Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/4/1983

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Meine Kolleginnen und Kollegen! Am 12. April 1983 erreichte uns die Nachricht vom plötzlichen und allzu frühen Tod unseres Kollegen Harm Dallmeyer, der im Alter von erst 40 Jahren einem Herzversagen erlag. Harm Dallmeyer wurde am 16. Dezember 1942 in Eckernförde geboren. Nach dem Schulbesuch und einer Lehre als Zimmermann trat er 1963 in die Bundeswehr ein, der er zuletzt im Range eines Majors angehörte. Harm Dallmeyer war seit 1971 Mitglied der CDU, seit 1974 Ratsherr und stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Rat der Stadt Schleswig. Vier Jahre, von 1976 bis 1980, war er Generalsekretär der CDU Schleswig-Holsteins. Nach kurzer Tätigkeit als Abgeordneter im schleswig-holsteinischen Landtag wurde er 1980 in den Deutschen Bundestag gewählt. Hier hat er sich sehr schnell hohes Ansehen als Mitglied des Verteidigungsausschusses erworben. Harm Dallmeyer war vielen von uns ein hochgeachteter, fröhlicher, leidenschaftlich engagierter Kollege, von dem die meisten noch viel erwarteten. Sein jäher Tod setzte diesen Erwartungen ein tragisches und frühzeitiges Ende. Um Harm Dallmeyer trauern seine Frau und seine drei Kinder. Wir haben der Familie das Beileid des Deutschen Bundestages bekundet und versichert, des verstorbenen Kollegen stets ehrend zu gedenken. Der Fraktion der CDU/CSU spreche ich meine aufrichtige und herzliche Anteilnahme aus. Der Deutsche Bundestag wird Harm Dallmeyer ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren. - Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Für den verstorbenen Abgeordneten Dallmeyer hat am 19. April 1983 der Abgeordnete Saurin die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich und wünsche ihm erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag. ({1}) Am 11. April 1983 hatte der Abgeordnete Franke ({2}) seinen 70. Geburtstag. Ich spreche ihm auch von dieser Stelle aus und in aller Form die Glückwünsche des Deutschen Bundestages aus. ({3}) Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne haben der Ministerpräsident Spaniens, Herr Felipe Gonzáles-Márques, seine Gattin und die Mitglieder seiner Delegation Platz genommen. Ich begrüße Sie herzlich im Deutschen Bundestag. ({4}) Wir messen Ihrem Besuch, Herr Ministerpräsident, und dem Ihrer Delegation in der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Zeitpunkt besondere Bedeutung bei. Er dient der weiteren Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen unserer beiden Länder, zu der die Parlamente wesentlich beigetragen haben. Wir begrüßen die spanischen Entscheidungen für Europa und die europäische Sicherheit. Wir hoffen und wünschen, daß die Verhandlungen um den Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft auch durch Ihren Besuch Fortschritte machen und bald zu einem erfolgreichen Abschluß geführt werden können. In diesem Saal, Herr Ministerpräsident, fand im Sommer des vergangenen Jahres die spanische Flagge Aufnahme unter den Flaggen der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses. Der Deutsche Bundestag, der Ihnen dankbar ist, daß Sie Berlin in Ihr Besuchsprogramm einbezogen haben, wünscht Ihnen, Herr Ministerpräsident, und Ihrer Delegation gute Gespräche hier in Bonn, einen angenehmen Aufenthalt in unserem Lande und eine gute Zukunft für Spanien. ({5}) Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Wahl der Schriftführer - Drucksache 10/44 Drucksache 10/44 liegt Ihnen vor. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Wahlvorschlag auf Drucksache 44 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Ich bitte um Präsident Dr. Barzel die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Der Vorschlag ist, wenn ich das richtig sehe, einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition der Mitte, die Koalition von CDU, CSU und FDP, begann ihre Arbeit vor einigen Monaten in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates war bei vielen erschüttert. Die Bundesrepublik Deutschland war bündnispolitisch ins Zwielicht geraten. ({0}) Die Regierung der Mitte hat einen Anfang gemacht, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, die Systeme sozialer Sicherheit zu festigen, der Wirtschaft wieder Mut und den Menschen wieder Vertrauen zu geben. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist unübersehbar: der Aufschwung hat begonnen. ({2}) Mit unserer Außen- und Bündnispolitik stehen wir dort, wo wir stehen müssen: ({3}) auf der Seite der Freiheit, an der Seite unserer Freunde. ({4}) Die Regierungsparteien - CDU, CSU und FDP - haben vor der Wahl getan, was getan werden mußte, und gesagt, was nach der Wahl zu tun ist. Und die Wähler haben unserem Programm der Erneuerung zugestimmt. ({5}) Mein Dank gilt den Mitbürgern, die uns mit überzeugender Mehrheit und mit großem Vertrauen gewählt haben. Meine Achtung gilt auch denen, die in der Minderheit geblieben sind. Der demokratische Staat braucht beide: Regierung und Opposition. Alle Abgeordneten sind Repräsentanten der Bürger und für das Gemeinwohl verantwortlich. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß diese gemeinsame Verantwortung unsere parlamentarische Arbeit prägt. Ich wünsche uns allen einen fairen Stil des Umgangs miteinander. Das dient der Sache, und das dient unserer politischen Kultur. ({6}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vieles von dem, was sich bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland von selbst verstand, müssen wir heute erklären. Was für die Gründergeneration der Republik Frucht ihrer oft bitteren Erfahrung war, müssen Kinder und Enkel neu erwerben. Gespräch und Verständnis zwischen den Generationen sind schwieriger geworden. Aber alle sind gefordert, mit Maß und Mut miteinander zu sprechen. So schwer die Aufgaben unserer Zeit auch sein mögen: es gibt keinen Grund zur Resignation. Wir glauben an die Kraft, das Wissen und den Willen unseres Volkes. Die Herausforderungen zum Ende dieses Jahrhunderts können und werden wir bestehen. ({7}) Sieben Leitgedanken vor allem bestimmen unsere Arbeit: Erstens. Persönliche Freiheit und sinnerfüllte Arbeit, Wohlstand für alle und soziale Sicherheit sind mit Geist und Leistungskraft der Sozialen Marktwirtschaft zu erreichen. Nur mit dieser Ordnung sind die technologischen und ökologischen Aufgaben unserer Zeit in wahrhaft freiheitlichem Sinne zu lösen. ({8}) Zweitens. Wir wollen die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht. Mitmenschlichkeit ist praktizierter Bürgersinn. Das gehört zu der geistigen Erneuerung, die wir wollen. ({9}) Deshalb ermutigen wir die Bürger, nicht nur zu fragen „Wer hilft mir?", sondern auch „Wem helfe ich?". ({10}) Eine Gesellschaft, unsere Gesellschaft, beweist ihre Humanität, wenn viele ihren Dienst am Nächsten leisten, wenn viele für andere da sind - nicht nur jeder für sich selbst. Drittens. Wir wollen die moderne Gesellschaft. Wir können den sozialen und technologischen Wandel unserer Zeit nur als leistungsfähiges Industrieland bewältigen. Der technische Fortschritt birgt nicht nur Gefahren. Er nimmt auch Lasten von den Menschen und eröffnet ihrer Schöpferkraft neuen Raum. Wir wünschen uns wieder ein Verständnis der Arbeit, das der Tradition europäischer Geistesgeschichte entspricht: Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Viertens. Wir führen den Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurück, damit er sie wirklich zuverlässig erfüllen kann. Ansprüche können nicht stärker wachsen als Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Bürger. Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. ({11}) Fünftens. Wir gehören zum Westen. Das Bündnis für Freiheit und Frieden ist fester Bestandteil deutscher Politik. Hier verbinden sich unsere Grundwerte, unsere Lebensform und unsere Sicherheit. Der Frieden braucht die Freundschaft mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. ({12}) Sechstens. Die politische Union Europas bleibt unser großes Ziel. Die Einigung Europas war ursprünglich weit mehr als ein Angebot materieller Vorteile, und so muß es wieder werden. Unsere politische Kultur braucht vor allem den europäischen Horizont. Ich nehme gern die Gelegenheit wahr, an dieser Stelle auch noch einmal namens der Bundesregierung dem Ministerpräsidenten Spaniens einen herzlichen Gruß zu entbieten und ihm zu versichern, daß wir, die Deutschen, unser Wort einlösen: jenes Wort, das wir ihnen gegeben haben, als sie sich auf den Weg machten, ihr Land in die Gemeinschaft demokratischer Völker zurückzuführen. Wir werden mit Nachdruck und mit aller Entschiedenheit für den baldigen Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft eintreten. ({13}) Siebtens. Die deutsche Nation besteht fort. Wir sind für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und für das Ende der Teilung Europas. Wir werden alles tun, um in Frieden und Freiheit die deutsche Einheit zu erstreben und zu vollenden. ({14}) Dies sind die Leitsätze meiner Regierung. Wir werden uns an ihnen orientieren. Aber Politik, meine Damen und Herren, muß auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten erkennen: Der Frieden ist nur so sicher wie das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt; die Freiheit reicht nur so weit, wie sie sich nicht selbst zerstört; die Ansprüche an den Sozialstaat können nicht stärker befriedigt werden, als die Leistungskraft der Wirtschaft zuläßt; ({15}) das Gemeinwesen ist nur überlebensfähig, wenn es die Fähigkeit zum Wandel und zur Reform beweist. In diesen Spannungsfeldern müssen wir uns behaupten. Jetzt ist nicht die Zeit für große Versprechungen. Es ist höchste Zeit für die Politik der Erneuerung. ({16}) Diese Politik muß sich zuerst beweisen in der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Alle geschichtlichen Erfahrungen dieses Jahrhunderts lehren: Eine Wirtschaftsordnung ist um so erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem einzelnen seine Freiheit läßt. Die Soziale Marktwirtschaft ist wie keine andere Ordnung geeignet, Gleichheit der Chancen, Eigentum, Wohlstand und sozialen Fortschritt zu verwirklichen. Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger; wir wollen nicht weniger, sondern mehr persönliche Freiheit. ({17}) Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur die erfolgreichste Wirtschaftsform, sie ist auch dem Menschen gemäß: Sie fordert den Bürger, aber sie verfügt nicht über ihn. Wir machen Schluß damit, die Belastbarkeit der Wirtschaft zu erproben. ({18}) Das Ergebnis dieser falschen Politik waren: Massenarbeitslosigkeit - ein Ende des Anstiegs war nicht in Sicht -, ({19}) Investitionsschwäche - der Anteil der Bruttoinvestitionen am Sozialprodukt hat 1970 über 27 % betragen, 1982 weniger als 21 % - und Firmenzusammenbrüche - in den 60er Jahren ergab sich ein jährlicher Durchschnitt von 4 000 Konkursen, 1982 waren es fast 16 000 -. Seit der Amtsübernahme der Koalition von CDU/ CSU und FDP im Oktober haben wir verhindert, daß aus der Talfahrt unserer Wirtschaft ein Absturz wurde. Der Aufschwung wurde möglich. ({20}) Die Teuerungsrate, die Anfang 1982 noch über 6 % betrug, ist inzwischen auf 3,5 % gesunken. Die Deutsche Bundesbank hat alle Möglichkeiten genutzt, die Zinsen zu senken. Das Ergebnis ist spürbar. So lag z. B. der Hypothekenzins vor zwei Jahren noch bei 12 %; heute liegt er bei 7,5 bis 8 %. Die private Nachfrage hat sich belebt, und die Produktion nimmt in vielen Bereichen wieder zu. Durch das Dringlichkeitsprogramm hat die Bundesregierung ein zusätzliches Bauvolumen von 100 000 Wohnungen ausgelöst, d. h. hier werden bis zu 200 000 Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft gesichert. In den ökonomischen Beziehungen mit dem Ausland hat die Bundesrepublik das Gleichgewicht wieder erreicht. Nach hohen Leistungsbilanzdefiziten wurde 1982 wieder ein Überschuß von 7 Milliarden DM erzielt. Meine Damen und Herren, die Deutsche Mark ist international wieder mehr wert. ({21}) Das alles zu erreichen war wichtig genug. Noch wichtiger ist es, unserer Wirtschaft wieder zu einer robusteren Konstitution zu verhelfen. Aufgabe Nummer eins ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit. Hier geht es für uns nicht nur um ein wirtschaftliches Problem, sondern vor allem um ein Gebot der Mitmenschlichkeit. Die Jahre der Krise haben gelehrt, daß administrative Gängelung nicht weiterhilft. Die Regierungen haben ihr Versprechen, Vollbeschäftigung zu garantieren, nicht halten können. Sogenannte Beschäftigungsprogramme haben Milliarden verschlungen, ohne die Lage am Arbeitsmarkt stabilisieren zu können. Wir werden nicht neue Versprechungen machen, sondern die Ursachen der Fehlentwicklungen bekämpfen. ({22}) Ich habe bei meiner Amtsübernahme im Oktober 1982 gesagt - das war die Kernthese des Wahlkampfes und Grundlage des Wahlsieges der Koalition -, und ich wiederhole das heute vor dem Deut58 schen Bundestag mit dem gebotenen Ernst: Wir haben einen langen Weg vor uns. Keine Politik ist in der Lage, die Hypotheken der Vergangenheit kurzfristig zu tilgen und die Probleme schnell zu lösen. Vier Schwerpunkte werden in dieser Legislaturperiode die Arbeit der Bundesregierung zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise bestimmen: Abbau der Arbeitslosigkeit, Wiedergewinnung eines angemessenen Wachstums, weitere Sanierung der öffentlichen Finanzen und Sicherung der Renten. Wir wollen kein konjunkturelles Strohfeuer entzünden, sondern eine dauerhafte Belebung unserer Wirtschaft erreichen. Unsere Wirtschaftspolitik muß und wird berechenbar sein. Wir werden die Investitionskraft stärken und den notwendigen Strukturwandel erleichtern, indem wir für stabiles Geld sorgen, den öffentlichen Kapitalbedarf vermindern, die Bildung von Eigenkapital fördern und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen erleichtern. Die 80er Jahre sind ein Jahrzehnt des notwendigen Umbaus der deutschen Wirtschaft. Wir müssen bei der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung Anschluß halten und ihn zurückgewinnen, wo wir ihn verloren haben. Wir müssen zur Spitze vorstoßen. Deshalb bekennen wir uns zu einer verantwortungsbewußten Leistungselite: Jede Gemeinschaft kann auf Dauer nur so leistungsfähig sein wie die Menschen, aus denen sie besteht. ({23}) Ökonomische Vernunft und soziale Verantwortung zeigen den Weg zum Erfolg: den Investitionswillen und die Investitionsfähigkeit zu stärken. Nur über wachsende Investitionen, durch eine wachsende Wirtschaft wird es ein wachsendes Angebot an Arbeitsplätzen geben. Dabei ist Kapitalbildung die Voraussetzung für die notwendige Modernisierung unserer Wirtschaft. Voraussetzung für die Kapitalbildung ist eine Stärkung der Ertragskraft unserer Unternehmen. Nur wenn wir sicherstellen, daß es sich wieder lohnt, unternehmerisches Risiko einzugehen, wird das dazu erforderliche Kapital in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. ({24}) Sparen war immer eine Tugend der Deutschen, und die Mehrheit der Sparer sind Arbeitnehmer. Für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen der Wirtschaft werden wir sehr bald die notwendigen Gesetzentwürfe vorlegen. Die Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer stärkt die Eigenkapitalbildung der Unternehmen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind Partner im Unternehmen. ({25}) Arbeiter und Angestellte, Meister und Gesellen, die Selbständigen und die Angehörigen der freien Berufe, besonders auch die kleinen und mittleren Unternehmen in Handel, Handwerk und Industrie - sie alle sorgen für Beweglichkeit und Dynamik unserer Wirtschaft. ({26}) 13 Millionen Menschen, die Mehrheit der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, sind in der mittelständischen Wirtschaft tätig. Sie sollen ohne bürokratische Hemmnisse arbeiten können. Wir werden alles tun, um den Mittelstand von überflüssiger Reglementierung zu entlasten. ({27}) Für alle Bürger muß wieder gelten: Wer mehr wagt, und wer sich mehr plagt, der hat auch Anspruch auf Erfolg und Gewinn. ({28}) Wirtschaft und Gesellschaft brauchen dynamische Unternehmer. Ihr Wagemut und ihre Entscheidungskraft sind gerade in den vor uns liegenden schwierigen Zeiten verlangt. Diese Tugenden waren gemeinsam mit Tüchtigkeit und Fleiß der Arbeitnehmer Voraussetzung für unseren Wiederaufstieg nach dem Krieg. Die Bundesregierung würdigt die Leistungen und die Verantwortungsbereitschaft der deutschen Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. Die Leistungen der Wirtschaft, der Wiederaufbau, aber auch die Leistungen der Gegenwart wären ohne sie nicht denkbar. Die Tarifabschlüsse in diesem Jahr haben erneut bewiesen, daß unsere Gewerkschaften gewillt sind, gesamtwirtschaftliche Verantwortung zu tragen. Ich vertraue auch weiterhin auf das Verantwortungsbewußtsein der Gewerkschaften und werde jede Gelegenheit zu den notwendigen Gesprächen wahrnehmen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung bejaht eine flexiblere Gestaltung des Arbeitslebens. Eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit darf jedoch nicht zu einer zusätzlichen Gesamtbelastung der Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen führen. Zusätzliche Teilzeitarbeitsplätze erleichtern die berufliche Eingliederung der steigenden Zahl von Arbeitnehmern. Außerdem kann damit den Arbeitszeitwünschen vieler Arbeitnehmer besser entsprochen werden. Die Bundesregierung appelliert an alle Arbeitgeber, mehr qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze anzubieten. ({29}) Fast ein Drittel des Sozialprodukts der Bundesrepublik Deutschland verdanken wir unserer Exportwirtschaft. Wir müssen ihre Wettbewerbsfähigkeit im Preiskampf und im technologischen Wettstreit sichern. Wir sind für den freien Welthandel. Nur freier Austausch, nicht Protektionismus sichert Beschäftigung und Wohlstand. ({30}) Diese Überzeugung werde ich auch bei dem bevorstehenden Treffen der westlichen Industriestaaten in Williamsburg entschieden vertreten. Ich erwarte und hoffe, daß sich dort - und danach natürlich in der Praxis - auch unsere Partner zum freien Welthandel bekennen. Wir Deutsche haben in den vergangenen Wochen bei der Neufestsetzung der Wechselkurse im Europäischen Währungssystem bewiesen, daß wir faire Partner sind. Nur im Geist gemeinsamer Verantwortung für eine freie Weltwirtschaft werden wir die schwelende internationale Finanzkrise überwinden können. Die Zusammenarbeit zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern, zwischen Notenbanken, Weltbank und Internationalem Währungsfonds sowie den Geschäftsbanken ist unerläßlich, um unkontrollierbare Zuspitzung zu vermeiden. Meine Damen und Herren, für den Strukturwandel der deutschen Wirtschaft ist die sichere und wirtschaftliche Energieversorgung unentbehrlich. Wir wollen Energie sparsamer nutzen, den Verbrauch von Öl weiter verringern und die Energieversorgung unseres Landes zu international wettbewerbsfähigen Bedingungen sichern. Dabei ist die Schonung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen selbstverständlich. ({31}) Bei der friedlichen Nutzung von Kernenergie haben wir einen hohen Sicherheitsstandard erreicht. ({32}) Wir können und werden auf diese umweltfreundliche Energiequelle nicht verzichten. ({33}) Wir werden auch die zukunftsweisenden Reaktortechnologien zum Erfolg führen. ({34}) Die Entsorgung muß und wird zügig verwirklicht werden. Die Technologie neuer, auch regenerierbarer Energien wird fortentwickelt. ({35}) Meine Damen und Herren, das Ruhrgebiet war immer ein Zentrum wirtschaftlicher Leistungskraft und industriellen Fortschritts. Das verdanken wir den Menschen im Revier, ihrem Arbeitswillen und Unternehmungsgeist. Wir wollen als Bundesregierung dazu beitragen, die Leistungskraft des Reviers wiederherzustellen. ({36}) Wir wollen deutlich aussprechen, daß Kohle auch in Zukunft gebraucht wird. Der Bergbau hat Zukunft im Wärmemarkt, in der Industrie und bei der Veredelung. Forschung und Entwicklung auf diesem Feld werden wir gezielt fördern. Der Jahrhundertvertrag mit der Elektrizitätswirtschaft sichert den Vorrang der heimischen Kohle. Unsere Unterstützung für die deutsche Stahlindustrie nützt auch der heimischen Kohle. In der Stahlindustrie wird die Bundesregierung mit äußerster Entschiedenheit den internationalen Subventionswettlauf bekämpfen. Wir verlangen von den deutschen Unternehmen ein überzeugendes Konzept zur Neuordnung und Kapazitätenanpassung, das wir dann im Rahmen angemessener Fristen finanziell unterstützen werden. Hier, meine Damen und Herren, steht aber auch die Mitbestimmung vor einer neuen Bewährungsprobe: Im Aufsichtsrat sind Kapitaleigner wie Gewerkschaften vertreten. Beide sind in dieser Verantwortung gefordert. ({37}) Anpassungsprobleme gibt es auch anderswo, so bei den Werften, so bei der Deutschen Bundesbahn. Ich sage offen: Wir können die bestehenden Strukturen nicht um jeden Preis erhalten. Neue Überlegungen sind nötig. Die Verantwortung dafür liegt in erster Linie bei den Unternehmen. Aber es ist unsere Pflicht, Lösungen zu unterstützen, die Erfolg versprechen. Ermunternde Beispiele kleiner und mittlerer Werften zeigen: Mut zu mehr Markt ist auch hier der richtige Weg. Um den Werften die Anpassung an den Markt zu erleichtern, wird die Bundesregierung die Hilfen für Schiffbauindustrie und Reeder befristet fortsetzen. ({38}) Die Wirtschaftslage der Deutschen Bundesbahn belastet den Verkehrshaushalt immer stärker. Die Bahn muß ein Unternehmenskonzept erarbeiten, das zu Kostensenkungen und Ertragssteigerungen führt. Dabei muß selbstverständlich der öffentliche Personennahverkehr berücksichtigt werden. Die Deutsche Bundesbahn ist für uns unverzichtbar. Aber, meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie alle sind mit mir einer Meinung: Wir müssen dafür sorgen, daß sie nicht unbezahlbar wird. ({39}) Wir brauchen ein modernes, alle Regionen verbindendes Verkehrsnetz. Im Straßenbau werden wir Lücken schließen und Verkehrswege verbessern. Den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals wollen wir vollenden und den Ausbau der Saar fortsetzen. ({40}) Sinnvolle Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Verkehrsträgern ist die Voraussetzung für eine bedarfsgerechte Investitionspolitik. Im Wohnungs- und Städtebau werden wir unsere erfolgreiche Politik fortführen. Wir wollen, daß viele Bürger Wohnungseigentum erwerben können. Steuerliche Verzerrungen werden wir beseitigen und familienfreundliche Lösungen anstreben. Sozialer Wohnungsbau wie Wohngeld gehören zur Idee der Sozialen Marktwirtschaft. ({41}) Unsere Städte und Dörfer sollen schöner, der Wohnwert soll verbessert werden. Wir müssen die Baulandprobleme lösen. ({42}) - Ja, meine Damen und Herren, Sie haben uns ein gewaltiges Feld nach 13 Jahren überlassen. ({43}) Wir werden prüfen, wie das Angebot von Bauland erweitert werden kann. ({44}) Für ein einheitliches Baurecht wird die Bundesregierung Leitlinien vorlegen. Die Raumordnung soll mit der Struktur- und Umweltpolitik besser koordiniert werden. Agrarpolitik ist für uns immer auch Gesellschaftspolitik für den ländlichen Raum. Unsere Bauern und Landwirte sichern die Ernährung unserer Bevölkerung. ({45}) Sie haben ein Recht auf Lebensverhältnisse, die denen der übrigen Erwerbstätigen gleichwertig sind. ({46}) Die eigenständige soziale Sicherung der Landwirte hat sich bewährt und muß erhalten bleiben. Agrarpolitik ist zugleich ein wichtiger Teil des europäischen Einigungswerks. Deshalb unterliegt sie Regelungen, die stark vom Interessenausgleich in der Europäischen Gemeinschaft geprägt sind. Wir werden uns auch dort beharrlich für unsere Bauern und für die Verbraucher einsetzen. ({47}) - Das ist der Verfassungsauftrag. ({48}) - Dies ist eine Koalition, Herr Ehmke, die eben nicht Klassen vertritt, sondern das Ganze. ({49}) Wir wollen ein breitgestreutes Bodeneigentum und das Miteinander von Landwirtschaft, Handwerk, Industrie und Handel; wir wollen vor allem auch den bäuerlichen Familienbetrieb erhalten. ({50}) Meine Damen und Herren, wir wissen, daß der Staat und die Politik allein alle diese Probleme nicht lösen können. Der Staat soll dies auch gar nicht behaupten. Die Regierung, wir alle brauchen die Mitverantwortung aller Bürger. Zu viele sind zu lange dem Trugschluß erlegen, daß mehr verteilt werden kann, als erarbeitet worden ist. Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft verlangt auch die Rückkehr zu solider Haushaltsführung. Eine gesunde Wirtschaft setzt geordnete Finanzen voraus. Die Ausgabendynamik muß gebremst, die jährliche Neuverschuldung zurückgeführt werden. Das Wachstum der Bundesausgaben soll in den nächsten Jahren deutlich unter dem Zuwachs des Bruttosozialprodukts liegen. Die Struktur der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen muß stärker auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet werden. Die Reduzierung der Staatsquote belebt die Kräfte der Wirtschaft. Die Sanierung der öffentlichen Finanzen wird Einschränkungen mit sich bringen. Sie sind unausweichlich, wenn wir die Wirtschaft ankurbeln, Arbeitsplätze schaffen und die soziale Sicherheit gewährleisten wollen, ohne kommende Generationen unzumutbar zu belasten. Die Bundesregierung setzt die im Herbst 1982 eingeleitete finanzpolitische Wende fort. Wir wissen: Unsere Ziele sind nur schrittweise zu erreichen. Für 1984 heißt das: Erstens. Der Bundeshaushalt soll gegenüber 1983 um nicht mehr als 2 % wachsen. Das setzt voraus, daß die Bundesausgaben - im wesentlichen im konsumtiven Bereich - noch einmal um 6 bis 7 Milliarden DM gekürzt werden. ({51}) Zweitens. Die Neuverschuldung des Bundes soll auf der Grundlage der erwarteten wirtschaftlichen Entwicklung unter 40 Milliarden DM liegen. Dieser Betrag ist noch zu hoch, wie wir genau wissen. Wir werden ihn in den kommenden Jahren weiter zurückführen. Drittens. Durch Umschichtung im Haushalt wollen wir für Investitionen sowie zur Förderung von Wirtschaftsbelebung und Beschäftigung zusätzlich 1 bis 1,5 Milliarden DM zur Verfügung stellen. Die Deutsche Bundespost hat ihr Investitionsvolumen auf 14,9 Milliarden DM erhöht. Viertens. Wir wollen den Etat konsolidieren, ohne die Steuern zu erhöhen. Wir werden die Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht zu Lasten von Ländern und Gemeinden vornehmen, denn auch sie sind Hauptträger öffentlicher Investitionen. ({52}) Die Mischfinanzierung von Bund und Ländern wollen wir einschränken, um zu einer klaren Aufgabentrennung zu kommen. Wir werden bei der Krankenhausfinanzierung damit beginnen. Meine Damen und Herren, unsere Steuerpolitik wird verläßliche und überschaubare Bedingungen für die Wirtschaft und für alle Bürger schaffen. Wir wollen mehr Stetigkeit in der Steuerpolitik. Wir werden das Steuersystem Schritt für Schritt umgestalten: Wir wollen private Initiative fördern. Leistung darf nicht länger bestraft werden. ({53}) Für 1983 sind Steuerrechtsänderungen bereits beschlossen. Darüber hinaus werden wir Steuerentlastungen einleiten. Sie sollen die Leistungsbereitschaft erhöhen, Investitionen und Innovationen anregen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken. Mit dem Mehraufkommen aus der zweiten Hälfte der Umsatzsteuererhöhung sollen die Vermögensbildung gefördert und steuerliche Erleichterungen zugunsten der gewerblichen, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft geschaffen werden. ({54}) Die Einzelheiten werden wir schon bald hier miteinander diskutieren können im Zusammenhang mit dem Haushalt 1984, der in den nächsten Wochen erstellt wird. Wir wollen eine gerechtere Besteuerung. Deshalb werden wir z. B. die Möglichkeiten für Steuerersparnisse einschränken, die sich für Bezieher höherer Einkommen aus der Beteiligung an sogenannten Verlustzuweisungsgesellschaften ergeben. ({55}) Die Progression der Lohn- und Einkommensteuer belastet unsere Bürger um so stärker, je mehr sie leisten. Der Aufschub der Tarifanpassung kommt hinzu. Der Lohn- und Einkommen-Steuertarif muß also neu gestaltet werden. Aber - um das deutlich zu sagen - Umfang und Zeitpunkt hängen davon ab, daß die öffentlichen Finanzen gesunden und sich die gesamtwirtschaftliche Lage günstig entwikkelt. Herr Präsident, meine Damen und Herren, eine dauerhafte Gesundung der Wirtschaft verlangt auch, daß wir die Subventionen überprüfen, die Wirtschaft von Auflagen und Pflichten entlasten, die mehr kosten, als sie bringen, und die staatlichen Leistungen effektiver einsetzen. ({56}) Zu den Erfahrungen der letzten Jahre gehört: Jede Überforderung der ökonomischen und finanziellen Grundlagen gefährdet die soziale Sicherheit. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, hat Anspruch auf eine sichere Rente. ({57}) Die Bundesregierung wird an diesem Prinzip der Altersversicherung festhalten. Die Rentner können sich auf uns verlassen, daß die Renten sicher sind und sicher bleiben. ({58}) Wir haben bereits wichtige Maßnahmen zur aktuellen Sicherung der Leistungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger und zur Anpassung der Rentenversicherung ergriffen. Jetzt kommt es darauf an, diese ersten Erfolge zu festigen und die Renten auch langfristig auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Wir beginnen mit folgenden Maßnahmen: Erstens. Wir werden die bisher ungenügend erfaßten Sonderzahlungen zum Arbeitsentgelt in die Sozialversicherung einbeziehen. Zweitens. Die Renten werden dem Anstieg der Arbeitnehmereinkommen zeitnäher angeglichen. Drittens. Die Voraussetzungen für Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten werden enger gefaßt. Die Kinderzuschüsse bei Neurenten werden durch das Kindergeld ersetzt. Viertens. Vom Krankengeld werden ab 1. Januar 1984 Beiträge zur Rentenversicherung geleistet. Fünftens. Damit eine sonst notwendige Verschiebung des Rentenanpassungstermins im Jahre 1984 vermieden werden kann, hat die Bundesregierung dem Bundesarbeitsminister den Auftrag erteilt, bis zur Beratung der Begleitgesetze zum Bundeshaushalt einen finanziell gleichwertigen, den sozial- und finanzpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung entsprechenden Einsparvorschlag vorzulegen. Zusammen mit diesen fünf Maßnahmen werden wir eine umfassende Strukturreform der Rentenversicherung einleiten. Dies ist notwendig wegen unserer katastrophalen demographischen Entwicklung. Die Zahl der Erwerbstätigen nimmt ab, und die Zahl der Rentner nimmt zu. In den nächsten zwei Jahrzehnten, d. h. für den Rest dieses Jahrhunderts, wird die Zahl der über 60jährigen um etwa eine Million zunehmen. Gleichzeitig wird die Zahl derer, die in das Erwerbsleben eintreten, um über 4 Millionen abnehmen. So werden immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentner aufkommen müssen. Ich kann Sie alle nur herzlich einladen, sich an der großen Aufgabe der Strukturreform der Renten zu beteiligen. Im Interesse der Rentner, meine Damen und Herren, wollen wir uns um eine einvernehmliche Lösung bemühen. Wir werden eine Lösung herbeiführen. Aber ich bitte zu überlegen, ob dies nicht eine Thema wäre, bei dem alle demokratischen Parteien für die Zukunft Sinn und Erfolg sehen könnten, wenn es zu einem gemeinsamen Werk aller käme. ({59}) Wir gehen dabei von folgenden Prinzipien aus: Die Rente muß beitragsbezogen bleiben. Die Renten sollen sich wie die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer entwickeln. Und der Bundeszuschuß muß auf eine verläßliche Grundlage gestellt werden. Die Bundesregierung wird die Hinterbliebenenversorgung in der Rentenversicherung entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 neu ordnen. Aus finanziellen Gründen kommt zunächst leider nur eine begrenzte Neuregelung in Betracht. Sie soll die Gleichbehandlung von Frauen und Männern gewährleisten. Bei der endgültigen Regelung muß der Frau eine eigenständige soziale Sicherung gegeben werden, die dem Leitbild der Partnerschaft zwischen Frau und Mann entspricht. Meine Damen und Herren, wir haben eine besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges. Die Arbeit der Kriegsopferverbände verdient unsere besondere Anerkennung. ({60}) Der hervorgehobene Rang der Kriegsopferversorgung in der sozialen Sicherung bleibt unangetastet. Von speziellen Sparmaßnahmen bleiben die Kriegsopfer ausgenommen. ({61}) Mit der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft geht es uns nicht nur um wirtschaftliche Effizienz. Wir sind uns bewußt, wie sehr diese Wirtschaftsordnung Konflikte entspannen und Freiräume schaffen kann. Das Wort von Alfred MüllerArmack gilt noch heute: Die Soziale Marktwirt62 schaft ist ein Beitrag zum Frieden nach innen und außen. ({62}) Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen suchen nicht nur soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand. Sie wollen auch eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht. Was der einzelne für sich entscheiden kann, darf der Staat nicht an sich ziehen. Menschen in Not brauchen nicht nur staatliche Hilfe. Sie brauchen vor allem Menschen, die ihnen helfen, nicht nur Sach-Bearbeiter, die Fälle verwalten. Freiwillige soziale Dienste und ehrenamtliche Tätigkeit werden wir fördern, wo immer wir können. ({63}) Die Gleichberechtigung von Mann und Frau muß selbstverständlicher werden. ({64}) Die Benachteiligungen in der Arbeitswelt müssen durch gleichen Lohn für gleiche Arbeit und eine gerechte Arbeitsplatzbewertung abgebaut werden. Ich finde, es ist ein Ärgernis, wenn Frauen durch Einordnung in Leichtlohngruppen benachteiligt werden. ({65}) Hier sind in erster Linie die Tarifpartner gefordert. ({66}) Wir werden aber durch neue arbeitsrechtliche Bestimmungen dazu beitragen, die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Arbeitsplatzteilung und Teilzeitarbeit werden wir nach Kräften begünstigen. Die Bundesregierung strebt eine rechtliche Regelung an, die Benachteiligungen der Teilzeitarbeit ausschließt. Teilzeitarbeit kann auch für Männer attraktiv werden. Das Gesetz kann hier nicht alles regeln. Deshalb suchen wir das Gespräch mit den Tarifpartnern. Wir müssen gemeinsam neue Formen des Arbeitslebens und der Arbeitszeit verwirklichen. ({67}) Beruf ist für uns nicht nur außerhäusliche Erwerbstätigkeit. Tätigkeit im Haus und für Kinder ist gleichwertig; sie muß wieder mehr Anerkennung finden. ({68}) Vorrangig sind für uns Erziehungsgeld bzw. Kindergeldzuschlag in den ersten Jahren der Kindererziehung für alle Mütter oder Väter und die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung. Sobald die Finanzlage dies zuläßt, werden wir sie einführen. ({69}) Meine Damen und Herren, wir müssen wieder ein kinderfreundliches Land werden. Deshalb werden wir für einen Familienlastenausgleich sorgen. Mit Kindergeld und steuerlichen Erleichterungen werden wir die Familie weiterhin fördern. Durch ein Familiensplitting werden wir das Steuerrecht in dieser Legislaturperiode familienfreundlicher ausgestalten. ({70}) Für jeden - auch für Alleinerziehende - gilt: Wer Kinder hat, soll weniger Steuern zahlen als derjenige, der keine Kinder hat. ({71}) Das Fundament für eine Gesellschaft der Mitmenschlichkeit ist die Familie. Hier lernen die Menschen Verhaltensweisen, die unsere Gesellschaft prägen: Liebe und Vertrauen, Toleranz und Rücksichtnahme, Opferbereitschaft und Mitverantwortung. Meine Damen und Herren, wir hatten hier im Zusammenhang mit der Diskussion um die Neuordnung des § 218 vor knapp einem Jahrzehnt von großer Leidenschaft und großem Ernst geprägte Debatten. Ich finde, wir müssen die Zusagen ernst nehmen, die damals von allen Seiten gegeben wurden: Wir müssen uns um die alleinstehenden Mütter kümmern, ihre Diskriminierung in der Gesellschaft abbauen und ihre soziale Sicherung festigen. Wir müssen mehr tun für den Schutz des ungeborenen Lebens. ({72}) Unser Beitrag soll sein: der Familienlastenausgleich, eine Erleichterung des Adoptionsrechts und gemeinsam mit den Ländern eine erweiterte Beratung und Hilfe für schwangere Frauen. Es ist umstritten, Schwangerschaftsabbrüche wegen einer Notlagenindikation mit Steuergeldern und Krankenkassenbeiträgen zu finanzieren. Das Bundesverfassungsgericht befaßt sich zur Zeit mit diesem Thema. Wir haben das Urteil abzuwarten, und wir werden dann die gebotenen Konsequenzen ziehen. ({73}) Im Scheidungsfolgerecht brauchen wir mehr Gerechtigkeit im Einzelfall. Wir werden das Recht des Versorgungsausgleichs weiter verbessern und dabei Ursachen für die Zerrüttung der Ehe mitberücksichtigen. ({74}) Bei Vereinbarung über die Scheidungsfolgen sollten die Partner mehr Freiheit erhalten. Meine Damen und Herren, unsere Gesundheitspolitik wird die Eigenverantwortung des Menschen für seine Gesundheit betonen. Wir müssen der Selbsthilfe wieder mehr Raum geben und die Selbstverwaltung stärken. Die medizinische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland steht auf hohem Niveau. Das allerdings hat einen Preis, der zunehmend die Einkommen der Bürger belastet. Vor allem die Kostenexplosion im Krankenhausbereich muß eingedämmt werden. Die Leistungsfähigkeit der medizinischen Technik ist unbestritten. Der Patient braucht und will jedoch nicht nur Technik, sondern insbesondere auch menschliche Zuwendung. ({75}) Der Mißbrauch von Alkohol, Medikamenten und Drogen erfüllt uns alle mit großer Sorge. Wir müssen gemeinsam mit den freien Trägern und den Ländern alles tun, um Schäden zu heilen und vor allem die Ursachen dieses Übels zu bekämpfen. Körperliche und seelische Belastungen in der Industriegesellschaft, Verkehrs- und Arbeitsunfälle setzen jeden der Gefahr einer Behinderung aus. Der soziale Rechtsstaat hat die Pflicht, allen Behinderten zu helfen, damit sie sich in Beruf und Gesellschaft entfalten können. Behinderte wollen jedoch nicht Mitleid, sondern aktive Solidarität. Gerade in wirtschaftlich und finanziell schwierigen Zeiten ist es unsere Pflicht, für die Eingliederung unserer behinderten Mitbürger in Beruf und Gesellschaft zu sorgen. Weil uns Schutz und Hilfe für die Schwerbehinderten so wichtig sind, müssen wir Fehlentwicklungen abwenden. 4,5 Millionen Bürger der Bundesrepublik haben einen Schwerbehindertenausweis. Ihnen stehen Vergünstigungen zu, ohne daß dies in jedem Fall den persönlichen Lebensumständen gerecht wird. In Zukunft muß die Hilfe des Staates denjenigen zukommen, die sie wirklich benötigen. ({76}) Unsere Gesellschaft braucht den technischen Fortschritt. In den Informations- und Kommunikationstechnologien, in neuen Fertigungstechniken, in der Biotechnologie und bei der Entwicklung neuer Materialien gibt es weltweit eine stürmische Entwicklung. Sie bietet Chancen, aber birgt auch Gefahren. Wir wissen, daß nicht alles den Menschen Mögliche dem Menschen gemäß ist. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Wir müssen versuchen, Herr der Technik zu bleiben. Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken versprechen neue Wachstumsmöglichkeiten. Für ihre Anwendung schafft die Deutsche Bundespost wichtige Voraussetzungen. Diese Technologien erschließen Industrie und Handwerk sowie der Bundespost zukunftsweisende Arbeitsfelder. Wir müssen gerade in diesem Bereich alles tun, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Die Meinungsvielfalt erhält durch die neuen Kommunikationstechniken neuen Auftrieb. Deshalb begrüßt die Bundesregierung die Initiativen einzelner Bundesländer, neue Organisations- und Beteiligungsformen für Hörfunk und Fernsehen zu schaffen. ({77}) Die Chancen der neuen Techniken müssen ausgeschöpft, die Risiken möglichst gering gehalten werden. Wir werden sehr bald mit den Ländern den Dialog über die Medienordnung der Zukunft suchen. Im Ausland sind die neuen Techniken schon weit vorangekommen. Wenn wir nicht schwere Nachteile erleiden wollen, müssen wir wieder den Anschluß finden. Die Bundesregierung wird deshalb auf Entscheidungen drängen, damit die neuen Techniken freiheitlich genutzt werden können. Die Bundesregierung wird eine umfassende Konzeption für die Förderung der Entwicklung der Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechniken vorlegen. Meine Damen und Herren, wir werden bestehende Stiftungen fördern und prüfen, wie neue gemeinnützige Stiftungen ermutigt werden können. Dabei soll die Frage nach der Notwendigkeit der Novellierung des geltenden Stiftungsrechts in diese Prüfung einbezogen werden. ({78}) Die beste Technik nützt nichts, wenn die Menschen sie nicht beherrschen. Bund und Länder, Arbeitgeber und Gewerkschaften, wir alle müssen in einer großen gemeinsamen Anstrengung genügend berufliche Bildungsmöglichkeiten schaffen, aber auch sinnvolle Alternativen zum Studium. Wir halten am bewährten dualen System fest, das Schule und praktische Ausbildung verbindet. ({79}) Die Bundesregierung begrüßt es, daß die Länder begabte Schüler verstärkt fördern wollen. Sie wird dem Deutschen Bundestag einen Bericht über ihre Politik zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf vorlegen. Niemand darf wegen seiner sozialen Herkunft benachteiligt werden. ({80}) Wer sich durch gute Leistungen auszeichnet und aus einer einkommenschwachen Familie stammt, dem muß auch künftig geholfen werden. ({81}) Gemeinsam mit den Ländern werden wir die Forschung an den Hochschulen stärken. Zwischen den Hochschulen muß mehr Wettbewerb um wissenschaftliche Leistung stattfinden. ({82}) Wir wollen junge Wissenschaftler, die sich besonders qualifiziert haben, fördern. Unsere Grundlagenforschung muß sich im internationalen Vergleich behaupten können. Das kann nur dann gelingen, wenn wissenschaftliche Spitzenleistung wieder die verdiente Anerkennung findet. ({83}) Das Hochschulrahmengesetz muß auch daran gemessen werden, wieweit es der wissenschaftlichen Forschung und Lehre nützt. Meine Damen und Herren, auf Leistungseliten können und dürfen wir nicht verzichten. ({84}) Es müssen offene Eliten sein, bei denen die individuelle Leistung zählt. Die Zeiten sind nicht so, daß unsere Gesellschaft es sich erlauben dürfte, Talente unentdeckt und ungefördert zu lassen. ({85}) Viele junge Akademiker erhalten derzeit nach Abschluß ihres Studiums nicht die Chance, ihren Ideenreichtum und ihre Leistungsfähigkeit in einem angemessenen Beruf zu beweisen. Das ist ein Verlust für die Gesellschaft und ein Unglück für die Betroffenen. Wir dürfen das nicht als ein unabwendbares Schicksal hinnehmen, sondern müssen es als Herausforderung ansehen, den jungen Hochschulabsolventen - und sei es etwa auch durch Umschulungen - die Chance für entwicklungsfähige Berufe zu öffnen. Unser Staat braucht die zupackende Mitarbeit der jungen Generation. ({86}) In diesem Jahr werden alle Jugendlichen, die ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind, eine Lehrstelle erhalten können. ({87}) Allerdings wird nicht jeder - das sage ich schon seit Monaten - seinen Wunschberuf erlernen und nicht jeder dort in die Lehre gehen können, wo er möchte, wo er wohnt. Ein hochentwickeltes Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland muß es möglich machen, diese schwierige Aufgabe zu lösen. Ich möchte mich beim Handwerk, beim Handel, bei den freien Berufen, bei den Verantwortlichen der Industrie und bei den Gewerkschaften, vor allem auch bei den ausbildenden Betrieben ausdrücklich für ihre Bereitschaft bedanken, den jungen Leuten zu helfen. ({88}) Daß dies ohne gesetzlichen Zwang möglich ist, beweist die Stärke unserer freiheitlichen Gesellschaft. ({89}) Auch in den Jahren 1984 und 1985 stehen wir nochmals - zum letztenmal wegen der geburtenstarken Jahrgänge - vor dem Problem, daß viele junge Leute auf den Arbeitsmarkt drängen. Ihre erste Erfahrung in der Welt der Erwachsenen darf nicht darin bestehen, nicht gebraucht zu werden. Ich werde deshalb auch in den kommenden Jahren auf eine besondere Initiative für die Ausbildung drängen. Wer an dieser Initiative herumgenörgelt hat, soll lieber künftig mit anpacken, wenn ihm das Schicksal junger Leute am Herzen liegt. ({90}) Wir müssen der jungen Generation Hoffnung geben. Mancher aus ihr ist enttäuscht, daß Erwartungen und Versprechungen in der Vergangenheit nicht erfüllt wurden. ({91}) Aber das Bild von einer abseits stehenden jungen Generation ist falsch. Die große Mehrheit stellt sich ihrer Verantwortung in der Gegenwart und den Herausforderungen der Zukunft. In Gruppen und Vereinen mit sozialen, politischen, kulturellen, kirchlichen und sportlichen Aufgaben nutzen Hunderttausende junger Menschen die Möglichkeit, der eigenen Tätigkeit Sinn zu geben. Wir unterstützen dieses Engagement. ({92}) Ich denke dabei auch an die erfolgreichen Jugend- und Bundeswettbewerbe „Jugend musiziert" und „Jugend forscht", an denen jährlich mehr als zehntausend Jugendliche teilnehmen. Der von mir angekündigte „Wettbewerb sozialer Initiativen" wird in diesem Jahre beginnen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir alle sind verpflichtet, die uns anvertraute Umwelt auch den nachfolgenden Generationen zu erhalten. ({93}) Wir haben nicht das Recht, die Natur rücksichtslos auszubeuten. ({94}) Der technische Fortschritt muß Rücksicht auf die Umwelt nehmen. ({95}) - Ich habe eine geringe Chance, auch von diesen Damen einen Beifall zu erreichen. ({96}) Die von der modernen Technik verursachten Schäden können nur durch den Einsatz modernster Mittel der Technik wieder abgebaut und beseitigt werden. Die Schäden an unseren Wäldern sind alarmierend, die zunehmende Verschmutzung von Nord- und Ostsee ist erschreckend. Die Bürger erwarten zu Recht wirksame Gegenmaßnahmen. Wir haben sofort nach der Regierungsübernahme gehandelt. ({97}) Unser Wald hat eine unschätzbare Bedeutung für Wasserhaushalt, für Klima, für Gesundheit und Erholung und für die Unverwechselbarkeit der deutschen Kulturlandschaft. Gelingt es uns nicht, die Wälder zu retten, wäre die Welt, in der wir leben, nicht wiederzuerkennen. Das Eigeninteresse der Wirtschaft am Umweltschutz muß gestärkt werden. Umweltfeindliche Produktionsverfahren dürfen sich nicht lohnen. Umweltfreundliches Verhalten muß sich auch wirtschaftlich auszahlen. ({98}) In der Umweltpolitik der Bundesregierung behält die Luftreinhaltung Vorrang. Die Luftverschmutzung, die wesentlich zum Waldsterben beiträgt, werden wir mit einem breit angelegten Programm deutlich reduzieren. Wir werden uns weiterhin um den Schutz des Grundwassers und der Binnengewässer bemühen. Ebenso vordringlich ist eine lückenlose Kontrolle von Abfalltransporten auch über die Grenzen hinweg. ({99}) Die Bestimmungen über die Beförderung gefährlicher Abfälle werden wir verschärfen. Umweltkriminalität ist ein Anschlag auf Leben und Gesundheit der Menschen und muß geahndet werden. ({100}) Auch die Lärmgrenzwerte für Kraftfahrzeuge werden wir herabsetzen. Hier wie in allen anderen wesentlichen Fragen des Umweltschutzes geben wir einer einheitlichen europäischen Lösung den Vorzug. Wir haben erste Schritte unternommen, um die Verminderung der Kraftfahrzeugabgase zu erreichen. Umweltverschmutzung - das weiß jeder - macht vor Grenzen nicht halt. Umweltschutz erfordert daher das Zusammenwirken benachbarter Staaten und in zunehmendem Maße auch weltweite Anstrengung. Wir setzen uns für internationale Übereinkommen und für die notwendigen Vereinbarungen mit der DDR ein. Wir haben im Umweltschutz viel geleistet. Aber es bleibt noch viel zu tun. Ich rufe jeden Bürger auf, mehr Rücksicht auf die Natur unseres Landes zu nehmen. ({101}) Bei den Veränderungen, die wir im Zeitalter der technologischen Herausforderung erleben, sind die Erfahrungen unserer älteren Mitbürger von besonderem Wert. Auf die Leistungen älterer Menschen, ihre Urteilsfähigkeit und ihre Lebenserfahrung dürfen und können wir nicht verzichten. ({102}) Wir wollen Politik nicht nur für sie, sondern mit ihnen machen. Der vierte Familienbericht, den die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode vorlegen wird, soll zeigen, wie alte Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben und wie auch mehrere Generationen, wenn sie wollen, unter einem Dach leben können. Unsere Wohnungsbauförderung muß und wird dieser Idee Rechnung tragen. ({103}) Wir wollen die häusliche Pflege unterstützen und ihre Förderung ausweiten. Denn es ist oft menschlicher und vernünftiger - auch ökonomischer in vielen Fällen -, soziale Dienste zu den Menschen zu bringen, als Menschen in sozialen Einrichtungen unterzubringen. ({104}) Nachbarschaftshilfe: damit ist nicht nur mitmenschliche Fürsorge gemeint. Jede Selbsthilfe von Jung und Alt weckt das Selbstbewußtsein und damit den Elan des einzelnen und der Gemeinschaft. Geradezu beispielhaft dafür ist die Turn- und Sportbewegung unseres Landes. Millionen Sportler sind die größte Bürgerinitiative Deutschlands. ({105}) Mehr als die Hälfte der Bevölkerung beteiligt sich heute an dem Breiten- und Freizeitsport. Der Deutsche Sportbund sowie seine Mitgliedsorganisationen und -vereine demonstrieren, was Selbsthilfe vermag. ({106}) Seit den ersten Tagen der Bundesrepublik tragen Leistungssportler unseren Namen in die Welt. ({107}) Doch uns geht es nicht um Medaillen und Rekorde, nicht allein um sportliche Ehre für unser Land. Wir wollen keinen Sport im Dienste des Staates, sondern Sport im Dienste des Menschen. ({108}) Wirksamkeit und Überzeugungskraft staatlichen Handelns wachsen, wenn der Staat darauf verzichtet, zu viele Bereiche des Lebens zu regeln. ({109}) In der Vergangenheit hat der Staat im Übermaß Aufgaben an sich gezogen. Umkehr ist dringend geboten. In enger Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir Bürgern und Wirtschaft wieder mehr Freiräume zu eigenverantwortlichem Handeln verschaffen und auf bürgernahe Entscheidungen der Verwaltung hinwirken. Gutes Recht muß auch schnelles Recht sein. Gerichtlicher Schutz muß rasch gewährt werden. Eine überlange Verfahrensdauer untergräbt das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege. Wir wollen deshalb gerichtliche Verfahren vereinfachen und straffen. ({110}) Dabei darf der Rechtsschutz des Bürgers selbstverständlich nicht geschmälert werden. Wir wollen keinen kurzen Prozeß, sondern kürzere Verfahren. ({111}) Es muß uns gelingen, das Recht zu vereinfachen und Überreglementierung zu beseitigen. Ich denke hier vor allem an das Baurecht, das Bauplanungsrecht und die Genehmigungsverfahren für Großanlagen. ({112}) Die Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe sollen für Verfahren, die Großanlagen betreffen, die erstinstanzliche Zuständigkeit erhalten. Der oft jahrelange Schwebezustand für die Betroffenen soll auf diese Weise verkürzt, die wirtschaftliche Unsicherheit für die Antragsteller verringert werden. Dabei darf die Sicherheit für Bevölkerung und Umwelt natürlich keine Einbußen erleiden. ({113}) Meine Damen und Herren, das Gebot der straffen, vereinfachten Verfahren muß für sämtliche Gerichtszweige gelten. Zur weiteren Entlastung der Gerichte sollen die Möglichkeiten für eine vorgerichtliche Schlichtung mehr genutzt werden. Angesichts der wachsenden Zahl von Verfassungsstreitigkeiten müssen wir auch gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht prüfen, wie dieses Gericht entlastet werden kann. Für die Erhaltung und den weiteren Ausbau des freiheitlichen Rechtsstaates brauchen wir gute Juristen. Die Bundesregierung wird die Juristenausbildung weiterentwickeln und wieder vereinheitlichen. Sie wird sich um Lösungen bemühen, die möglichst von allen Bundesländern mitgetragen werden. Das Berufsbeamtentum hat Verfassungsrang und darf nicht angetastet werden. Gemeinsam mit den Verbänden und Gewerkschaften werden wir dafür sorgen, daß auch in Zeiten notwendiger Einsparungen der öffentliche Dienst seine Verantwortung wahrnehmen kann. Bei Einsparungen sind die Angehörigen der verschiedenen Gruppen des öffentlichen Dienstes nach Möglichkeit gleichzubehandeln. Beamte haben kein Streikrecht. Das darf ihnen nicht zum Nachteil gereichen. ({114}) Meine Damen und Herren, immer mehr Deutsche leben für längere Zeit im Ausland und können damit ihr Wahlrecht nicht ausüben. Wir werden durch die notwendige Gesetzgebung bald die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch sie wählen können. ({115}) Wir werden das Datenschutzgesetz novellieren. Dabei soll der Datenschutz vor allem im Gesundheitswesen verbessert und auch verstärkt werden. Die Erhebung von Daten dient dem Bürger und seinen Bedürfnissen. Datenschutz und öffentliche Sicherheit haben gleiches Gewicht. ({116}) Die innere Sicherheit ist eine Voraussetzung für unsere freiheitliche Ordnung. ({117}) Unsere Polizei, der Grenzschutz und die Verfassungsschutzbeamten tragen eine hohe Verantwortung; sie verdienen das Vertrauen und den Dank unserer Bürger. ({118}) Die Zunahme der Gewalt ist auch in der Bundesrepublik besorgniserregend. Wir werden Gewalt, unter welchem Namen und mit welcher Begründung sie auch auftreten mag, in unserem Rechtsstaat nicht dulden. ({119}) Die Bundesregierung wird zur Sicherung des inneren Friedens und des Demonstrationsrechts den strafrechtlichen Schutz gegen Landfriedensbruch verstärken und prüfen, ob weitere Maßnahmen, z. B. gegen Vermummung und passive Bewaffnung, erforderlich sind. Extremisten, ob sie von rechts oder von links kommen, haben in unserer Bundesrepublik Deutschland keine Chance. ({120}) Das Kontaktsperregesetz werden wir weiterentwickeln, ohne den Schutz vor terroristischen Aktivitäten zu beeinträchtigen. Meine Damen und Herren, unsere Rechtspolitik wird die Rechte des einzelnen wahren, die Rechtsordnung durchsetzen und unsere Institutionen schützen. Zur Sicherung des inneren Friedens müssen Bund und Länder eng zusammenwirken. Wir sind stolz auf unseren Föderalismus, um den uns viele Länder beneiden. Die von unserer Verfassung besonders geschützte Eigenständigkeit der Länder bewahrt uns vor einem bürgerfernen Zentralstaat. Die Kompetenzen des Bundes dürfen nicht länger extensiv zu Lasten der Länder ausgelegt und in Anspruch genommen werden. Zur föderativen Ordnung gehört nach unserem Verständnis auch die kommunale Selbstverwaltung. Sie hat hohen Verfassungsrang. Die Bürgernähe der Gemeinden ist für unsere Demokratie von fundamentaler Bedeutung. Die Gemeinden brauchen Handlungsspielraum. Ihnen und den Ländern darf der Bund nicht seine Lasten zuschieben. Wir werden das Gespräch mit den Ländern regelmäßig auch über diese Frage zu führen haben. Unsere freiheitliche Gesellschaft bezieht ihre Lebenskraft aus gemeinsamen Grundwerten. Meine Anerkennung und mein Dank gelten der großartigen Leistung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, die unser Wertbewußtsein mit prägen. Ohne christliche Ethik und Nächstenliebe wäre unser Volk ärmer. Ich würdige die vermittelnde Rolle der Kirchen und habe großen Respekt und hohe Achtung vor der Friedensarbeit der Kirchen in beiden Teilen Deutschlands. ({121}) Ich danke auch den Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft in Deutschland, die für den Ausbau unseres freiheitlichen Staats immer wieder unverzichtbare Beiträge geleistet haben. ({122}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für unsere Ausländerpolitik gelten die Grundsätze, die ich vor einigen Monaten, am 13. Oktober 1982, in meiner Regierungserklärung dargelegt habe: die Integration der seit langem bei uns lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien, die Begrenzung des weiteren Zuzugs und die Förderung der Rückkehrbereitschaft. Die von mir angekündigte Kommission hat ihre Arbeitsergebnisse vorgelegt. Notwendige Entscheidungen werden nach eingehender Diskussion mit allen interessierten Kreisen getroffen. Die Bundesregierung wird dann den Entwurf eines neuen Ausländergesetzes vorlegen. In der Bundesrepublik Deutschland leben jetzt über 4,6 Millionen Ausländer. Wir wissen, daß wir ihnen viel zu verdanken haben. Aber man muß dann auch sagen, daß wir nicht bereit sind hinzunehmen, daß Ausländer ihre politischen Auseinandersetzungen mit kriminellen Mitteln auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland austragen. ({123}) Wir werden sorgfältig untersuchen, ob politischer Extremismus und Kriminalität von Ausländern dadurch wirksamer bekämpft werden können, daß die Ausweisungsmöglichkeiten erweitert werden. ({124}) Um Verfolgten und Flüchtlingen aus aller Welt gemäß der freiheitlichen Tradition unseres Grundgesetzes Schutz bieten zu können, ({125}) wird die Bundesregierung alles tun, um den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern. ({126}) Meine Damen und Herren, ich weiß, und Sie wissen dies auch: Das Zusammenleben mit so vielen ausländischen Mitbürgern ist nicht ohne Probleme. Ich appelliere an uns alle, an die Deutschen und an die Ausländer, sich um noch mehr gegenseitiges Verständnis und noch mehr Toleranz zu bemühen. ({127}) Deutsche Außenpolitik, meine Damen und Herren, heißt vor allem: Bewahrung der Freiheit und Festigung des Friedens in Europa und in der Welt. Für uns ist aktive Friedenspolitik eine politische Notwendigkeit und eine sittliche Pflicht. Wir sind ein weltoffenes Land, und wir wollen es bleiben. ({128}) Wir wollen gute Nachbarn in Europa sein. Wir brauchen Partner und Freunde in der Welt. Wir haben sie. Wir wollen die Freundschaft erhalten. Wir können dies, weil unsere Politik zuverlässig, vertragstreu und berechenbar ist. Unsere Freunde können sich auf uns verlassen. ({129}) Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention bestimmen unsere Politik. Als freier Teil eines geteilten Volkes bleiben wir verpflichtet, für die Menschenrechte aller Deutschen einzutreten. ({130}) Die Schlußakte von Helsinki verpflichtet alle, die sie unterschrieben haben. Gewaltverzicht ist und bleibt Kernstück unserer Friedenspolitik. Das Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen gilt für alle und überall. Wir leben an der Trennungslinie zwischen Ost und West. Das legt uns besondere Lasten für unsere Sicherheit auf, zwingt uns in besonderem Maße zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit kommunistischen Gesellschaftssystemen, verpflichtet uns aber auch zur Verständigung. In unserer Lage ist es wichtig, daß das Bild von unserem Land, von unserem Volk, von unserer Geschichte, und zwar das zutreffende Bild, auch im Ausland lebendig ist. ({131}) Wir brauchen die Sympathie und das Wohlwollen anderer Völker. Unsere auswärtige Kulturpolitik muß die Verständigung und die Friedensgesinnung fördern. Wir müssen die deutschen Schulen im Ausland stärker als bisher fördern. Wir werden neue Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland wieder mehr zu verbreiten. ({132}) Fundamente unserer Außenpolitik bleiben das Atlantische Bündnis und die Europäische Gemeinschaft. Die Entscheidung für das Atlantische Bündnis, für die Partnerschaft mit den USA und Kanada wird uns auch in Zukunft Frieden und Freiheit sichern. Ich