeinsame Rentenkoalition zustande bekommen.
Wir nehmen allerdings für uns in Anspruch, daß nach Jahren der Unsicherheit in wenigen Monaten wieder mehr vertrauensvolle Ruhe an der Rentenfront erreicht werden konnte. - Vielen Dank.
({10})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und 4 b an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
({0})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
- Drucksache 10/908 Es liegen Dringliche Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz von Herrn Abgeordneten Dr. Emmerlich vor:
Wie können sich die Kunden von Banken und Sparkassen noch vor dem 31. Januar 1984 dagegen schützen, daß ihre Bank/Sparkasse infolge der zum 1. Januar 1984 eingetretenen Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen an Dritte Auskunft über ihre Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit erteilt, und zwar ohne daß ihnen durch einen etwaigen Widerspruch oder andere Maßnahmen rechtliche oder auch geschäftliche Nachteile entstehen?
Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Erhard anwesend. Ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Emmerlich, ich beantworte Ihre erste Frage wie folgt: Bei einer laufenden Geschäftsbeziehung, wie sie zwischen Kreditinstituten und ihren Kunden besteht, ist eine einseitige Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht zulässig. Jede Änderung wird vielmehr nur dann verbindlich, wenn der Kunde nach Unterrichtung über sie nicht binnen eines Monats widerspricht. Zu diesem Zweck sind die Bankkunden von den Kreditinstituten über die Neufassung der AGB Bank - also der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bank - unterrichtet worden, so daß sie gegebenenfalls innerhalb der Monatsfrist der Änderung der AGB bzw. einzelner Klauseln widersprechen können.
Zu rechtlichen Nachteilen dürfte ein derartiger Widerspruch für den Kunden nicht führen. Ob sich im Einzelfall z. B. bei einem Kaufmann wirtschaftliche Nachteile ergeben können, wird von ihm sorgfältig zu prüfen sein. Der Bankkunde sollte jeweils überlegen, ob das Verbot der Erteilung von Auskünften nicht seine Bonität im Geschäftsverkehr beeinträchtigen könnte. Diese Entscheidung kann die Bundesregierung dem Bankkunden nicht abnehmen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, in welcher Form die Bekanntgabe der Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen an den einzelnen Bankkunden erfolgen muß, insbesondere ob ein bloßer Aushang der veränderten Geschäftsbedingungen ausreicht, und wie Sie, wenn das so ist, einen solchen Sachverhalt vor dem Hintergrund unserer Vertragsfreiheit bewerten?
Herr Kollege Emmerlich, es läßt sich diesbezüglich mit Sicherheit keine einheitliche Praxis der Banken, die festliegt, darstellen. Es wird darauf ankommen, daß der Kunde Gelegenheit hat, von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Kenntnis zu erlangen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß Banken und Sparkassen bei einem Widerspruch ihrer Kunden gegen die neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen wirtschaftliche Sanktionen ergreifen, indem sie z. B. den Zinssatz für das Konto oder für den Kredit gegenüber dem allgemeinen Zinssatz erhöhen?
Herr Kollege Emmerlich, ich halte das für ausgeschlossen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt ({0}).
Herr Staatssekretär, muß ich Sie etwa so verstehen, daß Sie die Kunden der Banken davor warnen, ihre spezifischen Datenschutzinteressen wahrzunehmen, weil das eventuell ökonomische Nachteile zur Folge haben könnte?
Nein, ich will niemanden warnen, sondern es gehört zum allgemeinen Geschäftsverkehr unter Menschen dieser Gesellschaft, sich über ihre eigenen Rechte zu unterrichten. Daß das jeder tun sollte, halte ich für selbstverständlich. Wenn einer das übersehen haben sollte, dann allerdings ist es ein Element, ihn darauf aufmerksam zu machen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Bindig.
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung denn die Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken und die Auskunftspraxis im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Bundesdatenschutzgesetz und dem AGB-Gesetz rechtspolitisch?
Herr Kollege, das ist der Gegenstand der nächsten Frage.
({0})
- Gut.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Martiny.
Herr Staatssekretär, welche Haltung nimmt die Bundesregierung bei der Abwägung folgender Interessen ein: Hält sie es für vertretbar, sämtlichen Sparkassen- und Bankkunden diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen mit der Durchleuchtung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse zuzumuten, nur, um einige wenige, nicht vertrauenswürdige Kunden dabei herauszufiltern, oder würde sie eher den Banken und Sparkassen zumuten, ein ihnen riskant erscheinendes Kreditgeschäft nicht zu machen?
Die Bundesregierung hält es für zweckmäßig, sich in die einzelnen Geschäftsbeziehungen von Banken oder von verschiedenen Banken zu ihren Kunden nicht einzumischen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten de With.
Wie bewertet die Bundesregierung den Unterschied des ab 1. Februar dieses Jahres selbst geschaffenen Rechts der Banken und Sparkassen zu dem bis dahin geltenden oder üblichen? Ist er gravierend oder nicht?
Herr Kollege de With, es ist einem Mitglied der Bundesregierung nicht möglich, Rechtsauskünfte tiefschürfender Art aus dem Stande zu geben und gleichzeitig sicher zu sein, daß die Auskunft richtig ist. Deshalb bin ich der Auffassung, sollte man die Rechtsproblematik für jeden Einzelfall den Gerichten überlassen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, da alle Banken und Sparkassen ja wortgleich übereinstimmende Bedingungen haben, gilt denn der Grundsatz der Nichteinmischung der Bundesregierung, den sie soeben dargestellt haben, auch dann, wenn alle Kreditinstitute auf den Widerspruch ihrer Kunden gegen die geänderten Bedingungen übereinstimmend damit reagieren würden, daß sie sagen: Dann lösen wir die Bankverbindung auf?
Herr Kollege Hirsch, Sie wissen, daß das eine rein spekulative Frage ist.
({0})
Ich halte es für gänzlich ausgeschlossen, daß sämtliche Banken ihre Bankverträge mit den Kunden auflösen werden. Selbst wenn noch soviel an Widersprüchen gegen Allgemeine Geschäftsbedingungen
und an sonstigen Problemen vorhanden wäre, das würde bestimmt nicht die Folge sein. Denn die Banken wollen Geld verdienen.
Zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Staatssekretär, können Sie mir vielleicht sagen, auf welchen rechtlichen Grundlagen die bisherige Auskunftspraxis fußt? Denn von den Banken wird ja gesagt, daß sich de facto nichts verändert habe, obwohl de jure deutlich und sichtbar eine Änderung eingetreten ist.
Auskünfte, die Banken geben, bedürfen grundsätzlich keiner zusätzlichen Rechtsgrundlage über das allgemein geltende Recht hinaus. Das, was Ihr Anliegen ist, was der Bundestag will und was wir wollen, ist, daß allgemeine Regeln beschränkender Art beachtet werden müssen, soweit solche Beschränkungen da sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Meininghaus.
Herr Staatssekretär, wie kann sich denn ein Bankkunde dagegen schützen, daß die Bank gegen seinen Willen und ohne seine Kenntnis Auskunft über seine Kreditwürdigkeit erteilt, ohne daß der Kunde das Vertragsverhältnis insgesamt löst?
Zunächst wird der Kunde von der Mitteilung über seine Kreditwürdigkeit nichts erfahren, so daß er sich auch nicht wehren kann. Wenn er davon erfährt und unrichtige Aussagen gemacht worden sind, steht ihm der Rechtsweg offen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht im Anzweifeln der jetzigen Bankauskunftsregelung einen Widerspruch darin, daß wir gleichzeitig ein neues Bilanzrichtliniengesetz bekommen, in dem die Veröffentlichungspflicht der gesamten Bilanzen und damit der Zugang der Öffentlichkeit zur Bilanz vieler Unternehmen gefordert ist?
Ich muß die Frage mit einem eindeutigen Nein beantworten. Die Veröffentlichung von Bilanzen ist durchaus etwas anderes als die Auskunft über die Kreditwürdigkeit eines Menschen auf Grund der Erkenntnisse der Bank.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kübler.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin geantwortet, daß Sie der Auffassung seien, daß sich die Bundesregierung nicht in die Verhältnisse zwischen den Banken und dem Kunden einmischen sollte. Würden Sie diese Aussage aufrecht
erhalten, wenn dieses Verhältnis durch ein einseitiges Übergewicht der Banken zu stark belastet wäre, und würden Sie diesen Fall in diesem Falle nicht unterstellen?
Hypothetische Fragen mit einer Unterstellung über Entwicklungen, Herr Kollege, die niemand sehen kann, lassen sich auch nicht zuverlässig beantworten.
Wir kommen zur zweiten Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich:
Hat die Bundesregierung die Möglichkeit, z. B. über die Bankaufsicht, noch bis zum 31. Januar 1984 dafür zu sorgen, daß die nach Auffassung von Datenschutzbeauftragten gegen das Bundesdatenschutzgesetz und nach Auskunft anderer Fachleute gegen das AGB-Gesetz verstoßende Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen über die Kreditauskunft wieder rückgängig gemacht wird?
Herr Kollege Emmerlich, ich beantworte Ihre Frage wie folgt.
Die Bundesregierung kann auf die Ausgestaltung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Kreditinstitute keinen Einfluß nehmen. Diese unterliegen insoweit keiner besonderen staatlichen Kontrolle oder Genehmigungspflicht. Es besteht lediglich eine Pflicht zur Anmeldung dieser für alle Kreditinstitute einheitlichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen gemäß § 102 des Kartellgesetzes ({0}) beim Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, das hiervon das Bundeskartellamt zu unterrichten hat. Das Bundeskartellamt hat seinerseits eine begrenzte Befugnis zum Einschreiten gegen kartellrechtliche Mißbräuche, hat seither hierfür jedoch bislang keine hinreichende Grundlage gesehen. Ob die bisherige Praxis der Kreditinstitute beim Bank-auskunftsverfahren oder die neue Klausel der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bank über Auskünfte mit dem Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und dem Datenschutzgesetz in Einklang steht, kann verbindlich nur von den zuständigen Gerichten geklärt werden.
Es wäre zu begrüßen, wenn zwischen den Datenschutzbehörden und den Spitzenverbänden der Kreditwirtschaft geklärt würde, wie etwaige datenschutzrechtliche Bedenken gegen das derzeitige Verfahren bei der Erteilung von Bankauskünften ausgeräumt werden können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, nach meinen Informationen hat der Bundesjustizminister erklärt, die veränderten Allgemeinen Geschäftsbedingungen seien rechtlich anfechtbar. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre jetzige Auskunft mit dieser Erklärung des Bundesjustizministers nicht in Übereinstimmung steht?
Herr Kollege Emmerlich, ich habe Ihnen die mit dem Herrn Bundesminister der Justiz persönlich abgestimmte Erklärung der Bundesregierung soeben bekanntgegeben. Wenn es andere Erklärungen gibt, beruhen sie möglicherweise auf einem Mißverständnis.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, halten Sie eigentlich eine Bankaufsicht für ausreichend, die nicht vorab klärt, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen der Banken gegen Gesetze verstoßen und infolgedessen nichtig sind, und sehen Sie selbst es nicht als unzulänglich an, wenn Sie auf eine nachträgliche Inanspruchnahme der Gerichte durch den einzelnen Bankkunden verweisen müssen?
Herr Kollege Emmerlich, es gibt viele Fälle, in denen man pesönlich oder auch gruppenweise gewisse Zweifel am Ausreichen der Struktur unserer Rechtsordnung an einzelnen Stellen haben kann. Für die Bundesregierung gibt es bisher keinen Grund, in das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und das Kartellrecht zusätzlich Erschwerungen einzubauen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, darf ich mir noch einmal erlauben, Sie zu fragen, ob Bilanzen nicht ein entscheidendes Kriterium für die Kreditfähigkeit eines Unternehmens oder eines Unternehmers sind, und habe ich Sie vorhin richtig verstanden, daß Sie sagen, dies sei nicht vergleichbar mit der jetzt beurteilten Frage der Kreditwürdigkeit anderer Personen?
Herr Kollege, ich bleibe dabei, daß eine Bilanz so, wie sie zu veröffentlichen ist, andere Auskünfte für den ermöglicht, der sich die Bilanz anschaut, als die Auskunft einer Bank, die z. B. zehn Monate nach dem Datum der Erstellung der Bilanz und ihrer Veröffentlichung erfolgt, die eine ganz konkrete Erfahrung einer bestimmten Bank zum Gegenstand hat; das ist etwas anderes.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Kollege, halten Sie es nicht für inhaltlich unangemessen, wenn in einem Konditionenkartell eine Bank sich auch das Recht verschaffen will, Kreditauskünfte zu geben, ohne vorher die Zustimmung ihres Kunden einzuholen, und sich außerdem dann auch noch in der Haftung auf grobes Verschulden freizeichnet?
Herr Kollege Hirsch, ich habe gesagt, daß die Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bank - die alten wie die neuen - für den Fall, daß jemand Bedenken hat, der Entscheidung der einzelnen Gerichte unterliegen; sie haben zu entscheiden, was Rechtens oder Unrechtens ist. Wie soll es eigentlich anders sein können?
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Bachmaier.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie bislang den aus Ihrer Sicht gegebenen faktischen Zustand beschrieben haben, darf ich Sie um Beantwortung der Frage bitten, wie die Bundesregierung politisch unter Berücksichtigung des AGB-Gesetzes und des Bundesdatenschutzgesetzes diesen Vorgang bewertet.
Ich habe keine Veranlassung, eine zusätzliche Erklärung zu den bis jetzt gegebenen abzugeben; es ist nur eine Wiederholung von dem möglich, was ich bis jetzt gesagt habe, Herr Kollege.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Martiny.
Herr Staatssekretär, Sie haben mir auf meine Frage eben geantwortet, daß sich die Bundesregierung nicht in die Geschäfte zwischen Banken und Kunden einmischen möchte. Dafür könnte man noch ein gewisses Verständnis haben. Nun gibt es aber auch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. Dieses hat im wesentlichen die Aufgabe, darüber zu wachen, daß es nicht zu Bankzusammenbrüchen kommt. Hätte es nach Meinung der Bundesregierung nicht auch die Aufgabe, für ein machtmäßiges Gleichgewicht zwischen der Anbieter- und der Verbraucherseite auf dem Gebiet von Krediten zu sorgen?
Die Bundesregierung ist der Meinung, daß das Gleichgewicht besteht.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With.
Nachdem die Bundesregierung nach Ihrer Aussage ganz offenbar keine direkte Eingriffsmöglichkeit sieht und, wie ich soeben gehört habe, auch von einem Gleichgewicht spricht, andererseits aber durch diese Änderungen die Banken ihre Haftung auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt und sich dabei die weitestgehende Auskunftsmöglichkeit zugesichert haben, die ich kenne, frage ich: Sieht die Bundesregierung unter diesem Aspekt nicht die Pflicht, mit den Beteiligten zumindest ein Gespräch zu führen und darauf hinzuwirken, daß es wieder zu einer Einschränkung kommt?
Die Bundesregierung und auch die Banken sind dazu bereit. Soviel ich weiß, ist auch ein Gespräch in Aussicht genommen.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Meininghaus.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen einschalten, um die Regelung der Bankenauskunft mit dem Bundesdatenschutzgesetz und dem AGB-Gesetz abzustimmen?
Ich habe soeben Dr. de With gesagt, daß die Bundesregierung daran interessiert ist, daß die Beteiligten - Bankenaufsicht und Datenschutz - mit den Banken und ihren Verbänden die Dinge klären.
Der Herr Kollege Bindig möchte noch etwas fragen.
Herr Staatssekretär, steht denn die Bundesregierung schon in Kontakt mit den Banken, um diese Gespräche zu führen?
Herr Kollege, gestern abend gingen die Dringlichen Fragen im Bundesministerium der Justiz ein. Heute früh haben wir uns mit den Dingen beschäftigt. Gegen Mittag habe ich mit den zuständigen Beamten gesprochen, die mir mitgeteilt haben, die Banken seien interessiert und das Ministerium stehe mit den Verbänden der Banken in ständigem Kontakt.
({0})
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rapp.
Herr Staatssekretär, was kann denn der Gegenstand dieses Gespräches sein, von dem Sie sagten, daß es in Aussicht genommen sei, wenn Sie hier bereits erklärt haben, daß durch die Veränderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen jetzt das Gleichgewicht hergestellt sei?
({0})
Herr Kollege Rapp, ich weiß nicht, was Sie verstanden haben. Ich habe solches nicht erklärt, sondern ich habe gesagt, es bestünde zwischen Anbieter- und Nachfrageseite ein Gleichgewicht. Das habe ich gesagt.
Nun sind wir am Ende der Dringlichkeitsfragen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich brauche nicht aufzurufen den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, denn alle noch offenen Fragen aus der gestrigen Fragestunde sind von den Fragestellern zur schriftlichen Beantwortung erbeten worden. Es handelt sich um die Fragen 39 und 40 des Abgeordneten Stutzer, Frage 41 des Abgeordneten Kirschner, Fragen 42 und 43 des Abgeordneten Müller ({0}) sowie die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten Dr. Rose. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Herr Staatsminister Möllemann steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die erste Frage ist die Frage 6 des Abgeordneten Dr. Hupka.
Worin liegen die Gründe, daß bisher keine Vereinbarungen über die Pflege deutscher Kriegsgräber und die Instandsetzung von Gräberanlagen mit der Volksrepublik Polen getroffen werden konnten, und ist die Bundesregierung bereit, dieses menschenrechtliche Thema in die Gespräche und Verhandlungen mit Polen wieder einzuführen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Hupka, der Abschluß von Vereinbarungen zur Pflege und Instandsetzung von deutschen Kriegsgräbern ist bisher an der unverändert ablehnenden polnischen Haltung gescheitert, die mit den Erinnerungen der polnischen Bevölkerung an die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges begründet wird. Gleichwohl hat sich die Bundesregierung seit Jahren darum bemüht, durch Gespräche und Verhandlungen bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei der polnischen Seite Verständnis für dieses Problem zu gewinnen. Eine Auflockerung oder Änderung der polnischen Haltung war bisher allerdings nicht zu erkennen.
Bundesaußenminister Genscher hat daraufhin seine Gespräche anläßlich der Konferenz in Stockholm genutzt, um mit seinem polnischen Kollegen Olszowski dieses Thema erneut anzusprechen. Dieser hat insbesondere im Blick auf den Vorschlag des Bundesaußenministers, diese Frage möge doch einmal in Kürze zwischen dafür geeigneten Organisationen erörtert werden, z. B. auf unserer Seite dem Deutschen Roten Kreuz, zugesagt, daß er diesen Vorschlag prüfen will.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Nehmen Sie, Herr Staatsminister, auf Grund der bisherigen Erfahrungen an, daß man hier vor allem zwischen dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge und einem Partner in der Volksrepublik Polen überhaupt zu einem Gespräch kommen wird; denn es ist doch mißlich, daß hier lediglich auf die ehrenamtliche Pflege von etwa 8 000 Soldatengräbern, vor allem in Oberschlesien, zurückgegriffen werden kann und daß dann die Pfleger noch Gefahr laufen, zum Staatssicherheitsdienst zitiert zu werden?
Die Bundesregierung hofft jedenfalls, daß es auf Grund des Gesprächs, das Bundesaußenminister Genscher mit Außenminister Olszowski geführt hat, zu solchen direkten Kontakten mit den dafür vorgesehenen Organisationen kommen wird, damit eine befriedigendere Regelung als die bisherige - bisher gibt es nämlich keine - gefunden werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, Sie haben sich zur Begründung auf die Kriegsereignisse bezogen. Wäre dann nicht schon zu empfehlen, daß die Volksrepublik Polen hier zumindest ähnlich handelt wie jetzt die Sowjetunion, die drei Soldatenfriedhöfe dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge zur Pflege benannt hat?
Die Bundesregierung argumentiert natürlich gegenüber allen Staaten in der vergleichbaren Situation gleich. Im übrigen: das Argument, das ich vorgetragen hatte, Herr Kollege Hupka, war nicht das Argument der Bundesregierung, sondern das ist die Argumentation der polnischen Seite.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Becker ({0}).
Herr Staatsminister, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß bei dem Besuch einer Delegation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei hier dieses Thema besprochen worden ist, daß es auf polnischer Seite Gesprächsbereitschaft gibt und daß wir versuchen wollen, im Mai auf dieser Ebene ein solches Gespräch zustande zu bringen, um in der Sache weiterzukommen?
Ich glaube, daß aus der Sicht der Betroffenen und ihrer Familien und all derer, die dieses Problem als drängend empfinden, jede solcher Bemühungen, von welcher Seite auch immer - selbstverständlich auch von der Seite der sozialdemokratischen Fraktion -, nur als hilfreich empfunden werden kann.
Ich rufe jetzt die Frage 7 des Abgeordneten Hupka auf:
Kann die Bundesregierung die Nachricht bestätigen, daß die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tokio „aus politischen Gründen die Präsentation der Wehrtechnik" auf der deutschen Leistungsschau ({0}) „verhindert hat" ({1}), und welches sind bejahendenfalls die Gründe hierfür?
Herr Kollege Hupka, die Bundesregierung beantwortet Ihre Frage mit Nein. Die von Ihnen erwähnte Zeitungsnachricht ist unzutreffend.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, gibt es irgendwelche Zusammenhänge, die dem Journalisten, Herrn Peter Oldrich, von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung es eingegeben haben, so zu berichten?
Ich kann nicht erkennen, warum ein einzelner Journalist einen unzutreffenden Bericht schreibt. Ich kann nur feststellen: der Bericht ist unzutreffend.
Noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich daraus folgern, daß während dieser Ausstellung, die am 23. April 1984 eröffnet werden wird, auch die Wehrtechnik präsentiert wird?
Die Bundesregierung nimmt auf die Auswahl der Ausstellungsstücke keinen Einfluß, schon gar nicht auf dem Wege, der in dem hier von Ihnen angesprochenen Bericht beschrieben wird. Es gibt allerdings bislang keine Anträge auf eine entsprechende Exportgenehmigung von bestimmten wehrtechnischen Gütern. Ich kann aber nicht ausschließen, daß solche Anträge noch
gestellt werden. Im Einzelfall würde zu entscheiden sein, wie sich die Bundesregierung dazu stellt. Sie wissen, daß Japan in der Frage der Rüstungsexporte im übrigen in gewisser Weise wie die Länder behandelt wird, die der NATO gleichgestellt sind. Das würde bei einer solchen Entscheidung sicherlich berücksichtigt werden.
Ich rufe die Frage 8 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung Ausführungen des sowjetischen Verhandlungsführers bei den Genfer INF-Gesprächen ({0}), die Bundesregierung habe mittels manipulativer Maßnahmen im November 1983 eine denkbare Einigung der Verhandlungsmächte zunichte gemacht, nach der unter der Voraussetzung des Verzichts auf westliche Nachrüstung die Sowjetunion 572 Sprengköpfe auf Mittelstreckenraketen zu liquidieren gehabt hätte und der verbliebene Rest als ungefähres Gegengewicht zu den britischen und französischen Mittelstreckenpotentialen verstanden worden wäre?
Herr Kollege Schreiner, die von dem sowjetischen INF-Verhandlungsführer in dem genannten Artikel gegebene Darstellung der in Ihrer Frage angesprochenen Vorgänge bei den Genfer INF-Verhandlungen vom November 1983 trifft nicht zu. Die USA haben die Bundesregierung im November sofort vom wirklichen Sachverhalt unterrichtet. Sie haben diesen Sachverhalt inzwischen auch wiederholt öffentlich dargestellt. Danach ist folgendes festzustellen.
Erstens. Nicht Botschafter Nitze, also der amerikanische Verhandlungsführer, sondern Botschafter Kwizinsky hat am 13. November vergangenen Jahres den Gedanken einer beiderseitigen gleichen Reduzierung um 572 Gefechtsköpfe für die USA und die Sowjetunion zur Diskussion gestellt und dabei zum Ausdruck gebracht, die Sowjetunion könne einen solchen Vorschlag akzeptieren, falls er von den USA unterbreitet werde. Einige Tage später hat Botschafter Semjonov der Bundesregierung ein Papier übergeben, das im wesentlichen die gleiche Überlegung enthielt, allerdings als Autor Botschafter Nitze bezeichnete. Diese Lösung sollte nach sowjetischer Darstellung davon abhängen, daß auf amerikanischer Seite keine Stationierungen erfolgen dürften. Demgegenüber wären auf sowjetischer Seite mehr als 120 auf Europa gerichtete Raketen mit über 360 Gefechtsköpfen verblieben. Mit der zur Diskussion gestellten Lösung wäre mithin ein sowjetisches Monopol bei landgestützten Mittelstrekkenraketen größerer Reichweite festgeschrieben worden. Ein derartiges Verhandlungsergebnis hat das Bündnis stets als unannehmbar bezeichnet. Es liegt deshalb auf der Hand, daß ein solcher Lösungsvorschlag entgegen der sowjetischen Darstellung nicht von Botschafter Nitze ausgegangen sein kann. Die USA haben demgemäß die sowjetische Darstellung mit Nachdruck zurückgewiesen.
Ich stelle zweitens fest: Unzutreffend ist ferner die Darstellung des Artikels, die Bundesregierung habe den Inhalt der vorgeschlagenen Lösung in der Frage der Behandlung der Drittstaatensysteme verfälscht wiedergegeben. Die Bundesregierung gibt bekanntlich nie etwas verfälscht wieder. Richtig ist vielmehr, daß die von der Sowjetunion zur Diskussion gestellte Lösung keine Bezugnahme auf die britischen und französischen Raketen enthielt, sondern davon ausging, daß eine Kompensation für diese Systeme in einem „geeigneten künftigen Forum" verhandelt werden solle. Andererseits sollten die USA für die in Europa verbleibenden etwa 120 sowjetischen Mittelstreckenraketen in diesen zukünftigen Verhandlungen eine Kompensation erhalten. Die von der Bundesregierung im November 1983 geäußerte Einschätzung, daß die Sowjetunion offenbar bereit sei, ihre Forderung nach Anrechnung britischer und französischer Systeme bei den INF-Verhandlungen aufzugeben und hierüber in einem anderen Forum zu verhandeln, war deshalb völlig gerechtfertigt.
Die Bundesregierung hat zu den sowjetischen Überlegungen seinerzeit positiv festgestellt, daß eine Ausklammerung der britischen und französischen Systeme aus dem INF-Rahmen zu einer Deblockierung der Genfer Verhandlungen führen könne. Sie hat andererseits unterstrichen, daß ein sowjetischer Anspruch auf ein Monopol bei den weitreichenden landgestützten Mittelstreckenraketen für das Bündnis inakzeptabel bleibe. Diese Bewertung, die sich mit der Haltung unserer Verbündeten deckt, gilt unverändert.
Herr Präsident, ich weiß, es war eine sehr lange Antwort auf einen komplizierten Sachverhalt. Deswegen möchte ich das in Kurzform noch einmal sagen. Erstens. Herr Kwizinsky hat sich bei der Entscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit jedenfalls nicht für letztere entschieden, und zweitens war der gesamte Sachverhalt, den ich vorgetragen habe, Gegenstand außerordentlich ausführlicher Debatten hier im Parlament.
Insofern darf man den Rat geben, daß man sowohl Fragen als auch Antworten kurz formuliert.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schreiner.
Ersteres war ja wohl der Fall, Herr Präsident. - Ich wollte nachfragen, Herr Staatsminister, ob die Bundesregierung über Erkenntnisse dahin gehend verfügt, daß die amerikanische Regierung den genannten Vorschlag kategorisch abgelehnt hat und, wenn ja, in welcher Form.
Der Vorschlag - das ist richtig - ist abgelehnt worden. Das impliziert im übrigen auch, daß sie ihn nicht selbst gemacht haben kann. Selbstgemachte Vorschläge lehnt man ja nicht immer ab, jedenfalls auf westlicher Seite nicht. Sie hat ihn abgelehnt, weil er im Falle seiner Verwirklichung das sowjetische Mittelstreckenmonopol festgeschrieben hätte.
Der Abgeordnete Voigt möchte gerne eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatsminister, Sie haben soeben selber - als Teil einer westlichen Position - von der Kompensation der britischen
Voigt ({0})
und französischen Systeme in möglichen zukünftigen Foren gesprochen: Trifft es zu, daß in der Schlußphase der Verhandlungen in der Bundesregierung Möglichkeiten und Modelle einer direkten oder indirekten Berücksichtigung der britischen und französischen Systeme erwogen und erörtert worden sind?
Nein, das trifft nicht
zu.
Wir kommen zur Frage 9 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Ist nach dem verbindlichen Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 nicht auch die Bundesrepublik Deutschland als „nichtabtrennbarer Teil" ganz Deutschlands „auch verantwortlich für das ganze Deutschland" ({0}), ebenso wie als gleichberechtigter Unterzeichnerstaat im Zusammenwirken mit den Drei Mächten für die Verpflichtungen und Ziele nach Artikel 7 des Deutschlandsvertrages, so daß sie ständige Bemühungen zu den „vorbehaltenen" Siegerrechten ({1}) in der NATO nach dem Harmel-Bericht und in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit nach den Römischen Verträgen fordern und fördern kann?
Herr Kollege Dr. Czaja, der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 betont, daß die Deutschlandpolitik der Bundesregierung insbesondere durch das Grundgesetz, den Deutschland-Vertrag und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 bestimmt bleibt. Die sich daraus ergebenden Verpflichtungen nimmt die Bundesregierung sehr ernst. Dementsprechend ist sie, wie in der Antwort der Bundesregierung vom 6. Januar 1984 bereits zum Ausdruck gebracht, ständig bemüht, zusammen mit ihren Partnern - auch im Rahmen der NATO - nach Wegen zu suchen, wie die Teilung Europas schrittweise überwunden werden kann.
Zusatzfrage, Herr Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, gebieten also nach dieser Auskunft das Grundgesetz, Art. 7 des Deutschland-Vertrages, die von Ihnen aufgeführten politischen Programmsätze der NATO, beispielsweise der Harmel-Bericht, ferner der Rechtssatz des Selbstbestimmungsrechts und die Regeln des allgemeinen Völkerrechts die volle freiheitliche Mitwirkung der Deutschen und der Bundesrepublik Deutschland an den zu lösenden Fragen ganz Deutschlands?
Sicher.
Weitere Zusatzfrage.
Bedeuten nach Auffassung der Bundesregierung die sogenannten vorbehaltenen Rechte, daß die zwei Staaten in Deutschland vorerst, vor friedensvertraglichen Regelungen, nicht allein und selbständig, also ohne Siegermächte, die Kompetenz zur Regelung der ganzen deutschen Frage, etwa auch zur Festlegung der Grenzen in ganz Deutschland oder zu Gebietsabtretungen zu
Lasten ganz Deutschlands in seinen Grenzen und in den Grenzen, wie das Londoner Abkommen sie umschreibt, haben?
Mein Problem ist, Herr Kollege Czaja, daß ich diese Frage nicht verstanden habe.
({0})
Herr Dr. Czaja, da ich gegenüber unserem Kollegen Schreiner vorhin eine kleine kritische Anmerkung im Hinblick auf die Länge seiner Frage gemacht habe, gebietet es die Fairneß, dies auch gegenüber anderen zu tun, also auch Ihnen gegenüber. Wenn Sie Ihre Zusatzfrage jetzt ein bißchen kürzer fassen würden, so hätte ich nichts dagegen.
Ich weiß nicht, ob der Staatsminister meine Frage vorhin akustisch oder in der Sache nicht verstanden hat. Ich wiederhole sie langsam: Bedeuten nach Auffassung der Bundesregierung die vorbehaltenen Rechte, daß die zwei Staaten in Deutschland vor friedensvertraglichen Regelungen nicht allein und selbständig die Kompetenz zur Regelung der ganzen deutschen Frage, also auch zur endgültigen Festlegung von Grenzen in ganz Deutschland, haben?
Ja.
({0})
Wir kommen dann zur Frage 10 des Abgeordneten Dr. Czaja, die etwas kürzer gefaßt ist:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung des Auswärtigen Ausschusses des polnischen Parlaments an die Bundesregierung Deutschland, verfassungswidrig mindestens 1,1 Millionen Deutschen in den Gebieten östlich von Oder und Neiße die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen und die damit verbundene Verletzung der zum Warschauer Vertragswerk gehörenden, von der polnischen Delegation entgegengenommenen Erklärung des früheren Bundesaußenministers Scheel zu den Rechten der Deutschen?
Herr Präsident, die Antwort ist kürzer gefaßt als die vorherige. - Die Bundesregierung war und ist an die Feststellungen des Grundgesetzes zur Rechtsstellung der Deutschen gebunden. In keiner deutsch-polnischen Vereinbarung ist die Bundesregierung etwa die Verpflichtung eingegangen, irgendwelche Änderungen an dieser verfassungsrechtlichen Lage herbeizuführen. Die Bundesregierung hat bei Abschluß der deutsch-polnischen Verhandlungen über den Warschauer Vertrag betont, daß durch den Vertrag niemandem Rechte verlorengehen, die ihm nach unseren geltenden Gesetzen zustehen, z. B.: im Bereich der Staatsangehörigkeit.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch auf diese Aussage gestützt, als es Verfassungsbeschwerden gegen die Zustimmungsgesetze zu den Ostverträgen in seinem Beschluß vom 7. Juli 1975 als unzulässig zurückgewiesen hat.
Ich erinnere auch an den allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts, wonach ein jeder Staat grundsätzlich selbst bestimmt, wer seine Staatszugehörigkeit besitzt. Ein fremder Staat kann in die Rechtsbeziehungen zwischen einem Staat und seinen Staatsangehörigen nicht eingreifen und sie nicht auflösen. Der fremde Staat kann allerdings eine Person, die zugleich seine eigene Staatsangehörigkeit besitzt, in jeder Beziehung als Inländer behandeln.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, vertritt also die Bundesregierung - im Gegensatz zu der Einmischung in unser Staatsangehörigkeitsrecht - die Auffassung, daß den in den Oder-NeißeGebieten lebenden Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit hier nicht gegen ihren Willen entzogen werden darf und daß hier nicht Maßnahmen getroffen werden dürfen, die die von Verfassung wegen bestehende Schutzpflicht hier oder in Drittländern mindern?
Diese Auffassung vertritt die Bundesregierung im Blick auf Deutsche, wo immer sie leben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Czaja.
Herr Staatsminister, bedeutet Ihre Erklärung, daß die Bundesregierung weiter an der vollen Wirksamkeit der Erklärung des Bundesaußenministers Scheel vom 14. Juli 1970, die Sie dem Inhalt nach zitiert haben, festhält, daß keinem Deutschen Rechte durch den Warschauer Vertrag verlorengehen können, die er nach den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen hat?
Ja.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatsminister, sind Ihnen irgendwelche Bestrebungen in der Volksrepublik Polen bekannt, wonach die Eheschließung von in Polen lebenden Deutschen mit anderen Deutschen davon abhängig gemacht werden soll, daß sie vorher die polnische Staatsangehörigkeit erwerben?
Nein.
Wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Franke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Müller ({0}) auf:
Wie hoch ist die Zahl der Krankenkassen, die im Jahre 1983 den Beitrag gesenkt haben, und wie gliedert sich diese in Allgemeine Ortskrankenkassen, Ersatzkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen?
Herr Präsident, ich bitte, die beiden Fragen des Abgeordneten Müller ({0}) gemeinsam beantworten zu dürfen.
Sind Sie einverstanden? Müller ({0}) ({1}): Einverstanden.
Dann rufe ich auch die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Müller ({0}) auf:
Um welchen Prozentsatz sind die Beiträge im Durchschnitt gesenkt worden, und wie hoch ist jetzt der tatsächliche Durchschnittsbeitrag für die einzelnen Krankenkassenarten?
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 1. Dezember 1983 sind in der gesetzlichen Krankenversicherung in insgesamt 569 Fällen Beitragssatzsenkungen vorgenommen worden. Davon entfielen auf die Ortskrankenkassen 169 Senkungen, Betriebskrankenkassen 327, Innungskrankenkassen 64, Arbeiter- und Angestellten-Ersatzkassen 8 und auf die Seekasse 1 Beitragssatzsenkung.
Der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich von 11,99 v. H. am 1. Dezember 1982 auf 11,73 v. H. am 1. Dezember 1983 verringert. Die entsprechenden Vergleichswerte betragen bei den Ortskrankenkassen 12,39 v. H. und 12,04 v. H., bei den Betriebskrankenkassen 10,91 v. H. und 10,47 v. H., bei den Innungskrankenkassen 11,73 v. H. und 11,41 v. H., bei den Arbeiter-Ersatzkassen 11,35 v. H. und 10,81 v. H., bei den Angestellten-Ersatzkassen 11,94 v. H. und 11,89 v. H. und bei der Seekasse 10,60 v. H. und 9,80 v. H.
Der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz hat sich zum Jahresanfang 1984 weiter ermäßigt. Er beträgt nach dem augenblicklichen Erkenntnisstand etwa 11,5 v. H. Exakte Daten für Januar 1984 liegen mir noch nicht vor. Ich bin aber selbstverständlich gern bereit, sie Ihnen, sobald sie verfügbar sind, schriftlich mitzuteilen. Die Daten dürften etwa ab Mitte Februar vorliegen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Müller.
Herr Staatssekretär, wie wirkt sich denn nun die finanzielle Entlastung der Beitragszahler durch diese Beitragssenkungen aus? Haben Sie darüber genaue Zahlen?
Die eingangs erwähnte Beitragssatzentwicklung hat allein im Jahr 1983 zu einer Entlastung der beiden Beitragszahlergruppen, der Versicherten und der Wirtschaft, um rund 1 Milliarde DM geführt. Die zusätzliche Entlastung der Beitragszahler im Jahr 1984 dürfte noch einmal etwa 2 Milliarden DM betragen. Gegenüber dem Beitragssatzniveau des Jahres 1982 von etwa 12 v. H. ergibt sich damit eine Entlastung der Beitragszahler um insgesamt rund 3 Milliarden DM 3558
bei einem Volumen von etwa 100 Milliarden DM -im Jahr 1984.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Müller.
