Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/20/1984

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren! Der Bundesminister des Auswärtigen beabsichtigt, heute einen Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa in Stockholm vom 17. bis 19. Januar 1984 zu geben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll der Zusatzpunkt um 11.30 Uhr aufgerufen werden. Im Anschluß an den Bericht findet eine Aussprache von einer Stunde statt. Ich rufe den Zusatzpunkt Aktuelle Stunde auf. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema verlangt: Affäre Kießling Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß die Geschäftsordnung, an die wir alle streng gebunden sind - auch der Präsident -, eine Redezeit von fünf Minuten und keine Verlängerung vorsieht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bastian.

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde gilt einem Minister, der starrsinnig behauptet, keine andere Wahl gehabt zu haben, als einen General der Bundeswehr, der ein Berufsleben lang loyal und zuverlässig gewesen ist, auf Grund angeblich erdrückender Beweise zum Sicherheitsrisiko zu stempeln und deshalb drei Monate vor der geplanten Pensionierung aus dem Dienst zu jagen, was voraussehbar einer Freigabe zum Abschuß gleichkommen mußte. Betrachtet man jedoch die angeblich erdrückenden Beweise, so zeigt sich, daß der Minister seine für den Betroffenen und für die Bundeswehr gleichermaßen schwerwiegende Entscheidung letztlich auf eine nur Klatsch enthaltende Notiz eines bisher ungenannt gebliebenen Beamten, auf den später vom Verfasser dementierten Brief eines Admiralarztes mit mehr lächerlichem denn dramatischem Inhalt und auf die mittelbaren Erkenntnisse eines MAD-Stabsfeldwebels gestützt hat. So ist es nicht erstaunlich, daß der Minister bisher und selbst in der vorgestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses die versprochenen und stärker überzeugenden konkreten Beweise für die Richtigkeit seiner Entscheidung im Falle des so entwürdigend mißhandelten Generals schuldig geblieben ist. Denn ungeklärt ist weiterhin die entscheidende Frage, worin denn das angeblich von General Kießling gebildete Sicherheitsrisiko hätte bestehen können, nachdem der General zur Zeit der Ministerentscheidung vom Dezember 1983 keinen Dienst mehr geleistet hat. Ebenso ungeklärt blieb bisher auch die Frage, wieweit das bekanntgewordene Zerwürfnis zwischen dem General und seinem amerikanischen Vorgesetzten die Entscheidung des Ministers stärker als zugegeben beeinflußt hat. Ungeklärt ist ebenfalls, was den Minister veranlaßt haben mag, noch gestern vor dem Verteidigungsausschuß ({0}) - vorgestern, danke schön - zu erklären, gegen den General den Vorwurf der Homosexualität niemals erhoben zu haben, während am Abend desselben Tages der Angeschuldigte im Fernsehen sagte, beim Gespräch mit dem Minister im September 1983 von ihm eben mit diesem Vorwurf, sich in der Homoszene zu bewegen, konfrontiert worden zu sein. ({1}) Was hat Sie, Herr Dr. Wörner, veranlaßt, hier so offensichtlich die Unwahrheit zu sagen? ({2}) Was hat Sie bewogen, den General aus dem Gespräch im September 1983 mit dem Eindruck zu entlassen, seiner ehrenwörtlichen Versicherung, dieser Vorwurf sei falsch, würden Sie Glauben schenken, obwohl der Gang der Dinge belegt, daß Ihre Zweifel gar nicht beseitigt waren? Und weshalb haben Sie die Möglichkeiten Ihres Amtes und einer qualifizierten Amtshilfe nicht einmal auch dazu eingesetzt, die Richtigkeit der Erklärung des Generals zu beweisen, anstatt immer nur in Richtung auf eine von Ihnen offenbar eher gewünschte Bestätigung Ihrer Anschuldigungen nachforschen zu lassen? ({3}) Viel und Eindrucksvolles haben diese Nachforschungen nicht zutage gebracht, wenn man von dubiosen Zeugen aus eben jener Szene absieht, die Sie bisher als sicherheitsverdächtig bewertet haben, nun aber plötzlich als Nährboden glaubwürdiger Bekundigungen akzeptieren wollen. Darum fordern wir Sie auf: Beenden Sie endlich das unwürdige und menschenverachtende Beharren auf Ihren nicht haltbaren Vorwürfen gegen einen Mitmenschen, dem Sie und Ihre Helfer bereits schwer erträglichen Schaden zugefügt haben! Geben Sie doch endlich zu, mit Ihrer voreiligen Entscheidung gegen den General falsch und mit Ihrem penetranten Versuch der nachträglichen Rechtfertigung nicht fürsorglich, sondern selbstgerecht gehandelt zu haben! ({4}) Bekennen Sie sich doch zu Ihrer Verantwortung für den angerichteten Schaden, und überlassen Sie das Kitten der Scherben einem urteilsfähigeren und an diesem Skandal unbeteiligten Nachfolger in Ihrem Amt als Verteidigungsminister! ({5}) Sie, Herr Dr. Wörner, sind in diesem Amt untragbar geworden. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Francke ({0}). Francke ({1}) CDU/CSU: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten in der Sitzung des Verteidigungsausschusses vorgestern angeboten, alle Dinge auf den Tisch zu legen. Es ist die Schuld der sozialdemokratischen Fraktion, daß dies nicht möglich war. ({2}) Der Ausgangspunkt des Vorganges ist, daß der Minister am 8. Dezember 1983 nach § 50 des Soldatengesetzes beantragte, General Kießling in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen, weil das notwendige Vertrauen in den General in bezug auf seine Amtsführung nicht mehr gegeben war. Sie, meine Herren von der Sozialdemokratie, haben auf der gleichen Basis zwischen 1969 und 1971 89 Zurruhesetzungen vorgenommen. Die Dringlichkeit des Handelns war am 8. Dezember ausschließlich von Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik bestimmt. Gab es am 8. Dezember und gibt es heute für den Minister und uns Gründe und Beweise, sich so zu verhalten, wie es geschehen ist? Diese Frage ist aus unserer Sicht uneingeschränkt und eindeutig mit Ja zu beantworten. ({3}) Ich will hier zwei Gründe für verlorenes Vertrauen anführen. Von 365 Tagen im Jahr war der General an etwa 200 Tagen nicht an seinem Dienstort - und dies in der Mehrzahl der Fälle ohne zwingenden dienstlichen Grund und dies auch noch in einer Zeit, in der sich das Bündnis in einer schwierigen Phase befand. ({4}) Mehrfach hat der General entgegen den ihm bekannten Richtlinien Sonderausweise mit Decknamen für Privatreisen beantragt. ({5}) Geforderte Erklärungen waren mehr als dürftig. Sie waren auf gar keinen Fall vertrauenserhaltend oder -bildend. Was wollte der General mit dem BND-Ausweis, den seine Vorgänger nie beantragt hatten? ({6}) Es muß auch Zweifel wecken, wieso der General eigentlich nach der Ablehnung persönlich noch einmal das gleiche versucht hat. ({7})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Einen Augenblick! Meine Damen und Herren, es erleichtert die Aussprache auch am frühen Morgen, wenn man den Redner in Ruhe anhört. ({0})

Klaus Francke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Dringlichkeit des Handelns war von Sicherheitsinteressen bestimmt. Wo solche berührt sind, erfordert es sofortiges Handeln, um seine Pflicht zu erfüllen. ({0}) Nach den Debatten und Erklärungen im Ausschuß steht fest: Der Generalinspekteur, der stellvertretende Inspekteur, Staatssekretär Hiehle und der Amtschef ASBW haben übereinstimmend die Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik festgestellt und den Minister aufgefordert, sofort zu handeln. Eine öffentliche Erörterung der Sicherheitsbedenken verbietet das Staatswohl. Die Prüfung durch den Minister ist mehrfach und sorgfältig erfolgt. ({1}) Nach Vorlage und dem Vortrag der militärischen und zivilen Spitze des Hauses mußte der Minister so und nicht anders entscheiden, ({2}) es sei denn, er wollte sich selbst dem Verdacht mangelnder Sorgfalt und dem Verdacht der Pflichtverletzung aussetzen. Das Fazit: Die Handlungsweise des Ministers war rechtsstaatlich. Das Handeln war nicht leichtfertig, sondern erfolgte mit der gebotenen Sorgfalt. Wir bedauern die öffentliche Kampagne, die sich verstärkt gegen den Betroffenen, aber auch, meine Francke ({3}) Herren von der Sozialdemokratie, gegen die Bundeswehr richtet. ({4}) Der Minister hat dies nicht gewollt und diese Kampagne zu keinem Zeitpunkt zu vertreten. Das genaue Gegenteil war seine Absicht. Ich bedauere aber auch, daß sich die SPD zum verlängerten Arm dieser Kampagne, ({5}) die sich politisch gegen die Bundeswehr richtet, gemacht hat, statt die ihr gegebenen und angebotenen Informationen objektiv zu würdigen. ({6}) Der Minister hat das uneingeschränkte persönliche und dienstliche Vertrauen der CDU/CSU-Fraktion. ({7})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.

Dr. Hans Apel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin lange genug Verteidigungsminister gewesen, um nicht zu wissen, daß Politiker auch Fehler machen. Aber dann müssen sie wiedergutgemacht werden. Der amtierende Verteidigungsminister ist dazu nicht bereit. Im Gegenteil. Um sein eigenes Versagen zu verdunkeln, läßt er einen verdienten General auch heute noch in der Flut diffamierender Mutmaßungen und widerlicher Anwürfe. ({0}) Herr Dr. Wörner ist der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr. Er ist Vorgesetzter und damit auch Vorbild für seine Soldaten. Kameradschaft, Anstand und Fürsorge für Untergebene sind Tugenden, ohne die keine Armee bestehen kann. Der Friede ist unser Ernstfall; im Frieden müssen sich diese Tugenden bewahren. Wie will der Verteidigungsminister Kameradschaft und Anstand fordern, wenn er sie einem verdienten General verweigert? Wo bleibt seine ganz persönliche Fürsorgepflicht, wenn er es zuläßt, daß ein unbescholtener Mann systematisch durch den Dreck gezogen wird? ({1}) Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Wenn wir General Kießling beistehen, ihm die Möglichkeit seiner Rehabilitierung geben wollen, dann vor allem auch deshalb, weil es um alle Soldaten der Bundeswehr geht. ({2}) Wenn dem Bundesministerium der Verteidigung dieser Coup gelingt, zerbricht das Ideal des Staatsbürgers in Uniform. ({3}) Dann kann die Maschinerie, meine Damen und Herren, jeden Soldaten, jeden Bürger zerbrechen, der mißfällt. ({4}) Unsere Bundeswehr muß sich täglich aufs neue um das Ansehen in unserer Bevölkerung bemühen. Niemand hat dem Ansehen unserer Bundeswehr so viel Schaden zugefügt wie der Verteidigungsminister in den letzten zwei Wochen. ({5}) Fassungslos stehen die Soldaten diesem Skandal gegenüber und fragen sich, ob das die geistige und moralische Führung ist, die ihnen versprochen worden ist. ({6}) Unsere Bundeswehr ist eine Armee im Bündnis. Unser ranghöchster General in der NATO wird wie ein Hund aus dem Amt gejagt. ({7}) Der Bundesminister sagt uns, diese Affäre habe mit Brüssel nichts zu tun. Gut so. Aber wie steht unsere Bundeswehr heute im Bündnis da, wenn der Verteidigungsminister dem Ehrenwort eines Generals weniger glaubt als schlüpfrigen Anwürfen aus der Szene? ({8}) Unser Ansehen in der NATO wird zerstört - und das, meine Damen und Herren, ausgerechnet mit der Billigung des Ministers, der unsere deutsche Position im Bündnis wirkungsvoll vertreten soll. ({9}) Es geht längst nicht mehr allein um die Ehre des Generals Dr. Kießling. ({10}) Heute geht es darum, ob Leben und Ansehen eines Mannes, Ansehen und Ehre unserer Bundeswehr, die Selbstachtung der Soldaten zerstört werden dürfen, nur um das politische Überleben möglich zu machen. ({11}) Deshalb werden wir nicht ruhen, bis alles aufgeklärt ist. Auf Unwahrhaftigkeit, Täuschung und Inkompetenz läßt sich kein Ministeramt begründen. Wir haben den Bundesminister immer wieder aufgefordert, alle Unterlagen auf den Tisch zu legen, damit der Skandal rückhaltlos aufgeklärt werden kann. Herr Dr. Wörner ist dazu nicht bereit. Deshalb ist die SPD-Bundestagsfraktion gezwungen, den Verteidigungsausschuß gemäß Art. 45 a GG als Untersuchungsausschuß einzusetzen. Nur so kommen unser Land und seine Bundeswehr aus dieser tiefen Vertrauenskrise heraus. ({12})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit drei Vorbemerkungen. Erstens. Die FDP-Fraktion dieses Hauses beobachtet mit tiefer Betroffenheit die verhängnisvolle Entwicklung der öffentlichen Diskussion, die tief in die persönliche Sphäre des Betroffenen dringt und offenbar in vielerlei öffentlichen Äußerungen keine Rücksicht mehr darauf nimmt, daß es hier um das Schicksal eines Menschen geht. ({0}) - Ich komme auf Ihre Fraktion noch zurück, meine Damen und Herren von der SPD! Zweite Vorbemerkung. Wir bedauern außerordentlich, daß die Bemühungen des Bundesministers der Verteidigung, gerade dies zu verhindern, gescheitert sind. ({1}) Im Interesse des Betroffenen, aber auch im Interesse der Sache hätten gerade diese Bemühungen jede Unterstützung und jeden Erfolg verdient. ({2}) Dritte Bemerkung. Uns erschreckt, daß sich die Opposition in diesem Hause an dem Versuch beteiligt, unter Vorgabe des Zieles, aufzuklären und dem Opfer einer Kampagne Schutz und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den betroffenen Menschen zur Durchsetzung politischer Ziele zu benutzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Dr. Ehmke ({3}) ({4}): Sie wissen nicht, worüber Sie reden! In acht Wochen sprechen wir uns wieder!) Dies ist, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, auch durch Indiskretionen von Ihrer Seite her erfolgt. ({5}) So wenig wir uns in der Vergangenheit an der Debatte in ihrer bisherigen Form beteiligt haben, so wenig werden wir das auch in Zukunft tun. ({6}) Ich werde mich deswegen auch in meinen Äußerungen heute morgen streng an Rechtslage und Sachlichkeit halten. ({7}) Dazu folgende Bemerkungen: An den Stellvertretenden Alliierten Befehlshaber Europa bei SHAPE sind höchste Sicherheitsanforderungen gestellt - Herr Kollege Apel, höhere als an andere. Insofern sind Ihre verallgemeinernden Bemerkungen, die Sie soeben gemacht haben, völlig unberechtigt. ({8}) Bei Bekanntwerden von Umständen, die ein Sicherheitsrisiko begründen könnten, verbietet es sich - ich nehme Bezug auf die Sicherheitsrichtlinien der Bundesregierung - im Interesse der staatlichen Sicherheit oder im eigenen Interesse der betroffenen Personen, sie weiterhin mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit zu betrauen. Ich mache die Opposition, die SPD-Fraktion, ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es sich hier um Sicherheitsrisiken gemäß den Sicherheitsrichtlinien des Bundesministers des Innern handelt, wie sie im Beschluß der Bundesregierung von 1971, also unter Ihrer Beteiligung, festgelegt worden sind. ({9}) Das muß gesehen werden. Ich füge hier genauso mit allem Ernst hinzu, daß sich bei einer Überprüfung dieser Sicherheitsrichtlinien eine Notwendigkeit der Überprüfung und Anpassung an eine mittlerweile geänderte Rechtslage in bezug auf § 175 StGB ergeben kann. Aber ich füge ferner hinzu: Diese Richtlinien sind geltendes Recht, und bei allen Überlegungen ist davon auszugehen, daß der Bundesminister der Verteidigung nach ihnen zu handeln hatte. ({10}) Sicherheitsrisiken können danach in der Person des Betroffenen liegen. Dem Bundesminister der Verteidigung wurde Material über Umstände vorgelegt, die ein Sicherheitsrisiko begründen könnten, das unter anderem eben in der Person des Betroffenen liegt. ({11}) Daß an dieser Stelle Fragen nach der Tätigkeit der Dienste und nach der geleisteten Amtshilfe angebracht sind, sei hier genauso deutlich gesagt. Aber dies ist Aufgabe der Parlamentarischen Kontrollkommission. Aus diesem Material hat der Bundesminister der Verteidigung Folgerungen gezogen, die im Rahmen des gegebenen Rechts und seiner Verantwortung nicht zu beanstanden sind. Ich sehe keine Veranlassung, heute etwas anderes zu sagen, als daß äußerste Zurückhaltung im Interesse des Betroffenen, im Interesse der Sache und im Interesse des Ansehens der Bundeswehr an den Tag zu legen ({12}) und heute darauf zu drängen ist, daß es zu einer sorgfältigen Aufklärung aller Umstände und Vorgänge kommt, ({13}) die in diesem menschlich und politisch so bedrükkenden Fall noch auf der Tagesordnung stehen. Aber die grundsätzliche Erklärung, die wir bisher zu diesem Vorgang abgegeben haben, wiederhole ich auch heute mit allem Ernst, auch mit Rücksicht auf das, was der Betroffene in den vergangenen Wochen durchgemacht hat und was ihn auch in Zukunft belasten wird. ({14})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Apel: Sie sprachen davon, es müßten alle Unterlagen auf den Tisch gelegt werden. Wir hatten angeboten, in der Sitzung des Verteidigungsausschusses die Polizisten zu hören, die die Nachforschungen angestellt haben. Sie haben das abgelehnt. Sie können nicht auf der einen Seite Aufklärung fordern und dann ablehnen, daß die Mittel gegeben werden, die dazu erforderlich sind. ({0}) Von dem Augenblick an, an dem ich am 14. September 1983 zum erstenmal von den Erkenntnissen des Amts für Sicherheit der Bundeswehr erfuhr, bis zum Zeitpunkt meiner Entscheidung am 8. Dezember 1983 haben mich ausschließlich drei Gesichtspunkte geleitet: erstens die Sicherheit unseres Landes, zweitens das Interese der Bundeswehr und drittens der Schutz des Betroffenen. Als mir mein Staatssekretär in Gegenwart des Generalinspekteurs, seines Stellvertreters und des Abteilungsleiters Personal am 8. Dezember 1983 vortrug, daß Ermittlungen der Polizei, die durch den MAD veranlaßt waren, den General in zwei einschlägigen Lokalen eindeutig identifiziert hätten ({1}) und daß damit ein eindeutiges Sicherheitsrisiko bestünde, mußte ich handeln. ({2}) Es ist mehr als einmal Schaden dadurch entstanden, daß man zu lange zugewartet hat. ({3}) Die Sicherheitsbestimmungen der Bundesregierung - das müßten Sie, Herr Apel, als mein Amtsvorgänger wissen - lassen dem verantwortlichen Minister keine andere Wahl, als zu handeln. ({4}) Dabei genügen begründete Zweifel an der Zuverlässigkeit eines so hohen Geheimnisträgers. Um möglichen Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden, darf in solchen Fällen nicht abgewartet werden, ob aus begründeten Zweifeln Gewißheit wird. Das ist eben der Unterschied zu einem Strafverfahren, in dem ein voller Beweis gefordert wird. Die Sicherheit hat in diesem Fall Vorrang. Sie zwingt zu einer so bitteren Entscheidung. Hier wurde fortlaufend - und auch heute wieder - der Versuch gemacht, den falschen Eindruck zu erwecken, als sei ich für diese widerliche öffentliche Auseinandersetzung verantwortlich. ({5}) Gerade sie wollte ich im Interesse des Betroffenen und der Bundeswehr verhindern. ({6}) Wir alle, der Generalinspekteur, sein Stellvertreter und der Staatssekretär, haben zusammengesessen und gefragt: Was muß eigentlich geschehen, um gleichermaßen Schaden von der Bundeswehr wie vom Betroffenen abzuwenden? ({7}) Dies haben wir wohlerwogen. Ich habe General Kießling nicht wegen Homosexualität in den einstweiligen Ruhestand geschickt - und Sie wissen das -, ({8}) sondern weil ich nicht mehr das Vertrauen hatte, daß er sein Amt so führen könne, wie es sein Auftrag erfordert. Eine solche Entscheidung kann nach dem Gesetz bei Generalen jederzeit getroffen werden. Ich habe die Behauptung der Homosexualität nicht geäußert, auch nicht ihm gegenüber. ({9}) An der Debatte in der Öffentlichkeit habe ich mich zu keinem Zeitpunkt beteiligt. Es ist schon makaber, daß diejenigen, die aus Sensationsgier solche Stories verbreiten, anschließend versuchen, mich dafür haftbar zu machen, der ich das peinlich vermieden habe. ({10}) Den Schuh müssen sich andere anziehen. Der General Kießling weiß sehr wohl - wir haben das ja beredet; er war damit einverstanden -, daß wir, alle Beteiligten, uns bemüht haben, diese Dinge nicht in dieser Weise an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Daraus können Sie mir keinen Vorwurf machen! ({11}) Dann haben wir versucht, dem General die Chance zu geben, unter fairen Bedingungen - in Gegenwart seiner Anwälte ({12}) und unter der Leitung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages - eine Gegenüberstellung schon am letzten Wochenende durchführen zu lassen. Meine Damen un Herren, dann wäre jetzt Klarheit geschaffen! ({13}) Damals, im Dezember, als ich meine Entscheidung traf, konnte ich davon ausgehen, daß dem Betroffenen kein weiterer Nachteil entstehen würde ({14}) als die Vorverlegung seines ohnehin mit seinem Einverständnis beabsichtigten Ruhestands um ganze drei Monate. ({15}) Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich habe meine Entscheidung bis zum heutigen Tag in vollem Einvernehmen mit der Führungsspitze der Bundeswehr getroffen. ({16}) - Ich verstecke mich nicht hinter meinen Generalen; ({17}) ich möchte nur dem Eindruck entgegentreten, als hätte ich gegen seine Kameraden entschieden. ({18}) Seine Kameraden haben mich beraten, und sie stehen hinter mir. So ist die Lage. ({19}) Ich habe gehandelt, wie es - Herr Apel müßte das wissen - meine Pflicht war. Daher habe ich ein gutes Gewissen. ({20}) Ich habe versucht, unserem Staat, unserer Armee und unseren Verbündeten das Schauspiel zu ersparen, ({21}) das nun seit dem 4. Januar, nach den ersten Presseveröffentlichungen, ohne mein Zutun über uns hereingebrochen ist. Ich bin der festen Überzeugung: Kein Verteidigungsminister, der seine Pflichten und die Sicherheit ernst nimmt, hätte anders handeln können, als ich gehandelt habe. ({22})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Horn.

Erwin Horn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000958, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor wenigen Wochen prahlte der Verteidigungsminister, einer seiner größten Erfolge bestehe darin, daß es gelungen sei, die Bundeswehr aus den Schlagzeilen zu nehmen. ({0}) Stolz verkündete er: Das Verteidigungsministerium ist führbar. ({1}) Wohin hat nun dieser Minister unsere Bundeswehr geführt? In ihre schwerste Krise, in eine Krise des Vertrauens. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn Sie einmal in die Truppe gehen, können Sie feststellen: Die Bundeswehr steht Kopf über diesen Vorfall. ({3}) Unsere Soldaten, und zwar alle Soldaten, müssen aus diesem Zwielicht heraus. ({4}) Das Vertrauen zwischen politischer Leitung und unseren Streitkräften, das Vertrauen all derjenigen, die sich - vom General bis zum Gefreiten, aber auch die Beamten und die Angestellten - einer Sicherheitsprüfung unterziehen müssen, muß wiederhergestellt werden. Wir sind betroffen und bedrückt über die Behauptungen, die der Minister auch im Verteidigungsausschuß nicht belegt hat. ({5}) Da sind offenkundige Tatsachen, die verschwiegen werden. Da ist die verantwortungslose, ja, menschenverachtende Art, in der hier vorgegangen wurde. ({6}) Auf einen vertraulichen Hinweis hin geht ein unkontrollierter Apparat auf einen Menschen los, ({7}) veranstaltet ein Schmutzbad ohnegleichen, ({8}) und der Verteidigungsminister läßt es zu, daß der höchste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland in der NATO durch Indiskretionen gerade der Leute, die ihn schützen sollen, als Mensch fertiggemacht und der öffentlichen Hinrichtung preisgegeben wird. ({9}) Ist es denn ministrabel, wenn Herr Wörner im September schwerwiegende Entscheidungen trifft, aber erst im Dezember von deren Ausgangspunkt erfährt? Glaubt er denn, er kann einen fraglos verdienten Mann einfach davonjagen, ({10}) ohne daß der sich rechtfertigen kann, ({11}) ohne einen Beweis, ja, ohne auch nur ein Datum für das hochstilisierte Sicherheitsrisiko nennen zu können? ({12}) Auf Antrag und mit Zustimmung der Sozialdemokraten in der PKK - das weiß doch Dr. Wörner - wurden die Beamten in der PKK gehört. Die Sozialdemokraten im Verteidigungsausschuß wollen und wollten alle hören, aber nicht nur die Beweiszeugen des Ministers. ({13}) Herr Wörner darf nicht glauben, er könne sich jetzt hinter den Soldaten verstecken, weder hinter dem Generalinspekteur noch hinter dessen Stellvertreter noch hinter der Generalität insgesamt. Auch die Ausrede des Urlaubs gilt nicht. Zumindest darf er nachträglich keine Verfahrensweisen dekken, die den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. Ich frage: Wer hat Verantwortung getragen? Wer hat entschieden, daß der Militärische Abschirmdienst einen Vier-Sterne-General observiert? Welche MAD-Gruppe war denn zuständig? Welche wurde tätig? Welche Beweismittel können auf den Tisch gelegt werden, mit Namen, Ort und Zeit? Wo sind die Beweismittel, deren Bestechlichkeit nicht in den Gazetten steht oder mir von Betroffenen selbst zugetragen wird? Welche Gesellschaften, welche Seilschaften gibt es denn in diesem Sumpf, welches Komplott, möglicherweise auch gegen den Minister selbst, den er in seiner Eitelkeit nicht bemerkt? ({14}) Es ist unerträglich, daß der Verteidigungsminister angesichts der Dürftigkeit und Unhaltbarkeit der von ihm genannten Gründe für seine Entscheidung im nachhinein versucht, neue Begründungen nachzuschieben, ja, erst feststellen zu lassen. ({15}) Am 11. Januar 1984 habe ich öffentlich erklärt: Die SPD wird keine Wiederholung der Fritsch-Affäre zulassen. ({16}) Heute fordert die SPD für unsere Soldaten im und außer Dienst Gerechtigkeit auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit. Wenn sich der Verteidigungsminister seiner Verantwortung nicht stellt, dann wird er jedenfalls von der Opposition in die Pflicht genommen. ({17})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Hauser ({0}).

Otto Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000835, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Horn, die Krise, von der Sie hier reden, haben doch Sie verursacht. ({0}) Diese Betroffenheit und diese Bedrücktheit, von der Sie hier reden, läßt Sie doch rot im Gesicht werden! ({1}) Herr Apel, daß ausgerechnet Sie von Schaden reden! Wir wollen hier nicht darüber reden, wie es wäre, wenn wir Sie zu beurteilen hätten. ({2}) Was ist denn geschehen? Der Bundesverteidigungsminister hat einen General in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Der Minister entschied nach der Gesetzeslage und im Interesse der Sicherheit unserer Republik. Aber nach welchen Kriterien haben diejenigen entschieden, die jetzt mit Hilfe von Herrn Kießling einen politischen Skandal inszenieren wollen? Ihr Geheule, meine Damen und Herren von der Opposition, hätte ich hören wollen, wenn der Minister nicht oder zu spät entschieden und gehandelt hätte, um einen Schaden für das Ansehen und die Sicherheit unseres Staates zu verhüten. Ich möchte nur an den Spionagefall Guillaume erinnern. Ich weiß, Herr Ehmke, daß Ihnen gerade das nicht gefällt. ({3}) Minister Wörner hatte und hat nicht zu entscheiden, ob Herr Kießling eine bestimmte Veranlagung hatte oder nicht. Ihre geifernden Angriffe gehen deshalb ins Leere. ({4}) Sie von der SPD fordern Beweise. Warum waren Sie denn nicht bereit - das wiederhole ich deutlich -, die angebotenen Informationen am Mittwoch im Verteidigungsausschuß entgegenzunehmen? ({5}) Sagen Sie doch offen, Herr Apel, daß Sie nicht hören wollten, was die Polizeibeamten zu sagen hatten. ({6}) Sagen Sie doch, daß es Ihnen nur darum ging, diese Kampagne am Leben zu erhalten! ({7}) Der Schaden, den Sie dadurch in der Bundeswehr stiften, wird allein auf Sie zurückfallen. ({8}) Sie, meine Damen und Herren von der SPD, reden vom angeblichen Unrecht, das Herrn Kießling widerfahren sei. Reden Sie doch bitte auch einmal davon, daß die Zeugen, die bereit sind, den Aufenthalt von Herrn Kießling in verschiedenen Lokalen der Kölner Szene zu bestätigen, inzwischen an Leib und Leben bedroht werden, um sie an der Aussage zu hindern. ({9}) Erst gestern haben Zeugen erneut bestätigt, daß sie Herrn Kießling auf Grund seines Fernsehauftritts am Mittwoch eindeutig identifiziert haben. Ich möchte noch auf zwei Einzelaspekte eingehen, die Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Herrn Kießling rechtfertigen. Dem Generalinspekteur, Herrn Altenburg, sagte er sinngemäß, er habe einmal in einer für ihn schwierigen Situation alles zugegeben; diesen Fehler werde er nicht noch einmal machen. ({10}) Und nun gibt Herr Kießling am laufenden Band Zusicherungen und eidesstattliche Erklärungen ab. Ich frage Sie: Wie läßt sich das eine mit dem anderen vereinbaren? ({11}) Was zur Aufhellung der Umstände beiträgt, muß er auf den Tisch legen. Herr Kießling handelt hier nicht ehrlich. Auch nicht ehrlich ist er bei der Begründung, warum er sich vom Bundesnachrichtendienst einen Sonderausweis ausstellen ließ, der ihm zu einem anderen Namen verhalf. Wenn Herr Kießling öfter nach Berlin flog, um die Gräber seiner Eltern zu besuchen, brauchte er doch keinen Sonderausweis mit falschem Namen. Warum also das Inkognito? Warum sollte niemand erfahren, daß sich Herr Kießling in West-Berlin aufhält? Hat er denn etwas zu vertuschen? Solche Zweifel mußten den Minister zum Handeln veranlassen. Auch die militärische Führung sah diese Notwendigkeit. Der Bundesverteidigungsminister Wörner hat das im Interesse der Sicherheit unseres Staates und der Bundeswehr getan. ({12})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete von Bülow.