stehe dafür, daß der Weg, den CDU/ CSU und FDP unter Konrad Adenauer eingeschlagen haben, nicht verlassen wird. ({133}) Wir sind keine Wanderer zwischen Ost und West. Wer von ganzem Herzen für den Frieden eintritt, wer Freiheit und Menschenwürde als höchstes Gut betrachtet, wer unsere nationalen Interessen auf Dauer gesichert sehen will, der muß das westliche Bündnis stark und gesund erhalten. ({134}) Die Atlantische Allianz sichert den Frieden in Europa, und sie ist ein wesentlicher Faktor der Stabilität für die ganze Welt. Kernstück der Allianz bleibt die fest verwurzelte Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. ({135}) Diese Bindung mit den USA reicht 300 Jahre zurück. Millionen deutscher Auswanderer haben in vielen Generationen das Werden der amerikanischen Nation mitgeformt. Für den Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg steht für uns die historische Rede des amerikanischen Außenministers James Byrnes 1946 in Stuttgart. Er sagte damals: „Das amerikanische Volk möchte dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Völkern der Welt." Die Grundlagen dieser Freundschaft sind seit Oktober 1982 für jedermann sichtbar gefestigt. Das Vertrauen ist erneuert. ({136}) In den Konsultationen mit unseren Verbündeten bringen wir unsere Sicherheits- und Verteidigungsinteressen voll zur Geltung. Wir werden die politische und militärische Zusammenarbeit im Bündnis weiter stärken, aktiv mitgestalten und mitverantworten. ({137}) Jeder weiß, daß unsere vitalen Interessen über den NATO-Vertragsbereich hinausreichen. Krisenhafte Entwicklungen in anderen Teilen der Welt wirken sich auch auf uns aus. Deshalb brauchen und üben wir Solidarität und enge Abstimmung mit den Verbündeten, die weltweit Verantwortung übernommen haben. ({138}) Unser Gewicht im Bündnis wird maßgeblich von unserem Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung bestimmt. Daher wird die Bundesregierung der Bundeswehr die notwendige Unterstützung und die erforderlichen Mittel geben, damit sie ihren Auftrag der Friedenssicherung erfüllen kann. ({139}) Die Bundesregierung wird den Verteidigungswillen - dazu gehört auch die zivile Verteidigung - in unserem Volk wachhalten und die Bürger vom Sinn unserer Anstrengungen überzeugen. Für die nächste Zeit stellen sich vor allem drei Aufgaben im Bereich der Verteidigungspolitik: Erstens. Wir werden die personellen Probleme der Bundeswehr lösen, damit sie trotz schwächer werdender Jahrgänge ungeschmälert einsatzfähig bleibt. Es ist mein fester Wille, mehr Wehrgerechtigkeit zu schaffen. ({140}) Es geht nicht an, daß mehr als ein Drittel unserer jungen Männer im wehrfähigen Alter weder Wehr- noch Zivildienst leistet. ({141}) Zweitens: Alle reden vom Frieden, unsere Soldaten sichern ihn. Ihr Dienst ist Friedensdienst. ({142}) Wir wollen das auch in unseren Schulen sagen. Wir wollen keine Wehrerziehung, aber wir brauchen eine realistische Darstellung der Notwendigkeit unserer Sicherheitspolitik und unserer Verteidigungsbereitschaft auch in unseren Schulen. ({143}) Drittens. Nur eine umfassende Abrüstung könnte militärische Mittel zur Friedenssicherung entbehrlich machen. ({144}) Solange dies nicht geschieht, bleibt die Bündniskonzeption von Abschreckung und Verteidigung auf der Grundlage des Gleichgewichts unverzichtbar. Wir können die Nuklearwaffen nicht über Nacht aus der Welt schaffen. Ein einseitiger Verzicht würde die auf uns gerichtete nukleare Bedrohung nicht mindern, sondern die Gefahr eines Krieges erhöhen. ({145}) Es gibt in Wahrheit nur einen Weg aus diesem Dilemma: Wir müssen die nuklearen Waffen auf beiden Seiten drastisch reduzieren, diejenigen, die unsere Existenz bedrohen, und diejenigen, die wir heute für unsere Sicherheit bereithalten müssen. Der Weg zur mehr Sicherheit führt weg von Waffen. Wir wollen immer danach handeln: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. ({146}) Den Frieden in Freiheit zu sichern ist auch Aufgabe unserer Europapolitik. Es ist unsere historische Aufgabe, auf dem Weg der Einigung Europas energisch voranzugehen. Nur ein geeintes Europa kann seinen Aufgaben in der Welt gerecht werden. Nur ein geeintes Europa kann auf Dauer unsere freiheitliche und demokratische Ordnung gewährleisten. Die Bundesregierung setzt sich mit aller Kraft für die Europäische Union ein. ({147}) Für die vor uns liegenden Aufgaben gilt all das, was ich in meiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 von dieser Stelle aus gesagt habe. Wir wollen darauf hinwirken, daß wir beim nächsten Treffen des Europäischen Rats Anfang Juni in Stuttgart trotz aller Schwierigkeiten durch konkrete Beschlüsse vorankommen. Ein zwingendes Gebot sind mehr Geschlossenheit und bessere Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft. Die sicherheitspolitische Solidarität muß gestärkt und die Zusammenarbeit ausgebaut werden. Die Bundesregierung tritt trotz aller Schwierigkeiten und Probleme dafür ein, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft einander anzunähern. Koordinierung ist notwendiger denn je. Der Kampf gegen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit erfordert den freien Binnenmarkt. Aber auch nach außen muß die Gemeinschaft offen bleiben. Um als demokratisches Kontrollorgan wirken zu können, braucht das Europäische Parlament ausreichende Befugnisse. Wir sollten in allen Ländern Europas die Chance wahrnehmen, noch vor den Direktwahlen 1984 zur 2. Legislaturperiode einen Schritt voran zu gehen. Die Direktwahlen 1984 müssen ein überzeugendes BeBundeskanzler Dr. Kohl kenntnis unserer Bürger zu einem starken und einem einigen Europa werden. Die deutsch-französische Freundschaft ist tragender Pfeiler eines enger zusammenwachsenden Europas. Sie ist in beiden Ländern fest verankert. Der Elysee-Vertrag hat sie besiegelt. Auf dieser Grundlage wollen wir die vertrauensvolle Zusammenarbeit weiter ausbauen. Wir leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur politischen Einigung Europas. Wir werden die zweiseitigen Beziehungen zu anderen Partnern in Europa auch über die Europäische Gemeinschaft hinaus intensiv pflegen. Die regelmäßigen Konsultationen mit Großbritannien und Italien haben sich bewährt. Wir werden daran festhalten. Ich habe gestern mit dem spanischen Ministerpräsidenten vereinbart, daß wir künftig in ähnlicher Weise zu regelmäßigen Konsultationen mit unseren spanischen Freunden kommen. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Wege nach Europa. ({148}) Dies alles, meine Damen und Herren, und ich will das auch offen aussprechen, schließt nicht aus, daß wir selbstverständlich mit allen unseren europäischen Freunden, auch mit jenen in kleineren Ländern, besonders enge Beziehungen pflegen. Die Bundesregierung tritt für den Beitritt Portugals und Spaniens in die Gemeinschaft ein. Beide Länder müssen den ihnen gebührenden Platz in Europa einnehmen können. Hierbei wird sich die traditionelle Freundschaft erneut beweisen. Ihr Beitritt zu Europa stärkt die Stabilität Europas. Das gleiche, meine Damen und Herren, gilt für das Assoziierungsabkommen mit der Türkei. ({149}) Unsere Erwartung an die europäische Einigung bemißt sich nicht nach Monaten und Jahren. Ich sage das in jene Stimmung der Resignation hinein, die in vielen europäischen Ländern, auch bei uns, anzutreffen ist. Sie bemißt sich nicht nach Monaten und Jahren und nicht allein nach Konferenzen und Beschlüssen. Wir müssen bei diesem zentralen Punkt deutscher Zukunft in historischen Zeiträumen denken. Erinnern wir uns an das Wort Konrad Adenauers: „Europa", so sagte er, „das ist wie ein Baum, der wächst, ({150}) aber nicht konstruiert werden kann." Meine Damen und Herren, auf Grund unserer Lage und unserer Geschichte sind wir Deutschen verpflichtet, nach West und Ost gute Beziehungen zu pflegen. Für uns Deutsche gibt es zahlreiche historische Bindungen mit dem Osten. Wir haben ein tiefes Verständnis von der kulturellen Einheit Europas in all seiner Vielfalt und Verschiedenartigkeit. Wir betrachten unsere Nachbarvölker in Mittel- und Osteuropa nicht nur in diesem kulturellen Sinne als Teile Europas. ({151}) Wir haben Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis aller Staaten. Wir wissen um das historisch bedingte Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion. Nichts rechtfertigt aber die Überrüstung der Sowjetunion, die die Sicherheit der Nachbarn bedroht und politischer Erpressung dient. ({152}) Und nichts rechtfertigt die expansive Politik Moskaus, die zur Invasion in Afghanistan geführt hat ({153}) und die auch dem polnischen Volk seine Entscheidungsfreiheit beschränkt. ({154}) Die befriedigende Regelung humanitärer Fragen hat - dies muß auch die sowjetische Führung wissen - entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses. Wir werden darauf drängen, daß wieder mehr Deutsche aus der Sowjetunion ausreisen können. ({155}) Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, uns liegt daran, eine neue und bessere Qualität der Beziehungen zur Sowjetunion und zu den Staaten des Warschauer Pakts zu erreichen. Wir streben an, die Gespräche mit den osteuropäischen Staaten, insbesondere mit der Sowjetunion, auf allen Ebenen zu führen und, wenn möglich, zu vertiefen. Dies darf jedoch keine einseitige Politik sein. Wir messen den Willen der Verantwortlichen in der Sowjetunion zur Zusammenarbeit an ihrer Bereitschaft, zum Abbau und zur Beseitigung aller Belastungen konkret beizutragen. ({156}) Zu diesen Belastungen gehört auch, daß die Sowjetunion Außenpolitik auf zwei Ebenen betreibt - Ebenen, die sich gegenseitig ausschließen: Wenn die sowjetische Führung gleichzeitig den weltrevolutionären Klassenkampf gegen die freie Welt führen will, sind stabile zwischenstaatliche Beziehungen auf Dauer nicht möglich. Die Bundesrepublik Deutschland wird im Rahmen ihrer Friedenspolitik ihren Kurs der Verständigung, der Vertrauensbildung und der Zusammenarbeit auch mit den Staaten des Warschauer Pakts beharrlich und ohne jede Illusion über die bestehenden Gegensätze weiterverfolgen. Die Grundlage sind die geschlossenen Verträge, nach deren Buchstaben und Geist wir unsere Politik mit dem Osten gestalten wollen. Unser Ziel bleibt eine gesamteuropäische Friedensordnung. Diese mit unseren Verbündeten eng abgestimmte Politik ist ein Angebot zum Dialog, zum Ausgleich und zur Zusammenarbeit. Sie entspricht den Prinzipien, die im Harmel-Bericht der Allianz schon 1967 festgeschrieben wurden, die wir alle immer akzeptiert haben und die für uns und unsere Freunde nach wie vor Grundlage tragfähiger Beziehungen zum Osten sind: Festigkeit und Verständigungsbereitschaft. Auf Einladung von Generalsekretär Andropow werde ich am 4. Juli in die Sowjetunion reisen. Für mich ist es wichtig, die neue Führung der Sowjetunion persönlich kennenzulernen und mit ihr über unsere Probleme und Interessen sprechen zu können. Ich beabsichtige, wenn wir uns darüber verständigen können, diesen Dialog künftig mit einer gewissen Regelmäßigkeit fortzusetzen. Bei gutem Willen bietet sich ein weites Feld der Zusammenarbeit auf politischem, wirtschaftlichem und wissenschaftlich-kulturellem Gebiet. In diesen Zusammenhang gehört auch die gemeinsame Bewältigung von Umweltproblemen und die Verpflichtung der Sowjetunion, sich ihrer entwicklungspolitischen Verantwortung endlich zu stellen. ({157}) Das Angebot der Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Staaten schließt gegenseitig vorteilhafte und ausgewogene Wirtschaftsbeziehungen ein. Wir sind uns mit allen unseren Bündnispartnern einig, daß solche Beziehungen ein wichtiger Faktor des Ost-West-Dialogs sind. Entscheidende Voraussetzung bleibt aber - meine Damen und Herren, ich will dies deutlich sagen -, daß unser Handeln in vollem Einklang mit unseren Sicherheitsinteressen steht. Die Bundesregierung sieht in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in Madrid fortgeführt wird, eine Chance für die Gestaltung unserer Beziehungen mit den Staaten Osteuropas. Für uns - dies muß wieder einmal betont werden - sind dabei alle drei Körbe der Schlußakte von Helsinki von gleichem Gewicht: die Erklärung über die Prinzipien, die die Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker einschließt; das Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen und die Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Technik und der Umwelt. Wir hoffen, daß es in Madrid möglich sein wird, auf der Grundlage der vorgelegten Vorschläge mit entsprechenden Verbesserungen, insbesondere im Blick auf die Menschenrechte, noch in diesem Jahr ein substantielles und ausgewogenes Schlußdokument verabschieden zu können. Es würde ein präzises Mandat für eine europäische Abrüstungskonferenz enthalten und kann den Menschen in ganz Europa nützen. Meine Damen und Herren, das Schicksal des polnischen Volkes läßt uns nicht gleichgültig. Gerade in diesen Stunden und Tagen empfinden wir dies in besonderer Weise. Wir wünschen, daß es dem polnischen Volk gelingt, zu einer nationalen Übereinstimmung zu finden und die gegenwärtige Krise zu überwinden. Ablauf und Folgen des Besuchs von Papst Johannes Paul II. werden dabei Maßstab des inneren Friedens sein. Wir wollen Aussöhnung und Verständigung mit Polen, wie sie in beispielhafter Form von beiden Kirchen eröffnet wurden. Geschlossene Verträge gelten. Wir wollen sie nutzen zum Ausbau unserer Beziehungen. ({158}) Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Hoffnung auf weniger Spannungen in der Welt und auf bahnbrechende Erfolge bei der Abrüstung haben sich bis zur Stunde leider nicht erfüllt. Viele unserer Mitbürger sind in Sorge und Zweifel, ob weitere Aufrüstung wirklich verhindert werden kann. Sie fragen sich auch, wann und wie die Aufrüstung der Dritten Welt im Angesicht von Hunger und Not ein Ende findet. ({159}) Die Mehrheit unserer Mitbürger erkennt, daß wir nur durch geduldiges und überlegtes Bemühen um Rüstungskontrolle und nicht durch Friedenssehnsucht allein die Waffenarsenale dieser Welt abbauen können. ({160}) Niemand, der in politischer Verantwortung steht, kann guten Gewissens einseitige Abrüstungsmaßnahmen wollen, wenn dadurch die eigene Sicherheit in Gefahr gerät. ({161}) Der Entwaffnete verliert die Fähigkeit zur Selbstverteidigung, er wird erpreßbar. ({162}) Die Sicherheit unseres Landes bleibt ein unverzichtbares Gut. Wer wehrlos ist, meine Damen und Herren, mit dem verhandelt niemand. ({163}) Deshalb können wir nur von sicherem Boden aus darum ringen, die Rüstungen in Europa und in der Welt abzubauen. Der Westen ist der Sowjetunion vielfach entgegengekommen. Jetzt muß die Sowjetunion einen entscheidenden Schritt tun, damit am Ende des Weges Verträge stehen, die beiden Seiten Sicherheit garantieren. ({164}) Abrüstung und Rüstungskontrolle sind notwendige Bestandteile der Sicherheitspolitik der Atlantischen Allianz. Wir wollen konkrete und nachprüfbare Vereinbarungen über Abrüstung, die die Sicherheit beider Seiten nicht vermindern, sondern stärken. Wir arbeiten für den Erfolg der Genfer Verhandlungen. Wir wollen den Abbau nuklearer Mittelstreckenwaffen. Wir halten den amerikanischen Vorschlag für ein Zwischenergebnis für fair und konstruktiv. Dieser Vorschlag wurde aufs engste mit den Partnern im Bündnis abgestimmt. Und auch wir haben dazu unseren Beitrag geleistet. Ich wende mich an alle, die, aus welchen Gründen auch immer, die Ernsthaftigkeit des amerikanischen Verhandlungswillens bezweifeln: Ich weiß, daß der amerikanische Präsident mit allen seinen Kräften den Erfolg der Genfer Verhandlungen will. ({165}) Und ich hoffe, daß die sowjetische Führung den gleichen Erfolgswillen hat. Wenn dies so ist, werden wir noch in diesem Jahr zu einem Abkommen über eine Zwischenlösung kommen können. Noch reicht die Zeit dafür aus. Ich appelliere an die sowjetische Führung, zu begreifen, daß ein solches Abkommen auch im Interesse der UdSSR liegt. Die gestrigen Äußerungen von Generalsekretär Andropow bestätigen unsere Auffassung, daß die sowjetische Führung ihr letztes Wort zum amerikanischen Vorschlag für ein Zwischenergebnis noch nicht gesprochen hat. Es kommt jetzt darauf an, meine Damen und Herren, mit Beginn der nächsten Genfer Verhandlungsrunde am 17. Mai alle Möglichkeiten auszuloten, um zu einem substantiellen Abbau der sowjetischen nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa zu kommen. Unser endgültiges Ziel bleibt - gemeinsam mit all unseren Partnern in der Allianz - die NullLösung. Das heißt: Die Sowjetunion wie die USA verzichten auf die Stationierung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen. Jeder weiß, daß dies ein Ziel ist, ein Ziel, das noch fern liegen mag. Deswegen ist es ganz selbstverständlich, daß wir auf dem Weg zu diesem erstrebenswerten Ziel jede vernünftige Zwischenlösung unterstützen. Aber, meine Damen und Herren, ich will keinen Zweifel an der Meinung der Bundesregierung aufkommen lassen: Wenn die Sowjetunion nicht bereit ist, Sicherheit in Europa durch Abrüstung herzustellen, dann müssen wir uns Sicherheit durch die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen verschaffen. ({166}) Wir nehmen - im Sinne deutscher Politik - den NATO-Doppelbeschluß in seinen beiden Teilen sehr ernst. Ich habe hier zum ersten Teil nachdrücklich und nachdenklich referiert. Ich sage allen Partnern und Freunden ebenso deutlich: Auf die Bundesrepublik Deutschland ist auch Verlaß, was den zweiten Teil des NATO-Doppelbeschlusses betrifft. ({167}) Die Bundesregierung unterstützt die amerikanischen Bemühungen, auch die strategischen Nuklearwaffen beider Seiten drastisch zu verringern. Wenn sich die Sowjetunion zum Abbau des konventionellen Übergewichts des Warschauer Pakts bereit findet, werden sich neue Perspektiven für die Rüstungsverminderung in Europa ergeben. Wir werden in den Wiener Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen einen Beitrag zum Abbau der konventionellen Rüstung in Mitteleuropa leisten. Auch an den weltweit geführten Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen der Vereinten Nationen beteiligen wir uns. Im Genfer Abrüstungsausschuß geht es uns vor allem um ein weltweites, umfassendes und verläßlich überprüfbares Verbot aller chemischen Waffen. Meine Damen und Herren, der Friedenssicherung dient auch unsere außen- und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Dritten Welt - eine Zusammenarbeit auf der Grundlage der Partnerschaft und des gegenseitigen Respekts. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt echte Blockfreiheit - ({168})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Ich bitte, dieses Transparent einzurollen und zu entfernen. - Das Wort hat der Herr Bundeskanzler. ({0})

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Meine Damen und Herren, die Probleme, die wir jetzt zu bewältigen haben, sind leider nicht mit Transparenten und Feldgeschrei zu lösen. ({0}) Deswegen schlage ich vor, daß wir uns wieder unseren Fragen zuwenden. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt echte Blockfreiheit ebenso wie regionale Zusammenarbeit als wichtige Elemente internationaler Stabilität. Die Bundesregierung wird sich am Nord-SüdDialog in allen seinen Formen beteiligen. Wir messen hierbei dem Dialog der Weltreligionen eine hohe Bedeutung bei. Wir erleben in unserer Zeit den Aufbruch der sich zum Islam bekennenden Völker. Mit ihrer Kultur- und Geisteswelt hat sich Europa in Jahrhunderten fruchtbar auseinandergesetzt. Meine Damen und Herren, viele Entwicklungsländer sind auf unsere Mithilfe angewiesen. Auch für uns sind Entwicklungsländer längst unentbehrliche Partner. Viele haben sich in schwierigen Zeiten als unsere Freunde erwiesen. Sie können damit rechnen, daß auch wir sie als unsere Freunde unterstützen. ({1}) Wir werden den Ländern der Dritten Welt helfen, ihre Erfindungskraft und Dynamik zu entfalten. Zunächst geht es für sie um die Deckung der elementaren Bedürfnisse, um den Aufbau einer eigenen Ernährungsgrundlage, um die Förderung der Energieversorgung, um Ausbildung und um die Erhaltung der natürlichen Umwelt. Wenn wir den Ländern der Dritten Welt helfen, helfen wir auch uns, denn wir sichern damit auch Arbeitsplätze in unserem eigenen Land. ({2}) Die Bürger unseres Landes - und hier möchte ich insbesondere die junge Generation hervorheben - beweisen seit Jahren durch ihr Verständnis und ihre Mitwirkung, wie wichtig ihnen Entwicklungshilfe ist. Wir wissen, was wir den Kirchen, den Stiftungen, den freien Trägern und vielen Einzelinitiativen zu danken haben. Ich begrüße es ganz besonders, daß sich in zunehmender Weise auch die Bundesländer in diesem Bereich betätigen. ({3}) Die Bundesregierung wird die guten Beziehungen zu den Staaten Afrikas, des Nahen und Mittleren Ostens, Asiens, Lateinamerikas und des südpazifischen Raumes ausbauen. Grundlage unserer Nahostpolitik ist der Respekt vor den berechtigten Interessen aller, zum Teil in Widerstreit miteinander lebenden Völker und Staaten in jener Region. Darüber hinaus gilt unsere Verbundenheit in besonderem Maße Israel und unsere Fürsprache seinen Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsrechten. ({4}) Wir werden die freundschaftlichen Beziehungen zu Israel vertiefen, und wir werden unsere traditionelle Freundschaft mit der arabischen Welt weiter ausbauen. Gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und gemeinsam mit unseren europäischen Partnern werden wir bei der Lösung des Nahost-Konflikts zu helfen versuchen. Unsere Nahostpolitik orientiert sich am Existenzrecht Israels, am Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und am beiderseitigen Gewaltverzicht. Im südlichen Afrika unterstützt die Bundesregierung einen gerechten Interessenausgleich. Sie tritt für die Überwindung der Apartheid und das friedliche Zusammenleben aller Südafrikaner ein. Sie wirkt mit ihren westlichen Partnern auf eine baldige Unabhängigkeit Namibias hin. ({5}) Aus Afghanistan müssen sich die sowjetischen, aus Kambodscha die vietnamesischen Truppen zurückziehen. Für beide Länder bedarf es einer gerechten Lösung, die vom Willen der Bevölkerung getragen wird. ({6}) Im Interesse von Frieden und Stabilität Südasiens begrüßen wir die Schritte Indiens und Pakistans, historische Belastungen im Verhältnis zueinander abzubauen. Die Bundesregierung bietet den asiatischen Staaten unsere partnerschaftliche Zusammenarbeit an, wie sie sich zwischen EG- und ASEAN-Staaten bereits bewährt hat. Mit Staaten in anderen Weltregionen verbinden uns gemeinsame Überzeugungen und ähnliche Wirtschaftsstrukturen. Ich nenne Japan, Australien und Neuseeland. Meine Damen und Herren, im Bewußtsein gemeinsamer Interessen und traditioneller kultureller Bindungen wollen wir die Beziehungen zur Volksrepublik China weiter entwickeln. China ist ein wichtiger Faktor der Weltpolitik. Wir werden das zu berücksichtigen haben. ({7}) Unsere geschichtlich engen Verbindungen mit Lateinamerika werden wir besonders pflegen. Die Bundesregierung setzt sich für die Überwindung von Krisenursachen in Zentralamerika durch wirtschaftliche und soziale Reformen auf der Grundlage eines wirklichen demokratischen Pluralismus ein. ({8}) Für weltweite Verständigung und Verhandlungen bleiben die Vereinten Nationen das zentrale Forum. Dem wird unsere Mitarbeit in dieser Weltorganisation Rechnung tragen. Wir werden uns für eine Stärkung ihrer Friedensinstrumente, für die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts einsetzen. Dabei ist selbstverständlich, daß wir uns vor allem auch für die deutschen Interessen einsetzen, die sich aus der Teilung unseres Volkes ergeben. Meine Damen und Herren, eine gefährliche Grenze verläuft quer durch Deutschland - dort, wo noch immer die Mitte Europas liegt. Diese Grenze trennt die Deutschen, sie trennt die Europäer, sie trennt Ost und West. Vernunft und Menschlichkeit können sich nicht damit abfinden, daß an dieser Linie das Selbstbestimmungsrecht aufhören soll. ({9}) Die geschichtliche Erfahrung zeigt: Der gegenwärtige Zustand ist nicht unabänderlich. Realpolitik: j a, Resignation: nein! ({10}) Es sind jetzt 30 Jahre, seitdem der Volksaufstand des 17. Juni 1953 im sowjetischen Machtbereich aller Welt den Freiheitswillen der Deutschen demonstrierte. Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und Schikanen sind auch heute noch ein Anschlag auf die Menschlichkeit. Wo sie existieren, gibt es keine Normalität. ({11}) Wir schweigen nicht, wenn Menschenrechte verletzt werden. ({12}) Zu diesen Menschenrechten gehört das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit und auf Freizügigkeit. Wir wissen: Aus eigener Kraft allein können wir Deutschen den Zustand der Teilung nicht ändern. Wir können und müssen ihn aber, wenn möglich, erträglicher und weniger gefährlich machen. Ändern kann er sich in Wahrheit auf Dauer nur im Rahmen einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Für die Überwindung der deutschen Teilung haben wir den Rückhalt im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft nötig. Sie garantieren uns Sicherheit und Freiheit, sie stützen die Hoffnung auf Einheit - nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas. Das Bündnis und das geeinte Europa - wir brauchen sie mehr als andere. ({13}) Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung bleibt bestimmt durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, den Deutschlandvertrag, die Ostverträge, die Briefe zur „Deutschen Einheit" sowie die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972, der alle Fraktionen - CDU/CSU, SPD und FDP - zugestimmt haben, den Grundlagenvertrag und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1973 und vom Juli 1975. Das Bewußtsein der Einheit Deutschlands und der gemeinsamen deutschen Kultur und Geschichte wachzuhalten, ist für uns Aufgabe und Verpflichtung. Sie sollen nicht allein denen überlassen bleiben, die durch die Teilung unseres Vaterlandes besonders betroffen sind. Auch die Zonenrandförderung bleibt Ausdruck unseres Willens, uns mit den Folgen der deutschen Teilung nicht abzufinden. ({14}) Viele Bürger unseres Landes verloren durch Vertreibung, Flucht und Aussiedlung ihre Heimat. Sie haben einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik Deutschland geleistet, und sie haben sich unermüdlich für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und für die Einigung Europas eingesetzt. Es ist nicht zuletzt ihre großartige Leistung, die Leistung der Vertriebenen, daß der Revanchismus in Deutschland keinen Boden fand. ({15}) Bereits in ihrer Charta von Stuttgart im Jahre 1950 haben die Vertriebenen feierlich den Gewaltverzicht mit den Worten erklärt: Wir verzichten auf Rache und Vergeltung. Wir werden jedes Beginnen unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist. Meine Damen und Herren, wir stehen in der langen Reihe deutscher Patrioten, die die deutsche Einheit in einer größeren europäischen Heimat suchten. Europäische Friedenspolitik ist Teil unserer Geschichte und liegt im nationalen Interesse. Die Menschen in den beiden Staaten in Deutschland halten an der Zugehörigkeit zu Deutschland und an ihrem Selbstverständnis als Deutsche fest. Für uns gibt es nur eine deutsche Staatsangehörigkeit. Wir bürgern niemanden aus. ({16}) Die bestehenden Verträge mit der DDR wollen wir nutzen und ausfüllen. Grundlage für praktische Regelungen ist die Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung. Im innerdeutschen Handel liegen Chancen für beide Seiten. Er ist ein wichtiges Element der Beziehungen. Wir streben weitere praktische Fortschritte an. Wir sind bereit zu langfristigen Abmachungen über wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Austausch, vor allem auch im Bereich des Umweltschutzes. Dazu können Gespräche auf allen Ebenen nützlich sein. Das gilt auch für den im vorigen Jahr vereinbarten Jugendaustausch, den wir gern erweitern wollen. Meine Damen und Herren, wer gutnachbarliche Beziehungen will, wie dies der Grundlagenvertrag formuliert, muß mit uns dafür eintreten, daß Verträge nach Geist und Buchstaben eingehalten werden. Deshalb bestehen wir weiterhin entschieden auf der Senkung der Mindestumtauschsätze. ({17}) Wir streben Erleichterungen für Reisen in beide Richtungen an. Einheit der Nation heißt auch, daß Menschen einander begegnen, daß sie sich auch in der gemeinsamen Geschichte wiederfinden. In diesem Sinne, so glaube ich, sagen zu dürfen, gehen auch heute von der Bundesrepublik Deutschland viele Gedanken hinüber nach Eisenach, wo auf der Wartburg die kirchlichen Luther-Feiern beginnen. ({18}) Wir, die Deutschen, haben aus unserer Geschichte gelernt. Wir wollen in Frieden und wir wollen in Freiheit miteinander leben. Wir wollen zueinander kommen, weil wir zueinander gehören. Berlin, meine Damen und Herren, bleibt Prüfstein der Beziehungen zwischen Ost und West. Berlin ist keine Stadt wie jede andere. Die geteilte Stadt ist Symbol der deutschen Frage. Berlin ist eine nationale Aufgabe. Deshalb wollen wir die Lebenskraft der Stadt stärken und ihre Anziehungskraft fördern. Der kulturelle Reichtum Berlins gehört zu der besonderen Ausstrahlung der Stadt. Theater, Musikleben und Museumslandschaft Berlins wirken weit über die Grenzen unseres Landes hinaus. Die Bundesregierung wird alles tun, um zu helfen, damit Berlin diese Ausstrahlung behält. 