Herr Staatssekretär, worin sehen Sie die Gründe für diese Beitragssenkung? Liegt es am Rückgang der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit? Liegt es an der Verlagerung der Kosten auf die Versicherten, z. B. durch Zuzahlungsregelungen bei Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln und Krankenhauspflege?
Herr Präsident! Naturgemäß ist diese Antwort etwas länger, weil es viele Gründe gibt. Ich bitte von vornherein um Entschuldigung.
Diese Beitragssatzsenkungen haben viele Gründe, z. B. die Bemühungen der Beteiligten um Kostendämpfung. Im Jahr 1982 nahmen die Leistungsausgaben je Mitglied nur um 0,2 v. H, bei einer Grundlohnentwicklung von 4,4 v. H. zu. Für das Jahr 1983 ist nach dem jetzigen Erkenntnisstand ein Ausgabenanstieg im Rahmen der Grundlohnentwicklung von etwa 3' /2 v. H. zu erwarten. Das Ziel der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik wird 1983 somit erreicht worden sein.
Ob ich die einzelnen Gründe jetzt vollständig sage, weiß ich nicht. Ich glaube aber, meine Ausführungen erfassen fast alle Tatbestände.
Die Versicherten haben sich bei der Inanspruchnahme von Leistungen zurückgehalten. Die Zahl der abgerechneten Krankenscheine hat sich leicht rückläufig entwickelt. Auch die Zahl der Arzneiverordnungen ist zurückgegangen. Schließlich - das ist ein nicht unwesentlicher Faktor - ist der Krankenstand von 5,3 v. H. im Jahr 1981 auf 4,7 v. H. im Jahr 1982 und voraussichtlich 4,4 v. H. im Jahr 1983 - die Zahlen für das letzte Quartal liegen noch nicht vor - gesunken.
Hinzu kommen folgende Maßnahmen: Die vertraglichen Vereinbarungen der Selbstverwaltungen der Kassen, der Ärzte und der Zahnärzte über einen Verzicht auf Vergütungserhöhung im Jahr 1982 und im ersten Halbjahr 1983 haben die Ausgabenentwicklung der Krankenkassen natürlich erheblich entlastet.
Es gibt weiter die in diesem Haus sicher nicht unumstritten gewesenen Maßnahmen des Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetzes. Ich erinnere mich sehr genau an die Streitpunkte. Hier erwähne ich nur, obwohl ich dem nicht die maßgebliche Bedeutung beimesse, die Festschreibung der Preise für Heil- und Hilfsmittel, die Senkung der Preise für zahntechnische Leistungen und die Verordnungsblattgebühr bei Heil- und Hilfsmitteln.
Dies alles hat möglicherweise neben den von der Selbstverwaltung ergriffenen Maßnahmen, die der Hauptgrund sind, beigetragen, die Zuwachsraten in den vergangenen Jahren deutlich zurückzuführen.
({0})
Kann ich davon ausgehen, daß Sie jetzt am Ende der Beantwortung sind?
Das war das Ende der Beantwortung der Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wir bewundern Ihre Fähigkeit, eine Zusatzfrage aus dem Stand zu beantworten.
Weitere Zusatzfragen. - Können Sie uns helfen, daß das nicht so lange dauert?
Herr Staatssekretär, ich hätte gerne gewußt: Wie beurteilt die Bundesregierung denn die Tatsache, daß weniger Leistungen in Anspruch genommen wurden? Hält sie das nicht für gesundheitspolitisch bedenklich?
Auch hier zwei unterschiedliche Bemerkungen. Ob sich der niedrige Krankenstand - wie es draußen schon einmal gesagt wird - aus einer Befürchtung des Verlustes des Arbeitsplatzes ergibt oder nicht, kann man heute nicht genau beurteilen. Aber sicherlich ist ein nicht unwesentlicher Faktor der geringeren Inanspruchnahme der stationären Versorgung die Möglichkeit, Ärzte aufzusuchen oder andere Heil- und Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen.
Wenn Krankheiten verdrängt werden, kann es durchaus sein, daß die nachfolgende Kranheitsbehandlung eine etwas längere Zeit in Anspruch nimmt. Darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse; das sind Vermutungen. Zum Beispiel muß eine Verringerung der Zahl der verordneten und möglicherweise auch der eingenommenen Arzneimittel nicht unbedingt zusätzlich eine Gesundheitsgefährdung zur Folge haben. Wenn ich die Zahl der in Anspruch genommenen Arzneimittel international vergleiche, haben wir einen etwas höheren Stand, aber der Gesundheitsstand in anderen Ländern ist nicht schlechter als hier bei uns. Eine vielfältige und breitgefächerte Antwort auf diese Frage ist möglich.
Herr Kollege Müller ({0}).
Wie beurteilt die Bundesregierung die weitere Entwicklung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung?
Nach den Zahlen der ersten drei Quartale des letzten Jahres - das letzte Quartal, ich sagte es eben schon, ist noch nicht quantifiziert - glaube ich, daß wir für das Jahr 1983 bei einer Grundlohnentwicklung von 3,5 v. H. unter der veranschlagten Grundlohnentwicklung bleiben werden. Diese Entwicklung ragt in das Jahr 1984 hinein. Möglicherweise sind zusätzliche Einflüsse - insbesondere bei der Entwicklung der Ausgaben der stationären Versorgung - zu beobachten. Möglicherweise ist auch zu handeln.
Ich habe weitere Zusatzfragen von mehreren Kollegen, die nachfragen wolVizepräsident Westphal
len. Nun zeigen Sie, Herr Staatssekretär, einmal Ihre Fähigkeit, kurz zu antworten.
Herr de With.
Um Ihnen, Herr Staatssekretär, zu einer einfacheren, kürzeren und, wie ich meine, auch präziseren Antwort zu verhelfen: Sind die erfreulichen Beitragssenkungen nicht vornehmlich auf Maßnahmen zurückzuführen, für die der damalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ehrenberg, die Verantwortung trug?
Nein.
({0})
Zusatzfrage des Abgeordneten Heyenn.
Herr Staatssekretär, kann es bei Ihren überlangen Ausführungen sein, daß Sie, um zu kürzen, die wesentlichen Hinweise darauf vergessen haben, daß die Beiträge insbesondere deshalb gesenkt wurden, weil die Arbeitnehmer angesichts einer Arbeitslosenzahl von 2,3 Millionen Angst hatten, bei längerer Arbeitsunfähigkeit ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und können Sie bestätigen, daß die Beitragssenkungen noch wesentlich höher hätten ausfallen können, wenn die pharmazeutische Industrie im vergangenen Jahr ihre Preise nicht weit überdurchschnittlich erhöht hätte?
Im ersten Fall, Herr Kollege, verweise ich darauf, was ich eben gesagt habe, um meine Antwort abzukürzen.
Im zweiten Fall sage ich ja. Ich beobachte die Entwicklung im Arzneimittelbereich mit großer Sorge.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie ja einen Fächer von Entwicklungen aufgezeigt haben, frage ich Sie: Sind Sie sicher, daß Sie bei Ihrer Aufzählung etwas vergessen haben?
Das kann durchaus sein, Herr Kollege, aber sonst wäre die Antwort noch etwas länger ausgefallen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, in Ihren Ausführungen haben Sie den Rückgang der Arbeitsunfähigkeitszahlen erwähnt. Hat die Bundesregierung dabei auch einmal in Betracht gezogen, welche gesundheitspolitischen Folgen dies hat - daß nämlich viele Arbeitnehmer aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bis zum Zusammenbrechen arbeiten - und welche ganz anderen Konsequenzen dadurch noch entstehen?
({0})
Ich muß unterstellen, daß Sie meine Antwort akustisch nicht verstanden haben. Ich habe darauf eben schon geantwortet.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß trotz der Beitragssenkung der Gesundheitszustand der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik nicht nachgelassen hat?
Hierzu, Herr Kollege Grünbeck, muß ich sagen: Darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Darüber, ob bestimmte Entwicklungen zu längeren Krankheitszuständen führen, gibt es keine gesicherten Erkenntnisse; das muß man noch beobachten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bachmaier.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie eben bekundet haben, daß die Steigerung der Arzneimittelpreise auch Ihnen Sorge bereitet, frage ich Sie: Was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu tun, und welche Möglichkeiten dazu sieht sie?
Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland - wie in den meisten europäischen Staaten - so etwas wie Marktwirtschaft bei den Arzneimitteln nicht. Der Arzt verschreibt, der Patient bekommt ein Rezept, er geht in die Apotheke und nimmt gegen eine Gebühr das Verschriebene entgegen. Es muß nach Steuerungsmöglichkeiten gesucht werden, um hier ein wirtschaftlich und gesundheitspolitisch vernünftiges Handhaben zu gewährleisten.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende dieser zwei Fragen und ihrer Beantwortung.
Ich rufe Frage 48 des Abgeordneten Roth auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen der Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung der Bundesanstalt für Arbeit entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen?
Für die Förderung von allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung stehen in dem von der Bundesregierung genehmigten Haushalt 1984 der Bundesanstalt für Arbeit - -
Herr Staatssekretär, darf ich Sie unterbrechen! Wenn ich mich nicht irre, sind die Fragen hier in falscher Reihenfolge abgedruckt. Ich nehme an, auch Ihnen ist das aufgefallen. Ich glaube, vor der Frage 48 muß die Frage 49 beantwortet werden.
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Das kann durchaus sein. Ich hatte eben mit der Beantwortung der Fra3560
ge 48 begonnen, aber ich habe hier selbstverständlich auch die Antwort auf Frage 49.
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Dann rufe ich jetzt erst die Frage 49 des Abgeordneten Roth auf:
Greift die Bundesregierung den Vorschlag des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Späth, auf, den arbeitslosen Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland eine Beschäftigung im Bereich der Altenpflege, der Sozialstationen, der Heilberufe und des Umweltschutzes bereitzustellen?
Ich beantworte hiermit also die Frage des Herrn Kollegen Roth, die bei mir die Nr. 49 trägt:
Ich gehe davon aus, daß Ministerpräsident Späth - das ist der Inhalt Ihrer Frage - mit seinem Vorschlag die Förderung öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Träger anspricht, die Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitslose Jugendliche schaffen. Im Bereich der Arbeitsförderung bietet sich hierfür das System der Förderung von allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung an, das neue Arbeitsplätze durch die Förderung zusätzlicher und im öffentlichen Interesse liegender Arbeiten mit Beitragsmitteln der Bundesanstalt für Arbeit gewinnt.
Insbesondere die Zusätzlichkeit der geförderten Arbeiten ist geeignet, eine Wettbewerbsneutralität der Förderung zu gewährleisten und eine Mitnahme bei der ABM-Förderung durch Beschäftigung zugewiesener Arbeitnehmer an Stelle möglicher Beschäftigung von Arbeitnehmern in ungeförderten Dauerarbeitsverhältnissen weitgehend zu vermeiden.
Insbesondere in den Bereichen der sozialen Dienste und umwelterhaltender und umweltverbessernder Arbeiten können mit der ABM-Förderung zahlreiche jugendliche Arbeitslose wenigstens vorübergehend einen Arbeitsplatz finden, zumal jugendliche Arbeitslose bis zu 22 Jahren ohne Berufsabschluß eine Bevorzugung bei der ABM-Förderung genießen.
In geeigneten Fällen könnte diese Beschäftigung jugendlicher Arbeitsloser als Teilzeitarbeit durchgeführt und mit Maßnahmen der allgemeinen oder beruflichen Bildung kombiniert werden.
Die Bundesregierung hat für 1984 einen Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit genehmigt, der es ermöglicht, jahresdurchschnittlich etwa 70 000 arbeitslose Arbeitnehmer in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu beschäftigen. Daran werden jugendliche Arbeitslose einen erheblichen Anteil haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Roth.
Darf ich aus Ihrer Formulierung entnehmen, daß der Vorschlag des Herrn Ministerpräsidenten Späth ohne jede Diskussion und Abstimmung mit der Bundesregierung in der „Bild"-Zeitung als das Patentrezept zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit verbreitet wurde?
Wenn ich den Hintergrund von Presseveröffentlichungen bzw. das, was in der Presse steht, einmal bewerten darf - ich habe da auch schon meine eigenen Erfahrungen -, muß ich sagen, daß häufig etwas in die Presse kommt, ohne daß es abgestimmt und auch ohne daß es so gesagt worden ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Roth.
Herr Staatssekretär, ist es auch bei genehmigten Wortinterviews so, daß der Betreffende nicht recht weiß, was er sagt?
Das kann ich nicht beurteilen. Bei mir ist das nicht der Fall.
Wir kommen zur Frage 48 des Abgeordneten Roth:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen der Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung der Bundesanstalt für Arbeit entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen?
Für die Förderung von allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung stehen in dem von der Bundesregierung genehmigten Haushalt 1984 der Bundesanstalt für Arbeit 1,674 Milliarden DM Ausgabemittel, nämlich 60 Millionen DM für Darlehen und 1,614 Milliarden DM für die Zuschüsse, sowie 1,4 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigungen zur Verfügung.
Für die verstärkte Förderung von allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung gemäß § 96 des Arbeitsförderungsgesetzes sind im Haushalt 1984 des Bundes 50 Millionen DM Ausgabemittel und 40 Millionen DM Verpflichtungsermächtigungen veranschlagt. Diese Bundesmittel aktivieren eine Landesbeteiligung an der verstärkten ABM-Förderung grundsätzlich in gleicher Höhe.
Das ist im übrigen das höchste ABM-Ausgabemittelvolumen eines Haushaltsjahres, seit es die ABM-Förderung gibt. Die Bundesanstalt für Arbeit strebt an, mit diesem Mittelvolumen jahresdurchschnittlich 70 000 arbeitslose Arbeitnehmer im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu beschäftigen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Roth.
Darf ich aus der Antwort entnehmen, daß die von Herrn Ministerpräsidenten Späth in einem Wortinterview der „Bild"-Zeitung öffentlich gemachten zusätzlichen Vorschläge für Beschäftigungsmaßnahmen für Jugendliche im Sozialbereich und im Umweltbereich von der Bundesregierung nicht aufgenommen werden?
Das können Sie aus meiner Antwort nicht entnehmen. Vielmehr sind in
den Bereichen, die Sie gerade erwähnt haben, verstärkte Anstrengungen und eine Verbreiterung des Spektrums der Anwendungsmöglichkeiten notwendig.
Eine weitere Zusatzfrage.
Stimmen Sie den weit über den bisherigen Rahmen hinausgehenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, falls Herr Ministerpräsident Späth sie über den Bundesrat in die Willensbildung des Bundes einbringt, als Bundesregierung zu, oder sind Sie zumindest bereit, diese vom Volumen her großen zusätzlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziell ernsthaft zu prüfen und gegenüber dem Finanzminister im Sinne des Herrn Späth aktiv zu werden?
Ich sagte eben schon, Herr Kollege Roth, daß die Anregungen, die in der Presse sicherlich nur bruchstückhaft wiedergegeben worden sind, selbstverständlich geprüft werden. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken darf: Diese Anregungen sind von mir vor einiger Zeit - ebenfalls in einer Zeitung - schon einmal aus einem ganz anderen Anlaß erwähnt worden.
Also noch einmal zusammengefaßt: Die Ideenbörse für die Verbreiterung des Spektrums von ABM-Maßnahmen sollte von jedem angereichert werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für richtig, daß in dieser Art, unter indirekter Bezugnahme auf die Bundesregierung, Hoffnungen geweckt werden, die möglicherweise doch nur einen Luftballon für die Presse darstellen?
Die Wertung, die in Ihrer Frage liegt, kann ich nicht teilen. Wir haben im Jahre 1983 gegenüber 1982, als wir etwas über 20 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert haben, weit über 50 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert.
Wir streben an, 70 000 Maßnahmen im Jahresdurchschnitt 1984 zu finanzieren. Herr Kollege Scheer, ich wiederhole noch einmal: Hier ist jede Anregung willkommen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß gerade bei der ABM-Förderung für arbeitslose Jugendliche die Förderbestimmungen sehr häufig Schwierigkeiten bei der Anwendung bereiten? Werden Sie dafür eintreten, daß z. B. die Zeit der Arbeitslosigkeit, bevor ein arbeitsloser Jugendlicher gefördert werden kann, wesentlich verkürzt wird?
Ich will nicht sagen: verkürzen. Es ist richtig, Überlegungen in dieser Richtung anzustellen. Das tue ich in meiner jetzigen Funktion, und ich werde auch künftig in dieser Richtung nachdenken.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Nachdem Sie meinem Kollegen Roth soeben geantwortet haben, daß er aus Ihrer Beantwortung nicht schließen könne, daß die Bundesregierung den Vorschlägen von Herrn Späth nicht folge: Darf ich dann aus den Antworten schließen, daß die Bundesregierung den Vorschlägen von Herrn Späth folgt?
Ich habe gesagt, Herr Kollege Dreßler, daß jede Anregung willkommen ist und daß man sie auf ihre Anwendungs- und Finanzierungsmöglichkeit hin prüfen sollte.
({0})
Herr Abgeordneter Keller zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie nannten uns eben die Gesamtzahl der durch das ABM-Programm geförderten Maßnahmen. Können Sie uns mitteilen, wieviel Jugendliche im letzten Jahr gefördert wurden - in absoluten Zahlen oder in Prozent - und was für das Jahr 1984 vorauszusehen ist?
Ich tue das unter dem Vorbehalt, daß ich die Zahl noch einmal nachprüfe, die ich jetzt aus dem Gedächtnis nenne. Ich glaube, im letzten Jahr sind mehr als ein Drittel der Maßnahmen für junge Menschen in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt worden. Ich werde diese Zahl noch einmal genau nachprüfen und sie Ihnen schriftlich geben.
Wir kommen zur Frage 50 des Abgeordneten Weinhofer:
Wie begründet die Bundesregierung ihre Absicht, in einem Gesetzentwurf für versicherte Arbeitnehmer die Möglichkeit einräumen zu wollen, durch Verzicht auf einen Teil ihres Urlaubs für Kurmaßnahmen die Verpflichtung gegenüber dem Versicherungsträger auf Zuzahlung von 10 DM je Kurtag abzulösen?
Herr Präsident, ich möchte, wenn Herr Weinhofer einverstanden ist, die Fragen 50 und 51 gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 51 des Abgeordneten Weinhofer auf:
Sieht die Bundesregierung die Gefahr, daß solche gesetzliche Regelungen dazu führen könnten, die Allgemeinverbindlichkeit von tarifvertraglichen Regelungen zu beeinträchtigen?
Dem Arbeitnehmer soll eine individuelle Gestaltungsmöglichkeit eingeräumt werden. Er soll frei darüber entscheiden, ob er bei Bestehen einer Zuzahlungspflicht von 10 DM je Kalendertag der Kur diese durch einen Verzicht auf einen Teil seines Urlaubs ablösen will. Die Regelung soll aber so gestaltet sein, daß keine spür3562
bare Kürzung des Urlaubs eintritt, sondern allenfalls ein Verlust von vier oder fünf Tagen.
Ich komme zu Ihrer zweiten Frage. Wieso die gesetzlichen Regelungen tarifvertragliche Regelungen beeinträchtigen sollten, ist mir nicht ersichtlich. Die tarifvertraglichen Urlaubsansprüche bleiben erhalten. Dem Arbeitnehmer wird lediglich ein individuelles Gestaltungsrecht eröffnet. Im Hinblick auf die Arbeitnehmer, die tarifvertragliche Ansprüche auf Grund einer allgemeinen Verbindlichkeitserklärung haben, gilt nichts anderes.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Weinhofer.
Herr Staatssekretär, sehen Sie in dieser geplanten Regelung der Bundesregierung vielleicht die verspätete Einsicht, daß die bisherige Regelung dazu geführt hat, daß die Zahl der Kuranträge zurückgegangen ist?
Herr Kollege Weinhofer, wir hatten 1981 ein sogenanntes Rekordjahr durchgeführter Kuren. Ihre Zahl lag über 850 000. Alle Parteien des Bundestags haben hierüber in dem zuständigen Fachausschuß mehrfach diskutiert. Wir hatten bis zum Oktober 1982 einen Rückgang der Zahl der Kuren gegenüber 1981 um 26,4 % zu verzeichnen.
Daß heißt also, ehe die 10 DM Wirklichkeit wurden, sind weniger Kuren durchgeführt worden, und zwar aus Gründen, die zum einen in dem Gesetz lagen, das die alte Regierung vorher verabschiedet hatte. Das war aber nicht der alleinige Grund; auch wegen der allgemeinen Arbeitsmarktentwicklung ist eine größere Zurückhaltung bei der Beantragung von Kuren zu beobachten gewesen. Das hat sich durch das Jahr 1983 hin fortgesetzt. Jetzt gibt es langsam wieder ein Ansteigen der Zahl von Anträgen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche neuen Gesichtspunkte können sich durch ein solches Wahlrecht des Arbeitnehmers für die Beurteilung der Zuzahlungspflicht gegenüber den Sozialversicherungsträgern ergeben?
Sie sagen: welche neuen Gesichtspunkte.
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- Gegenüber welchen Gesichtspunkten, Herr Kollege Weinhofer?
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- Dann kann ich nur sagen, Herr Kollege Weinhofer, hier hat es eine breite Übereinstimmung im Hause gegeben. Die alten Überlegungen - deswegen habe ich noch einmal nachgefragt - habe ich den Vorschlägen der alten Regierung entnommen, als ich 1982 als Parlamentarischer Staatssekretär ins Arbeitsministerium kam. Ich habe dort Vorschläge gefunden, die die 10 DM - nebenbei: auch
die 5 DM für das Krankenhaus - regeln sollten. Hierbei muß man ganz eindeutig sagen: Bei der Belastung der beitragzahlenden Bürger hat nach meiner Auffassung die alte Regierung mit Recht überlegt, ob man nicht eine Entlastung der beitragzahlenden Bürger durch die Einführung einer geringen Gebühr für die Tageskosten bei der Kur vornehmen muß. Ich glaube also, wir sollten diese Frage heute mit einem Ja beantworten. Es gibt also keine neuen Erkenntnisse; vielmehr sind die Erkenntnisse der alten Regierung bei der Durchführung durch die neue Regierung die gleichen geblieben.
Dann kommen wir zu einer Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, meinen Sie denn nicht, daß die Festlegung der Zuzahlung von 10 DM pro Tag in der Tat dazu geführt hat, daß eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung, und zwar die gering Verdienenden, sich weniger als bisher zu Kuren bereit erklären kann, weil sie diese Belastung von sich aus einfach nicht tragen kann?
Das möchte ich mit einem eindeutigen Nein beantworten. Denn der Rückgang der Zahl der durchgeführten Kuren hat in einer Zeit stattgefunden, als die 10 DM noch nicht eingeführt waren, nämlich von 1981 auf 1982.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, ist in den vorgesehenen Neuregelungen auch beabsichtigt, bei der Anrechnung der Urlaubstage zwischen Präventivkuren und Nachbehandlungskuren zu unterscheiden?
Das sind die sogenannten Schonungskuren. Sie werden mit angerechnet.
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Sie haben zwei Zusatzfragen. Ich muß allerdings meinen Kollegen Weinhofer fragen: Sie hatten sich vorhin nach zwei Zusatzfragen hingesetzt. Ich habe das so verstanden, daß Sie auf Ihr Fragerecht bezüglich zwei weiterer Fragen verzichtet haben. Aber die Kollegen können zwei Fragen stellen. Dann hat Frau Steinhauer zu einer zweiten Zusatzfrage das Wort.
Herr Staatssekretär, ist den schon im vorigen Jahr in einer Fragestunde einmal behandelten Problemen, die aus den Bereichen der Rentenversicherungsträger berichtet wurden, einmal nachgegangen worden, daß behandelnde Ärzte mehr denn je die Versicherten darauf hinweisen, daß sie Behandlungen an Stelle eines Heilverfahrens auch vor Ort vornehmen lassen könnten, und daß dahinter ganz erhebliche Verteilungschancen hinsichtlich des Umsatzes in den einzelnen Praxen stehen?
Soweit ich mich erinnere, ist dem nachgegangen worden, und zwar durch die Selbstverwaltungen, auch mit aufklärenden Maßnahmen.
Zu Ihrer vorherigen Frage darf ich noch sagen: Abschließende Beratungen über eine Vorlage, ob Urlaubsanrechnung statt Zahlung von 10 DM erfolgen soll, sind natürlich im Arbeitsministerium noch nicht erfolgt. Wir sind noch in der Beratung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lambinus.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie vorhin von einem wesentlichen Rückgang der Zahl der beantragten und genehmigten Kuren sprachen, möchte ich Sie fragen, ob unter Umständen bei der hohen Zahl von Kuren, die vorher in Anspruch genommen wurden, die Ärzte großzügiger Kuren befürwortet haben als nachher.
Wenn ich das, was die Wissenschaft zu diesen Fragen in jüngster Zeit gesagt hat - hier lenke ich Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf den Vortrag eines Wissenschaftlers auf dem letzten Deutschen Bädertag -, richtig werte, dann sollte man mit einer Konzentration auf Rehabilitation und auf Prävention einen größeren Gesundheitseffekt erreichen können als mit einer ganz breitgefächerten Anwendung, wie sie mit ziemlicher Sicherheit bis zum Jahre 1981 zu beobachten gewesen ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, wie paßt denn diese neue Initiative in die Sparphilosophie und Kostendämpfungsphilosophie, in die das Ganze eingebaut ist, wenn einerseits die Kostenentlastung durch Urlaubsverzicht beim Arbeitgeber eintritt, aber dem Sozialversicherungsträger nach wie vor die gleichen Kosten entstehen, und sehen Sie hier nicht auch eine Ungleichbehandlung darin, daß diejenigen, die nicht auf ihren Urlaub verzichten, sozusagen die anderen über ihre Beiträge mitfinanzieren müssen?
Ich habe Ihre Frage verstanden, Herr Kollege Stiegler. Die Vorstellungen sind noch nicht abschließend beraten worden. Aber Ziel und Zweck solcher Überlegungen soll es sein, demjenigen, der über ein geringeres Einkommen verfügt und sich seinen Beitrag von 10 DM pro Tag, also 280 DM für 28 Tage, nicht leisten kann, eine Kompensationsmöglichkeit dafür zu geben, daß er nicht in der Lage ist, seinen Anteil an solchen Kuren zu bezahlen. Der Entlastungseffekt für den Sozialversicherungsträger ist gewollt; das ist auch die Philosophie aller Vorstellungen der letzten zwei Jahre. Für den Arbeitsmarkt kann es durchaus vernünftig sein, daß in den Betrieben eine Kostenentlastung erfolgt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Heyenn.
Herr Staatssekretär, nehmen wir einmal an, 10 Tage einer Heilbehandlung werden auf den Urlaub angerechnet: Der Arbeitnehmer, der in die Kur gehen will, spart 10 mal 10 DM, gleich 100 DM. Wieviel spart der Unternehmer, der kürzeren Jahresurlaub geben muß, der Lohnfortzahlung spart? Gibt es darüber schon eine Gegenüberstellung im Hause des Bundesarbeitsministers?
Nein, Herr Kollege, wir sind mit den Beratungen noch nicht am Ende.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Heyenn.
Herr Staatssekretär, es war bisher zu verzeichnen, daß Verlängerungen des Jahresurlaubs zur Entlastung des Arbeitsmarktes beigetragen haben. Sie planen nun einen Gesetzentwurf mit einer effektiven Verkürzung des Jahresurlaubs. Haben Sie dabei die Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation bedacht?
Ja, durchaus.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, stammt Ihre Erkenntnis, daß die Einführung der 10 DM Selbstbeteiligung für den Rückgang der Zahl der Kuren irrelevant war, vom Deutschen Bäderverband, von Kurdirektoren, von den Rentenversicherungsträgern - oder von wem?
Das sind unsere eigenen Erkenntnisse, die wir aber unter Mithilfe der Statistiken der von Ihnen gerade Bezeichneten gewonnen haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie gerade meinem Kollegen Heyenn bestätigt haben, daß Sie die Folgewirkungen für den Arbeitsmarkt bedacht haben: Teilen Sie uns doch bitte die Ergebnisse mit.
Das kann ich noch nicht, Herr Kollege Dreßler,
({0})
denn die abschließenden Beratungen darüber werden wir noch vornehmen. Das war aber mein Vorspruch zu dem, was ich Herrn Heyenn gesagt habe.
Herr Kollege Dreßler, nächstens müssen Sie formulieren: Können Sie uns bitte die Ergebnisse mitteilen?
({0})
Es muß eine Frage sein.
Ich komme zu Frage 52 des Abgeordneten Dr. de With:
Wie hoch ist die jährliche Anzahl der in Konkursverfahren vereinbarten Sozialpläne für die Jahre 1975 bis 1983?
Herr Staatssekretär.
Im Gegensatz zu Tarifverträgen werden Betriebsvereinbarungen - auch Sozialpläne sind Betriebsvereinbarungen - nicht in einem amtlichen Register erfaßt. Sowohl 1952 als auch 1972 hat der Gesetzgeber des Betriebsverfassungsgesetzes davon abgesehen, diesen betriebsautonomen Regelungsbereich amtlich zu erfassen. Deshalb kann die Bundesregierung genaue Angaben über die jährliche Anzahl der im Konkurs vereinbarten Sozialpläne nicht machen.
Einige Zahlenangaben zum Fragenbereich „Sozialplan im Konkurs" sind dennoch möglich. Der Bundesminister der Justiz hat im Zusammenhang mit den Vorarbeiten für die Insolvenzrechtsreform der sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg einen Forschungsauftrag erteilt, der die Sozialpläne im Konkurs untersucht. Die Untersuchung bezieht sich auf die Jahre 1979 und 1980, also auf die Zeit unmittelbar nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom Dezember 1978 über Sozialpläne im Konkurs. Die Forschungsgruppe errechnete darin für 1979 140 Konkursunternehmen, in denen ein Sozialplan abgeschlossen wurde, für das Jahr 1980 170.
Unter Berücksichtigung von Umfrageergebnissen für das Jahr 1975, die dasselbe Institut in einer früheren Konkursuntersuchung errechnet hatte, ermittelt die Forschungsgruppe außerdem für 1975 307 Sozialpläne im Konkurs, von denen allerdings etwa die Hälfte bereits vor Konkurseröffnung vereinbart worden war. Wenn man deshalb diese Zahl für das Jahr 1975 halbiert und wenn es erlaubt ist, aus diesen drei Zahlen dann einen Mittelwert zu errechnen, wären in den Jahren 1975, 1979 und 1980 im Durchschnitt etwa 154 Sozialpläne nach Konkurseröffnung vereinbart worden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With.
Ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, daß es mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser Materie am Platze wäre, hierüber amtliche Statistiken zu erstellen, nachdem es alle möglichen anderen Statistiken über Dinge gibt, die bei weitem als nicht so wesentlich angesehen werden können?
Herr Kollege de With, ich glaube, diese Bundesregierung sollte es in diesem Fall so halten wie die alte Bundesregierung, die dieser Frage auch ein Nein entgegengesetzt hat.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With.
Geht die Bundesregierung davon aus, daß es eine Parallelentwicklung zwischen dem Ansteigen oder Fallen der Zahl der Konkurse und dem Ansteigen oder Fallen der Zahl der Sozialpläne im Konkurs gibt?
Sicherlich gibt es dort einen Zusammenhang.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stiegler.
Herr Staatssekretär, wenn Sie schon nicht für eine amtliche Statistik eintreten, sind Sie dann bereit anzuregen, daß im Rahmen der Mikrozensuserhebungen dieser wichtige Bereich mit erforscht wird, etwa nach der Systematik, die die Hamburger Untersuchung schon aufbereitet hat?
Dem möchte ich mich nicht verschließen.
Wir kommen dann zu Frage 53 des Herrn Abgeordneten Dr. de With:
Wie hoch ist das jährliche DM-Gesamtvolumen der in den Jahren 1975 bis 1983 im Konkurs vereinbarten Sozialpläne, und wie hoch ist die durchschnittliche Höhe eines derartigen Sozialplans im selben Zeitraum?
Die genannte Untersuchung hat ermittelt, daß in 69 % der Sozialpläne im Konkurs ein Sozialplanvolumen eindeutig festgelegt oder jedenfalls präzise errechenbar war. In diesen Fällen wurden in den Jahren 1979 und 1980 im Durchschnitt 465 000 DM pro Sozialplan an die Belegschaften verteilt. Da aber tatsächlich im Durchschnitt 6 % weniger ausgeschüttet wurden, als vereinbart war, kann man hieraus für die Jahre 1979 und 1980 ein vereinbartes Sozialplanvolumen von 495 000 DM pro Fall errechnen. In diesen beiden Jahren hat es, wie gesagt, 310 Sozialpläne im Konkurs gegeben. Daraus errechnet sich ein jährliches vereinbartes Gesamtvolumen von 76 725 000 DM. 310 Sozialpläne geteilt durch zwei Jahre ergibt 155 Sozialpläne pro Jahr mal 495 000 DM pro Sozialplan. Aber, wie gesagt, es wurden im Durchschnitt tatsächlich 6 'A weniger ausgeschüttet, also insgesamt 72 121 500 DM.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With.
Geht die Bundesregierung mit mir deshalb davon aus, daß im Falle des Konkurses die hier angesprochene Materie nicht nur für die Betroffenen, sondern auch von der Masse des Geldvolumens her als außerordentlich gewichtig bezeichnet werden kann?
Ja.
Keine weitere Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 54 des Abgeordneten Dreßler auf:
Wie verteilen sich die im Konkurs abgeschlossenen Sozialpläne nach den sechs größten Unternehmensbranchen und Unternehmensgrößen?
Was die Unternehmensbranchen und ihre Verteilung auf die Sozialplanunternehmen anbelangt, so hat die sozialwissenschaftliche Forschungsgruppe am Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales PriParl. Staatssekretär Franke
vatrecht in der erwähnten Untersuchung folgendes ermittelt - ich zitiere -:
Zu etwa je einem Drittel handelt es sich um Firmen des Metallgewerbes ({0}), des verarbeitenden Gewerbes außer Metall ({1}) und des Baugewerbes (30 ({2}). Der Umstand, daß Land- und Forstwirtschaft keine, Einzelhandel und Dienstleistungsgewerbe kaum eine Rolle spielen, liegt darin begründet, daß in diesen Bereichen Betriebsgrößen von mehr als 20 Beschäftigten viel seltener zu finden sind. Das Fehlen von Energie und Bergbau erklärt sich daraus, daß die Einbrüche in diesen Branchen vor dem Erhebungszeitraum stattgefunden haben.
Der Erhebungszeitraum ist, wie schon gesagt, 1979 und 1980.
Zu den Unternehmensgrößen möchte ich die Untersuchung ebenfalls wörtlich zitieren. Die Forschungsgruppe schreibt hierzu:
Die Größe der betroffenen Unternehmen läßt sich mit Hilfe der Indikatoren Bilanzsumme, Umsatz und Beschäftigtenzahl umschreiben. Eine Gegenüberstellung der hier ermittelten Werte mit den entsprechenden Werten aller Unternehmen im Konkursverfahren zeigt deutlich, daß es sich bei den Sozialplanunternehmen um relativ große Unternehmen handelt. Die Schwerpunkte liegen bei der Bilanzsumme und beim Umsatz im Bereich 5 bis 20 Millionen DM, bei der Beschäftigtenzahl im Bereich 100 bis 500 Beschäftigte. Als weiterer wichtiger Indikator kann die Lohnsumme herangezogen werden. Sie liegt im Durchschnitt aller hier ausgewerteten Fälle bei 6,6 Millionen DM.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Unabhängig davon, daß die weiteren Zeitabläufe nach dem Datum der Untersuchung - jedenfalls was die veröffentlichte Meinung betrifft - ähnliche Zeilen und Artikel gezeitigt haben, darf man doch auf der Grundlage der hier von Ihnen zitierten Untersuchung gleichwohl die Frage stellen, welche Rückschlüsse die Bundesregierung daraus im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zieht.
Herr Kollege, in den nachfolgenden Fragen wird hierauf abgehoben. Ich würde die Antworten gern vorziehen. Aber die Kollegen Bachmaier und Stiegler haben zu diesem Komplex Fragen gestellt, und ich weiß nicht, ob es für uns beide nicht besser wäre, wir würden die Antworten abwarten.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Wenn wir das auch abwarten, Herr Staatssekretär: Ist es Ihnen vielleicht möglich, die Beurteilung der Bundesregierung im Hinblick auf die existentielle Bedeutung von Sozialplänen für betroffene Arbeitnehmer bei den von Ihnen zitierten Größenordnungen bekanntzugeben?
Sie sagen: das Interesse der Bundesregierung bekanntzugeben. Sozialpläne sind im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehen und haben natürlich ihre soziale Bedeutung. Sie haben allerdings auch eine andere Bedeutung, die in letzter Zeit häufig in die Diskussion gekommen ist: ob Sozialpläne - ich spreche jetzt nicht von Sozialplänen allein im Konkurs - nicht zu einer Immobilität oder zu Schwierigkeiten führen können. Diese Fragen müssen wir miteinander diskutieren.
({0})
Wir kommen zur Frage 55 des Abgeordneten Dreßler:
Wie viele Arbeitnehmer waren jährlich im Zeitraum von 1975 bis 1983 von im Konkurs abgeschlossenen Sozialplänen betroffen, und welchen finanziellen Anteil am Sozialplan hatte der einzelne Arbeitnehmer im Durchschnitt?
Auch hierzu kann ich nur die Zahlen für 1979 und 1980 nennen, die die schon mehrfach genannte Untersuchung ermittelt hat. Danach hatten im Jahr 1979 17 360 Arbeitnehmer von Konkursunternehmen einen Sozialplananspruch. Im Jahr 1980 waren es 21 000.