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Affäre Wörner/ Kießling wirft ein grelles Schlaglicht auf Amtsführung und Amtsverständnis des derzeitigen Bundesministers der Verteidigung. ({0}) Selten ging ein Minister so unbeschwert, so siegesgewiß, den Gegenstand seiner Amtsführung so frohgemut bejahend in sein Amt. Bundesminister Wörner hatte sich noch in Zeiten der Opposition als Reserveoffizier bis zum Jet-Piloten der Luftwaffe ausbilden lassen. „Ich sitze lieber zehn Stunden im Starfighter als eine Stunde im Bundestag" war die Erkenntnis aus dieser Zeit. Die jahrelange Arbeit als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, oft genug als Untersuchungsausschuß tagend, gab ihm wie kaum einem anderen Einblick in die Arbeitsweise, in die Stärken und die Schwächen der Mammutbehörde auf der Hardthöhe. ({1}) Er hatte Einblick in die Pannen, die ein so großer Apparat zwangsläufig hervorbringt. Unbarmherzig verfolgte er Fehler oder auch nur vermeintliche Fehler seiner Vorgänger. Es sei nur an den Abgang von Georg Leber erinnert. ({2}) Bei einiger Selbstbescheidung hätte er aus der Schwierigkeit seiner Vorgänger lernen können. ({3}) Als Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, Ihr Amt vor etwas mehr als einem Jahr antraten, waren die Erwartungen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr in Ihre Fähigkeiten zur Führung, aber auch zur Kontrolle des Apparats hochgesteckt. ({4}) Ihre gegen den so überzeugten Zivilisten Apel gerichtete Bemerkung, die Bundeswehr sei eine Braut, die man streicheln müsse, damit sie bei einem bleibe, wurde noch lächelnd von der Öffentlichkeit hingenommen. ({5}) Stolz kamen die Siegesmeldungen: „Dieses Haus ist regierbar"; das war einer der Sprüche. Oder auch: „Ich habe das Ministerium so im Griff, daß ich es mit der linken Hand führen kann." Schon etwas verwegener. ({6}) Das Blatt hat sich gründlich gewandelt. Zutage treten Unzulänglichkeiten unglaublichen Umfangs. ({7}) Der Verteidigungsminister wird nicht nur Opfer seiner Leichtgläubigkeit in den Apparat, er versagt zudem selbst als der für die Kontrolle und Führung und Fürsorge für die Soldaten Zuständige. ({8}) Da genügt ein Hinweis, ein General habe in zwei Lokalen eines bestimmten Milieus verkehrt - in Wirklichkeit eine perfide Umschreibung von Homosexualität -, um ein besonderes Sicherheitsrisiko eines ansonsten in regelmäßigen Abständen sicherheitsüberprüften Generals auszulösen. Der Informant wird der Öffentlichkeit vorenthalten. Der mit der Sicherheitsprüfung beauftragte MAD macht sich ans Werk. Es fehlt jeder Gesamtplan eines systematischen Aufarbeitens des Vorwurfs. Fahrer, Adjutant, Freunde, Kameraden werden gar nicht erst befragt. Einzig die Spur zu den so schrecklichen Lokalen in der Kölner Altstadt wird ins Visier genommen. Für eine geordnete Armee mehr als merkwürdig wird ein Stabsfeldwebel dazu ausersehen, sich an die Milieuidentifizierung des Vier-Sterne-Generals zu machen. ({9}) Fälschlich sich als Oberst des MAD ausgebend kontaktiert er außerhalb des Dienstwegs einen Kripobeamten mit der Bitte um Amtshilfe. ({10}) - Kommen Sie nachher hier herauf, und erklären Sie, was Sie zu sagen haben. Auf der Suche nach Mördern im einschlägigen Milieu wird das retuschierte Foto des Generals - dieses Foto ist inzwischen, und das bringt das Ding in die Nähe eines Schurkenspiels, offensichtlich verschwunden ({11}) mit anderen Suchfotos unter die Leute gebracht. Einige, wiederum dem Betroffenen und der Öffentlichkeit offensichtlich mit Namen nicht nennbare Gestalten erkennen die Ähnlichkeit des Gesichts als das eines „Günter von der Bundeswehr". Dieses Ergebnis reicht dem soeben zufällig wiederum neu berufenen Chef des MAD zur Meldung an den Verteidigungsminister, nicht ohne eine wiederum merkwürdige Verfälschung des Sachverhalts vorzunehmen, was die Umstände der Ermittlung angeht. Der Minister erhält den Bericht, erkennt nicht dessen bodenlose Dürftigkeit, sieht als Jurist nicht, daß eine umfassende Aufklärung überhaupt nicht vorliegt, sondern geht daran, die vorzeitige Pensionierung des Generals in die Wege zu leiten. Er wischt das Ehrenwort des Generals, seine dringlichen Gegenvorstellungen beiseite und einigt sich mit ihm über den Termin des 31. März. Diese Vereinbarung wiederum bricht der Minister einseitig, indem er die Pensionierung auf den 31. Dezember vorzieht. Es habe die Gefahr bestanden, daß die Sicherheitsbescheide des schon jetzt wegen Krankheit nicht mehr im Dienst befindlichen Generals hätten aufgehoben und die Ausübung des Dienstes hätte verboten werden müssen. Selbst nach Wochen des Überdenkenkönnens bleibt der Minister fixiert auf die sinnlos schwache Tatsachenbasis des Verfahrens. Die Zeit zu einer breiten, auch eine Entlastung des Betroffenen gewährleistenden Untersuchung wird nicht genutzt. Der Minister folgt blindlings dem jedem fairen Verfahren hohnlachenden Rat seiner Umgebung. General von zur Gathen, der General Kießling seit 25 Jahren kennt, äußerte sich hierzu wie folgt. Er sagte: Ich habe keine homosexuellen Neigungen beobachtet. Ich bin nicht bereit, an ein Doppelleben des Generals zu glauben, bevor ich selber nicht sämtliche Unterlagen gesehen habe. Diese Stimme ist die Stimme der Vernunft, des gesunden Menschenverstandes. Sie hätte Ihnen als dem für die Kontrolle, nicht für die Verliebtheit ins Amt bestellten Minister gut angestanden.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben versagt. Sie sollten die Konsequenzen ziehen. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer.

Willy Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu den lautstark vorgetragenen Bekundungen der Opposition gilt diese Aktuelle Stunde ausschließlich der Diffamierung eines Ministers, der im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger das Amt sorgfältig ausführt und den Interessen und der Sicherheitslage dieses Landes dient. ({0}) Sie müssen sich fragen lassen, was Sie unter der Sicherheit dieses Landes verstehen und ob Sie mit Ihrem Vorgehen nicht den toten Briefkasten als den Normalfall für die Sicherheitslage dieses Landes ansehen. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Minister hat wie jeder andere Minister dieses Kabinetts einen Amtseid geleistet, und er ist verpflichtet, die Interessen und die Sicherheit dieses Landes zu achten und zu wahren, und er hat dies auch getan. Sie können hier nichts vorbringen, was auch nur im Ansatz die sorgfältigen Recherchen der Kölner Kriminalpolizei in Zweifel zieht. ({2}) Auf Grund dieser Recherchen mußte der Minister tätig werden. Und etwas unterscheidet ihn auch von seinem Amtsvorgänger: Während Herr Apel immer nur in Form eines Küchenkabinetts tätig geworden ist, hat dieser Minister insoweit die vom Ministerium vorgeschriebene innere Ordnung strikt eingehalten. Sowohl der Abteilungsleiter Personal als auch der stellvertretende Generalinspekteur als auch der Generalinspekteur haben ihm nichts anderes raten können als auch Herr Staatssekretär Dr. Hiehle, eben diese Entscheidung zu treffen. Und Sie müssen sich doch vorhalten lassen, Sie müssen sich doch fragen lassen, ob der Rechtsverstoß für einen Minister der Normalfall ist. Wenn Sie sich an die Wimmer ({3}) Amtszeit von Herrn Apel erinnern, könnte das manchen Aufschluß in diesem Zusammenhang geben. ({4}) Ich glaube, wir haben doch alle ein berechtigtes Interesse daran, daß gerade für den zweit- oder dritthöchsten Offizier der Bundeswehr kein Zweifel besteht, daß er im Interesse der Sicherheit dieses Landes tätig werden kann. Halten Sie es eigentlich gerade in Anbetracht der subtilen Ermittlungen der Kölner Polizei ({5}) für den Normalfall, daß sich ein solcher Sicherheitsträger in einem Umfeld aufhält, das mit Sicherheit nicht nur für Erpressungen die beste Voraussetzung bietet? Welches Bild muß eigentlich das Bündnis von einer Bundeswehr haben, deren zweithöchster Offizier in den begründeten Verdacht gerät, sich in einem solchen Umfeld aufzuhalten? Welche andere Möglichkeit hat eigentlich ein Minister, als in diesem Zusammenhang nach eindeutiger Klärung der Rechtslage für ihn, auch unter Beratung durch die hohen Militärs, die Entscheidungen zu treffen, die nach dem Gesetz vorgesehen sind? Wir entscheiden eben nicht - und das unterscheidet uns von Ihnen - nach den Richtlinien irgendwelcher Parteizentralen oder Küchenkabinette, sondern wir entscheiden auf der Basis des Rechts. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Kolbow.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wimmer, Sie haben wieder einmal in Ihrer üblichen Art gewimmert. ({0}) Und Sie meinten, der tote Briefkasten sei für die Sozialdemokraten der Normalfall der Sicherheitslage. Ich schäme mich für diese Aussage vor diesem Parlament. ({1}) Für uns Sozialdemokraten ist die Würde des Menschen unantastbar. Und dies setzen wir ins Verhältnis. ({2}) Was ich hier ans Rednerpult mitgebracht habe, ist ein Ergebnis des Computers GOLEM im Falle Kießling, der schon längst zur Affäre Wörner geworden ist. ({3}) Es handelt sich dabei um den Ausdruck von Äußerungen des Pressesprechers des Bundesministeriums der Verteidigung vor der Bundespressekonferenz über das Thema dieser Aktuellen Stunde, gewissermaßen die gesammelten Werke von his masters voice 1984. Dieser Computerausdruck ist ein bedrückendes Dokument, bedrückend, weil er ein von Bundesminister Wörner inszeniertes, nur schwer erträgliches Schauerstück deutscher Militärgeschichte darstellt. Es ist, meine Damen und Herren, ganze Arbeit geleistet worden. Grob fahrlässig wurde unter der Verantwortung des noch amtierenden Verteidigungsministers ({4}) eine öffentliche Kampagne ausgelöst, die mittlerweile einen Schuttberg aufgehäuft hat, unter dem die Ehre und die Integrität eines Menschen und ein wichtiger Teil des Ansehens unserer Bundeswehr begraben sind. Schuld daran sind nicht unsere Medien, schuld daran ist nicht Dr. Kießling, schuld daran ist einzig und allein ({5}) die verschleiernde Haltung des Verteidigungsministers, die Art und Weise, wie der Parlamentarische Staatssekretär mit versteckten Hinweisen in der Öffentlichkeit ({6}) Spekulationen Tür und Tor geöffnet hat, und schuld ist letztlich auch die Exekutionsarbeit ({7}) des Pressesprechers dieses Ministeriums. ({8}) Diese Drei von der Hardthöhe haben dafür gesorgt, daß der Fall Kießling von Tag zu Tag immer mysteriöser, ungewisser und verworrener wurde, auf Kosten der Streitkräfte nach innen und nach außen. Sie kennen doch auch die Parlamentarische Kontrollkommission, Herr Minister. Dort haben Sie Rede und Antwort zu stehen gehabt. Und Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wissen genau, daß der Verteidigungsausschuß erst dann die Qualität hat, Zeugen anzuhören und Beweismittel heranzuziehen, wenn er nach Art. 45 a des Grundgesetzes als Untersuchungsausschuß eingerichtet wird. ({9}) Die Fülle unappetitlicher Einzelheiten, die ans Licht sickerten, sind die Folge des Versagens der politischen Leitung des Ministeriums, ({10}) ein Versagen, das zur Vorverurteilung, j a zur Vorhinrichtung eines der drei ranghöchsten Generäle der Bundeswehr geführt hat. General Schmückle sagte im Fernsehen - Sie waren richtig erschrokken, als Sie das hörten, Herr Minister -: Die Art, wie man einen Mann erst nackt ausgezogen hat, buchstäblich durch Indiskretionen, und dann vorKolbow hingerichtet hat, ist einmalig in der deutschen Militärgeschichte. Das ist in der Tat richtig. ({11}) Dafür tragen Sie die Verantwortung. Stillhalten wollten Sie, Herr Minister; aber Stil hätten Sie haben müssen. Ich erinnere Sie an § 12, Kameradschaftspflicht, und ich erinnere Sie an § 31, Fürsorgepflicht, des Soldatengesetzes. ({12}) Ihr langes Schweigen hat den Lärm erst erzeugt, der uns allen in der Öffentlichkeit jetzt entgegentönt. Sie dachten, diesen ranghohen Offizier wie ein Kaninchen im Hut verschwinden lassen zu können, und das ist Ihnen grundlegend mißlungen. ({13}) Statt dessen sind Sie zum Autor eines Agentenkrimis im Kneipenmilieu geworden, der einen Menschen der Bundeswehr und unserem Staat schweren Schaden zugefügt hat. ({14}) In Ihrer Jahresschlußpressekonferenz rühmten Sie sich, Herr Minister, die Bundeswehr aus den Schlagzeilen gebracht zu haben. Sie haben durch Ihr Verhalten aber das Rätselraten geschürt, das wie Gift in das innere Gefüge der Bundeswehr eingedrungen ist, und Sie haben den General Kießling durch das Fegefeuer - das wird sich herausstellen - haltloser Vorwürfe gehen lassen. Ihnen ist es nach nur 16monatiger Amtszeit gelungen, die Bundeswehr in die Schlagzeilen zu bringen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sorgen Sie für die Schlagzeile: Bundesminister Dr. Wörner ist zurückgetreten! ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krone-Appuhn.

Ursula Krone-Appuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001226, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu Ihren rabiaten Äußerungen, Herr Kollege Kolbow, ({0}) möchte ich hier betonen, daß der Bundesminister der Verteidigung alles getan hat, um das Ansehen und die Sicherheit unseres Staates aufrechtzuerhalten, die Bundeswehr vor einem Skandal zu bewahren und einen Menschen zu schützen, dessen Würde und Ansehen auf dem Spiel stand und der als Vier-Sterne-General und stellvertretender Oberbefehlshaber der NATO einer der ranghöchsten Offiziere der Bundeswehr war. ({1}) Als Dr. Wörner am 14. September 1983 von sicherheitserheblichen Vorgängen um General Dr. Kießling erfuhr, hat er sofort nach einer möglichen Personenverwechslung gefragt und angeordnet, weitere Erkenntnisse zu sichern, dabei aber auf scharfe Abschottung zu achten, um negative Folge für General Dr. Kießling zu vermeiden. Außerdem hat Dr. Wörner unverzüglich dafür gesorgt, daß Dr. Kießling von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Kenntnis erhielt und Stellung dazu nehmen konnte. General Kießling gab dem Generalinspekteur sein Ehrenwort und sagte andererseits den merkwürdigen Satz, er habe einmal in einer für ihn schwierigen Situation alles zugegeben; diesen Fehler werde er nicht wieder machen. Der General hatte Bedenkzeit. Er hat die Vorschläge des Ministers akzeptiert. Minister und Generalinspekteur standen jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung. Das war fair und kameradschaftlich, Herr Kollege Kolbow. ({2}) Herr Dr. Kießling hat sich jedoch nicht an die Vereinbarungen gehalten. Im Auftrag von Staatssekretär Dr. Hiehle, den wir alle als äußerst gewissenhaft und bis ins letzte Detail informiert kennen und den Dr. Apel vom Bundesministerium der Finanzen ins Verteidigungsministerium mitgebracht hatte, wurde die Sicherheitsüberprüfung durchgeführt. Die merkwürdigen Ersuchen um einen Sonderausweis für Berlin mit Decknamen ohne militärische Begründung erscheinen mir besonders gravierend. ({3}) - Das wurde uns ja gerade im Ausschuß vorgetragen, Herr Kollege. Die Aufhebung des Sicherheitsbescheides, die der dafür zuständige stellvertretende Generalinspekteur für zwingend geboten hielt, hätte zu einem förmlichen Verfahren geführt. Die Bündnispartner hätten informiert werden müssen, die Öffentlichkeit hätte davon erfahren. Dr. Wörner wählte die vorzeitige Zurruhesetzung gemäß § 50 Soldatengesetz auch zum Schutz des Ansehens von General Dr. Kießling. Bedauerlicherweise hat gerade die vornehme Zurückhaltung des Ministers im Interesse des Betroffenen zu einer Nachrichtenflut und zu öffentlichen Diskussionen übelster Art geführt. ({4}) Es muß uns allen daran gelegen sein, daß die Bundeswehr und vor allen Dingen General Dr. Kießling aus den Schlagzeilen kommen ({5}) und daß wir nicht permanent mit widerwärtigen Details aus einem bestimmten Milieu überflutet werden. Das liegt im Interesse der Bundeswehr und im Interesse von General Dr. Kießling. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.

Horst Jungmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001047, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Aktuellen Stunde festgestellt, daß die Rufmordkampagne, die Vorver3450 urteilung des Generals Kießling fortgesetzt werden und daß insbesondere die Kollegen Francke, Hauser und Wimmer von der CDU/CSU und zuletzt die Kollegin Krone-Appuhn wieder Sachverhalte in die Debatte einbringen, die bei der Entscheidung des Ministers keine Rolle gespielt haben. ({0}) Das sind nachgeschobene Hilfsargumente zur Begründung seiner schwachen Position, für die er keine Beweise gehabt hat. ({1}) Herr Minister, die Äußerung des Generals a. D. Schmückle im Fernsehen von vorgestern trifft ja zu. Die Indiskretion und das, was aus Ihrem Ministerium an Verleumdungen und Vorverurteilungen herauskommt, setzen sich fort. ({2}) Sie können hier nicht auftreten und andere für ihre Unzulänglichkeiten verantwortlich machen. In einer Tickermeldung von heute ist zu lesen: Ein enger Mitarbeiter Wörners äußerte gegenüber einer großen Boulevardzeitung die Vermutung, daß östliche Geheimdienste in der Affäre ihre Hände im Spiel hätten; es gebe eine Fülle von erdrückenden Beweisen. ({3}) Herr Minister: Wer ist dieser enge Mitarbeiter Ihres Hauses? Nennen Sie Roß und Reiter! Wenn Sie erdrückende Beweise gehabt hätten, dann hätten Sie diese erdrückenden Beweise am Mittwoch im Verteidigungsausschuß und am Mittwoch und Donnerstag in der PKK vorlegen können. Sie haben für Ihre Entscheidung keine Gründe. Sie sind berechtigt, nach § 50 des Soldatengesetzes einen Soldaten in dem Rang des General Kießling ohne Begründung in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Aber Sie selbst waren es doch, der es begründet hat. ({4}) Ihr Pressesprecher und der Parlamentarische Staatssekretär waren doch diejenigen, die durch zweifelhafte Äußerungen die Spekulation in der Öffentlichkeit angeheizt haben, ({5}) und nicht andere, wie dies hier von Ihnen den Leuten weisgemacht werden sollte. Herr Minister, Sie haben der Bundeswehr, aber nicht nur der Bundeswehr, sondern auch dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Bündnis Schaden zugefügt. Es kann hier, weil der Schaden schon zu groß ist, nur noch um Schadensbegrenzung gehen. Ich bin der Auffassung, hier ist der Bundeskanzler gefordert; er hätte handeln müssen und sich nicht in Schweigen hüllen dürfen; er hätte den Minister aus seiner Verantwortung herausziehen müssen, weil er pflichtwidrig ({6}) - ohne Angabe von Gründen, das ist richtig - ({7}) Er hätte den Minister entlassen müssen. Herr Kollege Ronneburger, wenn Sie fragen: „Kennen Sie das Gesetz?", dann muß ich antworten, Sie müßten sich mal mit den Sicherheitsvorschriften der Bundeswehr vertraut machen, ehe Sie andere für Unzulänglichkeiten Ihrer Fraktion und des Ministers verantwortlich machen können. ({8}) Herr Minister, wenn Sie Ihre Ankündigung und Ihr Vorhaben ernst meinen, Schaden von der Bundeswehr abzuwenden und den Schaden für den Betroffenen zu begrenzen, dann fordere ich Sie auf: Treten Sie zurück; damit ist der Schaden begrenzt. Schönen Dank. ({9})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogt ({0}).

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Ein Journalist hat im Anschluß an die Sitzung des Verteidigungsausschusses in einer Pressekonferenz die Frage gestellt, ob hinter der ganzen Angelegenheit möglicherweise doch eine hochgradige Verratsgeschichte stünde. Diese Frage ist verneint worden. Aber ich meine, es handelt sich um eine hochgradige Verratsgeschichte völlig anderer Art, nicht im militärischen Bereich, sondern um einen Verrat an der Menschenwürde, um einen Anschlag auf den gesunden Menschenverstand und auf das Anstandsgefühl. ({0}) Es ist die Aufgabe der staatlichen Gewalt - und hier hätte ich gern vom Bundeskanzler auch ein Wort gehört -, ({1}) die Menschenwürde zu schützen. Was hier geschehen ist, ist, Selbstverteidigung für einen Minister zu üben, und die Menschenwürde eines Generals oder überhaupt eines Bundesbürgers bleibt dabei auf der Strecke. ({2}) Was mich vor allem betroffen macht - ich hatte eine gewisse Achtung insbesondere vor den intellektuellen Fähigkeiten von Herrn Altenburg, dem Generalinspekteur -, das ist, daß ein angebliches Gespräch unter Kameraden hergezogen wird zum Vogt ({3}) Kronzeugen gegen einen Beschuldigten, der kein einziges Mal dazu gehört worden ist, ob er diese Äußerung überhaupt getan hat, die, wenn er sie getan haben sollte, sich auf einen Vorgang in seiner Generalausbildung bezog, die sozusagen ein jugendliches oder ein Kavaliersdelikt eines jungen Mannes betrifft, ({4}) oder anders gesagt, eine heterosexuelle Angelegenheit, wenn schon! ({5}) Dieser General hatte überhaupt keine Chance, in irgendeiner Weise hierzu Stellung zu nehmen. Mein Vertrauen in Herrn Altenburg ist insofern auch erschüttert, als bei der Begründung, warum das Vertrauen nicht mehr da ist, der Herr Bundesverteidigungsminister ausdrücklich gesagt hat, General Kießling habe bestimmte Abmachungen nicht eingehalten. Eine dieser Abmachungen soll dadurch gestört worden sein, daß sich der General Kießling bei einem Empfang zum Münchner Oktoberfest aufgehalten habe. Später hat sich herausgestellt, daß dieser Aufenthalt am 8. September war, also vor dieser Absprache, an die er sich angeblich nicht gehalten hat. ({6}) Meine Damen und Herren, wir haben es, glaube ich, in einer gespenstischen Weise mit der Beobachtung zu tun, daß hier nicht nur Werte wie Menschenwürde offensichtlich einer kranken Hierarchie anvertraut sind. Meine Bedenken beziehen sich darauf, daß dieser Hierarchie nicht nur diese Werte wie Menschenwürde, Freiheit usw., die sie angeblich durch die Bundeswehr zu verteidigen hat, sondern auch unser aller Leben, anvertraut sind. Stellen Sie sich einmal vor, solche Schlampereien, wie es sie hier bei dieser sogenannten Ermittlung gegeben hat, kämen im Falle einer Krise vor. Ein anderer Grund, warum das Vertrauen nicht mehr gegeben sein sollte, waren angeblich Sicherheitsbedenken. Es ist niemals auf den Tisch gelegt worden, was denn diese Sicherheitsbedenken sind. Sie wurden in einer schlüpfrigen und hintergründigen Weise damit nahegelegt, daß man gesagt hat, dieser General würde sich in jenem Milieu aufhalten. Dafür sind bisher keine Beweise gegeben worden. Je dünner die Beweise wurden, um so mehr hat man einen anderen Grund herangezogen, nämlich das gestörte Verhältnis zu General Rogers. Wäre es dann, wenn es solche Meinungsverschiedenheiten gibt, die möglicherweise etwas mit dem arroganten Führungsstil von Herrn Rogers zu tun haben, nicht die Aufgabe eines bundesdeutschen Verteidigungsministers, diesem bundesdeutschen General den Rücken zu stärken, statt bei irgendeiner Gelegenheit diese Meinungsverschiedenheiten heranzuziehen und zu sagen, er hätte das Vertrauen nicht mehr? ({7}) Die Tatsache, daß er gewisse Schwierigkeiten angesichts von Herrn Rogers sieht, hat Herr Kießling dem damaligen Oppositionspolitiker Wörner anvertraut. Es ist ein unglaublicher Gebrauch dieses Vertrauens, das seinerzeit Herr Kießling Herrn Wörner, einem Oppositionspolitiker, bekundete, wenn dies nun bei späterer Gelegenheit durch Nachschieben von Gründen zum Nachteil des Betroffenen ausgelegt wird. ({8}) Meine Damen und Herren, der ganze Fall hat dazu beigetragen, das Vertrauen in die Amtsführung des Ministers, sofern es überhaupt ein solches Vertrauen gegeben haben sollte, nachhaltig zu erschüttern.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege, es tut mir leid: Ihre fünf Minuten Redezeit sind um.

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich fordere Herrn Wörner - unabhängig von seinem Schicksal als Verteidigungsminister - auf, Herrn Kießling in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Berger ({0}).