1987 blickt Berlin auf 750 Jahre seiner Geschichte zurück. In der alten Reichshauptstadt soll ein Deutsches Historisches Museum errichtet werden. Wir, die Bundesregierung, wollen bei der Verwirklichung helfen, und wir wünschen, daß das neue Museum im Jubiläumsjahr seine Tore öffnen kann. ({19}) Es gilt, die wirtschaftliche Lage Berlins zu verbessern. In der Wirtschaftskonferenz, die ich gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister einberufen habe, konnten wir Repräsentanten der deutschen Wirtschaft für folgende Aufgaben in Berlin gewinnen: verstärkt zu investieren und zukunftsorientierte Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist auch die Chance für Berlin, Zentrum für Grundlagenforschung und moderne Technologie zu bleiben. ({20}) Wir treten weiterhin ein für Konsolidierung und Entwicklung der Bindungen Berlins an den Bund sowie für die Wahrung der Außenvertretung Berlins durch den Bund. Die strikte Einhaltung und volle Anwendung des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin muß gewährleistet bleiben. Die Bundes74 regierung mißt dem reibungslosen Reiseverkehr von und nach Berlin hohe Bedeutung bei. ({21}) Die Bundesregierung hat am 13. Oktober 1982 ihre Absicht angekündigt, in der Bundeshauptstadt Bonn eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 zu gründen, die der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation gewidmet ist. Wir wollen auch dieses Vorhaben bald auf den Weg bringen, wie wir überhaupt alles tun wollen, um der Stadt Bonn zu helfen, damit sie ihrer Funktion als Bundeshauptstadt gerecht werden kann. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir, die Deutschen, müssen uns unserer Geschichte stellen, mit ihrer Größe und ihrem Elend, nichts wegnehmen, nichts hinzufügen. Wir müssen unsere Geschichte nehmen, wie sie war und ist: ein Kernstück europäischer Existenz in der Mitte des Kontinents. Der jungen Generation muß die deutsche Geschichte in ihren europäischen Bezügen und Bedingungen wieder geistige Heimat werden. Heute steht die Bundesrepublik Deutschland an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen, ({22}) er kann nur auf ihm fahren und steuern So hat Otto von Bismarck als Summe seiner Erfahrungen Aufgaben und Grenzen der Politik bestimmt. Die Regierung hat den Auftrag zu steuern. Sie zählt dabei auf den Sinn der Bürger für Realität und Richtung. ({23}) Die Koalition der Mitte von CDU, CSU und FDP steht für Freiheit, Verantwortung und Mitmenschlichkeit. Wir wollen wahrmachen, was uns das Grundgesetz als das Erbe von Christentum und europäischer Aufklärung aufgetragen hat: die freie Entfaltung der Persönlichkeit in ihrer Verantwortung für den Nächsten. ({24}) Dies bestimmt unsere Vision. Es ist die Vision von einem Volk, von unserem Volk, das sich im Miteinander bewährt und daraus die Fähigkeit gewinnt, anderen zu helfen. ({25}) Meine Damen und Herren, wir haben allen Grund zur Zuversicht. Uns ist ein großes kulturelles Erbe übertragen: der Philosophie, der Dichtung, der Literatur, der Musik und der bildenden Künste. Aber wir waren und sind auch immer ein Volk der Erfinder und der Unternehmer, der Sozialreformer und der Wissenschaftler gewesen, das Volk von Albert Einstein und Max Planck, das Volk von Siemens und Daimler, der Zeiss und Röntgen, das Volk eines Ketteler und eines Bodelschwingh. ({26}) Unser Volk wird die Herausforderung der industriellen Welt, die es so entscheidend mitgeformt hat, bestehen. Es gibt keine Alternative zur Industriegesellschaft, ({27}) aber es gibt Alternativen in der Industriegesellschaft. ({28}) Wir haben die Kraft und das Leitbild, Ethik und Ökonomie, Freiheit und Gerechtigkeit zu verbinden. Beides zusammen hat den Aufstieg der Deutschen aus der moralischen Katastrophe und aus dem Elend vor mehr als 30 Jahren ermöglicht. Dies zeigte die Energie und die Stärke unseres Volkes. Warum sollte das heute anders sein? ({29}) Das Tor zur Zukunft steht offen. Die Koalition der Mitte wird den richtigen Weg gehen - in der Verantwortung für die Freiheit und die Mitmenschlichkeit in unserem Vaterland. ({30})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, ich unterbreche jetzt die Sitzung. Die Sitzung wird pünktlich um 14 Uhr mit der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung - erster Redner: Herr Abgeordneter Dr. Vogel - fortgesetzt. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Meine Damen und Herren, bevor ich dem Kollegen Dr. Vogel das Wort gebe, möchte ich mitteilen, daß ich den Eindruck habe - es gibt j a keine Verabredung -, daß die heutige Sitzung nicht um 19 Uhr, sondern um 21 Uhr zu Ende gehen wird. Ich habe außerdem den Vorgang mit dem Transparent noch einmal geprüft. Ich konnte von hier aus die Inschrift natürlich nicht lesen. Ich möchte darauf hinweisen, daß nach unserer Geschäftsordnung das gesprochene Wort die Methode der Auseinandersetzung ist. Ein Transparent ist nicht vorgesehen. Ich bitte deshalb, künftig darauf zu verzichten. Ich muß heute von § 36 unserer Geschäftsordnung Gebrauch machen und Frau Kelly und Frau Gottwald hiermit zur Ordnung rufen. ({0}) Das Wort hat der Kollege Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war eine lange Regierungserklärung, die wir heute morgen gehört haben; eine große Regierungserklärung war es nicht. ({0}) Es war eine Erklärung guten Willens, eine Erklärung, die den großen Herausforderungen unserer Zeit kaum mit konkreten Aussagen, sondern statt dessen mit Erinnerungen an eine besonnte und verklärte Vergangenheit begegnen will; eine ErkläDr. Vogel rung, die für die Probleme der 80er Jahre die Lösungen der 50er und der frühen 60er Jahre empfiehlt. ({1}) Es ist eine Erklärung, die an die Regierungserklärung Ludwig Erhards im Jahre 1965 erinnert. Sie sprechen gern, Herr Bundeskanzler, von Ihren politischen Abstammungsverhältnissen. Lassen Sie mich unter dem Eindruck der heutigen Regierungserklärung sagen: Da sprach nicht der Enkel Adenauers, da sprach der Sohn Ludwig Erhards, und zwar des Ludwig Erhard der 60er Jahre! ({2}) Sie reden von einer Koalition der Mitte und erliegen doch schon jetzt immer wieder dem ständigen Druck von rechts. Sie proklamieren die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht und verdecken, daß Sie die Strukturen dieser Gesellschaft auch da unangetastet lassen wollen, wo sie unmenschliche Ergebnisse - etwa Massenarbeitslosigkeit - bewirken. ({3}) Es geht um die Gesamtkonstitution unserer Gesellschaft, nicht nur um das Gesicht dieser Gesellschaft. Sie verbreiten sich lange über die deutsch-deutschen Beziehungen und schweigen dazu, daß Herr Strauß soeben eine der wichtigsten Gesprächsebenen, nämlich die zwischen Ihnen und dem ersten Mann der DDR, blockiert hat. ({4}) Sie reden von Abrüstung und gehen mit keinem einzigen Satz auf das Wort der amerikanischen Bischöfe ein, das einen tiefen Einschnitt in der sittlichen Bewertung der atomaren Rüstung bedeutet. ({5}) Mehr noch: Sie reden von Abrüstung an einer Stelle nur im Konjunktiv. „Nur eine umfassende Abrüstung könnte militärische Mittel zur Friedenssicherung entbehrlich machen", sagen Sie. Das ist ein Sorge erregender Konjunktiv. Er erweckt Zweifel, ob Sie sich an dieser Stelle überhaupt das ganze Ausmaß der Gefahr vor Augen geführt haben, das der Menschheit aus dem atomaren Rüstungswettlauf erwächst. ({6}) Ich setze gegen Ihr Könnte ein Muß und sage: Abrüstung muß zuallererst atomare Waffen als Mittel zur Friedenssicherung entbehrlich machen, wenn die Menschheit überleben will. ({7}) Nein, Herr Bundeskanzler, das war keine überzeugende Erklärung. Das ist keine ausreichende und schon gar keine konkrete Grundlage für die deutsche Politik in den nächsten vier Jahren. Dennoch: Wir werden uns stets bewußt bleiben, daß die deutschen Wähler am 6. März 1983 eine eindeutige und klare Entscheidung getroffen haben, die Ihnen die Regierungsverantwortung und uns die Opposition überträgt. ({8}) Wir haben diese Aufgabe der Opposition noch in der Wahlnacht ohne Wenn und Aber akzeptiert. Wir werden uns stets bewußt bleiben, daß uns am 6. März 1983 immerhin knapp 15 Millionen Wählerinnen und Wähler ihr Vertrauen geschenkt haben. Dieses Vertrauen werden wir nicht enttäuschen. Und verlassen Sie sich darauf: Bei allem, was wir in unseren eigenen Reihen zu diskutieren und zu klären haben, bei aller Bereitschaft, auch Fehler zu erkennen und zu korrigieren - wir werden unsere Politik nicht auf Proteste verengen, auf das Erklären, Kritisieren und Beklagen von Verhältnissen. Wir verstehen Politik unverändert als Möglichkeit und als Auftrag zur Gestaltung, zur Veränderung der Verhältnisse und deshalb auch als Auftrag zur Wiedererringung der Regierungsmacht. ({9}) Unserem Demokratieverständnis entspricht es, daß ich die Glückwünsche, die ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, persönlich ausgesprochen habe, hier vor dem Parlament wiederhole. Sie sind mit Ihrer Wahl durch die Mehrheit des Deutschen Bundestages der Bundeskanzler aller Bürgerinnen und Bürger unserer Republik. Wir wünschen nicht, daß unser Volk während Ihrer Amtsführung Schaden leidet. Wir wünschen, daß sein Nutzen gemehrt und Schaden von ihm gewendet wird. Wir sind nicht sicher, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht. Wir haben im Gegenteil die ernste Sorge, daß der Weg, den Sie jetzt einschlagen, Gefahren nicht mindern, sondern erhöhen wird. Ihre Regierungserklärung hat diese Sorge weiter wachsen lassen. ({10}) Aber wir wünschen diese Gefahren nicht herbei. Wir hoffen nicht auf katastrophale Entwicklungen, um auf diesem Weg wieder an die Regierungsmacht zu gelangen. Wir werden auch nicht sagen, man könne gar nicht genug an allgemeiner Konfrontation schaffen, damit alles noch viel schlechter werde. Im Gegenteil: Wir werden alles tun, was wir als Opposition tun können, um solche Entwicklungen zu verhindern. Das unterscheidet unsere Politik von der, die Ihnen seinerzeit zwischen Sonthofen und Kreuth als Maxime Ihrer Oppositionszeit empfohlen worden ist. ({11}) Wir werden Opposition treiben, nicht Obstruktion. Wir werden nein sagen, wo uns Ihre Politik falsch oder gar gefährlich erscheint. Wir werden Fehler, Unzulänglichkeiten und Unterlassungen der Bundesregierung aufdecken und kritisieren, und wir werden zustimmen, wenn es nach unserem Urteil gerechtfertigt erscheint. Wo wir nein sagen, werden wir eigene Alternativen vorlegen und Sie zum Wettbewerb um die besseren Ideen und die besseren Lösungen herausfordern. In diesem Rahmen sind wir auch zur Zusammenarbeit bereit, aber nicht als eine Art parlamentarische Verfügungstruppe und Reservearmee. ({12}) Damit wir uns recht verstehen, Herr Bundeskanzler: Mit dem, was ich bisher gesagt habe, gebe ich keinen Zentimeter von den Rechten preis, die uns als Opposition von der Verfassung gewährleistet sind. Ich mache mir vielmehr zu eigen, was Sie im Dezember 1976 bei der Aussprache über die damalige Regierungserklärung ausgeführt haben. Damals sagten Sie: Regierung und Opposition „haben die gleiche demokratische Qualität". Die Regierung ist „nicht Partei und Richter zugleich". Sie hat „nicht zu urteilen, wann die Opposition konstruktiv ist und wann nicht". Sie hat nicht zu urteilen, „wann sie dem Staat nützt und wann sie schadet. Die Demokratie kennt keine Opposition von der Regierung Gnaden". Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, das gilt auch nach dem Wechsel der Funktionen, der sich in diesem Haus vollzogen hat. ({13}) Aussagen mit zeitlich beschränkter Geltung gibt es von Ihrer Seite ja in bemerkenswerter Anzahl. Dabei denke ich nicht mehr in erster Linie an die Widersprüche zwischen dem, was Sie in der Opposition gesagt und was Sie dann sogleich nach dem 1. Oktober 1982 in der Regierung getan haben, obwohl auch die Liste dieser Widersprüche eindrucksvoll ist. Sie haben in der Opposition bis zuletzt die Mehrwertsteuererhöhung abgelehnt und die Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages erbittert bekämpft. Als Kanzler haben Sie beides sofort getan. Sie haben die Einstellung der Bundesbankgewinne in den Bundeshaushalt aufs schärfste kritisiert, diese Praxis der früheren Regierungen dann aber wie selbstverständlich fortgesetzt. Auch Ihre ständige Polemik gegen die Höhe der von der vorhergehenden Regierung aufgenommenen Kredite einschließlich der von Ihnen erhobenen Verfassungsklage hat Sie, selber in der Regierungsverantwortung, nicht einen Augenblick daran gehindert, weit höhere Schulden aufzunehmen. ({14}) Das alles ist nicht verjährt. Aber es lag immerhin vor der Wahl. Gravierender sind unter diesem Gesichtspunkt die Wahlversprechen, die Sie gegeben, aber nicht eingehalten haben. Wie sagten Sie 1976? Sie sagten: Man kann durch Worte täuschen, indem man Falsches ankündigt und das gegebene Wort bricht. Man kann auch durch Taten täuschen, indem man dem Wähler beschlossene Tatsachen bewußt vorenthält. Dieser Vorwurf, den Sie damals gegen andere erhoben, fällt heute auf Sie zurück. Sie und Ihre Partei haben vor und nach den Wahlen vom 6. März 1983 beides getan. ({15}) Sie haben zunächst gegen unseren Widerstand ein Gesetz verabschiedet, das die Rückzahlung der sogenannten Zwangsanleihe vorsah. Unter dem Druck zahlloser Proteste, die sich zu Recht dagegen wandten, daß Höherverdienende schonender behandelt werden als die breiten Schichten unseres Volkes, haben Sie dann in Ihrem Wahlprogramm versprochen: Wir werden die Rückzahlbarkeit der befristeten Abgabe aufheben und das Gesetz entsprechend ändern. Herr Blüm verband diesen Beschluß mit dem Kommentar, jetzt mache ihm der Wahlkampf eigentlich erst richtig Spaß, weil dies versprochen worden sei. Sie selbst, Herr Bundeskanzler, sagten sogar noch am 10. März 1983 im schleswig-holsteinischen Wahlkampf, die Rückzahlung sei sozial nicht gerecht und nicht erträglich. Noch nicht 14 Tage später haben Sie in den Koalitionsvereinbarungen eben diese unerträgliche Rückzahlung zugestanden. Wo bleiben da die Wahrheit und Klarheit und die geistige Erneuerung, von der Sie so gern sprechen? ({16}) Auch in der Frage der Rentenerhöhung haben Sie die Wähler getäuscht. In Ihrem Wahlprogramm heißt es, die Renten stiegen auch in Zukunft weiter wie die Einkommen der Arbeitnehmer. Nach den Wahlen haben Sie sich in der Koalition darauf verständigt, die am 1. Juli 1984 fällige Rentenanpassung auf den 1. Januar 1985 zu verschieben, und haben Herrn Blüm eine Abwendungsmöglichkeit eingeräumt. Auf die Verschiebung laufen die Koalitionsvereinbarung und auch Ihre heutige Äußerung doch trotz Vorbehalt, Kabinettsauftrag und allen sonstigen Umschreibungen hinaus. Verschiebung der Anpassung bedeutet aber, daß die Renten 1984 noch nicht einmal nominal steigen und daß sie real deutlich sinken werden, und zwar stärker als die Arbeitnehmereinkommen. Denn daß es 1984 Tarifabschlüsse ohne nominale Lohnerhöhungen geben wird, glauben Sie j a wohl selber nicht. Wie sagten Sie?: Man kann auch täuschen, indem man den Wählern Tatsachen vorenthält. Genau das haben Sie getan, Herr Bundeskanzler. ({17}) Oder waren Ihnen die Tatsachen, mit denen Sie jetzt die Verschiebung begründen, vor dem 6. März etwa unbekannt? Und ist es wahr, daß Herr Blüm sogar mit seinem Rücktritt drohen mußte, um noch eine Frist herauszuschlagen, in der so getan werden darf, als ob die Verschiebung noch abgewendet werden solle? Herr Bundeskanzler, erinnern Sie sich, wie forsch und aggressiv Ihre Partei 1976 und dann wieder 1980 gegen Ihren Amtsvorgänger den Vorwurf des Betrugs und der Lüge erhoben hat? Wie würden Sie denn das bezeichnen, was Sie in Sachen Zwangsanleihe und Rentenerhöhung zu verantworten haben? ({18}) Die Sozialausschüsse der CDU nennen es immerhin Bruch von Wahlversprechen und sagen deswegen, von sozialer Ausgewogenheit Ihrer Vereinbarungen und Ihrer Politik könne keine Rede mehr sein. Was sagten Sie heute morgen, Herr Bundeskanzler?: Jetzt sei nicht die Zeit für große Versprechungen. Sehr gut! Aber jetzt wäre die Zeit, die Versprechungen zu halten und einzulösen, die Sie vor den Wahlen gemacht haben. ({19}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Äußerungen des Bundeskanzlers ist viel von der geistig-politischen Krise die Rede, in der wir uns befinden, und häufig wird die geistige Erneuerung gefordert. Auch in Ihrer heutigen Regierungserklärung sprechen Sie davon. Allerdings bleibt vieles verschwommen, im Unklaren und auch wolkig. Auch an sehr allgemeinen Wendungen ist kein Mangel. Daß Mitmenschlichkeit praktizierter Bürgersinn sei, ist einer dieser Allgemeinplätze. Man kann den Satz auch umdrehen: Praktizierter Bürgersinn sei Mitmenschlichkeit. Weder der einen noch der anderen Fassung wird weit und breit irgend jemand widersprechen. ({20}) Oder wer wollte nicht, daß unsere Städte und Dörfer schöner werden? ({21}) Und daß das Tor zur Zukunft offenstehe, wird auch kaum jemand bezweifeln. ({22}) Die Frage ist nur - und die ist in allem Ernst gestellt und darum geht die Auseinandersetzung -: Zu welcher Zukunft öffnen Sie das Tor? ({23}) Wir sagen: Die Politik soll nicht nur Macht verwalten und die jeweils aktuellen Tagesfragen entscheiden, sondern den Menschen auch Orientierung und Hoffnung geben, nicht im Sinn der Bevormundung oder gar der Indoktrination, aber in dem Sinn, daß den Menschen deutlich wird, welche Ziele die Politik auf welchen Wegen und aus welchen Motiven verfolgt, und daß deutlich wird, welches Menschenbild und welches Staats- und Gesellschaftsverständnis der Politik zugrunde liegen, die da getrieben wird. ({24}) Da gibt es - ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler - Unsicherheit und Ratlosigkeit. Und - ob wir es aussprechen oder verdrängen - es gibt auch Angst; übrigens nicht nur in unserem Volk. Und es gibt selbstverständlich Flucht in Nostalgien und auch in Utopien. Es gibt aber auch wachsenden Widerstand dagegen, die Entscheidungsabläufe der Wirtschaft und der Politik als unveränderlich, ja als schicksalhaft hinzunehmen. Der Widerstand gegen die Volkszählung, der viele von uns in seiner Massivität überrascht hat, ist ein Beispiel dafür. Herr Benda, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat dazu sehr Bedenkenswertes gesagt. Aber warum ist das so? Darauf bleiben Sie die Antwort schuldig. Sie polemisieren dann gerne gegen Macher, gegen Heilsbringer und Ideologen, und Herr Strauß polemisiert vorsorglich auch schon gegen Herrn Benda, weil der möglicherweise dann auch dieser Abteilung zugeschlagen wird. Sie erwecken den Eindruck, die Veränderungen seien das Werk böswilliger oder zumindest fahrlässiger Unruhestifter. Sie fördern die Ansicht, das alles lasse sich überwinden, alles werde wieder in Ordnung kommen, wenn wir nur zu den Lösungen und Verhaltensweisen der 50er Jahre zurückkehren. Wohl deshalb berufen Sie sich auch so gerne auf Konrad Adenauer. Das mag Augenblicksstimmungen in Ihre Richtung lenken, das mag Augenblickserfolge eintragen, aber es ist ein Irrweg. Wer Orientierung geben will, der muß zunächst einmal die Fakten erkennen, die in unserer Generation die Wirklichkeit, aber auch das Bewußtsein und das Lebensgefühl der Menschen eben nicht nur an der Oberfläche, sondern in der Tiefe verändert haben. ({25}) Drei Fakten sind das vor allem. Erstens. Die Menschheit ist erstmals in ihrer Geschichte in der Lage, sich selbst zu vernichten. Es wäre ein Aberwitz, wenn eine solche Veränderung nicht das Lebensgefühl der Menschen und ihr Bewußtsein in der Tiefe beeinflussen würde. Zweitens. Nicht allein der Schutz des Menschen vor der Naturgewalt - ein Problem, das seit Anbeginn der Menschheit jeden einzelnen bewegt -, sondern mehr und mehr auch der Schutz der Natur vor der Menschengewalt wirft Probleme von bisher nicht gekannter Tragweite auf; und dies erstmals in unserer Generation in diesem Maße. Drittens. Die Verflechtung aller Lebensbeziehungen, nicht nur der wirtschaftlichen, ist heute über den gesamten Planeten, über den gesamten Globus hinweg in einem noch vor kurzem unvorstellbaren Maße fortgeschritten. In einem Satz zusammengefaßt, meine Damen und Herren: Die Macht der Menschen, etwas zu tun und in Raum und Zeit in weite Zukünfte hinein zu bewirken, ist in gewaltiger, ja erschreckender Weise über ihre Fähigkeit und Bereitschaft hinausgewachsen, Entwicklungen vorherzusehen, die möglichen Folgen ihrer Handlungen im voraus zu bewerten und die immer rascher wechselnden Zusammenhänge zu beurteilen. Hier liegen die Wurzeln der großen Ängste, ({26}) die Wurzeln auch weltweiter Sorgen und Proteste, Proteste, die sich oft nicht klar genug artikulieren, denen ein Hauch von Sprachlosigkeit selbst dort anhaftet, wo sie laut ihren Protest äußern, Proteste, die auch mitunter den Boden der Realität unter den Füßen verlieren. Aber man kann denen doch nicht widersprechen, wenn sie immer lauter und immer einhelliger dazu auffordern, das Tempo der Entwicklung nicht immer weiter zu beschleunigen, die Macht und Gewalt über Menschen und Materie nicht immer unkontrollierbarer zu steigern. ({27}) Das gilt für den Rüstungswettlauf, das gilt für unser Verhältnis zur Natur. Das gilt für die Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf den Bedarf an menschlicher Arbeitskraft im Produktionsprozeß, aber auch für unsere Beziehungen zur Dritten Welt und den sozialen Sprengstoff, der sich dort nicht zuletzt durch die Bevölkerungsexplosion auftürmt. Immer wieder stoßen wir auf das Problem, daß die ethisch-moralische Kraft des Menschen mit dem Anwachsen seiner Zerstörungs- und Vernichtungskraft nicht Schritt gehalten hat und daß seine Kraft, auch die schädlichen Folgen seines Tuns vorherzusehen, die er nicht beabsichtigt, nicht mehr mit dem gigantischen Ausmaß dieser möglichen Schäden in Einklang steht. ({28}) Sicher brauchen wir zur Bewältigung dieser Herausforderungen Bürgersinn und Mitmenschlichkeit; aber das genügt nicht. Da kommen neue Kategorien ins Spiel. Da ist mehr Sensibilität und mehr Lernbereitschaft gefordert. Die marxistische Ideologie - nicht die wissenschaftliche Analyse, von der große Teile fast zur Selbstverständlichkeit geworden sind - ist auch an ihrer Starrheit gescheitert und daran, daß sie für sakrosankt erklärt wurde. Aber sind Sie nicht ebenso in Gefahr, Ihnen vertraute Annahmen, etwa die Sachzwänge der Wachstumsphilosophie, die These von der Wertfreiheit des technischen Fortschritts und der Forschung, überhaupt die überkommenden Strukturen, als sakrosankt anzusehen und dadurch die Schwierigkeiten zu steigern? ({29}) Hier müssen wir - ich sage bewußt „wir" - einsetzen. Hier müssen wir mit den Folgerungen aus den Grundwerten Ernst machen, zu denen wir uns doch in unseren Programmen alle übereinstimmend bekennen. Hier sind Bindungen, Selbstbeschränkungen notwendig, die der vom Streben nach Macht und materiellem Mehr getragenen Dynamik Grenzen setzen, dieser Dynamik von der nicht wenige bei Ihnen noch immer, wie im 19. Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts, das Heil und die Lösung der Probleme erwarten. ({30}) Darum geht es, nicht um vordergründige Schuldzuweisungen und Polemik. Und der Umbruch hat doch schon begonnen. Es ist doch kein Zufall, daß sich die christlichen Kirchen immer stärker gerade diesen Herausforderungen zuwenden: die gesellschaftskritischen Enzykliken, die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche, die Umwelterklärung der deutschen Bischöfe vom Herbst 1980 oder das in der letzten Woche verabschiedete Wort zum Frieden, um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch die Kirchentage sind doch unübersehbare Zeichen dafür, daß Menschen auch aus ihrem Glauben heraus nach Antworten auf die neuen Herausforderungen suchen, Menschen, die nicht aussteigen oder flüchten, sondern die sich stellen, die einsteigen wollen, um in der Gefahr Wege zu finden, die uns vor Katastrophen bewahren können. ({31}) Dem allen kann man nicht mit der Beschwörung oder der Verklärung der Vergangenheit begegnen und erst recht nicht mit der schlimmen Behauptung, wer sich dort oder in der Friedensbewegung engagiere, verlasse den Grundkonsens oder lasse sich von Kommunisten mißbrauchen. Meine Damen und Herren, wer so reagiert, der flüchtet seinerseits, weil er den Dialog in der Sache verweigert und sich diesem Dialog entzieht. ({32}) Notwendig ist, die Kräfte, die hier sichtbar werden, für die reale Politik zu gewinnen. Dazu gehört sicher auch der Widerspruch gegen Unvernünftiges, was diese Kräfte sagen; dazu gehört aber ebenso die Bereitschaft, zuzuhören und erkannte Fehlentwicklungen zu korrigieren. Dies ist auch der Sinn eines Entwicklungsprozesses in einer Demokratie. ({33}) Niemand soll behaupten, er habe schon die fertigen Antworten auf all diese Fragen. Auch wir Sozialdemokraten haben sie nicht. ({34}) Aber Sie, meine Damen und Herren, weichen diesen Fragen aus. Wir hingegen setzen uns mit ihnen selbst um den Preis innerer Spannungen und innerer Kontroversen auseinander, auch um den Preis, daß wir Ihren einfachen Parolen eine kompliziertere Argumentation entgegensetzen müssen. ({35}) Es ist sicher einfacher, zu sagen, mehr Rüstung bringe mehr Sicherheit, als zu sagen, die Gefahren weiterer Rüstung seien kaum geringer als die Gefahren weiteren Verhandelns. ({36}) - Es ist immerhin dankenswert, daß Sie schon sagen „genauso primitiv". Das ist von Ihrer Seite ein hohes Eingeständnis. Das, glaube ich, sollten wir festhalten. ({37}) Ich hatte nicht gehofft, daß meine Aufforderung zur Selbstkritik ein so rasches Echo finden würde. Ich finde dies überzeugend. Es ist einfacher, sich ohne Wenn und Aber für Kernenergie auszusprechen, als sich die Option offenzuhalten, nach weiteren Erfahrungen und Erkenntnissen auch auf die Nutzung verzichten zu können. Es ist einfacher, die Entwicklungshilfe als Instrument politischen und wirtschaftlichen Einflusses zu propagieren, als sie als ein im Grunde selbstverständliches Gebot mitmenschlicher Solidarität zu vertreten. ({38}) Aber, Herr Präsident, meine Damen und Herren, was da einfach erscheint, ist oft genug in Wahrheit nur die überkommene Antwort von gestern, die Antwort auf Fragestellungen, die inzwischen überholt sind. Das sind die bequemeren Antworten, weil sie nicht die Anstrengungen erfordern, herauszufinden, wo sich das Heute vom Gestern und das Morgen vom Heute unterscheidet. ({39}) Trotz dieser Unterschiede und Gegensätze halte ich es für wünschenswert und biete es an, daß wir uns über einzelne Aspekte zu verständigen versuchen, zumindest aber in ein Gespräch eintreten, z. B. über das mögliche Spannungsverhältnis zwischen Menschenwürde, wissenschaftlicher Forschung und technologischer Entwicklung auf dem Feld der Gentechnologie. ({40}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns darüber reden. Es ist nicht mehr nur ein Alptraum, sondern eine realistische Möglichkeit, daß die Zeugung menschlichen Lebens einer Art technischem Produktionsprozeß überantwortet wird, daß sogar menschliche Individuen in ihrer körperlichen Beschaffenheit und ihren Charaktereigenschaften nach Bestellung angefertigt und geliefert werden. Lassen Sie uns die Diskussion über dieses Thema miteinander führen, bevor die Entwicklung uns wieder überholt, überrundet hat. ({41}) Lassen Sie uns darüber reden, daß viele Menschen für ihre Probleme wieder selbst zuständig sein und sie im überschaubaren Rahmen selbst angehen wollen und sie der Entmündigung durch allzu große Apparate überdrüssig sind. Sie, Herr Bundeskanzler, haben das heute morgen in Ihrer Sprache auch gesagt. Aber das richtet sich doch nicht nur an die Adresse des Staates, wie Sie uns glauben machen wollen. Das richtet sich doch auch und in erster Linie an die Wirtschaft. Die Mammuteinheiten, die Sie beklagen, die nicht mehr überschaubaren Größenordnung sind doch zunächst dort, auf dem Gebiet der Wirtschaft, gewachsen. Die Vermarktung mitmenschlicher Beziehungen hat doch von dort ihren Ausgang genommen. ({42}) Außerdem: Ich bestreite nicht, daß staatliche Tätigkeit die Tendenz zur Ausweitung hat. Aber ist Ihre Einschätzung des Staates nicht widersprüchlich? Da, wo er gestaltet, auf sozialen Ausgleich bedacht ist, gesellschaftspolitische Aufgaben erfüllt, bringen Sie ihm ein tiefwurzelndes Mißtrauen entgegen und verlangen seinen Rückzug; da wollen Sie weniger Staat. Aber Ihr Vertrauen in den gleichen Staat ist nahezu grenzenlos, soweit er den Status quo gewährleisten und notfalls sogar im Wege der Gesinnungsprüfung verteidigen und festhalten soll; da wollen Sie mehr Staat. ({43}) Und fällt Ihnen nicht auf, daß der Staat, dessen Festigkeit Sie propagieren, oftmals geradezu zum Gespött wird, wenn er sich wirtschaftlicher Macht konfrontiert sieht? Meine Damen und Herren, das spurlose Verschwinden der Fässer von Seveso ist ein Musterbeispiel dafür! Das war eine Niederlage des Staates, nicht die Verschiebung der Volkszählung durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts! ({44}) Sie berufen sich in diesem Zusammenhang gerne auf das Subsidiaritätsprinzip. Aber, meine Damen und Herren, Sie zitieren immer nur die eine Hälfte des Prinzips, daß nämlich die kleinere Gemeinschaft leisten soll, was sie ebensogut oder besser zu leisten vermag als die größeren Gemeinschaften. Das Prinzip hat jedoch auch eine Kehrseite, daß nämlich die größere Einheit - das ist dann letzten Endes der föderal gegliederte Gesamtstaat - eintreten muß, wenn die kleineren Einheiten der anderen Ebenen ihre Aufgabe nicht mehr sozial gerecht bewältigen können. ({45}) Außerdem: Wir Sozialdemokraten sind doch nicht gegen