Den durchschnittlichen finanziellen Anteil des einzelnen Arbeitnehmers am Sozialplan kann man aus den vorhandenen Zahlen für die Jahre 1979 und 1980 wie folgt errechnen: In den beiden Jahren hatten 38 360 Arbeitnehmer von Konkursunternehmen einen Sozialplananspruch. Das durchschnittliche Sozialplanvolumen, das ausgeschüttet wurde, betrug, wie ich vorhin auf die zweite Frage des Herrn Kollegen de With schon gesagt habe, 465 000 DM bei 310 Sozialplänen in diesen beiden Jahren. Das ergibt folgende Rechnung: 465 000 mal 310 geteilt durch 38 360 gleich 3 757,82 DM. Dieser Sozialplananspruch von 3 757 DM ist aber ein reiner Durchschnittswert. Die sozialwissenschaftliche Forschungsgruppe hat ermittelt, daß bei 52 % der Arbeitnehmer, die im Konkursfall einen Sozialplananspruch haben, dieser Anspruch 2 000 DM und weniger beträgt. Wenn man den Schnitt bei 3 000 DM macht, errechnet sich, daß 65% dieser Arbeitnehmer 3 000 DM oder weniger erhalten. Der Durchschnitt von 3 757 DM ergibt sich also daraus, daß in einigen Fällen sehr hohe Abfindungen gezahlt worden sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die von Ihnen zitierten Größenordnungen eine unverzügliche Handlung zur Reparatur durch den Gesetzgeber vonnöten ist?
Die Fragen des Kollegen Bachmaier werden wir wahrscheinlich nicht mehr beantworten können, Herr Präsident. Erlauben Sie daher bitte, Herr Präsident, daß ich hier an dieser Stelle darauf eingehe, obwohl sie noch nicht aufgerufen worden sind.
Die Entscheidung - um es noch einmal in Ihre Erinnerung zu rufen - hatte in ihren Leitsätzen folgende bedeutende Sätze:
Eine gesetzliche Regelungslücke, die es dem Richter erlaubte, für bestimmte Forderungen eine Privilegierung außerhalb des geschlossenen Systems der Konkursforderung von der Rangstelle des § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO zu begründen, besteht nicht.
Dann hat das Bundesverfassungsgericht am 19. Oktober beschlossen:
Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 19. Dezember 1979 ... werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Wir haben eine Insolvenzrechtskommission gebildet, und diese Insolvenzrechtskommission arbeitet, glaube ich, seit 1978. Diese Kommission hat sich mit der notwendigen Novellierung und Reform des Insolvenzrechts zu beschäftigen. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Dreßler, völlig zu, daß man hier zu einer weiterhin beschleunigten Beratung kommen sollte. Allerdings ist der Komplex so umfangreich - das werden Ihnen Ihre sachverständigen Kollegen aus dem Bereich der Justiz sagen -, daß nicht kurzfristig mit einem Ergebnis - mit „kurzfristig" meine ich: nicht in diesem Jahr - zu rechnen ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, wie Sie wissen, liegt seit längerer Zeit ein Gesetzentwurf aus Hamburg vor, der diesen Mangel heilen würde. Wie Sie wissen, liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor, und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund hat eine unverzügliche Reparatur gefordert. Halten Sie es in Anbetracht der vorliegenden Vorschläge, die das Problem lösen würden, für angemessen, daß die Initiativen von Hamburg, der SPD-Bundestagsfraktion und des Deutschen Gewerkschaftsbundes von Herrn Justizminister Engelhard als Flickschusterei diffamiert werden?
Ich werde hier keine Bewertungen von Äußerungen vornehmen, die andere Bürger oder auch Kabinettsmitglieder gemacht haben, ohne daß ich die Vorgänge kenne.
Ich bin jedoch der Meinung, daß ein so umfangreicher Komplex wie die Novellierung des Insolvenzrechts schwierig zu bewältigen ist. Das zeigt sich auch schon daran, daß sich die vorherige Bundesregierung, bei der der Justizminister und sein Parlamentarischer Staatssekretär aus den Reihen der SPD stammten, nicht zu einem Gesetzesvorschlag entschließen konnte. Daraus ziehe ich den Schluß - ich will das gar nicht negativ bewerten -, daß dieser Bereich eine so komplexe Materie ist - das haben mir auch die Juristen des Arbeitsministeriums bestätigt -, daß man so eine Beratung im Interesse der davon Betroffenen nicht über das Knie brechen sollte.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stiegler; dann sind wir am Ende der Fragestunde.
Herr Staatssekretär, geben Sie mir nicht zu, daß der frühere Justizminister davon ausgehen konnte, daß das Problem durch den Beschluß des Großen Senats von 1979 geregelt ist, und glauben Sie wirklich, daß wir in dieser schwierigen Detailfrage zuwarten können, bis vielleicht im Jahre 1990 einmal die Ergebnisse der Insolvenzrechtskommission im Bundesgesetzblatt stehen werden?
Also, Herr Kollege, ich glaube nicht, daß man eine solche Bewertung vornehmen konnte. Nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts hat es in der Öffentlichkeit, auch bei einer Reihe von respektablen Persönlichkeiten aus dem Arbeitsrecht, Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts gegeben. Aber ich will die vorherige Regierung gegen die Unterstellung in Schutz nehmen, die ich aus Ihrer Frage herausgehört habe. Sie ist sicherlich genauso wie ich zu dem Schluß gekommen, daß diese komplexe Materie noch wirklich sachverständiger Beratung bedarf. Diese Zeit müssen wir uns noch nehmen. Dabei glaube ich nicht, daß das von Ihnen genannte Jahr 1990 das Ende sein wird.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragestunde. Es tut mir leid, daß ich nicht alle Fragen habe aufrufen können. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Die nicht aufgerufenen Fragen werden, soweit sie nicht vom Fragesteller zurückgezogen worden sind *), schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die verbundene Tagesordnung um den Zusatzpunkt „Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) - Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages" - Drucksache 10/924 - erweitert werden. Dieser Zusatzpunkt soll heute ohne Aussprache zusammen mit den Tagesordnungspunkten 11 bis 13 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte auch noch darauf aufmerksam machen, daß wir die Tagesordnung des morgigen Tages geändert haben. Wir beginnen morgen früh um 8 Uhr mit einer Aktuellen Stunde über das Thema:
') Abgeordneter Grünbeck hat seine Frage Nr. 78 zurückgezogen.
Vizepräsident Westphal
„Umwelt- und Gesundheitsgefährdung durch chlorierte Kohlenwasserstoffe".
({1})
Ich rufe dann die Tagesordnungspunkte 5 a) bis 5 c) auf:
5. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Lenzer, Dr. Bugl, Boroffka, Carstensen, Gerstein, Keller, Maaß, Frau Dr. Neumeister, Schneider ({2}), Seesing, Dr. Warrikoff, Landré, Dr. Laufs, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Wex, Dr. Blank, Fellner, Haungs, Dr. Lippold, Voigt ({3}), Frau Dr. Wisniewski, Kolb, Dr. Jobst, Dr. Kunz ({4}), Müller ({5}), Magin, Frau Roitzsch, Frau Hoffmann ({6}), Pohlmann, Sauter ({7}), Clemens, Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Hüsch, Wilz, Müller ({8}), Sauer ({9}), Linsmeier, Schwarz, von Schmude, Dr.-Ing. Kansy, Dr.-Ing. Laermann, Kohn, Neuhausen, Grünbeck, Hoffie, Eimer ({10}), Dr. Haussmann und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Neuausrichtung der Forschungs- und Technologiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 10/288, 10/710 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie
({11})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Zukünftige Entwicklung der Großforschungseinrichtungen
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Steger, Brosi, Catenhusen, Fischer ({12}), Grunenberg, Nagel, Stahl ({13}), Stockleben, Vahlberg, Vosen und der Fraktion der SPD
Zukünftige forschungspolitische Zielsetzung im Bereich der Großforschungseinrichtungen ({14})
in Verbindung mit
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung zur Förderung der Grundlagenforschung in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 10/158, 10/188, 9/962, 10/539 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Bugl Fischer ({15}) Dr.-Ing. Laermann Frau Dr. Hickel
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Annahme des Ersten europäischen strategischen Programms für Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Informationstechnologie ({17})
- Drucksachen 10/426, 10/678 -
Berichterstatter: Abgeordnete Maaß Brosi
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung des Altestenrates sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 5 a) bis 5 c) und eine Aussprache von drei Stunden vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zuerst Herr Abgeordneter Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute zum erstenmal in einer etwas umfangreicheren Form über Grundsätze der staatlichen Forschungs- und Technologiepolitik. Ich möchte mich dabei insbesondere mit der Großen Anfrage der Koalitionsfraktionen und mit der Antwort der Bundesregierung darauf beschäftigen.
({0})
Ich möchte über Forschungs- und Technologiepolitik nach unserem Verständnis in der industriellen Gesellschaft sprechen, ihre Rolle, ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen und Probleme. Eine Diskussion über die volle Breite der staatlichen Forschungsförderungsaktivitäten werden wir sicherlich in absehbarer Zeit anläßlich der Vorlage des Bundesforschungsberichtes VII im Ausschuß und auch hier in diesem Hause führen können. Deswegen fehlen ganz bewußt auch einige für uns durchaus wichtige Themen.
({1})
Ich nenne etwa die Hochtemperaturreaktorentwicklung. Ich spreche das Programm „Humanisierung des Arbeitslebens" an, und ich denke an den gesamten Komplex der Kohleveredelung. Hierzu haben wir bewußt keine Fragen gestellt, weil dies nach unserem Verständnis nicht Gegenstand dieser Debatte sein sollte. Ich darf in diesem Zusammenhang im übrigen auch auf die Vorbemerkung in der Antwort der Bundesregierung verweisen.
({2})
Hier werden eine ganze Reihe von Stichworten angeführt. Wir beschränken uns heute auf ausgewählte Beispiele in Anknüpfung an die Gipfelkonferenz in Versailles.
Lassen Sie mich zunächst zur Einordnung der Forschungs- und Technologiepolitik in das gesamt3568
politische Spektrum Ausführungen machen: Wie nahezu alle Industriestaaten der westlichen Welt befindet sich auch die Bundesrepublik Deutschland bereits seit mehreren Jahren in einer Phase wirtschaftlichen Umbruchs. Neue technische Entwicklungen stehen vor dem Durchbruch und werden zu erheblichen Veränderungen in unserer technischen Welt, ja, in unserer gesamten Gesellschaft führen.
({3})
Erschwerend kommt hinzu, daß während des Umstrukturierungsprozesses Wirtschaft und Gesellschaft unseres Landes infolge aggressiver Marktstrategien und Exportoffensiven anderer Länder besonderen Belastungen ausgesetzt sind, die die volkswirtschaftlichen Stabilitätsziele und angemessenes Wachstum gefährden. Hier gegenzusteuern ist selbstverständlich schwerpunktmäßig Aufgabe etwa der Wirtschaftspolitik im allgemeinen, der Geldpolitik, der Finanzpolitik. Aber andererseits zeigt die Erfahrung, daß wirtschaftlicher Erfolg langfristig nur über Investitionen und Innovationen zu erzielen und zu sichern ist.
({4})
Zusätzlich ist zu beobachten, daß gerade innovations- und forschungsintensive Unternehmen und Industriezweige überdurchschnittliche Export- und Beschäftigungserfolge erzielen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat festgestellt, daß die, die konsequent auf eine Intensivierung und Verbreiterung der neuen Wachstumsfelder setzen, von wirtschaftlichen Schwankungen unabhängiger sind. Wer einen hohen Anteil an innovativen Produkten in seinem Angebot führt, trifft in der Regel auf steigende, zumindest aber stetige Nachfrage. Ein solcher Unternehmer wirtschaftet nicht nur rentabel, sondern schafft auch längerfristig sichere Arbeitsplätze.
Neben Boden, Arbeit und Kapital hat sich, so möchte ich sagen, der technische Fortschritt geradezu als vierter Produktionsfaktor etabliert.
({5})
Angesichts dieser Bedeutung für unsere Wirtschaft ist es zu begrüßen, daß gerade dieser zukunftsorientierte Politikbereich, der diesen vierten Produktionsfaktor fördern soll, in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl einen besonderen Rang erhalten hat. Dort heißt es:
({6})
Wir wollen die moderne Gesellschaft. Wir können den sozialen und technologischen Wandel unserer Zeit nur als leistungsfähiges Industrieland bewältigen. Der technische Fortschritt birgt nicht nur Gefahren. Er nimmt auch Lasten von den Menschen und eröffnet ihrer Schöpferkraft neuen Raum.
Dies wird dann in einer Breite ausgeführt - dies möchte ich hervorheben -, wie es noch nie zuvor in einer Regierungserklärung der Fall war.
({7})
Für diejenigen, die in diesem Zusammenhang nach der Wende fragen, möchte ich an folgendes erinnern: Wie sah es noch vor kurzem aus? In der Bevölkerung herrschte Verunsicherung auf Grund jahrelanger technikfeindlicher pessimistischer Diskussionen sowie zumindest ideeller Unterstützung von Organisationen und Verhaltensweisen, die die Technik ablehnten. Es grassierte das geflügelte Wort: Die einen machen das Geschäft; wir leisten uns die Diskussion.
({8})
Teile der Wirtschaft waren verstört. Sie waren nicht mehr gewillt, noch selbst etwas zu wagen und eigeninitiativ tätig zu werden, wenn der Staat sich nicht mit erheblichen Anteilen an diesen Investitionen beteiligte. Es herrschte eine Art Mitnehmermentalität.
({9})
Bei dem heillosen Durcheinander z. B. bei der Finanzierung der fortgeschrittenen Reaktorlinien, wo die Vorgängerregierung monatelang überhaupt nichts unternommen und mit keinem Betroffenen und Beteiligten gesprochen hat,
({10})
wurden die Arbeitnehmer von der Entlassung bedroht, wie es jetzt leider Gottés durch ein Gerichtsurteil bei dem Kraftwerk Isar 2 geschehen ist, wo 1 200 Menschen auf Grund eines unsicheren Genehmigungsverfahrens vor der Existenzgefahr stehen.
({11})
Es herrschte Ungewißheit über die Fortführung kerntechnischer Vorhaben überhaupt infolge der Rahmenbedingungen, die nahezu auf eine grundsätzliche Ablehnung hinausliefen.
({12})
Bei der Förderung der Mikroelektronik und der Datenverarbeitung wurden zwar gewisse Erfolge erzielt. Aber es kam nicht zu nennenswerten Durchbrüchen gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Das ist angesichts der Verteufelung auch dieser Technik in weiten Kreisen auf der anderen Seite des politischen Spektrums kein Wunder.
Was können wir heute feststellen? Mehr als 300 000 Menschen haben auf dem Köln/Bonner Flughafen die dort ausgestellte Raumfähre besucht. Millionen Fernsehzuschauer haben den Raumflug des deutschen Astronauten Merbold verfolgt.
({13})
Die Computer wurden zu Rennern des Weihnachtsgeschäfts. Die Beispiele sind beliebig vermehrbar. Heute gibt es z. B. ein Tauziehen zwischen zwei Bundesländern um den Standort einer Wiederaufbereitungsanlage.
({14})
Der Bau der fortgeschrittenen Reaktoren geht zügig und finanziell gesichert voran.
({15})
Noch nie in den letzten zehn Jahren hat es eine so große Zahl von Neugründungen von Unternehmen, besonders von technologieorientierten Unternehmen, gegeben. Wie ich bei Rückfragen gehört habe, waren es etwa 17 000 im Jahr 1983 gegenüber 14 000 im Jahr vorher.
({16})
Selbst der DGB spricht sich grundsätzlich für eine Nutzung neuer Techniken aus, wenngleich ich bedauerlicherweise feststellen muß: Auch dort gibt es einige schrille Töne, wie sie z. B. jetzt auch von den Bänken der SPD-Fraktion kommen.
({17})
Das sind ermutigende Zeichen. Mit anderen Worten: Die Forschungs- und Technologiepolitik der alten Regierung wurde von den Betroffenen oft nicht mehr als Hilfe zur Förderung des technischen Fortschritts empfunden.
({18})
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in einigen Fällen staatliche Forschungsmittel nur noch in einer Art Mitnahmeeffekt - ich sprach davon - eingestrichen wurden, ohne daß es einen Ansporn für adäquate Erfolge gab. Ihre Forschungs- und Technologiepolitik wurde die Gefangene eines Gesellschaftspiels mit immer neuen Bedingungen, die die Erforschung und Nutzung von Technik einschränken sollten.
({19})
Man vermißte die klare Linie. Die Forschungs- und Technologiepolitik wurde zunehmend zur Spielwiese und Restgröße von Fehleinschätzungen und unbewältigten Problemen.
Auch hier haben wir eine bittere Hinterlassenschaft übernommen, die Minister Dr. Riesenhuber mit seinen Mitarbeitern erst einmal selber aufzuarbeiten hatte, bevor er sich neuen Akzenten zuwenden konnte.
({20})
In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, auf die ich bereits kurz eingegangen bin, wird dies alles angesprochen.
({21})
Forschungspolitik ist keine Lückenbüßerei, und diese Art engagierter Forschungs- und Technologiepolitik, die wir seit Jahren vertreten, ist auch kein exotisches Experimentierfeld, sondern ein ernsthafter eigenständiger Bestandteil aktiver staatlicher Daseinsvorsorge.
({22})
Sie soll und kann dazu dienen, Probleme nicht nur aufzuzeigen, sondern ganz handfeste Probleme der Menschen, etwa im Beschäftigungsbereich, auch zu lösen.
({23})
Unsere Große Anfrage hat deshalb das Ziel, die Rolle dieser neuen Forschungs- und Technologiepolitik - daher der Name „Neuorientierung" - deutlich zu machen.
({24})
- Sie sprechen ja nach mir, Herr Kollege Stahl, wie ich gehört habe. Sie werden das sicher noch ausführen wollen. Wir sind gespannt.
Wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg von Forschungs- und Technologiepolitik sind nach Meinung der Union - und da gibt es eine nahtlose Übereinstimmung innerhalb der Koalitionsfraktionen - die Bereitschaft zur Eigeninitiative und der Mut zum Risiko, hohe Motivation von Wissenschaftlern und Technikern, grundsätzliche Bejahung von Forschung und Technik durch unsere Bürger, die Ernsthaftigkeit und Klarheit der politischen Anstrengungen und letztlich das Vertrauen in die Stetigkeit und Berechenbarkeit der politischen Linie. Diese Voraussetzungen fallen nicht in den Schoß, und sie sind auch nicht durch permanente technikkritische Äußerungen zu erzielen. Irgendwann muß auch einmal gehandelt werden. Sie bedürfen vielmehr des nicht nachlassenden Engagements auf verschiedenen Gebieten
({25})
- Sie sollen mich nicht so erschrecken am frühen Nachmittag -,
({26})
von denen man teilweise sogar annehmen könnte, daß sie mit Forschung und Technologie kaum etwas zu tun haben. Hier geht es auch um neue Wege in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, die den Mut zum Risiko fördern und besondere Leistungen auf dem Gebiete von Forschung und Technik nicht bestrafen. Es geht auch um die Honorierung und gesellschaftliche Auszeichnung besonderer wissenschaftlich-technischer Leistungen, letztlich auch um neue Anstöße in der Bildungspolitik, die auf eine systematische herausgehobene Förderung von wissenschaftlichen Talenten abzielen.
Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch auf die Rede des Bundesaußenministers am 13. Dezember 1983 beziehen, in der er sich ganz präzise und in völliger Übereinstimmung mit unseren Intentionen zu dieser Thematik „Technologischer Fortschritt und Randbedingungen" geäußert hat.
({27})
- Es freut mich, daß Sie das sagen. Jetzt nehme ich Sie ausnahmsweise einmal ernst mit dieser Äußerung.
Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sind deshalb notwendig, weil sich Forschung und Technik vom Grundsatz her nicht für eine kurzfristige politische Steuerung nach Art der Konjunktursteuerung eignen. Erfolgreiche Forschung läßt sich nicht sozusagen auf Knopfdruck bewerkstelligen, sondern ist in der Regel an Institutionen und dort vorhandene Wissenschaftler gebunden. Sie bedarf auch der Geduld.
({28})
Unter Berücksichtigung dieser Charakteristika und Randbedingungen hat die Forschungs- und Technologiepolitik die bekannten Ziele, wie sie etwa auch schon im letzten Bundesforschungsbericht VI durchaus als allgemein akzeptierte Erkenntnis - das darf ich doch sicherlich sagen - zwischen Regierung und Opposition aufgeführt worden sind.
({29})
Es geht nicht allein um die Ziele. Der Streit und die Diskussion entzündet sich vielmehr - das will ich gerne noch ausführen - an den Instrumenten, die dazu eingesetzt werden müssen, diese Ziele zu erreichen. In Verfolgung dieser Ziele ist den Chancen und Risiken der Technologie besondere Aufmerksamkeit zu widmen. So diskutieren wir doch - das wissen Sie - beispielsweise seit Jahren, seit 1973, über die Frage der Technologiefolgenabschätzung, über die Fragen der Politikberatung in diesem Bereich.
({30})
Ich hoffe auf Ihre - nachdem Sie das, als Sie in der Regierung waren, immer abgelehnt haben - konstruktive Mitarbeit. Wir müßten langsam einmal über die Sonntagsreden hinauskommen.
({31})
Um einen weiteren Punkt vorwegzunehmen: Ich darf noch einmal sagen, diese forschungspolitischen Ziele sind, glaube ich, zwischen uns nicht umstritten.
({32})
Aber wie soll dies jetzt geschehen? - Ach ja, wir haben ja jetzt einen neuen Mitkombattanten im Hause. Ich stelle das fest und nehme das zur Kenntnis.
({33})
- Da ich aus Hessen komme, Herr Kollege Kansy, kenne ich den Herrn mit der Dachlatte aus etwas geringerer Entfernung. - Verstärkte Anstrengungen auf dem Gebiete der Grundlagenforschung,
Forschung in Bereichen staatlicher Daseins- und Zukunftsvorsorge, Umwelt, Klima, Gesundheit, Sicherheit, um einige Beispiele zu nennen, Großforschung, wie etwa Weltraumforschung oder Forschung im Energie- und Verkehrsbereich, Verbesserung der Infrastruktur und der Kooperation in der Forschung, Verbesserung der Ausgangs- und Rahmenbedingungen für Innovationen in der Wirtschaft, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen und für innovative Unternehmensgründungen - das ist geradezu ein Modethema geworden, nachdem man von dort jahrelang nichts gehört hat -, schließlich eine Erleichterung des technologischen Fortschritts und Entwicklung der Industrie.
Grundlage für staatliches Engagement auf dem Gebiet der Forschungs- und Technologiepolitik aber ist für uns die Soziale Marktwirtschaft. Von daher ergibt sich sozusagen eine Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft. Diese geht grundsätzlich davon aus, daß auch im Bereich Forschung und Technologie die Eigeninitiative der Unternehmen an erster Stelle stehen soll. Staatliche Forschungs- und Technologiepolitik ist von daher grundsätzlich auf Aufgaben beschränkt, die der Markt nicht oder nur nicht ganz erfüllen kann. Dies gilt z. B. für die Grundlagenforschung, die sich ja, wie wir doch sicherlich alle akzeptieren, von ihrem Selbstverständnis her außerhalb des Marktes bewegt, weil sie nicht auf ein unmittelbares sich im Markt artikulierendes Verwertungsinteresse gerichtet ist.
Meine Damen und Herren, weitere ganz oder teilweise rein staatliche Aufgaben liegen in der erwähnten Daseins- und Zukunftsvorsorge. Hier reicht das Eigeninteresse der Unternehmen, aber auch die Nachfrage des Marktes generell nicht oder noch nicht aus. Dazu zählen die Maßnahmen auf dem Gebiete der Umweltforschung, der Klimaforschung und der Gesundheit. Hier hat staatliche Forschungsförderung eine Aufgabe.
({34})
Die Grenze der Aufgaben staatlicher Forschungs- und Technologiepolitik ergibt sich bei zunehmender Anwendungsnähe der Forschungsergebnisse. Hier ist es erforderlich, daß staatliche Mittel nur noch dann aufgewandt werden, wenn die Industrie ihr besonderes Eigeninteresse auch durch ein substantielles finanzielles Engagement in Zusammenarbeit mit der staatlichen Forschung dokumentiert. Insofern ist - und da darf ich Sie bitten, gut zuzuhören, damit wir dieses Thema vielleicht endlich einmal ausräumen und als abgehakt betrachten können ({35})
die direkte staatliche Förderung von Forschungsprojekten in der Industrie einem stärkeren Begründungszwang unterworfen und bedarf einer genaueren Berücksichtigung
({36})
von Kosten-Nutzen-Überlegungen.
({37})
Das Ideal wäre natürlich, daß marktnahe Forschung und Entwicklung durch die Wirtschaft selbst betrieben und finanziert werden könnte. Andererseits aber darf Forschung hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Bedeutung nicht dem Zufall überlassen werden, so daß auch weiterhin eine maßvolle direkte staatliche Forschungsförderung notwendig ist.
({38})
Es darf nicht vergessen werden, daß z. B. die Erfolge in der Raumfahrt oder bei der Nutzung der Kernenergie nicht ohne direkte Forschungsförderung möglich gewesen wären. Die durch eine konsequente marktwirtschaftliche Ausrichtung der Forschungspolitik gebotene maßvolle Verwendung dieses Instruments der direkten Forschungsförderung erfordert auch, daß eine Konzentration auf wenige wohldefinierte Projekte erfolgt. Erste Anstrengungen in dieser Richtung sind ja bereits unternommen worden.
Es wäre schön, wenn wir damit diesen Streit, diesen quasi ideologischen Streit,
({39})
der nie ein Streit in der Sache war, der eine rein akademische Diskussion war und der unproduktiv, wenn nicht gar kontraproduktiv war, vergessen könnten.
({40})
Von besonderer Bedeutung im Rahmen der staatlichen Förderung von Forschung und Technologie ist die indirekte Forschungsförderung.
({41})
Diese z. B. durch finanzpolitische Regelungen zu bewerkstelligenden Maßnahmen erlauben es den Unternehmen, sich in ihren Unternehmensplanungen frühzeitig auf staatliche Förderung einzustellen. Die indirekte Forschungsförderung hat insbesondere hervorgehobene Bedeutung für kleine und mittlere Unternehmen und hat dort besonders große Erfolge, weil sie zusätzlich hilft, den sich dort vollziehenden Strukturwandel zu erleichtern und die Innovationsfähigkeit auf unbürokratische Weise zu verstärken.
({42})
Ein besonderes staatliches Aktionsfeld ist der Technologietransfer durch Personalaustausch zwischen den staatlichen Forschungseinrichtungen und der Industrie. Hierzu wird es ja noch in den folgenden Beiträgen eine vertiefte Diskussion geben; von unserer Seite werden sich damit die Kollegen Dr. Bugl und Maass intensiver beschäftigen.
({43})
Staat und Industrie sollten alsbald dafür sorgen, daß diese Vorschläge in die Tat umgesetzt werden. In den Vereinigten Staaten und in Japan geht dieser Austausch schon relativ unkompliziert und
ohne viel Bürokratie, quasi zur Tagesordnung gehörend, über die Bühne.
Meine Damen und Herren, es gäbe nun eine ganze Reihe neuer Prioritäten zu setzen. Ich nehme an, daß der Bundesminister, der hier auch noch sprechen wird, dazu noch einiges sagen wird.
({44})
Aber ich weise noch einmal darauf hin: Es war heute nicht die Aufgabe gestellt, nun in einer Art Warenhauskatalog die Forschungsförderung von der naturwissenschaftlich-technischen Förderung oder, um im Haushaltsschema zu bleiben, von der allgemeinen Forschungsförderung bis hin zu den am anderen Ende des Einzelplans 30 angesiedelten historischen Instituten vorzutragen. Darum ging es nicht. Es sollten vielmehr einige besondere Schwerpunkte herausgestellt werden.
({45})
Zu diesen Schwerpunkten - wie etwa Informations- und Kommunikationsforschung, Satelliten-und Raumfahrttechnik und Materialforschung - gehört auch das Problem der Information und Dokumentation, wenn es wahr ist - und das ist es -, daß Information als „Rohstoff der Zukunft" zu betrachten ist.
({46})
Meine Damen und Herren, wir werden in Zukunft auch über die Fragen der internationalen Zusammenarbeit diskutieren, über die Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern und uns, aber auch über die innerhalb der Industriestaaten.
Ich glaube, daß diese Anfrage zur Neuorientierung der Forschungs- und Technologiepolitik der Bundesregierung eine willkommene Gelegenheit gegeben hat, zunächst einmal zu diesem Thema der Forschungs- und Technologiepolitik in der Sozialen Marktwirtschaft in Anknüpfung an die Tätigkeit der Arbeitsgruppe des Versailler Gipfeltreffens der Regierungschefs Wege zu zeigen.
Wir sind der Auffassung, daß sich die Bundesregierung auf einem guten Weg befindet. In dieser kurzen Zeit konnte mit einem radikalen Umsteuern - das eignet sich in der Forschungspolitik auch überhaupt nicht ({47})
nicht etwa ein Wunder bewirkt werden. Das hat auch niemand gefordert. Ich danke im Namen der Unionsfraktionen dem Bundesminister für Forschung und Technologie, unserem Freund Dr. Heinz Riesenhuber, und seinen Mitarbeitern für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit.
({48})
Zwischen uns gibt es in der Koalition keine ideologischen Gefechte, mit denen in der Vergangenheit die Zeit verplempert worden ist.
({49})
Wir stehen an der Seite der Bundesregierung. Wir haben Vertrauen in ihre Arbeit zum Wohle unseres Landes. - Ich bedanke mich.
({50})
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungsfraktionen, so hat man den Eindruck - Herr Kollege Lenzer, Ihre Rede, die ja sehr verhalten war, hat das bestätigt -, wollten mit der Großen Anfrage der Öffentlichkeit gerne darstellen, was es nach fast eineinhalb Jahren an Veränderungen im Ressort des Forschungsministers gibt, welche neuen Forschungsakzente gesetzt worden sind. Wenn man Ihre Fragen, Herr Kollege Lenzer, nochmals ernsthaft nachliest, muß man sagen, daß dabei die Erwartungen der Regierungsparteien sehr hoch waren.
Berücksichtigt man dazu noch all das, was vorher von Ihnen an ideologischem Ballast, bezogen auf Neuerungen, bekundet wurde, so sind die Antwort und deren Ausbeute abgesehen von wortreichen und langen Umschreibungen von Selbstverständlichkeiten bei Durchsicht nüchtern, um nicht das Wort mager zu gebrauchen.
({0})
Darüber hilft auch nicht Ihr verhaltener Ton jetzt, nachdem Sie die Regierung stützen; denn Tatsache ist ja, Herr Kollege Lenzer, daß Sie vorher über viele Sachen anders gesprochen haben als heute.
Diese Antwort auf die Große Anfrage ist das erste Dokument der konservativen Regierung zur Forschungs- und Technologiepolitik. Die Bundesregierung sagt - das stellten Sie vorhin in Frage, Herr Kollege Lenzer -, sie nehme ausdrücklich die Gelegenheit wahr, in Ergänzung der Beantwortung der einzelnen Fragen und noch vor Erscheinen des Bundesforschungsberichts VII die Ziele und Grundlagen ihrer Forschungspolitik im Zusammenhang zu skizzieren. Es wäre daher zu erwarten gewesen, daß die Wende, die Sie als Vertreter einer Regierungsfraktion ja vorhin auch angesprochen haben, in der Forschungs- und Entwicklungspolitik jetzt auch von den Zielvorstellungen her dokumentiert wird. Das ist aber nicht der Fall.
Die drei grundsätzlichen Aussagen der neuen Bundesregierung zu der Frage, wozu die Forschungspolitik beitragen soll - Erweiterung und Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, Ressourcen- und Umweltschonung sowie menschengerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen, Steigerung der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit -, tragen wir Sozialdemokraten ebenfalls mit. Ja, meine verehrten Kollegen von den Regierungsparteien, diese Zielvorstellungen stimmen ja fast wörtlich, wenn man den Bundesforschungsbericht VI einmal liest, mit denen der sozialliberalen Bundesregierung überein.
Das vierte dort genannte Ziel der Technikfolgenabschätzung und -bewertung ist jetzt von Ihnen, Herr Forschungsminister, in den Instrumentenkasten der Antwort z. B. unter Punkt 7 gepackt. Frage: Warum ist das eigentlich nicht mehr so wichtig? Fazit für uns: Die neue Bundesregierung hat nach fast eineinhalbjähriger Amtstätigkeit keine neuen Zielvorstellungen für die Forschungs- und Technologiepolitik entwickelt, sondern die von der sozialliberalen Bundesregierung entwickelten beibehalten.
({1})
Diese Zielsetzung wird unseres Erachtens nun mit Glaubenssätzen verbunden und überfrachtet, die der Verfolgung dieser Ziele abträglich sind, nämlich dem Glauben - um nur zwei oder drei Beispiele zu nennen - an die Notwendigkeit der Herausbildung von Eliten durch einseitige Unterstützung von Spitzentechnologien in der Grundlagenforschung; an die Wirksamkeit der wichtigen Rahmenbedingungen für ihre Verbesserung; an die Möglichkeit, allein mit marktwirtschaftlichen Instrumenten - dies haben Sie eben wieder betont, Herr Kollege Lenzer - die tiefgreifenden Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen und -einstellungen steuern und verbessern zu können.
Der Glaube allein an diese drei oder vier aufgezeigten Prinzipien versperrt der Bundesregierung, versperrt Ihnen, Herr Forschungsminister, den Blick für die Möglichkeiten, wie Sie Ihre Ziele verwirklichen können.
Herr Kollege Lenzer, über die Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft kann man sicherlich reden; das haben Sie angesprochen. Aber ich glaube - Sie haben auch Japan und andere Länder angesprochen, die uns das vormachen -, daß auf diesem Gebiet, was Vertrauen und Aktivitäten anlangt, mehr geschehen könnte.
Fazit: Die Vermischung richtiger Ziele mit falschen oder alleinigen Glaubensbekenntnissen kann nicht zu einer konsequenten Forschungs- und Technologiepolitik führen. Was dabei herauskommt, ist ein unentschiedenes Hin- und Herschwanken zwischen punktuell angesetzten Minimaßnahmen und breiten Mitnahmeeffekten als Folge.
Lassen Sie mich für die sozialdemokratische Fraktion feststellen: Eine wegweisende Konzeption, Herr Forschungsminister, ist dies wirklich nicht.
({2})
Für die Förderung der Informationstechniken werden lediglich Ankündigungen gemacht. Weder die schon im Mai 1983 von Bundeskanzler Kohl angekündigte umfassende Konzeption für die weitere Förderung der Entwicklung der Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechnik, noch die Finanzierung für das europäische Forschungsprogramm ESPRIT liegen vor. Dies ist bedauerlich. Es darf doch nicht sein, daß notwendige Entscheidungen für die Förderung und Entwicklung der Volkswirtschaft, für die künftige Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in einer Bundesregierung im Kompetenzgerangel zwischen den Ministerien - hier nenne ich insbesondere das Wirtschaftsministerium - hängenbleiben und unverantwortlich verzögert werden. Die VerantworStahl ({3})
tung trägt aber der Forschungsminister allein, da seine Durchsetzungskraft unseres Erachtens nicht ausreicht.
Sie, Herr Dr. Riesenhuber, heben in Ihrer Antwort immer wieder auf den Bericht „Technologie, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung" ab, der von der eingerichteten Arbeitsgruppe nach dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Juni 1982 vorgelegt wurde. Was hat sich hier eigentlich während Ihrer Amtszeit tatsächlich bewegt? Wir stellen fest: nicht viel.
({4})
Auch die Finanzierung von ESPRIT ist im Dschungel der europäischen Auseinandersetzung über Finanzen bisher hängengeblieben. In der Antwort werden Programme für Materialforschung und zur Biotechnologie ebenfalls angekündigt. Ergebnisse sind aber bisher nicht sichtbar.
Der gesamte Bereich von entwickelten Technologien in zahlreichen Wirtschaftszweigen, deren notwendige Umsetzung und deren Markteinführung Sie als Forschungsminister besonders hervorgehoben haben, findet in Ihrer Antwort keine oder kaum eine Beachtung. Wir fragen: Was will hier der Forschungsminister tun? Da geht es doch vor allem auch um Umweltschutz- und Energietechnologien. Wir erwarten in dieser Debatte von Ihnen, Herr Forschungsminister, eine klare Antwort. Diese ist von uns heute zum drittenmal angemahnt worden. Ich glaube, daß man sagen kann: Hier besteht von Ihrer Seite aus ein Vollzugsdefizit.
Für die Weltraumforschung wurden in der Antwort nur altbekannte Tatsachen und Forderungen genannt. Die künftige Entwicklung der bemannten Weltraumforschung, die selbst innerhalb der NASA wegen der schlechten Kosten-Nutzen-Relation prominente Gegner wie den weltbekannten Physiker van Allen hat, wird ausgespart. Es wäre durchaus sinnvoll, auch hier nach dem Erfolg der Mission, über den wir alle erfreut waren, kritischer zu überlegen, welchen Nutzen die Forschung und Entwicklung in der Bundesrepublik aus der Beteiligung an der bemannten Weltraumforschung ziehen wollen, ob nicht wissenschaftlich oder technisch bessere Ergebnisse durch sinnvolle Verlagerung der Schwerpunkte zu erwarten sind.