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesminister der Verteidigung hat von Anfang an gewußt, daß die Publizität einer solchen Affäre allen Beteiligten Schaden zufügen müßte. Herr Kollege Jungmann, deswegen kann von einer Rufmordkampagne und von einer Vorverurteilung einfach nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Der Bundesminister der Verteidigung hat verantwortungsbewußt versucht, diesen Schaden zu vermeiden. ({0}) Ich sage allen Beteiligten: der Bundeswehr deshalb, weil einer ihrer höchstrangigen Soldaten einem unappetitlichen Verdacht ausgesetzt wurde: ({1}) Der politischen Leitung der Bundeswehr soll Schaden zugefügt werden, wobei, wie wir hier sehen, einigen offensichtlich jedes Mittel recht ist. Dem Bündnis wird Schaden zugefügt, wenn z. B. von SPD-Kollegen die Mär verbreitet wird, hinter alledem stecke nichts anderes als das gestörte Verhältnis des NATO-Oberbefehlshabers zu seinem Stellvertreter. Was hat der Bundesminister der Verteidigung denn nun getan? Ich bitte doch noch einmal das Faktum zu berücksichtigen. ({2}) Nachdem ihm der stellvertretende Generalinspekteur -der Bundeswehr im Rahmen seiner Kompetenz und der für diese Fragen in der politischen Leitung zuständige Staatssekretär gemeldet hatten, General Dr. Kießling sei ein Sicherheitsrisiko, mußte er handeln. ({3}) Er mußte zunächst dem Staat geben, was des Staates war: Er mußte sein Sicherheitsinteresse wahren. Gestatten Sie mir den Hinweis: Im Fall Guillaume war damals das Gegenteil geschehen. Damals hatte man monatelang zugewartet und verletzte damit das Sicherheitsinteresse des Staates ganz erheblich. ({4}) Der Minister mußte den Betroffenen im Rahmen seiner Fürsorgepflicht vor dem schützen, was im Falle einer größeren Publizität auf ihn zukommen würde. ({5}) Minister Wörner hat versucht, beiden Zielen gerecht zu werden. Er vermied im Interesse einer möglichst geräuschlosen Erledigung des Falles den spektakulären Entzug des Sicherheitsbescheides und die damit notwendig werdende Dienstenthebung. Er wendete § 50 des Soldatengesetzes an, den es just zu diesem Zweck im Gesetz gibt. Nun ziehen Sozialdemokraten durch das Land und tun so, als sei der General Dr. Kießling das Opfer eines Willküraktes geworden. ({6}) Meine Damen und Herren von der SPD, was Sie wirklich wollen, ist gestern beim Besuch des Fraktionsvorsitzenden der SPD beim Bundeskanzler deutlich geworden. Er hat vorgeschlagen, auf einen Untersuchungsausschuß zu verzichten, wenn der Minister zurücktrete bzw, entlassen werde. Ihnen geht es nicht um die Aufhellung eines Sachverhaltes, sondern Ihnen geht es um den Kopf eines erfolgreichen Ministers in einem erfolgreichen Kabinett. ({7})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand - Drucksache 10/880 Überweisungsvorschlag d. Ältestensrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprachezeit von zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. - Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wenden uns mit diesem Tagesordnungspunkt den großen Sorgen unserer Bürger zu. Die großen Sorgen gelten der Arbeitslosigkeit und dem Erreichen von Vollbeschäftigung. Das sind die Themen, die 2 Millionen Arbeitslose interessieren. ({0}) Dieser Tag kann ein guter Tag für unseren Sozialstaat werden. Wir gehen einen neuen Weg in der Beschäftigungspolitik. In außergewöhnlichen Zeiten müssen auch ungewöhnliche Schritte gewagt werden. Die Bundesregierung legt dem Parlament heute einen Gesetzentwurf zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand vor. Dies ist nicht nur ein Erfolg der Bundesregierung und der Koalitionsparteien, sondern auch ein guter Tag für die Tarifpartner, also für Arbeitgeber und Gewerkschaften, und für alle, die mitmachen wollen. Das Verdienst, diese Idee geboren zu haben, gebührt den Gewerkschaften. Ich will hier ganz besonders die Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, die Gewerkschaft Textil und Bekleidung, die IG Bau, Steine, Erden, die IG Chemie, Papier, Keramik und die IG Bergbau und Energie nennen. Dank gebührt auch jenen Arbeitgebern, die bereit sind, auf diese Vorschläge einzugehen. Unsere Tarifpartnerschaft ist nicht so erstarrt, wie sie mancherorts erscheint und - leider Gottes - mancherorts auch ist. Schon jetzt., meine Damen und Herren, hat unser Vorschlag zur Vorruhestandsregelung zur Entkrampfung erstarrter Fronten und zur Lockerung festgefahrener Positionen geführt. ({1}) Das ist der erste große Erfolg in einer Zeit, in der Dogmatisierung und Ideologisierung von Interessenstandpunkten die große Gefahr für die Gesprächsfähigkeit auch der Sozialpartner bleiben. Die Tarifpartner müssen gesprächs- und verhandlungsfähig bleiben. Die wechselseitige Ablehnung von Vorschlägen ist keine Verhandlung. Zu jedem Nein gehört die Alternative; wir bieten Alternativen an. ({2}) Jede Seite muß wissen, wie der letzte Schritt einer Tarifauseinandersetzung aussehen kann. Kompromißfähig bleibt man nur, wenn man sich auch in die Position des anderen versetzen kann. Der Kompromiß ist keine Degenerationserscheinung. Der Kompromiß ist nach unserem Verständnis die größte Errungenschaft der Sozialgeschichte. Nur Klassenkämpfer halten ihn für denkunmöglich; sie sind auch auf dem Niveau der Eiszeit stehengeblieben. ({3}) Freilich, der Arbeitskampf gehört zum Bestandteil einer freien Gesellschaft. Arbeitskampf ist der Preis der Freiheit und der Tarifautonomie. Ohne Tarifautonomie gibt es keine soziale Marktwirtschaft. Wenn die Tarifpartner Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht frei aushandeln, muß der Staat sie diktieren. Wenn er Löhne festlegt, muß er auch den Preis befehlen. Aber wir wollen weder den Lohn-noch den Preiskommissar; der gehört in das Arsenal von Planwirtschaften. Deshalb gibt es dort auch keine freien Gewerkschaften und kein Streikrecht. ({4}) Wir sind stolz darauf, daß es das bei uns gibt. Allerdings, meine Damen und Herren: Streikrecht heißt ja nicht, in jedem Augenblick auch eine Streikpflicht zu haben. Das Streikrecht ist ein Notventil, die Notbremse. Und die Frage, wann es angewandt werden soll, muß schon gestellt werden; jeder steht in dieser Verantwortung. In die konjunkturelle Landschaft des Jahres 1984 passen Arbeitskämpfe jedenfalls nicht. ({5}) Ich sage nicht, daß der Himmel herunterfällt, wenn gestreikt wird, aber die Konjunktur kommt nicht hoch und die Arbeitslosen nicht in Arbeit. ({6}) Streik und Aussperrung würden auf die zarte Pflanze unserer konjunkturellen Frühjahrsblüte wie Eishagel im Mai wirken. Deshalb appelliert die Bundesregierung an die Friedensfähigkeit, an den Friedenswillen beider Tarifpartner. Unsere Vorruhestandsregelung ist eine Brücke für friedliche Vereinbarungen. Sozialpolitisch ist sie eine vertrauensbildende Maßnahme. Die Vorruhestandsregelung soll ein konkreter Beitrag sein, den Arbeitslosen zu helfen, und sie ist ein Beitrag zur Humanisierung der Altersgrenze. Sie erfüllt drei Funktionen: die Chancen des sozialen Friedens zu erhöhen, den Arbeitslosen zu helfen und die Altersgrenze zu humanisieren. Der Inhalt der Vorruhestandsregelung: Arbeitnehmer sollen in den Jahren von 1984 bis 1988 ab dem 59. Lebensjahr die Chance erhalten, früher in Rente zu gehen, wenn sie wollen. Der Staat gibt einen 40 %igen Zuschuß zu einem Vorruhestandsgeld, das 65% des letzten Bruttoverdienstes ausmacht, und zwar dann, wenn an Stelle des ausgeschiedenen Arbeitnehmers ein Arbeitsloser eingestellt wird. Die 65 % sind die Bemessungsgrundlage des staatlichen Zuschusses. Die Tarifpartner können mehr und Besseres vereinbaren. Meine Damen und Herren, ich will unseren Vorschlag in sieben Vorteilen, sieben Vorzügen zusammenfassen: Vorzug Nummer eins: Die Vorruhestandsregelung basiert auf Freiwilligkeit. Der Vorruhestand ist eine Arbeitszeitverkürzung, die nicht kollektiv befohlen wird, sondern über die der einzelne frei entscheidet. Wer länger arbeiten will, soll länger arbeiten; wer früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden will, soll ab dem 59. Lebensjahr eine generelle Chance haben. Mit anderen Worten: Unsere Sozialpolitik zieht die Freiwilligkeit, wo immer es dafür Möglichkeiten gibt, dem Zwang vor. ({7}) Unsere Sozialpolitik ist dadurch gekennzeichnet, daß wir die Individualisierung von Lebensentscheidungen immer der Kollektivierung von Lebensschicksalen vorziehen. ({8}) Der Vorteil Nummer zwei: Die Vorruhestandsregelung ist die einzige Arbeitszeitverkürzung, die mit einem Wiedereinstellungsmechanismus verbunden ist. In dieser Zeit, meine Damen und Herren, sollten wir nur jene Arbeitszeitverkürzungen für begehrenswert halten, die den Arbeitslosen helfen. Das ist der Test. Deshalb ist eine Arbeitszeitverkürzung mit Wiedereinstellungsmechanismus jeder anderen vorzuziehen. Die 35-Stunden-Woche hat diesen Mechanismus mit Sicherheit nicht. Ich fürchte im Gegenteil, daß sie in vielen Betrieben zu mehr Streß und mehr Überstunden führt, daß sie einen großen Rationalisierungsschub auslöst. Diese Rationalisierungspeitsche kann nicht die Politik im Interesse der 2 Millionen Arbeitslosen sein. ({9}) Dritter Vorzug: Die Vorruhestandsregelung ist die einzige Arbeitszeitverkürzung, die mit einer staatlichen Beteiligung finanziert wird. Zur 35Stunden-Woche zahlt der Staat dagegen keinen Pfennig. Die Vorruhestandsregelung wird durch das Geld der Bundesanstalt für Arbeit mitfinanziert. Das kostet bei rund 100 000 Personen 600 Millionen DM im Jahr. Der vierte Vorzug: Die Vorruhestandsregelung ist zeitlich befristet. Sie ist eine Arbeitszeitverkürzung, die uns über die schwierigen Jahre, in denen die geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt kommen, hinweghelfen. Wochenarbeitszeitverkürzungen haben endgültigen Charakter: einmal eingeführt - immer eingeführt. Lebensarbeitszeitverkürzungen im Rahmen von zeitlich befristeten Vereinbarungen sind beweglich. Sie können der veränderten Arbeitsmarktlage angepaßt werden. Eine Lebensarbeitszeitverkürzung kann auch rückgängig gemacht werden. Sie nimmt dabei niemandem einen Besitzstand weg, denn derjenige, der im Ruhestand ist, muß ja nicht wieder arbeiten. Und derjenige der noch arbeitet, hat die Lebensarbeitszeitverkürzung noch nicht. Was man nicht hat, kann einem auch nicht weggenommen werden. Sie sehen, daß eine Lebensarbeitszeitverkürzung hier anpassungsfähiger ist. Wir brauchen eine Politik, die sich nicht brüstet, Jahrhundertwerke zu erstellen. Das Leben ist schneller und dynamischer als jede Gesetzgebung. Deshalb müssen wir anpassungsfähig bleiben. ({10}) Überprüfung und begrenzte Geltungsdauer gehören zu einer Sozialpolitik ohne Schablonen. Darauf sind wir stolz: eine lebensnahe Sozialpolitik betreiben zu wollen. ({11}) Vorteil Nr. 5: Die Vorruhestandsregelung ist die einzige Arbeitszeitverkürzung, in die eine Mittelstandskomponente eingebaut ist. In Betrieben unter 20 Beschäftigten kann die Vorruhestandsregelung nicht gegen den Willen des Arbeitgebers in Anspruch genommen werden. Hier geht es nicht nur um ein Entgegenkommen gegenüber mittelständischen Unternehmen, sondern auch um die Funktionsfähigkeit des Kleinbetriebes und die Sicherung seiner Arbeitsplätze. Vorteil Nr. 6: Die Vorruhestandsregelung ist Ausdruck der Generationensolidarität. Alt und Jung sind zusammengespannt in Form eines wechselseitigen Gebens und Nehmens. Der Ältere, der geht, macht einen Arbeitsplatz für einen Jüngeren frei. Die Vorruhestandschance für den 59jährigen schafft eine Ausbildungschance mehr für den 15jährigen. Für Betriebe unter 20 Arbeitnehmer ist bereits die Einstellung eines Lehrlings über den Bedarf hinaus verrechnungsfähig für die Vorruhestandsregelung. Der Betrieb erhält den 40 %igen Zuschuß für den Vorruhestand der Älteren, wenn er einen Lehrling mehr ausbildet, als er braucht. Darüber hinaus wird die Übernahme eines ausgelernten Lehrlings für die Vorruhestandsregelung in allen Betrieben in Rechnung gestellt. Meine Damen und Herren, das kann ein wichtiger Beitrag sein, schon 1984 den Ausbildungsmarkt zu entspannen: über den Bedarf hinaus ausbilden, weil man weiß, daß drei Jahre später - oder dreieinhalb Jahre später - nach beendigter Lehre der so mehr Ausgebildete übernommen und für eine Vorruhestandsregelung angerechnet wird. ({12}) Sie sehen: Wir haben eine Regelung in der Balance zwischen Alt und Jung. Das dient nicht nur den 59jährigen, sondern auch den 15jährigen. Wir brauchen eine Politik der Generationensolidarität. Wir brauchen eine Politik, in der klar ist, daß Alt und Jung in einem Boot sitzen. In diese Generationensolidarität, meine Damen und Herren, ist auch eine Anerkennung und eine Wiedergutmachung für eine Generation eingebaut, welche die schwersten Lasten dieses Jahrhunderts getragen hat. Überlegen Sie: Wer sind denn die 59jährigen der Jahre 1984, 1985, 1986, 1987, 1988? Das sind die Menschen, die in der Massenarbeitslosigkeit der 20er Jahre ihre Kindheit verbracht haben. Massenarbeitslosigkeit war damals noch Massenelend. Das sind die Jugendlichen, die in den Luftschutzbunkern und Kellern die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges erlébt haben. Das sind die jungen Männer und Frauen, die nach dem Krieg den Schútt weggeschaufelt haben und die - wie man in meiner Heimat sagt: für einen Apfel und ein Ei - das Wirtschaftswunder vollbracht haben. Ich finde, es ist auch ein Stück Anerkennung und Wiedergutmachung von den Nachgewachsenen, wenn wir ihnen sagen: Laßt sie in Ruhe gehen, wenn sie wollen. Sie haben es verdient. ({13}) Vorruhestandsvorteil Nr. 7: Diese Regelung gewinnt nur Leben, wenn Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenwirken. Wenn nur einer nicht mitspielt, kommt die gesamte Vorruhestandsregelung nicht zustande. Das ist ein Beschäftigungspakt durch Taten, nicht ein Beschäftigungspakt durch Austausch vom Kommuniqués. Davon haben wir jetzt genug gehört. Wir wollen, daß Arbeitgeber, Staat und Gewerkschaften vor den Karren gespannt werden und ihn in gleicher Richtung aus dem Dreck ziehen. ({14}) Der Vorruhestand zwingt zur Partnerschaft. Er ist ein Element des Miteinanders. Gegeneinander schaffen wir keine Vollbeschäftigung. Unser Angebot richtet sich an 770 000 Arbeitnehmer; soviel sind im ersten Jahr im Alter von 59 und mehr Jahren. Bis 1988 wird die Zahl auf 840 000 steigen. Ich stehe hier nicht, um zu sagen - wir maßen uns nicht an, das zu behaupten -: Diese Vorruhestandsregelung eingeführt, und die Arbeitslosigkeit ist verschwunden. Ein solches Mittel gibt es nicht; Patentrezepte haben nur Ideologen zur Verfügung. Aber diese Regelung kann einen Beitrag leisten, einen wichtigen flankierenden Beitrag gerade in einer Zeit der größten demographischen Anspannung. Im übrigen bin ich der Meinung, daß keine Arbeitszeitverkürzung uns die Hauptaufgabe abnehmen kann. Die Hauptaufgabe heißt: Arbeitsplätze schaffen, investieren, Wachstum. Eine Arbeitszeitverkürzung kann immer nur Hilfscharakter, flankierenden Charakter haben, und auch diese Vorruhestandsregelung enthebt uns nicht der Aufgabe, die deutsche Wirtschaft durch die Schaffung moderner Arbeitsplätze zu erneuern. Mit den alten Klamotten von vorgestern werden wir das Jahr 2000 nicht erreichen! ({15}) Wir brauchen eine Modernisierung unserer Wirtschaft. Nur moderne Arbeitsplätze sind überlebensfähig. Almosen-Arbeitsplätze entsprechen übrigens auch nicht dem Selbstbewußtsein der Arbeitnehmer. Die jährliche Gesamtbelastung der Tarifvertragsparteien würde bei voller Ausschöpfung der Regelung knapp 1 % der Bruttolohn- und Gehaltssumme betragen. Dieser Solidaritätsbeitrag überfordert niemanden, aber auch niemand sollte sich um diesen Solidaritätsbeitrag herummogeln wollen. Ohne Fleiß kein Preis, und ohne Anstrengung keine Vollbeschäftigung. Die Produktivität kann nur einmal verteilt werden. Arbeitszeitverkürzungen, die nicht auf den Lohn verrechnet werden, produzieren Einkommensillusionen. Sie produzieren entweder Inflation oder höhere Abgaben durch höhere Steuern oder höhere Beiträge. ({16}) Die Einsicht in die Notwendigkeit, daß dann, wenn Arbeit geteilt wird, auch Lohn zu teilen ist, wird von den Arbeitsbesitzern verlangt. Die Solidarität, die jetzt gebraucht wird, ist eine Solidarität, die den Ausgleich zwischen denjenigen, die Arbeit haben, und denjenigen, die Arbeit suchen, anstrebt. Das ist, wie ich zugebe, eine neue Form der Solidarität, die den Gewerkschaften, den Arbeitnehmern abverlangt wird. Wer nur die Vorteile derjenigen verteilt, die Arbeit haben, wer sich in diesen Vorteilen eingräbt, der handelt so borniert egoistisch wie die Kapitalisten des 19. Jahrhunderts. ({17}) Ein Produktivitätszuwachs, der nur in Arbeitszeitverkürzungen geht, nimmt auch keine Rücksicht auf die Rentner, denn deren Renten sind an die Löhne gebunden. So etwas ist zur Konsolidierung erlaubt; wer aber allen Produktivitätszuwachs nur in Arbeitszeitverkürzungen steckt, nabelt die Rentner ab, ({18}) und das sind auch Gewerkschafter! Die Solidarisierungsanstrengung schließt auch die Unternehmer ein, auch die Unternehmer! Die Gewerkschaften haben es in dieser Zeit, in einer Zeit der Umstellung, nicht leicht. Meine Damen und Herren, niemand von uns kann an erfolglosen Gewerkschaften interessiert sein. ({19}) Die Gewerkschaften können ihre Ordnungsaufgabe nur dann wahrnehmen, wenn sie das Vertrauen der Arbeitnehmer haben. Erfolglose Gewerkschaften, schwache Gewerkschaften wären ein Beitrag zum sozialen Chaos. Deshalb sollen die Gewerkschaften, die sich als Ordnungsfaktoren verstehen, Erfolge haben, denn auf die ist unsere Sozialpartnerschaft angewiesen. ({20}) - Nein, verehrte Frau Kollegin, ich teile diese Aufgabe den Gewerkschaften nicht zu. Das entspricht vielmehr dem besten Selbstverständnis, der Tradition der Arbeiterbewegung, was Ihrer Kenntnis offenbar entgangen ist. ({21}) Meine Damen und Herren - ({22}) - Bitte? Die Gewerkschaften waren Widerstandsfaktor in einem Staat, der nicht unserem Sozialstaat entspricht. Sie haben den Widerstand nie so begriffen, wie Sie ihn offenbar begreifen; ({23}) sie haben ihn immer in Treue zum Staat begriffen, selbst in Bismarcks Zeiten. ({24}) Dazu noch dies: In meinem Verständnis sind die Gewerkschaften als Ordnungsfaktor nicht ausführendes Organ des Staates. Diese Aufgabe haben sie in sozialistischen Gesellschaften; da sind sie die abhängige Variable des Staates. ({25}) In unserem System sind sie freier Ordnungsfaktor in einem System der Machtbalance. Die Freiheit ist in einem System von Macht und Gegenmacht immer besser aufgehoben als in einem Obrigkeitsstaat, der von angeblich guten Menschen regiert wird. Das ist meistens die eigene Verwandtschaft. ({26}) Von dieser Obrigkeitsgläubigkeit haben wir nie etwas gehalten. Unsere Skepsis gegen Macht geht viel weiter als die Skepsis, die der Sozialismus hat. ({27}) Es ist an unserer Vorruhestandsregelung Kritik geübt worden. Ihre Ausstattung sei zu gering. Meine Damen und Herren, ich habe Verständis für diese Kritik. Aber wir müssen mit knappen Mitteln haushalten. Immerhin liegt die Vorruhestandsregelung, selbst wenn sie von den Tarifpartnern nicht aufgestockt würde, mit 65% über dem Arbeitslosengeld. Denn 65% brutto sind über 70 % netto; und das Arbeitslosengeld der Arbeislosen ohne Kinder - das sind die Älteren in der Regel - beträgt derzeit 63%. Das Arbeitslosengeld wird nur ein Jahr gezahlt, die Vorruhestandsregelung läuft gewöhnlich vier Jahre. Sie ist auch höher als die Rente. Das Nettorentenniveau beträgt 65%. Während der Zeit des Vorruhestandsbezugs wirkt die Vorruhestandsregelung rentensteigernd. Ich will die sozialdemokratischen Kollegen auf ihren eigenen Plan zur Vorruhestandsregelung aufmerksam machen. Dieser Plan aus der Zeit, da Sie noch an der Regierung waren, ist nie Wirklichkeit geworden. Diesen Mangel hatten viele Ihrer Pläne. ({28}) In der Zeit, als Sie diesen Plan hatten, hatte der damalige Arbeitsminister in einem Rundfunkinterview am 2. Februar 1982 den Vorruhestandsbezug, der geplant sei, mit 68 % des letzten Nettoeinkommens angegeben. Herr Kollege Dreßler, ich kann Ihnen für Ihre Rede gleich das Interview überreichen. Es ist nämlich am 4. März 1982 in der „Welt der Arbeit" wiederholt worden. 68 % netto sind nach meiner Rechnung mindestens 2 Prozentpunkte weniger als das, was wir anbieten. Ich habe das nur zur Vorsicht gesagt. Ich bedauere, daß der Kollege Lutz abfällige Handbewegungen macht, die offen3456 bar seiner eigenen Regierung gelten; denn ich kann nicht gemeint sein. Unsere Regelung ist besser. ({29}) Ich möchte die Proportionen zurechtrücken. Die Vorruhestandsregelung ist ein faires Angebot. Sie gibt uns gleichzeitig die Möglichkeit, jene Türen in die Rentenversicherung zu verriegeln, mit der sich sehr viele Arbeitgeber auf Kosten der Solidargemeinschaft älterer Arbeitnehmer entledigt haben. ({30}) Das war nun wirklich abschieben: erst einmal ein Jahr Arbeitslosigkeit und dann in die Rente! Unter humanen Gesichtspunkten ist das nun wirklich ein Rentenzugang, den ich nicht für den Normalfall halten kann. ({31}) Es ist auch eine Lebensarbeitszeitverkürzung auf Kosten der Solidargemeinschaft. Die Arbeitgeber haben auf diese Weise betriebliche Sozialpolitik betrieben, haben ihre Belegschaften verjüngt und haben sich das Ganze von den Zahlern der Beiträge zur Arbeislosenversicherung und zur Rentenversicherung finanzieren lassen. Diese Arbeitsteilung machen wir nicht. Für den Arbeitnehmer ändert sich gar nichts. Der kann mit 60 nach einjähriger Arbeitslosigkeit in die Rente. Nur der Arbeitgeber, der diesen Weg geht, soll erstatten; er soll die Kosten nicht auf die Solidargemeinschaft abwälzen können. Ausgenommen von der Erstattungspflicht sind solche Unternehmen, die durch den Konkurs bedroht sind, in erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind oder staatliche Subventionen erhalten. Erstattet muß jetzt nicht nur das Arbeitslosengeld werden, sondern auch die Kosten für die Rentenversicherung. Die haben in einem Jahr allein 1,7 Milliarden DM ausgemacht. Jeder 2. Großbetrieb hat diesen Zugang genutzt, aber nur jeder 14. Kleinbetrieb mit über 50 Arbeitnehmern. Das war eine Arbeitszeitverkürzung für Großbetriebe auf Kosten der Beitragszahler. Damit machen wir jetzt Schluß. Wir machen keine Sozialpolitik durch die Hintereingänge. Wir machen keine Sozialpolitik für die Cleveren und Trickreichen, auch nicht für die trickreichen Unternehmer. Wir machen Sozialpolitik für die Normalverbraucher. Bei uns kommen nicht diejenigen zum Zug, die jedes Häkchen nutzen können, sondern wir wollen eine Sozialpolitik der Gerechtigkeit und der Plausibilität. ({32}) Dieses Gesetz ist eilbedürftig. Deshalb appelliere ich an alle Fraktionen des Bundestages, dieses Gesetz zügig zu beraten. Denn wenn es erst nach den Tarifverhandlungen in Kraft träte, wäre es um seinen Effekt gebracht. Die Züge wären abgefahren, und wir hätten einen schönen Fahrplan. Ich appelliere an die Gewerkschafter, die mehr wollen, und an andere, die weniger wollen, mitzuarbeiten. Dieser Entwurf ist ein Angebot, ein Gesetz der mittleren Linie. Ich kenne keine Arbeitszeitverkürzung - hier wende ich mich an die Freunde des Mittelstandes, zu denen ich mich selber auch zählen darf -, die so mittelstandsfreundlich ist wie diese. Ich kenne keine, bei der soviel Rücksicht auf mittelständische Belange genommen wurde. Wir balbieren nicht alle über einen Kamm - wir balbieren überhaupt niemanden -, wir machen keine nivellierte Sozialpolitik. Wir haben bei der Inanspruchnahme dieses Gesetzes den Mittelstand hinsichtlich der Unternehmen berücksichtigt, in denen unter 20 Beschäftigte tätig sind: nicht gegen den Willen des Arbeitgebers. Wir haben, was die Lehrlinge anbelangt, besonders mittelstandsfreundliche Regelungen getroffen. Und hinsichtlich der 59er-Regelung befreien wir die Betriebe mit unter 20 Arbeitnehmern von der Erstattungspflicht. Das ist auch ganz logisch: Wenn Sie im Vorruhestandsgesetz eine Sonderregelung haben, kann das Pendant auf der anderen Seite auch nicht in gleicher Weise behandelt werden. Ich möchte die Begründung unseres Vorschlages schließen, indem ich Ihre Aufmerksamkeit auch auf eine aus meiner Sicht notwendige Neubewertung des Alters richte. Gleichgültig, ob die Altersgrenze bei 59 oder 65 oder 70 Lebensjahren liegt, das Alter ist ein Lebensabschnitt mit eigenem Recht und eigener Würde. Vielleicht führt der von uns im Gesetzentwurf gewählte Begriff Ruhestand für diese Lebensepoche in die Irre. Alter ist kein Zustand der Aufgabenlosigkeit und der passiven Ruhe. Arbeit ist nicht erst dann Arbeit, wenn sie für Lohn betrieben wird. Das Alter könnte ein Vehikel sein, über das die ehrenamtliche Arbeit wieder neues Prestige und neue Funktionen erhält. Die Alten könnten uns helfen, die Fixierungen einer Erwerbsgesellschaft aufzulösen, die alle Werte nur vom Geld abhängig macht. Der alte Mitbürger hat seinen Sitz im Leben. Er darf nicht in die Ecke gestellt oder gedrängt werden oder sich dort selber verstecken. Es ist auch ein Zwang zur Lebenslüge, wenn Alte erst ernstgenommen werden, wenn sie sich als Junge tarnen. Laßt die Alten alt sein! Wenn Oma und Opa wieder mehr zu sagen haben, brauchen wir vielleicht weniger Sozialarbeiter. ({33}) Wir brauchen die Lebenserfahrung der Alten in Parlament, Gewerkschaften, Vereinen und in den Familien. Eine Politik, die aus Erfahrung gespeist wird, ist gegen Lebensferne und -fremdheit besser gefeit als eine Politik, die ihre Weisheiten aus abstrakten Theorien schöpft. Die Aufwertung des Alters könnte mit einer Aufwertung der Erfahrung verbunden werden. ({34})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich sagen: Es ist nicht auszuschließen, daß die heutige Plenarsitzung etwas länger dauert, als wir uns das Vizepräsident Westphal ursprünglich vorgenommen hatten. Sie kennen die Gründe dafür. Ich möchte Sie deshalb auf die Flugmöglichkeiten hinweisen. Näheres wird über die Rufanlage des Hauses bekanntgegeben. Das Wort hat nun der Abgeordnete Lutz.

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich hatte mir diesmal vorgenommen, Ihnen geduldig zuzuhören, weil ich glaubte, ich bekäme von Ihnen ein paar Informationen. Die habe ich nicht bekommen, und gleichwohl haben Sie an meinem geduldigen Zuhören Anstoß genommen. Sie haben mich gerügt, weil ich abfällige Handbewegungen gemacht hätte. Ich verspreche Ihnen: Bei der nächsten Rede werde ich mein Gesicht versteinern, damit Sie keinerlei Anstoß nehmen können. ({0}) Sie haben, Herr Minister, soeben wieder unter Beweis gestellt, daß Sie auch als Entertainer Ihr Brot verdienen könnten. Könnten! Mein Kompliment. Ihre Zungenfertigkeit ist beachtlich. Nur, leider werden Sie dafür nicht bezahlt. ({1}) Die Bundesrepublik gibt Ihnen nicht deshalb ein fürstlich Salär; sie erwartet, daß Sie die notwendigen Dimensionen des Sozialstaats in unserem Lande in schwierigen Zeiten nicht nur in Reden, sondern auch durch politisches Handeln aufzeigen. Das wäre Ihre Aufgabe. Dazu habe ich jetzt im Zusammenhang mit dem Vorruhestand außer ein paar Platitüden nichts gehört. Das können wir auch. Sie werden gelöhnt, um Klarheit und Wahrheit zu verbreiten. Man erhofft von Ihnen keine Unterhaltungswerte, sondern das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Engagement für die Schwachen. Wenn ich mich recht erinnere, war es Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann, der einmal gesagt hat, der Rechtsstaat sei dazu da, die Großen zu bändigen und den kleinen Leuten zu helfen, damit für sie Gerechtigkeit entstehe. Sie verwesen ein klassisches Ressort, in dem sich die Problematik von Recht, Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich geradezu bündeln müßte. Aber leider versuchen Sie, mit heiteren Kalauern die Problematik Ihrer Aufgabe zu vertuschen. Wenn es geht, starten Sie sogar, wenn es Ihnen recht ist, den Versuch, den Deutschen Bundestag hinters Licht zu führen. ({2}) - Ich will Ihnen das gleich beweisen, Herr Faltlhauser. Die Drucksache mit dem Entwurf Ihres Vorruhestandsgesetzes liegt uns vor. Für flüchtige Abgeordnete gibt es ein Vorblatt, das die wesentlichen Dinge Ihres Vorhabens eigentlich darstellen sollte. Ich habe das Vorblatt gelesen ({3}) und komme nicht umhin, Herr Blüm, Sie der Informationsverschmutzung zu zeihen. ({4}) Zu Ihrem Gesetzentwurf, so behaupten Sie im Vorblatt forsch, gebe es keine Alternative. ({5}) Dabei wissen Sie sehr wohl, Herr Blüm, daß die SPD-Bundestagsfraktion schon vor vielen Monaten dem Bundestag ein Vorruhestandsgesetz zugeleitet hat. ({6}) Es hat sogar den Prüfstand eines Anhörungsverfahrens überstanden, und zwar mit Bravour. ({7}) Dann behaupten Sie keck in dem Vorblatt, Ihre Kopfgeburt habe keine Alternative. ({8}) - Wollen wir es einmal bei „Kopfgeburt" lassen. Das Gesetz ist nicht sehr schön; es ist halt ein Blümsches Gesetz. Herr Minister, Sie konnten gar nicht irren, als Sie dem Parlament per Vorblatt eine Fehlinformation untergeschoben haben. Es macht bei Ihrer Regierung keinen Sinn mehr, sich darüber aufzuregen. Die neuen Maßstäbe von Anstand und Redlichkeit, die wir heute früh alle eindrücklich vorgeführt bekommen haben, sind meine nicht, auch nicht die meiner Fraktion. ({9}) Wir halten es da lieber mit der altmodischen Methode von Anstand und Redlichkeit. Wir meinen, daß immer mehr Bürger begreifen werden, daß unsere Republik einem Kartell von Scharlatanen, von Stellvertretern anderer Interessen, mitunter auch von Plaudertaschen, wie wir es gerade gehört haben, ausgeliefert worden ist. ({10}) Ich komme damit zum Gesetzentwurf als solchem. Sie selbst bezeichnen ihn, Herr Minister, als Alternative zur Forderung der Gewerkschaften nach der 35-Stunden-Woche. Sie versuchen damit in Wort und Tat, die Tarifautonomie auszuhebeln. Sie wollen die 35-Stunden-Woche gegen das Blümsche Modellchen eines Vorruhestands setzen, ({11}) das zwar Gesetz werden könnte - die Mehrheit dazu werden Sie zwar haben; das vermute ich -, das aber nur dann Wirklichkeit wird, wenn diese unsere Republik einem kollektiven Schwachsinn der Tarifvertragsparteien anheimfiele, was nicht geschehen wird. Ich will den Vorwurf begründen. Erstens kann keine Gewerkschaft einer Vorruhestandsregelung zustimmen, die zu Lasten der Staatskasse und auf Kosten der Arbeitnehmer die normalerweise fälligen Sozialplankosten minimiert. ({12}) Zweitens kann keine Gewerkschaft Ihre Idee nachvollziehen, derzufolge der Unternehmer lediglich treuherzig zu behaupten hat, für den ausgeschiedenen Arbeitnehmer sei ein anderer eingestellt worden. Falls das nicht so sei, habe man eben Pech gehabt, sagen Sie, Herr Minister. Sie sagen gleichzeitig, daß die Erklärung der Arbeitgeber vermutlich zu 50 % nicht eingehalten würde. Ich finde es schon sonderbar, wenn in einem Gesetzentwurf bereits die Aushebelung desselben einkalkuliert wird. Aber auch das ist vielleicht die neue Norm von Klarheit und Wahrheit - Herr Minister, es ist die unsere nicht. Drittens kann keine Gewerkschaft einer Vorruhestandsregelung zustimmen, die letztlich zu Lasten der Vorruheständler geht. Es ist Ihnen nicht möglich gewesen - oder Sie haben es auch nie gewollt -, den Arbeitnehmer, der Ihr Gesetz in Anspruch nimmt, einen Abschlag von der Altersrente zu ersparen. Genau das aber haben wir vermieden. Wir wollen dem Arbeitnehmer, der sich zum Vorruhestand entschließt, ein würdiges Alter garantieren. ({13}) - Was schreien Sie denn schon wieder. Wir wollen doch über die Sache reden. Da müssen wir doch nicht schreien. Was soll das? Ihr Gesetz wird letztendlich, meine ich, dazu führen, daß unsere Älteren in den finanziell abgestuften Vorruhestand geprügelt werden. Ihre Truppe, Herr Blüm, hat in der „Sozialen Ordnung" die Forderung erhoben, beim Vorruhestandsgeld dürfe nicht gespart werden. - Wir haben das in unserem Gesetzentwurf beherzigt; aber Sie haben mit Herrn Stoltenberg gemeinsam den Vorruhestand für den öffentlichen Dienst gekillt und zudem dafür gesorgt, daß Ihr Vorruhestandsgesetzchen zur Farce verkommen ist. ({14}) Viertens kann keine Gewerkschaft Ihren schlitzohrigen Versuch, die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit gegen eine so vage Vorruhestandsregelung einzutauschen, nachvollziehen. ({15}) Ihre Strategie macht keinen Sinn. Sie hätten sehr viel beherzter weiter bei unserem Gesetzentwurf abkupfern sollen, hätten ihn nachvollziehen sollen. ({16}) Sie behaupten, Ihr Vorruhestandsentwurf sei beschäftigungspolitisch motiviert. Aber ich glaube, genau das ist eben nicht der Fall, Herr Blüm; ({17}) denn die Frage lautet: Wie wollen Sie, wenn 50 % der Arbeitnehmer, die in den Vorruhestand gehen, nach Ihrem Entwurf nicht ersetzt werden, eine beschäftigungspolitische Wirkung behaupten können? Sie sagen doch selber, es werde zur Hälfte nichts passieren. ({18}) Wer in der augenblicklichen beschäftigungspolitischen Situation gegensteuern will, muß bei allen seinen Schritten die Wirkung bedenken. Alle Wissenschaftler teilen uns mit, daß über das Wachstum allein ein rascher Abbau von Arbeitslosigkeit nicht möglich sei, noch nicht einmal ein langsamer; denn der würde wirtschaftliche Zuwachsraten in der Größenordnung von 4 % und mehr bedingen. Kein Mensch glaubt, daß die in absehbarer Zeit zu erreichen wären, noch nicht einmal die Prognostiker, die fünf Weisen, die sich gelegentlich schon einmal in euphorischen Prämissen ergehen. ({19}) Wenn also wirklich etwas geschehen soll, damit die Zahl derer, die Arbeit haben, nicht weiter schrumpft, und die Zahl jener, deren Arbeitszeit auf Null reduziert wird, nicht ständig ansteigt, dann muß man auf vielen Feldern Arbeitszeit verkürzen. Wir als SPD-Fraktion haben das schon vor Jahren erkannt und die Instrumente entwickelt, die mit Fug vom Staat erwartet werden können. ({20}) - Wenn Sie einmal zuhörten und sich mit der Arbeitsmarktlage beschäftigten, könnten wir ein Gespräch führen. Das ist aber leider bei Ihnen nicht möglich. ({21}) Wir haben Ihnen ein Arbeitszeitgesetz vorgelegt, das die wöchentliche Arbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt, die Möglichkeit, darüber hinaus Überstunden zu machen, drastisch reduziert, die Beschwernisse für Schichtarbeiter durch Freizeitausgleich mildert ({22}) und damit geradezu auf klassische Weise das tarifpolitische Mühen von Staats wegen flankiert. Wir haben ein Vorruhestandsrecht entwickelt und uns bemüht, eine faire Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu erreichen. Wir haben die Interessen des Staates und der Tarifvertragsparteien sorgfältig gegeneinander abgewogen. Uns war noch bewußt, daß jede Vorruhestandsregelung nicht zu Lasten der Vorruheständler gehen darf. Das alles hat der Minister für Arbeit und Soziales über Bord geworfen. Er hat eine neue Überschrift gefunden. Sie lautet: „Gesetz zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand" - wie schön. Das Gesetz läuft darauf hinaus, den Staat und die Vorruheständler in Anspruch zu nehmen, um die Betriebe von den Kosten der Sozialpläne zu entlasten. Mein Kollege Heyenn wird Ihnen Ihr Machwerk noch um die Ohren schlagen. ({23}) Ich beschränke mich auf die Feststellung, daß der Herr Minister wieder eine Wunderkerze angezündet hat. Sie sprüht Funken, und dann ist nichts mehr. Schlimmer noch: Ein übles Ding wird nachgeschoben. Dieses üble Ding ist Ihre neue 59er Regelung. Sie wird das Haus, wie ich höre, in der nächsten Woche beschäftigen, und sie läuft im Klartext darauf hinaus, die 59er Regelung so teuer zu machen, daß sich kein Unternehmen mehr dieser Möglichkeit der Vorruhestandsregelung bedienen wird. ({24}) Die Weisheit, die hinter Ihrem Handeln steht, vermag ich nicht zu begreifen. ({25}) - Herr Jagoda, ich vermag auch Ihre Erregung nicht zu begreifen. Ich finde, daß Sie in der jetzigen Situation beschäftigungspolitisch mit dieser 59er Regelung wirklich Unsinn produzieren.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jagoda?