Selbsthilfe, Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Im Gegenteil: Wir Sozialdemokraten haben die Eigeninitiative mehr als ein Jahrhundert lang bei denen geweckt und gestärkt, die in Abhängigkeit, ja oft genug in drückender Abhängigkeit lebten und deshalb der Eigeninitiative und des Selbertuns gar nicht fähig waren, ({46}) z. B. die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts oder die Landarbeiter, die in Preußen noch im 20. Jahrhundert unter der Reglementierung der Gemeinde- und Gesindeordnung keinen Spielraum hatten. Auch das Streben der Frauen, dem Sie heute dankenswerterweise Aufmerksamkeit gewidmet haben, nach mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative ist von uns früher und besser verstanden und gefördert worden als von den Konservativen Ihres Bereichs. ({47}) Aber diese Eigenverantwortung war für uns stets mit der Verantwortung für den anderen verbunden. Sie ist und war verbunden mit Solidarität, mit einer Solidarität, die den Schwachen oft genug überhaupt erst eine Chance zur Selbstbehauptung und zum Selbertun gab. Der Staat - dem natürlich auch noch andere wichtige Kompetenzen zukommen - ist dabei eine Organisationsform der Solidarität, sicher nicht die einzige, aber eine unentbehrliche. Ich fürchte, auch Ihre Nutzanwendung des Subsidiaritätsprinzips, Herr Bundeskanzler, läuft auf Trennung und Desintegration hinaus. Sie wirft den einzelnen auf sich selbst zurück: den jungen Arbeitslosen auf seine angeblich fehlende Motivation, den Jugendlichen - das haben wir heute aus Ihrem Munde gehört -, der trotz Ihres Lehrstellenversprechens keine Lehrstelle findet, auf seine angebliche Ausbildungsunwilligkeit oder Ausbildungsunfähigkeit, ({48}) die orientierungslos Gewordenen auf ihren angeblichen Überdruß, die Frauen auf ein überholtes Rollenverständnis, die Ausländer auf ihren mangelnden Integrations- oder Heimkehrwillen und nicht wenige, vom Schüler bis zum Arbeiter, auf die Gewissensfrage, ob sie denn in Wahrheit gar nicht schwächer, sondern faul oder unangepaßt oder nicht gescheit genug sind und deswegen nicht zu der Leistungselite zählen, von der Sie gesprochen haben. ({49}) Herr Bundeskanzler, ist das das menschliche Gesicht der Gesellschaft gegenüber den Schwachen? ({50}) Und wie steht es denn mit Ihrem Gewerkschaftsverständnis? Sie haben die Gewerkschaften gewürdigt - und das ist anzuerkennen -, weil die Leistungen der deutschen Wirtschaft ohne sie nicht denkbar gewesen seien. Das ist richtig. Aber ist das alles? Warum würdigen Sie nicht ebenso, daß die Gewerkschaften ebenfalls eine wichtige Organisationsform der Solidarität sind, ohne die die Arbeitnehmer den Eigentümern der Produktionsmittel gegenüber kaum einen Spielraum zur Selbstbestimmung und zur Selbstverantwortung hätten? Das ist doch genauso wichtig. ({51}) Sie sprechen von Selbertun und überschaubaren Größenordnungen. Wo anders wären dazu die Möglichkeiten größer als in den Städten und Gemeinden? Aber erweitern Sie denn den Spielraum kommunaler Selbstverwaltung? Wir haben eine Absichtserklärung gehört. Aber die Taten? - Sie schmälern ihn doch. Sie haben die Gewerbesteuer beschnitten und wollen sie weiter beschneiden. Sie treiben die Sozialhilfeetats der Gemeinden in die Höhe und kürzen damit die Möglichkeiten für kommunale Investition. Sie fordern den Protest Ihres eigenen Parteifreundes Manfred Rommel heraus, weil Sie konkrete Belastungen ankündigen, bei den Entlastungen aber auf das offene Tor verweisen und unbestimmt bleiben. Wo ist Ihr konkretes Konzept für die Fortführung der kommunalen Finanzreform? Wo? ({52}) Wir Sozialdemokraten sind auch auf diesem Gebiet zur Kooperation bereit, was eine kommunale Finanzreform angeht. ({53}) Es sehen und treffen sich hier ja manche, die vorher gemeinsam kommunale Verantwortung getragen haben. Aber Sie müssen sagen, was Sie wollen. Unverbindlichkeit genügt da nicht. Sie genügt übrigens auch nicht in der Frage des Länder-Finanzausgleichs. Diese Unverbindlichkeit hat Folgen, etwa für die Förderung des Sports, über dessen Bedeutung wir offenbar gleicher Meinung sind, und insbesondere für den Breitensport als einer wichtigen Form eigener Betätigung. Wer anders als die Gemeinden soll denn diese Förderung leisten? Sie verlangen die Förderung des Sports in einer zeitlichen Phase, in der die Gemeinden gerade dort aus zwingenden finanziellen Gründen ständig streichen und kürzen müssen. Sie fordern mehr Selbertun. Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und die Stärkung der Mitbestimmung sind eine wichtige Spielart des Selbertuns, nämlich der Mitwirkung der Betroffenen an der Gestaltung ihres eigenen Schicksals. Auch das ist Selbertun im Sinne dieses Wortes. ({54}) Sie sprechen von einem Gesetzentwurf über die Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer, den Sie vorlegen wollen. Sehr gut. Aber Sie schweigen über die Mitbestimmung. Das Wort „Mitbestimmung" kam heute morgen in Ihrer Erklärung nur in einem einzigen Zusammenhang vor. Daß die Mitbestimmung die Stahlkrise abwenden soll, das war der einzige Bezugspunkt der Mitbestimmung. ({55}) Sind Sie denn hier zur Erweiterung des Spielraums des Selbertuns der Betroffenen zu konkreten Schritten bereit? Zum Ausbau der Mitbestimmung nach dem Modell der Montanmitbestimmung? Zur endgültigen Sicherung der Montanmitbestimmung? Zur Einführung der Mitbestimmung am Arbeitsplatz, was für das Selbertun und die Eigeninitiative wahrscheinlich besonders wichtig wäre? Zur überbetrieblichen Mitbestimmung? Ich erinnere mich gerne an die Anträge, die Herr Blüm als Abgeordneter bei der Beratung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 gestellt hat. Ich bin begierig, ob er sie neuerdings vorlegt und einbringt. Ich glaube, daß er ein paar Stimmen auch außerhalb der eigenen Koalition dafür gewinnen könnte. ({56}) Es geht eben nicht nur um die Überwindung dieser und jener Ungerechtigkeit, so wichtig das im Einzelfall auch ist. Es geht vor allem um die Reform solcher Strukturen, die immerfort Ungerechtigkeit hervorrufen - in unserem eigenen Volk und auch zwischen den Völkern. Ich stimme Ihnen zu: Im Verhältnis zu anderen Völkern ist der menschenwürdige Friede das höchste Gut. Ihn zu wahren und zu schützen ist das Ziel unserer Außenpolitik. Grundlagen dieser Politik sind für uns das Atlantische Bündnis, die Europäische Gemeinschaft, die deutsch-französische Freundschaft und die Vertragspolitik gegenüber der Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Nachbarn. Wir halten an diesen Grundlagen fest. Wir sind nicht bereit, eines dieser Elemente aufzugeben. Wir sind auch nicht bereit, uns einreden zu lassen, diese Elemente stünden zueinander im Widerspruch. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, wirklich Kontinuität wollen, müssen Sie eine Politik treiben, die auf diesen von uns geschaffenen Grundlagen aufbaut. Der Friede erfordert Berechenbarkeit. Diese Berechenbarkeit ginge verloren, wenn wir uns aus dem Bündnis lösen wollten. Unser Einfluß gegenüber beiden Weltmächten würde nicht gestärkt, sondern geschwächt, weil wir in eine gefährliche Isolation gerieten. Wir bekennen uns zum Bündnis. Es steht für uns nicht zur Diskussion und erst recht nicht zur Disposition. ({57}) Kritik an einzelnen strategischen Konzepten und auch Kritik an unüberlegten, ja gefährlichen Äußerungen in den Vereinigten Staaten ist legitim und muß möglich bleiben. ({58}) Die Fortentwicklung der politischen und strategischen Grundlagen des Bündnisses ist sogar notwendig, wenn die Allianz lebendig bleiben soll. Zweifel daran, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die Abschreckungsstrategie auf unabsehbare Zeit Bestand haben kann, gibt es doch auch in Ihren Reihen. Der Satz, es sei kein logisches Konzept, zu sagen: „Ich setze die Gattung aufs Spiel, um sie dauerhaft zu erhalten", stammt ja nicht von irgendeinem Sozialdemokraten, sondern immerhin von Ihrem persönlichen Vertrauten und langjährigen Generalsekretär, von Herrn Professor Dr. Biedenkopf, dem Vorsitzenden Ihres Landesverbandes im westlichen Westfalen. Fehldeutungen, eine solche Diskussion bedeute ein Infragestellen unserer Mitgliedschaft in der NATO, trete ich auch bei dieser Gelegenheit entgegen. Was Herbert Wehner an dieser Stelle am 30. Juni 1960 über unseren Platz im Bündnis gesagt hat, gilt ohne Abstriche. ({59}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 gesagt - die Stelle muß man mehrfach lesen -, das Bündnis sei der Kernpunkt deutscher Staatsräson, also die oberste Richtschnur für unser gesamtes staatliches Handeln. Das halten wir für eine der mehr generellen Aussagen, deren Sie gelegentlich fähig sind. ({60}) Wahrscheinlich meinen Sie das auch gar nicht. Denn oberste Richtschnur für unser gesamtes staatliches Handeln ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Bewahrung des Friedens. ({61}) Das ist der Kern der deutschen Staatsräson. Das setze ich gegen Ihren Satz. In diesem Zusammenhang hat dann das Bündnis seine Bedeutung und seinen Platz: nicht als Selbstzweck oder oberster Wert, sondern als Mittel zur Förderung hoher Werte. ({62}) Wir wissen um den Wert des Bündnisses für unsere äußere Sicherheit. Wir erfüllen als Mitglied des Bündnisses unsere Verpflichtungen gerade auch aus deutschem Interesse - so, wie es die Partner aus ihrem Interesse tun. Das Bündnis lebt von der Übereinstimmung dieser Interessen. Es lebt davon, daß es Sicherheit gewährt und Entspannung ermöglicht. Wir bejahen unsere Bundeswehr. Auch ihre Aufgabe ist die Friedenssicherung. Wir anerkennen das Engagement derer, die den Wehrdienst absolvieren oder den Dienst in der Bundeswehr als Beruf gewählt haben. ({63}) Wir anerkennen aber ebenso das Engagement derer, die auf Grund einer Gewissensentscheidung Ersatzdienst leisten. ({64}) Das Bündnis beruht auf einer Übereinstimmung der Verbündeten darüber, wie eine Gesellschaft verfaßt, wie die Machtausübung des Staates gegenüber seinen Bürgern begrenzt sein soll. Diese Übereinstimmung ist auch das Fundament unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten. Dieses Fundament ist tragfähig. Darauf ruht letzten Endes auch das Engagement der Vereinigten Staaten und der beiden anderen Mächte für Berlin - ein Engagement, das den früheren Außenminister der Vereinigten Staaten Alexander Haig zu Demonstranten in Berlin ({65}) sagen ließ: „Wir teilen Ihre Meinung nicht. Aber wir werden bis zuletzt dafür eintreten, daß Sie sie äußern können." Genau dies würde - bei allem schuldigen Respekt - der Außenminister der anderen Weltmacht in Berlin ({66}) nicht sagen, selbst wenn dort Demonstrationen überhaupt möglich wären. ({67}) Wir täuschen uns, meine Damen und Herren, und andere nicht über die grundsätzliche Bedeutung dieses Unterschieds. Wir bedürfen keiner Belehrung in Sachen Freiheitsrechte. Und wir bedürfen, Herr Bundeskanzler, erst recht keiner Belehrungen über den Inhalt der Schlußakte von Helsinki. Diese Schlußakte ist eine Frucht unserer Vertragspolitik, und sie ist gegen Ihren Widerstand und gegen Ihr Nein zustande gekommen. ({68}) Genausowenig bedürfen wir der Belehrung über Polen oder Afghanistan. Wir sind gegen jede Art von militärischer Intervention, und zwar überall auf der Welt, auch in Zentralamerika und - lassen Sie mich das deutlich sagen - auch in Nicaragua. ({69}) Wir sind ebenso gegen Unterdrückung der Freiheitsrechte und der Menschenrechte, und auch das überall, z. B. auch in Südafrika. ({70}) Übrigens: Wer die Frage der Oder-Neiße-Grenze wieder auf die politische Tagesordnung setzt - un82 ter dem Stichwort der Kontinuität -, der hilft dem polnischen Volk nicht. Der fällt denen geradezu in den Rücken, die da mühsam genug um jeden Zentimeter Freiheit kämpfen und denen gerade in diesen Tagen wieder unsere Sympathie in besonderem Maße gilt. ({71}) Wer das tut, der zerstört Voraussetzungen, die durch unsere Ostpolitik und insbesondere durch den Warschauer Vertrag für friedliche und gewaltlose Entwicklung in Polen überhaupt erst geschaffen und in Gang gesetzt worden sind. ({72}) Ebenso wie zum Bündnis bekennen wir uns zur Fortsetzung der Vertragspolitik. Sie beseitigt die ideologischen Gegensätze nicht, aber sie macht deutlich, daß es zur gewaltsamen Austragung von Gegensätzen eine sinnvolle, eine friedliche Alternative gibt, daß Lösungen möglich sind, die im beiderseitigen wohlverstandenen Selbstinteresse liegen, die den Menschen über die Grenzen der Systeme hinweghelfen und das Leben erleichtern, z. B. durch den Ausbau des Ost-West-Handels. Außerdem: Warum starren wir eigentlich immer nur auf die militärischen Anstrengungen der Sowjetunion, so besorgniserregend diese auch sind? Für die Bewertung der politischen Potenz einer Großmacht gibt es doch auch eine Vielzahl anderer Aspekte, etwa die ihres wirtschaftlichen Potentials oder die der Akzeptanz ({73}) ihrer Ordnung durch ihre Bürger oder ihrer Veränderungsfähigkeit. Ich sage: Überlegenheiten auf diesen Gebieten wiegen schwerer als manche Überlegenheit, die sich zählen, wiegen oder in Tonnen Sprengkraft berechnen läßt. ({74}) Ein zentrales Thema der Friedenssicherung sind gegenwärtig die Mittelstreckenraketen-Verhandlungen in Genf. Dort entscheidet sich, ob der atomare Rüstungswettlauf endlich zum Stehen kommt oder ob eine neue Runde dieses Wettlaufs eingeläutet wird. Helmut Schmidt, Ihrem Vorgänger im Amt, gebührt Dank dafür, daß er ganz wesentlich dazu beigetragen hat, diese Verhandlungen überhaupt in Gang zu bringen, und ich statte ihm diesen Dank ab. ({75}) Helmut Schmidt hat dabei von Anfang an aus der Sorge gehandelt, daß im Bereich der Mittelstrekkenraketen eine neue Grauzone entsteht, in der die Sowjetunion ihre Raketensysteme nicht nur modernisiert, sondern auch rasch vermehrt. Er hat es stets für einen Fehler gehalten, daß dieser Bereich nicht in die Begrenzungs- und Kontrollvereinbarungen der Weltmächte einbezogen worden ist. Sein primäres Ziel ist und war, diesen Fehler zu beheben. Dies ist nach wie vor unser Ziel: der Abschluß einer Vereinbarung, die eine so niedrige Begrenzung der Mittelstreckensysteme in Europa gewährleistet, daß die Aufstellung neuer Systeme auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland überflüssig wird. ({76}) Die bisherigen Vorschläge der Sowjetunion gehen in dieser Richtung noch nicht weit genug, obwohl die gestrigen Äußerungen des Generalsekretärs Andropow anzeigen, daß hier weitere Bewegungen möglich sind. Aber auch die Vereinigten Staaten haben ihren endgültigen Beitrag zur Erreichung dieses Zieles noch nicht geleistet. Die objektiv gegebenen Verhandlungsmöglichkeiten sind deshalb noch keineswegs ausgeschöpft. Festlegungen des Inhalts, die Bundesrepublik werde Ende dieses Jahres der Stationierung neuer Systeme auf jeden Fall zustimmen, sind deshalb nicht zu verantworten. ({77}) Bevor wir unsere endgültige Entscheidung treffen, wollen wir wissen, warum eigentlich die INF- und die START-Verhandlungen, also die Mittelstreckenraketen-Verhandlungen und die Verhandlungen über die Interkontinentalraketen, nicht verbunden werden können. Wir wollen wissen, warum so getan werden muß, als ob die englischen und französischen Mittelstreckenpotentiale überhaupt nicht existieren. Immerhin hat doch Ihr Auswärtiges Amt, Herr Kollege Genscher, noch 1981 in einer Broschüre zum Doppelbeschluß ausgeführt, zu den nuklearen Mittelstreckenwaffen seien auch die britischen und französischen seegestützten ballistischen Raketen zu zählen, weil sie im bilateralen SALT-II-Abkommen nicht erfaßt sind. Wir wollen wissen, warum in Anbetracht der sowjetischen Vorschläge neben der Stationierung von Cruise Missiles auch die von Pershing-Il-Raketen notwendig ist, was neuerdngs selbst amerikanische Experten in Zweifel ziehen. Wir wollen wissen, warum die Seestützung auch nach erneuter Debatte in Ausschüssen des amerikanischen Kongresses ausscheidet. Und wir wollen auch wissen, ob die Verhandlungszeit in Genf ausgereicht hat. Nach dem Doppelbeschluß war ein Verhandlungszeitraum von vier Jahren vorgesehen. Davon sind zwei Jahre, nämlich die Zeitspanne von Dezember 1979 bis zum Dezember 1981, überhaupt nicht genutzt worden. Dies alles sind keine Argumente gegen das Bündnis. Erst recht geht Ihr Lieblingsvorwurf, das sei Antiamerikanismus, ins Leere. Alle von mir gestellten Fragen wurden in den Vereinigten Staaten eher noch lebhafter diskutiert als bei uns. Oder ist die Mehrheit des amerikanischen Repräsentantenhauses antiamerikanisch, weil sie die Zusammenführung der INF- und der START-Verhandlungen befürwortet? ({78}) Oder sind die amerikanischen Bischöfe mit einem überwältigenden Abstimmungsergebnis antiamerikanisch, weil sie an der Strategie der atomaren Abschreckung grundsätzlich Zweifel äußern und heute I nacht mit dieser überwältigenden Mehrheit nicht nur die Drosselung, sondern die Einstellung der Atomrüstung gefordert haben? ({79}) Oder ist der Senat der Vereinigten Staaten antiamerikanisch, weil er über die Höhe der Verteidigungsausgaben eine andere Meinung hat als der Präsident? Und schließlich ist dann wohl nach dieser Logik auch George Kennan ein Antiamerikaner, wenn er auf Grund seiner lebenslangen Erfahrung davor warnt, die sowjetischen Führer als Monster anzusehen oder die Sowjetunion in öffentlichen Reden als das Reich des Bösen zu apostrophieren. ({80}) Nein, wer diese Argumente dieser Amerikaner für überzeugender hält als manche Argumente der gegenwärtigen Administration, ist kein Gegner des amerikanischen Volkes. ({81}) Auf längere Sicht ist er wahrscheinlich der wirkliche Freund Amerikas, ein ebenso guter zumindest wie diejenigen, die den Vereinigten Staaten schon Ende der 60er Jahre zur Beendigung des Vietnam-Krieges rieten und damals auch als Antiamerikaner beschimpft worden sind. ({82}) Nein, meine Damen und Herren von der Union, Sie machen sich das zu einfach. Wir sind mit unseren Fragen und Sorgen auch keineswegs isoliert, wie Sie das behaupten. Wir sind in guter Gesellschaft, z. B. in der Gesellschaft der katholischen Bischöfe der Deutschen Demokratischen Republik. Die haben in einem Hirtenbrief, der Anfang dieses Jahres in allen katholischen Kirchen der Deutschen Demokratischen Republik verlesen wurde, folgende Sätze niedergeschrieben: Der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West ist ein unerträgliches Ärgernis. Er macht aus dem Gleichgewicht der Kräfte ein Gleichgewicht des Schreckens, er zerstört das Vertrauen zwischen den Völkern und Staaten und steigert das Elend der hungernden Menschen in der Dritten Welt. Und dann den Satz: Es muß gelingen, die innere Logik des Wettrüstens, den Drang zur Überlegenheit über den möglichen Gegner aufzubrechen und zum Stehen zu bringen. ({83}) Wollen Sie dem widersprechen? Oder widersprechen Sie der jüngsten Aussage der Bischöfe der Bundesrepublik, es könne kein Zweifel daran bestehen, daß der Einsatz von Atomwaffen zur Zerstörung von Bevölkerungszentren oder anderen vorwiegend zivilen Zielen durch nichts zu rechtfertigen ist, daß der Vernichtungskrieg niemals ein Ausweg ist, daß er niemals erlaubt ist? Oder widersprechen Sie dieser Aussage im gleichen Text: Es kommt deshalb darauf an, neben der eigenen Sicherheit immer auch die Sicherheit des anderen, des Gegners, in die Überlegungen mit einzubeziehen. Ist das nicht der von Ihren Freunden geschmähte Begriff der Sicherheitspartnerschaft, der Ausdruck der Überzeugung, daß die Völker, Staaten und Bündnisse nur miteinander, nicht aber gegeneinander überleben können? ({84}) Herr Bundeskanzler, es wäre Ihre Pflicht, sich unsere Fragen zu eigen zu machen. Drängen Sie - genau wie ich es bei meinem Besuch getan habe - die sowjetische Führung bei Ihrem bevorstehenden Besuch, in Genf weitergehende Angebote vorzulegen. Sie haben unsere Unterstützung. Aber setzen Sie das ganze Gewicht der Bundesrepublik auch bei unseren Verbündeten in Washington ein, damit es in Genf zu einer befriedigenden Lösung kommt, damit die Aufstellung vermieden werden kann. Zu diesem Zweck werden Sie auch Widerspruch erheben müssen, wo es notwendig ist. Das erfordern unsere Interessen. ({85}) Das hat Ihr Amtsvorgänger getan, nicht aus Besserwisserei, sondern weil es seine Pflicht war, weil die deutschen Interessen es geboten. ({86}) Maßgebende Sprecher Ihrer Partei sagen, es gehe jetzt darum, unser Volk psychologisch auf die Aufstellung der Raketen vorzubereiten. ({87}) Andere verbreiten, unser Volk habe am 6. März 1983 der Aufstellung bereits zugestimmt. Beides kann in Washington zu gefährlichen Fehlschlüssen führen. Bitte treten Sie dem entgegen! Sie wissen doch selbst, welche Belastungsprobe dem inneren Frieden unserer Gemeinschaft bevorstünde, wenn es zur Aufstellung der Raketen käme. Wollen Sie diese Belastungsprobe auf sich nehmen, ohne das Äußerste und das Letzte versucht zu haben? Und spüren Sie nicht, wie der Ruf nach Frieden einer Grundwelle gleich unser ganzes Volk - quer durch die Parteien und alle anderen Gruppierungen - erfaßt hat? ({88}) Denn viele - um ein letztes Mal die Bischöfe mit ihrem Wort aus der letzten Woche zu zitieren - verstehen eine Welt nicht mehr, in der es gelingt, Raketen und Waffen in die entferntesten Winkel des Globus zu bringen, während dort Reis, Brot und Medikamente fehlen. Wir Deutschen haben besondere Gründe, allem, was die Gefahr eines nuklearen Konflikts vermehren könnte, mit unserer ganzen Kraft entgegenzuwirken. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß unser Land bei jeder atomaren Konfrontation in eine Wüste verwandelt würde. Wir sind aber auch auf Grund unserer Geschichte dazu verpflichtet, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Das ist der Sinn des Satzes, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf. ({89}) Damit rede ich nicht einer einseitigen Abrüstung das Wort. Aber ich trete für unsere Pflicht und unser Recht ein, jede sinnvolle Initiative, die den Krieg unwahrscheinlicher macht, zu ergreifen und zu unterstützen. Gewiß, das kann Risiken mit sich bringen. Aber warum scheuen Sie eigentlich die Risiken solcher Initiativen ungleich mehr als die Risiken, die entstehen, wenn sich die Rüstungsspirale unaufhörlich weiterdreht? ({90}) Über die KSZE-Nachfolgekonferenz, über das Projekt einer Europäischen Abrüstungskonferenz und über MBFR wird noch gesondert zu sprechen sein. Es gibt in Ihrer Erklärung Ansätze, die wir begrüßen. Aber warum greifen wir nicht den Gedanken einer zusätzlichen Nichtangriffsvereinbarung zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt auf? ({91}) Wir haben doch lange genug von der Sowjetunion einen klaren Verzicht auf jegliche Anwendung von militärischer Gewalt - nicht nur auf den Ersteinsatz von atomaren Waffen - verlangt. Warum fassen wir hier nicht nach? Warum begeben wir uns allzu oft und allzu schnell in die Rolle eines Neinsagers, statt auszuloten, ob sich dort etwas bewegen läßt? ({92}) Das gilt auch für die Frage eines atomwaffenfreien Streifens entlang der Grenze zwischen den Militärbündnissen. Der schwedische Vorschlag mag verbesserungswürdig, verbesserungsfähig und verbesserungsbedürftig sein. Aber warum weisen Sie ihn geradezu brüsk zurück? Der Gedanke, Atomwaffen beiderseits aus einem Gebiet zu entfernen, in dem Kurzschlußhandlungen in Spannungszeiten wahrscheinlicher sind und katastrophalere Folgen haben können als in anderen Gebieten, ist doch zumindest diskussions- und prüfungswürdig. ({93}) Noch eine Initiative sollte gerade von uns unterstützt werden. Ich meine die Initiative, im Zuge erfolgreicher Abrüstungsverhandlungen mit den Geldern, die auf diese Weise erspart werden, eine Art Marshallplan für die Dritte Welt in Gang zu bringen. Von einem solchen Vorhaben würde nicht nur die Faszination einer wirklichen Vision ausgehen, nämlich daß Waffen tatsächlich zu Pflugscharen, daß Wüsten zu fruchtbarem Land, daß Hungernde gesättigt würden. Seine Verwirklichung würde auch dazu beitragen, daß der gewaltige Bedarf der Dritten Welt auf unseren Märkten nachfragewirksamer in Erscheinung treten und damit - als Nebenergebnis - auch unsere Beschäftigungssituation erleichtern könnte. ({94}) Statt dessen üben sich Mitglieder Ihrer Regierung in kleinlicher Kritik an der Nord-Süd-Kommission, und Sprecher Ihrer Fraktion treten für die Erleichterung des Rüstungsexports ein. Herr Bundeskanzler, wie sagten Sie doch auf Ihren Wahlplakaten? - „Frieden schaffen mit weniger Waffen"! Was sich hier abzeichnet, nämlich eine Erleichterung des Rüstungsexports, heißt Konflikte schaffen mit mehr Waffen. ({95}) Ich kündige gegen diese Absichten den entscheidenden Widerstand meiner Fraktion an. ({96}) Was die Dritte Welt braucht, sind nicht Waffen, sondern Hilfe und politisches Verständnis. Bis zu Ihrem Regierungsantritt haben wir uns um beides bemüht. Wir haben zur Blockfreiheit ermuntert. Wir haben auf seiten derer gestanden, die unterdrückt und ausgebeutet wurden, beispielsweise im südlichen Afrika oder in Zentralamerika. Viele Länder der Dritten Welt haben uns deshalb als Fürsprecher ihrer Interessen und als Freunde angesehen. Unser Einfluß und unser Ansehen in den Vereinten Nationen, auf die Sie Bezug genommen haben - der positiven Würdigung der Vereinten Nationen schließe ich mich ausdrücklich an -, haben auch darauf beruht. Sie reden auch hier von Kontinuität. Aber viele in Ihren Reihen sehen doch in jeder Befreiungsbewegung, in jedem Versuch einer sozialen Reform in einem Entwicklungsland bereits eine Gefahr für unsere eigene Sicherheit. Und Herr Strauß hat doch auch hier schon die wirkliche Wende angekündigt. Hier wie im gesamten außenpolitischen Teil Ihrer Erklärung zeigt sich Ungewißheit. Wollen Sie nun Kontinuität oder nicht? Selbst wenn wir bereit sind, Ihnen den guten Willen abzunehmen: Können Sie denn diese Kontinuität tatsächlich durchsetzen? Wer ist denn eigentlich Ihr Außenminister, Herr Genscher oder Herr Strauß? ({97}) Mehr noch, Herr Bundeskanzler: Wer bestimmt eigentlich die Richtlinien Ihrer Politik? ({98}) Sie oder der Chef des Teil-, Neben- oder Oberkabinetts, das jetzt regelmäßig in München zusammentritt? ({99}) Sie kritisieren uns, Herr Bundeskanzler - nicht heute, da haben Sie Ihre Erklärung, was ich gern bestätige, in großer Fairneß vorgetragen: aber bei vielen anderen Gelegenheiten -, wegen unserer Meinungsverschiedenheiten. Die bestreiten wir auch gar nicht. Aber unsere Kontroversen - ich füge mit einem Blick auf die Kollegen von der FDP hinzu: sogar die Auseinandersetzungen gegen Ende der sozialliberalen Koalition - sind doch Bagatellen im Vergleich zu dem Schlagabtausch, den sich die Repräsentanten Ihrer Koalition bereits vor der Regierungserklärung geliefert haben. ({100}) Ein Bedarf, daß der Bundeskanzler sogar am Sonntag eine Erklärung abgibt, in der er die sich bekämpfenden Teile zur Ruhe und Ordnung ermahnt, ist nach meiner Erinnerung bei uns erst spät im Jahre 1981 aufgetreten, aber nicht, bevor die Regierungserklärung überhaupt vorgetragen war. ({101}) Sie wollen die Kontinuität, Herr Bundeskanzler, und wir glauben Ihnen das auch. Aber Herr Strauß realisiert derweil die Wende. Ihr Wollen stört ihn nicht besonders. Haben Sie übrigens zur Kenntnis genommen, Herr Bundeskanzler, daß Herr Strauß erst vor wenigen Tagen erklärt hat, er sei schon immer gegen eine zu dichte Folge von Kanzlerbesuchen in Washington und im Kreml gewesen? Da steht nach dem, was wir erlebt haben, schon Ihre Moskaureise auf der Tagesordnung, nicht nur das Konsulat in Windhuk, um ein paar der nächsten Punkte zu nennen. ({102}) Sie haben viel von Europa gesprochen. Sie sind ja auch viel in Europa unterwegs. Indes, die Wahrheit ist: Die Europäische Gemeinschaft befindet sich in einer überaus kritischen Situation. ({103}) 12 Millionen Menschen sind ohne Arbeit. Von den vorhandenen Problemen ist seit Ihrem Regierungsantritt entgegen Ihrer heutigen Darstellung keines der Lösung auch nur einen Schritt näher gebracht worden. Neue sind hinzugekommen. Eine Hauptquelle der Schwierigkeiten ist die finanzielle Situation der Gemeinschaft. 1983 werden zirka 37 Milliarden DM, das sind über 70 % des Gemeinschaftshaushaltes, von den Kosten des Agrarmarkts in Anspruch genommen. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres sind sie um 35 % gestiegen. Der finanzielle Zusammenbruch der Gemeinschaft droht noch 1983. Erfahrungsgemäß müßte die Bundesrepublik zur Abwendung eines solchen Zusammenbruchs ganz erhebliche Zahlungen leisten. Eine Reform der europäischen Agrarpolitik ist daher im europäischen, aber auch im deutschen Interesse aufs dringendste geboten. ({104}) Diese Agrarpolitik ist schlechthin ein Ärgernis. Sie verschlingt Milliarden, damit Produkte, für die keinerlei Bedarf besteht, zunächst erzeugt, dann mit hohen Kosten eingelagert und schließlich mit noch höheren Kosten auf dem Weltmarkt abgesetzt werden. Diese Politik bewirkt auch eine steigende Umweltbelastung und Energievergeudung. Sie bringt uns einem gefährlichen Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten immer näher, und sie beraubt Europa der Mittel, die es für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für die Behebung der Stahlkrise, für die regionale Strukturförderung dringend benötigt. Mit einer einzigen der Milliarden, die hier nutzlos ausgegeben werden, könnten durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 125 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. ({105})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ertl?