Weiter ist die Frage neu zu stellen, ob die Brutreaktortechnologie und die Fusionsforschung mittelfristig so stark zu fördern ist. Trotz aller Ankündigung des Forschungsministers, die Weiterentwicklung der Brutreaktortechnologie den interessierten Unternehmen der Wirtschaft zu überlassen, ist unseres Erachtens durch den neuen deutschfranzösischen Vertrag wieder der Ansatz für eine stärkere Inanspruchnahme des Staates geschaffen worden. Was wird mit den Entwicklungs- und Forschungszentren für diese Technologien mittel- und langfristig? Hier bedarf es einer Aussage von seiten der Bundesregierung. Ich glaube, daß die Beschäftigten in den Zentren einen Anspruch darauf haben, Herr Dr. Riesenhuber, zu erfahren, wo das Schiff in die Zukunft hingeht. Es genügt nicht, Herr Forschungsminister, durch Finanzierung der beiden umstrittenen Reaktorlinien das Problem aus dem öffentlichen Rampenlicht in ruhige Bahnen zu bringen. Die von mir angesprochenen Punkte, hinter denen sich Milliarden von Ausgaben auftürmen, bedürfen klarer Antworten und Entscheidungen.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist bedauerlicherweise kein konkreter Hinweis auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen enthalten. Das Wort Humanisierung der Arbeitswelt - Herr Lenzer, Sie haben das richtig erkannt - kommt in der Antwort überhaupt nicht vor. Für die Auswirkungen, die sich für die unmittelbar Betroffenen aus der Einführung neuer Technologien und dem technischen Fortschritt ergeben, hat sich auch hier die Bundesregierung den Blick verstellt. Diese Blindheit, Herr Forschungsminister; kann dazu führen, daß einer maschinenstürmerischen Gesinnung Vorschub geleistet wird.
Nun lassen Sie mich noch einen Bereich ansprechen, der mir besonders am Herzen liegt und lag. Ich meine die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Die Bundesregierung sieht es nach der Wende - so hört man es wenigstens - als ganz wichtig an, die Umstrukturierung der Förderung von Forschung und Entwicklung von direkter Projektförderung zu indirekten und indirekt-spezifischen Maßnahmen zu praktizieren. Wichtige, noch unter sozialdemokratisch geführter Bundesregierung beschlossene Maßnahmen dieser indirekt-spezifischen Förderung, insbesondere der Personalkostenzuschuß, wurden fortgeführt, teils ausgebaut, aber auch in einem Bereich, den ich letztens nannte, erheblich verkürzt. Der für dieses Programm zuständige Bundeswirtschaftsminister hebt zwar in seinen Sonntagsreden die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen hervor. Doch eines der wichtigsten Instrumente, nämlich dieses Programm, läßt er mehr und mehr verkümmern. Folgende Zahlen mögen dies belegen. Das FuE-Personalkostenzuschuß-Programm startete 1979, Herr Kollege Riesenhuber, mit 300 Millionen DM. Über 4 800 Anträge lagen vor. Eine prinzipiell richtige Maßnahme, die mittleren und kleinen Unternehmen helfen sollte, ihr Forschungs- und Entwicklungspotential auszubauen und ihre Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Um Mitnahmeeffekte noch stärker auszuschließen, wäre es sinnvoll gewesen, bereits bei der Einführung die Förderung zeitlich und auf zusätzlich eingestelltes Forschungspersonal zu beschränken. Die SPD hat seinerzeit ihre Bedenken zurückgestellt. Jetzt, vier Jahre später, klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die Zahl der Anträge ist 1983 auf über 8 200, also um 70 %, gestiegen. Das Förderungsvolumen für diesen mittelständischen Bereich wuchs jedoch lediglich um 20 Millionen DM, also knapp 7 %, nachdem es bereits 1982 einen Umfang von 390 Millionen DM erreicht hatte. Dadurch ist eine Bugwelle von rund 100 Millionen DM entstanden, die trotz Veränderung der Förderbedingungen nicht abgebaut werden konnte. Sie wissen, Herr Bundesforschungsminister, daß wir Sozialdemokraten bei der Haushaltsverabschiedung da etwas drauflegen wollten, daß aber Ihre Fraktion es war,
Stahl ({5})
die es letztendlich verhindert hat. Und Sie haben sich als Forschungsminister im Kabinett bei diesem Punkt dem Finanzminister gegenüber nicht durchsetzen können.
Daran kann man eigentlich sehen, Herr Kollege Lenzer, daß das, was Sie vorhin zur Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen so wortreich ausgeführt haben, jedenfalls bei Ihnen nicht die Priorität besitzt, die Sie hier vor dem Plenum des Bundestages darstellen.
Die Schaffung von Technologiezentren, die Sie in Ihrer Antwort auch angesprochen haben, begrüßen wir. Denn dies ist eine gute Sache für junge Innovatoren. Auch das Bereitstellen von Risikokapital sollte als Versuch von Ihnen einmal aufgenommen werden. Ich glaube, bei Ihnen im Hause gibt es Überlegungen, auf diesem Weg voranzugehen.
Der Bund, das Land Nordrhein-Westfalen und die Bergbauunternehmen haben in den letzten zehn Jahren rund eine Milliarde D-Mark für die Entwicklung der Kohleverflüssigungstechnologie aufgewendet und damit bisher eine weltweit anerkannte, technisch erfolgreiche Spitzenposition der deutschen Technologie auf diesem Gebiet erreicht. Die bisherige Entwicklung in der Bundesrepublik wurde, technisch begründet, parallel an Ruhr und Saar durchgeführt. Das Ergebnis dieser unabhängigen Doppelentwicklung sind zwei in ihren technischen Grundkonzeptionen weitgehend identische Pilotanlagen, die seit Ende 1981 erfolgreich betrieben werden. Das planmäßige Ende dieser Pilotphase ist spätestens 1985. Deshalb ist es notwendig, Herr Bundesforschungsminister, in diesem Bereich endlich einmal klarzulegen, wie die Sache weitergehen soll und wo der Standort dieser Anlage sein soll, damit die Ingenieure und die Industrieunternehmen ihre Planungen fortführen können. Die Standortentscheidung muß unseres Erachtens so schnell wie möglich gefordert werden.
Meine Damen und Herren, meine Ausführungen haben gezeigt, daß außer Ankündigungen aus dem Forschungsministerium, wie dem Austausch von Forschern aus Forschungseinrichtungen in die Wirtschaft - was wir sehr begrüßen -, bisher kaum eine selbst eingeleitete politische Innovations- bzw. Programmentscheidung in der weit über einjährigen Amtszeit des Ministers gefallen ist. Es ist kaum sichtbar, daß neue Gedanken verwirklicht worden sind. Das Fertigungsprogramm und das Programm „Technologieorientierte Unternehmensgründung" sind auch nicht auf dem Humus der neuen Regierung gewachsen, sondern Ansätze, die noch aus der alten sozialliberalen Koalition stammen.
Der Bundesforschungsminister hat von der sozialliberalen Koalition keine Erblast übernommen, eher ein wohlbestelltes Haus mit guten und motivierten Fachleuten,
({6})
in dem er sich hätte einrichten können. Es ist ihm
noch nicht gelungen, die bisher gezeigte Unordentlichkeit - lassen Sie mich es so sagen - und Entschlußlosigkeit in der Aufarbeitung anstehender, heute aufgezeigter Aufgaben für notwendige Entscheidungen für die Zukunft zu überwinden. Gute Rhetorik und guter Wille sind kein Garant für die Lösung anstehender Aufgaben.
({7})
Wir, die Opposition, erwarten Entscheidungen, und wir erwarten, Herr Forschungsminister, Antworten auf das, was wir heute zum drittenmal angemahnt haben.
Herr Kollege Lenzer, lassen Sie mich abschließend sagen: Mich freut es außerordentlich, daß Sie, nachdem Sie jetzt die Regierung mittragen, endlich Ihren ideologischen Ballast, den Sie sonst immer verkündet haben, abgelegt haben.
({8})
Ich bin der Überzeugung, dies führt zu einer guten Arbeit.
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laermann.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von Galileo Galilei stammt wohl der Ausspruch „Und sie bewegt sich doch". Wenn ich mir die Antwort auf die Große Anfrage zur Neuorientierung der Forschungspolitik anschaue, dann komme ich zu dem Eindruck: Die Forschungspolitik bewegt sich doch.
Verehrte Kollegen von der Opposition, Sie können doch wohl kaum erwarten, daß wir Ihretwegen den Bahnhof am Zug vorbeiziehen.
({0})
- Ich habe leider nur begrenzte Zeit, Herr Kollege, und das ist ein weites Feld, zu dem ich sehr viel zu sagen hätte. Ich will und muß mich deshalb auf einige Schwerpunkte beschränken.
In der jetzigen Phase der Forschungs- und Technologiepolitik werden staatliche Aktivitäten zur Förderung von Entwicklung und Markteinführung neuer und verbesserter Technologien mit mittelstandsorientierter Industriepolitik verknüpft. Dabei geht es vor allem um Aktivitäten zur Innovationsförderung kleiner und mittlerer Unternehmen - Herr Kollege Stahl, wollen Sie das bitte zur Kenntnis nehmen -,
({1})
um Unterstützung einer rascheren und breiteren Anwendung und Umsetzung gewonnener Entwicklungsergebnisse. Es macht keinen Sinn, mit hohem finanziellem staatlichem Aufwand immer neue Forschungsergebnisse zu produzieren, den in anderen Ländern bereits gewonnenen Erkenntnissen hinterherzulaufen und dann oft schon erfolgreiche Konkurrenten im Markt - selbst im eigenen Land vorzufinden.
Nach den übereinstimmenden ordnungspolitischen Grundprinzipien der Koalition, welche die FDP immer konsequent vertreten hat, gilt folgendes. Sie werden sich erinnern aus der Zeit, als wir gemeinsam eine Koalition bildeten. Ich wundere mich, daß Sie jetzt so reden, wir hätten das ja auch alles schon gemacht. Wie viele Mühe habe ich aufbringen müssen, um mit Ihnen da zu einem Minimalkonsens zu kommen.
({2})
Nach den Vorstellungen der FDP muß wieder ein ausgewogenes Verhältnis zwischen direkter und indirekter Forschungs- und Entwicklungsförderung hergestellt werden. Natürlich wird es direkte Forschungsförderung geben müssen. Das bestreitet niemand. Aber sie hat sich auf die Bereiche zu beschränken, wo nicht der Markt, sondern die Erfüllung staatlicher Verpflichtung eine Förderung erforderlich macht, wo das wissenschaftlich-technische und auch wirtschaftliche Risiko zu hoch ist, aber die Aufgabe des Staates zu langfristiger Daseinsvorsorge eine Förderung notwendig macht. Aber wir werden die indirekten Förderungsinstrumentarien wieder verstärken müssen: Abbau von übergroßem bürokratischem Aufwand, fiskalische Maßnahmen: die Erhöhung der Sonderabschreibung auf Forschungsinvestitionen, ergänzt durch nicht programmgebundene Zuschüsse wie etwa die Personalkostenzulage, die Vertragsforschung, die Investitionszulage.
Herr Kollege Stahl, Sie werden zur Kenntnis genommen haben, daß wir uns auch innerhalb der Fraktionen gegen die Vorstellungen und Beschlüsse des Haushaltsausschusses mit aller Energie und Intensität zur Wehr gesetzt haben, gerade im Bereich der Personalkostenzulage zu kürzen.
({3})
Aber ich könnte mir vorstellen, daß wir dieses Instrument noch verbessern und ergänzen können durch gewisse steuerliche Anreize. Dies werden wir unter Berücksichtigung der Haushaltslage, der Lage der öffentlichen Kassen durchzusetzen haben;
({4})
sonst geht nichts. Wir meinen, daß wir in der indirekten Forschungsförderung die Wahlmöglichkeit lassen müssen, je nach Ertragslage des Unternehmens steuerliche Vergünstigungen oder Zuschüsse in Anspruch zu nehmen.
({5})
Das erfordert, Herr Kollege, eine nahtlose Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den verschiedenen beteiligten Ressorts. Ich nenne das Bundesforschungsministerium, das Wirtschaftsministerium, das Finanzministerium. Ich wünsche mir - das sage ich hier in aller Offenheit - eine bessere Koordinierung auf der Verwaltungsebene.
({6})
Aber jeder Versuch, die zuständigen Minister gegeneinander auszuspielen oder hier einen Konflikt
darzustellen, muß mangels Masse scheitern; denn dieser Dissens besteht nicht.
({7})
Es ist im Bereich der Exekutive zwingend geboten, schnellstens systemtechnische Denkansätze auch in unsere Forschungs- und Entwicklungspolitik einzuführen, der Notwendigkeit von verstärktem interdisziplinärem Vorgehen zu entsprechen, nicht nur in der Forschung selbst, nicht nur in der Wirtschaft, sondern ebenso im administrativen Umfeld. Deshalb sage ich, Ressortegoismen müssen der Vergangenheit angehören, wenn wir die Probleme der Gegenwart vernünftig lösen wollen.
({8})
Es ist das politische Gebot der Stunde, sich intensiver um die volkswirtschaftliche Nutzung hervorragender Forschungs- und Entwicklungsergebnisse zu kümmern.
({9})
Die Nahtstelle zwischen Forschung und Innovation verlangt unser vordringliches Augenmerk. Die Transfermechanismen müssen schneller wirksam werden.
({10})
Dabei geht es um die intensive Bemühung zur Verfügbarmachung von Risikokapital - die FDP hat ja gerade jüngst dazu konkrete Vorschläge erarbeitet und vorgelegt -, um bessere Informationsvermittlung. Denn der Faktor Information, der sich aus Intelligenz, Kreativität und Erkenntnissen in vielfältiger Form zusammensetzt, der beliebig verwertbar und vermehrbar ist, ist für unser rohstoffarmes Land zu einem entscheidenden Produktionsfaktor geworden. Deshalb müssen wir auch unsere Patent-und Lizenzpolitik ändern. Ein ausgeprägtes ideelles und materielles Anreizsystem kann unser Innovationspotential nachhaltig und wirkungsvoll verstärken. Darauf hat wiederholt der Präsident des Deutschen Patentamtes hingewiesen. Die Information muß aber auch die Unternehmensleitungen, das Management, ebenso wie die Arbeitnehmer erreichen. Das setzt einen dynamischen Anpassungsprozeß des Qualifikationsniveaus aller am Wirtschaftsprozeß Beteiligten voraus.
Mit diesen Anmerkungen möchte ich es zunächst einmal bewenden lassen. Ich gebe noch zwei besondere Schwerpunkte zu bedenken:
Forschungsergebnisse und -kenntnisse lassen sich nicht allein über Datenträger, sondern am wirkungsvollsten über Köpfe transportieren.
({11})
Dies setzt einmal mehr Mobilität von Wissenschaftlern und Ingenieuren und einen intensiveren Austausch von Fragen und Problemlösungen voraus. Es setzt auch mehr Kooperation zwischen Forschungsinstituten, Hochschulen einerseits und der Wirtschaft und Verwaltung andererseits voraus. Dies gilt in besonderem Maße für die Großforschungseinrichtungen. Maßnahmen zur Erfüllung dieser
Forderung sind in der Beschlußempfehlung zur Grundlagenforschung und zu den Großforschungseinrichtungen im einzelnen aufgeführt. Ich kann es mir ersparen, darauf im einzelnen noch einmal einzugehen. Ich möchte nur zwei Bereiche, zwei Schwerpunkte, noch einmal nennen: die Drittmittelforschung und die Stiftungen.
Eine wesentliche Verbesserung der Kooperationsmöglichkeiten zwischen Forschungseinrichtungen und Wirtschaft kann durch die Beseitigung rechtlicher, administrativer und tarifrechtlicher Hemmnisse bei der Einwerbung und Verwendung von Drittmitteln in den Großforschungseinrichtungen und den Hochschulen erzielt werden.
({12})
Sie stellen auch ein vorzügliches Instrument zur Effizienzkontrolle dar. Wer keine vernünftigen, guten Ergebnisse zustande bringt, wird hier wenig zu erwarten haben. Sie sind ein Instrument, um mehr Wettbewerb unter den betroffenen Einrichtungen, eine Anhebung der Qualität und eine raschere Umsetzung von Ergebnissen hervorzubringen.
Wir, die FDP, wollen die Vorteile, welche Vielfalt und privates Engagement für die Förderung der Wissenschaften, ausdrücklich unter Einbeziehung der Geisteswissenschaften, bieten, erhalten wissen und sie ausbauen; eine Förderung, die sich nicht nur auf neue Erkenntnisse beschränkt, sondern auch ein hervorragendes Instrument zur Förderung des qualifizierten Nachwuchses darstellt.
Ich zögere nicht, hier im Sinne des Außenministers und Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher davon zu sprechen, daß damit auch der Notwendigkeit zur Förderung einer Leistungselite, unabhängig von der sozialen Herkunft, entsprochen werden kann.
({13})
Die privaten Stiftungen haben sich nie und zu keinem Zeitpunkt als Einrichtungen zur Förderung einer Standeselite verstanden, sondern haben sich im Gegenteil zur Förderung von Begabten gerade aus sozial schwächeren Schichten des In- und Auslandes bekannt. Projekte wurden ausschließlich nach ihrer wissenschaftlichen Qualität beurteilt. Der Raum der Freiheit der Wissenschaft wird durch private Stiftungen erheblich erweitert und gesichert. Der Staat hat die Pflicht, diesen Freiheitsraum und die Wirkungsmöglichkeiten der Stiftungen zu sichern und einen gesetzlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der es den Stiftungen auch künftig möglich macht, ihre freiwillig übernommenen Aufgaben optimal zu erfüllen. Die große Bedeutung von Stiftungen für Wissenschaft und Forschung, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht, ihre Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben, dürfte außer Frage stehen. Nicht zuletzt hierauf haben bisher alle Bundespräsidenten immer wieder hingewiesen.
Durch die Reform des Körperschaftssteuergesetzes von 1977 hat sich die materielle Situation für die gemeinnützigen Stiftungen verschlechtert, indem ihnen das Anrechnungs- und Erstattungsverfahren versagt bleibt, das für steuerpflichtige Körperschaften und Einzelpersonen eingeführt wurde. Den gemeinnützigen Stiftungen wird durch die Auswirkung der Reform des Körperschaftssteuergesetzes von 1977 jährlich ein Betrag von mehr als 50 Millionen DM entzogen, und dieser steht damit nicht mehr für die wohl anerkanntermaßen zu akzeptierenden Förderzwecke zur Verfügung. Wir müssen dies auch im Sinne der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom Mai 1983 ändern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend nur ein gewisses Kredo feststellen: Die Grundlagenforschung schafft die Voraussetzungen für die angewandte Forschung und Entwicklung, für die Entwicklung von Technologien von morgen; aber lassen Sie uns dabei bitte nicht vergessen, daß wir nicht nur nach den Sternen greifen, den Halleyschen Kometen oder den Jupitermonden nacheilen dürfen, während andere hier auf der Erde das irdische Geschäft betreiben. Grundlagenforschung ist Voraussetzung, aber die Umsetzung in angewandte Forschung und in Technologie und neue technische Entwicklungen dürfen wir dabei nicht aus dem Auge verlieren. Das schafft dann für die Zukunft sichere Arbeitsplätze. - Dies wollte ich abschließend sagen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hickel.
Frau Präsidentin! Forschung und Technologie, meine Damen und Herren, können eine so spannende Sache sein. Warum muß das hier bloß so diskutiert werden?
({0})
Es lag mir auf den Lippen zu sagen „langweilig", aber ich wußte nicht, ob ich dafür gerügt würde.
({1})
In einem Punkt stimme ich unserem Forschungsminister zu. Forschung und Technologie, die wir heute betreiben und die wir jetzt entwickeln, sind in höchstem Maße für die Zukunft, nicht nur für unsere, sondern auch für die der nächsten Generation, prägend. Wie wir leben, wie wir arbeiten werden, wie unser Umgang mit der dann noch verbliebenen Natur aussehen wird, alles das wird heute durch Forschungs- und Technologiepolitik mitbestimmt. Auch stimme ich Ihnen darin zu, daß diese Zukunft soweit wie möglich - ein Lieblingswort des Herrn Ministers - rational geplant werden sollte und - ich denke, auch darin habe ich wiederum Ihre Zustimmung - daß sie verantwortlich geplant werden muß.
Uns liegen heute Entschließungen sowohl der Regierung als auch der großen Koalition der Altparteien vor,
({2})
die von sogenannter Neuausrichtung, von einem
„strategischen Programm" und von sogenannter
„zukünftiger Entwicklung und Zielsetzung" im Bereich von Forschung und Technologie sprechen.
({3})
- Sie haben aber dem ESPRIT zugestimmt.
Man sollte meinen, daß hier die Vorstellungen, vielleicht sogar eine Vision von der zukünftigen, durch Forschung und Technologie weitgehend geprägten Gesellschaft erkennbar würden, daß Konzepte für die rationale Steuerung auf dem Weg zu dieser Gesellschaft durchschimmerten, daß eine Ahnung, wenn schon nicht ein Wissen, von dieser auf uns zukommenden wissenschaftlich-technischen Zukunft deutlich würde. Nichts davon ist zu finden. Vorstellungen, Visionen, Begriffe von Zukunft, das alles bleibt offen.
So fragen wir: Was ist das für eine Zukunft, die Sie uns hier aufdrängen wollen?
({4})
- Eben nicht. - Ist es etwa jene Zukunftsvision, die sich für mich ergibt, wenn ich dieses ESPRIT genannte Programm zur Informationstechnologie aufmerksam studiere, die dann etwa so aussieht, wie es auch schon die Propaganda während des Weihnachtsgeschäfts für die Computer im Kinderzimmer suggeriert hat, daß vierjährige Kinder ihren Tag bereits vor dem Bildschirm verbringen, die dann, was man aus wissenschaftlichen Studien durchaus wissen könnte, als Erwachsene dazu neigen werden, in Panik zu geraten, sobald sie auf menschliche Partner treffen, die spontan und nicht wie programmiert reagieren?
({5})
Oder sie entwickeln eine allgemeine Apathie und Handlungsunfähigkeit, die dann traurig macht. Sie gehören dann vielleicht zu jenem Drittel der erwachsenen Bevölkerung, das heute schon ständig unter dem Einfluß psychotroper, also bewußtseinsverändernder Arzneistoffe steht. Meine Damen und Herren, bedenken Sie eigentlich die seelischen, die sozialen und die gesundheitlichen Folgen Ihrer Technologiepolitik?
({6})
Nirgendwo findet sich in all den Vorlagen, die wir heute diskutieren, auch nur eine Vorstellung von derjenigen Zukunft, die man auch mit Forschungs-und Technologiepolitik fördern könnte und die wir GRÜNEN uns wünschen würden.
Ich möchte hier - erstens - nur einmal ein Leben in Frieden mit der Natur nennen, ein Leben ohne die andauernde, sehr wohl begründete Furcht etwa vor dem Endlosproblem des Atommülls und der immer wieder drohenden Energieverknappung. In all Ihren zukunftprägenden Programmen ist kein Wort von der Schwerpunktsetzung etwa im Bereich regenerativer Energien
({7})
- na, es steht weniger als nichts drin; im übrigen habe ich das sehr wohl gelesen -, im Bereich von energiesparenden Produktionsprozessen zu lesen, wofür in beiden Fällen noch sehr viel Forschung und Entwicklung geleistet werden müßten. Statt dessen lesen wir etwas von der Anpassung an die sogenannte amerikanische Spitzentechnologie, also an Technologien aus einem Land, in dem die schlimmste Energieverschwendung Alltag ist.
Zweitens nenne ich ein Leben ohne Gifte im Alltag. Der chemischen Vergiftung unserer Umwelt, unserer Atemluft, des Wassers, der Böden, unserer Nahrung und fast aller unserer Gebrauchsgüter könnte man sehr wohl Einhalt gebieten, wenn sich Forschung und Entwicklung auf die Umstellung vorhandener Produktionsprozesse konzentrieren würden.
({8})
Statt dessen lesen wir, daß Forschung und Entwicklung in erster Linie wachstumsfördernd sein müssen, wobei Wachstum lediglich am Geld gemessen wird, wie immer.
Drittens nenne ich mehr selbstbestimmte Arbeit, Arbeit die weniger entfremdet ist. Aber was finde ich in den vorliegenden Beschlüssen? Keine Spur vom Ausbau der Mitbestimmung von wissenschaftlichen Mitarbeitern, von Verbrauchern und von Benutzern der Forschungsergebnisse. Nicht einmal die Mitsprache der Arbeiter wird ausgebaut, die unter den von Ihnen, etwa im ESPRIT-Programm, geplanten drastischen Veränderungen der Arbeitsplätze zu leiden haben werden. Auf das Fehlen des HdA-Programms, des Programms zur Humanisierung der Arbeitswelt, wurde schon hingewiesen.
Überhaupt nicht in Angriff genommen wird aber nun, was wirklich wichtig wäre, eine Bewertung - Bewertung, nicht nur Abschätzung - der Technologiefolgen, ohne die wir solche Forschungen meines Erachtens überhaupt gar nicht fördern sollten.
({9})
Schließlich fehlt der Zukunftsplan für eine Gesellschaft, von der Sie selbst sagen, daß sie extrem exportabhängig ist, daß sie „sehr geringe Rohstoffressourcen" hat und daß sie „nur begrenzten Vorrat an Primärenergien" aufweist. Ein solches Land, wir nämlich, orientiert sich nach dem hier vorliegenden Forschungs- und Technologiekonzept ausschließlich an der sogenannten Spitzentechnologie eines Landes wie der Vereinigten Staaten von Amerika, auf das alles dies gar nicht zutrifft, das weder besonders exportabhängig noch arm an Rohstoffen ist und das notfalls bereit ist, sich seine Primärenergien mit militärischen Drohungen außerhalb zu besorgen. Haben wir nicht ganz andere Maßstäbe nötig? Sollten wir nicht lieber selber definieren, was für uns Spitzentechnologie ist, etwa im Sinne der vorhin genannten Prioritäten?
Diese einseitige Orientierung an den US-amerikanischen Bedürfnissen und deren Begriffen von sogenannter Spitzenforschung: Ist das nun bloß Wissenschaftskolonialismus, oder haben wir hier einen Grad der Abhängigkeit vom Dollar erreicht, der
bereits gefährlich ist und der Ihre Forschungs- und Technologiepolitik durch und durch prägt?
Diesen Eindruck muß man gewinnen; denn in all den Programmen zur Forschungs- und Technologiepolitik kennen Sie überhaupt nur drei Wertmaßstäbe - ich bin sie durchgegangen -: erstens, Innovationsschübe für die Wirtschaft verursachen zu helfen, um, zweitens, Investitionen und Wirtschaftswachstum zu fördern und, drittens, die Wettbewerbssituation auf den Weltmärkten zu stärken. - Und dies, obwohl bekannt ist, daß ein Wirtschaftswachstum, das etwa 6 % im Jahr betrüge, innerhalb von zehn Jahren zu Umweltzerstörungen doppelten Ausmaßes führen würde, obwohl gar nicht sicher ist, ob die Weltmärkte tatsächlich das brauchen, was in den USA und in Japan bereits im Überfluß angeboten wird, und obwohl gar nicht klar ist, ob Spitzenforschung nicht vielmehr das sein müßte, was ich oben skizzierte, nämlich ökologisch orientierte Forschung.
({10})
Meine Damen und Herren, eine rationale Zukunftsperspektive fehlt Ihrer Forschungs- und Technologiepolitik wohl vor allem deswegen, weil ihr die demokratische Verankerung fehlt. Beispielhaft zeigt sich das an den Großforschungseinrichtungen, über deren zukünftige Entwicklung wir hier auch beraten. Anstatt diesen Einrichtungen die Freiheit der Forschung, die Sie immer im Munde führen, aber nicht beachten, wirklich zu gewähren, sollen die nun noch weitergehend als bisher Zubringerdienste für die Wirtschaft und deren Wachstum leisten.
({11})
- Das ist Wissenschaftsfreiheit!
Die Förderung des sogenannten Technologietransfers mit verschiedenen hier vorgesehenen Maßnahmen ist doch nichts anderes als eine Subventionierung der freien Wirtschaft. Von dem Nutzen, den daraus die Wissenschaftler angeblich ziehen sollen, ist in der Vergangenheit sehr wenig zu spüren gewesen und wird in der Zukunft vermutlich noch weniger zu spüren sein. Die Zusammenarbeit zwischen Großforschungseinrichtungen und freier Wirtschaft erweist sich nämlich fast immer als Einbahnstraße; denn die freie Wirtschaft profitiert zwar von den Forschungsergebnissen der wissenschaftlichen Einrichtungen, diese können aber in dem Augenblick, wo die Industrie ein Interesse an Geheimhaltung hat - und das sind die wirklich interessanten Punkte -, nicht erwarten, von dieser Industrie voll informiert zu werden.
({12})
Wir GRÜNEN haben gefordert, an Stelle der kurzatmigen Orientierung der Großforschungseinrichtungen an den Wirtschaftsinteressen diesen Einrichtungen längerfristige Zielvorgaben zu stellen. Dies könnte z. B. geschehen, indem man in den Aufsichtsgremien Mehrheiten schafft, die von Benutzern, Verbrauchern und anderen Interessenten, etwa - das wäre etwas Neues - Umweltschutzverbänden, Verbraucherverbänden, Gewerkschaften und Mitarbeitern der Einrichtungen, gestellt würden.
({13})
Oberstes Kriterium für die forschungspolitischen Zielsetzungen müßte dann die soziale und ökologische Verträglichkeit
({14})
sowohl der Forschungsmethoden - ich erinnere an die Fragwürdigkeit der Tierversuche - als auch der Forschungsergebnisse sein.
({15})
- Darum sage ich es.
Wir haben gefordert, zu überprüfen, ob nicht der größte Teil der Forschungseinrichtungen in diesem Sinne besser arbeiten könnte, wenn sie dezentralisiert würden. Diese erste Demokratisierung der wissenschaftlichen Einrichtungen wurde von Ihnen allen einmütig abgelehnt.
({16})
- In Amerika.
Meine Damen und Herren, die ganz einseitige Industrieorientierung der staatlichen Forschungsförderung hat nun aber auch inhaltlich Folgen für unsere wissenschaftliche Forschung.
({17})
Sie bringt diese Forschung erkenntnistheoretisch nicht weiter. Die wirklich notwendige Neuorientierung, die wir im Bereich der Forschung brauchen und über die wir hier eigentlich, denke ich, sprechen müßten, müßte angesichts der ökologischen Katastrophe eine Orientierung auf ein neues Naturverständnis sein.
({18})
- Wir haben eine, und wir sind dabei, ein neues Naturverständnis zu entwickeln, und ich wäre froh, wenn uns dabei welche helfen würden.
({19})
Damit Sie ungefähr wissen, wovon ich rede - ich rede auch nicht von Herrn Börner -, lassen Sie mich zum Schluß nur in einem Bild zeigen - zu mehr reicht hier die Zeit nicht -, wie diese Wandlung des Naturverständnisses auszusehen hätte, wenn wir in Zukunft mit der Natur und nicht gegen sie leben wollen. Unser Freund Wolfgang Ehmke hat von dieser Stelle vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß wir ein neues Naturverständnis
brauchen. Er meint, daß wir es uns etwa bei den Indianern abschauen könnten, für die die Natur eine Mutter ist, die man nicht verletzt und ausbeutet, sondern achtet.
Wir brauchen gar nicht bis zu den Indianern zu gehen.
({20})
Auch in unserem eigenen Kulturkreis hat es durchaus verschiedene Bilder von der Natur als Frau gegeben. Noch in der Renaissance etwa war sie ja die „Mutter Natur" in dem soeben geschilderten Sinne. Mit Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft wurde sie aber - hören Sie zu, Herr Stahl! - zu einer Hexe, vor der man Angst hat, der man ihre Geheimnisse unter Qualen und Folter wie in der Inquisition abzwingt,
({21})
die man zähmt und fesselt und, falls sie sich das nicht gefallen läßt, auch tötet. Mit der zunehmenden Industrialisierung wurde die Natur dann zur Hure, die man benutzt und achtlos wegwirft. Eine Reaktion darauf, ein Zwischenspiel in der Geschichte, war in der Zeit der Romantik die Natur im Bild der Geliebten, die man auf einen Sockel hebt, verehrt und beschützt, aber doch nicht ganz ernst nimmt.
({22})
Heute ist sie - jedenfalls bei manchen Umweltschützern - zu einer Art grüner Witwe geworden. Sie wird etwas abseits vom Alltagsleben möglichst großzügig konserviert, mit Komfort und allerlei Nippes ausgestattet, und man hofft, sie so beruhigen und vom Aufstand abhalten zu können. Das täuscht aber, wie wir nur allzu oft sehen. Sie wehrt sich nämlich und schlägt zurück.
Ich denke, wir werden mit unserer Umwelt nicht eher ins reine kommen, bevor wir nicht lernen, die Natur als selbständige und ernst zu nehmende Partnerin zu sehen, deren Ansprüche und Bedürfnisse mindestens ebenso viel gelten wie die eigenen. Das wäre tatsächlich eine Neuausrichtung der Forschung, die diesen Namen verdient.
Danke schön.
({23})
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Riesenhuber.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß bei dieser begrenzten Zeit heute darauf verzichten, auf die Argumente von Frau Kollegin Hickel einzugehen. Ich habe zu diesen Fragen von Umwelt und Struktur in früheren Debatten sehr ausführlich Stellung genommen.
Ich möchte eingangs stichwortartig auf einige der Punkte eingehen, die der Kollege Stahl genannt hat. Kollege Stahl, ich bestätige ausdrücklich, daß wir weithin einen Konsens in den Zielen der Forschungspolitik haben. Ich stelle hier mit Freude fest, daß dieser Konsens nicht nur den Übergang von der vorigen auf diese Regierung, sondern auch die Zeit überstanden hat, als Stoltenberg als erster Forschungsminister in wesentlichen Elementen diese Ziele hier festgehalten hat. Sie sind richtig, sie sind nach wie vor Bestandteil, es gibt einen wesentlichen Konsens, und so soll es sein.
({0})
Sie haben zweitens über die Frage der Erblast gesprochen. Ich habe keine Lust, die Debatte über Brüter oder Hochtemperaturreaktor hier im einzelnen zu wiederholen. Wenn dies keine Erblast bis in Hunderte Millionen der Haushaltsvorbelastung gewesen sind!
Sie sprachen drittens davon, daß wir hier durch den Pariser Vertrag neue öffentliche Mittel beim SNR einsetzen wollten. Der Sinn ist, daß wir durch die Einbeziehung unserer englischen Freunde und ihres Wissens mit weniger Geld das Wissen über die Jahre durchhalten und optimieren.
({1})
Sie haben viertens gesagt, für die Humanisierung des Arbeitslebens hätten wir nichts getan. Ich erinnere an den Anfang des vorigen Jahres, als Ihre Fraktion damit hausieren ging, wir wollten dieses Programm totschlagen. Was wir gemacht haben, ist, daß wir dieses Programm in vollem Umfang weiterführen und endlich in eine Form bringen, in der es streitfrei und damit funktional ist und der Einführung und Durchsetzung der menschengerechten Anwendung neuer Techniken wirklich dient. Dies geschieht zum erstenmal.
({2})
Sie haben die Frage gestellt, ob Spacelab sein Geld wirklich wert ist.
({3})
Ich kann nur sagen: Diese Verträge zu Spacelab habe nicht ich abgeschlossen, sondern ein früherer Vorgänger im Amt, der Ihrer Fraktion angehört hat.
Sie haben gefragt, ob die zukünftige Zusammenarbeit im Weltraum bei der bemannten Raumfahrt überhaupt möglich wäre. Sie haben gesagt, daß die NASA selbst dies kritisierte. Heute nacht hat der Präsident der Vereinigten Staaten gesagt, daß die Raumstation gebaut werden soll, und er hat uns eingeladen, hier mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Auf Basis der exzellenten Arbeiten von Spacelab und dem erfolgreichen Flug werden wir alle Möglichkeiten hierzu mit unseren europäischen Partnern prüfen.
({4})
Sie haben gesagt, wir machten nichts für die Markteinführung der Umwelttechniken. Was gibt es besseres, um Umwelttechniken durchzusetzen, als die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die die neue Technik durch Investitionen in Höhe von 15
bis 20 Milliarden DM endlich in den Markt bringt? Das sind Investitionen in neue Technik und nicht eine punktuelle Subventionierung, die nicht darstellbar ist und zu nichts führt.
({5})
Sie haben mich hier gefragt, was mit dem Technology Assessment, mit der Technikfolgenabschätzung geschieht. Ich habe 1982 in meinem Haushalt 200 000 DM zur Erforschung der Waldschäden vorgefunden. Wir haben in diesem Jahr über 20 Millionen DM allein in meinem Haushalt. Mir geht es nicht ums Geld. In dieser Zeit haben wir eine wissenschaftliche Landschaft in einem umfassenden Technology Assessment über die Disziplinen so organisiert, daß die Probleme greifbar geworden sind.
({6})
Sie haben darüber gesprochen, daß wir hier etwas im Hinblick auf Risikokapital tun könnten. Wir haben ein Programm in Höhe von 100 bis 120 Millionen DM für die kommenden Jahre in diesem Haushalt stehen, um die Gründung von neuen Unternehmen zu fördern. Wir haben dieses Modellprogramm für die neuen Techniken angelegt. Es ist in einer überragenden Weise angenommen worden. Wir haben in den ersten Monaten 250 Anträge bekommen, die prüfenswert sind.
Sie sprachen davon, wir müßten uns für einen Standort der Kohleverflüssigungsanlage entscheiden. Herr Kollege Stahl, ich lehne eine Strategie ab, die erst entscheidet und dann denkt. Ich möchte erst die Parameter optimieren. Ich möchte wissen, womit das zusammengehört, wo das Projekt hingehört, welche technisch-wirtschaftlichen Daten vernünftig sind. Dann entscheiden wir über den Standort, der nicht unabhängig von dem ist, was wir als Konzept haben.