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Bernhard Jagoda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001009, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Lutz, da Sie hier behaupten, daß die Betriebe die 59er Regelung nicht mehr in Anspruch nehmen können, frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß der Gesetzgeber die 59er Regelung nicht geschaffen hat, damit sie von Großbetrieben benutzt wird, sondern daß er sie für Arbeitnehmer geschaffen hat, die das Pech hatten, mit 59 Jahren arbeitslos zu sein, um dann mit 60 Jahren in den Ruhestand zu gehen? ({0})

Egon Lutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001399, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Jagoda, es ist nicht zu bestreiten, daß das unsere Intention war. Mittlerweile ist das dazu verkommen, ({0}) daß die Großbetriebe in der Tat die 59jährigen in den Vorruhestand schicken. Wenn Sie das jetzt unterbinden, erreichen Sie, daß mehr Arbeitslosigkeit bei den jungen Leuten entsteht. ({1}) Ich frage Sie, ob das in der jetzigen Situation vernünftig ist. Man kann so etwas in anderen beschäftigungspolitischen Zeiten korrigieren. Es ist barer Unsinn, es jetzt zu korrigieren. ({2}) Weil es Unsinn ist, hat sich Herr Blüm das zu eigen gemacht - er macht das häufig - und wird es in Gesetzesform gießen. ({3}) Die Vorruhestandsregelung, die Sie in die parlamentarische Beratung einbringen wollen, diesen Wechselbalg der 59er Regelung, den Sie uns in der nächsten Woche unterschieben wollen, löst, meine ich, keines der drängenden beschäftigungspolitische Probleme. Auch Ihr Bestreben, den Jugendarbeitsschutz zu verbösern, das Arbeitsrecht für Schwerbehinderte auszuhebeln und eine ganze Reihe weiterer Arbeitsschutzbestimmungen zu kippen, kann von uns nicht als Schritt in die richtige Richtung empfunden werden. ({4}) Im Gegenteil, Sie müssen mit unserem erbitterten Widerstand rechnen, wenn sie auf diesem Wege fortfahren, mit heiterem Gesicht und flinker Zunge den Sozialstaat öffentlich hinzurichten trachten. Wir kämpfen um jede Form von Arbeitszeitverkürzung, ({5}) einmal mit dem Arbeitszeitgesetz, zum anderen mit einem vernünftigen Vorruhestandsgesetz, das von den Tarifvertragsparteien auch praktikabel gemacht werden kann. Herr Minister, wir würden Sie gern unserer Sachkunde teilhaftig werden lassen, ({6}) weil wir immer noch hoffen, daß der Gewerkschaftler Blüm seine Rolle nicht gerade darin begreift, gegen die Politik seiner Gewerkschaft Sturm zu laufen. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller ({0}).