({7})
Ich könnte jetzt noch weiter in Einzelheiten gehen, Herr Stahl, aber ich möchte mir das erparen. Ich möchte nur an einem festhalten. Wenn Sie hier mit einiger Polemik Thesen aufstellen, die die Sache nachweislich nicht treffen, dann ist das nicht die optimale Grundlage für die rationale Zusammenarbeit mit Ihnen, von der ich ausgehen will.
({8})
Wir sollten daran arbeiten, daß das hier zur gemeinsamen Grundlage wird.
Die Frage, die im Vordergrund steht, ist diejenige, die in der Großen Anfrage der Koalitionsfraktionen gestellt worden ist: Wie wir in einer technischen Welt die neuen Herausforderungen überhaupt bestehen. Es ist die Frage, die Anfang dieses Jahres in Gutachten herausgestellt worden ist: Sind wir den Herausforderungen einer neuen Technik in einer kompetitiven Welt gewachsen? Dies ist ein deutlich eingeschränkter Sinn von forschungspolitischer Diskussion. Es ist noch nicht die Diskussion um die
Grundlagenforschung - Christian Lenzer hat darauf hingewiesen -, nicht um Umweltforschung, nicht um Vorsorgeforschung. In diesem eingeschränkten Sinn ist das eine der zentralen Fragen. Wenn wir von dem ausgehen, was da ist, bin ich ganz entschieden der Auffassung, daß das an allgemeiner Resignation, was verbreitet ist, nicht nur lebensgefährlich, sondern auch falsch ist. Ich bin der Auffassung, daß die Daten hier im Grundsatz für uns sprechen.
({9})
Japan erarbeitet 15 % seines Bruttosozialprodukts in den Weltmärkten, wir 30 %. Das ist kein Zeichen von Schwäche. In den großen Investitonsgüterindustrien - im Anlagenbau, in der Chemie, im Kraftwerksbau - sind wir nach wie vor hervorragend.
({10})
- Verehrter Kollege Matthöfer, wenn Sie davon ausgehen, daß die Qualität der deutschen Wirtschaft ein Erfolg Ihrer Politik gewesen ist, dann haben Sie nicht verstanden, wo die Probleme der vergangenen Jahre gewesen sind.
({11})
Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß wir in einer Reihe von wichtigen Bereichen hervorragend sind.
Ich bin weiterhin der Auffassung - das ist unser Thema -, daß die Strukturen, von denen wir hier auszugehen haben, in wesentlichen Bereichen gesund sind, daß wir eine Grundlagenforschung haben - und da sind wir wieder beisammen, denn wir haben die Anträge nach kontroversen Diskussionen gemeinsam verabschiedet -, die in der Struktur stimmt und international herausragend zusammenarbeitet.
Wir haben eine reich strukturierte Wirtschaft mit einem starken und vielfältigen Mittelstand, der in wichtigen Branchen im Export sehr erfolgreich ist. Wir haben eine Infrastruktur und eine industrieerfahrene Arbeitnehmerschaft, Wissenschaftler, Angestellte und Wirtschaftler.
({12})
Das sind die Voraussetzungen, aber das ist nicht ein Grund zur Selbstzufriedenheit, sondern nur ein Ausgangspunkt.
Auf der anderen Seite haben wir in einigen Bereichen tatsächlich Mängel. Es ist hier die Mikroelektronik angesprochen worden. Ich spreche nur deshalb nicht im Detail darüber, weil wir dieses Thema In einer der letzten Debatten ausführlich behandelt haben. Aber es ist offenkundig, daß uns hier eine Schlüsseltechnologie verlorenzugehen droht, die in unterschiedlichste Bereiche - vom Anlagenbau bis
zum Werkzeugmaschinenbau, von Kommunikationstechniken und Informationsvermittlung bis hin in den Bereich unseres künftigen Automobilbaus - ausstrahlt. Daß wir zwar in wesentlichen Märkten noch Spitzenpositionen haben, aber die Wachstumsraten der Japaner größer sind, daß wir hier nach den USA mit 16% der Schlüsselpatente noch an der Spitze stehen, aber die Japaner bei der Anzahl der Schlüsselpatente doppelt so schnell wachsen wie wir, daß wir hier mit 18% bei den Hochtechnologiegütern im Export in der OECD noch mit an der Spitze stehen, aber die Zuwächse der Japaner doppelt so groß waren wie unsere, das sind kritische Punkte.
({13})
- Herr Kollege Stahl, zu dem, was Sie in Ihrer ersten Serie dargelegt haben, habe ich Ihnen gesagt, daß keiner von den neun Punkten in irgendeiner Weise begründet war. Eine ständige Wiederholung von inhaltsarmen Argumenten hilft hier nicht sehr viel weiter.
Um einen weiteren Punkt in der Diskussion mit Ihnen aufzugreifen: Wo haben wir anzusetzen, und was tun wir, um den kleinen und mittleren Unternehmen aufzuhelfen?
({14})
Dazu hat der Kollege Laermann einiges gesagt. Ich will einmal sagen, was wir hier tun. Ich greife ausdrücklich das auf, was der Kollege Laermann zu dem Zusammenspiel der Ressorts aus unterschiedlicher Verantwortung, aber mit dem gleichen ordnungspolitischen Ansatz gesagt hat.
Wenn wir über indirekte Forschungsförderung sprechen, gehören dazu die Maßnahmen, die der Finanzminister mit den Sonderabschreibungen mit einer spezifischen Mittelstandskomponente indirekt durchgeführt hat, genauso wie das Personalkostenzuschußprogramm. Und was an Maßnahmen geschieht in meinem Haushalt? Dazu gehören die indirekt-spezifischen Programme, bei denen ich sehr glücklich darüber war, daß Sie sie in der Vergangenheit begonnen haben, nachdem wir jahrelang darüber geredet hatten, ohne daß etwas geschehen ist. Dazu gehört das Programm Mikroelektronik, dazu gehört das Programm Fertigungstechnik, das wir neu angelegt haben. Beide gehen zu über 90% in den Mittelstand, und das sollen sie, denn gerade beim Mittelstand dürfen wir nicht dadurch Zeit vergeuden und Arbeit verschwenden, daß wir im einzelnen Anträge überprüfen und Projekte administrativ verwalten.
({15})
Nein, wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Innovationskraft und der Erfindungsgeist des einzelnen durchschlagen!
Sie fragen: Wo ist die Neuorientierung? Der Kollege Lenzer hat es gesagt: Sie liegt darin, daß wir nicht auf die Weisheit des Staates, der die Projekte administriert, setzen. Wir vertrauen auf die Erfindungskraft des einzelnen, auf seinen Mut, seine Tatkraft und seinen Unternehmungsgeist. Das ist die Voraussetzung!
({16})
Sie fragen, wie das ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Graf Lambsdorff damals nicht das Personalkostenzuschußprogramm durchgesetzt hätte - und das war nicht etwas, was Sie mit großer Leidenschaft aufgegriffen haben -, wären wir beim Verhältnis 13 : 1
({17})
zwischen direkter und indirekter Forschungsförderung, das Sie damals hatten,
({18})
auch heute noch.
Einen Augenblick, Herr Kollege, wir führen hier keinen Dialog! Melden Sie sich dann bitte zu einer Zwischenfrage.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
({0})
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß die sozialliberale Bundesregierung 1978 speziell für den Bereich der mittelständischen Unternehmen ein sehr umfangreiches Programm erarbeitet hat, in dem Forschungsaufwendungen gerade für diesen Bereich enthalten sind? Und stimmen Sie mir darin zu, daß z. B. die Vermögensteuersenkung zu 85% den großen und größten Unternehmen zugute kommt und daß die Abschreibung, die an Ihnen vorbei im Kabinett verabschiedet wurde - ich meine die Wiedereinführung der 74er-Regelung -, auch zu fast 70% den Großunternehmen zugute kommt, was, wie wir hier vorhin ausgeführt haben, eine Benachteiligung der kleinen und mittelständischen Produktionsbetriebe bedeutet?
Herr Kollege Stahl, erstens beantworte ich Ihre Frage. Zweitens möchte ich um Verständnis dafür bitten, daß ich weitere Zwischenfragen jetzt nicht akzeptiere, weil das zu Lasten der Fraktion geht.
Zur Antwort auf Ihre Frage: Herr Kollege Stahl, ich habe darüber gesprochen, daß wir mit den Maßnahmen der indirekten Forschungsförderung den Mittelstand stärken. Ich habe nicht den Anspruch erhoben, den ganzen Bereich der Finanzstruktur und der Steuerpolitik der Bundesregierung darzule3582
gen. Aber zu dem Bereich der direkten und indirekten Forschungsförderung in bezug auf den Mittelstand kann ich nur sagen: Wenn Sie vom Personalkostenzuschußprogramm absehen, dann war bei Ihnen das Verhältnis zwischen direkter und indirekter Forschungsförderung 13 : 1. Mehr als 90 % war direkte Forschungsförderung. Das ist eine Förderung, die den Großindustrien mit ihren Bürokratien zugute kommt, nicht aber den kleinen Unternehmern.
({0})
Wir haben das in dem Gesamtpaket jetzt umgebaut - damit beziehe ich den Wirtschaftsminister und den Finanzminister ein - auf ein Verhältnis von 2,2 : 1. Hiermit erreichen wir eine vernünftige Struktur.
({1})
- Herr Kollege Stahl, ich möchte jetzt weitersprechen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir wollen doch nicht die Regeln außer Kraft setzen.
Nur um die ganzen Zusammenhänge klarzumachen: Dazu gehören technologieorientierte Unternehmensgründungen, die mittelständisch sind. Dazu gehört die Verdreifachung der Ansätze für die Vertragsforschung, die mittelständisch ist. Dazu gehört das, was wir zur Verstärkung der Verbundforschung getan haben. Ich bin doch kein Ideologe von Projektforschung oder nicht. Ich spreche für die Vielfalt der unterschiedlichen Instrumente, die wir maßgeschneidert so einsetzen müssen, daß sie tatsächlich helfen und nicht durch bürokratische Hindernisse entmutigen.
({0})
Wir haben in dem Zusammenhang genauso über die Institutionen zu reden. Es tut mir sehr leid, daß die Diskussion über die Großforschungseinrichtungen hier nicht erschöpfend geführt werden kann. Wir werden auf Grund des Berichts der Bundesregierung, der in Kürze vorgelegt wird, Gelegenheit zu eingehender Diskussion haben. Aber ich möchte festhalten, daß ich die Funktion der Großforschungseinrichtungen, Frau Kollegin Hickel, ebenso in der Grundlagenforschung sehe. Da müssen sie frei sein. Grundlagenforschung ist überhaupt nur gut, wenn sie frei ist. Schon dieses triviale Argument wäre hinreichend, wenn es nicht von unserem grundsätzlichen Verständnis unserer geistigen Kultur überlagert wäre, in deren Rahmen Grundlagenforschung ein prägendes Element unserer Gesellschaft ist.
Dazu gehört aber auch die Hinwendung zur Industrie, dorthin, wo es angewandte Forschung ist. Eine angewandte Forschung, die nicht angewendet ist, hat ihr Ziel verfehlt. Deshalb hat Kollege Laermann völlig recht: Wir müssen die Lücke schließen zwischen dem, was sich als Wissenschaft etabliert hat und seine Pflicht tut, und denen, die in der Wirtschaft den Rat der Wissenschaft dringend brauchen. Deshalb haben wir die Vertragsforschung verstärkt. Deshalb bin ich so erpicht darauf und erfreut darüber, daß die Zusammenarbeit mit den Ländern, die hier eine komplementäre Rolle spielen, so exzellent klappt.
Bei einer vernünftigen Zusammenarbeit ist es nicht unsere Aufgabe, uns in die Kompetenzen der Länder einzumischen. Es ist unsere Aufgabe, mit Modellversuchen zu probieren, was geht. Aber dann müssen die Länder, die Kammern, die Universitäten - oder wer auch immer der Adressat ist - das übernehmen. Und das geschieht.
Bei den Großforschungseinrichtungen ist es so, daß wir Voraussetzungen schaffen können. Die Frage aber, wie das hernach vor Ort wirksam wird, wie das in dem Technologietransfer läuft, geht auch die Länder an. Da gibt es eine große Menge von Leistungen, die die Länder in dem Dialog zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zwischen Kammern und Universitäten erbringen können: in Technologieparks etwa mit der Möglichkeit, um Großforschungseinrichtungen herum Neugründungen von Unternehmen zu unterstützen.
Hier scheint es mir außerordentlich wichtig zu sein, daß wir bei unterschiedlicher Verantwortung zu einer engen und freundschaftlichen Zusammenarbeit mit den Ländern kommen, abgetrennt und geordnet. Das Wirrwarr der Forschungsförderung zwischen Bund und Ländern und Europa muß beendet werden. Jeder muß innerhalb seiner Kompetenzen und Verantwortlichkeiten seine Rolle spielen. Wenn ich mir vor Augen halte, was wir in der BundLänder-Kommission besprochen haben, was ich mit den Wirtschaftsministern und Wissenschaftsministern der norddeutschen Länder, die hier institutionell Schwierigkeiten haben, besprochen habe, wenn ich mir vor Augen halte, was wir mit den Wirtschaftsministern der Länder besprochen haben und weiter besprechen werden, dann muß ich sagen, daß trotz der Forschungsleidenschaft der Länder, die ich begrüße und die sich verstärkt, und trotz der regionalen Schwierigkeiten, die einige Länder haben, ein großer Erfolg dieser Diskussion ist, daß übergeordnetes Prinzip die herausragende Qualität der Forschung sein muß und nicht nur etwa regionale Kompromisse. Die Qualität unserer institutionellen Forschung wird davon abhängen, ob es uns gelingt, auch innerhalb der Länder die regionalen Proporze als nachrangig zu behandeln und auch dann, wenn es in einzelnen Bereichen schmerzhaft ist, Institutionen neu so daransetzen, daß sie die bestmögliche Leistung erbringen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben heute neben vielen anderen Punkten - der Kollege Stahl hat das angesprochen - noch die Frage des Programms ESPRIT zu besprechen. Daß dies mit den Finanzschwierigkeiten der gesamten EG zusammenhängt und nicht ausgeklammert werden kann, ist offenkundig. Die Linie der Bundesregierung ist die, daß wir - darüber habe ich das
ganze vergangene Jahr im Forschungsministerrat verhandelt - innerhalb der europäischen Programme generell zu Prioritäten kommen müssen. Wenn wir die Prioritäten haben,
({1})
dann müssen die Prioritäten auch in nur gering wachsenden Haushalten untergebracht werden, und das andere muß dann eben wirklich nachrangig sein. Zu diesen Prioritäten - ohne jetzt in weitere Einzelheiten gehen zu können - gehört mit an erster Stelle ESPRIT. Es gibt in unserem Verständnis nur drei solche Prioritäten. Wenn es gelingt, hier mit der Kommission ein Einverständnis zu erzielen, daß wir diese Prioritäten festhalten, dann ist unabhängig davon, ob der Plafond jetzt so oder etwas höher angesetzt wird, ein kurzfristiger Start von ESPRIT möglich, und den halte ich für wichtig. Denn ESPRIT ist die große Chance, in einem neuen und schnell wachsenden Markt europäische Einzelmärkte und Einzeltechniken zu integrieren, Normengrenzen überhaupt nicht entstehen zu lassen und die europäische Wirtschaft in eine Einheit zusammenzufügen.
({2})
Ich möchte, wenn ich zusammenfasse, nicht - so wie Sie, Herr Kollege Stahl, mir dezent angeboten haben - mit einem Nereiden-Katalog von großartigen administrativen Maßnahmen aufwarten, die die Welt verändern.
({3})
Für das, was hier geschehen ist, habe ich mich - das möchte ich offen sagen - neben dem Finanzminister vor allem auch beim Parlament, beim Forschungsausschuß und beim Haushaltsausschuß zu bedanken. Wenn wir in den Großforschungseinrichtungen, um nur davon zu sprechen, Bürokratien zurückgeführt haben, die Entscheidungen der Chefs über das Geld flexibler gestaltet haben, Investitionsmittel teilweise durch Betriebsmittel decken lassen, dann ist das nur durch eine vernünftige, enge und freundschaftliche Kooperation mit dem Parlament in bezug auf unser gemeinsames Ziel möglich gewesen.
({4})
Wenn wir die Mittel, die wir in den Großforschungseinrichtungen gespart haben, weil die Einkommen nicht so hoch steigen, wie vermutet worden war, voll dafür einsetzen können, daß junge Nachwuchswissenschaftler im Nachwuchsprogramm der Großforschungseinrichtungen in Stellen kommen, voll dafür einsetzen können, daß mit eingesparten Personalmitteln neue Stellen für junge Wissenschaftler geschaffen werden können, dann ist das eine großartige Sache. Das ist aber nur dadurch möglich geworden, daß der Haushaltsausschuß über seinen Schatten und über frühere Beschlüsse gesprungen ist. Deshalb möchte ich mich abschließend sehr herzlich für die enge, gute und freundschaftliche Zusammenarbeit bedanken.
Ich hoffe zuversichtlich, daß wir die großen Probleme, vor denen wir in den nächsten Jahren stehen, dann lösen werden, wenn jeder in seiner Verantwortung das Beste tut, was er kann, der Bund und die Länder und Europa untereinander in Respekt vor ihrer jeweiligen Zuständigkeit, aber mit vollem Einsatz, wenn also Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam an unserer Zukunft arbeiten. Wenn dies so angelegt wird, dann bin ich zuversichtlich, daß wir die großen Probleme, die großen Herausforderungen, die großen Chancen dieser Dekade gemeinsam bestehen werden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Steger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man einmal aus den Reden der Vertreter der Koalitionsfraktionen das obligatorische Lob für den Minister herausstreicht und sie einmal daraufhin durchgeht, was dort noch an Anforderungen an den Minister formuliert ist, so fällt mir die Schlagzeile ein, die die „Frankfurter Rundschau" vom 9. Dezember 1983 über den ehemaligen Arbeitgeber des Ministers geschrieben hat: „Metallgesellschaft hat die große Wende noch nicht geschafft".
Worum geht es denn hier, meine Damen und Herren? Hier führt die eigene Fraktion ihren Minister vor. Die Entstehungsgeschichte dieser Großen Anfrage gestaltete sich doch wie folgt: Herr Minister, Sie waren in Urlaub; Ihre Fraktion ging in Klausur, und hinterher lag diese Anfrage auf dem Tisch. Herr Lenzer begründete diese Anfrage in einem Handelsblatt-Gespräch. Dazu heißt es im „Handelsblatt" vom 22. Juni 1983:
In einem Handelsblatt-Gespräch mahnte Lenzer die Bundesregierung, die in Oppositionszeiten vertretene Politik jetzt auch in die Praxis umzusetzen. Lenzer sieht die Gefahr, daß Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber trotz bester Absichten
- immerhin ({0})
Schwierigkeiten hat, die eingefahrenen Gleise der Forschungs- und Technologiepolitik zu verlassen.
Damit auch klar wird, in welche Richtung die große Wende gehen soll, führt er aus, daß statt der direkten Forschungsförderung „eine erhöhte staatliche Produktnachfrage" notwendig sei, und er gibt dem Minister auch gleich den Rat, wo denn. Ich zitiere wörtlich:
In diesem Zusammenhang setzte sich Lenzer nachdrücklich für eine Liberalisierung der restriktiven Waffenexportvorschriften in der Bundesrepublik ein.
({1})
Der CDU-Politiker befürwortet deshalb nicht nur die Lieferung von Leopard-II-Panzern nach Saudi-Arabien,
- ein Kommentar zur Israel-Reise des Bundeskanzlers, vermute ich sondern auch Verkäufe des Kampfflugzeuges „Alpha-Jet" und von Lenkwaffen an befreundete Staaten außerhalb der NATO.
({2})
Gleiches gelte auch für Fregatten und U-Boote. ({3})
Beim Waffenexport bietet sich nach Ansicht Lenzers „ein Markt in Milliardenhöhe" an, der ohne Änderung der deutschen Vorschriften von den Amerikanern und Franzosen belegt werde. Ein solchermaßen entstehender Nachfragestoß würde die Forschungsabteilungen der Unternehmen automatisch befruchten und Staatsgelder leichter entbehrlich machen.
({4})
So das „Handelsblatt" vom 22. Juni 1983.
Meine Damen und Herren, im Grunde spiegelt diese Anfrage doch den Streit der dogmatischen Marktwirtschafter auf der einen Seite - ich nenne nur die Namen Lambsdorff und Breuel - und der pragmatischen Technokraten Riesenhuber - Herr Lenzer, ich weiß nicht, wo ich Sie einordnen soll ({5})
und beispielsweise Späth wider. Die Letztgenannten werden kräftig von Herrn Strauß unterstützt, der ja heute eine große Kabinettsreform forderte. Herr Minister, ich hoffe, daß Sie uns dann noch erhalten bleiben.
({6})
Es geht um den Koalitionsstreit, ob Industriepolitik notwendig ist oder nicht, und es geht darum, daß die Ankündigungen des Ministers und das, was er tatsächlich hält, in zunehmendem Maße auseinanderklaffen.
Ich will jetzt nicht darüber rechten, ob einer der Fragesteller in Ihrer Anfrage sehr redlich ist, wenn er in der Anfrage konsequente marktwirtschaftliche Politik fordert und sich im Wahlkreis zu Hause damit brüstet, daß er 3 Milliarden DM an Subventionen für ARBED-Saarstahl herausgeholt hat. Wenn Sie mehr Marktwirtschaft verwirklichen wollen, dann sind wir, Herr Minister, teilweise auf Ihrer Seite. Fangen wir doch einmal bei der Kernenergie an, wo Sie jetzt ja wieder den Titel hochfahren. Angeblich wird in Ihrem Hause überlegt, ob man die baureifen Unterlagen für den Nachfolgebrüter nicht auch noch staatlich finanzieren soll.
Wie war es denn mit der Luft- und Raumfahrt? Sie haben doch anfangs gesagt, jetzt sei aber die Industrie mehr am Zuge. Sie wollten der Industrie größere Teile des Programmes überantworten. Neuerdings hört man: Luft- und Raumfahrt ist Grundlagenforschung und muß vom Staat finanziert werden. - Okay, darüber kann man reden, aber unter einer zentralen Voraussetzung, Herr Minister, nämlich daß Sie diese Projekte dann dem gleichen Verfahren und dem gleichen Bewertungsprozeß unterwerfen, wie das bei anderen Großinvestitionen im Bereich der Grundlagenforschung auch der Fall ist, und Sie sie nicht - sozusagen außerhalb der Tagesordnung - irgendwo durch die internationalen Kooperationen schieben.
Zum Thema breite Innovationsförderung hat mein Kollege Stahl schon darauf hingewiesen, wie das im Haushalt ausgesehen hat. Ich zitiere hier einmal aus dem AIF-Report. Für die Kollegen, die nicht im Ausschuß sind, muß ich sagen, daß die Arbeitsgemeinschaft Industrieller Forschungseinrichtungen nicht gerade ein Verein sozialdemokratischer Stammwähler ist.
({7})
Da redet Herr Ministerialdirektor Borst, der, wie er hervorhebt, nicht für den Bundesforschungsminister, sondern „nur als ein Mitarbeiter des BMFT" sprach, und zeichnete in seinem Einleitungsreferat „das Bild einer von einem breiten Konsens getragenen, trotz des politischen Wechsels weitgehend kontinuierlichen F- und T-Politik seines Hauses". - Den hat der Zweck Ihrer Großen Anfrage, Herr Lenzer, noch nicht erreicht.
Und jetzt lesen Sie bitte einmal nach, wie die Wirtschaft darauf reagiert hat:
Keine der Fragen und Stellungnahmen der Zuhörer ... von Herrn Dr. Borst hatte ein Grundsatzthema zum Gegenstand. Und das ist kennzeichnend für den augenblicklichen Stand der forschungspolitischen Ziel- und Instrumentendiskussion. Es hat den Anschein, als wären die meisten zufrieden, daß oder wenn es überhaupt auf dem erreichten hohen Level weitergeht, wenn insbesondere die auf die Leistungssteigerung der Wirtschaft zielenden Maßnahmen erhalten bleiben.
({8})
So die Reaktion von mittelständischen Unternehmen auf ein Referat aus dem Bundesforschungsministerium.
Im Programm Fertigungstechnik, Herr Minister, haben Sie ja schon einmal im Kleinen versucht, ein bißchen Industriepolitik zu machen. Dort sagen Sie j a ausdrücklich, daß Sie im Bereich der Roboter, was ein wichtiger Bestandteil dieses Programms ist, Branchenkapazitäten aufbauen wollen. Guckt man sich das einmal im Commerzbank-Branchenreport an, stellt man fest, daß nur ein gutes Dutzend Firmen in den Genuß einer spezifischen Branchenförderung aus dem Bundesforschungsministerium kommt. - Herr Lenzer, gucken Sie mich nicht so erstaunt an! Wenn ich damals als Juso in der Investitionslenkungsdebatte meiner Partei dem Herbert Wehner gekommen wäre und gesagt hätte, wir machen Investitionslenkung so detailliert, daß wir
zwölf Firmen erfassen - der hätte mich aus der Partei geschmissen. Aber Konservative dürfen offensichtlich Investitionslenkung massivster Natur machen, wenn sie das nur mit den entsprechenden marktwirtschaftlichen Sprüchen verbrämen.
({9})
Aber mittlerweile hat der Bundesforschungsminister Pech gehabt, daß ihm der Bundeswirtschaftsminister auf die Schliche gekommen ist. Und jetzt wird das Programm Informationstechnik Opfer des erwähnten Grundsatzstreites zwischen dem Wirtschafts- und dem Forschungsministerium.
Ich zitiere mal, welche Erwartungen der Herr Minister geweckt hat, als er sein Industrie-Memorandum zur Informationstechnik der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Da liest man in der „Wirtschaftswoche" Nr. 37:
Nach unverkennbar japanischem Vorbild versucht Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber, deutsche Industriepolitik durch Konsensbildung voranzutreiben ... Die Art, wie Riesenhuber da Technologie- und damit Industriepolitik betreibt, erinnert an Miti, das japanische Superwirtschaftsministerium, das in Diskussion und Konsensbildung mit der Wirtschaft industriepolitische Entwicklungsziele und -schwerpunkte setzt.
Mittlerweile hat sich herumgesprochen, daß aus Ihrem großen Wurf recht wenig übriggeblieben ist. Ich höre, daß statt der umfassenden Konzeption, wie sie in der Regierungserklärung vom 6. Mai angekündigt ist, nur noch ein unverbindlicher Bericht übriggeblieben ist. Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, Herr Minister: Es tut mir weh festzustellen, wie Sie unter dem Pantoffel des Wirtschaftsministeriums stehen.
({10})
- Natürlich, ich weiß, daß auch wir früher diese Probleme hatten. Aber, Herr Lenzer, das zeigt nur: Auch in der Wende gibt es noch Kontinuität. Und weil der Streit nicht so offen ausgetragen wird, ergibt sich ein Kompetenzgerangel.
Herr Haussmann, Sprachrohr des Grafen Lambsdorff, fordert in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Auch in der Forschungs- und Entwicklungspolitik müsse endlich die „Wende
({11})
zu mehr Marktwirtschaft" und weniger staatlichen Eingriffen eingeleitet werden.
So am 26. November, also nach Beantwortung der Großen Anfrage durch das Kabinett. Und unter dem Datum vom 3. Januar fordert er:
({12})
Zwischen Förderungsmaßnahmen des Forschungsministers und des Wirtschaftsministers ... komme es zu unerwünschten Überschneidungen. Mit neuen Programmen mache das Forschungsministerium dem Wirtschaftsministerium Konkurrenz.
Das ist sehr wahr. - Und die Schlußfolgerung - so Haussmann -: Die marktnahe, nicht an bestimmte Projekte gebundene Forschungsförderung, die sogenannte indirekte Förderung, ist dem Forschungsministerium streitig zu machen.
Diese marktnahe Forschung, so fordert Haussmann, müsse im Wirtschaftsministerium konzentriert werden.
Bei Herrn Lenzer - ich darf Sie noch einmal zitieren - liest sich das ganz anders.
({13})
- Nun lassen Sie doch mal, nicht nervös werden! - Herr Lenzer fordert in einem Interview mit den „Technologie-Nachrichten", noch viel stärker die ohnehin schon vorhandene Kompetenz für Forschung und Entwicklung im Rahmen der Organisation der Bundesregierung beim BMFT auszubauen:
Zum Beispiel könnten die Personalkostenzuschüsse für das in Forschung und Entwicklung beschäftigte Personal ebenso wie die Innovationsförderung und ähnliche Dinge in einer Hand vereinigt werden, und ich würde es sehr begrüßen, wenn diese Kompetenzen und damit diese Haushaltsmittel auch im BMFT-Haushalt eingestellt würden.
({14})
Meine Herren, machen Sie bitte Ihren Streit unter sich aus, aber sorgen Sie dafür, daß die notwendigen Entscheidungen nicht endlos verzögert werden.
Die Frage mit ESPRIT, Herr Minister, ist ja nur ein anderes Beispiel. Sie haben hier soeben bei Ihrer Darstellung vergessen, daß es im wesentlichen doch die Bundesregierung war, die die Verzögerung bei ESPRIT mitzuverantworten hat, weil sie nicht kompromißbereit war und weil Sie falsche Prioritäten gesetzt haben, nämlich bei der Sicherheitsforschung in der Kernenergie, die sich nach Ihrer eigenen Aussage in Ihrem Erkenntniswert asymptotisch der Nullinie nähert, ebenso bei der Fusionsforschung, aber nicht bei dieser zentralen Frage der Informationstechnik.
Zum Memorandum der französischen Regierung vom 12. September zur Industrie- und Technologiepolitik haben Sie erst gar nichts gesagt; ich vermute, sicherheitshalber, denn es wäre Ihnen wohl unangenehm, sich mit diesen Ausführungen der fran3586
zösischen Regierung zu befassen, die wir als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen und begrüßen. Wir fordern, daß sie jetzt unter der französischen Präsidentschaft in die Beratungen einbezogen werden, damit dort endlich etwas geschieht, denn die Japaner und Amerikaner warten nicht so lange.
({15})
- Nein, nein, Herr Kollege. Der Herr Graf Lambsdorff hat schon genug Branchen auf dem Gewissen. Das brauchen Sie nicht noch durch die Zukunftsindustrien der Bundesrepublik und Europa zu - ({16})
- Welche nicht! Ich denke an diese, aber wir wollen - -({17})
Ich möchte gerne noch, meine Damen und Herren, zu einem Punkt kommen.
({18})
Der zweite Punkt ist das zunehmende Auseinanderklaffen von Ankündigungen und tatsächlichen Ergebnissen. Ich habe mal in mein Archiv geguckt, das tut man j a so vor Reden.
({19})
Ich nehme jetzt mal nur Ihre Ankündigungen aus der Regierungszeit. Daran sehen Sie, wie bescheiden ich geworden bin. Danach sollten der Bundesforschungsbericht VII im Januar 1984 vorgelegt werden. Ich höre, er geht gerade in die Ressortabstimmung. Für Ende 1983 wurde das Programm Materialforschung und Informationstechnologien angekündigt. Das sollte sogar schon Ende November kommen. Im Jahreswirtschaftsbericht sind die Personalkostenzulage auf Zuwachs für Forschungspersonal und ein Ausbau der Gemeinschaftsforschung angekündigt worden. Im BDI-Gespräch vom 13. Januar dieses Jahres wiederholen Sie diese Ankündigung noch einmal, ohne daß ich bisher etwas gesehen habe. Das Wissenschaftlertransferprogramm, dieses Vier-Millionen-DM-Programm, das wir im Haushalt einmütig beschlossen haben, steht zwar im Haushalt, aber es gibt immer noch keine Richtlinien im Bundesanzeiger. Umgekehrt, das Trainee-Programm, also das Programm, Leute aus der Industrie in die Großforschungseinrichtungen zu bringen, steht auch im Haushalt; aber auch da gibt es noch nichts Konkretes. Zu den Änderungen der Beschaffungsrichtlinien im Hinblick auf mehr innovative Nachfrage bei den öffentlichen Haushalten kann man auch auf mehrere Ankündigungen verweisen, ohne daß Sie etwas vorlegen. Die neuen Richtlinien der externen Vertragsforschung, Herr Minister, fehlen ebenfalls noch im Bundesanzeiger. Und wenn ich die Kollegen aus dem Ausschuß daran erinnern darf, dann hatte das Ministerium es mit der Vorlage der Konzeption zu den Großforschungseinrichtungen so eilig, daß wir meinten,
noch vor der Sommerpause auf die Bremse treten und das Ministerium auffordern zu müssen, diesen Bericht nicht vorzulegen, bevor wir nicht die Beratung im Ausschuß abgeschlossen haben.
({20})
Aber diese Konzeption liegt auch immer noch nicht vor.
Das einzige, was bis jetzt gemacht worden ist, waren die drei Programme, die ohnehin schon in den Schubladen der Vorgänger lagen, nämlich die technologieorientierte Unternehmensgründung, der ganze Bereich des Wissenschaftler-Transfers und das Programm Fertigungstechnik.
({21})
- Herr Laermann, ich habe leider nur noch zwei Minuten; ich bitte um Entschuldigung.
Dies ist, glaube ich, typisch für die bisherige Forschungs- und Technologiepolitik. Es werden Ankündigungen gemacht, die dann hinterher nicht eingelöst werden. Teilweise werden sie nicht eingelöst, weil es in den Koalitionsparteien den ideologischen Grundsatzstreit über Industriepolitik zwischen den dogmatischen Marktwirtschaftlern und denen gibt, die realistisch sehen, daß wir in dieser internationalen Lage Industriepolitik machen müssen.
Saftige Reden, dürre Ergebnisse - auf diese Formel kann man, glaube ich, anderthalb Jahre des neuen Bundesforschungsministers bringen.
({22})
Drei Reorganisationen im Hause, die vierte steht bevor. Ich muß Sie wirklich kritisieren, Herr Bundesminister, daß Sie das, was Sie an Managementqualitäten in der Industrie hätten gelernt haben sollen, nicht auf das Ministerium übertragen. Sie sollten nicht über Eliten reden, sondern lieber erst einmal Ihre Schularbeiten machen.
Schönen Dank.
({23})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bugl.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Steger, forschungspolitische Debatten in diesem Hause haben sich in der Vergangenheit immer dadurch ausgezeichnet, daß sie erstens sachlich und zweitens von hohem Niveau waren. Ihr Beitrag heute hat leider beides vermissen lassen.
({0})
Dies ist um so bedauerlicher, Herr Steger, weil wir
doch wissen, daß Sie es auch anders können. - Im
übrigen scheinen Sie es auch mit der HumanisieDr. Bugel
rung der Arbeit für die Beamten des BMFT nicht so ernst zu nehmen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 16% der Mittel unseres Hauses für Forschung und Technologie gehen in die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die überwiegend von der öffentlichen Hand getragen werden. Zu diesen Forschungseinrichtungen gehören auch die 13 in der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen zusammengeschlossenen Forschungszentren mit mehr als 20 000 Mitarbeitern. Diese Einrichtungen wurden gegründet, weil ihre Zielsetzungen in den Universitäten oder aber in den Forschungsinstituten der Industrie nicht den Erfordernissen entsprechend behandelt werden konnten.
Keine Frage: die Erfolge, die in diesen Forschungszentren erzielt worden sind, verdienen Beachtung, und die Leistung der dort Bediensteten verdient unsere volle Anerkennung,
({2})
egal, ob es sich hier um Arbeiten im Bereich der Grundlagenforschung oder aber um Arbeiten im Bereich der angewandten Forschung handelt. Dennoch, so meinen wir, sind die Beiträge der Forschung, insbesondere wenn man diejenigen zu den neuen und neuesten technologischen Entwicklungen betrachtet, nicht immer befriedigend. Einige dieser Großforschungseinrichtungen sind ursprünglich einmal für Ziele und Aufgaben konzipiert worden, die zumindest heute nicht mehr voll den Erfordernissen entsprechen. Eine Anpassung an die geänderten Aufgaben ist meist durch Gründung neuer Institute, selten durch Umorientierung vorhandener Institute und fast nie durch Auflösung nicht mehr wirklich benötigter Einrichtungen erfolgt.
Die Probleme unserer Großforschungszentren sind in den letzten Jahren ausreichend analysiert worden. Lange, allzu lange, Herr Kollege Stahl, ist darüber debattiert worden. Notwendige Entscheidungen, die Sie zu fällen gehabt hätten, sind ausgeblieben. Die Wissenschaftler als unmittelbar Betroffene haben uns in mehreren Anhörungen ihre Vorschläge unterbreitet, und ich meine, die Bediensteten dieser Forschungszentren haben in der Tat ein Anrecht darauf, daß wir jetzt endlich einmal unseren Beitrag leisten und handeln. Die Probleme sind nicht so sehr finanzieller Natur, sondern vielmehr konzeptioneller, struktureller und organisatorischer Art.
Der Ausschuß für Forschung und Technologie hat sich sehr lange und sehr ausführlich mit den Problemen dieser Forschungseinrichtungen und ihren Lösungen befaßt. Das Ergebnis liegt Ihnen in der Drucksache 10/539 vor. Der Ausschuß bittet den Bundestag zu beschließen, die Bundesregierung zu ersuchen, die in diesem Bericht aufgeführten Maßnahmen durchzuführen und über die Ergebnisse bis zum 1. April 1984 zu berichten.