Adolf Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lutz, mir wäre es lieber gewesen, ({0}) Sie hätten heute morgen das ehrliche Bemühen anerkannt, auf einem Gebiet flankierende Maßnahmen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu ergreifen, anstatt es in Grund und Boden zu verdammen. Ich komme im Laufe meiner Rede noch darauf zurück. Müller ({1}) Die Fraktion der CDU/CSU nimmt mit großer Genugtuung zur Kenntnis, daß die Bundesregierung nach intensiven Vorarbeiten und Kontakten mit den Sozialpartnern ihre im Mai 1983 in der Regierungserklärung von Helmut Kohl umrissenen allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Leitlinien noch vor der entscheidenden Tarifrunde 1984 in einem Gesetzentwurf zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand konkretisiert hat. Wir werten das geplante Vorruhestandsgesetz als ein seriöses, an die Sozialpartner gerichtetes Angebot zu einem umfassenden Solidarpakt, der die wirtschaftspolitischen und arbeitsmarktpolitischen Interessen beider Seiten genügend berücksichtigt. Der vorgesehene Zuschuß der Bundesanstalt für Arbeit trägt auch der Mitverantwortung des Staates für die Entwicklung des Arbeitsmarktes Rechnung. Die Vorruhestandsregelung bildet aber nur den ausfüllungs- und verbesserungsfähigen Rahmen einer konkreten Tarifvereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, ({2}) die sich von dem gemeinsamen Streben nach sozialem Ausgleich und einem tragfähigen Kompromiß leiten lassen. Der Gesetzentwurf will lediglich Mindestbedingungen setzen, an deren Erfüllung die Zahlung des staatlichen Zuschusses geknüpft ist. Die CDU/CSU erwartet, daß die Tarifpartner kollektive Abreden treffen, die die Leistungen zugunsten des ausscheidenden Arbeitnehmers verbessern. Das vorliegende Angebot der Bundesregierung ist darüber hinaus das Ergebnis einer realitätsbezogenen Analyse der aktuellen und mittelfristig voraussehbaren Entwicklung des Wirtschaftswachstums und des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik. Der Gesetzentwurf nimmt - anders als der Gesetzentwurf der Sozialdemokraten - auf die begrenzten finanziellen Mittel der öffentlichen Hand Rücksicht. Er trägt auch der immer noch labilen Verfassung der deutschen Wirtschaft Rechnung, die vor den schädlichen Folgen einer drastischen Kostensteigerung bewahrt bleiben muß. Für die Fraktion der CDU/CSU ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit die zentrale Aufgabe der Sozial- und Gesellschaftspolitik der 80er Jahre. Im Einklang mit dieser auch von Bundeskanzler Helmut Kohl vorrangig verfolgten Zielsetzung sehen wir in der Arbeitslosigkeit nicht nur ein wirtschaftliches Problem, wir erkennen sie als eine umfassende Herausforderung für die humanitäre Qualität unserer Industriegesellschaft. Niemand in der Union denkt deshalb daran, die Arbeitslosen ihrem Schicksal zu überlassen und nur naiv auf die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft zu vertrauen. Ein solches passives Zuwarten stünde auch in einem krassen Gegensatz zu unseren sozialen Grundüberzeugungen. Wir haben den Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mitgeschaffen und weiter ausgebaut. Deshalb bekennen wir uns vorbehaltlos zu seinen sozialethischen Verpflichtungen. Die von uns in nur 15 Monaten wieder auf eine solide wirtschaftliche und finanzielle Grundlage gestellte Sozial- und Gesellschaftspolitik steht, trotz gewandelter wirtschaftlicher und demographischer Bedingungen, nach wie vor unter dem Postulat des Ausgleichs sozialer Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte. Nach unserem Grundwerteverständnis muß eine moderne und leistungsfähige Sozialpolitik immer gestaltende Elemente des solidarischen Ausgleichs zugunsten sozial Schwacher und Hilfsbedürftiger durch eine angemessene Belastung und Inpflichtnahme der finanziell und wirtschaftlich Starken und Leistungsfähigen enthalten. In Zeiten einer hohen durch schwierige und langwierige Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft verfestigten Arbeitslosigkeit sind alle am Wirtschaftsprozeß beteiligten gesellschaftlichen oder staatlichen Einrichtungen in die Pflicht genommen. Die Pflicht zum solidarischen Ausgleich trifft zunächst den Staat bei der Ausgestaltung seiner Sozialgesetzgebung. Sie erfaßt daneben die Sozialpartner bei der Vereinbarung der kollektiven Arbeitsbedingungen. Sie gilt schließlich auch für den einzelnen Arbeitnehmer, vor allem, was das Verhältnis von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsplatzsuchenden angeht. Das Vorruhestandsmodell der Bundesregierung als Teil einer arbeitsmarktpolitischen Gesamtstrategie steht im Einklang mit der zutreffenden Grundannahme, daß wir ein möglichst kräftiges Wirtschaftswachstum als notwendige Voraussetzung für die mittelfristige Überwindung unserer Beschäftigungskrise benötigen. Wachstum, qualitatives und quantitatives Wirtschaftswachstum, ist eine unverzichtbare, doch leider keineswegs ausreichende Bedingung für eine schrittweise Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungsstandes. Wir verschließen uns nicht der durch praktische Erfahrungswerte und wissenschaftliche Analysen erhärteten Erkenntnis, daß unter den tiefgreifend veränderten weltwirtschaftlichen und binnenwirtschaftlichen Bedingungen Wachstum alleine nicht mehr ausreicht, um allen Arbeitslosen wieder einen Dauerarbeitsplatz zu verschaffen. An der Notwendigkeit einer vernünftigen Arbeitszeitverkürzung geht gegenwärtig kein Weg vorbei. Wie aber soll eine pragmatische Sozial- und Gesellschaftspolitik, die auf wirtschaftliche Notwendigkeiten Rücksicht nimmt, auf diese Herausforderung konkret reagieren? Kein dem Gedanken der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit verpflichteter Politiker kann Trost in der Aussicht finden, daß Ende der 80er Jahre aus demographischen Gründen ein Umschwung auf dem Arbeitsmarkt bevorsteht. ({3}) Wer unter Hinweis auf diese Entwicklung zum Nichtstun rät, offenbart vor allem Gleichgültigkeit gegenüber Millionen betroffener Arbeitnehmer, deMüller ({4}) nen die Arbeitslosigkeit eine schwere finanzielle und psychische Last aufbürdet. Den Betroffenen, vor allem den jungen Leuten, die derzeit ohne Beschäftigung sind, muß jetzt geholfen werden. ({5}) Die Mehrheit der Wirtschafts- und Arbeitsmarktexperten rät zu einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit, weil man sich von dieser Spielart der Arbeitszeitverkürzung den zahlenmäßig größten und dauerhaftesten arbeitsmarktpolitischen Entlastungseffekt erhofft. Diese Form der Arbeitszeitverkürzung kann überdies der Zustimmung der großen Mehrheit der Arbeitnehmer sicher sein. ({6}) Die Arbeitnehmer begreifen die Verkürzung der Lebensarbeitszeit neben den segensreichen arbeitsmarktpolitischen Wirkungen mit Recht als einen willkommenen Beitrag zur Humanisierung des Arbeitslebens. Alle seriösen Meinungsumfragen signalisieren uns: die Verkürzung der Lebensarbeitszeit ist vor allem bei älteren Arbeitnehmern, für die die Last eines langen Arbeitslebens mit den Jahren immer drückender wird, besonders populär. Es kann daher nicht überraschen, daß auch mehrere Gewerkschaften in Kenntnis der Stimmungslage ihrer Mitglieder bei nüchterner Abwägung der Chancen und Risiken jeder der konkurrierenden Formen der Arbeitszeitverkürzungen der Verkürzung der Lebensarbeitszeit den Vorrang vor einer Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich geben wollen. ({7}) Angesichts dieser eindeutigen Ausgangslage hielt sich die Bundesregierung zu Recht gefordert, ein von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragenes Angebot zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit als Beitrag zur Milderung des Beschäftigungsproblems zu unterbreiten. Dürfte man allein auf den arbeitsmarktpolitischen Entlastungseffekt abstellen, erschiene eine Absenkung der flexiblen Altersgrenze in der Rentenversicherung auf mindestens 60 Jahre als besonders wirksames Instrument zu Lösung des Problems; denn eine Änderung des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung käme mit einem Schlag rund 320 000 Arbeitnehmern zugute. Dieser bei vordergründiger Betrachtung naheliegende Weg ist aber durch die angespannte Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung leider verschlossen. Gegenwärtig und in absehbarer Zeit dürfen der Rentenversicherung keine zusätzlichen finanziellen Leistungen aufgebürdet werden. Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit muß für die Rentenversicherung kostenneutral sein. Selbst eine mit versicherungsmathematischen Abschlägen erkaufte Senkung der flexiblen Altersgrenze ist wegen der aktuellen Liquiditätsprobleme der Rentenversicherung zur Zeit nicht zu verwirklichen. Zur Abrundung des Bildes muß ehrlicherweise hinzugefügt werden: bei einem freiwilligen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und einem Eingehen in die Rente bereits mit 60 Jahren müßte die Rente mit versicherungsmathematischen Abschlägen um 21 % gekürzt werden. Diesen finanziellen Aderlaß können sich aber nur wenige Arbeitnehmer leisten, deren Grundversorgung mit einer zusätzlichen betrieblichen oder individuellen Altersversorgung aufgestockt wird. Der Beharrlichkeit des Bundesarbeitsministers ist es maßgeblich zu verdanken, daß die Bundesregierung jetzt und in den kommenden fünf Jahren einer besonders schutzbedürftigen Gruppe älterer Arbeitnehmer eine attraktive Alternative zur Absenkung der flexiblen Altersgrenze angeboten hat. Der nun vorliegende Entwurf eines Rahmengesetzes sichert den begünstigten älteren Arbeitnehmern die segensreichen Wirkungen einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit und bewahrt zugleich die gesetzliche Rentenversicherung vor unzumutbaren finanziellen Lasten. Das mutige Experiment, auf unkonventionelle Weise den Zielkonflikt zwischen arbeitsmarktpolitischer Entlastung und rentenpolitischer Kostenneutralität aufzulösen, wird jedoch nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Tarifvertragsparteien den ihnen zugedachten Part in gesamtwirtschaftlich verantwortlicher Weise mitspielen. ({8}) Ich glaube, es könnte sich als hilfreich erweisen, daß bei dem Grundgedanken des Vorruhestandsgesetzes das von der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten entwickelte Modell einer sogenannten Tarifrente Pate gestanden hat. Der Gesetzgeber folgt hier der Erkenntnis, daß der Staat aus eigener Kraft, d. h. allein die schwierigen strukturellen Arbeitsmarktprobleme nicht bewältigen kann. Die freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft bedarf zu ihrer Funktionsfähigkeit gerade in Krisenzeiten der aktiven Mitwirkung aller gesellschaftlichen Kräfte. Besonders den Sozialpartnern ist mit der Tarifautonomie ein wichtiges sozialpolitisches Gestaltungsmittel an die Hand gegeben. Sie tragen in besonderem Maße Mitverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung und das Schicksal des Arbeitsmarktes. Die deutschen Gewerkschaften haben in der Krise bisher genügend Beweise ihres gesamtwirtschaftlichen Verantwortungsbewußtseins erbracht. Die maßvollen Tarifabschlüsse der letzten Jahre, insbesondere die Ergebnisse der Lohnrunde 1983, sprechen für sich. Sie legen Zeugnis für die tarifpolitische Einsicht ab, daß in wirtschaftlichen Krisenzeiten auch für den Arbeitnehmer begrenzte lohnpolitische Opfer nicht zu vermeiden sind. Dieses frühere Verhalten der Sozialpartner gibt also Anlaß zu der Hoffnung, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften auch in diesem Jahr, in dem die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland an einem konjunkturellen Wendepunkt steht, ihren konstruktiven Beitrag zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise leisten werden. Wenn die Repräsentanten der Sozialpartner in der aktuellen tarifpolitischen Auseinandersetzung auch manchmal den Eindruck erwecken, als sei ein Müller ({9}) Arbeitskampf unvermeidbar, weil sich keiner kompromißbereit zeigt, so vertraue ich doch auf den Realitätssinn der Verantwortlichen. Denn keiner Seite kann daran gelegen sein, am Ende vor einem tarifpolitischen Scherbenhaufen zu stehen. Leidtragende eines langwierigen Arbeitskampfes, der das zarte Pflänzchen einer allmählich in Gang kommenden wirtschaftlichen Erholung auf breiter Front mit Sicherheit zerstören würde, wären immer die Mitglieder beider Kontrahenten. Einen Pyrrhussieg am Ende eines langen destruktiven Arbeitskampfes können weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer wünschen. Selbst auf die Gefahr hin, der tarifpolitischen Einmischung geziehen zu werden, Kollege Lutz, mache ich keinen Hehl aus meiner Präferenz für eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit, so wie sie für begrenzte Zeit und für einen genau abgegrenzten Personenkreis unter Wahrung der Interessen der mittelständischen Betriebe mit der Vorruhestandsregelung der Bundesregierung angeboten wird. Ausschließlich diese Form der Arbeitszeitverkürzung schafft durch die bedingte Gewährung eines öffentlichen Zuschusses einen massiven Anreiz zur Wiederbesetzung des durch Ausscheiden eines älteren Arbeitnehmers freigewordenen Arbeitsplatzes. Bei keinem anderen Modell der Arbeitszeitverkürzung tritt die solidarische Verbundenheit zwischen den Generationen, also zwischen den jüngeren Arbeitsuchenden und den älteren Arbeitsplatzbesitzern deutlicher zutage. Aus ehrlicher Sorge um die arbeitsmarktpolitisch schädlichen Wirkungen einer Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich warne ich vor übertriebenen arbeitsmarktpolitischen Erwartungen, die mit der Einführung der 35Stunden-Woche verknüpft werden. Sie könnten sich sehr bald als gefährliche Illusion erweisen. Was Großbetriebe organisatorisch noch relativ problemlos verkraften könnten, würde in Klein- und Mittelbetrieben arbeitsmarktpolitisch schädliche Wirkungen auslösen. Arbeitszeitverkürzungen werden diese Betriebe mit Sicherheit zu forcierten Rationalisierungen zwingen, wobei die Gefahr des Verlustes weiterer Arbeitsplätze besteht. ({10}) Dort, wo sich Betriebe im Grenzbereich der Rentabilität bewegen, ({11}) kann ein drastischer Kostenanstieg auf Grund einer massiven Wochenarbeitszeitverkürzung sogar existenzgefährdend wirken, und zwar existenzgefährdend für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Unternehmer zahlt mit dem Verlust seines Risikokapitals, der Arbeitnehmer verliert seinen Arbeitsplatz. Daß diese Gefahr überaus realistisch ist, beweist die erschreckende Statistik der Unternehmenszusammenbrüche der letzten Jahre, die erst in jüngster Zeit eine Tendenz zur Besserung erkennen läßt. ({12}) Meine Damen und Herren, wie weit müssen sich einzelne Gewerkschaftsfunktionäre von den Interessen der Basis entfernt haben, daß sie diese Zusammenhänge schlicht leugnen oder als unerheblich abtun, die anstehende Tarifrunde zu einer politischen Auseinandersetzung hochstilisieren und den Anschein erwecken, als ginge es um Sein oder Nichtsein der Gewerkschaften! ({13}) Diese Propagandisten des Klassenkampfes sind innerhalb der Gewerkschaften zum Glück nur eine Minderheit. ({14}) Ihre Lautstärke soll vor allem den geringen Rückhalt bei den organisierten Arbeitnehmern überspielen. Am Ende - dessen bin ich gewiß - werden sich die praktische Vernunft und der Realitätssinn der Mehrheit durchsetzen. Die vorliegende Ruhestandsregelung der Bundesregierung kann einen wichtigen Impuls zur Entkrampfung der tarifpolitischen Auseinandersetzung geben. Je intensiver die Tarifvertragsparteien bzw. einzelne Unternehmen und Arbeitnehmer von dem Angebot des Gesetzgebers Gebrauch machen, sich kollektivrechtlich oder durch Einzelarbeitsvertrag an der Vorruhestandsregelung zu beteiligen, desto nachhaltiger wird die Entlastungswirkung auf dem Arbeitsmarkt sein. Die insgesamt gesehen positive Reaktion von fünf Einzelgewerkschaften und die Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeberseite stimmen hoffnungsfroh, daß das Experiment eines Beschäftigungspaktes von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften zum Wohl von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsuchenden gelingen wird. ({15}) - Jawohl, das ist der Wunsch. ({16}) Die CDU/CSU wird ihren Beitrag zu einer zügigen Beratung der Vorlage leisten, ({17}) damit sie noch vor der Osterpause verabschiedet werden kann. Wir werden auch, meine Damen und Herren, intensiv darüber nachdenken, ob sich die Attraktivität des Gesetzes durch Verbesserung im Detail bei Wahrung der haushaltspolitischen Seriosität noch erhöhen läßt. Ich danke ihnen. ({18})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand ist nach unserer Meinung in verschiedener Hinsicht wenig geeignet, eine Antwort auf die drängenden Probleme unserer Gesellschaft zu geben. Vielmehr erschwert er eher noch den Überblick über die Fülle von Vorschlägen, Anregungen und Gesetzentwürfen, die zur Bewältigung des gesamten Komplexes der Arbeitslosigkeit bis jetzt schon vorgelegt worden sind. Wenn wir GRÜNEN von Ruhestand reden oder wenn das ins Spiel gebracht wird, dann gehen wir von zwei wichtigen Bedingungen aus. Das eine ist die menschliche Seite, ist die Situation, wie wir sie in der Arbeitswelt vorfinden, ist die Art und Weise, wie wir mit immer unzumutbarer werdenden Zuständen, mit Zumutungen industrieller Wirklichkeit konfrontiert werden. Erst das zweite ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die uns anregen kann, verschiedene Maßnahmen zu ergreifen. Ich denke, daß das erste, die Situation in der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer, die gewichtigere Frage ist. Ich möchte sie nur ganz kurz dahin charakterisieren: 1962 sind von fünf Arbeitnehmern mehr als vier - statistisch - mit 65 Jahren in die Rente gegangen; 1983 war es von fünf Arbeitnehmern noch nicht einmal einer, der mit 65 Jahren in Rente ging. Die anderen sind vorher aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden und mußten ihren Arbeitsplatz zur Hälfte als Invaliden verlassen. ({0}) - Herr George, nicht ich habe diese Zahlen recherchiert, sondern die Zahlen stammen aus Untersuchungen. ({1}) - Ich bin j a noch gar nicht fertig, und ich habe noch gar keinen Schluß gezogen. Sie müssen erst einmal zuhören. 76,8% der Männer scheiden vor dem 63. Lebensjahr aus dem Arbeitsleben aus, und bei den Frauen sieht es nicht viel besser aus. Nach meinen Erfahrungen bezüglich der Stimmung in den Betrieben - Sie wissen, daß ich noch ein oder zwei Tage im Monat als Schlosser bei Daimler-Benz arbeite und direkten Kontakt habe - sind auch in der jetzigen Situation die Kollegen überwiegend der Meinung, daß die Altersgrenze generell herabgesetzt werden muß und nicht zeitlich begrenzt sein sollte. Sobald die Kollegen das 55. Lebensjahr erreicht haben, denken sie nur noch daran, wie sie möglichst schnell den Belastungen zu erträglichen Bedingungen entrinnen können. Die Tatsache, daß der vorliegende Entwurf nur eine zeitlich begrenzte Verrentung vorsieht, macht ihn nicht zu einem menschlichen Entwurf. Herr Blüm, dieser Entwurf stellt nicht den Menschen in den Mittelpunkt; hier macht sich bemerkbar, daß der Politiker den Gesetzentwurf geschrieben hat, denn hier wird der Mensch sozusagen zur Schachfigur auf dem Brett der Arbeitsmarktpolitik. Ich glaube, daß wir uns energisch davon absetzen müssen. Wir treten für eine Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze auf 58 Jahre zu zumutbaren Bedingungen ein. ({2}) - Dazu komme ich nachher, Herr Jagoda. - Wir wollen die Grenze nach oben hin offenhalten, denn wir sind der Auffassung, daß diejenigen, die weiterarbeiten wollen, die Möglichkeit haben sollen, im Arbeitsprozeß zu bleiben. Der vorliegende Entwurf ist schon unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten unzureichend; denn wenn man die Verrentung ab dem 59. Lebensjahr ermöglicht, kommt man - selbst wenn man großzügig rechnet - nur auf nahezu 200 000 Entlastungsarbeitsplätze, während man über 200 000 Arbeitsplätze mehr schaffen kann, wenn man die Verrentung ab dem 58. Lebensjahr ermöglicht. Dem stehen 200 000 arbeitslose Jugendliche unter 20 Jahren gegenüber, und wenn wir noch diejenigen Arbeitslosen, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind, dazurechnen, dann sind es 550 000 Jugendliche. Selbst wenn man unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten an die Verrentung herangeht, müßte man die Verrentung statt ab dem 59. Lebensjahr schon ab dem 58. Lebensjahr ermöglichen. In dem von der CDU/CSU und der FDP vorgelegten Entwurf gibt es noch einige andere Pferdefüße, auf die ich kurz eingehen möchte. Ich möchte zunächst auf die miesen materiellen Bedingungen zu sprechen kommen. Die Kollegen in den Betrieben empfinden es einfach als unzumutbar, daß nur 65% des Bruttogehalts gezahlt werden. Dieser Prozentsatz wird hier zwar als Mindestbedingung dargestellt, aber die Erfahrungen zeigen, daß solche einmal festgesetzten Mindestbedingungen sozusagen als Marge dienen, über die man nicht wesentlich hinausgehen kann. ({3}) Ich nenne einen zweiten Gesichtspunkt: Wenn jemand in Rente geht, werden die Rentenbeiträge nicht auf der Grundlage des jeweiligen Bruttolohnes berechnet, sondern sie werden auf der Grundlage des nach Ihrem Entwurf auf 65 % herabgesetzten Vorruhestandsgeldes berechnet, was noch einmal zu einer Absenkung der Rente im allgemeinen führt. Das trägt aber auch zu einer Absenkung des Rentenniveaus insgesamt bei. Darüber müssen wir uns auch im klaren sein; das wurde hier noch gar nicht gesagt. Es ist weiter festzuhalten, daß in dem Entwurf kein gesetzlicher Anspruch auf das Vorruhestandsgeld und auf die Verrentung enthalten, sondern dies an die Zustimmung des Arbeitgebers und der Tarifpartner gebunden ist, was ein wesentlicher Mangel gegenüber unseren Vorschlägen einer generellen Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze von 63 Jahren auf 58 Jahre mit gesetzlicher Garantie ist. Ein weiteres Moment ist, daß in dem Entwurf versteckte Subventionen für die Unternehmer stekken. Zwar heißt es in dem Entwurf, daß der Unternehmer den Zuschuß von 40 % vom Bund nur dann bekommt, wenn er jemanden wieder einstelle; aber er muß ihn nur für zwei Jahre einstellen, den Anspruch auf den Zuschuß hat er dagegen für maximal sechs Jahre, wenn sich jemand mit 59 Jahren verrenten läßt und erst mit 65 Jahren in die ordentliche Rente geht. Das ist ein versteckter Zuschuß. Zusammenfassend möchte ich sagen: Dieser vorgelegte Entwurf ist so schlecht, daß die 59er Regelung immer noch besser ist. Die Regierung will sogar die 59er Regelung, die gewiß ihre Pferdefüße hat, abschaffen. ({4}) - Ich gebe Ihnen in der Frage durchaus recht. Die großen Betriebe können hierdurch Leute auf Kosten der Allgemeinheit, auf Kosten der Arbeitslosenfonds entlassen. ({5}) - Natürlich mit Betriebsrat, das will ich Ihnen gerne zugestehen. Ihr vorgelegter Entwurf ist so schlecht, daß die vorhandene Regelung immer noch besser ist. Trotzdem wollen Sie die 59er Regelung sogar abschaffen. ({6}) Ich würde mit Ihnen gerne darüber reden, weil darin Dinge enthalten sind, die auch ich geändert haben möchte. Der vorliegende Entwurf hat, wenn man ihn untersucht, eher die Aufgabe, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß die Bundesregierung auch auf arbeitsmarktpolitischem Gebiet in die Offensive gehen will, daß sie etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun will. Und er hat natürlich generell die Aufgabe, als Alternative zur 35-Stunden-Woche, die Bundeskanzler Kohl als „törichte Forderung" bezeichnet hat, sozusagen ein Gegengewicht darzustellen. Wir sind in einer Situation, daß die Öffentlichkeit, daß die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, daß die Bürger zur Zeit mit verschiedensten Modellen der Arbeitszeitverkürzung, der Flexibilisierung der Änderung des Arbeitszeitgesetzes, der Arbeitszeitordnung, der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und vieler anderer Dinge konfrontiert werden, die es ihnen sehr schwer machen, sich durch diesen Dschungel von Vorstellungen und Vorschlägen durchzufinden. Ich glaube, daß das ein Problem ist, das für alle Fraktionen gilt. Die ernste gesellschaftliche Frage der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit dürfen wir nicht als ein Problem des Parteienkampfes sehen - daß eine Partei einen Vorschlag bringt und eine andere etwas dagegen setzt, um politisch davon zu profitieren -, sondern wir müssen dahin zielen, den Betroffenen wirklich zu helfen und Maßnahmen zu finden, die uns weiterbringen. ({7}) - Natürlich: und ob sie machbar sind. Ich stelle die Frage: Stimmt es denn wirklich, daß - nach Ihren Vorstellungen, Herr Blüm - die Arbeitsplatzvernichtung gestoppt wird, wenn die Alten aus den Betrieben früher herausgehen und Junge hereinkommen? Ist es nicht vielmehr so, daß wir den betrieblichen Ablauf und die heutige Produktion auf ein Tempo einstellen, das nur noch jüngere Arbeitnehmer leisten können und bei dem man sich als 50jähriger schon überflüssig vorkommt? Führt dieser Prozeß - wenn wir nur diesen Prozeß und nichts anderes ansehen -, den Sie hier einleiten wollen, nicht dazu, daß die Belastungen in den Betrieben noch größer werden und die Leute später nicht mit 59 oder 60 aus den Betrieben heraus müssen, sondern schon mit 55, weil sie kaputtgemacht werden? ({8}) Zweite Frage: Stimmt es denn wirklich - das richte ich an die Gewerkschaften und die Kollegen, die meinen, daß nur mit der 35-Stunden-Woche die Probleme zu lösen wären -, daß die 35-StundenWoche Arbeitsplätze in großem Maße schafft, wenn wir uns nur darauf verlassen, die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. Diese Frage stelle ich angesichts von Beispielen, die ich in Nordwürttemberg/Nordbaden bei dem Tarifvertrag von 1974 - dem Lohnrahmentarifvertrag 2 - selbst erlebt habe. 1974 wurde hier durch die Einführung von acht Minuten Pause pro Stunde die Arbeitszeit pro Tag um 64 Minuten herabgesetzt, so daß unsere Arbeitswoche im Akkordbereich seit 1974 nur noch 34,40 Stunden betragen hat. Alle begleitenden Untersuchungen - zuletzt auch die Studie von Sofi in Göttingen - zeigen, daß das keine zusätzlichen positiven Beschäftigungswirkungen gehabt hat, sondern daß das einen Rationalisierungsschub ausgelöst hat. Auch die Gewerkschaften - das muß man sagen - haben im großen und ganzen nichts dagegen unternommen. Sie haben nichts getan, um diesen Rationalisierungsschub aufzuhalten, sondern sie haben das abgedeckt - das kann ich aus eigener betrieblicher Erkenntnis sagen - durch Ortsverwaltung und Vorstände der Gewerkschaft, die zugestimmt haben, daß bei uns in dem Moment, als die 8-MinutenPause eingeführt wurde, die Akkordverrechnungsgrenze aufgehoben wurde, so daß dann in 52 Minuten genausoviel Stücke hergestellt werden konnten wie vorher in 60 Minuten. Ich frage: Was bedeutet ein solcher Vorgang für den Menschen, für den Arbeiter im Produktionsprozeß? Unter dem Strich hat er davon nichts. Bevor ich zu dem eigentlichen Problem, das sich daraus ergibt, komme, noch eines: Herr Blüm und andere sprechen von der Flexibilisierung des Arbeitslebens. Zu diesem ganzen Komplex ist ein Arbeitszeitentwurf in Arbeit. Er liegt in den Grundzügen vor und ist in der Presse schon vorgestellt worden. Man will die Flexibilisierung der Arbeitszeit so gestalten, daß die Arbeit mehr der Produktion, dem Produktionsablauf, angepaßt wird. Das bedeutet, daß man in den Wochen, in denen viel Arbeit ist, maximal bis an 60 Stunden herangehen kann und daß man in den Wochen, in denen wenig Arbeit ist, auf 30 Stunden heruntergehen kann, so daß letzten Endes eine fixierte Jahresarbeitszeit erreicht wird, die aber durch diese Art von Flexibilisierung der Arbeitszeit so maximal und so intensiv genutzt wird, daß dabei wiederum die Unternehmen den Profit haben und die Betroffenen, die Arbeiter, maximal ausgelaugt und früher sozusagen rentenfähig werden. Ich glaube, eine solche Art von Flexibilisierung, die zu einer weiteren Vernutzung von Arbeitskraft führt, ist abzulehnen. Das alles führt zentral auf einen Punkt hin, der uns an die Ursachen der Arbeitslosigkeit heranführt. Es kommt nicht nur darauf an, auf Fehlentwicklungen in der Produktion zu reagieren. Wenn dort höhere Belastungen entstehen, Belastungen, die durch Rationalisierungsprozesse entstanden sind, kann man das nicht laufenlassen und darauf nur mit Arbeitszeitverkürzungen antworten. Vielmehr kommt es - und das ist in diesem ganzen Bereich unser Anliegen, das Anliegen der GRÜNEN - auf die zentrale Frage der Belastungen im Arbeitsprozeß an. Dort müssen wir ansetzen und Veränderungen herbeiführen, um eine menschliche Arbeitswelt zu erreichen, die dann auch eine größere Gesundheit und Einsparungen in anderen Bereichen ermöglicht. Herr Jagoda, das gehört mit zu diesem Komplex. Durch eine solche ökologische Arbeitspolitik muß man dahin kommen - ich sehe gerade, daß schon wieder das Licht aufleuchtet, und muß mich kurz fassen -, Fehlentwicklungen zu vermeiden. ({9}) Noch ganz kurz zwei, drei Sätze: Wir werden diesen Entwurf, der vorliegt, durch Maßnahmen und Vorschläge, die in Arbeit sind, begleiten. Wir werden solche Vorschläge im Bereich der Flexibilisierung der Altersgrenze und im Bereich der Flexibilisierung in der Arbeitswelt, was die Arbeitszeit betrifft, rechtzeitig fertig haben. Wir werden Vorstellungen entwickeln, wie sich die einzelnen Arbeitnehmer in einer immer stärker militärisch erscheinenden Arbeitswelt flexibler bewegen können, wie sie mehr Möglichkeiten erhalten, unbezahlten Urlaub zu bekommen, mehr Spielraum -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Hoss, ich darf Sie daran erinnern, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe damit angedeutet, in welche Richtung wir unsere Arbeit vorantreiben. Ich danke Ihnen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hoss, wenn es richtig ist, daß es keine Patentrezepte gibt - und ich bin davon überzeugt, daß das eine richtige Feststellung ist -, kann es j a nur logisch und richtig sein, wenn man durch viele kleine Schritte, durch viele Schritte in die richtige Richtung mit dem unbestritten vorhandenen Problem fertigwerden will. Insoweit begrüße ich es, daß es so viele Ansätze - bei rechter Betrachtung, meine ich, auch gemeinsame Ansätze - gibt, mit der Beschäftigungsproblematik fertigzuwerden. Der Streit um den besten Weg zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit beherrscht ja auch - ich meine: Gott sei Dank - dauerhaft die öffentliche Diskussion; „Gott sei Dank" sage ich mit Rücksicht auf die Debatte von heute morgen. Sie wird teils polemisch und sie wird teils sachlich geführt. Die Abteilung Polemik hat Egon Lutz heute morgen hier abgewickelt. ({0}) - In ruhigem Ton. ({1}) Daß der Minister in der Lage ist, polemisch zu reagieren, ist unbestritten. Er ist gut in dieser Beziehung. Das wird ihm nicht abgesprochen. Wenn auch in ruhiger Form, Egon Lutz hat sehr wohl polemisiert. Wichtig ist - das wäre meine große Bitte an alle Beteiligten -, den Versuch zu unternehmen, sich nicht gegenseitig den guten Willen abzusprechen. Ich meine, das ist notwendig. Wenn wir heute über die Frage des vorzeitigen In-den-Ruhestand-Gehens diskutieren, also um die Strategie, durch eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit - wohlgemerkt: eine freiwillige Verkürzung der Lebensarbeitszeit - eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt zu bringen, dann beweist das für mich, daß es durchaus gemeinsame Ansätze gibt. Denn diese Strategie ist in dem Vorschlag der Sozialdemokraten, den wir hier schon einmal diskutiert haben, zumindest vom Grundsatz her bejaht worden. Insofern meine ich, mehr Gemeinsames als Trennendes in beiden Entwürfen finden zu können. ({2}) Lassen Sie mich unsere Position noch einmal stichwortartig aufzeigen. Die Liberalen haben nie den Zusammenhang zwischen technischem Fortschritt und Arbeitszeit geleugnet. Wir sind mit all denjenigen, die ernsthaft um das Wohl unserer Wirtschaft bemüht sind, der Meinung, daß sich Produktivitätsfortschritt nicht nur in höherem Lohn, sondern durchaus auch in kürzerer Arbeitszeit niederschlagen kann. Die Frage für uns muß nur lauten: In welchem Umfang ist eine solche Maßnahme in unserer konkreten wirtschaftlichen Situation sinnvoll, richtig und zu verantworten? Wie ich von dieser Stelle schon einmal gesagt habe, darf es in einem solchen Fragenkomplex keine Tabus geben. Ich habe das Tabu bestimmter Kreise immer für völlig falsch gehalten. Man muß diese Frage in der Cronenberg ({3}) Tat offensiv und offen diskutieren. Ich freue mich, daß dies auch geschieht. In unseren Leitlinien von 1981 zur Überwindung der Arbeitslosigkeit haben wir uns schon mit der Frage der Verkürzung der Lebensarbeitszeit als einer denkbaren Möglichkeit zur Minderung der angesprochenen Problematik beschäftigt. Dabei haben wir betont - ich möchte das mit allem Nachdruck wieder tun -, daß solche Maßnahmen keinesfalls die Chancen für Arbeit verschlechtern dürfen. Es muß wiederholt werden: Ein Drittel unserer Arbeit, ein Drittel unserer Beschäftigung muß draußen, im Export im harten Wettbewerb geholt werden. Deswegen sei an dieser Stelle noch einmal klargestellt: Wer mit der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich den Faktor Arbeit um 15 %bis 20 % verteuert, vertreibt die Arbeit aus unseren Fabriken. Er schafft keine Arbeitsplätze; er vernichtet dieselben. Er handelt grob fahrlässig. Herr Kollege Stratmann, ich habe mit viel Aufmerksamkeit und hohem Respekt Ihre Ausführungen vom 8. Dezember gelesen, in denen Sie sich mit dieser Problematik auseinandersetzen und schlicht den Vorschlag machen, wir sollten unsere Exportabhängigkeit mindern, wir sollten uns sozusagen mehr binnenwirtschaftlich - um Ihren Ausdruck aufzugreifen - orientieren, um uns somit aus der internationalen Wettbewerbsproblematik abzulösen. Schlicht und einfach: Ich halte das für falsch und auch für nicht praktikabel, solange wir offene Grenzen haben, solange Produkte in unser Land frei importiert werden können. Ich halte das für den wesentlichen Fehlansatz Ihrer Ausführungen vom 8. Dezember. Ich möchte Ihnen empfehlen, sich mit dem Artikel von Nell-Breuning in der „Zeit" auseinanderzusetzen. Er sagt, daß höhere Preise für die Drittweltländer, höhere Rohstoffpreise, die notwendig sind, um sinnvolle Entwicklungspolitik zu betreiben - das sind j a wohl, wenn ich mich dunkel erinnere, Ziele Ihrer Politik -, nur dann möglich sind, wenn entsprechende Exporterlöse bei den Industrieländern vorhanden sind. Er formuliert das überspitzt: Wir müßten mehr arbeiten und im Grunde genommen reicher werden, um diesen Bedürfnissen der Entwicklungsländer gerecht werden zu können. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, möchte aber noch einmal betonen: Falsch sind alle Maßnahmen, wenn sie unserer Wettbewerbsfähigkeit schaden. Dann schafft die 35-Stunden-Woche sehr viele Arbeitsplätze, wie ich schon mehrmals gesagt habe, nur nicht bei uns, sondern in Ostasien, in Hongkong, in Taiwan, in den Wettbewerbsländern. Das darf und kann nicht das Ziel unserer Politik sein. ({4}) Aus diesem Grunde haben wir uns in diesem Zusammenhang auch bei der Vorruhestandsregelung bemüht, sowohl volkswirtschaftlich wie auch betriebswirtschaftlich dem Gesichtspunkt der Kostenneutralität große Beachtung beizumessen. Mit dem Vorwurf, die jetzige Regelung werde diesem Anspruch der Kostenneutralität nicht gerecht, werden im Grunde genommen uneinsichtige Tarifvertragsparteien unterstellt. Eine solche Unterstellung halte ich aber für verfehlt. Die Tarifvertragsparteien wissen doch sehr genau, daß der zarte, beginnende Aufschwung neben einer richtigen Politik das Ergebnis einer vernünftigen Tarifpolitik, vernünftiger Tarifabschlüsse 1981, 1982, 1983 gewesen ist. Dadurch sind die Lohnstückkosten relativ gesunken. Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist leicht gestiegen. Die Arbeitslosigkeit hat sich nicht, wie befürchtet und prognostiziert, auf 3 Millionen hin entwickelt. Im Gegenteil: Die Situation ist leicht entspannt. Funktionierende Rezepte werden die Tarifvertragsparteien doch wohl nicht leichtsinnig unbeachtet lassen bei ihren Verhandlungen. Geschieht das trotzdem, wird Arbeit zu teuer, werden unsere Produkte zu teuer. Dann haben wir eben nicht mehr, sondern weniger Arbeit. Und ein Etikett mit der Aufschrift „Dieses Produkt wurde in einem Betrieb erzeugt, in dem nur 35 Stunden gearbeitet wird. Deswegen, lieber Verbraucher, zahle 5, 6 oder 7 % mehr." hilft sicher niemandem außer der Druckerei, die die Etiketten druckt. Ernsthaft: Der Hauptirrtum aller Arbeitsverteilungsapostel ist, daß sie von einem fixen Arbeitsvolumen ausgehen. Das ist falsch. In der Volkswirtschaft wie in den einzelnen Betrieben muß man sich um Arbeit bemühen. Arbeit muß genaugenommen erarbeitet werden. Wer nicht durch bessere Leistung Arbeit akquiriert, wer darauf hofft, daß ihm Arbeit mühelos in den Schoß fällt, der schafft nicht notwendige Arbeitsplätze, sondern verteilt bestenfalls immer weniger Arbeit. Deswegen zum x-ten Male: Arbeitsplätze schaffen ist richtig, Arbeitsplätze verteilen ist mit Sicherheit falsch dann, wenn dadurch sogar bestehende Arbeitsplätze gefährdet werden. Der Vorschlag der Regierung und der Koalition ist ein seriöses, ernst zu nehmendes Angebot an die Tarifvertragsparteien, die Beschäftigungsproblematik durch die Vorruhestandsregelung zu mindern. Kollege Hoss, Sie dient auch der Individualisierung der Arbeitszeit. Sie ist Dienst am und für den Menschen und stellt genau, wie Sie es verlangt haben, den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen. In den Beratungen werden wir allerdings einige Punkte noch einmal ernsthaft erörtern müssen. Wir müssen überprüfen, ob der Problematik der Kleinbetriebe in der Vorlage ausreichend Rechnung getragen wird. So sehr ich in diesem Zusammenhang die Kritik ernst nehme, daß die Arbeitnehmer in Kleinbetrieben nicht Arbeitnehmer minderen Rechts sein dürfen, so sehr müssen wir aber auch darauf achten, daß diese Klein- und Mittelbetriebe nicht funktionsunfähig werden. Wir können uns nicht der Tatsache verschließen, daß es Betriebe mit einem überproportional hohen Anteil an älteren Arbeitnehmern gibt. Diese Betriebe dürfen nicht funktionsunfähig werden. Es ist zu überlegen, ob man hier vielleicht eine prozentuale Regelung oder andere Methoden finden kann, um mit der Problematik fertig zu werden. Cronenberg ({5}) Auch die Höhe des Zuschusses und seine Ausgestaltung bedürfen noch einer ernsthaften Diskussion. Selbstverständlich ist auch jetzt schon - das ist inzwischen ja üblich geworden - die Frage der Verfassungsmäßigkeit gestellt worden. Neu ist diesmal allerdings, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor Beratung und Verabschiedung des Gesetzes gestellt wird. Das ist neu. Man sollte doch zumindest erst einmal die Formulierung des Gesetzes abwarten. ({6}) - Einige Kollegen aus dem Hohen Hause, sogar aus meiner Fraktion. ({7}) - Ich gehe mit diesen Kollegen nicht anders um als mit Ihnen, Herr Kollege Lutz. Der Vorruhestand, so hat der Minister ausgeführt, zwingt sinnvollerweise und richtigerweise zur Partnerschaft zwischen den Tarifvertragsparteien. Darauf lege ich ganz großen Wert. Im Gegensatz zum SPD-Entwurf, der getreu dem Prinzip „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" konzipiert worden ist - Sie werden sich sicher erinnern, von wem dieses Prinzip postuliert wurde -, sieht die Regierungsvorlage keine übertriebenen Kontrollmechanismen vor. Die Wiederbesetzung kann flexibel gehandhabt werden. Ich gehe davon aus, daß Betriebsrat und Belegschaft darauf achten werden, daß nicht schwarze Schafe unter den Unternehmern dieses Gesetz mißbrauchen werden. Ich gehe sogar davon aus und wette, daß eine Wiederbesetzungsquote von mehr als 50 % zu erwarten ist. ({8}) - Ich habe noch zwei Minuten. Wenn ich mit meinem Text fertig werde und dann noch Zeit ist, gern. ({9}) - Das lassen Sie uns an anderer Stelle machen, nicht hier im Plenum. Zu begrüßen ist ebenfalls, daß die Übernahme eines über den Bedarf hinaus Ausgebildeten bei Kleinbetrieben einer Wiederbesetzung gleichgestellt wird. Im Gegensatz zur 35-Stunden-Woche ist die Vorruhestandsregelung befristet - ich meine: zu Recht - und trägt somit dem sich ändernden Altersaufbau und möglichen Erfahrungen Rechnung. Sie ist, wie wir es immer verlangt haben, revisibel. Alles in allem: Es ist ein Entwurf, der es verdient, ohne jede Polemik diskutiert zu werden. Ich möchte das Ganze unter dem Motto behandelt wissen: Verbesserungen sind möglich, Anregungen sachlicher Art sind erwünscht. Das sind sinnvolle Voraussetzungen für ernsthafte Beratungen, von denen ich sicher bin, daß sie zu einem guten, praktikablen und für die Tarifvertragsparteien annehmbaren Gesetz führen werden. Herzlichen Dank für die Geduld. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zwei Vorbemerkungen machen. Jeder Redner der Koalitionsfraktionen hat heute morgen diesen Entwurf mehrfach als seriös bezeichnet. Je häufiger ich das Wort „seriös" höre, desto stärker wächst bei mir das Verständnis für die Gewerkschaften, die von diesem Entwurf überhaupt nichts halten. ({0}) Lassen Sie mich vorweg deutlich betonen, daß anzunehmen ist, daß die Gewerkschaften, die sich heute noch für diesen Weg der Arbeitszeitverkürzung entschieden hab en, bei diesem völlig unzumutbaren Angebot auf andere Forderungen zur Arbeitszeitverkürzung im tariflichen Bereich umschwenken werden, z. B. auf die Forderung nach der 35-Stunden-Woche. ({1}) Ein zweiter Punkt. Herr Kollege Cronenberg, Sie haben von einem zarten Aufschwung gesprochen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Dieser Aufschwung ist so zart, daß er nur einige Unternehmer erreicht. Er wird vertrocknet sein, bevor er den letzten Unternehmer, geschweige denn den ersten Arbeitslosen in dieser Republik erreicht hat. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn die Produktivität stärker steigt als das Bruttosozialprodukt, wenn die Arbeitslosigkeit trotz der angesprochenen leichten Erholung weiter zunimmt, wenn diese Arbeitslosigkeit uns 1983 55 Milliarden DM gekostet hat, wenn 90 % der Arbeitnehmer beschäfigt sind und zum Teil nicht unerheblich Überstunden machen, aber 10 % mit der Null-Stunden-Woche beim Arbeitsamt zufrieden sein müssen, dann kann nach unserer Meinung die Frage nach der Form der Arbeitszeitverkürzung - Verkürzung der Lebensarbeitszeit oder der Wochenarbeitszeit - kein Glaubenskrieg sein. Es darf darüber kein sinnloser Streit entstehen. ({3}) Beide Formen sind notwendig. Nur: Die Herrn Blüm und Kohl können nicht begreifen, daß die Frage, welcher Weg vorrangig beschritten werden soll, ausschließlich eine Sache der Tarifpartner ist. Meine Damen und Herren, im übrigen hatten wir in der Nachkriegszeit über Jahrzehnte hinweg eine permanente Arbeitszeitverkürzung. Dies ist gestoppt worden. Wir hatten eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, die flexible Altersgrenze, Sozialpläne im betrieblichen Bereich, verlängerten Jahresurlaub, Bildungsurlaub, Mutterschaftsurlaub. All dies hat entlastend auf den Arbeitsmarkt gewirkt. Deswegen sagen wir, daß dieser Prozeß der Verkürzung der Arbeitszeit auf allen Ebenen zur Entlastung auf dem Arbeitsmarkt wieder in Gang gesetzt werden muß. ({4}) Es gibt keinen Weg zur Vollbeschäftigung ohne die Arbeitszeitverkürzung. Diesen Erfordernissen hat die Gewerkschaft NGG mit ihrem brauchbaren Modell der Vorruhestandsregelung entsprochen. Wir haben auf dieser Basis im Juni letzten Jahres einen eigenen Entwurf vorgelegt. Der Bundesarbeitsminister mußte lange, auch von den Gewerkschaften, gedrängt werden, zu Rande zu kommen. Es lag aber auch daran, daß er mehrfach bei den Herren Lambsdorff und Stoltenberg wiedervorlegen mußte. Was dabei dann herausgekommen ist, ist so wenig, daß mit Fug und Recht der Verdacht geäußert werden kann, niemand werde von dieser Regelung überhaupt Gebrauch machen. Ich habe in einem Magazin gelesen, daß der Finanzminister die Angebote zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit bis zur Lächerlichkeit deformiert habe. Ich will dem nichts hinzufügen; denn der uns vorliegende Entwurf trägt natürlich auch nicht die Handschrift eines Sozialpolitikers, sondern die eines kurzsichtigen Finanzministers. ({5}) Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen, da Sie, Herr Müller, von möglichen kleinen Korrekturen gesprochen haben, in Erinnerung rufen, was der DGB-Vorsitzende allen Mitgliedern dieses Bundestages in dieser Woche mitgeteilt hat, nämlich die Aufforderung, nicht nur kleine Korrekturen vorzunehmen, sondern grundlegend zu verbessern, weil dieser Entwurf so nicht akzeptabel sei. Lassen Sie mich zu einigen Einzelpunkten kommen, um diese nicht vorhandene Akzeptanz zu belegen. Sie rechnen selber mit einer Wiederbesetzung der frei werdenden Stellen von 50 %. Die Annahme einer so hohen Zahl ist völlig unverständlich, weil nach Ihrem Entwurf der Arbeitgeber dem Arbeitsamt nur darlegen muß, daß wiederbesetzt worden ist, was immer das auch im einzelnen heißen mag. Wir hatten in unserem Entwurf festgelegte, überprüfbare Mechanismen vorgesehen. Wir hatten die Mitwirkung des Betriebsrates eingebaut. Wir wollten in jährlichen Abständen diese Kontrolle der Wiederbesetzung wiederholen. Auch Herr Blüm hatte das einmal vor. Wenn man ein wenig in der öffentlichen Auseinandersetzung zurückgeht, wird deutlich, daß auch er dies kontrollieren wollte. Aber der Graf Lambsdorff hatte, wie man auch lesen kann, Bedenken gegen Eingriffe in die Gestaltungsfreiheit der Unternehmer. Dem hat sich dann die Bundesregierung angeschlossen. Die deutschen Arbeitgeber haben in der Anhörung, die wir zu unserem Entwurf schon hatten, ganz deutlich gesagt, was sie wollen. Sie wollen in ihrer Personalpolitik flexibel bleiben, sie wollen also die Vorteile der Vorruhestandsregelung für sich reklamieren; der eingentliche Grund, nämlich einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu leisten, interessiert die deutschen Unternehmer, wie wir gehört haben, nur in minderem Umfang. ({6}) Und dann sind sie noch aus einem wirklich ganz wichtigen Grund gegen eine Kontrolle. Sie fürchten nämlich, so in der Anhörung gesagt, daß die qualitative Ausweitung der Mitbestimmung auf kaltem Wege einen unerhörten Machtzuwachs für die Betriebsräte bedeuten würde. Dies kann man natürlich nicht hinnehmen, wenn auf der anderen Seite so lächerliche Probleme wie die Arbeitslosigkeit stehen. ({7}) Meine Damen und Herren, für uns hat die Wiederbesetzungspflicht und ihre Kontrolle entscheidende Bedeutung für den Komplex Vorruhestand. Die Bundesregierung und Sie, Herr Bundesarbeitsminister, verhöhnen den Grundgedanken des Vorruhestandes. Sie schaffen nämlich lediglich ein neues Instrument für bequemen Personalabbau. ({8}) An diesem Entwurf ist ohnehin nur die Hälfte aller Arbeitnehmer interessiert, wenn überhaupt jemand interessiert ist; denn der öffentliche Dienst bleibt draußen, und rund 7 Millionen Beschäftigte arbeiten in Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten. Dort liegt es in der Entscheidung des Unternehmers, ob die Vorruhestandsregelung angewandt wird, und die Entscheidung wird in der Regel nein heißen. Zu den Zahlen, die im Schwange sind: Der Entwurf geht davon aus, daß 65 % des Bruttoarbeitsentgeltes gezahlt werden sollen. Wie mir meine Kollegen von der NGG in Kiel vorgerechnet haben, sind das fast immer weit mehr als 100 bis 150 DM weniger als wir Sozialdemokraten mit unserem Entwurf vorgeschlagen hatten. Gänzlich unzumutbar finden wir die Zuschußregelung, die eigentlich einen Anreiz für Tarifverträge darstellen sollte. Sie wollen lediglich 40 % des Vorruhestandsgeldes als Zuschuß zahlen. Das sind rund 25% vom vorherigen Bruttolohn. Wir wollten zwei Drittel zahlen, und dies ist ein wesentlicher Unterschied für den Anreiz. Wir sagen ganz deutlich: Wenn sich die älteren Kollegen bereit erklären, für Jüngere, die arbeitslos sind, vorzeitig ihre Arbeit zu beenden, dann sollte man ihnen auch ein lukratives Angebot machen, und dies hat der Herr Bundesarbeitsminister nicht begriffen. ({9}) Zu den 58jährigen ist schon ausgeführt worden, was diese Erhöhung von 58 auf 59 bedeutet. Es sind im anspruchsberechtigten Personenkreis allein 200 000 Personen weniger. Wir waren davon ausgegangen, daß das in den ersten Jahren 100 000 annehmen würden. Bei Ihrer Regelung ist anzunehmen, daß das niemand annehmen wird. Die Bundesanstalt für Arbeit - das sind doch wohl Fachleute - sagt, 59 sei indiskutabel, über 58 könne man reden - das haben wir vorgeschlagen -, noch besser sei 57. Ich habe da etwas von einem Herrn Scharrenbroich gefunden, der Herrn Blüm nicht ganz unbekannt sein dürfte. ({10}) Er hat am 28. Dezember 1983 geschrieben - und nach dem, was ich hier zitieren will, ist er ein guter Mann -: Beide Kongresse, CDU-Parteitag und CDA-Bundestagung, fordern einstimmig das 58. Lebensjahr. Er sagt weiter: Es entspräche nicht nur der Glaubwürdigkeit von Kongressen, sondern auch den Erfordernissen des Arbeitsmarktes, wenn man 59 wieder korrigieren würde. Ich glaube, das ist ein vernichtendes Urteil, einmal über den Bundesarbeitsminister und zum anderen über die Glaubwürdigkeit der CDU/CSU. ({11}) Es empfiehlt sich noch nicht, auf die 59er-Regelung einzugehen; denn Sie haben es nicht geschafft, den Gesetzentwurf schon heute zur Beratung vorzulegen. Lassen Sie mich deshalb nur zwei Sätze dazu sagen. Die Verschlechterung der Altersrente mit 60 wäre überhaupt nicht nötig, wenn das Vorruhestandsgeld vernünftig konzipiert und finanziell attraktiv ausgestattet wäre. Deswegen haben wir auch keine Einschränkung der 59er-Regelung vorgesehen. ({12}) Zusammenfassend noch einmal: Was ist arbeitsmarktpolitisch eine wirksame gesetzliche Rahmenregelung? Zu fordern sind strikte Wiederbesetzungspflicht, Altersgrenze bei 58, attraktives Versorgungsniveau, großzügiger Finanzierungsbeitrag des Staates, Weiterführung der Sozialversicherungsbeiträge. ({13}) Wenn Sie den Maßstab dieser Forderungen an Ihren Gesetzentwurf anlegen, werden Sie mit mir gemeinsam zu der Schlußfolgerung kommem müssen, daß Sie diesen Entwurf, diesen vernünftigen Grundgedanken mit dem, wozu Lambsdorff und Stoltenberg den Herrn Blüm gezwungen haben, bis zur Bedeutungslosigkeit haben verkümmern lassen. ({14}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend versuchen, die Geschichte dieses Vorruhestandes in wenigen Worten in einem Märchen zusammenzufassen. ({15}) - Hören Sie mich zunächst mal an! - Dies ist das Märchen vom kleinen Norbert, vom großen Gerhard und vom Grafen, vom kleinen Norbert, der immer nur Gutes wollte für seine Arbeitnehmer, für seine Behinderten, für seine Rentner, vom großen Gerhard, der immer nur Großes für die Großen wollte und der mal gelesen hatte, Politik bedeute, keine Schulden zu machen, und vom Grafen, der auch viel mit Geld zu tun hatte. ({16}) Aber glücklich war der kleine Norbert nicht, denn da gab es eine Tradition, ({17}) und danach mußte er, wollte er Gutes tun, zunächst den großen Gerhard und den Grafen fragen. Solange der kleine Norbert zurückdenken konnte, - immer, wenn er Gutes tun wollte, hatten ihm der große Gerhard und der Graf bedeutet: Mache Schlechtes, kürze und kürze bei deinen Arbeitslosen, deinen Behinderten und deinen Rentnern. Aber Norbert war unverdrossen. Er fragte wieder: Darf ich Gutes tun?, und wieder durfte er nichts Gutes tun. Aber durfte er schon nichts Gutes tun, so wollte er doch wenigstens überhaupt etwas tun, wie er es immer getan hatte, denn vor dem Nichtstun hatte er die größte Angst. So tat er etwas, wie er es immer getan hatte. Er tat nichts Gutes, aber er tat, als sei es etwas besonders Gutes. - Dies ist der Versuch eines Märchens vom Vorruhestand. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({18})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es ist gut, daß ein Präsident nicht das Recht hat, einem solchen Märchen aus eigener Erfahrung noch etwas hinzuzufügen. ({0}) Das Wort hat Frau Seiler-Albring.