Zur Verdeutlichung möchte ich darauf hinweisen, daß es sich hier nicht um ein Prüfungsersuchen handelt. Es geht uns darum, daß in Zusammenarbeit mit den Großforschungseinrichtungen ein Konzept über die längerfristigen großforschungsspezifischen Aufgaben der einzelne Einrichtungen sowohl in den Bereichen der Grundlagenforschung als auch der anwendungsorientierten Forschung und der technologischen Entwicklung erarbeitet wird. Dabei ist es für uns von großer Wichtigkeit, daß die Aufstellung der Forschungsprogramme und deren Ausfüllung mit wissenschaftlichen Inhalten von den Großforschungseinrichtungen in eigener Kompetenz durchgeführt werden. Dies enthebt jedoch den Staat nicht der Verantwortung, rechtzeitig Überlegungen anzustellen, welche großforschungsspezifischen Aufgaben von den einzelnen Großforschungseinrichtungen wahrgenommen werden sollen, insbesondere wenn ältere Aufgaben in absehbarer Zeit auslaufen.
In diesem Zusammenhang beobachte ich mit großer Sorge die Entwicklung der Kernforschungsanlage Jülich, nachdem jetzt offensichtlich nach dem zweiten Pinkau-Gutachten der Bau der Spallationsneutronenquelle nicht mehr denselben Stellenwert wie im ersten Gutachten einnimmt. Ich bitte Sie, Herr Minister, nicht zuletzt auch im Interesse der 4 500 Beschäftigten in diesen Forschungszentren, mit den dort Verantwortlichen zu prüfen und, falls notwendig, auch Alternativen auszuarbeiten.
Von besonderer Wichtigkeit, so meinen wir, ist die Zusammenarbeit zwischen Großforschungseinrichtungen und Hochschulen. Sie wird von beiden Seiten als gut bezeichnet. Wir glauben aber, daß diese Zusammenarbeit verbessert werden könnte. Dabei erscheint eine weitere Intensivierung des Zusammenwirkens im Personalbereich, ein zeitlich begrenzter Personalaustausch und wechselseitige Mitwirkung in Fachkommissionen wünschenswert.
Von hohem Stellenwert ist - darauf wurde schon vom Kollegen Laermann hingewiesen - die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Großforschungszentren. Hier gibt es z. B. in der Energieforschung, aber auch in der Luft- und Raumfahrtforschung bewährte Kooperationsmodelle; die meisten dieser Modelle funktionieren. Allerdings darf man dabei natürlich auch nicht übersehen, daß hier oft Partner mit unterschiedlicher Struktur zusammenarbeiten, die auch in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen müssen.
Eine weitere Intensivierung der Kontakte mit der Industrie scheint zwingend notwendig zu sein. Dabei kann sich die Industrie neue Innovationspotentiale erschließen, während auf der anderen Seite die Großforschungseinrichtungen neuartige Aufgabenstellungen kennenlernen.
Ich möchte in Anlehnung an das, was der Herr Minister zur Zusammenarbeit mit den Ländern gesagt hat, auf das Beispiel Baden-Württemberg hinweisen. Dort ist die konsequente Förderung von Forschung und Innovation ein zentrales Element zukunftsorientierter Politik. Im Vordergrund der Bemühungen der Landesregierung stehen die In3588
tensivierung des Technologietransfers zwischen Hochschulen, Fachhochschulen, wissenschaftlichen Institutionen, Wirtschaftsverbänden und Einzelbetrieben sowie Maßnahmen zur Innovations- und Investitionsförderung und zur Unterstützung technologieorientierter Existenzgründungen.
Wir begrüßen die Anstrengungen der Großforschungseinrichtungen zum allgemeinen Technologietransfer, insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft. Aber diese Anstrengungen müssen und können verstärkt werden.
Wir würden es auch für wünschenswert halten, wenn sich die Wirtschaft an Forschungskapazitäten der großen Forschungseinrichtungen beteiligen würde, sei es in Form der Finanzbeteiligung, sei es in der Form des Austausches von Mitarbeitern. Untersuchungen haben gezeigt, daß der beste Transfer - Herr Kollege Laermann hat auch darauf hingewiesen - von Forschungsergebnissen und Forschungsmethoden in die Praxis durch die Wissenschaftler selbst geschieht, die z. B. von einer Forschungseinrichtung in die Industrie wandern und umgekehrt.
Angesichts bedeutender wirtschaftlicher Erfolge in den Vereinigten Staaten und Japan, die zu einem erheblichen Teil auf eben diesen raschen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis durch die Wissenschaftler selbst zurückzuführen sind, stellt sich auch bei uns die Frage, ob die Forschung angesichts des lebenslänglich angestellten staatlichen Forschers den künftigen Anforderungen überhaupt noch gerecht wird. 1983 hatten 25 % aller Wissen-sch aftler an unseren Großforschungseinrichtungen ein Durchschnittsalter von mehr als 42 Jahren; im Jahr 1964 waren es 34 Jahre. Von den insgesamt mehr als 20 000 Mitarbeitern - darunter 5 000 Wissenschaftler - hatten 5 500 einen Kündigungsschutz auf Lebenszeit.
Wir sind der Auffassung, daß befristete Arbeitsverträge zur Sicherung der Leistungsfähigkeit der Forschung notwendig sind. Unsere Forschungseinrichtungen brauchen den ständigen Zufluß junger, kreativer Wissenschaftler. Die personelle Mobilität zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung muß verbessert und der wechselseitige Übergang aus der Forschung in die Industrie erleichtert werden. Wenn hier nichts getan wird, entwickeln sich die Forschungszentren zu Forschungsfestungen, die neue Ideen und junge Forscher und Wissenschaftler arbeitslos draußen vor der Tür stehen lassen.
({3})
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, muß das Instrument der Zeitverträge dort, wo möglich, noch verbessert werden. Dort, wo das nicht möglich ist, muß nach Wegen der Änderung gesucht werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um diese von uns als notwendig angesehenen Maßnahmen realisieren zu können, müssen Verbesserungen in der Mittel- und Personalplanung mit dem Ziel der Einschränkung der Forschungsbürokratie vorgenommen werden.
Im einzelnen halten wir für notwendig: erstens eine Lockerung der stringenten Trennung von Investitions- und Betriebsmitteln, zweitens die Bildung von Rücklagen und Rückstellungen aus nicht verbrauchten Haushaltsmitteln, drittens die Übertragbarkeit von Betriebsmitteln in begrenztem Umfang, viertens die Ausnahme von der Anrechnungsvorschrift bei zweckfreien Spenden, fünftens Abfindungen als Instrumentarium zur Durchführung der Stellenreduktion, sechstens Aufhebung bzw. Lockerung der für den Einsatz und die Verwendung von Drittmitteln bestehenden Regelungen, die das Einwerben solcher Mittel erschweren, siebentens die Schaffung von Leerstellen, mit denen die Möglichkeit gegeben würde, den Personalaustausch mit der Industrie und den Hochschulen zu fördern sowie Mitarbeitern, die sich selbständig machen wollen, eine Rückkehrmöglichkeit anzubieten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, der Beschlußempfehlung, die der Forschungsausschuß mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD verabschiedet hat, zuzustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die öffentlichen Angelegenheiten in Deutschland beobachtet, begegnet immer wieder einem Phänomen, nämlich der Neigung, von einem Extrem ins andere zu verfallen.
({0})
Das gilt leider auch in der Forschungs- und Technologiepolitik. Einige unserer Landsleute sitzen nämlich noch immer auf dem hohen Roß deutscher Gelehrsamkeit und Tüchtigkeit, nach dem Motto: „Wir sind die Größten." Andere wiederum gehen in Sack und Asche und intonieren das Klagelied vom baldigen Wegbrechen unserer industriellen Basis.
({1})
Es geht aber in Wirklichkeit um eine nüchterne Bestandsaufnahme, Herr Dr. Steger, um eine Untersuchung, wo wir im internationalen Vergleich stehen. Es geht um eine Analyse unserer Schwachstellen und um die Möglichkeit ihrer Beseitigung.
({2})
Diesem Zweck dient auch die Große Anfrage der Koalitionsfraktion zur Neuausrichtung der Forschungs- und Technologiepolitik, deren Beantwortung durch die Bundesregierung wir heute diskutieren.
({3})
Dabei ist eines klar: Unser wissenschaftlich-technisch-industrielles Potential ist nach wie vor beachtlich. Trotzdem gibt es Schwierigkeiten. HansKohn
Dietrich Genscher hat vor kurzem die Herausforderung beschrieben, vor der wir stehen:
({4})
Unser Land und Westeuropa im Ganzen können ihren Wohlstand nur halten und vermehren, wenn sie den Anschluß an die von den USA und Japan ausgehende dritte industrielle Revolution gewinnen. Zwei Spitzentechnologien stehen hier im Zentrum, die Mikroelektronik/ Optoelektronik und die Biotechnik. Wer hier nicht mithalten kann, gerät in die Gefahr, auf die Dauer nirgends mehr mithalten zu können.
({5})
Das ist die Problematik.
Wie aber sind wir denn in diese Gefahr eigentlich geraten?
({6})
Meine Damen und Herren, der Redner fängt mit seinen Ausführungen gerade erst an. Er kann kaum durchkommen, wenn Sie jeden Moment einen Zwischenruf machen.
({0})
- Aber ich bitte Sie, lieber Herr Matthöfer. Das ist doch nicht möglich. Hier hat doch jeder Redner die Möglichkeit, darauf einzugehen. Ich finde es nicht fair, was Sie da machen.
({1})
Darf ich weitermachen, Herr Matthöfer?
({0})
Sie fahren jetzt bitte fort.
Ein Schlüsselbegriff zur Erklärung dieser Fehlentwicklung, von der ich eben sprach, ist für mich der Begriff der Museumsgesellschaft. Deshalb habe ich eben auch nach links geschaut.
({0})
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich habe nichts gegen Museen. Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe, keine Frage. In ihnen werden bedeutsame Kultur- und Naturdenkmäler aufbewahrt, ausgestellt, zur Belehrung und Erbauung der Besucher. Die oft wertvollen und unersetzbaren Exponate werden registriert, katalogisiert, klimatisiert, in besonderes Licht getaucht und von meist älteren Männern bewacht, von Touristen und Schulklassen unter mehr oder weniger kundiger Führung besucht; und montags hat das Museum geschlossen. Also nichts gegen Museen.
Aber alles gegen die Übertragung des Prinzips Museum auf unsere Gesellschaft, auf unseren Staat, auf unsere Politik überhaupt.
({1})
Diese Fehlentwicklung war leider schon ziemlich weit fortgeschritten. Wie in einem Museum betrachteten wir die Leistungen der Vorfahren und klopften einander selbstbestätigend auf die Schulter. Aber wehe, wenn einer wagte, ein paar alte Bilder abzuhängen und einige neue an ihre Stelle zu setzen!
({2})
Sofort gingen schrille Alarmglocken los, alles zuckte zurück,
({3}) und keiner wollte es gewesen sein.
Es war die sterile und manchmal muffige Atmosphäre, die in unserer Gesellschaft überhand nahm.
({4})
Viele waren bloß noch darauf bedacht, ihren sozialen Besitzstand oder das, was sie dafür hielten, zu wahren. Nur ja keine Veränderung! Nur ja kein Wagnis eingehen! Unsere Gesellschaft war erstarrt und verkrustet, unbeweglich geworden und außerstande, ein Zukunftsbild von sich selbst zu entwerfen,
({5})
einen nationalen Konsens zu bilden, und auch unfähig, jenen Biß zu entwickeln, der notwendig ist, um Erfolg zu haben.
Und obwohl das Museum der bundesdeutschen Gesellschaft noch immer zur Spitzengruppe der Welt gehörte, gab es allgemeines Wehklagen und Jammern, Kleinmut, Verzagtheit, wohin man blickte. Absolute Spitzenklasse war dieses Land in Wehleidigkeit und Selbstmitleid, in Provinzialität und Egozentrik.
({6})
Die Zipfelmütze auf, die Bettdecke über den Kopf gezogen und die wohlige Wärme des eigenen Miefs umfingen den bibbernden, angstschlotternden und zukunftsverzagten deutschen Michel. Es war nicht mehr zum Aushalten.
Vor diesem Hintergrund mußte eine Wende im Denken und Handeln eingeleitet werden.
({7})
Eine müde gewordene, defensive, rückwärts gewandte Gesellschaft, die auf dem Höhepunkt ihres materiellen Wohlstands vor den Herausforderungen der Zukunft zurückzuckte, voll Selbstzweifeln an ihrer Fähigkeit, diese Herausforderung zu bestehen, diese Gesellschaft braucht wieder das Selbstvertrauen, eine entscheidende Querschnittsaufgabe anzupacken,
({8})
nämlich die Modernisierung der Wirtschaftsstruktur unseres Landes, um mit marktwirtschaftlichen Mitteln einen dynamischen Innovationsprozeß in Gang zu setzen. An dieser Aufgabe arbeiten wir.
({9})
Wir brauchen noch mehr als bisher ein politisches Klima, das Wandlungsfähigkeit und Erneuerungsbereitschaft prämiert und auch Ungewohntem und Unkonventionellem eine faire Chance gibt.
({10})
Im Unterschied allerdings zu manchen auf der linken Seite dieses Hauses, die mich auch durch Zwischenrufe nicht stören können,
({11})
die glauben, der Staat müsse gleichsam über eine Blaupause der künftigen Wirtschaftsstruktur verfügen, und die deshalb für Strukturräte und dergleichen bürokratische Veranstaltungen streiten, setzen wir Liberalen auf die Kräfte des Markts. Ich begrüße es ausdrücklich, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage ausführt - ich zitiere -:
Alle Förderungsmaßnahmen zielen zunächst auf verbesserte Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Innovation sowie auf die Förderung der Eigeninitiative in Wissenschaft und Wirtschaft.
Das ist der richtige Ansatz.
Auch aus diesem Grund setzen sich die Liberalen so nachdrücklich für die indirekte Forschungsförderung ein. Mit den Mitteln indirekter Forschungsförderung unterstützen wir nämlich gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, weil wir wissen, daß die Dynamik unserer Wirtschaftsordnung wesentlich von der Innovationskraft des Mittelstands abhängt.
Besondere Bedeutung in dieser Hinsicht kommt dem Technologie- und Wissenstransfer zu, der Unterstützung technologieorientierter Unternehmensgründungen, der Innovationsberatung, der Förderung der Gemeinschaftsforschung sowie der Gewährung von FuE-Personalkostenzuschüssen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen müssen am wissenschaftlich-technischen Fortschritt teilhaben. Wir müssen sie für den Wettbewerb um die Märkte der Zukunft kräftigen. Das ist eine wohlverstandene Mittelstandspolitik, die neue Arbeitsplätze schafft und bestehende erhält.
({12})
Diese Notwendigkeiten hat inzwischen auch der baden-württembergische Ministerpräsident Späth erkannt. Man kann allerdings begründeten Zweifel hegen, ob sein eher bürokratischer Technologietransfer von oben zum Erfolg führt. Jedenfalls ist festzustellen, daß Baden-Württemberg seine Spitzenreiterposition in der Wachstumsdynamik verloren hat. Das haben die Industrie- und Handelskammern festgestellt.
Eine interessantere Perspektive bietet daher die Idee des Technologieparks
({13})
etwa im Umfeld von Universitäten und Forschungseinrichtungen, die z. B. in Heidelberg dazu beitragen kann, ein Zentrum der Biotechnologie entstehen zu lassen. Staatliche Forschungs- und Technologieförderung hat sich im Rahmen einer liberalen Innovationspolitik zu konzentrieren auf Impulse zur Intensivierung von Forschung und Entwicklung in der Industrie, auf direkte Förderung in Bereichen staatlicher Daseins- und Zukunftsvorsorge sowie auf die Grundlagenforschung. Es ist erfreulich, diese liberale Philosophie in der Politik der Bundesregierung wiederzuerkennen.
({14})
Ich darf übrigens die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Herr Minister Riesenhuber, für die bisherige sachliche und konstruktive Zusammenarbeit zu danken.
({15})
Bevor ich auf die Rolle der Großforschungseinrichtungen eingehe, die hier auch zur Debatte steht, möchte ich noch auf ein wichtiges Problem hinweisen: In den 50er und 60er Jahren wurden vor allem an Universitäten, aber auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen aus Bundesmitteln Großgeräte finanziert, die im Zuge einer Modernisierung mit neuer Zielsetzung in der Forschung eingesetzt werden können. Mit relativ geringem finanziellen Aufwand könnte ein solches Modernisierungsprogramm, für das ich hier plädiere, neue Impulse geben, Kreativität freisetzen und darüber hinaus die Ausbildungssituation für Studenten auf den heutigen Stand bringen und attraktiver gestalten. Sie werden verstehen, daß mir als Mitglied der Jungen Liberalen gerade die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation des qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses ganz besonders am Herzen liegt.
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Ich will für dieses Modernisierungsprogramm besonders die sogenannten „kleinen Teilchen-Beschleuniger" nennen, die in anderen Ländern zunehmend mit Erfolg zur Lösung grundlegender Probleme in der Materialforschung, im biologisch-medizinischen Bereich und in der Umweltforschung eingesetzt werden.
Die deutschen Großforschungseinrichtungen stellen nach Meinung der Liberalen ein volkswirtschaftlich wichtiges Forschungspotential dar. Die gleichwohl nicht zu leugnenden Probleme wie fehKohn
lende operationalisierbare Erfolgskontrolle, die praktisch bereits bewegungslose Personalsituation sowie die fortschreitende Bürokratisierung mit den Folgen des weiteren Abbaus noch verbliebener notwendiger Entscheidungskompetenzen der Verantwortlichen lassen sich jedoch nicht lösen mit dem Brachialmittel der grün angestrichenen Partei, die anläßlich der Haushaltsberatungen die nahezu völlige Streichung beispielsweise der Mittel für das Kernforschungszentrum Karlsruhe beantragt hat - ohne Rücksicht auf die dort Beschäftigten und ihre Familien, ohne Rücksicht auf die wirtschafts-und forschungspolitischen Konsequenzen. Soviel zum Thema Sachkunde und neue Humanität in diesem Parlament.
({17})
Statt dessen hat sich der Ausschuß für Forschung und Technologie in seiner Beschlußempfehlung auf der Grundlage des Prinzips Globalsteuerung für die Steigerung der Flexibilität und die Stärkung der Eigenverantwortung in der Mittelbewirtschaftung und im Personalbereich ausgesprochen sowie auf die Notwendigkeit von Qualitäts- und Erfolgskontrollen und auf die Zusammenarbeit mit Hochschulen und Wirtschaft hingewiesen.
Meine Damen und Herren, die Querschnittsaufgabe Innovationspolitik für unser Land hat noch viele Aspekte wie etwa das Thema Bildung von Risikokapital, zu dem meine Fraktion Anstöße gegeben hat, oder auch der Vorschlag von Wolfgang Mischnick, im Rahmen eines neuen Marshall-Plans für den Mittelstand mit Privatisierungsgewinnen technologieorientierte Unternehmen zu unterstützen.
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Dazu gehören mehr Wettbewerb im Bildungssystem - mein sehr verehrter Kollege Professor Laermann hat das schon erwähnt -, dazu gehören mehr personelle Mobilität zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung, Politik und vieles mehr.
Lassen Sie mich zum Schluß nur noch sagen, daß wir nach meiner festen Überzeugung einen entschlossenen Schritt nach vorn zur Überwindung der Museumsgesellschaft tun müssen. Voraussetzung dafür ist, daß wir erkennen, daß technischer Fortschritt an sich weder gut noch schlecht ist. Gut oder schlecht, meine Damen und Herren, ist lediglich der Gebrauch, den wir von unseren technischen Fähigkeiten und unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen machen.
({19})
Darin liegt ja eben die ethische Herausforderung der Zukunftsgestaltung.
Voraussetzung dafür ist aber auch die Einsicht, daß der Mensch, wie es kürzlich formuliert wurde, ein Homo performator ist, ein Wesen, das in der Fähigkeit und in der Bereitschaft zur Leistung zur Entfaltung seiner Persönlichkeit kommen kann.
Voraussetzung ist auch, daß wir unser Gemeinwesen zu einer Marktgesellschaft fortentwickeln, daß wir unsere Gesellschaft, wie Dahrendorf gesagt hat, entstaatlichen, daß wir auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung des selbstbewußten Bürgers setzen,
({20})
also hinkommen zu einer gelebten Verfassung der Freiheit.
({21})
Das bleibt der Anspruch und die Aufgabe der Liberalen, nämlich mit kritischer Rationalität zu einer rationalen Praxis zu kommen.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({0}).
Frau Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Herr Kollege Laermann, Sie haben vorhin ein Zitat von Galileo Galilei gebracht - „Sie dreht sich doch" - und haben das auf die Forschung bezogen. Ich kann das Zitat von Galileo Galilei wohl bestätigen; nur hat er es auf die Erde bezogen, während Sie es auf die Forschung beziehen. 1982 haben wir in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion das auch bestätigt, nämlich in bezug auf die FDP. Ich kann also, so gesehen, nur sagen: Sie haben vollkommen recht gehabt.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Laermann?
Selbstverständlich!
Herr Kollege Fischer, würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß das Bezugssystem, in dem man sich selbst befindet, dafür maßgebend ist, ob man die Aussage machen kann, daß sich etwas bewegt oder nicht bewegt?
({0})
Herr Kollege Laermann, wenn Sie sich auf die Relativitätstheorie von Einstein beziehen, gebe ich Ihnen vollkommen recht. Sie sitzen im Zug und sagen, während der Zug wegfährt, daß der Bahnhof wegfährt und der Zug steht. Okay, in dem Sinne ja.
({0})
Es kommt darauf an, auf welches Bezugssystem Sie sich beziehen. Da liegt die Relativität.
({1})
Fischer ({2})
- Jawohl, und darauf, von welchem Zug man auf den anderen springt. Herr Kollege Lenzer, da kann ich Sie voll unterstützen!
({3})
- Auch das! Kommen Sie mal zu uns; wir geben Ihnen zum Nulltarif ein bißchen Nachhilfeunterricht.
Herr Kollege Kohn, Sie haben von der Analyse der Schwachstellen gesprochen und haben auch von einem dynamischen Innovationsprozeß gesprochen. Ich möchte Ihnen raten: Stellen Sie diese beiden Anträge bei Ihnen in der Fraktion; dann hätten Sie vielleicht die Chance, daß die FDP nicht zur Museumspartei entartet.
({4})
- Ja, Karl-Hans, er hat das ja provoziert, und dann
darf ich wohl ein paar Bemerkungen dazu machen.
({5})
- Ja, das glaube ich auch.
Nun zur Sache: Es ist erfreulich, feststellen zu können, daß nach intensiver Diskussion innerhalb der Gremien des Parlaments und nach zwei Anhörungen und Gesprächen mit Vertretern der Großforschungseinrichtungen eine Beschlußempfehlung bezüglich der zukünftigen Entwicklung der Großforschungseinrichtungen vorgelegt worden ist, die in breiten Kreisen eine Mehrheit findet, sowohl bei der CDU/CSU und der FDP - meine Vorredner haben das schon gesagt - als auch bei der SPD. In dem einen oder anderen Fall gibt es natürlich noch Differenzen. Das ist klar.
Für Sozialdemokraten ist Forschungspolitik Zukunftsgestaltung. Staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung ist daher ein wichtiger Bestandteil einer vorsorgenden Politik. Ich nehme das auch für Sie in Anspruch; Herr Lenzer, ich glaube, wir waren uns darüber im Ausschuß immer einig. Ich sage das, weil einer Ihrer Fraktionskollegen meinte, darüber ein bißchen lächeln zu müssen. Seinen Namen kenne ich leider nicht.
({6})
- Selbstverständlich. - Ob das jetzt kompetent oder inkompetent war, kann ich von hier aus nicht beurteilen.
Die Forschungspolitik muß vor allem dazu beitragen, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, die Modernisierung der Volkswirtschaft voranzubringen und Umwelt- und Energieprobleme zu lösen. Techniker und Wissenschaftler in den Forschungseinrichtungen haben in der Vergangenheit eine hervorragende Arbeit geleistet - im Gegensatz zu dem, was draußen manchmal behauptet wird -, und diese hervorragende Arbeit leisten sie auch heute noch. Mit Sicherheit werden sie diese Arbeit auch noch in Zukunft leisten können.
An dieser Stelle möchte ich all den Mitarbeitern in diesen Forschungseinrichtungen meinen herzlichsten Dank aussprechen. Ich hoffe, das darf ich auch in Ihrem Namen tun,
({7})
ich hoffe, auch im Namen des Herrn Genscher von der FDP.
Die Qualität der deutschen Großforschungseinrichtungen läßt sich unschwer an der Statistik der Austauschwissenschaftler belegen. Daraus geht eindeutig hervor, daß wesentlich mehr ausländische Wissenschaftler bei uns als Gäste tätig sind als Deutsche im Ausland. Wer das nicht glaubt, besorge sich einmal die Tabelle, die von der AGF, der Arbeitsgemeinschaft für Großforschungseinrichtungen, veröffentlicht worden ist. Ich habe sie von dem früheren Vorsitzenden bekommen, von Herrn zu Putlitz. Der Faktor betrug etwa 3, d. h. in dieser Größenordnung waren mehr Ausländer bei uns als Deutsche im Ausland als Gäste tätig.
Dennoch muß festgehalten werden, daß einige Probleme existieren. Sie sind jedoch weniger finanzieller Art. Vielmehr hängen sie von der Beantwortung der Frage ab, welche Rolle die Bereiche Konzeption, Struktur und Organisation spielen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Ja.
Bitte, Herr Abgeordneter Kleinert.
Herr Kollege Fischer, sind Sie bereit, über die Frage nachzudenken, ob die von Ihnen genannte Statistik nicht durch andere Gründe als die wissenschaftliche Qualifikation der ausbildenden Stellen beeinflußt sein könnte - ohne daß ich darauf jetzt näher eingehe -, ob andererseits nicht die Zahl der in internationalen Periodika wissenschaftlicher Art veröffentlichten Aufsätze eine bessere Quelle für das sein könnte, womit Sie sich befaßt haben, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Statistik für unsere Wissenschaft allerdings seit Jahren ungewöhnlich betrüblich aussieht?
Herr Kollege Kleinert, ich bin mir natürlich völlig darüber im klaren, daß bei der Analyse der Qualifikation unserer Forschungseinrichtungen allein diese eine Komponente - Tätigkeit von ausländischen Wissenschaftlern hier und umgekehrt - nicht ausschlaggebend sein kann. Aber das ist ein Bein der Analyse.
Ein anderes Bein ist der Punkt, den Sie angesprochen haben. Aber auch dieser Punkt ist nicht allein ausschlaggebend. Wir wissen ja, mit welchen Schwierigkeiten Wissenschaftler rechnen müssen, wenn sie in bestimmten Publikationen ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen wollen, welche finanziellen Mittel eingesetzt werden müssen, damit diese Berichte überhaupt veröffentlicht werden können in solchen Zeitschriften, die internationales Ansehen haben. Auch das weiß ich zu schätzen. Das
Fischer ({0})
eine widerspricht aber nicht dem anderen, Herr Kollege Kleinert.
({1})
- Versuchen Sie doch einmal Ihre Berichte dazu zu veröffentlichen. Das ist ja Ihre Sache.
Aufgabenstellung, Struktur und Leistungsfähigkeit vor allem der Großforschungseinrichtungen müssen daher ständig überprüft werden, insbesondere daraufhin, ob ihre Aufgaben und ihr Potential mit den forschungspolitischen Zielen in Einklang stehen.
Bei allen Unterschieden der einzelnen Großforschungseinrichtungen gibt es natürlich eine gemeinsame Aufgabe. Jede Großforschungseinrichtung muß ihren Standort in der forschungspolitischen Landschaft der Bundesrepublik, im Spannungsfeld zwischen Universitätsforschung und Industrieforschung stets überprüfen und, falls nötig, neu definieren. Keiner von uns kann heute exakt voraussagen, auf welche technologiepolitische Entwicklung wir in der Zukunft setzen können oder sollen. Es scheint aber sicher zu sein, daß Forschungsarbeiten zur Schonung der Ressourcen und zur Erhaltung der natürlichen Umwelt eine zentrale Bedeutung für die Zukunft haben werden.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf -Herr Riesenhuber hat versprochen, daß das in Bälde geschehen wird -, in Zusammenarbeit mit den Großforschungseinrichtungen ein Konzept über die längerfristigen spezifischen Aufgaben der einzelnen Großforschungseinrichtungen in den Bereichen Grundlagenforschung, anwendungsorientierte Forschung und technologische Entwicklung zu erarbeiten und mit der Finanzplanung und der Stellenplanung abzustimmen.
({2})
Hierbei möchte ich betonen - ich glaube, hierüber gibt es mit den Kollegen von der CDU/CSU und der FDP überhaupt keinen Dissens -, daß nach wie vor die Globalsteuerung vor die Detailsteuerung zu stellen ist.
Bei der Entscheidung über die Einführung von Großgeräten muß unserer Ansicht nach, wie auch im Pinkau-Gutachten nachzulesen ist, eine internationale Kooperation vor der Baugenehmigung angestrebt werden. Dies sage ich aus einem aktuellen Anlaß: siehe die Diskussion SNO - SpallationsNeutronen-Quelle - die durch einen Interessenten in die Öffentlichkeit gebracht wurde, im Gegensatz zu dem, was im Pinkau-Gutachten steht. Diese Person beruft sich noch auf das Pinkau-Gutachten.
({3})
- Der Forschungsminister ist durch diese Person in der Öffentlichkeit mit hereingezogen worden. Das kommt noch hinzu.
({4})
Die 1972 eingeführten Ergebnisbewertungsverfahren unterstützen den kontinuierlichen Aufgabenwechsel und die Anpassung an die neuen wissenschaftlichen und technologischen Fragen. Sachverständige in den Aufsichtsgremien und in den wissenschaftlichen Beiräten wirken dabei mit. Ich hoffe, daß dies auch in Zukunft so bleibt und daß das, was bei der Gesellschaft für biologische Forschung im Augenblick geschieht, wo Mitwirkungsrechte beschnitten werden, nicht eine Initialzündung für andere Großforschungseinrichtungen sein soll. Das hoffe ich sehr. Wir werden darauf achten, daß dies nicht passiert.
Ferner sollte eine externe Qualitäts- und Erfolgskontrolle den Gegebenheiten der jeweiligen Großforschungseinrichtungen und deren Aufgabenbereichen entsprechend durchgeführt werden.
In Zusammenarbeit mit den Großforschungseinrichtungen ist eine forschungspolitische Strategie zur Beschleunigung des Technologietransfers aus den Großforschungseinrichtungen in die Wirtschaft zu erarbeiten. Da gibt es einige vernünftige Modelle. Ich nenne in diesem Zusammenhang Berlin, auch wenn der Wirtschaftssenator Pieroth heißt. Ich nenne in diesem Zusammenhang aber mit Sicherheit nicht Baden-Württemberg und Lothar Späth.
({5})
Mit Abschreibungsgesellschaften haben wir hier überhaupt nichts zu tun. Wir wollen mit diesen Programmen kleine und mittlere Unternehmen unterstützen und nicht Großkonzerne.
Eine lang angelegte Forschung sollte schon zu Beginn den Adressaten des Produkts im Auge haben, es sollten dann auch möglichst schnell Gespräche geführt werden, damit die Umsetzung in die industrielle Praxis vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen schnell vollzogen werden kann. Die Anbindung an die Industrie kann allerdings nicht bedeuten, daß die Forschungszentren einen verlängerten Arm der Industrie darstellen.
({6})
Über die Entwicklung des gesamten Personals der Großforschungseinrichtungen ist unter Einbeziehung des 7,5 %igen Stelleneinsparungsprogramms - diese Einsparungen sollen innerhalb von fünf Jahren erfolgen - für die einzelnen Großforschungseinrichtungen zu berichten. Zu prüfen ist hierbei, wie die personelle Mobilität zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung verbessert werden kann. Daß die Personalstruktur den jeweiligen Erfordernissen der einzelnen Großforschungseinrichtung optimal und funktionsgerecht angepaßt wird, ist, glaube ich, für uns alle eine Selbstverständlichkeit.
Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Sozialdemokraten werden mit Argusaugen darauf achten, daß die Mitbestimmungsrechte nicht beschnitten werden.
({7})
Fischer ({8})
Ein Beispiel habe ich eben schon mit der GBF gegeben, erinnern Sie sich an das, was dort alles passiert.
({9})
Eine zukunftsgerichtete Aufgabe für uns alle ist es, daß der wissenschaftliche Nachwuchs in den Großforschungseinrichtungen und in anderen Forschungseinrichtungen verstärkt weiterhin gefördert wird.
Ein nächster Punkt - er ist vorhin, glaube ich, schon einmal angesprochen worden, aber nicht so deutlich herausgehoben worden - ist für uns wesentlich, und zwar der, daß Wissenschaftler in Leitungsfunktion mit Zeitverträgen anzustellen und entsprechend zu dotieren sind, um qualifizierten Mitarbeitern und Wissenschaftlern auch die Möglichkeit des Aufstiegs zu geben. Denn heute ist es so, daß Lebenszeitforscher diese Möglichkeit verbauen. Das ist eine große Klage unter den qualifizierten Wissenschaftlern. Dies haben wir in den beiden Anhörungen - wer dort war, wird das bestätigen können - laufend so erleben müssen. Wenn man Gespräche mit den Betroffenen unter vier Augen führt, sind die Aussagen noch gravierender.
Zur Steigerung der Flexibilität und Stärkung der Eigeninitiative der Forschungseinrichtungen schlagen wir deshalb folgendes vor: Lockerung der stringenten Scheidung von Investitions- und Betriebsmitteln, Bildung von Rücklagen und Rückstellungen aus nicht verbrauchten Haushaltsmitteln. Das müßte im übrigen auch an Schulen so passieren, denn dort haben wir nämlich dasselbe Problem. Nächster Punkt: Übertragbarkeit von Betriebsmitteln in begrenztem Umfang, Ausnahmen von der Anrechnungsvorschrift bei zweckfremden Spenden, Abfindung als Instrumentarium zur Durchführung der Stellenreduktion, Aufhebung bzw. Lockerung der für den Einsatz und die Verwendung von aus Drittmitteln finanziertem Personal geltenden Regeln.
Ich kann an dieser Stelle sagen, daß der Bildungsausschuß gestern beschlossen hat, daß am 8. Februar dieses Jahres eine Anhörung über Drittmittelforschung durchgeführt wird. Die Ergebnisse dieser Anhörung werden wir mit Sicherheit noch in unseren Beschlußantrag einarbeiten können. Ich möchte also jeden, der Zeit und Interesse hat, daran erinnern, daß er sich am 8. Februar daran beteiligen kann.
Nächster Punkt: Schaffung von Leerstellen - Nicht mit h, sondern mit zwei ee -, mit denen die Möglichkeit gegeben wird, den Personalaustausch zwischen der Industrie und den Hochschulen zu fördern sowie Mitarbeitern, die sich selbständig machen wollen, eine Rückkehrmöglichkeit zu geben. Das ist ein Sicherheitspuffer, der vorhin schon von Herrn Minister Riesenhuber angesprochen worden ist.
Des weiteren erachten wir die Beseitigung von steuerlichen Hemmnissen für die Stiftung für notwendig, was Herr Kollege Laermann vorhin im einzelnen ausgeführt hat. Aus forschungspolitischen
Erwägungen sollte § 6 Abs. 2 des Haushaltsgesetzes keine Anwendung für die gemeinsam von Bund und Ländern geförderten Forschungseinrichtungen finden. Den Forschungseinrichtungen sollte gestattet werden, bei Vorliegen der tarifrechtlichen Voraussetzungen 20 % des Gesamtstellensolls für einen finanzneutralen Austausch zwischen den einzelnen Vergütungsgruppen zu verwenden. Ein zeitlich befristetes Programm sollte verabschiedet werden, das zur besseren Nutzung der Großforschungseinrichtungen für Wirtschaft und Gesellschaft finanzielle Anreize für einen verstärkten Personalaustausch zwischen Großforschungseinrichtungen und industriellen Partnern vorsieht. Die Veränderungen in der Personalstruktur sollten weitgehend in Eigenverantwortung der jeweiligen Einrichtungen in Verbindung mit dem Betriebsverfassungsgesetz erfolgen.
Ich möchte für meine Fraktion - dies ist im übrigen auch die Meinung des gesamten Ausschusses für Forschung und Technologie - hier eindeutig erklären, daß es sich bei diesen Empfehlungen nicht um einen unverbindlichen Prüfauftrag handelt, sondern um einen Maßnahmenkatalog, von dem der Bundestag erwartet, daß ihn die Regierung so schnell wie möglich in die Tat umsetzt und turnusmäßig das Parlament über die gemachten Erfahrungen informiert, um dann eventuelle Konsequenzen hieraus zu ziehen. Ich sage bewußt - ich möchte das auch an dieser Stelle sagen -, daß sich Beamte im Finanzministerium dies einmal hinter die Ohren schreiben lassen sollten und auch der Finanzminister sich dies hinter die Ohren schreiben lassen sollte, wenn er vielleicht meint: Das ist ein Prüfauftrag, den wischen wir wieder vom Tisch, dann läuft die Sache wie üblich.
({10})
Herr Bugl, der Termin 1. April ist wahrscheinlich nicht mehr einhaltbar. Wir gingen im Oktober 1983 vom 1. April 1984 aus. Wir müssen diesen Termin ein bißchen verschieben, wahrscheinlich bis Mitte dieses Jahres. Aber das ist kein Problem. Das werden wir im Ausschuß klären.
Die SPD-Fraktion schlägt vor, die Bundesregierung zu ersuchen, die vertraglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß in die Aufsichtsgremien der Großforschungseinrichtungen anstatt der bisher vom Bund entsandten Mitglieder je zwei vom Deutschen Bundestag benannte Mitglieder entsandt werden können. Wir wissen, daß diese ehrenamtliche Tätigkeit arbeitsintensiv ist, erwarten aber durch die Mitgliedschaft von Bundestagsabgeordneten eine größere Transparenz von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in den Aufsichtsräten der Großforschungseinrichtungen gegenüber dem Parlament. Dies sage ich auch aus bitterer Erfahrung, die wir alle schon gemacht haben.