Ursula Seiler-Albring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002155, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte doch heute schon einige Bemerkungen zur 59er-Regelung machen, denn aus der SPD-Fraktion - von Ihnen, Frau Fuchs - ist der Vorwurf der Rentendemontage durch die geplante Änderung der 59er-Regelung erhoben worden. Ich glaube, dies kann so nicht stehenbleiben. Herr Lutz, die 59er-Regelung, die Sie vorhin mehrfach angesprochen haben, ist, wie wir alle wissen, ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie eine im Ansatz gute Absicht zu einem Ärgernis degenerieren kann. Ziel der 59er-Regelung war es doch, Arbeitslose, die 59 Jahre und älter sind und deren Chancen auf Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes erfahrungsgemäß leider äußerst gering sind, vorzeitig in den Ruhestand treten zu lassen, um ihnen die wegen ihrer Aussichtslosigkeit oft so depremierende Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu ersparen. Was ist aber aus dieser Regelung geworden? Mit einem oft augenzwinkernden Einverständnis zwischen Betriebsrat, den Betroffenen, den Personalchefs und leider Gottes oft auch den Vertretern der örtlichen Arbeitsämter wird in vie3470 len Fällen der ältere Arbeitnehmer heute ein Jahr bei der Bundesanstalt geparkt. ({0}) Sein Eintritt in die Firma Stingl, demnächst Franke, ist in vielen Fällen durch ein Draufgeld, d. h. einen goldenen Handschlag seines ehemaligen Arbeitgebers, vergoldet worden. Dieser Handschlag fiel diesem um so leichter, als er auf diese Weise seine Belegschaft ordentlich abspecken und verjüngen konnte. ({1}) Dies ist eigentlich auch bis jetzt noch recht preiswert, denn die Hauptkosten dieser für die direkt Betroffenen so erfreulichen Personalpolitik werden eben von der Bundesanstalt und der Rentenversicherung getragen. Profitiert haben von dieser Regelung - das ist allgemein anerkannt und auch bereits gesagt worden - überwiegend die Großunternehmen, von denen jedes zweite seine Belegschaft auf diese Weise nicht unerheblich reduziert hat. So sollen z. B. in Kassel von 17 000 VW-Arbeitern nur noch 14 über 59 Jahre sein. Dies kann doch sicher nicht nur der Qualität der Arbeitsplätze in die Schuhe geschoben werden. Die Kosten dieses Unternehmens, der 59er-Regelung, sind weitgehend aus den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in kleinen und mittleren Unternehmen finanziert worden. 1980 hat der Gesetzgeber hier eine Notbremse gezogen und eine Erstattungspflicht des Arbeitgebers angeordnet. Der demnächst vorgelegte Gesetzentwurf wird darüber hinausgehen. Er sieht vor, daß ein weiterer Teil der Kosten, und zwar nicht nur Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, sondern auch vorgezogenes Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit, von den Unternehmen zu tragen sind. Wir halten dies für richtig. Die Erstattungspflicht ergänzt notwendigerweise auch die heute vorgelegte Vorruhestandsregelung, über deren Einzelheiten und unsere Konzeption sich bereits Kollege Cronenberg geäußert hat. Die Systeme der sozialen Sicherung - und wir dürfen nicht aufhören, es immer wieder zu sagen - dürfen eben nicht zum Selbstbedienungsladen besonders gewitzter und informierter einzelner werden. Die Proteste der davon Betroffenen sollten uns nicht abhalten, den als richtig erkannten Weg fortzusetzen. Ich teile nicht die denkbaren Befürchtungen mancher, daß jetzt kleine und mittlere Unternehmen, da wir ja diese Zwanziger-Lösung anbieten werden, ihre Belegschaft einer ähnlich rigorosen Verjüngungspolitik unterziehen werden. Von seiten des Handwerks und der kleineren Unternehmen ist doch immer wieder betont worden, wie notwendig im betrieblichen Ablauf die Tätigkeit von Altgesellen und erfahrenen Mitarbeitern ist. Auf diesen Erfahrungsschatz werden - davon bin ich überzeugt - die mittelständischen Firmen nicht verzichten. Sie sind - darauf hat auch der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Paul Schnitker, wiederholt hingewiesen - unentbehrlich, dies vielfach auch in der Berufsausbildung, wie überhaupt, meine Damen und Herren - und damit komme ich zum Schluß -, meine Partei das Recht auf Arbeit und auch auf Selbstverwirklichung durch Arbeit ausdrücklich auch für ältere Arbeitnehmer unterstreicht. Das heißt, wir werden sehr sorgfältig zu beobachten und gegebenenfalls durch geeignete Schritte zu vermeiden haben, daß ältere Arbeitnehmer in Zukunft vermehrt unter einen unserer Ansicht nach unzulässigen und unerträglichen psychischen Druck geraten, nur ja recht flott und unter Hintanstellung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse ihren Arbeitsplatz für jüngere zu räumen. Dies kann und wird unsere Fürsorgepflicht für die älteren Mitbürger in unserer Gesellschaft nicht zulassen. Ich danke Ihnen. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.

Jürgen Egert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000437, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will diese etwas erweiterte Ausschußsitzung nicht mißbrauchen, um vorweggezogene Ausschußberatung zu machen. ({0}) Wir werden sicherlich die Zeit und vor allem die Notwendigkeit haben, uns über den Gesetzentwurf der SPD und das, was hier aus dem Hause Blüm als Gesetzentwurf zum gleichen Thema vorgelegt worden ist, ausführlich auszutauschen. Ich will auch nicht meiner verehrten Vorrednerin nacheifern und die vorweggezogene Debatte über einen Gesetzentwurf, dessen Diskussion in diesem Hause noch bevorsteht, heute eröffnen, weil auch dies zu nichts führen kann; ({1}) denn dann könnte man ja insgesamt sagen: Wir nehmen das noch nachträglich auf die Tagesordnung und ersparen es uns, in der nächsten Woche darüber zu reden. Aber es muß darüber geredet werden, weil meine Vermutung ist, daß beide Gesetzentwürfe - und dies ist ihr einziger Zusammenhang - im Ergebnis dazu führen werden, daß wir ein Mehr an Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland haben werden. ({2}) Der eine Gesetzentwurf wird nicht helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, und der andere wird dazu beitragen, daß sie ausgeweitet wird. ({3}) Beides ist das erklärte Gegenteil von dem, was eigentlich verfolgt werden sollte und was ein gemeinsames Anliegen - so weit würde ich gehen - der Mitglieder dieses Hauses sein müßte. Wenn denn der eine Gesetzentwurf - und deswegen will ich die paar Minuten, die mir bleiben, noch nutzen - wirklich eine politische Funktion hat, dann liegt diese auf einem anderen Feld: nicht um Arbeitslosigkeit abzubauen, sondern um in einer bestimmten politischen Gesamtsituation angesichts der bevorstehenden Tarifauseinandersetzung den Versuch zu machen - der scheitern wird -, die Gewerkschaftsbewegung, an diesem Punkt zu spalten. Dies ist die einzige, politische Funktion dieses Unternehmens. Deswegen auch die relative Hektik, die j a nicht einmal zugelassen hat, daß Sie in Ihrer Fraktion die Widersprüche, die es zu diesem Gesetzentwurf j a noch immer gibt, bis zum letzten haben klären können. ({4}) Nun, ich muß ja nicht Ihre Sorgen zu meinen machen. Nur, ich will mal Ihren Gesetzentwurf in das einordnen, was denn sonst noch aus dem Hause Blüm kommt, weil es ein Stück Begründung dafür ist, daß es offensichtlich nicht darum geht, den Gewerkschaften eine Chance zu eröffnen, sondern darum, in die gewerkschaftsinterne Diskussion einzugreifen. Da wird das Arbeitsvertragsrecht zur Disposition gestellt. Da sollen Arbeitsverträge möglich sein, die außerhalb der errungenen, geltenden Gewerkschaftsschutzrechte stehen. ({5}) Das ist ein Punkt. Ja, das soll versucht werden. Da soll versucht werden, den Jugendarbeitsschutz, den Minister Blüm damals, als das Gesetz geschaffen worden ist, als einen Schritt in die richtige Richtung noch gefeiert hat, zu revidieren. Da soll der Frauenarbeitsschutz revidiert werden. Mit dem Entwurf aus dem Hause Blüm soll die Urlaubsregelung revidiert werden. Dies soll allerdings mit einem Bonbon versüßt werden. Da soll man bei jener Selbstbeteiligung künftig Urlaub für Kuren in Anspruch nehmen können; gleichzeitig soll die Urlaubsregelung verändert werden, in der Hoffnung, daß man den gewerkschaftlichen Widerstand an diesem Punkt überwinden kann. Dies sind alles kurzsichtige Manöver. Sie passen aber in die Bewertung hinein, die der Bundeskanzler zur Forderung der IG Metall, deren Mitglied der Bundesarbeitsminister noch immer ist, gegeben hat. Er hat sie als eine dumme und törichte Forderung klassifiziert. Wenn ich dies alles zusammennehme, frage ich mich, wie die gewerkschaftliche Bereitschaft wachsen soll, diesem Homunkulus, den Herr Blüm für die Vorruhestandsregelung geboren hat, nun wirklich näherzutreten. Dies ist allein mit der Funktion, die Gewerkschaften zu spalten, in die Welt gesetzt worden. Von ehrlicher Sorge kann hier keine Rede sein. Mein Großvater, der ein weiser Mann war, hat mir immer gesagt, wenn jemand die Sorge zur ehrlichen Sorge mache, wenn also die einfache Sorge nicht mehr ausreiche, mißtraue er dem. ({6}) Ich habe hier so viel von ehrlicher Sorge und von Genugtuung gehört, daß diese gespreizten Wortgebilde mich nur mißtrauischer machen. Ich glaube, daß Sie den Gewerkschaften, die draußen in der Tarifauseinandersetzung sind, die ein Stück Bewußtsein von dem haben, was Arbeitslosigkeit für die einzelnen wirklich bedeutet, kein X für ein U vormachen können, denn sie sehen genau, was hier verfolgt wird. Deswegen ist die Reaktion auf das, was dort geboren worden ist, so zögerlich. Ich glaube, es wird auch so bleiben. Es gibt allerdings ein taugliches Angebot, wenn man die alternative Möglichkeit oder die, wie ich sagen würde, additive Möglichkeit für eine Vorruhestandsregelung nutzen will. Ich meine den SPD-Entwurf. Diesem kann man sich auch in den Ausschußberatungen noch annähern. Wer strukturelle Arbeitslosigkeit im Land wirklich beherrschen will, kommt aber um die Frage der Neuverteilung von Arbeit, die über die Wochenarbeitszeitverkürzung führt, nicht herum. Man darf sich nichts vormachen und nicht glauben, die Probleme würden mit einer so bescheidenen, kleinen Geburt beherrschbar. Ich sehe das nicht. Deswegen, Herr Minister Blüm, setzen wir ein Fragezeichen hinter Ihre Absicht. ({7}) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu Ihrem heutigen Beitrag. Ich will wirklich nicht tiefergehen, zumal darin nicht viel war, wo man hätte tiefergehen können. Herr Minister, man wird müde, Ihnen zuzuhören, weil es die gleichen Wortwechseleien sind, die sich ständig wiederholen. Ich habe die Sorge, daß Ihr Ghostwriter selbst einschlafen wird, wenn er künftig Ihre Reden vorbereiten muß. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und hoffe auf eine erfreuliche Diskussion im Ausschuß. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/880 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa ({0}) in Stockholm vom 17. bis 19. Januar 1984 Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. - Es gibt auch hier keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich danke für die Gelegenheit, dem Deutschen Bundestag einen ersten Bericht über die Eröffnung der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa und über die diese Eröffnung begleitenden Gespräche geben zu können. Die nüchterne Einschätzung der mit der Stockholmer Konferenz gebotenen Möglichkeiten und die Warnung davor, diese Zusammenkunft mit überzogenen Erwartungen zu belasten, geben der Bundesregierung die Möglichkeit der unbefangenen Bewertung. Wir werden uns auch in Zukunft von Realismus und nicht von Wunschdenken leiten lassen. Die Bundesregierung hat sich seit langem für das Zustandekommen dieser Konferenz, über deren Einsetzung in Madrid drei Jahre lang verhandelt worden war, eingesetzt. Unsere beharrlichen Bemühungen haben zum Erfolg geführt. Die Bundesregierung hat dabei in der Überzeugung gehandelt, daß wir die internationale Lage nicht außer Kontrolle geraten lassen dürfen. Das Jahr 1983 stand im Zeichen schwerer Belastungen des West-Ost-Verhältnisses. In kardinalen Fragen der Sicherheitspolitik konnte kein Einvernehmen gefunden werden. Der Abschuß der koreanischen Verkehrsmaschine schuf zusätzliche Belastungen. Der West-Ost-Dialog drohte in wichtigen Bereichen abzureißen. Die Anwesenheit der Außenminister in Stockholm zeigte, daß alle Teilnehmerstaaten die politische Bedeutung der Konferenz hoch einschätzen und daß sie auch nach Möglichkeiten für die Fortsetzung des West-Ost-Dialoges suchen. ({0}) Dem Verlangen der Völker nach einem neuen Anfang in den West-Ost-Beziehungen kann sich niemand entziehen. Es geht darum, das gemeinsam Erreichte auszubauen und neue Wege zur Überwindung bestehender Hindernisse zu suchen. In Stockholm konnte ein wichtiges Forum für den Sicherheitsdialog zwischen West und Ost eröffnet werden. Der KSZE-Prozeß und die soliden Kontakte, die wir auf der Grundlage der Verträge mit unseren östlichen Nachbarn beständig unterhalten haben, erwiesen sich in der Vorbereitung dieser Konferenz als ein haltbares Netz, das den Stürmen der Zeit widerstand. Die Bundesregierung war sich dabei stets bewußt, daß unser Dialog mit dem Osten den Dialog der Großmächte untereinander nicht ersetzen kann. Wir haben frühzeitig gefordert, daß die Stockholmer Konferenz auf politischer Ebene eröffnet werden sollte, um sie über die engeren Themen der Konferenz hinaus für die Verbesserung der WestOst-Beziehungen zu nutzen. Dieser Gedanke hat sich im Westen und bei den Neutralen und Ungebundenen durchgesetzt; er ist schließlich auch im Osten akzeptiert worden. Die Bundesregierung hat dabei in dem Bewußtsein gehandelt, daß unser Land im Herzen Europas, an der Nahtstelle zwischen West und Ost von den Gefahren der Instabilität und der Konfrontation besonders betroffen ist. Wir haben besondere Verantwortung, durch berechenbare und konstruktive Politik zur Stabilität und zur Entspannung beizutragen. Die Bundesregierung stützt sich dabei auf ein klares und geschlossenes Konzept, das alle Bereiche der WestOst-Beziehungen, die Sicherheit, die politischen Beziehungen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den kulturellen Austausch, also alle in der Schlußakte von Helsinki im zweiten und dritten Korb genannten Gebiete, umfaßt. Auch im Jahre 1984 wird es auf zwei Dinge besonders ankommen: Erstens. Es geht darum, daß wir die Einigkeit im westlichen Bündnis bewahren. ({1}) Zweitens. Wir müssen die langfristigen politischen Absichten des Westens gegenüber der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Pakts beständig, eindeutig klarstellen. Wir wollen, daß man in Moskau bei der Überprüfung der dortigen Position eine klare Vorstellung von der westlichen Haltung in den Fragen der Zusammenarbeit und der Sicherheit erhält. In der politischen Erklärung von Brüssel vom 9. Dezember 1983, deren Inhalt die Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet hat, haben die Bündnispartner der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts das Angebot gemacht, mit uns zusammenzuarbeiten, um ein langfristiges, konstruktives und realistisches Verhältnis herzustellen, das auf Gleichgewicht, Mäßigung und Gegenseitigkeit beruht. Wir dürfen dabei niemals vergessen: Daß wir dieses Angebot machen konnten, setzte voraus, daß im Laufe des Jahres 1983 die Einheit und die Geschlossenheit des Bündnisses - auch bei der Durchführung der für unsere Sicherheit notwendigen Entscheidungen einschließlich der Verwirklichung beider Teile des NATO-Doppelbeschlusses bestätigt worden sind. ({2}) Ein zerstrittenes, ein in der Durchführung der als notwendig erkannten Verpflichtungen nicht verläßliches Bündnis hätte auch seine Fähigkeit verloren, eine konstruktive Politik der Verständigung mit dem Osten zu gestalten. ({3}) Die Rede Präsident Reagans vom 16. Januar 1984 bestätigt die Grundlinien der Brüsseler Erklärung in eindrucksvoller Weise. Sie bestätigt die Auffassung des Bündnisses von der künftigen Gestaltung des West-Ost-Verhältnisses auch für das bilaterale Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion. Besonders begrüßen wir, daß der amerikanische Präsident an die gemeinsamen Interessen und die gemeinsame Verantwortung der USA und der Sowjetunion erinnert. Die Rede des amerikanischen Außenministers in Stockholm führte diese Linie fort, indem sie sich nachdrücklich und ausdrücklich auf die Brüsseler Erklärung beruft. Das informelle Treffen der Außenminister des Bündnisses am Vorabend der Konferenz hat der Fortentwicklung der westlichen Konferenzlinie erfolgreich gedient. Es hat die Einheit des westlichen Bündnisses in den Fragen der Konferenz und ihres politischen Umfeldes unterstrichen. Auch die Zusammenkunft der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, die wir in Stockholm hatten, verspricht eine positive Wirkung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit während der Konferenz. Die Bundesregierung ist besonders befriedigt über die Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Gespräche auf hoher politischer Ebene. In der fünfstündigen Begegnung zwischen den Außenministern Shultz und Gromyko ist ein für das WestOst-Verhältnis wichtiger Faden wiederaufgenommen worden. Wir werden auch in Zukunft die Fortführung dieses politischen Dialogs unterstützen. In meiner Zusammenkunft mit Außenminister Gromyko habe ich unsere Sorge über die uns unverändert bedrohende sowjetische Mittelstreckenrüstung wiederholt und unsere Auffassung bekräftigt, daß es für uns keinen anderen Weg gibt, streitige Fragen zu lösen, als den Weg der Verhandlungen. Gegenstand des Gespräches mit dem sowjetischen Außenminister waren alle West-Ost-Fragen und auch das bilaterale Verhältnis. Ich habe unseren Willen zu langfristiger guter Zusammenarbeit ebenso unterstrichen wie die Bedeutung der Brüsseler Erklärung des Atlantischen Bündnisses. Es ist beabsichtigt, während der Konferenz Konsultationen zwischen den Delegationen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zu führen. Die Bemühungen, offene bilaterale Fragen zu lösen, sollen fortgeführt werden. Das gilt auch für die Ausreisewünsche Deutschstämmiger aus der Sowjetunion. ({4}) Das Gespräch, das in einer ebenso sachlichen wie konstruktiven Atmosphäre verlief, hat die Absicht beider Staaten bekräftigt, die bilateralen Beziehungen auf der Grundlage des Moskauer Vertrages auszubauen. Gegensätze in wichtigen Fragen der Sicherheitspolitik, insbesondere in bezug auf die Mittelstreckenraketen, konnten nicht überwunden werden. Die Gespräche mit den Außenministern des Warschauer Pakts haben bestätigt, daß auch sie ein Interesse am Fortgang des Dialogs, der Entspannung und Zusammenarbeit haben und daß unsere Bemühungen um diese Politik wie auch insbesondere um die Stockholmer Konferenz und ihre Eröffnung auf der Ebene der Außenminister von allen gewürdigt werden. In dem Gespräch mit dem Außenminister der DDR ist erneut zum Ausdruck gekommen, daß beide deutschen Staaten den Willen haben, durch die Entwicklung ihrer Beziehungen die internationale Lage auch weiterhin nicht zu belasten, sondern im Gegenteil zur Stabilisierung des politischen Umfeldes in Europa beizutragen. Wir verstehen unser Bemühen um Verbesserung des Verhältnisses zur DDR auch in Zukunft als europäische Friedenspolitik. Nach den Erfahrungen der ersten Woche in Stockholm und nach den Begegnungen der Außenminister kann festgestellt werden: Erstens. Der Ost-West-Dialog geht weiter. Ob er die von uns gewünschte Verbesserung des WestOst-Verhältnisses bewirken wird, muß sich noch erweisen. Zweitens. Der KSZE-Prozeß wird fortgeführt. Drittens. Die Stockholmer Konferenz bietet bei gutem Willen aller Beteiligten eine realistische Chance. Viertens. Es bleibt dabei: Die MBFR-Verhandlungen, die Verhandlungen über Truppenreduzierungen in Wien, sind nicht unterbrochen, und sie werden nicht unterbrochen. Die Erwartung, daß sie in absehbarer Zeit fortgeführt werden, ist begründet. Wir, die Bundesrepublik und unsere westlichen Partner, werden diese MBFR-Verhandlungen zu gegebener Zeit durch weiterführende Vorschläge fördern. Fünftens. In der Genfer Abrüstungskonferenz wird der angekündigte Vertragsentwurf der USA für eine weltweite Ächtung der chemischen Waffen die Chancen substantieller Verhandlungen verbessern. Das setzt voraus, daß die Sowjetunion zu befriedigenden Regelungen für die Verifikation bereit ist. Ich wiederhole hier, was ich auch in Stockholm gesagt habe: Das Problem bei den Verhandlungen über die Ächtung chemischer Waffen ist nicht die Frage, ob sie in Europa oder in der Welt geächtet werden sollen, sondern ob die Sowjetunion bereit ist, befriedigenden Regeln der Nachprüfbarkeit zuzustimmen. Tut sie das, dann muß diese Geißel von allen Völkern der Welt genommen werden und nicht nur von den europäischen Völkern. ({5}) Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben nicht erwartet und konnten nicht erwarten, daß die Gründe, die Anlaß zur Sorge geben, in diesen Tagen ausgeräumt werden können. Die Meinungsbildung der sowjetischen Führung dauert noch an. Es wird beständiger weiterer Anstrengung bedürfen, um im West-Ost-Verhältnis voranzukommen. Wir sehen die Lage dabei realistisch. Wir sehen sie mit ihren Problemen, aber auch mit ihren Möglichkeiten, vor allem mit unseren Möglichkeiten, die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Sorglosigkeit wäre ebenso falsch am Platze wie Schwarzmalerei oder rechthaberische Schuldzuweisung. Die Bundesregierung ist entschlossen, auch in Zukunft nüchtern und verantwortlich für den Frieden zu handeln. Wir wollen dabei auch die berechtigten Interessen der anderen Seite erkennen und berücksichtigen. Wir erwarten das auch umgekehrt; denn in den Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit werden wir am Ende nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsam verlieren. Wir haben im Herbst des vergangenen Jahres hier in diesem Hohen Haus offen und mit Leidenschaft über die Frage der Sicherheitspolitik diskutiert. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Konferenz von Stockholm und bei der Beurteilung ihrer Bedeutung für das West-Ost-Verhältnis waren wir weitgehend einig. Dabei müssen wir allerdings nüchtern sehen, was die Konferenz von Stockholm erreichen kann und was nicht. Diese Konferenz in Stockholm kann keine Lösung der Raketenfrage bringen, weder für die strategischen noch für die Mittelstreckenraketen. Die Lösung dieses Problems muß an anderer Stelle gesucht werden. Ein positiver Verlauf der Stockholmer Konferenz kann aber die Verhandlungsbemühungen an anderer Stelle fördern. Die Haltung der Sowjetunion zur Zukunft der Verhandlungen über die strategischen Waffen ist unverändert offen. Bei den Mittelstreckenraketen hat es keine Anhaltspunkte für eine positivere Haltung der Sowjetunion gegeben. Unsere Bemühungen, durch unsere Gesamtpolitik die Ansätze dafür zu verbessern, werden fortgesetzt. Diese Bemühungen dürfen aber nicht zu Lasten unserer legitimen Sicherheitsinteressen und sie dürfen nicht zu Lasten der Einheit unseres Bündnisses gehen. ({6}) Die Fixierung der öffentlichen Diskussion auf die Gefährlichkeit nuklearer Waffen, auf die Schrecken eines nuklearen Krieges, darf die Tatsache nicht verdrängen, daß die Zerstörungskraft moderner konventioneller Waffen sich dem Vernichtungspotential der Atomwaffen annähert. Auch ein Krieg mit konventionellen Waffen wäre tausendmal schrecklicher als der Zweite Weltkrieg. Europa darf deshalb auch nicht in eine Entwicklung hineintreiben, die den Ausbruch eines konventionellen Konflikts wahrscheinlicher macht. In der längeren Perspektive wird eine rüstungskontrollpolitische Stabilisierung des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa eine Hauptaufgabe der Stockholmer Konferenz sein. Wir wollen Mißtrauen abbauen und Vertrauen in Europa wachsen lassen. Das verlangt konkrete Maßnahmen, Maßnahmen, die entsprechend dem vereinbarten Konferenzmandat militärisch bedeutsam, politisch verbindlich, angemessen verifizierbar sind, die in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural angewandt werden. Wer die Offenheit in den Fragen der Sicherheit verweigert, wer sich der Verläßlichkeit der Nachprüfung von Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung entzieht, der setzt sich dem Verdacht aus, er wolle etwas verheimlichen. ({7}) Ohne mehr Transparenz lassen sich Mißtrauen und Bedrohungsgefühle nicht beseitigen. Wir wollen die Gefahr von Überraschungsangriffen und die Sorge vor Einschüchterungsversuchen mindern. Das Mandat für die Konferenz in Stockholm ist präzise. Unsere Vorschläge, die westlichen Vorschläge dafür umfassen Maßnahmen der Information, der Beobachtung und Verifikation sowie Schritte, die die militärische Stabilität in Europa festigen. Die Teilnehmerstaaten der Konferenz sollen regelmäßig Informationen über ihre militärischen Verbände austauschen. Das würde nicht nur stabilisierend wirken, sondern auch die Grundlage für weitere Vereinbarungen bilden können. Jeder soll mit jedem eine jährliche Vorausschau über wichtige militärische Aktivitäten austauschen. Jeder soll beurteilen können, ob eine militärische Übung tatsächlich lange vorausgeplant war oder ob sie in einer bestimmten Situation zur Drohung oder gar zur politischen Erpressung genutzt werden soll. In Weiterentwicklung der in Helsinki beschlossenen Maßnahmen sollen alle militärischen Aktivitäten in Europa von einer bestimmten Struktur oder einem bestimmten Umfang genau und im voraus bekanntgemacht werden. Zu solchen Aktivitäten sollen Beobachter entsandt werden können, die sich selbst vor Ort informieren. Rechte und Pflichten dieser Beobachter müssen es ihnen ermöglichen, ihre Aufgabe auch effektiv zu erfüllen. Alle Teilnehmerstaaten müssen die Gewißheit haben, daß getroffene Vereinbarungen von allen uneingeschränkt eingehalten werden. Es müssen Kommunikationswege geschaffen werden, damit Mißverständnisse, die trotz dieser Vereinbarungen entstehen, aufgeklärt werden können. Die 35 Staaten haben sich im Madrider Schlußdokument das Ziel gesetzt - ich zitiere wörtlich -, der Pflicht der Staaten, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren gegenseitigen Beziehungen zu enthalten, Wirkung und Ausdruck zu verleihen. Sie haben sich vorgenommen, zu diesem Zweck neue, wirksame und konkrete Schritte zu unternehmen, die darauf gerichtet sind, Fortschritte bei der Festigung des Vertrauens und der Sicherheit und bei der Verwirklichung der Abrüstung zu erzielen ... Damit sind Ziel und Weg klar beschrieben. Der in der Charta der Vereinten Nationen verankerte und in der Schlußakte von Helsinki noch einmal feierlich bekräftigte Gewaltverzicht muß durch konkrete, militärisch bedeutsame vertrauensbildende Maßnahmen gestärkt werden. Es kann nicht darum gehen, Taten durch die Wiederholung von Worten zu ersetzen. ({8}) Es geht darum, die Worte glaubwürdiger zu machen und das Verhalten in Übereinstimmung mit den Worten zu bringen. Das muß überall in der Welt gelten. ({9}) Wir begrüßen, daß Präsident Reagan in seiner Rede die Verminderung und schließliche Beseitigung der Androhung und Anwendung von Gewalt bei der Lösung internationaler Streitfragen als erstrangige Aufgabe bei der Verbesserung der internationalen Lage bezeichnet hat. Ich rufe im Zusammenhang mit dem Verzicht auf Gewalt und der Diskussion darüber die Erklärung in Erinnerung, die Bundeskanzler Helmut Kohl im Juli 1983 in Moskau abgab. Er sagte dort: Eine erneute, verbindliche Bekräftigung des Gewaltverbotes kann zur Verbesserung der inBundesminister Genscher ternationalen Lage beitragen, wenn dadurch Gewaltandrohung konkret verhindert wird, Gewaltanwendung dort, wo sie andauert, beendet wird. Das meint auch, daß bestehende Gewaltanwendung in Afghanistan ihr Ende finden muß. Die Glaubwürdigkeit des Gewaltverzichts setzt auch den Verzicht auf die Inanspruchnahme von Waffenmonopolen und von Überlegenheit sowie die Bereitschaft zu Verhandlungen über den Abbau bestehender Disparitäten voraus. Die Staats- und Regierungschefs des westlichen Bündnisses haben in der „Bonner Erklärung" vom 10. Juni 1982 bekräftigt: Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff. Damit haben die Bündnispartner feierlich bekräftigt, keine ihrer Waffen - nukleare wie konventionelle - als erste, d. h. ohne angegriffen zu sein, einzusetzen. Meine Damen und Herren, es würde der Vertrauensbildung dienen, wenn alle KSZE-Teilnehmerstaaten zu einem so umfassenden Verzicht bereit wären. ({10}) Das westliche Angebot, das wir in Stockholm entsprechend dem Konferenzmandat unterbreitet haben, ist Teil eines umfassenden Konzepts für die Entwicklung der West-Ost-Beziehungen. Die Chance von Stockholm aufzuzeigen ist kein Zweckoptimismus, sondern realistische Politik aktiver Friedenssicherung. Nicht das Schüren von Angst ist das Gebot der Stunde. Was wir brauchen, ist eine Politik, die mit Vernunft und Augenmaß einer Ordnung des Friedens in Europa den Weg ebnet, die auf Vertrauen und Gleichgewicht, auf Dialog, Zusammenarbeit und Mäßigung in Wort und Tat gegründet ist. Heute, zu Beginn des Jahres 1984, geht es darum, die Möglichkeiten für eine neue Verständigung zwischen West und Ost auf das beste zu nutzen und neue Wege zu finden, um schrittweise eine stabilere Ordnung des Friedens in Europa zu erreichen. Wir werden in diesem Sinne auch in Stockholm handeln. Je größer in unserem Lande die Übereinstimmung in der Politik der europäischen Einigung ist, je größer die Übereinstimmung darüber ist, daß wir ein verläßlicher Bündnispartner sein müssen, je mehr wir in der Sicherheitspolitik übereinstimmen, desto größer ist unser Gewicht im Westen und desto größer wird auch das Interesse des Ostens sein, mit uns auf der Grundlage der Gleichberechtigung und unter Berücksichtigung der Grundsätze der Schluß-akte von Helsinki langfristig zusammenzuarbeiten. Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft um eine solche Übereinstimmung hier in der Bundesrepublik Deutschland, hier im Deutschen Bundestag bemühen. Ich danke Ihnen. ({11})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke ({0}) ({1})