Mit der Entsendung von Abgeordneten in die Aufsichtsgremien der Großforschungeinrichtungen soll auch eine Vertiefung der Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik angestrebt werden. Dies war ein Minderheitenvotum im Ausschuß. Die Sozialdemokraten waren bei der Abstimmung allein. CDU/CSU und FDP waren dagegen.
Fischer ({11})
Die GRÜNEN wollten dies zwar auch, aber mit einer anderen Motivation. Ich hoffe, daß wir in der nächsten Ausschußsitzung unsere Kollegen im Ausschuß
({12})
von dem guten und sinnvollen Gehalt dieses Antrags, den wir eingebracht haben, überzeugen können.
Was die Grundlagenforschung betrifft, so kann ich hier feststellen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion einmütig der Auffassung ist, daß die Grundlagenforschung die Voraussetzung für die geistigen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen schafft und ihre Förderung die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und längerfristig auch der Wirtschaft sichert. Deshalb sind angemessene Rahmenbedingungen und Bereitstellung ausreichender Mittel erforderlich, um Vielfalt, Kreativität und Leistungsfähigkeit in der Forschung auf die Dauer besser zu gewährleisten.
Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, auf eine Forderung einzugehen, die in manchen christdemokratischen und liberalen Köpfen spukt, nämlich die Forderung nach Errichtung von Eliteuniversitäten. Durch die Auslassungen von Herrn Bundeskanzler Kohl auf der Jahreshauptversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Göttingen, durch die Rede- und Interviewbeiträge von Herrn Genscher und nun auch durch die Interviews des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bildungsministerium, Herrn Anton Pfeifer, ist die Chancengleichheit im Bildungswesen - mit all den verheerenden gesellschaftspolitischen Folgen -untergraben worden.
Herr Abgeordneter, ich bitte zum Schluß zu kommen. Ihre Redezeit ist schon überschritten.
Ich hätte mich noch gerne ein bißchen auf dieses Elitekonzept eingelassen.
Ich sage zum Schluß, Herr Kohl: Das Elitekonzept ist ideologisch ein Konzept der gesellschaftspolitischen Wende. Herr Minister Riesenhuber, Sie wissen doch auch, daß es keine direkte Proportionalität zwischen den finanziellen Möglichkeiten der Eltern und dem Intelligenzquotienten der Kinder gibt. Ich habe auch Verständnis dafür, daß Sie statt Huber lieber Riesenhuber heißen. Aber helfen Sie bitte mit, daß dieser Elititis endlich eine Ende gesetzt wird.
Recht schönen Dank.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Maaß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte mich heute nachmittag sehr darauf gefreut, eine interessante dreistündige Debatte miterleben und mitgestalten zu können. Leider muß ich sagen, daß diese Erwartungen nicht erfüllt worden sind, zumindest teilweise nicht.
({0})
Ich hatte teilweise den Eindruck, daß ich mich in diesem Hause auf einer Veranstaltung wie bei einem bunten Nachmittag befunden habe.
Ich möchte mich wieder auf die Thematik konzentrieren, die heute nachmittag teilweise verlorengegangen ist. Ich möchte an dieser Stelle ein Dankeschön an Heinz Riesenhuber, den Forschungsminister, aussprechen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Steger?
Herr Präsident, es tut mir leid. Ich habe nur eine begrenzte Redezeit.
({0})
- Herr Steger, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ein klein wenig leiser verhalten würden. Ich habe bei Ihnen auch nicht immer dazwischengeschrien.
({1})
- Herr Kollege Matthöfer, wir befinden uns nicht auf einem ibizänkischen Fischmarkt, sondern hier im Hohen Hause, und ich erwarte, daß wir hier vernünftig diskutieren können.
({2})
Lieber Kollege Dr. Riesenhuber, ich fand es recht vernünftig und sehr, sehr sinnvoll, daß Sie betont haben, daß Forschungspolitik möglichst keine großen Wellenbewegungen haben darf. Wir sehen hier eine deutliche Kontinuität, denn Forschungspolitik sollte sich nicht an einem Vierjahresrhythmus des Parlaments ausrichten, sondern sollte längere Zeiträume umfassen. Es ist heute schon absolut sichtbar, daß wir in dem ersten Jahr deutliche Akzente gesetzt haben. Diese deutlichen Akzente werden uns von vielen Kreisen der Forschung und der Wirtschaft honoriert. Ihnen möchte ich deshalb ein Dankeschön sagen.
({3})
Jetzt lassen Sie mich zum Thema ,,Großforschungseinrichtungen" kommen. Wir ruhen uns nicht auf dem aus, was wir schon erreicht haben, sondern wir sind dabei, weiter gestaltend zu arbeiten. Wir werden in diesem Zusammenhang auch weiterhin kritische Fragen stellen. Wir werden hier
- das werden Sie gleich sehen - auch zu dieser Thematik noch weitere kritische Probleme anreißen.
Maall
Lassen Sie mich einige Vorbemerkungen machen. Die Bundesrepublik Deutschland wendete 1981 2,66 % ihres Bruttosozialprodukts für Forschung und Technologie auf und lag mit diesem Anteil weltweit an der ersten Stelle, gefolgt von den USA mit 2,53 % und Japan mit 2,44 %. Gleichzeitig stellen wir jedoch fest, daß wir in den Spitzentechnologien unseren Weltmarktanteil immer weiter verkleinern. Hier stimmt irgend etwas nicht, und das sollte uns stutzig machen. Es sollte zu weiterem politischen Handeln aufrufen, wenn ein Mißverhältnis zwischen Forschungsaufwendungen einerseits und der wirtschaftlichen Leistungskraft andererseits auftritt.
Welchen Beitrag leisten in diesem Zusammenhang eigentlich unsere Großforschungseinrichtungen, um zeit- und bedarfsgerechten Transfer von Forschungsergebnissen in die industrielle Nutzung zu schaffen? Viele Gründe werden in diesem Zusammenhang angeführt: daß die deutsche Innovationskraft, vor allem aber auch das Innovations-tempo weltweit ins Hintertreffen geraten sind. Einer der wichtigsten Gründe scheint doch wohl darin zu liegen, daß unsere Technologiepolitik und die Weltmarktstrategie vieler Unternehmen die Entwicklungsrichtung und das Entwicklungstempo der wichtigsten Konkurrenzländer falsch eingeschätzt oder zumindest unterschätzt haben.
Deutlich wird dies bei einem Vergleich der Technologiepotentiale der USA, Westeuropas und Japans, wie er vor einigen Wochen in einem japanischen Wirtschaftsverlag veröffentlicht worden ist. Demnach rangiert Westeuropa bei insgesamt 42 angeführten Spitzentechnologien nur in zwei Fällen, nämlich bei Software und den digitalen Vermittlungsanlagen, in der Kategorie „hohes Niveau", in acht Fällen in der Kategorie „mittleres Niveau", während sich die Japaner selber in 13 Fällen ein „hohes Niveau" und in 19 Fällen ein „mittleres Niveau" attestieren.
({4})
- Dies wird nicht nur von japanischen Experten, sondern auch von breiten Kreisen deutscher und westeuropäischer Experten bestätigt.
({5})
Herr Steger, Sie wissen ganz genau, daß wir hier einmal in etwas größeren Zusammenhängen reden und denken müssen. Was Sie hier immer machen, ist doch kurzfristige Tagespolitik.
Meine Damen und Herren, dies ist der Ansatzpunkt, auf den ich mein Augenmerk richten möchte: Wie kommen wir zu einer Verbesserung des Technologietransfers? In der Beschlußempfehlung haben wir schon Vorschläge gemacht; hier sind Rahmenbedingungen gesetzt worden. Ich bin absolut sicher, daß sie sehr nutzbringend sind, aber ich stelle mir die Frage: Wie können wir noch Besseres erreichen? Wie können wir in erster Linie bei den Großforschungseinrichtungen eine Verbesserung des Technologietransfers erreichen? Hierzu möchte ich Ihnen sagen: Wir müssen aus einem Stadium des Nacheinander von Wissenschaft und Wirtschaft in eine Phase des Miteinander gelangen. Die Prioritäten und Aufgabenstellungen der Großforschungseinrichtungen sind mit dem F- und E-Bedarf der Wirtschaft abzustimmen und mit diesen in Einklang zu bringen. Es muß eine ständige selbstkritische Überprüfung stattfinden, ob längerfristige Vorhaben zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führen und ihre Anwendung und Umsetzung möglich sind. Ich habe häufig den Eindruck, daß das in der Bundesrepublik nicht funktioniert, daß eine Kluft zwischen dem wissenschaftlichen und dem wirtschaftlichen Bereich besteht.
Ich weise noch einmal - ich habe es schon mehrfach hier in diesen Debatten getan - auf das japanische Verbindungsbüro in Düsseldorf hin. Hier ist ein ganzer Stab junger Leute mit wissenschaftlichem Studium installiert. Diese jungen Wissenschaftler sind der deutschen Sprache hundertprozentig mächtig. Sie analysieren alles, was im wissenschaftlichen Bereich und im Marktbereich hier passiert, und melden das sofort in ihr eigenes Land. Dort wird diese Erkenntnis aus dem wissenschaftlichen Bereich innerhalb kürzester Zeit in marktreife Produkte umgesetzt. Uns bleibt die befriedigende Feststellung, daß deutsche Erfahrung im wissenschaftlichen Bereich sofort in marktreife Produkte in Japan umgesetzt wird. Warum gelingt uns das nicht? Hier liegt ein Ziel, das es zu erreichen gilt.
Zum nächsten Punkt: Informationstransfer. Wir sollten nicht ständig über die „japanische Herausforderung" reden und dabei in der eigenen Tragik ersaufen, sondern wir sollten uns auf unsere Stärken besinnen und dieser Herausforderung offensiv begegnen.
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Wir brauchen dazu natürlich neue Ideen und freiere Formen der Zusammenarbeit. Wir müssen uns darauf einstellen, Informationen darüber zu sammeln, was in Japan, in den USA und in anderen Ländern eigentlich passiert bzw. was dort entwickelt wird. Fehleinschätzungen künftiger Entwicklungen sind in der Regel Ergebnis eines Informationsdefizits. Darum muß die zeit- und bedarfsgerechte Verfügbarkeit von Informationen über Strukturen und Vorgehensweisen unserer Wettbewerber auf dem Gebiet der Spitzentechnologien als eine wichtige Voraussetzung zur Wiederherstellung und Behauptung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit gelten.
In bezug auf die USA mehren sich zwar die Anzeichen, daß auf Grund eines immer weiter gefaßten Sicherheitsbegriffs der Zugriff zu neuesten Forschungsergebnissen auch für unsere Wissenschaftler erschwert wird. Grundsätzlich können wir aber feststellen, daß wir diesen Zugriff zu wissenschaftlicher Fachliteratur ohne weiteres haben.
({7})
Völlig anders liegen die Dinge im Falle Japans. Die japanische Sprache bildet eines der wirksamsten nichttarifären Handelshemmnisse. Japanbezogene Technologieinformationen in europäischen Sprachen werden fast ausschließlich von der japanischen Seite ausgewählt und aufbereitet. Damit
besteht eine fast hundertprozentige Abhängigkeit von der japanischen Informationsselektion.
Alle Versuche, die wir bislang unternommen haben, sind - ich möchte es einmal salopp sagen - fast als weiße Salbe anzusehen. Wenn wir in der deutschen Botschaft ein Wissenschaftsreferat einrichten, wenn die Gesellschaft für Informatik, Information und Dokumentation eine Zweigniederlassung in Tokio unterhält, wenn sich Handelskammern und Firmenvertreter in Japan tummeln, dann ist das alles zwar nützlich und auch sinnvoll, aber es bewältigt das Problem nicht, denn viele dieser Leute sind der Landessprache nicht mächtig. Sie sind durch das Lesen, Selektieren und Auswerten der ständig anfallenden Fachliteratur in japanischer Sprache überfordert. Dazu kommt die räumliche Entfernung zur Bundesrepublik.
Parallel dazu sollen im Bereich der GMD jetzt weitere Einzelkämpfer in Japan installiert werden. Meine Damen und Herren, das Problem der Sprachbarrieren lösen wir auf diesem Wege nicht. Wir haben aber eine vernünftige und sinnvolle Einrichtung direkt vor der Haustür, hier in Bonn. Ich denke an das Ostasien-Institut. Hier sind hochqualifizierte junge Leute, Japaner, Chinesen, Koreaner, die der deutschen Sprache mächtig sind, die weil sie ein wissenschaftliches Studium haben, in der Lage sind, alles das zu analysieren, aufzubereiten, zu selektieren und für uns vorzubereiten. Warum nutzen wir dieses Potential nicht! Wenn wir sehen, daß nur 30% der japanischen Fachlitertur ins Englische übersetzt werden, können wir uns vorstellen, was da an Informationen an uns vorbeirauscht. Diese 30 % werden teilweise mit einer Zeitverzögerung von einem halben Jahr, bis zu zwei Jahren bei uns veröffentlicht. Hier liegt die Problematik, hier müssen wir ansetzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Stichwort „Kooperation" einige Anmerkungen machen. Wir müssen Anreize schaffen, daß Wissenschaftler wieder in die Wirtschaft gehen und auch der umgekehrte Weg beschritten wird. Es muß ein gegenseitiges Miteinander, ein gegenseitiges Sichim-Intellekt Befruchten geben. Das passiert zuwenig. Wir brauchen hier auch organisatorische Voraussetzungen, neue Kooperationsformen. Das Beispiel der FU Berlin, der Firma Schering ist genannt worden. Technologieparks sind genannt worden. Alles das steckt in den Kinderschuhen. Das muß vergrößert und verbessert werden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch noch einmal die mittelständische Komponente hereinbringen. Kooperation und Technologieparks bilden vorzügliche Voraussetzungen, gerade auch auf den Mittelstand zuzugehen, ihn zu integrieren und seine Intelligenz, seine Reaktionsschnelligkeit, seine Nähe zum Markt besser zu nutzen. Ich äußere hier einen Wunsch, stelle eine Forderung. Ich weiß, manchem wird diese Forderung nicht passen, aber ich würde mir wünschen, daß sich die Bundesregierung ein neues Instrument schafft, wie es die Amerikaner seit einigen Jahren haben: dem Deutschen Bundestag jährlich einen Bericht über die Effizienz, die Leistungsfähigkeit des Mittelstandes vorlegen zu lassen. Wir müssen hier einmal feststellen können, analysieren können, welche Leistungsfähigkeit wir hier haben, um daraus weitere Rückschlüsse ziehen zu können, um weitere Strategien ableiten zu können. Das brauchen wir.
({8})
Meine Damen und Herren, wir haben ja die Versuche bei zwei Förderprogrammen schon gemacht: bei Mikroelektronik und Fertigungsverfahren. Ich halte beide Programme für gut. Bei beiden Programmen stellen wir fest, daß wir Defizite haben, daß wir nicht das ausgebildete Fachpersonal in den Betrieben haben, das wir benötigen. Hier kann eine Aufgabe auch von unseren Universitäten und von unseren Großforschungseinrichtingen übernommen werden. Diese Möglichkeit wird zuwenig genutzt, entweder aus Unkenntnis, weil die Wirtschaft darüber nicht informiert ist, oder aus Schwellenangst. Das muß abgebaut werden.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung zu den Großforschungseinrichtungen an sich machen. Der F- und T-Ausschuß hat mit seinem Maßnahmenkatalog - u. a. zur Mittelbewirtschaftung im Personalbereich, zum Stiftungswesen, zur Drittmittelforschung - Möglichkeiten aufgezeigt, um diese von mir erläuterten Zielvorstellungen zur Neuorientierung der Großforschungseinrichtungen durchzusetzen. Es liegt nun bei der Bundesregierung, das weiter zu realisieren. Allerdings möchte ich feststellen, daß diese Maßnahmen nur die formalen, ordnungspolitischen Voraussetzungen betreffen. Es liegt auch bei den Forschungseinrichtungen selbst, sich in ihrem ureigensten Interesse von dem teilweise verkrusteten bisherigen Selbstverständnis, von dem hierarchischen Strukturverständnis zu lösen und die ihnen gegebenen Rahmenbedingungen zu nutzen, um zu neuen Formen der Zusammenarbeit inner- und außerhalb zu finden.
Herzlichen Dank.
({9})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zunächst die Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 5 b, Drucksache 10/539, auf. Hierzu liegt Ihnen auf der Drucksache 10/915 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Zu Ihrer Information: Es geht hier um eine zeitliche Änderung. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist angenommen.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 10/539 mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist gegen die
Vizepräsident Wurbs
Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 10/678 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a) und 6 b) auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte ({0})
- Drucksache 10/406 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Humanitäres Kriegsvölkerrecht
- Drucksache 10/419 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 6 a) und 6 b) und für die Aussprache eine Runde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die damalige Bundesregierung hat am 23. Dezember 1977 in Bern das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, das sogenannte Protokoll I, unterzeichnet. Seither sind über sechs Jahre vergangen, ohne daß sich - bemerkenswerterweise - die jeweiligen Bundesregierungen bemüßigt haben, das Ratifizierungsverfahren in Gang zu setzen.
Auf Anfrage unserer Fraktion im vergangenen Jahr, warum sie das Zusatzprotokoll noch nicht zur Ratifizierung gebracht habe, erklärte die gegenwärtige Bundesregierung im Oktober vorigen Jahres, es komme für die Bundesrepublik Deutschland, auf deren Territorium Truppen anderer Bündnispartner stationiert sind, darauf an, innerhalb des Bündnisses zu möglichst einheitlichen Interpretationen hinsichtlich der Bestimmungen des Zusatzprotokolls zu gelangen; die Konsultationen darüber, so die Auskunft der Bundesregierung, seien noch nicht abgeschlossen. Leider blieb bei dieser Antwort undeutlich, welche Interpretationsschwierigkeiten denn bestehen, wer und aus welchen Gründen von der Bundesregierung konsultiert wird und - insbesondere - warum die Konsultationen nach Ablauf von mehr als sechs Jahren nicht abgeschlossen werden konnten.
Um hier Klarheit zu schaffen, haben wir uns entschieden, die Initiative zu ergreifen und dem Bundestag das Abkommen zur Prüfung und Beschlußfassung vorzulegen. - Ich darf an dieser Stelle anmerken, daß der Gesetzentwurf nach unserer Auffassung nicht nur dem Auswärtigen Ausschuß, sondern zur Mitberatung auch dem Rechtsausschuß und dem Verteidigungsausschuß überwiesen werden sollte.
Daß wir als die kleinere Oppositionsfraktion, die an den Diskussionen während der Verhandlungen über das Zusatzabkommen seinerzeit nicht beteiligt war, die Initiative für das Gesetzgebungsverfahren ergreifen, heißt nicht, daß wir uns Illusionen über die Bedeutung und die Auswirkungen des Kriegsvölkerrechts machen. Eine Humanisierung des Krieges ist ein Widerspruch in sich; Krieg ist immer unmenschlich und verbrecherisch.
({0})
Wir verkennen auch nicht, daß angesichts der ins Wahnwitzige gesteigerten Perfektionierung von atomaren, bakteriologischen und chemischen Massenvernichtungsmitteln zumindest einige der in dem Abkommen enthaltenen zahllosen Verhaltensmaßregeln absurd und wirklichkeitsfremd erscheinen müssen. Die in den atomaren Arsenalen lauernden Kriege sind als gräßliche Ausrottungsaktionen unvorstellbaren Ausmaßes konzipiert. Solche Ausrottungsaktionen lassen sich nicht durch noch so wohlgemeinte Tüfteleien juristischer Experten mäßigen oder entschärfen. Es wäre verblendet, zu glauben, ein Atomkrieg könnte nach den Turnierregeln des Mittelalters ausgefochten werden.
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Gleichwohl ist eine Debatte hinsichtlich der sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen, so wie sie in grundsätzlichen Bestimmungen des Zusatzabkommens formuliert sind, notwendig. Die Bundesregierung wird sich erklären, wird Farbe bekennen müssen, welche Gefahren sie für unser Volk und für die Völker Europas mit ihrer Raketenpolitik auf sich nimmt und aus welchen Gründen sie sich vor einer vorbehaltlosen Ratifizierung des Zusatzabkommens scheut. Die Bundesregierung - und ich glaube, die gegenwärtigen Ereignisse unterstreichen das überdeutlich -, die sich in viele Verlegenheiten und Verlogenheiten verstrickt hat, wird insbesondere Auskunft darüber geben müssen, ob das Territorium der Bundesrepublik neben anderen europäischen Gebieten von der NATO als Kriegsschauplatz für den Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel ausersehen ist, während, wie man im NATO-Handbuch, Ausgabe vom März vorigen Jahres, nachlesen kann, weder die Vereinigten Staaten von Amerika noch Großbritannien, erst recht nicht Frankreich wegen seiner besonderen Situation, den Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel durch die NATO auf ihrem Gebiet zulassen.
Die Bundesregierung weiß im übrigen sehr wohl, daß der Einsatz atomarer, bakteriologischer und
chemischer Massenvernichtungsmittel - und damit auch die Androhung ihres Einsatzes - nicht mit den Bestimmungen des Zusatzabkommens vereinbar ist. Bereits im Jahre 1977 sorgten sich daher Politiker der CDU/CSU, SPD und FDP, ob die effektive Abschreckung nicht durch das Zusatzabkommen in Frage gestellt werde, und forderten, daß das Abkommen nicht auf atomare Massenvernichtungsmittel Anwendung finden solle. Der damalige Verteidigungsminister Leber befürchtete, das RotKreuz-Völkerrecht könne zum „Instrument künftiger politisch-psychologischer Schwächung des Westens durch innen- und außenpolitische Kräfte" werden. Der heutige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Dr. Mertes, damals noch in der Opposition, äußerte den Verdacht, das Zusatzabkommen könnte zur „Agitation auch innerhalb der Bundeswehr gegen die jeweils notwendige wirksame Abschreckung und zur Begünstigung der sowjetischen Aktionen gegen das Vertrauen in die amerikanischen Garantien für Europa verwendet werden".
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Die Bundesregierung hat mit der Unterzeichnung des Abkommens die Verpflichtung übernommen, den allgemeinen Schutz der Zivilbevölkerung und einzelner Zivilpersonen vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren zu gewährleisten. Nach Art. 51 Abs. 2 des Abkommens dürfen weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist nach der genannten Bestimmung verboten. Nach Art. 51 Abs. 6 sind insbesondere auch Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder gegen Zivilpersonen als Repressalien verboten.
Nun müssen wir aber die Frage stellen: Welchen Wert können solche Wohlverhaltensklauseln haben, wenn ausgerechnet die schlimmste Form der Repressalie, der Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel, von dem Verbot ausgenommen wird? Und wie will die Bundesregierung ihre Verpflichtung aus Art. 35 Abs. 3 des Abkommens einhalten, der verbietet, Methoden und Mittel der Kriegsführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, daß sie ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen? Wie verträgt sich das mit der Duldung der Lagerung chemischer Massenvernichtungsmittel auf dem Boden der Bundesrepublik? Wie verträgt sich das mit dem begonnenen Ausbau der Bundesrepublik als Startfeld für atomare Massenvernichtungsmittel, deren Einsatz Europa für alle Ewigkeit ruinieren würde?
In seiner Rede vom 14. Oktober 1983 vor dem Bundestag hat der Staatsminister Mertes sich bereits auch mit dem Kriegsvölkerrecht beschäftigt und sich zu fünf völkerrechtlichen Grundsätzen bekannt. Ich darf sie noch einmal aufzählen:
Erstens. Auch wer sich verteidigt, hat kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Angreifers.
Zweitens. Auch wer sich verteidigt, darf keine verbotenen Waffen einsetzen.
Drittens. Auch wer sich verteidigt, muß jederzeit zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterscheiden.
Viertens. Auch wer sich verteidigt, darf die Zivilbevölkerung als solche nicht angreifen.
Fünftens. Auch wer sich verteidigt, muß seine militärischen Aktionen jederzeit am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen.
Die Antwort, wie sich diese fünf völkerrechtlichen Grundsätze mit dem Einsatz atomarer, bakteriologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel in Übereinstimmung bringen lassen, ist uns die Bundesregierung bis heute schuldig geblieben. Sie redet sich darauf hinaus, der Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel werde nur angedroht. Sie weigert sich beharrlich, auf die Tatsache einzugehen, daß die Drohung nur dann glaubwürdig ist, wenn der angedrohte Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel unter bestimmten Voraussetzungen in die Tat umgesetzt wird. Der Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel wäre nach dem Verständnis der Bundesregierung eine Verteidigungshandlung. Die Bundesregierung wird uns endlich erklären müssen, warum der grauenvolle Massenmord in Gestalt des Einsatzes atomarer Massenvernichtungsmittel eine Verteidigungshandlung sein kann und warum ausgerechnet für eine solche Handlung die Verpflichtungen aus dem Völkerrecht nicht gelten sollen.
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Sagen Sie uns doch einmal klipp und klar: War nach Ihrer Auffassung die Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki mit dem Völkerrecht vereinbar oder nicht?
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Wir können leider nicht erwarten, daß die Bundesregierung durch das Studium völkerrechtlicher Vereinbarungen schließlich doch erkennt, auf welchen gefährlichen Irrweg sie mit ihrer Raketenpolitik geraten ist. Wir hoffen und vertrauen aber darauf, daß die Menschen bei uns zu Hause und in den europäischen Nachbarländern, die die Risiken dieser Raketenpolitik zu tragen haben, sich stärker Gehör verschaffen werden, um den Irrsinn der atomaren Aufrüstung zu beenden.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Todenhöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schily, ich kann Ihren Ausführungen lediglich an einer Stelle zustimmen, und zwar in der Passage, in der Sie gesagt haben, daß Kriege immer unmenschlich sind. Das ist richtig. Gerade deshalb halten wir es für menschlicher, mit unmenschlichen Waffen Kriege zu verhindern, als mit sogenannten menschlichen Waffen Kriege zu führen oder sie wieder möglich zu machen. Das ist die Grundlage unserer
Friedenssicherungsstrategie und unserer Abschreckungsstrategie, die Sie hier als Raketenpolitik und Aufrüstungspolitik diffamiert haben. Ich muß diesen Vorwurf mit aller Härte und Deutlichkeit zurückweisen.
Die Regierung der CDU/CSU-FDP-Koalition betreibt keine Aufrüstungspolitik. Sie betreibt keine Raketenpolitik. Ich weiß, daß Sie mit dem Wort „Raketenpolitik" auf die Entscheidung Ende vergangenen Jahres, auf die Stationierung weitreichender Mittelstreckenraketen anspielen.
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- Herr Schily, ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende führen.
Wir werden auf Grund des NATO-Doppelbeschlusses, der bereits zum Abzug von 1 000 Gefechtsköpfen als einseitige Vorleistung des Westens geführt hat, und auf Grund der Beschlüsse von Ottawa, die die Vernichtung und einseitige Abrüstung weiterer Gefechtsköpfe aus Europa in einer Größenordnung von 1400 vorsehen, und auf Grund des Beschlusses, daß für jeden Mittelstreckengefechts-kopf, der neu stationiert wird, ein alter, ein anderer Gefechtskopf abgebaut wird, am Ende für jeden neu zu stationierenden atomaren Gefechtskopf mehr als fünf Gefechtsköpfe abbauen, falls es zur vollen Stationierung kommt. Wir betreiben eine Politik, deren Ziel es ist, die Abschreckungsstrategie, die Verteidigungsstrategie, mit weniger Waffen zu sichern versucht.
Aber es ist eine unrichtige Darstellung, wenn Sie den Eindruck erwecken, als werde hier quantitativ aufgerüstet. Es würde Ihnen sehr gut anstehen, wenn Sie den Versuch der Regierung Kohl/Genscher einmal zustimmend zur Kenntnis nehmen würden, zumindest im quantitativen Bereich Frieden zu schaffen mit weniger Waffen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Herr Kollege Todenhöfer, ich gehe davon aus, daß Sie für sich in Anspruch nehmen, daß Sie auch die Androhung des Einsatzes konventioneller Waffen als Kriegsverhinderung betreiben. Gleichwohl ist die Bundesregierung bereit, für diesen Bereich das Kriegsvölkerrecht anzuerkennen, mit allen Konsequenzen, die sich aus dem Zusatzabkommen ergeben. Können sie mir den Widerspruch erklären, warum die kriegsvölkerrechtlichen Grundsätze bei der Androhung des Einsatzes atomarer Massenvernichtungsmittel nicht zur Anwendung gelangen sollen?
Herr Schily, lassen Sie mich, da ich in meinen weiteren Ausführungen gerade auf dieses Thema eingehen möchte, eines vorab sagen: Die CDU/CSU und auch die FDP werden nie einer Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie zustimmen, die mit dem Völkerrecht nicht vereinbar ist. Wir gehen davon aus, daß die jetzige Strategie mit dem Völkerrecht vereinbar ist, und wir werden dafür sorgen, daß die Strategie des westlichen Verteidigungsbündnisses auch in Zukunft mit dem Völkerrecht vereinbar bleibt.
Lassen Sie mich den Versuch unternehmen, zusammenfassend zu diesem Problem Stellung zu nehmen. Herr Schily, wer die Sicherheitspolitik der Bundesregierung angreifen will - das sage ich auch an die Adresse meiner sozialdemokratischen Kollegen -, der sollte dies offen tun und nicht auf dem Umweg über die Forderung nach einer überstürzten Ratifizierung der Zusatzprotokolle zum humanitären Kriegsvölkerrecht,
({0})
wie dies die SPD und die GRÜNEN mit ihren Anträgen heute versuchen.
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- Sehr geehrter Herr Voigt, von diesen sechs Jahren sind Sie fünf Jahre an der Regierung gewesen. Das sollten wir doch nicht vergessen.
Diese Bundesregierung wird sich unterstützt von der CDU/CSU und der FDP, im Interesse der Sicherheit unseres Landes von der Opposition - weder von den GRÜNEN noch von der SPD - nicht unter Druck setzen lassen. Die Bundesregierung wird, unterstützt von den Koalitionsparteien, die Ratifizierung dann einleiten, Herr Voigt, wenn alle erforderlichen Prüfungen sorgfältig abgeschlossen sind
({2})
und wenn die notwendige Abstimmung mit unseren Verbündeten durchgeführt worden ist.
Sehr geehrter Herr Schily, ich würde Ihnen vorschlagen, die Zwischenfrage anschließend noch einmal bei einem der Kollegen der SPD zu stellen, die fünf Jahre die Gelegenheit gehabt haben, diese Koordinationsgespräche mit unseren Verbündeten zu führen.
Für das westliche Bündnis haben - das ist der fundamentale Unterschied, bei dem wir uns offenbar nie verstehen werden, weil Sie uns das einfach nicht abnehmen - nukleare Waffen primär einen politischen Zweck - ich glaube, wir haben in den letzten 30 Jahren den Nachweis dafür geführt. Nuklearwaffen sollen durch die Möglichkeit der Androhung ihres Einsatzes einen Krieg verhindern. Das ist offensichtlich die Kategorie, in der Herr Schily sehr ungern denkt. Uns geht es in erster Linie um Kriegsverhinderung, wir denken nicht in Kriegsszenarien,
({3}) wie dies die GRÜNEN offenbar tun.
({4})
Die abschreckende Wirkung der Nuklearwaffen ist insbesondere dann gegeben, wenn jeder Gegner davon überzeugt ist, daß erstens ein militärischer
Angriff für ihn ein übergroßes und damit untragbares Risiko darstellt und daß zweitens - diesen zweiten Punkt halte ich für genauso wichtig - auch jeder Versuch der politischen Erpressung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
Der Versuch der SPD und insbesondere der GRÜNEN, diese friedens- und freiheitserhaltende Wirkung der Nuklearwaffen über die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts einzuschränken, bedeutet ein gefährliches Experiment
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mit dem Frieden und insbesondere mit der Freiheit unseres Landes, ein Experiment, das wir nicht zulassen werden.
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- Herr Bindig, ich habe hier in etwa die Position vertreten, die Ihre Regierung, die sozialdemokratische Regierung, über Jahre hinweg vertreten hat. Wenn Sie das jetzt als Unsinn bezeichnen, bedeutet das - -({7})
- Wenn ich in meiner Rede Zitate aus Regierungserklärungen sozialdemokratischer Bundeskanzler bringe, ist natürlich Ihr Zwischenruf, das sei Unsinn, schon mehr als merkwürdig.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Scheer?
Herr Präsident, ich habe vorhin zu dieser fortgeschrittenen Zeit eine Zwischenfrage des Kollegen Schily zugelassen. Wir haben eine begrenzte Redezeit; ich muß jetzt aus Zeitgründen mit meiner Rede fortfahren.
Darf ich nur eben fragen: Gilt das generell?
Ja. - Herr Präsident, die Bundesregierung hat mehrfach deutlich gemacht, daß sie - damit komme ich zu der Problematik des Tempos, mit dem diese Prüfung durchgeführt werden muß - die Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen von 1949 noch in dieser Legislaturperiode, möglicherweise noch in diesem Jahr - Herr Schily, noch in diesem Jahr! -, dem Parlament zur Ratifizierung zuleiten will.
({0})
- Möglicherweise noch in diesem Jahr! Damit wird deutlich, daß die Bundesregierung hier eine wichtige Aufgabe sieht, der sie sich mit dem gebotenen Ernst und auch mit dem gebotenen Nachdruck stellt.
Die Anträge der Oppositionsparteien erwecken völlig zu Unrecht den Eindruck, als ob die Bundesregierung zur Behandlung dieses wichtigen Themas erst von der Opposition gedrängt werden müßte. Meine Damen und Herren, die Gründe, aus denen die Ratifizierung seit der Unterschriftsleistung im Jahre 1977 noch nicht erfolgt ist, sind - ich darf das wiederholen, Herr Voigt - der SPD ja wirklich hinreichend bekannt oder sollten ihr bekannt sein.
({1})
- Und wofür war Ihr Bundeskanzler, Herr Voigt? Das ist doch das Entscheidende!
({2})
Sie waren an der Regierung,
({3})
Sie haben als Koalitionsparteien SPD und FDP damals mit Ihren zustimmenden Beschlüssen zum Haushalt des Bundeskanzlers, mit Ihren Beschlüssen zum Haushalt des Außenministers, mit Ihren Beschlüssen zum Haushalt des Verteidigungsministers die Politik dieser Regierung gebilligt. Sie können sich nicht nachträglich aus der Verantwortung für die vergangenen 13 Jahre herausstehlen, Herr Voigt.
({4})
Meine Damen und Herren, der SPD sind die Gründe hinreichend bekannt.
({5})
- Sie können das alles ja anschließend darlegen.
({6})
Sie haben als Regierungspartei volle fünf Jahre Zeit gehabt, die Ratifizierung einzuleiten; Sie haben es fünf Jahre lang nicht getan. Ich muß noch einmal sehr deutlich sagen: Es ist schon ein sehr merkwürdiges parlamentarisches Verhalten, wenn jetzt die SPD als Oppositionspartei versucht, sich mit den Federn eines Vorkämpfers für das humanitäre Kriegsvölkerrecht zu schmücken. Aber das scheint ja offenbar die Generalstrategie der SPD zu sein. Sie wissen grundsätzlich alles besser. Ich frage mich nur, warum Sie, meine Damen und Herren von der SPD, all das, was Sie jetzt so lautstark fordern, während der 13 Jahre Ihrer Regierungszeit nicht selbst durchgeführt haben.
({7})
Wenn einer der Kollegen der SPD in einem Zwischenruf jetzt sagt, das sei so, Sie hätten immer recht, dann zeigt das, in welch merkwürdigem Verhältnis Sie sich zu Ihrer eigenen Regierungszeit und auch zu den Fehlern Ihrer Regierungszeit befinden.
Ich glaube, daß viel wichtiger als hektische Eile ist, in dem vor uns liegenden - ({8})
- Ich habe gesagt, daß wir versuchen werden, das alles noch in diesem Jahr durchzusetzen. Herr Fischer, versuchen Sie doch einmal, einen qualifizierteren Zwischenruf zu machen! Sie sollten hier nicht nur ständig Lärm erzeugen.
({9})
Wichtiger als hektische Eile in dem vor uns liegenden Ratifizierungsverfahren ist es, sorgfältig zu prüfen, ob wir nicht vorschnell Dinge völkerrechtlich festschreiben, die sich später als unvereinbar mit unserer Sicherheits- und Verteidigungsstrategie erweisen. Wir müssen verhindern, daß das Völkerrecht zu Lasten der verläßlichen Sicherung des Friedens und der Freiheit unseres Landes mißbraucht wird.
({10})
Wir dürfen daher nicht den Gebrauch bestimmter Waffen völkerrechtlich einschränken, die zumindest zur Zeit zur Friedenssicherung noch unerläßlich sind.
({11})
Das gilt z. B. auch für nukleare Waffen.
Herr Schily, Sie und Ihre Fraktion versuchen mit Ihrer Initiative den Nachweis zu führen, daß Atomwaffen bereits als solche völkerrechtlich verboten seien.
({12})
Das ist der Kern Ihrer völkerrechtlichen und Ihrer juristischen Argumentation.
({13})
- Herr Schily, ich brauche diese Belehrung von Ihnen nicht. Sie sind Anwalt, ich bin von Beruf Richter. Die juristische Seite dieses Problems überblicke ich mindestens genauso gut wie Sie.
({14})
Ich möchte Ihnen, Herr Schily, nur sagen, daß die völkerrechtliche Argumentation, die Sie dargelegt haben, in keiner Weise überzeugend ist. Sie ist juristisch nicht haltbar.
({15})
- Herr Schily, das ist doch der Punkt; jetzt hören Sie doch bitte zu! - Es kann überhaupt keinen Zweifel daran gehen, daß die im Ersten Zusatzprotokoll niedergelegten Verbote bestimmter Waffen und ihres Einsatzes nicht in der Absicht aufgestellt worden sind, das Bereithalten von Atomwaffen zum Zwecke der Friedenssicherung zu verbieten. Die Argumentation der GRÜNEN ist daher auch juristisch nicht schlüssig.