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten freuen uns, daß die Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa eröffnet worden ist. Ich habe nach dem Abschluß der Madrider KSZE-Folgekonferenz am 16. September an dieser Stelle dem Bundesaußenminister und der deutschen Verhandlungsdelegation unseren Glückwunsch ausgesprochen für ihr Verdienst am erfolgreichen Abschluß der Madrider Konferenz und für den Beginn der Stockholmer Konferenz in diesem Januar. Das Madrider Ergebnis ist eine eindeutige Bestätigung dafür, daß die Zusammenarbeit zwischen Ost und West möglich ist, wenn sich alle Seiten mit Ernsthaftigkeit und ohne sich unter Zeitdruck zu setzen um eine solche Zusammenarbeit bemühen. Ich wiederhole das, was wir Sozialdemokraten bei Übernahme der Oppositionsaufgabe in diesem Hohen Hause gesagt haben: Wir werden die Bundesregierung überall dort unterstützen, wo sie die unter sozialdemokratischer Führung begonnene Entspannungspolitik fortsetzt. Das galt für die Madrider Konferenz. Das wird auch für die Konferenz in Stockholm gelten. ({0}) Der erfolgreiche und positive Abschluß der Madrider Konferenz ist von der Bundesregierung allerdings auch dazu benutzt worden, den Fehlschlag ihrer Nachrüstungspolitik zu kaschieren. Die Aufstellung neuer amerikanischer und zusätzlicher sowjetischer Raketen in Europa ({1}) läßt das Kanzlerwort „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" zu einer bloßen Sprechblase werden, Herr Kollege Marx. ({2}) Eine Politik der Schadensbegrenzung zielt jetzt darauf ab, die Bevölkerung mit einer Art Besänftigungspropaganda über die negativen Folgen dieser Nachrüstungspolitik hinwegzutäuschen. ({3}) Bei allen Verdiensten, Herr Außenminister, die die Bundesregierung am Zustandekommen der Stockholmer Konferenz hat, ist nicht zu übersehen, daß ihr mangelnder Realitätssinn oder Realitätswille in der anderen Frage wesentlich mit zur Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen beigetragen hat. ({4}) Dr. Ehmke ({5}) Trotz aller Warnungen hat die Bundesregierung selbst nach dem Scheitern der Genfer Konferenz fortwährend in Optimismus gemacht ({6}) und mit allen Mitteln den Eindruck zu erwecken versucht, als ob alles so weitergehen werde wie bisher. ({7}) Die Rede des sowjetischen Außenministers Gromyko in Stockholm am Mittwoch hat für alle Welt sichtbar werden lassen, daß es keinerlei Anlaß für diesen Optimismus gibt. Die Rede hat jene Illusionen zerstört, die davon ausgingen, es wäre eine bloße Frage der Zeit, wann die Sowjetunion sozusagen reumütig an den Verhandlungstisch zurückkehren würde. ({8}) Die Rede hat noch einmal unterstrichen, daß der Zusammenbruch der Genfer Verhandlungen in den Rüstungskontrollbemühungen zwischen Ost und West eine Zäsur darstellt. Verehrter Herr Bundesaußenminister, auch wenn das Gespräch zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Außenminister fünf Stunden gedauert hat, ändert das nicht das geringste an meiner Feststellung. Der amerikanische Außenminister hat gestern auf einer Pressekonferenz in Oslo seinerseits festgestellt, daß das Gespräch keinerlei Fortschritt erbracht habe. Leider, kann ich nur wie Sie sagen. Aber wir sollten uns nichts vormachen. In den Jahren der Entspannungspolitik ist in Europa über die Blockgrenzen hinweg ein neues Bewußtsein europäischer Zusammengehörigkeit gewachsen, ohne die für die eigenen Sicherheitsinteressen maßgebende Blockzugehörigkeit in Ost oder in West in Frage zu stellen. ({9}) Die erneute Konfrontation der Supermächte, verehrter Kollege Klein, wird von den Europäern in Ost und West unbeschadet ihrer Blockzugehörigkeit als Gefährdung gemeineuropäischer Sicherheitsinteressen verstanden. Die Gefährdung des mit dem Entspannungsprozeß bisher Erreichten verstärkt in beiden Teilen Europas den Wunsch nach Wiederaufnahme und Vertiefung der Entspannungspolitik. Die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen hängt natürlich stark davon ab, welche Vorstellungen und welche Einschätzungen die Vereinigten Staaten - deren Bemühen, auch militärisch wieder Weltmacht Nummer 1 zu werden, auf der Hand liegt - von der Sowjetunion haben. Der amerikanische Präsident hat in einer Fernsehrede, die gleichzeitig auch schon eine Vorwahlrede für den amerikanischen Wahlkampf war, nach langen Monaten zum erstenmal gegenüber der Sowjetunion wieder gemäßigte Töne angeschlagen. Wir begrüßen das. Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den früheren Redensarten, in denen die Sowjetunion als „Herd des Bösen" und dergleichen dargestellt wurde. Ob sich aus dieser geänderten Tonart, die auch durch den amerikanischen Wahlkampf bestimmt ist, substantiell etwas am gestörten Verhältnis zwischen den beiden Großmächten ändern wird, bleibt abzuwarten. Der amerikanische Präsident hat zwar Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion im Falle einer Rückkehr an den Verhandlungstisch der Rüstungskontrollverhandlungen angedeutet. Hier muß aber festgehalten werden, daß er dafür keinerlei konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt hat und daß solche auch nicht aus den Gesprächen der beiden Außenminister hervorgegangen sind. In den vergangenen drei Jahren hat sich jedenfalls - das hat Botschafter Harriman eindrucksvoll dargelegt - amerikanische Politik dadurch ausgezeichnet, daß sie zwar ein klares Feindbild hatte, aber kein Konzept für den Ausbau ihrer Beziehungen zur Sowjetunion. Wenn die Rede des amerikansichen Präsidenten insoweit den Anfang einer Änderung der Politik auch in der Sache darstellt, verdient eine solche Kursänderung sicher die Unterstützung der Europäer. Ich will allerdings nicht verhehlen, daß wir anläßlich des Europabesuchs des amerikanischen Präsidenten 1980 schon ähnliche Reden gehört haben, um dann zu erleben, daß er nach seiner Rückkehr nach Amerika wirtschaftliche Sanktionen verhängte und dann auch noch versuchte, sie gegen die eigenen europäischen Verbündeten durchzusetzen. Ich bin da also skeptisch. ({10}) Ein Neuansatz in dem Ost-West-Verhältnis kann nur erreicht werden, wenn wir an der Politik der Entspannung festhalten. Insofern besteht jedenfalls zum Außenminister ja auch kein Gegensatz. Das gilt auch dann, wenn Amerika - ich sage: durchaus zu Recht - mit den weltweiten Ergebnissen der Entspannungspolitik teilweise unzufrieden ist. Aber was ist die Alternative? Eine Politik der Konfrontation und der militärischen Überlegenheit führt zu einem Wettrüsten, das nicht mehr, sondern immer weniger Sicherheit schafft. Außerdem verschlingt es Unsummen, die für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den westlichen Industriestaaten und die Bekämpfung des Elends in der Dritten Welt dringend gebraucht werden. Die Militarisierung des Sicherheitsdenkens hat außerdem in den Vereinigten Staaten zur Finanzierung von Rüstungsprogrammen über riesige Haushaltsdefizite geführt, ({11}) die in ihren Auswirkungen die wirtschaftliche Sicherheit Europas wie die der Dritten Welt beeinträchtigen. ({12}) Unsere Aufgabe liegt bei Gewährleistung ausreichender Verteidigungsfähigkeit gerade in entgegengesetzter Richtung. Wir müssen die EntspanDr. Ehmke ({13}) nungspolitik, die am Hoch- und Wettrüsten der Großmächte aufgelaufen ist, ({14}) wieder freimachen, um zu einer Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West vorwärtsschreiten zu können. Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel gilt für beide Seiten, ({15}) daß Sicherheit des Überlebens nicht mehr gegen die andere Seite, sondern nur mit der anderen Seite zu erreichen ist. Dem verehrten Bla-bla-Klein will ich sagen: Wenn Sie der Meinung sind, daß man weiter Milliarden für den Unsinn ausgeben kann, mit immer mehr Waffen immer weniger Sicherheit zu haben, dann machen Sie das bitte. Aber Sie werden dabei auf unsere Opposition stoßen. ({16}) Die Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa ist mit ihren zwei geplanten Verhandlungsphasen gegenwärtig der einzige Ansatzpunkt, dem Entspannungsprozeß neue Impulse zu geben. Ich stimme dem Außenminister darin zu: Man würde die Konferenz überfordern, wenn man alle Hoffnungen gescheiterter Rüstungskontrollverhandlungen auf sie projizieren würde. Das kann Stockholm nicht. Stockholm kann bestenfalls dazu beitragen, wieder zu einem besseren Klima zwischen Ost und West zu kommen. Sie hat trotz ihrer Beschränkung auf Europa Bedeutung über Europa hinaus, denn die Verhältnisse in Europa bleiben wichtig als Weichenstellung für die weitere Entwicklung im Ost-West-Verhältnis insgesamt. Daher dürfen auch - Herr Bundesaußenminister, Sie sind über dieses Problem etwas schnell hinweggehuscht - rüstungskontrollpolitische Maßnahmen und Vorschläge nicht einfach schon darum abgelehnt werden, weil sie auf Europa beschränkt sind. Der kürzlich von der Sowjetunion gemachte Vorschlag, alle chemischen Waffen aus Europa abzuziehen, verdient ernsthaftere Aufnahme und Prüfung, als ihm bisher vom Westen widerfahren ist. ({17}) - Das ist richtig. In den Fragen der Verifizierung, Herr Kollege Marx, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. ({18}) - Richtig. Aber immerhin haben wir die Sowjetunion bewegt, Inspektionen an Ort und Stelle grundsätzlich zuzustimmen. Das ist ein prinzipieller Fortschritt. Jetzt ist die Frage, wie man ein solches Inspektionssystem gemeinsam ausgestalten kann. ({19}) - Nein, das ist sie nicht. Aber sie ist nicht genügend weit gegangen, daß wir sagen könnten: Das reicht schon aus. Aber ein Fortschritt ist erzielt worden. Zu den vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen, die in Stockholm beraten werden, gehören vor allem auch Maßnahmen, die einen Überraschungsangriff - sei es aus dem Stand heraus, sei es aus Manöverbewegungen heraus - ausschließen sollen. Unseres Erachtens kommt solchen Vereinbarungen, solchen vertrauensbildenden Maßnahmen eine zusätzliche Bedeutung in einem Zeitpunkt zu, in dem die NATO dabei ist, die konventionelle Verteidigung der Zentralfront zu stärken - oder anders gesagt: die Verteidigung an der europäischen Zentralfront stärker zu konventionalisieren. Bei den Problemen, die wir in den nächsten Jahren mit den Mannschaftsstärken haben werden, ist jeder Zeitgewinn, den wir für Mobilmachungsmaßnahmen dadurch erzielen können, daß Panzerverbände und Großverbände nicht in Grenznähe stationiert oder in Manövern bewegt werden dürfen, für die konventionelle Stärke der NATO in Mitteleuropa wesentlich. Bei der Frage des Gewaltverzichts geht es einmal um ein solches Abkommen zwischen den Militärblöcken - das ist etwas anderes als die generellen Erklärungen -, aber es geht auch - das ist, glaube ich, eine Idee, die der Bundesaußenminister eingeführt hat - um die Frage, ob solche Vereinbarungen wechselseitig zwischen allen Staaten in Europa abgeschlossen werden können. Die Bundesrepublik ist jedenfalls auf Grund ihrer geographischen Lage in besonderem Maße an solchen Vereinbarungen interessiert. Sie würden helfen, die Situation an der Blockgrenze weiter zu entspannen und beide Seiten vor militärischen Kurzschlüssen an dieser Grenze zu schützen. Eine erfolgreiche Konferenz könnte dazu beitragen, Vertrauen für die Sicherheitspolitik des Bündnisses und der Bundesrepublik zurückzugewinnen, Vertrauen, das durch die Art verlorengegangen ist, in der der Nachrüstungsbeschluß durchgesetzt wurde. Die Bundesregierung muß aufpassen, hier nicht erneut Fehler zu machen. ({20}) Aber, Herr Bundesaußenminister: Mit einer Politik der bloßen Schadensbegrenzung - so sehr wir verstehen, daß Sie sich jetzt darauf konzentrieren - ist es nicht getan. Auch alle richtigen und notwendigen Bemühungen in Stockholm sind kein Ersatz dafür, daß der Westen eine umfassende Initiative im Hinblick auf ein besseres Verhältnis zum Osten entwickelt. Dafür wird eine gemeinsame und selbstbewußte Politik der Europäer entscheidend sein. ({21}) Dr. Ehmke ({22}) Statt dessen haben wir heute nicht nur in wichtigen Fragen der deutschen Außenpolitik - ich denke an die Entwicklungspolitik, an Afrika, aber auch an Zentralamerika - eine Wende zum Schlechten zu beklagen, ({23}) sondern es ist auch, Herr Bundesaußenminister, bei Anerkennung aller Ihrer Bemühungen gerade für Stockholm und in Stockholm, das Absinken des Ansehens und des Einflusses der Bundesrepublik in der Welt auf Grund einer widerspruchsvollen und unklaren Gesamtpolitik nicht zu übersehen. ({24}) - Ich empfehle Ihnen, sich z. B. nur einmal in der UNO umzuhören, wie das heute verglichen mit vor anderthalb Jahren aussieht, Herr Kollege Klein. ({25}) Diese negative Entwicklung wird durch die Affären der Bundesregierung noch beschleunigt. Ich weiß, daß der Herr Kollege Genscher natürlich so wenig glücklich war wie wir, daß das Ereignis in Stockholm hier durch die Wörner-Affäre in den Hintergrund gedrängt wurde. Das müssen Sie doch bitte auch einmal sehen, die Sie jetzt schon wieder so tun, als ob Ihnen dieser Staat gehört und Sie sich alles leisten können: ({26}) Die Tatsache, daß sich diese Bundesregierung zunehmend in Affären erschöpft, deren Peinlichkeit so ziemlich alles übertrifft, was in der Bundesrepublik bisher geboten wurde, ({27}) trägt natürlich dazu bei, unser Ansehen und unseren Einfluß im Ausland und im Bündnis weiter zu schmälern. ({28}) Das gilt unbeschadet aller sonstigen Unterschiede sowohl für den Fall Geißler mit seinen dollen Sprüchen wie für den Fall Lambsdorff und ganz besonders für den Fall Wörner. ({29}) - Nun rühren Sie nicht an die schwache Stelle des früheren Innenministers, Herr Kollege. ({30}) Der Oppositionsführer Dr. Vogel hat dem Bundeskanzler vorgeschlagen, der deutschen Öffentlichkeit und der Bundeswehr eine Fortsetzung dieses Schauspiels von Peinlichkeiten und - so muß ich leider sagen - auch Schäbigkeiten, das wir in den letzten Wochen erlebt haben, zu ersparen. ({31}) Der Herr Bundeskanzler hat sich aber einmal mehr als unfähig erwiesen, auch nur im Bundeskabinett Ordnung zu schaffen. Daher ist auch schon jetzt abzusehen, daß aus all diesem eines nicht zu fernen Tages ein Fall Kohl werden wird. ({32}) Was dieses Land statt dessen braucht, ({33}) ist eine große politische Anstrengung, Europas Stellung im Bündnis zu stärken, seine Abhängigkeit von negativen Entwicklungen in der Weltwirtschaft zu mindern, seine technologischen Fähigkeiten im weltweiten Wettbewerb zu fördern und eine Reform der EG einzuleiten, die die weitere Entwicklung Europas auf eine tragfähige Grundlage stellt. ({34}) Da von dieser Bundesregierung in dem Zustand, in dem sie sich gerade auch heute morgen hier dargestellt hat, offensichtlich nichts dergleichen zu erwarten ist, wird die SPD dafür in Kürze ein Konzept vorlegen. Schönen Dank. ({35})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Das Nahziel der Konferenz für Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa und auch das Nahziel der Bundesregierung ist erreicht worden. Nach Unterbrechung des gesamten Rüstungskontrolldialogs durch die Sowjetunion Ende letzten Jahres ist nun wieder das erste Forum geschaffen worden, auf dem alle europäischen Staaten, die USA und Kanada gemeinsam über Fragen der europäischen Sicherheit verhandeln und damit wieder die Chance für einen kontinuierlichen Ost-West-Dialog eröffnet worden ist. Das ist auch ein Erfolg der Bundesregierung, Herr Ehmke. ({0}) Ihrer Rede hat man das Unbehagen angemerkt, daß sich Ihre Kassandra-Rufe vom Ende letzten Jahres, durch die Sicherheitsentscheidung der NATO würde das Ende aller Gespräche kommen, die Eiszeit würde hereinbrechen, nicht bewahrheitet haben. ({1}) Nun wissen auch Sie, daß es nicht populär ist, wenn man hier im Bundestag an solchen Verhandlungen und Gesprächen herumkrittelt, und deswegen haben Sie versucht zu lavieren. Wenn Sie sich um ein Absinken von Ansehen Sorgen machen, sollten Sie sich einmal im Kreis unserer Verbündeten umgucken, was das Ansehen der deutschen OpposiRühe tion angeht. Dort werden Sie zu vertieften Erkenntnissen kommen. ({2}) Die Konferenz in Stockholm ist eine Konferenz für vertrauensbildende Maßnahmen. Ich kann nur sagen: Ihre gesamte Außen- und Sicherheitspolitik ist eine mißtrauensbildende Maßnahme nach West und nach Ost. ({3}) Die Konferenz in Stockholm ist in der Tat ein erster positiver Impuls und eine Chance, wieder ein vernünftigeres Verhältnis zwischen Ost und West zu schaffen, und dafür gebührt der Bundesregierung, allen voran dem Bundeskanzler und dem Außenminister, unser Dank; ({4}) denn wir haben, wie das der Rolle unseres Landes entspricht, hier einen ganz aktiven Part gespielt. ({5}) Jetzt kommt es darauf an, die Chancen zu nutzen und sie auch durch bilaterale Gespräche auszubauen. Herr Ehmke, wer hier die Verteidigungsanstrengungen der USA kritisiert, muß auch darauf hinweisen, wer der Verursacher dieser Verteidigungsmaßnahmen ist. Das ist nicht der Kongreß, sondern die Sowjetunion mit den von ihr beschlossenen Verteidigungsmaßnahmen. Die Sowjetunion hat über viele Jahre hinweg bis zu 15% des Bruttosozialprodukts für Rüstung ausgegeben. Das ist die Ursache für die hohen Ausgaben in den Vereinigten Staaten und auch bei uns. Kein verantwortlicher deutscher Politiker sollte die USA kritisieren, daß sie diese Ausgaben tätigt. Das ist im Interesse unserer Sicherheit und wurde von der Sowjetunion herausgefordert. ({6}) Was die Konferenz in Stockholm betrifft, so kommt es darauf an, einander ergänzende vertrau-ens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu vereinbaren. Der Außenminister hat schon darauf hingewiesen, daß es keine Einzelkonferenz ist, sondern daß sie in den allgemeinen KSZE-Prozeß eingebettet bleibt. Das heißt, der sicherheitspolitische Korb dieser Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die KVAE, kann nicht losgelöst von der Entwicklung in den Fragen der humanitären Beziehungen und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gesehen werden. Die Maßnahmen, die es in Stockholm zu vereinbaren gilt, sollen nicht nur vertrauensbildend, sondern sie sollen auch sicherheitsbildend sein. Das heißt, sie müssen noch konkreter als das sein, was z. B. 1975 in Helsinki im Hinblick auf die militärische Situation in Europa abgesprochen worden ist. Sie müssen, wie es von westlicher Seite in Madrid durchgesetzt wurde, militärisch bedeutsam, politisch verbindlich und nachprüfbar sein. Es reicht nicht aus, daß es der freiwilligen Entscheidung eines jeden Teilnehmerlandes überlassen bleibt, ob es beispielsweise seine militärischen Aktivitäten von einer bestimmten Größenordnung an ankündigen will. Dies muß im Sinne der besseren gegenseitigen Einschätzung zur Pflicht werden, und die in den Vorankündigungen gemachten Angaben müssen dann auch vor Ort überprüft werden. Diese Maßnahmen, die vertrauens- und sicherheitsbildend sein müssen, sollen zum einen das Risiko eines Überraschungsangriffes ausschalten, politische Drohungen mit militärischen Mitteln ausschließen und die Teilnehmerstaaten von den friedlichen Absichten überzeugen. Solange es Armeen gibt, müssen diese auch üben. Durch die Anwendung dieser vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen kann dann die Gegenseite davon überzeugt werden, daß es sich um Routineübungen und nicht um militärische Drohungen oder gar Angriffsvorbereitungen handelt. Dies fördert die Berechenbarkeit der Absichten, um Mißtrauen abzubauen bzw. das Entstehen von Mißtrauen überhaupt zu verhindern. Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sollen zum anderen den Staaten ein besseres Bild über die militärischen Fähigkeiten aller Teilnehmer ermöglichen. Je größer aber das Maß an Transparenz dieser Fähigkeiten ist, desto günstiger sind die Voraussetzungen für weitreichende Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen im konventionellen Bereich. Lassen Sie mich dafür ein plastisches Beispiel geben. Schon in Helsinki wurde vereinbart, daß Manöverbeobachter eingeladen werden. Diese vertrauensbildende Maßnahme wurde vom Osten sehr restriktiv angewendet. Die eingeladenen westlichen Beobachter berichteten zwar stets von einer sehr zuvorkommenden Gastfreundschaft, aber doch von sehr eingeschränkten Möglichkeiten, das eigentliche Manöver selbst zu beobachten. In Stockholm sollten deshalb nach unserer Auffassung alle Teilnehmer vereinbaren, daß zu allen angekündigten Manövern auch Beobachter aus allen KSZE-Staaten einzuladen sind und diese sich nach einer ausführlichen Einweisung über Zweck und Ablauf des Manövers im Manövergelände frei in Begleitung des Gastgebers bewegen dürfen. ({7}) - Ich weiß nicht, was Sie dagegen haben können, daß so etwas überall gemacht wird, Herr Fischer. ({8}) Es hat den Vorteil, daß die in der Einweisung erfolgten Angaben überprüft werden und daß die Beobachter einen realistischen Einblick in die Fähigkeiten der übenden Truppen gewinnen können. Für spätere Abrüstungsmaßnahmen hat es außerdem den Vorteil, daß ein Lernprozeß durchgemacht wird, daß nämlich Überprüfung vor Ort oder Inspektionen vor Ort nicht schmerzt und nichts mit Spionage zu tun hat, wenn man nichts zu verbergen hat. Insofern kann es auch einen Gewinn an Vertrauen bedeuten. ({9}) Deklaratorische Maßnahmen wie der vom Osten vorgeschlagene Gewaltverzichtsvertrag entsprechen diesen Kriterien nicht. Noch sind sie militärisch bedeutsam oder gar zu überprüfen. Sie gehören damit nicht in die jetzt in Stockholm anlaufende KVAE. Denn nach dem Konferenzmandat sollen die Verhandlungsergebnisse einen praktischen Beitrag für die Konkretisierung des völkerrechtlich vereinbarten Gewaltverbots leisten. Ein Gewaltverzichtsvertrag muß, wenn er einen Sinn haben soll, greifbare Fortschritte im Ost-West-Verhältnis im Politischen, im Rüstungskontrollpolitischen und im Atmosphärischen zum Fundament haben. Er kann daher nur das Ergebnis eines europäischen Entspannungsprozesses sein. Es liegt auf der Hand, daß vertrauensbildende Maßnahmen in einem Klima des gegenseitigen Mißtrauens nur unter größten Schwierigkeiten, wenn überhaupt, vereinbart und praktiziert werden können. Für ein Gelingen der Konferenz in Stockholm ist es daher erforderlich, daß die Stockholmer Ost-West-Gespräche über militärische Vertrauensbildung durch einen Prozeß der politischen Vertrauensbildung im Rahmen eines inhaltlich breiter angelegten Ost-West-Dialogs ergänzt werden. Wir halten diese thematische Verbreiterung schon deshalb für unerläßlich, weil andernfalls das Ost-West-Verhältnis eine bedenkliche Schlagseite bekommt, nämlich dann, wenn zwischen Ost und West fast ausschließlich über militärische Fragen gesprochen wird. Wenn sich der Eindruck verstärken sollte, daß nur dieses geschieht, wie kann dann ein Klima des besseren Vertrauens entstehen? Insofern darf man das Pferd nicht vom Schwanze aufzäumen. Rüstungskontrollergebnisse können eben letztlich nur so gut sein wie die politischen Beziehungen insgesamt. Deswegen sollten wir jetzt einen Anlauf in diese Richtung unternehmen. Die Vereinigten Staaten haben das getan. Abrüstung kann - das ist, so glaube ich, richtig - nur die Frucht politischer Vertrauensbildung sein. Deshalb sollte der jetzt in Stockholm beginnende Prozeß der militärischen Vertrauensbildung bei allen Beteiligten auch als Startsignal für die Förderung der politischen Vertrauensbildung betrachtet werden. Politisches Vertrauen bildet sich, wenn man mit dem Willen zu guter Nachbarschaft aufeinander zugeht und diesen guten Willen dann auch durch die Tat beweist. Darauf richtet sich unsere Politik. Politische Vertrauensbildung setzt voraus, daß man pfleglich miteinander umgeht. In dieser Hinsicht haben wir in dieser Woche ein gutes und ein schlechtes Beispiel erlebt. Die polemische Rede des sowjetischen Außenministers in Stockholm war kein gutes Beispiel. ({10}) Herr Ehmke, auch hier muß ich Ihnen sagen: Was ist das für eine merkwürdige Optik, wenn Sie sich zwar gezwungen fühlen, die Rede des amerikanischen Präsidenten als maßvoll anzuerkennen, aber gleichzeitig sagen, das sei nur Wahlkampf, aber die polemische Rede des sowjetischen Außenministers nicht kritisieren, sondern sie uns als unseren Mißerfolg in die Schuhe schieben. ({11}) Sie als unser Versagen zu kennzeichnen, wenn dort eine solche Rede gehalten wird, zeigt die schiefe Optik der deutschen Sozialdemokraten 1984. ({12}) Die Rede des sowjetischen Außenministers war kein Beweis sowjetischer Stärke, sondern zeigt eher die Ratlosigkeit einer Weltmacht, die sich in eine politische Sackgasse manövriert hat. ({13}) Wer die Rede in Stockholm aufmerksam verfolgt hat, dem konnte auch nicht entgehen, wie isoliert Andrej Gromyko mit seiner konfrontativen Tonlage geblieben ist. Aber man sollte diese Rhetorik auch nicht überbewerten, sondern die Sowjetunion ermutigen, baldmöglichst zu einer konstruktiven Politik zu finden. Auch sie kann sich dieser Notwendigkeit auf Dauer nicht entziehen. Alle Staaten im Westen wie im Osten erwarten vielmehr, daß die Sowjetunion hier ihrer politischen Verantwortung gerecht wird. Man kann nur wünschen, daß die sowjetische Führung dem Vorbild des amerikanischen Präsidenten mit seiner Rede am Vorabend von Stockholm folgt. Sie ist ein hervorragendes Beispiel verantwortungsbewußter Politik; sie ist realistisch. ({14}) - Aber, Herr Ehmke, Sie können doch nicht für sich Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn Sie diese richtungweisende Rede des amerikanischen Präsidenten in dieser lässigen Weise kommentieren, wie Sie es gemacht haben. ({15}) Dafür sind die Fragen auch viel zu ernst, als daß man sie so kommentieren dürfte. ({16}) Die Rede des amerikanischen Präsidenten verschweigt weder die vorhandenen Probleme noch vernebelt sie die existierenden Gegensätze - und das ist auch gut so -, aber sie unterstreicht den Willen zur gemeinsamen Problemlösung. Sie zeigt Wege auf und macht eindeutig klar, daß die Vereinigten Staaten gute Arbeitsbeziehungen mit der Sowjetunion wünschen. Darum geht es doch, daß wieder gute Arbeitsbeziehungen hergestellt werden, daß das Gespräch auch zwischen den beiden Supermächten der Normfall und keine Sensation ist. ({17}) Die Rede des amerikanischen Präsidenten verbindet Festigkeit bei der Wahrung eigener Interessen mit der Bereitschaft zum offenen Dialog und zur fairen Zusammenarbeit. ({18}) - Festigkeit! Festigkeit! Es ist mir klar, daß Sie da nachfragen, weil das für Sie schon ein Fremdwort im Zusammenhang mit Ihrer Sicherheitspolitik geworden ist. ({19}) Im übrigen kann ich nur sagen: Wer wie Sie nicht die Grundlagen durch die sicherheitspolitischen Entscheidungen des vergangenen Jahres geschaffen hat, hat eigentlich gar nicht das Recht, groß zu kommentieren, was inzwischen auf der internationalen Ebene dokumentiert wird. ({20}) - Sie haben nicht mitgewirkt an der Schaffung der Grundlagen. ({21}) Wahrung eigener Interessen, Bereitschaft zum offenen Dialog, faire Zusammenarbeit, das sind die Ziele, die in der gegenwärtigen Lage von überragender Bedeutung sind, Verzicht auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt, Verringerung der Rüstungsarsenale, Herstellung eines vernünftigen Arbeitsverhältnisses zwischen Ost und West, das von Verständigung und Kooperation geprägt ist. Diese Politik der Vernunft der Vereinigten Staaten deckt sich voll und ganz mit unseren Vorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland und mit den Vorstellungen aller europäischen Partner der Vereinigten Staaten. Deswegen können wir sagen, wir sind hier einig und geschlossen. Wir haben gezeigt, daß wir handlungsfähig sind, wenn es um unsere Sicherheit geht. Wir haben aber auch gezeigt, daß wir handlungsfähig sind, wenn es darum geht, den Dialog zwischen Ost und West wieder in Gang zu bringen. Darauf, daß Sie zeigen, daß Sie in dem einen oder anderen Bereich handlungsfähig sind, warten wir immer noch. Schönen Dank. ({22})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogt ({0}).