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Ich fasse zusammen: Die Verteidigungsplanung des westlichen Bündnisses dient ausschließlich dem Ziel der Friedenssicherung und der Verhinderung der Erpreßbarkeit unseres Landes und unserer westlichen Verbündeten.
({17})
- Herr Schily, auf Ihren Zwischenruf sage ich noch einmal: Wir werden nie zulassen, daß es im Westen eine völkerrechtswidrige Verteidigungsstrategie gibt. Das ist unser Wort, und zu diesem Wort stehen wir auch. Wir lassen uns in dieser Frage von Ihnen im Deutschen Bundestag auch nichts unterstellen.
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Zur Friedenssicherung gehört unter den gegenwärtig herrschenden Bedingungen nach wie vor ein begrenztes nukleares Abschreckungspotential, verbunden mit dem festen und erklärten Willen der Allianz,
({19})
niemals als erste Waffen einzusetzen. Herr Schily, wir haben eine Kriegsverhinderungsstrategie, wir haben keine Kriegsführungsstrategie. Die NATO ist ein ausschließlich defensives Bündnis, und sie wird auch in Zukunft ein ausschließlich defensives Bündnis bleiben.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Soell.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal etwas zur Vorgeschichte dieser Initiative der Fraktion der GRÜNEN und unseres Antrages sagen, der mit zur Debatte steht. Wir sollten, Herr Schily, nicht verschweigen, daß jedenfalls die neuerliche Initiative zur Ratifizierung vom Deutschen Roten Kreuz ausgegangen ist, das in einem Brief an alle Abgeordneten diese Ratifizierung angeregt hat. Es hat Abgeordnete gegeben - da ich mein Licht nicht unter den Scheffel stellen will, nenne ich mich selber -, die dann bei der Bundesregierung nachgefragt haben, weil sie in früheren Jahren diese Chance nicht hatten, da sie nicht in den entsprechenden Ausschüssen saßen oder gar nicht im Bundestag waren, wie es denn mit dem Ablauf der Ratifizierung stünde. Daraufhin kam von verschiedenen Seiten aus etwas in Gang. Sie haben das dann ja umgemünzt, indem Sie das Zustimmungsgesetz zusammen mit dem Zusatzprotokoll I eingebracht haben.
Staatsminister Mertes hat in der Debatte am 14. Oktober, als es auch um die Beantwortung Ihrer Großen Anfragen ging, angekündigt, daß die BunDr. Soell
desregierung dem Bundestag das Zustimmungsgesetz zu den Zusatzprotokollen noch in dieser Legislaturperiode zuleiten würde.
Herr Todenhöfer, Sie haben kritisiert, es habe unter sozialliberaler Verantwortung fünf Jahre gedauert. Wenn uns versprochen wird, daß das Zustimmungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode zugeleitet wird - vom Zeitablauf her etwa 1987 -, dann können wir schon absehen, daß dies, wenn man bei den schon früher gescheiterten Verfahren bleibt, auch wieder zum Scheitern führen wird.
Der Versuch, einen Gleichklang der Interpretation der entscheidenden Bestimmungen dieses Zusatzprotokolls allein unter den Verbündeten herzustellen, kam schon in den vergangenen Jahren der Quadratur des Zirkels gleich. Wer die einzelnen Bestimmungen liest, weiß, daß dies natürlich auch eine gewisse Rechtfertigung durch die Texte hat.
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Die Regeln machen keinen Unterschied zwischen Verteidiger und Aggressor. Auch derjenige, der nach der Satzung der Vereinten Nationen das Recht der Selbstverteidigung in Anspruch nimmt, muß sich an die Regeln halten. Er hat also nach Art. 35 Abs. 1 des Zusatzprotokolls kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung. Nach Abs. 2 ist es ihm verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen und Leiden zu verursachen.
Ich will nicht die ganze Palette der Bestimmungen aufzählen, aber es ist doch völlig klar, daß dies für die gegenwärtige Strategie im westlichen Bündnis enorme Fragen aufwirft, und zwar nicht nur was die atomaren Waffen, sondern auch was die konventionellen Waffen angeht. Ich erspare es mir hier, nachdem Herr Schily einige der weiteren Bestimmungen vorgetragen hat, dies im einzelnen an Hand der Bestimmungen deutlich zu machen.
Jedenfalls machen die Hinweise auf die Bestimmungen des Zusatzprotokolls die ungeheure Diskrepanz zwischen der Entwicklung des Völkerrechts, auch des Kriegsvölkerrechts, und den in den letzten Jahrzehnten immer perfekter produzierten Massenvernichtungsmitteln sehr deutlich.
Für uns Deutsche besteht die Verpflichtung, in den Fragen des Völkerrechts besonders aufmerksam und sensibel zu sein. In Art. 25 des Grundgesetzes heißt es:
Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.
Dieser Grundgesetzartikel ist eine direkte Folge der Rechtsprechung des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs in den ersten Nachkriegs-j ahren. Er verpflichtet die Bundesregierung, ihre Weisungen an die Soldaten - das sind Weisungen, die einklagbar sind - in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu halten.
Herr Kollege Todenhöfer, der Kollege Voigt hat dazwischengerufen, woran die Verzögerung auch lag; das war sicher nicht der einzige Grund. Das Verteidigungsministerium war dafür, auch um die Soldaten in einer eindeutig geklärten völkerrechtlichen Situation zu halten, während das Auswärtige Amt aus vielerlei Gründen dagegen war, die Herr Möllemann vielleicht darlegen wird.
Aber es ist nicht nur auf diesen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Grundgesetz und Völkerrecht, sondern auch auf die politischen Interessen der Bundesrepublik abzuheben, die aus ihrer exponierten geographischen Lage kommen, auch aus ihrer Situation als Stationierungsland für Atomwaffen und andere Massenvernichtungsmittel.
Ich möchte hier nicht die „Tour der Leiden" beschreiben, die die deutschen Vertreter bei dem Versuch erlebt haben, eine Abstimmung im Bündnis zu erreichen. Ich möchte nur kurz auf wichtige Probleme hinweisen: Auf der einen Seite sollte die nukleare Abschreckungsgarantie der USA für Westeuropa und insbesondere für die Bundesrepublik zum Zweck der Kriegsverhinderung erhalten bleiben. Auf der anderen Seite sollte eine Lösung für das Problem gefunden werden, daß das Territorium der Bundesrepublik und die darauf lebende Zivilbevölkerung sowohl für konventionelle wie nukleare Auseinandersetzungen lediglich Gefechtsfeld ist, also kein Hinterland darstellt, während auf der anderen Seite unsere Bündnispartner für unser Territorium am liebsten das im Zusatzprotokoll I enthaltene grundsätzliche Verbot der Unterschiedslosigkeit zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung sowie das Verbot der Unbeschränktheit der Kriegführung begrenzt oder gar aufgehoben wissen wollten. Es gab auch solche, die meinten, das Zusatzprotokoll I sei möglicherweise mit dem Einsatz von Atomwaffen vereinbar, während die gleichen Bündnispartner - so jedenfalls das Ergebnis interner Besprechungen - ihre eigenen Territorien als reines Hinterland betrachtet wissen wollen, für das die Beschränkungen und Verbote des Zusatzprotokolls vollgültig seien.
Die USA haben schon 1973 in einer Erklärung vor der UNO-Generalversammlung die Auffassung vertreten, daß die Einführung eines Prinzips, wonach in besiedelten Gebieten nur der Gebrauch jener Waffen erlaubt sei, deren Wirkung auf militärische Ziele beschränkt werden könne, nicht nur die Natur konventioneller Konflikte fundamental ändern würde, sondern auch der inneren Logik nach nuklear geführte Kriege fast vollständig ausschließen würde. Der Einführung dieses Grundsatzes, nämlich Art. 51 Abs. 4 des Zusatzprotokolls und andere Grundsätze, die entsprechend sind, hat sich aber die amerikanische Politik nicht widersetzt. So ist dann auch in den Beratungen im Bündnis deutlich geworden, daß entsprechende Gegenerklärungen von der völkerrechtlichen Wirkung her außerordentlich bescheiden wären, weil sie ja von den anderen vertragschließenden Parteien mit akzeptiert werden müßten.
Lassen Sie mich gerade auf diese Versuchung eingehen, der möglicherweise auch die jetzige Bun3604
desregierung unterliegt, nämlich durch Vorbehaltserklärungen oder Interpretationen eine einschränkende Wirkung der Regeln des Zusatzprotokolls erreichen zu wollen. Ich halte die Wirkung eines solchen Vorgehens für kontraproduktiv, weil sie mit dem Risiko befrachtet ist, daß durch Gegenerklärungen anderer am Ende die deutsche Zivilbevölkerung des Völkerrechtsschutzes bei jeder Art von Konflikt und jeder Art von Kriegführung beraubt sein würde. Dies wie auch die Erkenntnis, daß den Bestimmungen und Regelungen dieses Protokolls - das kann man nicht genügend hervorheben, Herr Kollege Todenhöfer - westliches Rechtsdenken zugrunde liegt, nämlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel - etwas, was sich in der rechtsgeschichtlichen Tradition vor allen Dingen aus der Innenpolitik entwickelt hat und sich jetzt sozusagen in die Staatenpolitik, in das zwischenstaatliche Verhältnis hinüber entwickeln soll -, sollten im Grunde schon ausreichen, von solchen erneuten Versuchen abzugehen.
Im übrigen erweist sich gerade an der Problematik, die wir hier haben, daß nicht in erster Linie rechtliche Überlegungen, sondern neue politische Initiativen notwendig sind. Staatsminister Mertes hat in der Bundestagsdebatte am 14. Oktober 1983 geltend gemacht, daß spezielle Verbote, etwa der Verwendung von Nuklearwaffen, das umfassende Gewaltverbot der Vereinten Nationen relativieren würden. Er hat damit unter anderem auch den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu rechtfertigen versucht. Wie neuere Untersuchungen zeigen, ist die Frage sehr berechtigt, ob die sowjetische Führung angesichts des hohen Selbstabschreckungsgrades atomarer Waffen, gerade auch für unsere Seite, solche westlichen Ankündigungen ernst nehmen würde. Auch dies zwingt zu neuen politischen Überlegungen und Initiativen.
Sie sagen im übrigen, Herr Kollege Todenhöfer, dies alles, auch die Androhung eines Ersteinsatzes, sei zugunsten der Kriegsverhinderung gemeint, und fügen nicht hinzu, daß nicht allein der Macht-und Systemkonflikt zwischen Ost und West und auch die Waffentechnologie die Rüstung treiben, sondern daß es auch auf westlicher Seite ein scheinrationales Eskalationsdenken gibt, insbesondere die Vorstellung, man könne die „Eskalationsdominanz", wie es im Jargon der Eskalationstheorie heißt, behalten, man könne hier in Mitteleuropa „Eskalationskontrolle" ausüben. Das ist schon innerhalb der konventionellen Kriegführung etwas, was im Grunde nicht glaubwürdig ist, auch nicht in den Augen eines möglichen Gegners. Wir müssen deshalb die Konsequenz sehen, daß der Prozeß des Vorantreibens der Entwicklung zielgenauer Waffen nicht nur induziert ist durch Macht- und Systemkonflikte, nicht nur induziert ist durch Sperrung von Optionen, durch den Versuch, auf jeder Stufe von Eskalation die Option der anderen Seite sperren zu können - etwas anderes, Unmoralisches möchte ich der westlichen Seite gar nicht unterstellen -, sondern es gibt durchaus auch die teilrationale Einstellung - ich meine jedoch: scheinrationale Einstellung -, man könne dies alles tun und zugleich - dies ist mir bei dem Lesen der internen
Dokumente sehr deutlich geworden - den Versuch unternehmen, diesem Zusatzprotokoll zu entsprechen, indem man die Wirkung neuer nuklearer und anderer Waffen ganz entscheidend begrenzt, um das Verbot der Unterschiedslosigkeit zu umgehen. Dies ist ein ganz großes zusätzliches Problem.
Das wird uns in den nächsten Monaten und Jahren, wenn wir uns mit der Ratifizierung dieses Zusatzabkommens beschäftigen, intensive Anstrengungen kosten, damit hier nicht eine neue Lücke aufgemacht wird.
Ich möchte abschließend sagen, daß die Auffassungen, die Staatsminister Mertes am 14. Oktober hier im Bundestag vorgetragen hat, auch deshalb der Logik entbehren, gerade, was die Frage eines umfassenden Gewaltverbots angeht, weil nach unseren Erfahrungen bisher Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen nur schrittweise zu bestimmten Ergebnissen geführt haben und solche Abkommen auch nur schrittweise erzielt worden sind. Die Bundesregierung hat z. B. durch die Zustimmung zum Vertrag über das Verbot bakteriologischer Waffen, das umfassende Gewaltverbot auch nicht relativiert. Die Bundesregierung würde das umfassende Gewaltverbot der Vereinten Nationen auch nicht durch ein regionalisiertes oder umfassendes Verbot der Produktion und Anwendung chemischer Waffen aufheben.
Ich meine, das sind alles Elemente einer westöstlichen Sicherheitspartnerschaft oder, wie es uns aus den Reihen der CDU seit neuestem entgegenlingt, einer we st-östlichen Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden, die ohne solches schrittweise Vorgehen überhaupt nicht möglich ist. Nur so ist denkbar, daß das erste Zusatzprotokoll, über das wir reden, und der dort enthaltene Auftrag ernst genommen wird, nämlich als ein weiterer Schritt zu einer möglichen Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West. Nur so kommen wir dazu, daß die immer umfassender werdenden Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts, die dies j a ausdrücken, Völker und Regierungen zu der Einsicht bringen, daß Kriege, mit wem und mit welchen Waffen auch immer geführt, den elementarsten Menschenrechten widersprechen und deshalb zu ächten sind.
Die SPD stimmt der Überweisung des Gesetzentwurfs und unseres Antrags an die vorgeschlagenen Ausschüsse zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der GRÜNEN hat am 23. September 1983 den Entwurf eines Zustimmungsgesetzes zum ersten Zusatzprotokoll von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte in diesem Hause eingebracht. Die Bundesregierung hat starke verfassungsrechtliche Bedenken, ob auch VertragsgeStaatsminister Möllemann
setze nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden können. Die Bundesregierung ist vielmehr der Ansicht, daß ihr das Initiativrecht bei Vertragsgesetzen vorbehalten ist. Die Zustimmung des Parlaments zu dem Abschluß völkerrechtlicher Verträge des Bundes stellt einen Akt der Mitwirkung an der auswärtigen Gewalt des Bundes dar.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. - Sie ist, wie auch das Bundesverfassungsgericht dargelegt hat, eine Ausnahmebefugnis. Die Zweifel der Bundesregierung an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit
({0})
der Gesetzesinitiative der Fraktion DIE GRÜNEN werden durch einschlägige Stellungnahmen führender Verfassungsrechtler gestützt.
({1})
- Herr Schily, ich möchte diesen Gedanken gerne im Zusammenhang vortragen. Ich bin gerne bereit, im späteren Teil auf Fragen einzugehen; aber ich glaube, das gehört zusammen. - Diese weisen im Hinblick auf die in der Verfassung festgelegte Gewaltentrennung im Bereich der auswärtigen Gewalt allein der Bundesregierung die Entscheidung zu, ob sie das Ratifikationsverfahren im Wege der Erbringung eines Vertragsgesetzes einleiten will.
Darüber hinaus hält die Bundesregierung die Einbringung von Zustimmungsgesetzen aus der Mitte des Parlaments auch vom gesetzgebungstechnischen Standpunkt aus für problematisch. Während die Antragsteller bei Initiativanträgen zu innerstaatlichen Gesetzen alle erforderlichen Voraussetzungen kennen, um den Entwurf vertreten zu können, fehlt ihnen diese Kenntnis bei Anträgen zu den Zustimmungsgesetzen. Der förmliche Gesetzentwurf tritt in diesen Fällen gegenüber dem Vertrag, dem zugestimmt werden soll, in den Hintergrund.
Die genaue Kenntnis des Inhalts des Vertrages und seiner Tragweite ist von größter Bedeutung für die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt ein solcher Vertrag dem Parlament mit der Bitte um Zustimmung zugeleitet werden soll, weil davon im Ergebnis wiederum abhängt, ob und wann sich das Gemeinwesen nach außen völkerrechtlich an den Vertrag bindet. Die Beurteilung dieser Fragen ist Sache des Organs, das den Vertrag ausgehandelt hat und das nicht nur den förmlichen Vertragstext kennt, sondern auch über alle einschlägigen Sachzusammenhänge unterrichtet ist.
({2})
- Auf den Zeitraum komme ich. - Denn oft hat
nur ein Teil der von den Vertragspartnern geführten Verhandlungen und der von jedem Vertragspartner angestellten Erwägungen in dem förmlichen Text des Vertrages seinen Ausdruck gefunden. Das Initiativrecht der Bundesregierung hinsichtlich des Zustimmungsverfahrens für völkerrechtliche Verträge muß also auch aus diesem Grunde unangetastet bleiben.
Schließlich sollte nicht verkannt werden, daß das mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN eingeschlagene Verfahren dazu zwingen würde, die gesamte vorbereitende Arbeit, die sonst innerhalb der Ressorts der Bundesregierung erfolgt, nachträglich in den Ausschüssen des Parlaments abzuwickeln, weil den Initiativanträgen die für die Beurteilung des Vertrages und seiner Zusammenhänge unerläßliche Denkschrift nicht beigefügt ist. Damit wäre - dies mag man als Argument akzeptieren oder nicht - objektiv aber eine erhebliche zusätzliche Belastung der Abgeordneten in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages verbunden.
({3})
Herr Staatsminister, ich frage Sie noch einmal, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten.
Ich möchte gern den Gedanken zunächst im Zusammenhang vortragen.
Gilt das generell, daß Sie keine Zusatzfragen zulassen?
Ich werde gleich signalisieren, wann ich auf Fragen eingehen möchte.
Nachdem aber der Ältestenrat des Bundestages die Empfehlung ausgesprochen hat, den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN dem Auswärtigen Ausschuß zur weiteren Behandlung und Beratung zuzuweisen, möchte die Bundesregierung diesem Verfahrensvorschlag nicht widersprechen. Sie wird jedoch ihre Auffassung zur verfassungsrechtlichen Lage auch in den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses weiter vertreten.
Lassen Sie mich nun zweitens in der Sache folgendes sagen. Der Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN trägt das Datum des 23. September 1983, der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD das Datum des 28. September 1983. Seither, also jetzt seit etwa sechs Monaten hat die Bundesregierung mehrfach öffentlich ihre Absicht bekräftigt, die Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 noch in dieser Legislaturperiode dem Parlament zur Zustimmung zuzuleiten. Ich erinnere daran, daß die GRÜNEN in ihrer Großen Anfrage „Kriegsvölkerrechtliche Verträge" die Bundesregierung gefragt haben, ob sie beabsichtige, das Zustimmungsverfahren noch in dieser Wahlperiode einzuleiten. Darauf hat die Regierung mit klarem Ja geantwortet. In der Aussprache über diese Großen Anfragen am 14. Oktober 1983 hat, wie hier schon erwähnt worden ist, mein Kollege Dr. Mertes erklärt, daß die Bundesregierung auf Grund des
Standes der Konsultationen im Nordatlantischen Bündnis jetzt in der Lage ist und die feste Absicht hat, dem Deutschen Bundestag das Zustimmungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode zuzuleiten.
({0})
Ich möchte Ihnen hier und heute zusichern, daß die Bundesregierung an diesem Zeitplan unverändert festhält.
({1})
Die Bundesregierung hat immer wieder erklärt, daß bei allen, mit der Ratifizierung der Zusatzprotokolle zusammenhängenden Fragen für uns der rechtlichen und politischen Abstimmung mit unseren Bündnispartnern besondere Bedeutung zukommt, da wir ein Staat sind, auf dessen Territorium Truppen anderer Bündnispartner stationiert sind. Die entsprechenden Konsultationen im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses konnten im vergangenen Jahr zu einem Abschluß gebracht werden. Der Bundessicherheitsrat ist mit den Ergebnissen dieser Konsultationen derzeit beschäftigt.
Die Bundesregierung wird den parlamentarischen Gremien den Entwurf des Zustimmungsgesetzes zusammen mit der Denkschrift zuleiten, die die Haltung der Bundesregierung zu den Fragen der Auslegung und Anwendung der Zusatzprotokolle darstellt und dabei den Ergebnissen der Konsultationen mit unseren Bündnispartnern Rechnung trägt.
Auch die Arbeiten an der Denkschrift sind bereits weit fortgeschritten. Die Bundesregierung wird sich bemühen, das Ratifikationsverfahren noch im Laufe dieses Jahres einzuleiten. Das nähere hierzu werden wir gerne im Auswärtigen Ausschuß erläutern.
({2})
- Herr Kollege Fischer, wenn Sie sagen, meine Ausführungen klängen wie eine Gebetsmühle, muß ich Ihnen sagen, daß ich bei Ihren Ausführungen schon gelegentlich etwas härtere Bemerkungen gehört habe. Es gibt in Augsburg einen Jahrmarkt - ähnlich dem Münchener Oktoberfest -, der heißt „der Plärrer". Ich weiß nicht, warum mir das im Moment einfällt, aber gelegentlich denke ich daran.
Die Zeitvorstellungen, die ich Ihnen eben erläutert habe, meine verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigen im übrigen auch, daß alle Besorgnisse grundlos sind, die Bundesregierung könne die Ratifizierung der Zusatzprotokolle nicht mit dem Nachdruck betreiben, der wegen der großen Bedeutung dieses Vertragswerks für die Bestätigung und die Weiterentwicklung des humanitären Kriegsvölkerrechts angebracht ist. Insoweit geht der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, wenn er den Eindruck erweckt, als falle der Bundesregierung eine bewußte Verzögerung zur Last, an der Sache vorbei. Diejenigen Mitglieder der SPD-Fraktion, die bis zum Herbst 1982 Regierungsverantwortung getragen haben - ich denke, Herr Kollege Matthöfer, für Sie wird dies sicherlich auch gelten -, werden sich noch gut daran erinnern, welche schwierigen Fragen, insbesondere durch das erste Zusatzprotokoll aufgeworfen worden sind. Das war der Grund, weshalb die Vorgängerregierung seinerzeit nicht schneller als in der gegebenen Zeit zu einem Ergebnis gekommen ist.
Ungeachtet dessen hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, das Zustimmungsverfahren bald einzuleiten. Sie tut dies nicht, weil sie etwa mit einem Krieg in Mitteleuropa rechnet. Die Bundesregierung vertraut darauf, daß die Strategie der Sicherung des Friedens und unserer Freiheit in Europa,
({3})
die diesem Kontinent seit nunmehr fast vier Jahrzehnten einen Konflikt erspart hat, ihre friedenserhaltende Kraft auch weiterhin behalten wird. Angesichts der beklagenswerten Realität zahlreicher konventioneller Konflikte in unserer heutigen Welt sieht es die Bundesregierung aber als ihre Aufgabe an, das Bewußtsein von der Bedeutung des humanitären Kriegsvölkerrechts zu stärken. Sie weiß sich hierbei insbesondere mit dem Deutschen Roten Kreuz einig.
Herr Staatsminister, ich muß Sie fragen: Lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Scheer zu?
Gleich; wenn ich das für richtig halte, werde ich das signalisieren.
({0})
- Dieses Recht habe ich ja.
({1})
Ich wollte nun zu drei Argumenten und Fragen kommen, die aus den Reihen der Opposition gestellt worden sind. Ich bin auch gern bereit, dabei dann auf Zusatzfragen einzugehen. Mir lag daran, diesen Sachzusammenhang aus meiner Sicht darzustellen.
Der Abgeordnete Schily hat gefragt, weshalb denn die Nuklearwaffen in diesem Vertragswerk diese Sonderrolle spielten, nämlich ausgenommen zu sein.
({2})
- Nein, nein, sie werden in einem bestimmten Umfang anders behandelt als die konventionellen Waffen. - Eine vollständige Einbeziehung im gleichen Sinne wie die konventionellen Waffen war bei nüchterner Betrachtung des Willens der Nuklearmächte nicht zu erreichen. Hätten wir darauf bestanden, wäre es das Ergebnis gewesen, daß dieses Protokoll weder von der östlichen noch von der westlichen Seite, was die Nuklearmächte angeht, im gegebenen Zeitrahmen hätte erreicht werden können. Dies
trifft beide Seiten, alle Nuklearmächte, wie nachzulesen ist.
Sie, Herr Schily, haben des weiteren, was legitim ist, die Debatte über dieses Zusatzprotokoll mit Ihrer auch an anderer Stelle, zuletzt bei der Debatte über den Doppelbeschluß, vorgetragenen Grundsatzkritik an der Rolle der Nuklearwaffen in der Verteidigungsstrategie überhaupt angereichert. Auch in einigen Bemerkungen des Kollegen Professor Soell klang diese Kritik an. Abgesehen davon, Herr Kollege Soell, daß wir jedenfalls bislang gemeinsam eine Strategie vertreten haben, die absichtsvoll Nuklearwaffen zur Abschreckung vom Krieg einbezogen hat, möchte ich darauf hinweisen, daß in der Tat der Grundsatzdissens in dieser Frage nach meinem Eindruck nicht überwindbar ist.
Die Fraktion der GRÜNEN und möglicherweise auch einige Sozialdemokraten vertreten grundsätzlich die Position, Nuklearwaffen hätten auf Grund ihrer verheerenden Vernichtungswirkung keinerlei Legitimation.
({3})
Es gebe keinerlei sicherheitspolitisches Konzept, in dem Nuklearwaffen, welche auch immer, eine Legitimation haben könnten.
({4})
Es ist mir nur wichtig, diese Grundsatzposition auf der einen Seite zu sehen und dem jene Grundsatzposition gegenüberzustellen, die bislang alle Fraktionen dieses Hauses und alle Bundesregierungen vertreten haben, nämlich daß die Wahrscheinlichkeit, jede Art von Krieg verhindern zu können, in der gegebenen weltpolitischen Lage, beim gegebenen Gegenüber der beiden großen Blöcke nach unserer Überzeugung durch die Androhung der Vernichtungswirkung von Nuklearwaffen größer ist als bei dem vollständigen einseitigen oder beiderseitigen Verzicht auf Nuklearwaffen unter gleichzeitigem Fortbestand der konventionellen Potentiale.
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Unsere Befürchtung ist - darüber haben wir hier öfter gesprochen, und das ist der Grundsatzdisput, der immer wieder neu ausgetragen wird -, daß der Verzicht auf Nuklearwaffen bei Fortbestand konventioneller Potentiale in der Größenordnung, wie wir sie heute haben - niemand wird sagen können, daß diese Potentiale in allernächster Zeit in Ost und West dramatisch reduziert werden -, in den Köpfen der Planer, seien sie Militärs oder Politiker, zu dem Schlimmsten führen könnte, was uns passieren kann, nämlich daß der Krieg wieder als mit begrenztem Risiko führbar erscheint.
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Von einer solchen Situation haben wir mehr Sorge als vor der Situation der Anwendung von Nuklearwaffen für den Fall, daß die Abschreckung versagt. Aus diesem Dilemma kommen wir nicht heraus.
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- Herr Schily, wir kommen aus dem Dilemma nicht heraus, das auch darin besteht, daß wir weltweit unablässig, auch gegenwärtig, zwischen Staaten, die nicht auf Atomwaffen zurückgreifen können, die nur konventionell bewaffnet sind, verheerende Kriege erleben, während wir hier, wo West und Ost über diese Waffen verfügen, wohl auch - bestimmt nicht nur - deshalb den Zustand des Nicht-Krieges, des negativen Friedens, haben. Mir fehlt bei Ihnen die halbwegs gesicherte Beschreibung eines sicherheitspolitischen Konzepts, das Ihre Kritik an der Rolle der Nuklearwaffen mit der Darstellung von Möglichkeiten verbindet, mindestens diesen negativen Frieden beizubehalten und nicht Gefahr zu laufen, in Kriegführungsstrategien, riskante Gedankengänge abzugleiten, wie sie an anderen Stellen dieser Welt Gang und Gäbe sind.
({8})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voigt?
Bitte.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es neben der einen von Ihnen beschriebenen Position des in bestimmten Fällen auch einseitigen Ausstiegs aus der nuklearen Abschreckung, des unkonditionierten Nein zur nuklearen Abschreckung und der anderen von Ihnen beschriebenen Position des unkonditionierten Ja zur nuklearen Abschreckung auch die dritte Position gibt, nämlich daß man versuchen muß, das Prinzip der nuklearen Abschrekkung einerseits durch Veränderung der Militärstrategien, aber andererseits primär durch Veränderung des politischen Konflikts zwischen Ost und West schrittweise zu Überwinden, wobei man von der bestehenden nuklearen Abschreckung als Realität ausgeht, aber eine Perspektive einer graduellen und gradualistischen Überwindung derselben durch eine Kombination von militärischen und politischen Strategien hat? Dies ist die politische Perspektive der Sozialdemokratie.
Wenn das die politische Perspektive der Sozialdemokraten ist, dann habe ich das Gefühl, daß das die politische Perspektive des ganzen Hauses mit Ausnahme der GRÜNEN ist.
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Genau das ist die Leitlinie, die auch die Bundesregierung vertritt: auf einen Zustand hinzuarbeiten, in dem es zwischen West und Ost zu einem immer dichteren Geflecht von Beziehungen, Vereinbarungen, Abreden und Verbindungen kommt - das ist der Grundgedanke der KSZE, Sicherheit durch Zusammenarbeit zu verwirklichen -, das es ermöglicht, die Rolle der Waffen allgemein und speziell die der Nuklearwaffen immer mehr zu reduzieren. Das ist selbstverständlich. Nur die Frage, die hier aufgeworfen ist, ist doch eine grundsätzlich andere. Die Fundamentalposition, die hier vorgetragen
wird, lautet: Auch bei den heute gegebenen Kräfteverhältnissen sind Nuklearwaffen nicht akzeptabel. - Das ist der Unterschied, der deutlich herausgearbeitet werden muß, in dem wir kontrovers gegenüberstehen.
({1})
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Ja sicher, bitte.
Herr Möllemann, ich hätte von Ihnen gerne gewußt - wenn das alles so klar ist, wie Sie meinen -, welche konkreten Schwierigkeiten nun nach der Unterzeichnung des Abkommens bestanden haben, die der Einleitung des Ratifizierungsverfahrens entgegengestanden haben?
Ich sagte bereits, daß es einen sehr engen Konsultationsprozeß mit unseren Verbündeten gegeben hat, und es liegt in der Natur der Sache, daß Konsultationen dieser Art von keiner Regierung im Detail auf dem offenen Markt ausgetragen werden. Das wird auch weiterhin so bleiben. Ich habe vorhin in meiner Rede gesagt, daß wir bestimmte Abläufe in der Denkschrift darstellen werden, die dann auch der Öffentlichkeit zugänglich ist, aber bestimmte Details der Konsultationsprozesse natürlich nur im Ausschuß berichten werden. Das ist eine Usance, die im internationalen Bereich allgemein üblich ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Bitte.
Meinen Sie nicht, Herr Staatsminister Möllemann, daß gerade in einem solch empfindlichen Bereich, wo es um die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung geht, die Menschen Anspruch auf Aufklärung haben, was denn nun der Ratifizierung eines so wichtigen völkerrechtlichen Abkommens entgegensteht?
Ich glaube, daß die Menschen vor allen Dingen ein Interesse daran haben, daß diese Ratifizierung möglichst bald erfolgt. An diesem Ziel und auch an dem Ziel, daß die Ratifizierung möglichst nicht nur bei uns erfolgen möge, orientiere ich mich in meiner Verhaltensweise. Ich halte es da für zweckmäßig, so zu verfahren, wie ich es vorgetragen habe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Scheer?
Sicher.
Herr Staatsminister, könnten Sie bestätigen, daß der einzige tatsächliche Grund für die Konsultationen und deren Langwierigkeit darin besteht, daß die beteiligten Länder genau wissen, daß dieses Zusatzprotokoll mit den Nuklearwaffen kaum oder wahrscheinlich nicht vereinbar ist oder daß es in dieser Richtung zumindest große Probleme gibt, und daß versucht wird, diese Unvereinbarkeit möglicherweise mit einer Nuklearerklärung auszuschalten, und daß hier die Probleme liegen?
Nein, ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß das das einzige Argument gewesen wäre. Erstens haben das meine Bemerkungen bereits deutlich gemacht, und zweitens werden das die Beratungen im Ausschuß noch weiter verdeutlichen.
Ich möchte abschließend noch zu zwei weiteren Argumenten, die eben vorgetragen worden sind, Stellung nehmen. Von Ihnen, Herr Schily, ist gesagt worden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu westlichen Nuklearmächten dadurch negativ auszeichne, daß ihr Territorium zum besonderen Einsatzgebiet von Nuklearwaffen werden könne. Ich glaube, daß dies ein Trugschluß ist. Ich denke, daß über die Frage, auf wessen Territorium in einem Konflikt Nuklearwaffen eingesetzt werden, der Konfliktgegner entscheidet, und ich habe nach aufmerksamer Lektüre der Nuklearstrategie der Sowjetunion nicht den geringsten Zweifel, daß diese ihre Zielplanung ganz sicherlich nicht auf ein Land alleine gerichtet hat, sondern in besonderer Weise auf solche Staaten, in deren Hand die Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen liegt. Das ist auch logisch, denke ich.
Das letzte, was ich sagen wollte, betrifft - neben Herrn Kollegen Soell und eigentlich auch, was die Zwischenfragen angeht, Herrn Kollegen Scheer - die Sozialdemokraten allgemein. Ich empfinde es als einer derjenigen, die längere Zeit im Verteidigungsausschuß mit mehreren von Ihnen zusammengearbeitet haben, einigermaßen bedrückend, in welcher beachtlichen Weise Sie - vom Tempo wie auch von der Substanz in der Sache her - fundamentale Positionen unserer Sicherheitspolitik, die Sie gemeinsam mit uns formuliert haben, heute über Bord werfen.
({0})
Ich glaube, daß Sie sich wirklich entscheiden müssen, ob Sie Ihrem räumlichen Nachbarn um jeden Preis in jeder Position folgen müssen oder ob Sie Ihre sicherheitspolitische Seriosität wiedererlangen wollen. Mein Eindruck ist, daß die Art und Weise, wie beispielsweise der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion in einer der zentralen Fragen der Sicherheitspolitik wenige Tage vor der letzten Bundestagswahl Grundsatzpositionen aufgegeben bzw. um sie herumgewackelt hat, einer der Gründe dafür gewesen ist, daß die Wahl am 6. März so ausgegangen ist, wie sie ausgegangen ist.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und 6 b an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Interfraktionell ist darüber hinaus die Überweisung beider Vorlagen an den Rechtsausschuß und den Verteidigungsausschuß zur Mitberatung vereinbart worden. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Kübler, Bachmaier, Dr. Emmerlich, Fischer ({0}), Klein ({1}), Lambinus, Schmidt ({2}), Schröder ({3}), Dr. Schwenk ({4}), Stiegler, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften
- Drucksache 10/584 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({5})
Ausschuß für Wirtschaft
Ich erteile dem Abgeordneten Porzner das Wort zu einem Geschäftsordnungsantrag nach § 29 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß zu diesem Tagesordnungspunkt eine Aussprache stattfindet. Ich bitte Sie, es mir zu ersparen, zu erklären, warum ich den Antrag stelle, diesen Gesetzentwurf ohne Aussprache an den Ausschuß zu überweisen, und ich bitte Sie ferner darum, sich bei der Abstimmung so zu verhalten, daß der Präsident beim Auszählen keine Probleme bekommt.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Antrag vernommen, Punkt 7 der Tagesordnung ohne Aussprache abzuhandeln. Ich stelle den Antrag zur Abstimmung. Wer für den Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Ausschußüberweisungen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/584 an den Rechtsausschuß zur federführenden Beratung und an den Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des Urheberrechts
- Drucksache 10/837 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({0})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ich erteile auch hier dem Abgeordneten Porzner das Wort zu einem Geschäftsordnungsantrag nach § 29 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Ich bitte aus den gleichen Gründen, die ich zum vorhergehenden Tagesordnungspunkt erwähnt habe, auch in diesem Fall von der Vereinbarung, die der Ältestenrat getroffen hat, abzusehen und auch diesen Tagesordnungspunkt ohne Aussprache zu behandeln und den Gesetzentwurf dem Ausschuß zu überweisen.
Meine Damen und Herren, ich lasse über den Geschäftsordnungsantrag abstimmen. Wer dem Geschäftsordnungsantrag seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Überweisungsvorschlägen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/837 zu überweisen, zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Neuregelung der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
- Drucksache 10/476 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({0}) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß
Das Wort wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/476 zu überweisen, zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Haushaltsausschuß. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 20 des Petitionsausschusses ({1}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 10/898 - Das Wort wird nicht begehrt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die in der Sammelübersicht 20 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstim3610
Vizepräsident Wurbs
men? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 bis 13 auf:
11. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({2})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 10/895 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Lammert
12. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({3})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 10/896 Berichterstatter: Abgeordneter Broll
13. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({4})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 10/897 Berichterstatter: Abgeordneter Buschbom
Gleichzeitig rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({5})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 10/924 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kübler
Das Wort wird nicht begehrt.
Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf den Drucksachen 10/895, 10/896, 10/897 und 10/924 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen des Ausschusses sind angenommen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Ubersicht 4 des Rechtsausschusses ({6}) über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 10/888 Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Stark ({7})
Wird das Wort begehrt? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/888, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt zu den in der vorgenannten Drucksache aufgeführten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht abzusehen. Sind Sie damit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Januar 1984, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.