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Wenn man Herrn Bundesaußenminister Genscher hier so reden hört und ihn auch schon hörte, als er in Stockholm auftrat, hat man den Eindruck, daß jemand, der sich an einer - ich bitte, dies als vorsichtige Analogie zu nehmen - Vergewaltigung beteiligt, sich selbst gleich zum Krankenpfleger ausruft. ({0}) Das Obszöne an dem zweiten Teil ist dann, daß er sich für seine Samariterdienste auch noch feiern lassen will. ({1}) Das ist nämlich genau der Zustand. Die Stationierung der Raketen und insbesondere der Beitrag von Herrn Genscher zu diesem Ergebnis ist eine politische Vergewaltigung. Sie hat, wie Herr Ehmke hier zu Recht ausgeführt hat, zu einer enormen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ost und West geführt. Nun läßt sich Herr Genscher sozusagen als der Samariter bei der Pflege dieser Beziehungen feiern. Das kommt mir obszön vor. Die Situation nach Genf war ja so, daß wir feststellen mußten, daß beide Blockvormächte an ihrer Aufgabe, den Menschen die Angst vor einer atomaren Vernichtung zu nehmen, gescheitert sind und daß sie diese Angst und die Gründe für diese Angst nicht wegnehmen wollten oder konnten. Wir haben in der Friedensbewegung darauf verschiedene Antworten zu geben versucht und diese zu einem Konzept weiterentwickelt. ({2}) Zu diesem Konzept gehört in der Tat eine Europäisierung der Abrüstungsdebatte - ich bitte das genau zu nehmen -, nicht eine Europäisierung der Rüstungsdebatte. Das bedeutet: keine Rüstungsagentur Westeuropa, sondern - wenn schon - eine Abrüstungsagentur, auch einen Abrüstungsausschuß im Europäischen Parlament. Zu diesem Konzept gehört also eine Europäisierung der Abrüstungsdebatte. Stockholm könnte zu dieser Europäisierung der Abrüstungsdebatte in der Tat einen wertvollen Beitrag leisten. Dazu würde aber gehören, daß eine der kräftigsten Mächte - ich will hier nicht von großen, größeren, mittleren oder sonstigen Mächten reden - in diesem Spiel, die Bundesrepublik Deutschland, auch einen ernsthaften Beitrag zur Europäisierung der Abrüstungsdebatte leistet. Dazu würde in erster Linie gehören, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung aus dem Schlepptau der USA herauskommen. Was Sie aber, Herr Genscher, in Stockholm und jetzt auch wieder hier geboten haben, war ja nichts anderes als die Bekräftigung dafür, daß die Bundesregierung im Schlepptau der USA bleiben wird. Das heißt, daß hier im Ansatz schon die Chance der Europäisierung, der Aktivierung der Gefahrengemeinschaft der Europäer in Ost und West vertan wird. Man kann diese Ihre Einäugigkeit auch in bezug auf Ihr Verhältnis zu „Worten und Taten" nachweisen. Sie haben hier ausgeführt, daß Sie die Sowjetunion am Übereinstimmen von Worten und Taten messen würden. Sie haben im Zusammenhang mit Vorschlägen der Sowjetunion - ich weiß nicht, ob Sie es persönlich waren; es kam aber aus Ihrem Amt - von „verbalem Käse" gesprochen. Dies bezog sich aber nicht nur auf Vorschläge der Sowjetunion, sondern auch auf den Palme-Korridor, also Vogt ({3}) immerhin einen ernst zu nehmenden Vorschlag des Gastgebers. ({4}) - Das hat er nicht in dieser Rede getan. Ich habe gesagt: Das hat jemand aus seinem Hause getan, als Journalisten sich nach den Aussichten der Stockholmer Konferenz erkundigt haben. Sie haben hier aber dann die Übereinstimmung von Wort und Tat gefordert - dazu kann man „bravo" rufen -, sich dabei aber nicht etwa auf Taten der USA bezogen. Dann hätte man z. B. Grenada nennen müssen, wo die USA von der Gewaltverzichtsdeklaration der Vereinten Nationen flagrant abgewichen sind. ({5}) - Ich komme noch auf Afghanistan zu sprechen, verehrte Frau Kollegin, aber eins nach dem anderen und in der richtigen logischen Reihenfolge. Sie Herr Genscher, haben sich dann aber auf das Verbale bei Herrn Reagan bezogen, auf seine Jim- und-Iwan-Rede, auf diese die von ihm mitgeschaffenen Gefahren ungeheuer verniedlichende Rede. Das heißt mit anderen Worten: Sie zitieren das Verbale auf der Seite der USA, und Sie fordern von der Seite der Sowjetunion die Fakten ein. Die Fakten und das Handeln fordern natürlich auch wir von seiten der Sowjetunion. Wir verurteilen Afghanistan genauso, wie wir Grenada verurteilen. Ich persönlich möchte hier anfügen, daß in der Friedensbewegung die Kräfte am Erstarken sind, die mit Leidenschaft den Verbalismus der Sowjetunion in der Abrüstungsdebatte kritisieren. Wir hatten in Stockholm ein Hearing. Die Friedensbewegung hat der Stockholm-Konferenz sozusagen eine Anhörung vorgeschaltet. Unter anderem ist dort über eine atomwaffenfreie Zone im Norden, also einen speziellen, einen zusätzlichen Palme-Vorschlag diskutiert worden. Dabei ist auch darüber diskutiert worden, daß unter den skandinavischen Ländern Norwegen ausschließlich Rampen, aber keine Atomsprengköpfe hat. Natürlich ist an den sowjetischen Vertretern, der dort in Verbalismus machte, die Forderung gerichtet worden, auch die Sprengköpfe, die Atomsprengköpfe, die im Leningrader Raum stationiert sind, zurückzunehmen, um im Umgang mit diesen nordischen Ländern glaubwürdig zu sein. Das nenne ich eine konsequente, blockübergreifende Politik. ({6}) - Er hat das gesagt, was wir in diesem Hause auch von Ihrer Seite hören. Er hat nämlich gesagt: Wir können angesichts der Handlungen des Westens keine einseitigen Maßnahmen durchführen. Wir müssen einen solchen Vorschlag - wie ich ihn jetzt gemacht habe oder wie ihn unsere skandinavischen Freunde gemacht haben - natürlich in Verhandlungen einbetten. Wir dagegen sagen: Wenn die verfahrene Abrüstungspolitik, wenn der Karren überhaupt wieder in Gang gesetzt werden soll, dann müssen wir durch wohlüberlegte, einseitige, kalkulierte Maßnahmen - die wir übrigens überall fordern - eine Initialzündung auslösen, die dann schließlich zu einer multilateralen Abrüstung führen kann, die den Weg zu dieser multilateralen Abrüstung frei macht. ({7}) Da haben wir eine wirkliche Kongruenz hinsichtlich der Argumente hier in diesem Hause, wie sie insbesondere von der Regierungsbank und den Koalitionsbänken vorgebracht werden, und der Argumente dieser Peace-Vertreter, der in der Friedensbewegung hin und wieder auftauchenden Vertreter der offiziellen Sowjetdiplomatie. Also, wir kritisieren nach beiden Richtungen. Wir, die Fraktion der GRÜNEN, haben nun in der Tat versucht, die Initiative für das zu ergreifen, was wir - zunächst einmal in der Friedensbewegung; das kommt ja auch nicht von selbst - die Europäisierung der Abrüstungsdebatte nennen. Wir haben von der Fraktion aus einen Kongreß veranstaltet. Dieser Kongreß hat immerhin ein so interessantes Ergebnis gebracht, daß ich es Ihnen hier gern vortrage; auch auf dieser bereits erwähnten Vorkonferenz in Stockholm habe ich es schon vorgetragen. Da wird nämlich gefordert, den Begriff der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen im Sinne des Madrider Mandats für die Stockholmer Konferenz auch so zu sehen, daß darunter - im Einklang mit dem, was die Schweden, die Jugoslawen und die Finnen sagen - auch die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen verstanden werden kann, daß darunter auch eine Vereinbarung der 35 Teilnehmerstaaten verstanden werden könnte, ihre Rüstungsbudgets jährlich progressiv zu verringern und - darüber müßte man weiter diskutieren - den Anteil an der Entwicklungshilfe gegebenenfalls um denselben Betrag - über die 0,7 % hinaus - zu erhöhen, und daß darunter schließlich eine Vereinbarung über die Umstellung der Rüstungsindustrie auf die Produktion ziviler, gesellschaftlich nützlicher und nichtzerstörerischer Produkte verstanden werden kann. Solche Maßnahmen sind dann auch „militärisch bedeutsam", wie es in dem Mandat der Konferenz heißt. Sie können auch „politisch vereinbart" werden, und sie können, wie es im Mandat weiter heißt, „von angemessenen Formen der Verifikation begleitet werden". Wir müssen solche neuen Annäherungen an die Abrüstung finden. Denn trotz jahrelanger sogenannter Abrüstungsverhandlungen ist Europa in einer gefährlicheren Lage als je zuvor in seiner Geschichte. Nun, die Frage ist natürlich: Wie kann man versuchen, in dieser Instrumentalisierung von Abrüstung weiterzukommen? Was sicher nicht ausreicht, ist die auch von der bundesrepublikanischen Delegation stark betriebene enge Definition der vertrauensbildenden Maßnahmen in einer Weise, daß Abrüstungscharakter darin gar nicht vorkommen darf. Sie haben den Begriff „vertrauensbildende Maßnahmen" - das Mandat von Madrid restriktiv auslegend - völlig unnötig so verstanden, daß Sie z. B. atomwaffenfreie Zonen oder Palme-Korridor nicht darunter subsumieren, indem Sie sozusagen nach reiner Juristenlogik sagen: Erst sollen vertrauensbildende Maßnahmen durchgeführt werden - diese Begrenzung des Mandats durch die BundesreVogt ({8}) gierung und die US-Regierung kennt die Bevölkerung natürlich nicht -, erst sollen diese kleinen Schrittchen getan werden, die Sie hier geschildert haben - Austausch von Manöverbeobachtern usw. -, aber eine wirklich vertrauensbildende Maßnahme im nuklearen Bereich ziehen Sie erst gar nicht in Erwägung. ({9}) - Ich habe das Mandat gelesen. ({10}) - Ich habe diese Begrenzung dort nicht finden können, Herr Kollege Klein; das ist das Problem. Erst die Bundesregierung hat diese Begrenzung hineingejubelt oder hineininterpretiert; sie bewegt sich insofern im Schlepptau der USA. Sie machen damit genau dasselbe, was mit den Genfer Verhandlungen geschehen ist. Sie sorgen bereits von vornherein für eine Schieflage am Verhandlungstisch. ({11}) In Genf hat die Großmacht, die primär Seemacht ist, mit der Landmacht verhandelt und gesagt: Well, laßt uns doch zunächst einmal über die landgestützten Waffen, nämlich Raketen, diskutieren. - In der allerletzten Phase hat sie sich dann auch noch großzügig bereitgefunden, über die landgestützten Flugzeuge zu reden. Sie war niemals bereit, über seegestützte Waffen zu reden. Nun haben wir es mit einer Macht zu tun, die global nuklear immer noch überlegen ist und die nun wieder zur Sowjetunion sagt: Well, nun laßt uns doch ausschließlich über konventionelle vertrauensbildende Maßnahmen und konventionelle Abrüstungsmaßnahmen reden. Diese Schieflage hat doch von vornherein zur Folge, daß Sie keine Ergebnisse haben können. Das heißt: Es bleibt noch nicht einmal bei der Krankenpflege, denn Krankenpflege ist ja auf Linderung angelegt; die Krankheit wird allenfalls stabil gehalten. Das kann j a nun kein vernünftiger Einsatz bei einer solchen Konferenz sein. ({12}) Bei unseren Anstrengungen müssen wir aber auch über die Verhandlungen hinausgehen. Es bringt nichts, und es ist unverantwortlich, in der Bevölkerung Hoffnungen zu erwecken - die Berichterstattung einiger Medien über die Stockholmer Konferenz mutete eher wie eine Hofberichterstattung an -, als finde ein Dialog statt, von dem eine Linderung zu erwarten sei, oder als ob wirkliche Abrüstungsmaßnahmen zu erwarten seien. Wir müssen auch insoweit unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Abrüstung und Abrüstungspolitik müssen von dem Zugriff, von der Einschnürung, von der Umklammerung der Militärs und der meist konservativen Außenministerien befreit werden. Abrüstungspolitik muß eine innenpolitische Komponente bekommen. Die Bevölkerung muß sich aktiv an der Abrüstungspolitik beteiligen. Deshalb schlage ich konkret vor, daß die Friedensbewegung, die zur Zeit nachdenkt und nach Orientierung sucht, in allen Regionen Abrüstungsausschüsse, Bürgerinitiativen für Abrüstung bildet, die diesen Abrüstungsprozeß, wie er jetzt gezeigt wird, oder diesen Vertrauensbildungsprozeß, wie er in Stockholm versucht wird, kritisch begleiten. Das führt dazu, daß in der Bevölkerung erst einmal Kompetenz für eine kritische Begleitung solcher Prozesse entsteht. Diese Initiativen führen darüber hinaus aber auch zu einer Regionalisierung von Abrüstung. Ich versuche das in meinem Wahlkreis Kaiserslautern/ Kusel mittels eines Projekts, das wir „Standortbezogene Konversion" nennen. Wir wollen damit nachweisen, daß es gelingen kann, eine Region, die so abhängig vom Faktor Militär ist wie Kaiserslautern/Kusel, durch die Schaffung von Arbeitsplätzen beispielsweise in innovativen Sektoren, im ökologischen Landbau und im Bereiche mittlerer Technologie, vom Faktor Militär abzukoppeln. Nur dann können wir den nächsten Schritt machen und auch alternative friedenspolitische Konzepte ohne Aggression mit der Bevölkerung diskutieren. Das heißt: Wir wollen aggressionsfrei - nicht wie bei einer Aktion der Friedensbewegung in derselben Region, in Ramstein - mit der Bevölkerung diskutieren. Die Bevölkerung dort ist natürlich ökonomisch vom Faktor Militär abhängig. Ich fasse zusammen!

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nein, Herr Abgeordneter, bitte nicht mehr zusammenfassen. Ihre Redezeit ist schon überschritten.

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Schluß. - Ich fasse zusammen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Mit einem Satz.

Roland Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002383, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden Initiativen für eine Europäisierung und Regionalisierung der Abrüstungsdebatte ergreifen, und wir werden die Bevölkerung ermutigen, die Abrüstungspolitik in die eigenen Hände zu nehmen und sie nicht der Abrüstungsdiplomatie à la Stockholm zu überlassen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer ({0}).

Helmut Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001932, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf wegen dieser sehr späten Stunde ({0}) in diesem sehr leeren Saal eine vielleicht etwas aufmunternde Bemerkung machen, die Sie mir bitte nicht verübeln, Herr Vogt. Wenn Sie vorhin gefordert haben, wir sollten die Abrüstungsverhandlungen aus dem Bereich der Zuständigkeiten der Außenministerien, die konservativ seien, entfernen und sie innenpolitisch lösen, dann weiß ich nicht so recht, ob es Ihnen lieb sein kann, die Kompetenzen hier in der Bundesrepublik Deutschland Schäfer ({1}) zu vertauschen. Ich hätte jedenfalls gewisse Bedenken. ({2}) - Herr Vogt, ich habe doch gerade darauf aufmerksam gemacht, daß ich mit einer humorigen Bemerkung beginnen will, und Sie sind schon wieder so todernst, wie das Herr Schily immer ist. Es fällt mir ungeheuer schwer, mit Ihnen zu einem freundlichen Kontakt zu kommen, weil Sie alles so entsetzlich ernst nehmen. ({3}) - Ich gebe ja zu, daß wir hier über eine sehr ernste Sache sprechen. Bei der Nachrüstungsdebatte habe ich vor einem sehr vollen Saal vor Weltuntergangsstimmungen gewarnt. Heute habe ich den Eindruck, daß es die schon nicht mehr gibt, denn die meisten unserer Kollegen sind inzwischen zu Hause, was ich nach einer anstrengenden Woche auch verstehen kann. Wir sind inzwischen eher wieder zu einer vernünftigen und realistischen Weise, über Abrüstung zu sprechen, übergegangen. Dazu paßt, wie ich meine, Herr Kollege Ehmke, Ihr Fernsehauftritt mit dem Herrn Kollegen Mertes gestern abend. Ich habe ihn aufmerksam verfolgt und fand gar nicht mehr so ganz heraus, wer die Regierungsfraktionen und wer die Opposition vertritt. Es war schwierig, mit Ausnahme bei den chemischen Waffen. So einig waren Sie sich schon fast. Die FDP fand dabei leider nicht statt. Das ist j a bei den Medien im allgemeinen so. ({4}) Trotzdem war es eine sehr beachtliche Debatte. Was Herr Ehmke gestern abend gesagt hat und was er auch hier angedeutet hat, war nicht im Sinne des Kollegen Scheer, der vor wenigen Tagen immer noch meinte, die Konferenz von Stockholm bedeute viel zu kleine Schritte. Die Atomangst werde nicht hinweggenommen. Das mag zwar richtig sein, aber ich glaube, auch die Opposition - Vogt, Ehmke - geht zu einer realistischeren Betrachtungsweise über. Ich muß sagen: Herr Ehmke, der Bundesregierung einen Fehlschlag der Sicherheitspolitik anzulasten, ist ein bißchen unfair. Nicht wir haben die Verhandlungen in Genf geführt. Wir haben versucht, sie sinnvoll zu beeinflussen, übrigens zusammen mit Herrn Bahr. Daß es uns nicht geglückt ist, sollte man nicht dieser Bundesregierung vorwerfen. Daß nach den Ausführungen des sowjetischen Außenministers in Stockholm „keinerlei Anlaß zu Optimismus" besteht, kann ich nicht so ganz glauben; denn wir lesen ja heute von der baldigen Wiederaufnahme der MBFR-Verhandlungen in Wien. Es ist uns noch nicht bestätigt worden, aber wir haben Anlaß zu der Hoffnung, daß die Wideraufnahme dieser Verhandlungen durchaus ein Grund ist, Anlaß zu Optimismus zu haben. Sie, Herr Ehmke, und ich, wir wissen doch genau, daß nicht jede Rede, die bei internationalen Konferenzen gehalten wird, immer so ernst genommen werden darf, wie sie scheint. Ich glaube jedenfalls, diesmal hat Herr Gromyko seine Brille nicht zerbrochen, wie das in Madrid beim letzten Gespräch mit Außenminister Shultz der Fall gewesen sein soll. Das scheint mir schon ein gewisser Fortschritt zu sein. Meine Damen und Herren, ich darf an dieser Stelle, nachdem es hier heute morgen schon so vielerlei erregte Debatten gegeben hat, einmal in aller Ruhe sagen: Im Gegensatz zu Herrn Vogt bin ich sehr einverstanden, daß Abrüstungsverhandlungen von Außenministern geführt werden. Ich darf Herrn Genscher - ohne daß das jetzt das übliche Lob ist, das man als Mitglied der Partei hier spenden müßte ({5}) sagen: Ich bin sehr froh, daß seine Entschlossenheit, in Madrid zu einem vernünftigen Ende zu kommen, sehr wesentlich dazu beigetragen hat, daß die Amerikaner Madrid nicht verlassen haben, und daß seine Hoffnung, daß diese Konferenz zustande kommt, erfüllt worden ist. ({6}) Sie ist zustande gekommen. Wir sollten das hier herausstellen: Schon das Zustandekommen dieser Konferenz in dieser Zeit ist ein Fortschritt, auch wenn es nur ein kleiner ist. Herr Vogt, vielleicht noch ein Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie wollen große einseitige Schritte, wir sind schon mit kleinen beidseitigen Schritten zufrieden. Ich meine, auch das sollte hier einmal deutlich gesagt werden. ({7}) Meine Damen und Herren, ich glaube, daß im Anschluß an das, was hier schon gesagt worden ist über die Zielsetzung der neuen Stockholmer Konferenz, über die Vorschläge des Westens, über die sinnvollen Maßnahmen, die weiterführen sollen, vielleicht noch ein paar Worte über das gesagt werden sollten, was sowohl der amerikanische Präsident in seiner erfreulich gemäßigten Rede als auch der Bundesaußenminister zum Ausdruck gebracht haben. Herr Kollege Ehmke, ich gebe Ihnen recht: Auch ich hätte diese Rede des amerikanischen Präsidenten früher schon ganz gerne gehört. Der Bundesaußenminister hat schon in seinem Artikel, den er am 6. Dezember 1983 veröffentlicht hat, gesagt, daß durch diese Gespräche auch Dinge, mit denen wir uns in der nächsten Woche auseinanderzusetzen haben - z. B. Dritte-Welt-Politik - wieder einmal ins Gespräch der Großmächte kommen. Denn es ist, glaube ich, doch sehr wichtig, daß wir über die Frage der Sicherheit hinaus im Dialog mit dem Osten auch über langfristige Zielsetzungen etwa bei der Lösung von Konflikten in der Dritten Welt, die uns sehr zu schaffen machen und von denen wir alle befürchten müssen, daß von dort Funken auf uns überspringen könnten, ins Gespräch kommen. Hierzu hat Herr Reagan in seiner. Rede eine sehr interessante Bemerkung gemacht, die da heißt, die Verantwortung der Sowjetunion für die Lösung dieser Konflikte müsse in Zukunft deutlicher werden. Die Sowjetunion wird also von ihm aufgefordert, an Schäfer ({8}) einer Lösung der Konflikte teilzunehmen. Das ist in der Reagan-Rede fast eine wörtliche Übernahme von Herrn Genscher. Das fand ich sehr interessant. Es ist fast eine englische Übersetzung von Gensehers Bemerkung in seinem Namensartikel. Ich sehe also, daß es doch noch Einfluß der deutschen auf die amerikanische Politik gibt, Herr Vogt, was ganz erfreulich ist. Sicher muß auch Herr Reagan Taten folgen lassen. Auch hier bin ich der Meinung, daß es durchaus notwendig ist, nach dieser Rede der Sowjetunion einmal konkret zu sagen, wo sie etwas stärker zur Lösung von Konflikten beitragen könnte. Ich meine, im Nahen Osten bietet sich schon lange die Gelegenheit, die Sowjetunion nicht ständig draußen vor der Tür zu lassen, sondern vielleicht mit ihr gemeinsam nach Lösungen zu suchen, statt eine Konfliktlösung durch ein absolutes Fernhalten der Sowjetunion zu erschweren. Das ist übrigens ein Vorschlag, der nicht neu ist. Meine Damen und Herren, was die Fragen betrifft, die sich am Rande der Stockholmer Konferenz in den Dialogen mit den osteuropäischen Staaten, mit den anderen Staaten des Warschauer Paktes, ergeben werden, so meine ich, es wird eine ganz wichtige Aufgabe dieser Bundesregierung, aber auch von uns allen sein, in der Deutschlandpolitik einen Schritt vorwärts zu kommen und den Dialog zu verbessern. ({9}) - Herr Fischer, es ist sehr schwer, in dieser Stunde noch Optimismus auszustrahlen, wenn man als allerletzter Redner im Deutschen Bundestag dran ist. Das liegt aber wirklich nicht an meiner inneren Einstellung, sondern vielleicht an äußerlichen Ermüdungserscheinungen. Um auf die Maßnahmen zurückzukommen, die wir da treffen können: Es gibt ganz kleine. Herr Vogt, Sie haben auf Ihren Wahlkreis hingewiesen. Gestatten Sie mir, ganz kurz auf meinen Wahlkreis zurückzukommen. In einer Zeit, in der es scheinbar keine Dialogmöglichkeiten gegeben hat, ist es durch eine Anregung, die ich aus Moskau mitgebracht habe, immerhin geglückt, daß mein Wahlkreis, meine Stadt Mainz, eine Städtepartnerschaft mit der Stadt Baku aufnimmt. Der Oberbürgermeister ist vorgestern von seiner Reise dorthin zurückgekommen. Daß dies geschah, noch bevor die Konferenz in Stockholm eröffnet worden ist, ist, so finde ich, ein kleiner Beitrag zu dem Dialog unterhalb der Regierungsebene. Wir sollten das fortsetzen. ({10}) - Bin ich jetzt auch auf der Liste? Das würde mich nicht überraschen. ({11}) Aber ich meine: Unsere Vorstellung ist, daß solche Städtepartnerschaften nicht nur mit der Sowjetunion möglich werden - die Anregung kam diesmal aus der Sowjetunion -, sondern eigentlich auch mit der DDR möglich sein müßten. ({12}) Das wäre auch ein Thema, das wir einmal am Rande der Stockholmer Konferenz beraten sollten. Ich bin gespannt darauf, ob es meiner Stadt Mainz gelingt, mit ihrer aus dem Mittelalter herrührenden engen Verbindung zur Stadt Erfurt möglicherweise einen Schritt weiterzukommen. Die Stadt hat da Versuche unternommen. Die DDR ist aber nicht ganz so bereit, wie es bei der Sowjetunion der Fall ist. Ich meine, Herr Bundesaußenminister, wir sollten vielleicht auch darauf hinwirken, daß wir in unseren vielen Gesprächen mit DDR-Vertretern auch einmal die Bereitschaft verstärken, daß sich die DDR zu solchen Städtepartnerschaften bewegen läßt. ({13}) Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß kommen. Ich glaube, daß der Anfang, der in Stockholm gesetzt worden ist, uns sicher noch nicht dazu berechtigt zu sagen: Alle Probleme werden jetzt binnen kurzem gelöst sein. Kein Mensch vertritt diese Auffassung. Ich bin auch nicht der Meinung, daß wir hier in großem Optimismus machen sollten. Aber ich meine, daß gesprochen wird, ist entscheidend, und daß in Wien weiterverhandelt wird, ist wichtig. Jetzt kommt es noch darauf an, daß es uns gelingt, auch in Gesprächen mit der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten vielleicht einen neuen Rahmen für die Fortsetzung auch der Verhandlungen in Genf zu finden. Ich bin davon überzeugt, daß unser Optimismus, die Sowjetunion könne nicht daran interessiert sein, diese Gespräche nicht fortzusetzen, sich auch in dieser Frage auszahlen wird und daß wir alles daran setzen werden zu erreichen, daß die Sowjetunion auch in Genf weiterverhandelt. Daß Prestige und auch interne Schwierigkeiten in der Sowjetunion mit Sicherheit der Grund sind, weshalb man zögert, glaube ich, muß man im Westen sehen und berücksichtigen. Aber das heißt natürlich nicht, daß wir so tun sollten, als könnten wir auf Dauer keine Erfolge erzielen, wie das in manchen Reden heute vormittag angeklungen ist. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir am Ende dieses Jahres, das so erfreulich in Stockholm begonnen hat, in diesem Abrüstungsprozeß weitergekommen sein werden. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Damit sind wir am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 25. Januar 1984, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.