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte meine Darlegungen gerne im Zusammenhang vortragen. Herr Kollege Ertl, wir werden sicher eine andere Gelegenheit haben. Hier ist aus einer ursprünglichen Wohltat Plage geworden. Das ist keine europäische Politik. Das ist ein europäischer Skandal, ein Sprengsatz für die Europäische Gemeinschaft. ({0}) Wir stimmen mit Ihnen in der Forderung nach einem starken und handlungsfähigen Europa überein. Wir sind für den Beitritt Portugals und Spaniens. Wir sind für ein Europa, dessen Parlament mehr Rechte hat, dessen Einigung Fortschritte macht. Aber dafür genügen Forderungen und noch so schöne Erklärungen nicht. Sie müssen handeln. Unentwegte Beteuerungen, mit jedermann in jeder europäischen Hauptstadt und mit jedem Besucher, der Bonn erreicht, übereinzustimmen, reichen nicht aus. Bis jetzt hat die deutsche Präsidentschaft unter Ihrer Verantwortung keinerlei Fortschritte erbracht. Der Brüsseler Gipfel vom März 1983 war eine einzige Enttäuschung. Sie haben Chancen ungenutzt gelassen und die Europamüdigkeit verstärkt. Ihre Europapolitik ist durch Untätigkeit gekennzeichnet. ({1}) Das erste konkrete Ergebnis Ihrer Deutschland- und Berlin-Politik ist die Wende, ein Stück Wende zurück in Richtung Konfrontation und kalter Krieg. Ich glaube Ihnen ja, daß Sie selber diese Wende gar nicht wollen und daß Sie sich nach Bekanntwerden des Todes von Rudolf Burkert bemüht haben, der weiteren Eskalation entgegenzuwirken. Aber das Gesetz des Handelns, Herr Bundeskanzler, lag und liegt doch in diesen Tagen auf diesem Feld gar nicht mehr bei Ihnen. Das hat doch längst der Vorsitzende der CSU mit seinen Sekretären an sich gerissen. ({2}) Er war doch von Anfang an entschlossen, ({3}) den Tod des Transit-Reisenden Rudolf Burkert in Drewitz als Instrument gegen Sie und Ihre Richtlinienkompetenz einzusetzen. Deshalb die maßlose Sprache und der provozierende Mordvorwurf, deshalb die übersteigerte Polemik des Herrn Strauß nach allen Seiten. Da sollte doch demonstriert werden, Herr Bundeskanzler, daß all die Leitartikel darüber, wie Sie Herrn Strauß bei den Koalitionsverhandlungen ausmanövriert, wie Sie ihn samt seiner Kutsche wieder nach München geschickt haben, voreiliges Wunschdenken waren, daß das Droh- und Störpotential dessen, der einmal öffentlich gesagt hat, es sei ihm gleich, wer unter ihm Bundeskanzler sei, durchaus noch funktioniert und einsatzfähig ist. ({4}) Durch all das ist schon jetzt beträchtlicher Schaden entstanden. Millionen von Menschen in und um Berlin sorgen sich um die Erhaltung der menschlichen Erleichterungen, die sie der Politik Willy Brandts und Helmut Schmidts seit 1969 verdanken. Sie fürchten, daß Herr Strauß seine Sonthofener Katastrophenstrategie jetzt auf dem Feld der innerdeutschen Beziehungen fortsetzt. Und das Berliner Abgeordnetenhaus mahnt einmütig - quer durch alle Parteien - zur Besonnenheit und erklärt, daß für die von der CSU geforderte Wende nicht der geringste Anlaß besteht. Das war vergangenen Donnerstag. Was der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, mein Kollege Landowski, im Berliner Abgeordnetenhaus dazu gesagt hat, ist es wert, wörtlich zitiert zu werden. Er sagte unter allgemeinem Beifall, das Transitabkommen habe sich millionenfach bewährt. Wer im Fall Burkert von Mord spreche, entwerte den moralischen Protest gegen die Geschehnisse an Mauer und Stacheldraht. Dem ist nur zuzustimmen. ({5}) Sie haben zur Entstehung dieses Schadens wesentlich beigetragen. Erst haben Sie es versäumt, über Ihre deutschlandpolitische Linie Klarheit zu schaffen. Dann haben Sie es Herrn von Weizsäcker - ich meine natürlich Richard von Weizsäcker; da gibt es bei Einladungen ja manchmal Verwechslungen mit den Vornamen - und der Berliner CDU überlassen, Herrn Strauß in seine Schranken zu weisen. Jetzt bleibt nur übrig, den Schaden zu begrenzen und mit Geduld und Besonnenheit dahin zu wirken, daß nicht noch mehr der mühsam geknüpften Fäden reißen, damit nicht auf beiden Seiten diejenigen die Oberhand gewinnen, die aus ihren Gründen - auf beiden Seiten - mehr an Abgrenzung und Konfrontation interessiert sind als an Normalisierung und Kooperation; und die gibt es sicher auch in Ost-Berlin. Das alles kann man nicht aussitzen, wie das im Umgang mit Herrn Strauß offenbar versucht worden ist. Darüber kann man sich auch nicht ausschweigen, wie Sie es in Ihrer heutigen Regierungserklärung getan haben. ({6}) Ich halte es für einen bemerkenswerten Vorgang, daß Sie auf Ereignisse, die unser Volk sehr beunruhigt und beschäftigt haben, in Ihrer Regierungserklärung nicht mit einem einzigen Satz oder einem einzigen Wort eingegangen sind. Dafür steht zuviel auf dem Spiel, nämlich die Sicherung des Erreichten und die weitere Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen. Dabei wäre an Themen für weitere Gespräche und das allmähliche Zusammenführen von Interessen, die sich decken oder ergänzen, wahrlich kein Mangel. Sie sagen dazu immer, Leistung und Gegenleistung müßten sich entsprechen. Dazu gibt es eine Bemerkung, die ich zitieren möchte und die ich Ihrer großen Aufmerksamkeit empfehle. Die Leistungen, die aus öffentlichen und privaten Quellen in die Deutsche Demokratische Republik fließen, sind nicht nur als politische Plangröße - für die, die drüben planen -, sondern für das Leben drüben überhaupt ein verklammernder Faktor. Auch das ist ein Gegenposten, der sich nicht in Milliarden oder überhaupt in Geldbeträgen erfassen läßt. ({7}) Ich zitiere mit diesem Satz meinen von mir sehr verehrten Gegner und Kontrahenten, den jetzigen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker. Was Berlin angeht, so erkläre ich namens meiner Fraktion ausdrücklich unsere Bereitschaft zur Kooperation. Die Entscheidungen, die diese Stadt braucht, sind in der Vergangenheit meist einstimmig zustande gekommen. Das sollte sich, soweit es an uns liegt, nicht ändern. Das Zentralproblem der Stadt war übrigens seit den Verträgen von 1972 - hoffentlich hat es sich durch die jüngsten Ereignisse nicht geändert - nicht mehr ihre äußere Sicherheit und die Sicherheit ihrer Integration in die politische, kulturelle und wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik, sondern ihre Wirtschaftskraft. Sie haben mit Ihren Zusagen auf der Konferenz vom Dezember 1982 hohe Erwartungen geweckt. Sie sind bisher nicht - ich hoffe: noch nicht - eingelöst. Im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit steigt in Berlin in bedrohlicher Weise weiter. Und ich sage: Die Arbeitslosigkeit stellt heute für Berlin eine innere Bedrohung dar, die den äußeren Bedrohungen früherer Jahrzehnte in ihrer Bedeutung und Tragweite kaum nachsteht. ({8}) Dies sollte alle Fraktionen dieses Hauses vereinen in sinnvollen Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Berlin. Ich füge etwas hinzu: Wir sollten gemeinsam über die langfristige Perspektive Berlins nachdenken. Wer es mit der Durchsetzungskraft evolutionärer Ideen und Prozesse, über alle Grenzen, Gräben und Gegensätze hinweg, ernst meint, wer mit uns glaubt, daß die Nation als Geschichts-, Sprach-, Kultur- und Gefühlsgemeinschaft auch für uns Deutsche ein identität- und einheitstiftender Faktor ist, auf den wir auf Dauer nicht ungestraft verzichten können, der sollte Berlin als Chance und nicht als eine Last begreifen. ({9}) Hier, in dieser gelebten und im Bewußtsein der Menschen existierenden Geschichts-, Sprach-, Kultur- und Gefühlsgemeinschaft liegt die reale Substanz dessen, was uns die Präambel des Grundgesetzes im Hinblick auf die Einheit der Deutschen hier und heute zu wahren und zu pflegen aufgegeben hat. Diese Gemeinschaft aber hängt ab von der Dichte und Häufigkeit der Begegnungen, von der Verflechtung wechselseitiger Interessen, von der lebendigen Erinnerung an die gemeinsame Geschichte. Diese Gemeinschaft haben wir mit unserer Politik nach den Jahren des Kalten Krieges, der Konfrontation und der Trennung wiederhergestellt, belebt und vertieft. Wer diese Kontinuität unserer deutsch-deutschen Politik in Frage stellt, wer sie so entschieden bekämpft, wie Herr Strauß das tut, der fördert die Einheit der Deutschen nicht, der gefährdet sie; der setzt Ursachen dafür, daß Mauern und Grenzanlagen, die unsere Politik durchlässiger gemacht hat, aufs neue ihre volle menschentrennende, gemeinschaftszerstörende Wirkung entfalten können. Und dem setzen wir unseren Widerstand entgegen. ({10}) Wir anerkennen, daß auch Sie, meine Damen und Herren von der FDP, dem widersprechen. Einzelne von Ihnen werden jetzt deshalb von Ihrem Koalitionspartner CSU, von den Sekretären des Herrn Strauß, als Fürsprecher und Sachwalter der SED beschimpft. Aber wir können nicht vergessen, daß Sie durch den Koalitionswechsel Herrn Strauß erst die Möglichkeit verschafft haben, einen derart verderblichen Einfluß auf ein wichtiges Stück deutscher Politik zu nehmen. ({11}) Ich sprach von der Arbeitslosigkeit in Berlin. Arbeitslosigkeit ist nicht ein privates Unglück, sondern ein Unrecht, bitteres soziales Unrecht. Massenarbeitslosigkeit ist deshalb nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine ernste politische und gesellschaftliche Herausforderung, die auf längere Sicht unser Gemeinwesen geradezu vergiften kann. Deshalb gilt: Die Überwindung der Arbeitslosigkeit ist neben der Sicherung des Friedens die zentrale Aufgabe der Politik in dieser Wahlperiode. Darin stimmen wir offenbar überein. Aber dann trennen sich unsere Wege. Sie sagen, die Arbeitslosigkeit werde zurückgehen, wenn der Staat seine Ausgaben und die sozialen Aufwendungen kürze, die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft und des Marktes gewähren lasse und sich im übrigen darauf beschränke, die Angebotsbedingungen zu verbessern. Dann komme der Aufschwung; dann beschleunige sich das Wachstum; dann werde alles gut. Sie lassen durchklingen, dann werde alles wieder so, wie es früher war. Ich sage Ihnen: Das ist eine nostalgische Illusion. Das greift zu kurz. ({12}) Natürlich würden wir es begrüßen, wenn sich die Konjunktur tatsächlich erholen würde. Und wichtige Maßnahmen, die in diese Richtung zielen, stammen ja noch aus der Zeit unserer Regierungsverantwortung, ({13}) z. B. die befristete Investitionszulage, die zu einer deutlichen Auftragsteigerung geführt hat, oder der Abbau des Leistungsbilanzdefizits oder die Einleitung der Zinssenkung. Damit haben doch nicht Sie begonnen. Im Gegenteil, die Investitionszulage haben Sie seinerzeit mit Erbitterung bekämpft. ({14}) Wir sind auch für sinnvolles Wachstum, für Wachstum, bei dem nicht die sozialen und ökologischen Kosten höher sind als der Ertrag des Wachstums. Aber alles, was Sie heute morgen über Wachstum und Aufschwung gesagt haben, ist doch im Grund ein Wechsel auf die Zukunft und schon wegen der außenwirtschaftlichen Entwicklung keineswegs gesichert; so wenig gesichert wie Ihr Versprechen, jeder, der einen Ausbildungsplatz suche, werde ihn durch Ihre persönliche Vermittlung erhalten. Was erhält er? - Eine Weiterleitung an das Arbeitsamt, Herr Bundeskanzler. Dieses Versprechen wird Ihnen noch zu schaffen machen. Die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz ist entgegen Ihrer Ankündigung nicht geringer als 1982, sondern deutlich größer. Sie sehen sich doch schon dem ganz konkreten Vorwurf der Täuschung ausgesetzt. Mit dem Aufschwungversprechen könnte es ähnlich gehen. Ich sage das nicht mit Schadenfreude; ich sage es mit Besorgnis. Wir sind bereit, sinnvolle Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur zu unterstützen. Wir werden selber im Rahmen unseres Konzepts entsprechende Initiativen ergreifen. Wir wollen bestimmte öffentliche und auch private Investitionen fördern und die Kreditversorgung insbesondere mittelständischer Unternehmen verbessern. Wir wissen, meine Damen und Herren, um die wichtige Rolle, die gerade der Handwerks- und mittelständische Bereich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gespielt hat. ({15}) Umgekehrt werden wir uns Absichten widersetzen, ({16}) die die Massenkaufkraft und damit die Inlandsnachfrage reduzieren ({17}) - meine Damen und Herren, schonen Sie Ihre Stimmbänder, es kommen mindestens noch drei Punkte, bei denen Sie ähnlich reagieren werden -, ({18}) nicht auf eine Umverteilung zu Lasten der Stärkeren hinauslaufen oder die sonst gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit verstoßen. Die Belebung der Wirtschaftstätigkeit in der Bundesrepublik ist sehr weitgehend von der weltwirtschaftlichen Entwicklung abhängig. Das haben Sie vor der Wahl nur ganz leise gesagt. Da waren alle Schwierigkeiten hausgemacht und von der sozialliberalen Koalition verschuldet. Da haben Sie verschwiegen, daß wir in fast allen Punkten, mit nahezu allen Kenndaten besser dastehen als die uns vergleichbaren Industrieländer. Jetzt reden auch Sie laut und deutlich von den außenwirtschaftlichen Ursachen. Warum eigentlich erst jetzt und nach den Wahlen? Übrigens, Herr Bundeskanzler: Es hätte Ihnen nicht schlecht zu Gesicht gestanden, wenn Sie wenigstens nach den Wahlen in Ihrer Regierungserklärung ein Wort der Würdigung, wenn schon nicht der Anerkennung, für diejenigen gefunden hätten, die vor Ihnen für die Bundesrepublik Verantwortung getragen haben. Das wäre auch ein Stück politischer Kultur und ein Stück Gesellschaft mit menschlichem Gesicht gewesen. ({19}) Wir sind auch auf dem Gebiet der Weltwirtschaft keine Supermacht. Wir haben Gewicht, aber die Führungsrolle muß bei den Vereinigten Staaten liegen und von ihnen auch ausgeübt werden. Die Volkswirtschaft der USA ist ihrem Volumen und ihrem Gewicht nach von entscheidender Bedeutung. Ohne Impulse und Korrekturen, die von dort ausgehen, ist eine konstruktive Weltwirtschaftspolitik nicht möglich. Im Sinne einer solchen Weltwirtschaftspolitik sollten die Vereinigten Staaten ihr enormes Haushaltsdefizit reduzieren, damit die realen Zinsen weiter sinken können. Und sie sollten mehr tun, damit der Bedarf der Dritten Welt in Erscheinung treten kann. Drängen Sie in Williamsburg auf eine internationale Beschäftigungsinitiative, einen internationalen Beschäftigungspakt, der diese Elemente enthält und sich noch entschiedener gegen jeden Protektionismus wendet und zu dem sich die USA und die übrigen Industriestaaten zusammenschließen! Drängen Sie auch auf einen neuen weltweiten Marshallplan! Er wäre leicht zu finanzieren, wenn die beiden großen Bündnissysteme nur auf einen Teil ihrer Rüstungsausgaben von gegenwärtig mehr als 600 Milliarden Dollar verzichten würden. ({20}) Denn, das füge ich hinzu: Hier, in den übersteigerten Rüstungsausgaben liegt auch einer der Gründe, die uns an der Überwindung der weltweiten Arbeitslosigkeit hindern. Drängen Sie im deutschen, aber auch im europäischen Interesse! Widersetzen Sie sich aber auch da, wo es notwendig ist; etwa den Bestrebungen, den Ost-West-Handel von neuem als Mittel politischer Pression einzusetzen. Ein solches Vorgehen würde sich rasch als untauglich erweisen, den Menschen in Osteuropa nicht helfen und unsere eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur vermehren. Ein Handelskrieg mit der Sowjetunion ist das letzte, was unsere Volkswirtschaft und die europäische Volkswirtschaft brauchen können. ({21}) Aber - und das ist der Kernpunkt unserer Auseinandersetzung - selbst wenn der Aufschwung kommt, wird der Abbau der Arbeitsplätze weitergehen. Sie kennen doch die jüngste Vorhersage des Ifo-Instituts genausogut wie ich, die Voraussage, daß allein im verarbeitenden Gewerbe in allernächster Zeit fast eine halbe Million Arbeitsplätze verlorengehen werden, oder das Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit, das für die nächsten Jahre 3 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Es zeichnet sich immer deutlicher ab: Die Arbeitslosigkeit wird auch dann nicht oder nur geringfügig sinken, wenn sich die Konjunktur belebt. Im Gegenteil, eine steigende Konjunktur könnte durchaus mit weiter steigender Arbeitslosigkeit einhergehen. Dies deshalb, weil es sich überwiegend um eine strukturelle Arbeitslosigkeit handelt, um eine Arbeitslosigkeit, für die eben nicht mangelnder Leistungwille oder die Staatsschulden oder die Lohnkosten oder das Arbeitslosengeld, sondern in erster Linie der sich beschleunigende Produktivitätsfortschritt und die Veränderungen in der weltweiten Arbeitsteilung ursächlich sind. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Oswald von Nell-Breuning, der kürzlich geschrieben hat, der Jahreswohlstand lasse sich im Jahre 2000 in einem oder zwei Menschenarbeitstagen herstellen, alles andere würden Maschinen besorgen. Aber daß uns neben der langfristigen Durchdringung der Produktionsprozesse mit Mikroprozessoren und Robotern noch zusätzliche intensive Schübe an Produktivitätszunahmen bevorstehen, das ist gänzlich unbestritten und die Zahl von rund 2 Millionen Arbeitsplätzen, die dadurch zusätzlich bedroht sind, auch. Diese Produktivitätssteigerung läßt sich eben nur in sehr begrenztem Umfang in sinnvolles Wirtschaftswachstum umsetzen. Andernfalls müßten wir unser jährliches Sozialprodukt in den nächsten zwölf bis vierzehn Jahren noch einmal verdoppeln. Das halten selbst Wachstumsbefürworter für unrealistisch. Und wir halten es auch gar nicht für wünschbar. Der Preis, den ein solches Wachstum an knappen Ressourcen, insbesondere an der Ressource Umwelt, fordern würde, wäre schlechterdings nicht zu verantworten. ({22}) Also muß geschehen, Herr Bundeskanzler, wovor Sie zurückschrecken und wovon Sie auch in Ihrer Regierungserklärung nicht gesprochen haben: Es müssen Strukturen verändert werden, und der Staat muß handeln, um dies zu erreichen. Das kann nicht der Markt, den Sie ständig beschwören, allein leisten. Sicherlich, die Mitwirkung der Unternehmen und derer, die in ihnen Verantwortung tragen, ist unentbehrlich. Das gilt insbesondere auch für das Handwerk, die mittelständischen Unternehmen und die Selbständigen. Und der Markt ist da, wo er nicht durch Kartelle und Multis außer Funktion geDr. Vogel setzt wird, effektiv in der Verarbeitung von Informationen und im Ausgleich von Bedarf und Nachfrage. Aber er ist blind für die sozialen und gesellschaftlichen Folgen seiner Funktion. Hier ist die Gemeinschaft, hier ist letzten Endes der Staat gefordert, und hier muß der Staat handeln. ({23}) Der Staat kann nicht an die Stelle der selbständigen Wirtschaftseinheiten oder gar an die Stelle des Marktes treten; aber er muß anregend, gestaltend, helfend und schützend eingreifen. So sagt es übrigens fast wörtlich die katholische Soziallehre und auch die evangelische Sozialethik, auf die Sie sich so häufig berufen. Das sind die wichtigsten Bestandteile unseres Konzepts einer aktiven, solidarischen Beschäftigungspolitik: Erstens: Förderung und Erleichterung der Arbeitszeitverkürzung auf allen drei Ebenen. Zu diesem Zweck werden wir alsbald den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes und eines Gesetzes über die Vorruhestandsregelung einbringen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Aufklärungskampagne der IG Metall für die 35-Stunden-Woche. ({24}) Es ist unverständlich, nein, es ist unverantwortlich, daß die Arbeitgeber gerade die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zum Tabu erklären. Sie unterbrechen damit einen Prozeß, der seit Jahrzehnten kontinuierlich andauert, einen Prozeß, bei dem die Arbeitszeitverkürzung bei den Tarifverhandlungen stets als Kostenfaktor behandelt wurde und ohne den wir heute eine weit höhere Arbeitslosigkeit hätten, als sie tatsächlich besteht. ({25}) Sie tun es gerade in dem Zeitpunkt, in dem die Beschleunigung dieses Prozesses das Gebot der Stunde ist. Zweitens: gezielter Einsatz staatlicher Mittel dort, wo sie zur Modernisierung unserer Wirtschaft beitragen und hohen gesellschaftlichen Ertrag bringen, also für Umweltschutz, Energieeinsparung, behutsame Stadterneuerung, öffentlichen Personennahverkehr, intelligente Technologien und alternative Energien, sowie Abkehr von der - das sage ich übrigens durchaus auch selbstkritisch - überproportionalen Förderung von Großtechnologien, die immer neue Milliarden verschlingen, deren gesellschaftlicher und ökonomischer Nutzen aber so zweifelhaft geworden ist wie der des Schnellen Brüters ({26}) - Milliarden, die an anderer Stelle viel bewirken würden. Eine ähnliche Fehlleitung zeichnet sich ab, wenn Sie mit der von Ihnen forcierten Breitbandverkabelung ernst machen, von den medienpolitischen Auswirkungen ganz abgesehen. Drittens: Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungsplätze bei öffentlichen und gemeinnützigen Trägern, wenn Handwerk, Industrie und Wirtschaft es trotz aller Anstrengungen allein nicht schaffen. Berlin ist hier unter sozialliberaler Verantwortung mit seinem Berufsamt mit gutem Beispiel vorangegangen. Hessen, Hamburg und Bremen haben ähnliche Wege beschritten. Der jetzige Berliner Senat hat die Zahl der Plätze weiter aufgestockt. Sie werden Ihr Lehrstellenversprechen überhaupt nur dann annähernd erfüllen können, wenn Sie diesen Weg bundesweit beschreiten. Hier ist schnelles Handeln geboten! ({27}) Viertens: sinnvolle Beschäftigung von Dauerarbeitslosen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht untergebracht werden können, durch geeignete Träger unter Einsatz von Mitteln, die sonst für Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ausgegeben werden müssen. Es ist doch schlicht widersinnig, Milliarden dafür auszugeben, daß Menschen untätig bleiben, wenn sie mit einem geringen Mehraufwand einen Beitrag zum Sozialprodukt leisten und auch wieder Steuern und Sozialbeiträge zahlen könnten. ({28}) Über die Stahlindustrie und den Schiffsbau - zwei Wirtschaftsbereiche, die sich in einer tiefen Krise befinden - wird in der Debatte noch ausführlicher zu sprechen sein. Was Sie dazu gesagt haben, ist unbefriedigend. Im Grunde ist es immer wieder das gleiche: Sie lassen die gesamtstaatliche Verantwortung im ungewissen, Ihr Wirtschaftsminister leugnet sie ausdrücklich und lehnt sie ab. Wir dagegen bekennen uns für diese Bereiche zur gesamtstaatlichen Verantwortung; wir wollen, daß entsprechend gehandelt wird: ({29}) nicht um Produktionen gegen eine weltweite Entwicklung künstlich und mit steigendem Aufwand am Leben zu halten, sondern um sozial verträgliche, langfristige Übergänge zu ermöglichen, um nicht ganze Regionen vor die Hunde gehen zu lassen und um nationale Interessen zu wahren. Sagen Sie bitte den Stahlarbeitern an Rhein und Ruhr, im Siegerland, in Salzgitter, in Bremen, in der Max-Hütte und im Saarland, sagen Sie auch den Werftarbeitern, was sie nun eigentlich zu erwarten haben! ({30}) Zu diesen Interessen gehört übrigens auch die Aufrechterhaltung einer ausreichenden Förderkapazität für die deutsche Kohle. Wenn Herr Worms beispielsweise für weitere Zechenstillegungen eintritt, dann kann ich nur betonen: Mit uns nicht! Auch einen Verzicht auf die deutsche Schiffsbauindustrie wird es mit uns nicht geben. ({31}) Zum Thema Arbeit gehört das Thema soziale Sicherheit. Soziale Sicherheit ist nicht eine Erfindung von Leuten, die ohne Anstrengung gut leben wollen. Sie ist auf der Grundlage des Sozialstaatsprinzips ein Gebot mit Verfassungsrang. Sie ist ein - wenn nicht sogar das - Fundament unserer sozialen Stabilität. Natürlich kann dieses System von der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung nicht unberührt bleiben. Denen, die hier j a nicht Almosen empfangen, sondern auf Grund eigener Beiträge ihr gutes Recht zu beanspruchen haben, sind in den letzten Jahren j a auch weiß Gott beträchtliche Opfer zugemutet worden. Jetzt kündigen Sie weitere Einschnitte in der Größenordnung von mehreren Milliarden an. Ihre Ausführungen dazu waren wenig präzise. Ich beschränke mich deshalb auf folgende Bemerkungen und Fragen: Erstens. Wir sind für die Erhöhung der Renten zum 1. Juli 1984. Wir sind gegen den Wortbruch, der sich abzeichnet. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler, auf, in dem in Ihrem Koalitionspapier vereinbarten Konflikt und Streit zwischen Ihrem Wirtschafts- und Finanzminister einerseits und Ihrem Arbeitsminister andererseits nicht in der Rolle des Zuschauers zu verharren, sondern auf die Seite der Schwächeren, also auf die Seite der Rentner, zu treten. Wir jedenfalls werden dort zu finden sein. ({32}) Zweitens. Weiteren Kürzungen, etwa beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe, werden wir nicht zustimmen. Sie sind sozial ungerecht und ökonomisch kontraproduktiv. Außerdem entlastet sich der Bund hier im Ergebnis einseitig auf Kosten der Gemeinden, weil mehr und mehr Hilfsbedürftige von der Bundesanstalt für Arbeit einfach auf die Sozialhilfe und die Sozialämter übergeleitet werden. Drittens. Warum bleibt die Regierungserklärung angesichts des weiteren rapiden Kostenanstiegs im Gesundheitswesen bei allgemeinen Beschwörungen? Warum wird sie hier nicht konkret? Hier könnte doch - nein: hier muß - auf Kosten der Stärkeren gespart werden. Und die Stärkeren sind hier nicht die Patienten, sondern die pharmazeutischen Konzerne und ein nicht ganz unbeträchtlicher Teil der Ärzteschaft. ({33}) Viertens. Vor den Wahlen haben sich prominente Mitglieder Ihrer Partei für die Beseitigung der Selbstbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten und Kuren ausgesprochen. ({34}) Heute haben Sie diesen Punkt übergangen. Wir werden - und das schon aus prinzipiellen Gründen - eine entsprechende Gesetzesinitiative einbringen und dann sehen, welche Unionsabgeordneten tatsächlich zu ihrem Wort stehen. ({35}) In der Regierungserklärung wird eine Neuordnung der Alterssicherung in Aussicht gestellt und die Opposition zur Mitarbeit eingeladen. Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden und unsere Vorstellungen über eine sozial gerechte Neuordnung vortragen. Dazu gehört dann auch das Problem der Rente nach Mindesteinkommen. Dazu gehört auch die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme, ein Punkt, über den Ihre Minister, Herr Bundeskanzler, schon jetzt öffentlich streiten, bevor die konzeptionellen Arbeiten überhaupt begonnen haben. Das stimmt wenig hoffnungsvoll. Arbeit, Wirtschaft und soziale Sicherheit sind eng mit den öffentlichen Finanzen verbunden. Sie wollen nach Ihrer gestrigen Erklärung für den Haushalt 1984 gegenüber der mittelfristigen Planung 6,5 Milliarden DM kürzen und weitere anderthalb Milliarden DM umschichten. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Kürzungen und schon gar nicht gegen Sparsamkeit. Aber wir wollen wissen, wo Sie kürzen und wie sich diese Kürzungen volkswirtschaftlich auswirken. Wir wollen auch wissen, wem Sie höhere Belastungen zumuten. Was sich bisher erkennen läßt, macht uns mißtrauisch. Als Opposition haben Sie ständig von der Beschneidung der Subventionen geredet. Was ist daraus geworden? Wo kürzen Sie jetzt ganz konkret Subventionen? Heute haben wir nur eine neue Absichtserklärung gehört. Sie wollen den Weihnachtsfreibetrag der Arbeitnehmer abbauen. Was ist mit anderen Freibeträgen? Und das Familiensplitting, das Sie planen, ist doch auch nur für Besserverdienende interessant. ({36}) Da beschweren Sie sich, wenn wir Ihre Politik als eine Umverteilung von unten nach oben bezeichnen? Ich weiß: Die Philosophie, mit der Sie das rechtfertigen, lautet, das sei alles notwendig, um zur Leistung anzuspornen. Unsere Vorschläge seien leistungsfeindliche Gleichmacherei. Leistung müsse sich wieder lohnen. Sind Sie sich eigentlich bewußt, daß Sie damit einem recht vordergründigen Materialismus huldigen, so, als ob in den höheren Etagen nur das Streben nach mehr Geld intensivere Anstrengungen bewirke, nicht aber der Wunsch nach Selbstbestätigung, danach, für andere einstehen zu können oder ganz einfach nach Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und Anlagen? ({37}) Gegen diese Philosophie muß man die Betroffenen in Schutz nehmen. Ich sagte: Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit bedarf es vor allem auch struktureller Veränderungen. Das gilt nicht minder für die Überwindung der Gefahren, die unsere Umwelt, die unsere Natur immer stärker bedrohen. Diese Gefahren haben eine neue Qualität erreicht. Zu lange sind die Warnungen derer, die über den Tag hinaussahen, nicht ernstgenommen worden. Man hat sie allzulange als Phantasten, als Störenfriede, als Außenseiter der Gesellschaft und des Staates angesehen. Man hat ihnen vorgeworfen, daß sie Arbeitsplätze vernichten und die Arbeitslosigkeit steigern würden. Der Gegensatz von Ökonomie und Ökologie galt als strukturbedingt und deshalb zwangsläufig. Das hat sich geändert. Seitdem auch bei uns der Wald stirbt, seitdem viele fürchten, Seveso könne sich überall wiederholen, hat sich Gott sei Dank das Umdenken beschleunigt. Immer mehr Menschen erkennen, daß wir nicht über der natürlichen Ordnung stehen, sondern daß wir uns in diese Ordnung einfügen müssen, daß wir nicht einen dauernden Krieg mit der Natur führen dürfen, sondern mit der Natur Frieden schließen müssen, und sie verlangen zu Recht Konsequenzen. ({38}) Ihre Regierungserklärung zieht diese Konsequenzen nur unzulänglich. Sie bleibt auch auf diesem Feld vage. Was wollen Sie nun konkret gegen das Waldsterben tun? Gilt weiterhin die Parole des Herrn Zimmermann, der noch im Februar sagte, ein Mehr würde zuviel des Guten sein? Oder teilen Sie die Auffassung der bayerischen Fachleute, die zuletzt gesagt haben, daß die bisherigen staatlichen Maßnahmen in keiner Weise ausreichen? Wir haben ein konkretes Notprogramm vorgelegt. Sie schweigen sich auch sonst weitgehend aus. Sie sagen nichts zur Prüfung der Umweltverträglichkeit von öffentlichen und privaten Vorhaben. Sie vermeiden jede Stellungnahme zur naturschutzrechtlichen Verbandsklage für anerkannte Naturschutzverbände. ({39}) - Haben Sie heute dazu in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers eine Stellungnahme, ein Ja oder ein Nein gehört? ({40}) - Es war doch in unserer Regierungserklärung von 1980 angekündigt. Sie können doch nicht daraus etwas ableiten, daß das im ersten Jahr nicht verwirklicht worden ist. Sie kündigen es ja noch nicht einmal an. ({41}) Sie belassen es bei der Zersplitterung der Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Bundesressorts. Wir werden zu all diesen Punkten die Initiative ergreifen. Außerdem ist die Konsolidierung der Deutschen Bundesbahn, von der Sie gesprochen haben, nicht nur ein finanzielles Problem und ein wichtiges Feld für die Sicherung von Arbeitsplätzen. Die Konsolidierung der Bundesbahn ist auch ein umweltpolitisches Thema von hohem Rang. ({42}) Jeder Verkehr, der von der Schiene abwandert, belastet die Umwelt. Verkehr, der zu ihr zurückkehrt, entlastet sie. Auch das ist Umweltschutzpolitik. ({43}) - Meine Damen und Herren, ich erinnere Sie daran, daß noch ein dritter Punkt kommt. Sparen Sie sich also Ihre Stimmbänderreserven. Ihre Äußerungen zum Schutz der Umwelt waren unbestimmt. Was Sie zur Liberalität, zur Rechtsstaatlichkeit und zum Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern gesagt haben, ist zum Teil ebenso vage und unverbindlich. Wo Sie konkret geworden sind, besteht Anlaß zur Sorge, teilweise zu entschiedenem Widerspruch, denn dort kündigt sich eine Gegenreform an, die weit in die Vergangenheit zielt. Sie wollen im Demonstrationsstrafrecht zum Stand von 1970 zurückkehren. Warum eigentlich? Warum ignorieren Sie die bitteren Erfahrungen, die damals im Jahre 1970 eine Änderung notwendig gemacht haben, und die guten Erfahrungen mit der flexiblen und dadurch besonders wirksamen Anwendung des jetzigen Rechts ebenfalls? Warum wollen Sie die Rückkehr zu einem Zufallsstrafrecht, bei dem von Tausenden jeweils eine Handvoll kriminalisiert und dem Gericht vorgeführt wird? Ich weiß wohl, daß Sie damit politische Ziele verfolgen, daß Sie Meinungsäußerungen treffen wollen, die Sie für falsch, für provozierend, für gefährlich halten. ({44}) Ich leugne gar nicht: Manche dieser Manifestationen fordern ihres Inhalts wegen auch unseren Widerspruch heraus. Meine Damen und Herren, Sie verschieben aber die Ebenen. Sie bürden der Polizei und der Justiz eine Last auf, die von der Politik getragen und bewältigt werden muß. ({45}) Sie folgen der Nürnberger Linie der Massenverhaftungen und nicht der von zwei Senaten entwickelten und praktizierten Berliner Linie der Vernunft. Gibt es Ihnen nicht zu denken, daß Ihnen auch die Gewerkschaft der Polizei bei dieser Absicht widerspricht? ({46}) Was soll die von Ihnen angekündigte Novellierung des Datenschutzgesetzes bringen? Sie wollen doch gleichzeitig die Amtshilfe für die Nachrichtendienste wieder ausweiten. Also geht es wohl um Einschränkungen, nicht um Verbesserungen. Was haben Sie mit der Regelanfrage vor? Wollen Sie Herrn von Weizsäcker folgen, der in Berlin nicht ein Jota an der liberalen Praxis seiner Vorgänger geändert hat, oder geben Sie Herrn Zimmermann freie Hand, die exzessive bayerische Praxis nun auch im Bund anzuwenden und vielleicht sogar den bayerischen Maulkorberlaß auch für die Bundesbeamten einzuführen? ({47}) Das alles bleibt im unklaren, ({48}) auch die Frage, ob Sie die Reform des § 218 einschließlich der sozial flankierenden Maßnahmen bestehen lassen wollen oder ob und wie weit Sie sie wieder aufheben wollen. Unser Standpunkt ist klar: Wir verteidigen die Reform des § 218 auch deswegen, weil wir glauben, daß sie die Chancen des ungeborenen Lebens nicht vermindert, sondern daß sie die Chancen erhöht hat. ({49}) Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sagen Sie es! Wenn Sie die Meinung teilen, daß diese Reform die Chancen des ungeborenen Lebens erhöht, dann hören Sie auf, uns als eine Partei zu verteufeln, die menschliches Leben der Willkür überantwortet, wie Sie es immer wieder tun! ({50}) Wo liegt denn der Unterschied, wenn Sie keine Änderung vornehmen wollen? Herr Geißler hat doch vor den Wahlen erklärt, daß keine Änderung vorgenommen wird. Warum wird das hier nicht nach der Wahl klipp und klar wiederholt? ({51}) Auch auf einem anderen Gebiet sind Sie dabei, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen. Ich meine die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft. Gewiß finden Sie auch hier schöne Worte und kritisieren beispielsweise die Eingruppierung von Frauen in Leichtlohngruppen. Das ist gut, wenn auch ein wenig spät. Ein Wort der Ermutigung von seiten der Union vor zehn Jahren zu diesem Problem hätte für die Gewerkschaften und die Frauen eine Hilfe dargestellt. ({52}) Aber was tun Sie konkret gegen die Benachteiligung der Mädchen in der Berufsausbildung, die seit Ihrem Regierungsantritt zugenommen hat, gegen die schrittweise Verdrängung von Frauen aus dem Berufsleben, gegen die immer stärker steigende Frauenarbeitslosigkeit? Sie loben die Hausfrauen und die Mütter. ({53}) Das ist gut, und wer dächte da nicht dankbar an seine eigene Mutter. Aber Sie tun das in einer Weise, die den Verdacht aufkommen läßt, das Lob sei ein versteckter Tadel für die berufstätigen Frauen. ({54}) Wir werden in der Aussprache unser Konzept gegen das Ihre setzen. Die Frauen sollen wissen: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer und Frauen gehört für uns zu den wichtigsten Voraussetzungen der Gleichberechtigung, und dabei bleibt es. ({55}) Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesrepublik steht vor, nein, sie steht in einer ernsten Bewährungsprobe. Unsere Auffassungen darüber, wie sie gemeistert werden kann, gehen weit auseinander; sie widersprechen sich in wesentlichen Punkten. Wir sind davon überzeugt, daß wir es mit Herausforderungen einer neuen Qualität zu tun haben, daß Fehlentwicklungen, j a Katastrophen möglich sind, deren Ausmaß alle bisherigen geschichtlichen Erfahrungen weit übersteigen würde. Sie glauben, daß es sich im Grunde um die alten Probleme handelt. Wir ringen um neue Antworten, die mit den Grundwerten ernst machen wollen, die aus Fehlern, auch aus eigenen, lernen. Sie meinen, es genüge, im wesentlichen zu den Maximen der 50er Jahre zurückzukehren. Wir wissen um die Verantwortung des Staates und der Gemeinschaft dort, wo der einzelne und die kleinere Gruppe und Institution zu scheitern drohen. Sie beschreiben das als staatliche Lenkung und Bevormundung und verweigern dem Staat die Instrumente, die er braucht, um dem gerecht zu werden. Wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Solidarität, weil ein Gemeinwesen gerade in schwierigen Zeiten der Gerechtigkeit und der Solidarität in besonderer Weise bedarf. Sie reden von dem Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung in einem Sinne, der die Stärkeren dazu verführt, aus der Solidarität auszubrechen und immer wieder das eigene Wohlergehen für wichtiger zu halten als die Beachtung der Gebote der sozialen Gerechtigkeit. Wir bejahen die Demokratie als allgemeines Prinzip, auch in der Form der Wirtschaftsdemokratie. Sie mißtrauen diesem Prinzip, sobald es über die Grenzen des staatlichen Bereichs hinausgreift. Wir begreifen die neuen Bewegungen als Ausdruck einschneidender Umwälzungen, als Warnung und als Mahnung. Sie versuchen, diese Bewegungen auszugrenzen und aus dem gesellschaftlichen Konsens, j a da und dort auch aus dem Verfassungskonsens zu verdrängen. Diese Gegensätze werden wir in den nächsten vier Jahren auszutragen haben, draußen und hier in diesem Hause. Wir Sozialdemokraten gehen mit Zuversicht in diese Auseinandersetzung, mit der Zuversicht einer politischen Kraft, ({56}) die in den 120 Jahren ihrer Geschichte ihren Namen nie geändert und ihren Ursprung und die sittliche Idee ihres Engagements nie aus den Augen verloren hat. Sie, Herr Bundeskanzler, haben Otto von Bismarck zitiert. Ich zitiere Ferdinand Lassalle. Er sagte am 12. April 1862: Die sittliche Idee des Arbeiterstandes ist die, daß die ungehinderte und freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum noch nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: Die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitigkeit in der Entwicklung. Was Lassalle damals die sittliche Idee des Arbeiterstandes nannte, verstehen wir heute als die sittliche Idee des ganzen Volkes. Es ist die Idee der solidarischen Gesellschaft. Sie ist unser Leitbild, und für diese solidarische Gesellschaft werden wir in den kommenden vier Jahren hier in diesem Hause und draußen all unsere Kraft einsetzen. ({57})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Waigel. ({0}) - Meine Damen und Herren, ich bitte doch, das nicht so laut zu machen, damit der Redner zu Wort kommen kann. ({1}) - Wir üben j a noch, Herr Kollege.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir nehmen zur Kenntnis, daß es der neue Stil der Opposition ist, dann, wenn der erste Sprecher der Regierungskoalition spricht, den Saal zu verlassen. ({0}) Herr Kollege Dr. Vogel, trotz Ihrer Rede wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand als Vorsitzender der Opposition in diesem Hause. Wir wissen, wie wichtig die Funktion der Opposition ist. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, die Regierungsmehrheit brauche die Opposition nicht. Wir brauchen diesen Ideenwettkampf, und ich wünsche Ihnen in dieser Funktion alles Gute. ({1}) Ich kann Sie mit dem trösten, was uns Edward Heath einmal gesagt hat. Er hat gesagt, die ersten zehn Jahre der Opposition seien die schwierigsten, dann werde es besser. ({2}) Daß Sie allerdings, Herr Kollege Vogel, der große Integrator Ihrer Partei oder weltweit werden, das wage ich zu bestreiten, denn in Ihrer Münchener Zeit ist es Ihnen schließlich nicht einmal gelungen, Schöfberger und Geiselberger an einen Tisch zu bringen. ({3}) Ich staune allerdings, Herr Kollege Dr. Vogel, wie schnell Sie die letzten 13 Jahre vergessen haben. Das, was Sie hier als Sündenregister aufgezählt haben, war eine Philippika an Ihre eigene Adresse, an Ihre eigene Partei, an Ihre eigene Regierung. ({4}) Sie haben den Bundeskanzler Helmut Kohl als Sohn Ludwig Erhards bezeichnet. Wir danken Ihnen für dieses Kompliment am Vorabend von dessen sechstem Todestag. Vielleicht wollten Sie das nicht als Kompliment werten; wir empfinden es als Kompliment, ({5}) denn wir verdanken diesem Mann viel, und wir würden uns glücklich schätzen, wenn wir ein solches Erbe übernehmen könnten, wie er es damals, 1966, an die nächste Regierung weitergegeben hat. ({6}) Ihnen, Herr Bundeskanzler, versichere ich: Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit; wir gratulieren Ihnen zu Ihrem Erfolg. Sie können sich bei Ihrer Arbeit auf die CDU und die CSU sowie auf die CDU/CSU- Bundestagsfraktion voll verlassen. ({7}) Herr Vogel, ich habe mir noch ein paar Stichworte aufgeschrieben: Volkszählung. War das nicht eigentlich Ihr Werk, als Sie Justizminister waren? ({8}) Waren Sie damals nicht eigentlich beteiligt, hatten Sie nicht eigentlich die Aufgabe, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Gesetzes eingehend zu prüfen? ({9}) Was waren denn Ihre Antworten, Herr Kollege Dr. Vogel, was waren die Antworten der Sozialdemokraten in den 70er Jahren? Sie haben doch nichts gebracht als Großbürokratien, mehr Staat, mehr Schulden, mehr Abgaben, eine Vergesellschaftung des Staates und eine Verstaatlichung der Gesellschaft. Sie haben den Staat schwächer gemacht und die Gesellschaft überfrachtet. Das hat uns einen Teil der heutigen Probleme gebracht. Sie haben zur Subsidiarität etwas gesagt. Ist es eigentlich richtig verstandene Subsidiarität oder richtig verstandener Föderalismus, wenn man ein Krankenhausfinanzierungsgesetz - damals vor allen Dingen von einer Parteifreundin von Ihnen verfochten - schafft, bei dem statt einem Drittel Beteiligung des Bundes an den Kosten heute noch ein Vierzehntel übrigbleibt? Ist es da nicht vernünftig, wieder zu kleineren Einheiten zurückzugehen, den Ländern und den Kommunen diese Aufgabe wieder zu übertragen, statt sie in ein Korsett von Mischfinanzierungen zu zwängen, die niemandem nützen, die umständlich sind und die nur die Verantwortungen verlagert haben? ({10}) Herr Kollege Dr. Vogel, der Bundeskanzler hat hier niemanden belehrt, aber er hat Notwendiges festgestellt, und das war richtig. Über Diktaturen brauchen Sie, Herr Kollege Dr. Vogel, uns nicht zu belehren. Wir sind weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind. Uns gefällt in Nicaragua keine Rechtsdiktatur, wir wollen aber auch keine Linksdiktatur, wie sie dort jetzt herrscht. ({11}) Eines, Herr Kollege Dr. Vogel, weise ich entschieden zurück: Sie haben Franz Josef Strauß unterstellt, er habe den Tod Burkerts als Instrument ausgenutzt. ({12}) - Dies ist eine Unterstellung, die ich zurückweise. Es ist durchaus legitim, und es steht einem Politi94 ker zu, daß er aus berechtigter Empörung über den ungeklärten Tod eines Menschen die Zustände kritisiert, die überhaupt erst dazu führen, daß sich solches ereignen kann. ({13}) Auf diesen Strecken und bei diesen Kontrollen herrscht Angst. Dies ist eine Realität; dies weiß jeder, der sich dem selber unterzieht. Das kritisieren wir, und das werden wir auch weiter kritisieren. ({14}) - Das ist ein trauriger Vergleich: zwischen Gauting und Drewitz, der Ihnen hier eingefallen ist. Er zeigt nur die Verdrehtheit und die Perversion des Denkens, die Sie sich in diesem Punkt angeeignet haben. ({15}) Sie haben vom Kalten Krieg gesprochen, Herr Kollege Dr. Vogel. Ich möchte nur sagen, daß gerade damals in den Zeiten des Kalten Kriegs mehr menschliche Begegnungen möglich waren als in der Zeit, in der man meinte, durch Entspannung und eine neue Politik sei mehr möglich. ({16}) Sie haben in einer Vielzahl von Fällen immer wieder die Bischöfe, den Papst und die Sozialenzykliken für Ihre Argumentation herangezogen. ({17}) Warum haben Sie dann nicht mit dem Papst, den Bischöfen und anderen auch über Ihre Haltung zum § 218 gesprochen? ({18}) Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat die Schwerpunkte der politischen Arbeit der Koalition der Mitte in den kommenden Jahren verdeutlicht. Es geht erstens um die Sicherung des Friedens in enger Zusammenarbeit mit unseren NATO-Partnern; es geht zweitens um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Sicherung des sozialen Netzes und Bewahrung einer menschenwürdigen Umwelt. Ihren Aussagen, Herr Kollege Dr. Vogel, zur Wirtschaftspolitik fehlt ein grundlegender Teil, nämlich die Ursachenanalyse, jene Analyse, warum es soweit gekommen ist. Sie verweigern die Antwort auf die berechtigte Frage, warum wir noch Anfang der 70er Jahre Vollbeschäftigung zu verzeichnen hatten und nun Anfang der 80er Jahre über 2 Millionen Arbeitslose zu beklagen haben. Sie haben in Ihrer Rede dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe ungedeckte Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Wir sind heute gezwungen, die Wechsel einzulösen, die Sie ausgestellt haben, die nicht gedeckt waren, mit denen Sie sich zu Lasten der nächsten Generation in unverantwortlicher Weise verschuldet haben. ({19}) Wenn Sie jetzt behaupten, Ihre Beschäftigungspläne seien stocksolide, dann kann ich nur sagen: Diese Berechnungen sind offensichtlich so stocksolide wie der Haushalt und ähnliche Berechnungen, die Sie voriges Jahr vorgelegt haben. ({20}) Es ist bezeichnend für die Schwäche Ihrer Partei im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik - es war ja auch nicht berauschend, was Sie heute zu diesem Thema vorgetragen haben -, daß sie zunächst einen großen Verschleiß an führenden Köpfen hatten, die entweder wie Möller und Schiller frühzeitig anderen das Feld überließen oder die ins zweite Glied zurücktreten mußten. Sie selbst, Herr Kollege Vogel, umgaben sich mangels eigener Kompetenz im Wahlkampf mit politisch noch recht unerfahrenen Beratern. Sie haben den Kollegen Roth, was er eigentlich gar nicht verdient hat, ins dritte Glied zurückgestellt, was prompt ins Auge ging; denn der eine Ihrer Berater wollte an das Gold der Bundesbank und der andere an die Sparbuchzinsen. Beides hat keinen großen Anklang bei der Bevölkerung gefunden. ({21}) Jeder von uns weiß: Es gibt keine Patentrezepte zu einer dauerhaften Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Eine Tatsache und die historische Erfahrung allerdings sprechen für uns, und zwar die historische Erfahrung in unserem Land, daß Sie in einem Jahrzehnt die Arbeitslosigkeit auf jetzt über 2 Millionen haben ansteigen lassen; wir dagegen haben in zwei Jahrzehnten, in den Jahren des Wiederaufbaus, als es noch schwieriger war, eine höhere Arbeitslosigkeit unter weit ungünstigeren Bedingungen verhindert. ({22}) CDU und CSU können mit Stolz auf die marktwirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen in den 50er Jahren zurückblicken, die einen schnellen Wiederaufbau und die Eingliederung von Millionen Arbeitslosen ermöglicht haben. Wir haben damals gegen den Widerstand der SPD zusammen mit der FDP die Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt. Gerade angesichts des Umfangs der vor uns stehenden Probleme setzen wir heute erneut auf das Konzept der Marktwirtschaft und wenden uns mit Nachdruck gegen Ihre nicht zuletzt auf dem Münchner Parteitag wieder in den Vordergrund gerückten Vorstellungen von mehr Staat, mehr staatlichem Dirigismus, mehr Zwangsabgaben und mehr Staatsverschuldung. Lassen Sie mich einige wenige Ursachen der gegenwärtigen Probleme nennen: Es war einmal eine Haushaltspolitik, die die gesamtwirtschaftliche Vermögensbildung statt für Zukunftsaufgaben in immer größerem Umfang für Gegenwartskonsum verbraucht hat. Es war zum zweiten eine Sozialpolitik, bei der die Zusammenhänge zwischen gesamtwirtschaftlichem Leistungsvermögen und sozialen Ansprüchen eindeutig verlorengingen. Es war zum dritten eine Bildungspolitik mit dem Trend zur Verschulung und zu Massenhochschulen, die heute vielen jungen Menschen die Chance nimmt, einen Arbeitsplatz zu finden, da am Bedarf vorbei ausgebildet wurde. Es war zum vierten eine Energiepolitik, an deren Ende uns bei wichtigen technologischen Entwicklungen der Verlust unserer einstigen Spitzenstellung droht. Es war zum fünften - Herr Kollege Dr. Vogel, das betrifft Sie besonders - eine Wohnungsbaupolitik, die im Endeffekt zum völligen Erlahmen des Mietwohnungsbaus geführt hat. Sie sind doch das Investitionshemmnis Nummer eins im Wohnungsbau gewesen. ({23}) Die beschäftigungspolitischen Fehlentwicklungen entstanden nicht von heute auf morgen; sie sind vielmehr das Ergebnis eines langfristigen Prozesses der Verwerfungen und Verformungen, der nicht kurzfristig reparabel ist. So, wie die Ursachen weit zurückreichen, werden auch unsere Maßnahmen zur Überwindung der tiefgreifenden Verwerfungen einen weiten Zeithorizont benötigen. Da die Arbeitslosigkeit vor allem strukturelle Ursachen hat, wird sie sich nur auf längere Sicht und schrittweise abbauen lassen. Das ist für uns die vordringlichste Aufgabe. Damit einhergehen muß die grundlegende Sanierung der öffentlichen Finanzen. Eine gut funktionierende Wirtschaft ist nicht denkbar ohne geordnete öffentliche Finanzen, und umgekehrt ist eine Ordnung der öffentlichen Finanzen nur möglich, wenn Arbeitslose wieder zu Steuerzahlern werden. Insoweit befinden wir uns durchaus auf einer Linie mit dem sogenannten Frühjahrsgutachten, das die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute am Montag vorgelegt haben. Ohne auf Einzelheiten des Gutachtens einzugehen, möchte ich folgende Anmerkungen machen. Die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung haben sich in den vergangenen Monaten verbessert. In einigen Wirtschaftsbereichen ist eine spürbare Verbesserung der Auftragslage zu verzeichnen. Wir haben im Wahlkampf immer wieder betont: Kurzfristige Patentrezepte gibt es nicht. Die Institute kritisieren die Mehrwertsteuererhöhung Mitte 1983. Ich halte diese Kritik allerdings nicht für gerechtfertigt. Jahrelang wurde doch gerade von den Wirtschaftswissenschaftlern eine Umstrukturierung unseres Steuersystems gefordert mit dem Ziel einer Reduzierung der direkten, vor allem der ertragsunabhängigen, Besteuerung und einer Finanzierung der daraus resultierenden Mindereinnahmen durch eine Anhebung der indirekten Steuern. Mit der Mehrwertsteuererhöhung, deren Aufkommen j a gerade zum Abbau ertragsunabhängiger Steuern verwendet wird, sind wir diesen Vorschlägen gefolgt. Die Institute wenden sich dann gegen die Hilfen zugunsten des Kohlebergbaus und der Landwirtschaft. Sie lehnen darüber hinaus die Pläne für Hilfen zugunsten der Stahlindustrie und der Werften ab. Welche Folgen die Verwirklichung dieser Vorschläge für den Arbeitsmarkt hätte, wird von den Instituten leider nicht angegeben. Zum EG-Agrarsystem kenne ich keine erfolgversprechende und politisch realisierbare Alternative, es sei denn, wir betrieben künftig eine Renationalisierung der Landwirtschaft mit all den damit verbundenen negativen Konsequenzen für die Aufrechterhaltung der Wirtschafts-, Zoll- und Währungsunion. Ohne öffentliche Hilfen lassen sich nach Lage der Dinge die Arbeitsplätze bei der Kohle, beim Stahl und bei den Werften kaum halten. Es muß deshalb meines Erachtens vielmehr darum gehen, diese Subventionen der Höhe nach zu begrenzen und weitgehend degressiv zu gestalten. Aus grundsätzlichen, aber auch aus haushaltspolitischen Überlegungen wäre es uns sicher lieber, auf Subventionen zugunsten von Stahl und Schiffbau verzichten zu können. ({24}) Angesichts des internationalen Subventionswettlaufs in diesen Wirtschaftsbereichen werden wir jedoch kaum um öffentliche Hilfen zugunsten dieser Wirtschaftssektoren herumkommen können, es sei denn, wir wären bereit, künftig auf eine nationale Stahlproduktion und auf eine nationale Schiffsproduktion zu verzichten. Die Sanierung der öffentlichen Finanzen kann nur über eine dauerhafte Verminderung der Ausgabendynamik erreicht werden. Trotz des nur noch bescheiden wachsenden Ausgabenrahmens müssen die Zukunftsaufgaben wieder ein stärkeres Gewicht erhalten, müssen also die investiven Mittel in den öffentlichen Haushalten zu Lasten der Transferausgaben ausgeweitet werden. Dies und nichts anderes sind die Maßnahmen, die wie im letzten Haushalt auch im kommenden Haushalt notwendig sind. Herr Kollege Dr. Vogel und meine Damen und Herren von der SPD, Sie fordern das zwar verbal, sind aber nicht bereit, konkret den Weg zu gehen, den wir jetzt in dieser Schärfe gehen müssen, nachdem Sie uns hinsichtlich der Investitionen und des Wachstums ein verheerendes Erbe eingebrockt haben. ({25}) Erschwert - das will ich gar nicht leugnen - wird die Sanierungsaufgabe durch eine in der bisherigen Höhe auf Dauer nicht zur Verfügung stehende Gewinnabführung der Deutschen Bundesbank, die in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen einer Kreditaufnahme der öffentlichen Hand weitgehend gleichzusetzen ist. Das gesamte Defizit des Bundeshaushalts - 1983 rund 52 Milliarden DM - muß in den kommenden Jahren schrittweise zurückgeführt werden. Die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat hat in den meisten westlichen Industriestaaten eine den Lei96 stungswillen strangulierende Abgabenlast zur Folge gehabt. Die direkte Steuerbelastung ist bei weitem zu hoch. Bei einem ledigen Durchschnittsverdiener beträgt die Grenzbelastung mit Steuern und Sozialabgaben bereits über 60 %. Zweifellos führt dies zu einer Beeinträchtigung der Leistungswilligkeit und zu einem zunehmenden Hang zur Schwarzarbeit und zur volkswirtschaftlichen Subkultur. Das substanzzehrende System der Unternehmensbesteuerung in unserem Land ist mitverantwortlich für die erschreckende Pleitenwelle, die Hunderttausende von Arbeitsplätzen und darüber hinaus wertvolle Ausbildungsplätze vernichtet hat. ({26}) Der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Dr. Schlesinger, beschrieb diese Entwicklung wie folgt: Die hohe Anfälligkeit der Unternehmen im gegenwärtigen Zeitpunkt ist das Endresultat eines mehrjährigen, teilweise sogar langjährigen Auszehrungsprozesses. Mit dieser Erosion der Ertrags- und Investitionskraft der deutschen Unternehmen hat gleichzeitig eine gewaltige Umverteilung zugunsten des sozialen und privaten Konsums und zu Lasten der Investitionen und damit der Arbeitsplätze stattgefunden. Der Rückgang der Investitionsquote in den letzten zehn Jahren entspricht einer Investitionslücke von derzeit jährlich 60 Milliarden DM. Diese Investitionslücke von heute und in den letzten zehn Jahren ist mit eine Ursache für die Technologielükke, der wir uns in vielen Ländern und Kontinenten gegenübersehen. Auf diese Weise haben wir zu Lasten der Zukunft gelebt. Die derzeitige Arbeitslosigkeit ist die Folge dieser Fehlentwicklung. Es ist unsere feste Absicht - wir werden es da nicht bei Lippenbekenntnissen belassen -, auch die zweite Stufe der Entlastungen im Unternehmensbereich ab 1984 so weit wie möglich mittelstandsfreundlich auszugestalten. Ich kann Ihnen zusagen, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesfinanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, daß Sie hier die volle Unterstützung und notfalls auch die kritische Begleitung der Fraktion der CDU/CSU zur Seite haben werden. ({27}) Die Soziale Marktwirtschaft wird letztlich durch die Vielzahl gerade der kleinen und mittleren Betriebe getragen. Deshalb muß den berechtigten Belangen der kleinen und mittleren Betriebe in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der kommenen Jahre verstärkt Rechnung getragen werden. ({28}) Die mit unserem Koalitionspartner FDP getroffene Neuregelung für die Investitionshilfeabgabe mit einer Verlängerung des Erhebungszeitraums um ein Jahr und einer Verschiebung des Rückzahlbarkeitstermins auf sieben Jahre ist mittelstandsfreundlich, weil sich gerade die kleinen und mittleren Betriebe durch das Investitionsprivileg befreien können und dieses Geld Investitionen und damit Arbeitsplätzen zuführen. ({29}) Wir haben in dieser Frage einen Kompromiß finden müssen. Aber wir sind unserem Versprechen nicht untreu geworden. Wenn man diese Frage objektiv prüft, wird man zu dem Ergebnis kommen, daß der ökonomische Wert und Umfang dem entspricht, was wir im Wahlkampf zugesagt haben. Beide Partner, CDU/CSU und FDP, mußten hier aufeinander zugehen. Mit diesem Kompromiß, so meine ich, können wir beide leben. Keiner wird davon ganz befriedigt sein. Im Gegensatz zu einer reinen Ergänzungsabgabe bleibt der finanzielle Anreiz für Investitionen erhalten. Er wird sogar auf ein drittes Jahr ausgedehnt. Über die Steuerentlastung für 1984 hinaus wird es in der Steuerpolitik dieser Legislaturperiode vor allem zwei Schwerpunkte geben. Zum einen geht es um die Reform des Einkommensteuertarifs. Nach der jüngsten Steuerschätzung wird das Aufkommen aus der Lohnsteuer bis 1987 nahezu doppelt so schnell steigen wie die Löhne und Gehälter. Gleichzeitig steigt die gesamtwirtschaftliche Steuerquote bis 1987 um knapp einen Prozentpunkt, was einem Mehraufkommen von rund 18 Milliarden DM im Jahr 1987 entspricht. Auch ohne Steuertariferhöhungen fordern wir damit den Steuerzahlern bis zur nächsten Tarifentlastung ein erhebliches Konsolidierungsopfer ab. Um so wichtiger ist es, daß Bund, Länder und Gemeinden an dem Einsparungsziel von mittelfristig 40 Milliarden DM festhalten, um das strukturelle Defizit, das Bund, Länder und Gemeinden besonders belastet, endgültig abbauen oder jedenfalls verringern zu können. Der Schlüssel zur Wiedergewinnung von Wachstum und Vollbeschäftigung muß bei den privaten Investitionen liegen. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, wenn in der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung zunehmend auf vermeintliche Sättigungserscheinungen hingewiesen wird. Sättigungserscheinungen sind sicherlich auf einzelnen Märkten zu verzeichnen. In gesamtwirtschaftlicher Hinsicht halte ich jedoch alle Sättigungstheorien für falsch. Betrachte ich sie subjektive Seite, so ist mir kein Haushalt in der Bundesrepublik bekannt, der nicht noch viele materielle Bedürfnisse hätte. Auch von der objektiven Seite her, d. h. im Hinblick auf neue Produkte, neue Dienstleistungen und neue Techniken, sehe ich nichts, was für das Erreichen von Sättigungsgrenzen spricht. Ich wehre mich einfach gegen die Vorstellung, die Welt, die Ökonomie, die Entwicklung von Produkten, das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage würden ausgerechnet im Jahr 1983 zum Stillstand kommen und danach werde es keine neuen Produkte, keine neuen Bedürfnisse und keine neuen Entwicklungen mehr geben. ({30}) Ein völlig anderes Problem ist die Tatsache, daß sich die Bedürfnisstrukturen sowohl im privaten Sektor wie auch im öffentlichen Sektor verändert haben und auch in Zukunft verändern werden. In einer Marktwirtschaft führen diese Änderungen der Bedürfnisstruktur zwangsläufig zu einer Änderung der Produktionsstruktur. Ein immer größer werdender Teil der Umsätze von heute entfällt auf Produkte, die vor fünf Jahren noch gar nicht auf dem Markt waren. Diese laufende Veränderung der Produktionsstrukturen führt natürlich in einigen Wirtschaftssektoren zu erheblichen Anpassungsproblemen. Dies hat auch auf dem Arbeitsmarkt seinen Niederschlag gefunden. In Zeiten anhaltenden Wirtschaftswachstums fielen die Folgen dieser Strukturanpassungen weniger ins Gewicht. Heute sind diese Strukturanpassungen jedoch zu einem Problem geworden, weil unser Arbeitsmarkt darüber hinaus von den konjunkturellen Problemen wie auch von der demographischen Entwicklung besonders berührt wird. Nun hat sich der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion heute erneut für Arbeitszeitverkürzungen ausgesprochen. ({31}) Das Ziel aller arbeitszeitpolitischen Vorschläge besteht darin, die vorhandene Arbeit auf, wie es heißt, gerechtere Weise auf mehr Schultern zu verteilen. Nach meiner Ansicht führt eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit keineswegs zu mehr Beschäftigung. Die Einführung der 35-Stunden-Woche bedeutet eine Reduzierung der Arbeitszeit um 12,5 % gegenüber der 40-Stunden-Woche. Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um über 10 % würde eine kräftige Reduzierung der Löhne und Gehälter erforderlich machen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dies könnte aus dem Produktivitätsanstieg, d. h. aus den jährlichen Lohnzuwachsraten, finanziert werden. Nach seriösen Berechnungen würde die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie die Kosten je Arbeitsstunde um 17,5% ansteigen lassen. Die Folge wäre: Die Arbeitnehmer müßten Lohnsenkungen in zweistelliger Prozenthöhe hinnehmen. Mit einem teilweisen oder vollen Lohnausgleich würden Hunderttausende von Stellen vernichtet. Außer acht gelassen wird bei diesen Berechnungen auch die Bedeutung des Mittelstandes. Arbeitszeitverkürzende Maßnahmen mögen in der Großindustrie einen gewissen Erfolg bringen, nicht jedoch bei den kleinen und mittleren Betrieben. ({32}) Im Handwerk liegt die durchschnittliche Betriebsgröße bei 8,2 Beschäftigten. Die meisten Handwerksbetriebe beschäftigen weniger als 14 Mitarbeiter. Nach den Berechnungen des Handwerks wäre bei Einführung der 35-Stunden-Woche nur in jenen Unternehmen eine zusätzliche volle Arbeitskraft zum Ausgleich der auf 35 Stunden verkürzten Wochenarbeitszeit nötig, die mindestens 14 Arbeitskräfte beschäftigen. Erfolgversprechender erscheinen mir demgegenüber die Ansätze zu einer Reduzierung der Lebensarbeitszeit, wobei jedoch auch hier die damit verbundenen Kosten ein schwieriges Problem darstellen. Eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu Lasten der Rentenversicherung ist nicht durchsetzbar und nicht verkraftbar. Die durch eine Reduzierung der Lebensarbeitszeit entstehenden zusätzlichen finanziellen Belastungen müssen deshalb von den Tarifpartnern mitgetragen werden. Ich verweise beispielsweise auf die jüngsten Regelungen im Chemiesektor. Arbeitszeitverkürzungen können meines Erachtens nur eine flankierende Maßnahme einer grundsätzlich auf Wachstum ausgerichteten Politik sein. ({33}) Ich möchte eines auch noch in aller Deutlichkeit sagen: Wenn man solches anbietet, dann darf dies nicht damit verknüpft sein oder die Zielsetzung enthalten, als ob wir die ältere Generation aus dem Arbeitsleben hinausdrängen wollten. ({34}) Es kann und darf ein Angebot sein. Wer dies mit den Konsequenzen annimmt, dem soll dies gestattet sein. Es darf aber nicht das Hinausdrängen einer Generation sein, die für unsere Wirtschaft, für unser gesellschaftliches Leben eine unglaubliche Leistung erbracht hat und die auch weiterhin in unseren Betrieben notwendig sein wird, um dort Fortschritt und Ausbildung zu gewährleisten. ({35}) Unsere Rentenversicherung steht ohnehin vor kaum noch finanzierbaren Ausgaben. Eine der wichtigsten Hauptaufgaben in der 10. Legislaturperiode besteht deshalb darin, das System der sozialen Sicherung wieder mit dem gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögen in Einklang zu bringen. Die finanzielle Lage der Rentenversicherung ist aufs engste mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung verzahnt. Ohne Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir auch hier nicht auf die Dauer Erfolg haben können. Nicht Arbeitszeitverkürzungen, nicht Maschinenbeiträge und nicht uferlose Beitragssatzsteigerungen können dieses Problem lösen. Angefangen von dem „Problemchen", das sich 1976 zu einem handfesten Rentenbetrug ausgewachsen hat, bis hin zu den zahlreichen Manipulationen und Finanzverschiebungen ging der quälende Prozeß, mit dem das Vertrauen der Rentner und Aktiven in ihr Alterssicherungssystem mehr und mehr untergraben wurde. Sehr verehrter Herr Kollege Vogel, wie Sie bei der Geschichte der Rentenpolitik der SPD in den letzten sieben Jahren den Mut aufbringen, uns hier Vorwürfe zu machen, bleibt mir unerfindlich. Das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen. ({36}) Sie hätten weiß Gott gut daran getan, über dieses Problem den Mantel des Schweigens zu legen, anstatt zu provozieren, daß wir Ihnen vorhalten, was sich hier seit 1976 und zuvor ereignet hat. ({37}) Es ist das Angebot des Bundesarbeitsministers Norbert Blüm, dem ich für seine Arbeit großen Respekt, Anerkennung und die Solidarität der Fraktion aussprechen möchte, ({38}) dieses Thema aus der Verunsicherung, aus dem politischen Hickhack herauszunehmen, um gerade die älteren Menschen nicht noch mehr zu verunsichern, als dies in der Vergangenheit passiert ist. Wir haben - und das war keine schöne und angenehme Aufgabe - die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung für 1983 unverzüglich sichergestellt. Aber wir haben niemanden, auch nicht im Bundestagswahlkampf, über die weiteren Sanierungsnotwendigkeiten im unklaren gelassen. Die weiteren Sanierungsnotwendigkeiten scheinen auch von der SPD anerkannt worden zu sein, wenn ich an den Brief des Kollegen Vogel vom Februar an die „Lieben Rentnerinnen und Rentner" erinnere. Darin heißt es, auch die SPD wäre zu schmerzhaften Maßnahmen gezwungen; in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten heiße dies, die Anforderungen an die Solidarität der Erwerbstätigen nicht zu hoch zu schrauben, einer dürfe den anderen nicht überfordern. - Wir würden es sehr begrüßen, wenn die SPD baldmöglichst ihre Vorstellungen zur dauerhaften Sanierung der Rentenversicherung auf den _Tisch legte und das Angebot von Norbert Blüm, hier einen Konsens und Kooperation zu finden, annehmen würde. Zwei Punkte der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Rechts- und Innenpolitik verdienen besondere Hervorhebung. Erstens. Die zunehmende Gefährdung des inneren Friedens durch einen Mißbrauch des Demonstrationsrechts hat in den vergangenen Jahren gefährliche Ausmaße angenommen. ({39}) - Was Sie zum Teil bei Demonstrationen betreiben, ist in der Tat unerhört. ({40}) Ich möchte dazu klar betonen: Für uns ist das Recht auf friedliche Demonstration unantastbar. Nicht hinnehmbar sind jedoch die gewalttätigen Ausschreitungen, die wir in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit Protestaktionen gegen industrielle und öffentliche Großprojekte erleben mußten. Mit Gewalt lassen sich Probleme in einem demokratischen Rechtsstaat nicht lösen. ({41}) Deshalb haben sich die Koalitionsfraktionen darauf geeinigt, den strafrechtlichen Schutz beim Landfriedensbruch zu verbessern und zu prüfen, ob darüber hinaus weitere Maßnahmen im Hinblick auf die Vermummung - welcher friedliche Demonstrant hat eigentlich etwas zu verbergen? - und auf die passive Bewaffnung ergriffen werden müssen. Wir haben in dem Punkt, Herr Kollege Dr. Vogel, nichts anderes getan, als auf das, was der Deutsche Richterbund zu diesem Thema als Formulierungshilfe vorgeschlagen hat, zurückzugreifen. ({42}) Vielleicht, Herr Dr. Vogel, lassen Sie sich hier einmal eine kleine Unterrichtung durch Ihren früheren Polizeipräsidenten Schreiber, der nun in Bonn und nicht mehr so weit weg von Ihnen ist, geben. Er wird Sie sicher in freundschaftlicher Verbundenheit von früher darüber aufklären, was in diesem Punkt nunmehr notwendig ist - außer, Ihre frühere Verbindung hätte Schaden genommen. ({43}) Aber Sie sehen, welches Zeichen von Liberalität diese Regierung aufweist. Wir scheuen uns nicht, einen qualifizierten Mann, der früher mit Ihnen zusammengearbeitet hat, in eine wichtige Funktion in einem Ministerium zu bringen. ({44}) Zweitens. Änderungen halten wir auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beim Scheidungsfolgenrecht für unumgänglich. Dies gilt insbesondere für den Versorgungsausgleich, der in einer Reihe von Fällen zu unzumutbaren Ergebnissen geführt hat. ({45}) Unser Ziel besteht darin, zu mehr Einzelfallgerechtigkeit unter Einbeziehung der jeweiligen Ursachen für die Zerrüttung der Ehe zu gelangen. - Herr Kollege Dr. Vogel, Sie sagen: Sie haben hier ja zugestimmt. Nun, auch wenn man einer Sache zugestimmt hat, muß man doch entsprechende Korrekturen vornehmen, wenn man erkannt hat, daß dies zu unzumutbaren Zuständen geführt hat. Gerade ein sich so nachdenklich und so sinnierlich gebender Mensch wie Sie müßte doch den Mut haben, seine eigenen katastrophalen Fehler auf rechtspolitischem Gebiet einzusehen und zu neuen Erkenntnissen zu kommen. ({46}) - Ich hoffe, daß Sie alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Herr Schily, so akzeptieren wie die Entscheidung zur Volkszählung; ({47}) ich komme darauf zu sprechen. Wer geglaubt hat, im Falle einer Regierungsverantwortung der Union komme es zu einem Rückschritt beim Umweltschutz, muß sich eines Besseren belehren lassen. Ich möchte der Regierung und insbesondere dem Bundesminister des Innern an dieser Stelle meinen Dank dafür aussprechen, daß er in nur wenigen Monaten entscheidende Verbesserungen beim Umweltschutz durchgesetzt hat. ({48}) Trotz erheblicher Meinungsunterschiede seitens der betroffenen Verbände und auch seitens der Bundesländer kam es im Bundesrat zu einem tragfähigen Kompromiß bei der Großfeuerungsanlagen-Verordnung. Herr Kollege Dr. Vogel, wenn Ihnen das zuwenig ist, dann verweise ich Sie auf eine hilfreiche Tätigkeit: Besprechen Sie sich doch bitte mit Ihrem Parteifreund, dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, ({49}) damit die Widerstände gegen stärkere Eingriffe von dort aufhören, wobei ich diesen Widerstand angesichts der Situation des Ruhrgebiets ökonomisch durchaus verstehe. Nur, Sie können sich doch hier nicht hinstellen und uns den Vorwurf machen, wir täten zuwenig, ({50}) wenn Ihre eigenen Parteifreunde im Bundesrat das torpedieren. ({51})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jahn ({0})?

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Diese intellektuelle Unredlichkeit, Herr Dr. Vogel, lassen wir Ihnen nicht durchgehen; entweder so oder so. Eins hat allerdings bei uns heute großen Anklang gefunden - das werden wir gründlich prüfen müssen -, Ihr Vorschlag der Verbandsklage, um das Waldsterben zu beseitigen. Ob uns das sehr weit bringt, wage ich allerdings zu bezweifeln. Ich würde es eher unter die Rubrik „politischer Humor" subsumieren ({0}) denn als ernstgemeinten Vorschlag ansehen. Sie haben sich, Herr Dr. Vogel, bei Ihren Ausführungen zur Friedensproblematik auf die amerikanische Bischofskonferenz, auf Enzykliken und auch auf die Deutsche Bischofskonferenz bezogen. Ich meine aber, daß man dann auch natürlich die Dinge heranziehen sollte, die in eine andere Richtung gehen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir stehen die deutschen Bischöfe für unsere konkrete Situation hier etwas näher als die amerikanischen. ({1}) So enthält das Papier der Deutschen Bischofskonferenz eine eindeutige Stellungnahme zugunsten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und die klare Absage an alle totalitären Systeme. ({2}) Nach Meinung der Bischöfe liegt eine Hauptursache für den Ost-West-Konflikt in der Spannung zwischen dem ideologischen Anspruch des kommunistischen Systems, der auf Klassenkampf und Weltrevolution gerichtet ist, und den Menschenbildern, die im Gegensatz dazu eine freiheitliche Rechts- nd Sozialordnung als Grundlage menschlichen Zusammenlebens fordern. Damit gehen die deutschen Bischöfe auf die Ursache der Spannung ein. Das ist ganz entscheidend, um die Friedensproblematik auch intellektuell redlich bewältigen zu können. ({3}) Die deutschen Bischöfe bringen zum Ausdruck, daß Abschreckung ein friedenssichernder Abschnitt auf dem Weg zur Abrüstung und zu einer umfassenden Friedensordnung sein kann. Auf Abschreckung kann aber auf Grund der realen politischen Bedingungen derzeit noch nicht verzichtet werden. Herr Kollege Vogel, ich hätte es vielleicht heute nicht gesagt, aber nachdem Sie ziemlich viel Polemik in Ihrer Rede hatten, will ich Ihnen noch etwas aus dem Wahlkampf sagen. ({4}) Eine der bösesten Entgleisungen und Unterstellungen war Ihre Behauptung, wir stritten für ein Mandat zur Aufstellung von Raketen, und Sie stritten für ein Mandat, um die Raketenaufstellung zu verhindern. Sie wissen ganz genau, daß diese Unterstellung nicht stimmt und haben sie wider besseres Wissen erhoben. ({5}) Außen- und Sicherheitspolitik der SPD lassen eine klare und eindeutige Positionsbestimmung vermissen. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jahn?

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich halte es wie mein Vorgänger. Die Sowjets haben in den vergangenen Jahren das militärische Gleichgewicht zu ihren Gunsten verschoben und mit der einseitigen Stationierung neuer landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen ein erhebliches Potential zur politischen Erpressung aufgebaut. Jahre hindurch erkannte die SPD mit der alten Regierung und der damaligen Unionsopposition die Notwendigkeit an, der erpresserischen Bedrohung Westeuropas durch die sowjetischen SS-20-Raketen mit dem NATO-Doppelbeschluß zu begegnen. Auf seiner Grundlage wird zur Zeit in Genf verhandelt. Die SPD schien den NATO- Doppelbeschluß voll mitzutragen, bis sie - pünktlich mit dem Regierungswechsel - ihre Mitverantwortung Schritt für Schritt aufgab. Sie stellte erst einmal die Tatsachen auf den Kopf, indem sie die Scheinalternative ausgab, die Bundesrepublik Deutschland solle nicht von östlichen Raketen bedroht werden, die Deutschen wollten aber auch andere nicht von ihrem Boden aus bedrohen. Damit suggeriert die SPD, daß aus dem Bedroher Sowjetunion der Bedrohte werde. Das hat zu den Irritationen in Paris, Rom, London und Washington geführt, und weite Kreise der SPD sind bereits heute voll auf den Kurs eines neuen Antiamerikanismus einschwenkt. ({0}) - Ja, wollen Sie denn das leugnen, was Lafontaine erst vor wenigen Wochen im Fernsehen klar und deutlich gesagt hat? Eppler und Lafontaine unterstellen den Amerikanern die Absicht, Westeuropa letztlich als atomare Pufferzone zum eigenen Schutz zu verheizen. ({1}) Das ist falsch, und das ist politisch schädlich. Der Kollege Ehmke kündigt den NATO-Doppelbeschluß öffentlich auf, wenn er fordert, die USA sollten auf die Pershing 2 als Element künftiger Nachrüstung generell verzichten. Der Kollege Scheer schreibt im „Vorwärts", daß sich die politische Ausgangslage für den NATO-Doppelbeschluß geändert habe. Washington und Bonn hätten angeblich die zentralen Beweggründe der NATO-Entscheidung nicht mehr im Auge, nämlich die Fortsetzung der Entspannungspolitik und der Rüstungskontrolle. Damit traut die SPD unserem bewährten Verbündeten nicht mehr. Diesen Kurs, meine Damen und Herren, halten wir für falsch und für gefährlich. Wenn die SPD dennoch von einer Kontinuität in ihrer Sicherheitspolitik redet, so sind dies zum Teil Schein- und Lippenbekenntnisse. Nicht zuletzt desavouiert die SPD damit die Sicherheitspolitik von Helmut Schmidt, und dies tut auch Hans-Jochen Vogel trotz aller gegenteiligen Beteuerungen. Hier muß einmal die Frage gestellt werden, Herr Kollege Dr. Vogel: Waren Sie denn nicht dabei, als der Kabinettsbeschluß zum Thema Nachrüstung und zum Thema Doppelbeschluß gefaßt wurde? ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, ich muß Sie noch einmal fragen.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Keine Zwischenfrage.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

War nicht Helmut Schmidt der Entdecker der Raketenlücke, und hat nicht er diese Strategie damit natürlich mit gefordert und mit gefördert, und haben nicht wir ihn dabei trotz der Schwierigkeit des Themas unterstützt? Wirkliche Entspannung, meine Damen und Herren, kann es nur geben, wenn man um die realen Spannungen weiß, den Ursachen der Spannungen nachgeht, sie offenlegt und beim Namen nennt. Wirkliche Ursache der gegenwärtigen Spannungen ist allein der sowjetische Imperialismus mit seiner weltrevolutionären Zielsetzung. Hier einzusetzen und einzudämmen ist Aufgabe einer realistischen Entspannungspolitik. ({0}) Alle die Erscheinungen, die wir heute in der SPD zu verzeichnen haben, weisen nach rückwärts. Sie sind Ausdruck eines offenkundigen Rückfalls in ihre Positionen der fünfziger Jahre, die nach Godesberg überwunden zu sein schienen, aber jetzt in neuem Gewand wiederkehren. Das sind der neutralistische Nationalismus, der Wunsch nach einer Mittlerrolle zwischen Ost und West, eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa und die AtomtodAngstkampagne. Damals, in den fünfziger Jahren, bedeutete dies für die SPD Isolierung im westlichen Ausland und eine Minderheitenposition in der Bundesrepublik Deutschland. Erst Fritz Erler und Herbert Wehner haben die SPD aus diesem Getto herausgeführt. Parteitaktisch könnte uns der frühere Zustand gelegen sein. Wichtiger als unsere parteitaktischen Überlegungen aber ist der Konsens in den elementaren Fragen unserer Sicherheit. ({1}) Es geht nicht um Raketen, es geht um unsere Sicherheit, um Frieden, um Freiheit. ({2}) Die natürliche Aufgabe der Opposition wäre es, der eigenen Regierung in dieser Frage gegenüber Moskau den Rücken zu stärken - so wie wir dies all die Jahre als Opposition getan haben. Das wäre besser für die Bundesrepublik Deutschland. Es wäre auch besser für die SPD, wenn sie hier wieder zur Solidarität im Bündnis zurückkehren würde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem Rückhalt eines intakten Bündnisses und nur mit dem Rückhalt eines intakten Bündnisses können wir die entscheidenden Prinzipien, die Menschenrechte verwirklichen. Wir - die CDU/CSU und die Regierung - sind immer mit Nachdruck für eine verifizierbare, kontrollierbare und ausgewogene Abrüstung auf allen Gebieten eingetreten. Wir haben auch den französischen Vorschlag über eine Europäische Abrüstungskonferenz begrüßt. Wir haben allerdings auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa besonderen Nachdruck auf die Frage der Sicherung der Menschenrechte in ganz Europa legen muß. ({3}) Unter der umsichtigen und tatkräftigen Politik Konrad Adenauers ist die Bundesrepublik Deutschland zu einer blühenden Demokratie gereift, in der die Bürger in Frieden, Freiheit und materiellem Wohlstand leben können. Natürliche Begriffe wie Volk, Nation und Vaterland aber waren durch den Mißbrauch in der Vergangenheit belastet. Die Frage der nationalen Identität blieb umstritten. Die große Mehrheit unseres Volkes aber hat die Einheit Deutschlands im Gedächtnis und im Herzen bewahrt. Die Deutschen beantworten damit die Fragen nach ihrer nationalen Identität positiv. Unser Volk bekennt sich zur natürlichen Ordnung der Menschheit in geschichtlich gewachsenen Nationen. Nur die Nationen können dem einzelnen Bürger Entwicklungsmöglichkeiten, innere Freiheit und äußere Sicherheit geben. Oberstes Prinzip im Zusammenleben der Staaten ist daher das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird den Völkern, die im Machtbereich der Sowjetunion leben, vorenthalten. Davon sind Mittel- und Ostdeutschland in besonderem Maße betroffen. Das ist mit eine Ursache für den nicht vorhandenen Frieden in der Welt. ({4}) Wir vertreten daher für die künftige Deutschlandpolitik folgende Grundsätze. Oberste politische und moralische Pflicht für unsere Deutschlandpolitik ist es, den Verfassungsauftrag zu erfüllen und für das deutsche Recht auf Einheit aktiv einzutreten. Im Deutschland-Vertrag erklären die drei Westalliierten, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands so lange aufgeschoben werden muß, bis eine friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland vereinbart ist. Weiter verpflichten sie sich auf das gemeinsame Ziel eines wiedervereinigten Deutschlands mit freiheitlich-demokratischer Verfassung. Wir dürfen unsere Bündnisfreunde aus dieser Verantwortung nicht entlassen. Der Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden, verpflichtet uns politisch und moralisch. Er schließt Maßnahmen aus, mit denen geschichtlich Gewachsenes geopfert und auf Rechtspositionen verzichtet wird. ({5}) Die Erfüllung dieser Postulate ist durch die Auslegung gefährdet, zu der sich der Vertragspartner DDR auf Grund der Verhandlungen berechtigt glaubte. Für die DDR besiegelte der Vertrag den Untergang des Deutschen Reiches, erkannte der DDR den Status eines selbständigen, souveränen Status im Sinne des Völkerrechts zu und bekräftigte sie in ihrer Absicht, es gebe zwei deutsche Nationen, eine sozialistische und eine kapitalistische. Es ist das unstreitige Verdienst der bayerischen Staatsregierung, daß mit dem von ihr erwirkten Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Grenzen für eine verfassungskonforme Auslegung des Vertrags, der nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda" im übrigen einzuhalten ist, festgeschrieben sind. ({6}) Für unsere Deutschlandpolitik gilt deshalb folgendes. Das Deutsche Reich besteht in den verfassungsgerichtlich festgestellten Grenzen auch heute noch weiter. ({7}) - Das Wort „Bravo", Herr Kollege Professor Ehmke, bezieht sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, und ich nehme an, daß dieser Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes Ihr „Bravo" gilt. ({8}) - So ist es; sehr schön. Ich stelle fest, daß sich der Professor des öffentlichen Rechts an das hält, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Ich nehme an, daß das nicht nur in diesem Fall so ist. Zweitens. Es gibt nur eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit, die zugleich die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist. Die innerdeutsche Grenze ist keine Trennungslinie im Sinne des Völkerrechts. Alle Verfassungsorgane haben beharrlich auf die Wiedervereinigung Deutschlands hinzuwirken. Gleichzeitig schließt dies aus, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, die Ständigen Vertretungen zu Botschaften aufzuwerten und die Grenze auf der Elbe nach den Forderungen der DDR zu ziehen. Eine aktive Deutschlandpolitik, die sich nicht nur im theoretischen Offenhalten der deutschen Frage erschöpft, macht es unausweichlich, die unnatürlichen, unmenschlichen Zustände und Ereignisse in Deutschland schonungslos beim Namen zu nennen und Abhilfe zu schaffen. ({9}) Gleichzeitig sind alle positiven Ansätze aufzugreifen, die das Los der Menschen im geteilten Deutschland erträglicher machen können, vorhandene Instrumentarien zu nutzen und neue zu entwickeln, die uns dem Ziel der Einheit der Nation näherbringen. Eine solche Deutschlandpolitik befindet sich mit den Grundlagen im Einklang, wie sie unter Konrad Adenauer formuliert worden sind, die der Deutsche Bundestag in seiner gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972 bekräftigt - auch die SPD hat dieser Entschließung zugestimmt - sowie das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Entscheidungen von 1973 und 1975 bestätigt haben. Diese rechtlichen, politischen und moralischen Grundlagen sind für uns nicht verhandlungsfähig. Der Grundlagenvertrag fordert die Entwicklung von normalen und gutnachbarlichen Beziehungen. Die DDR hat bisher wenig, zu wenig unternommen, was diese Bezeichnungen rechtfertigen würde. Nach den negativen Erfahrungen der Vergangenheit sind vor allem folgende Vertragsverletzungen abzustellen: Der Schießbefehl ist aufzuheben, und die Tötungsapparate an der innerdeutschen Grenze sind abzubauen - wir werden uns mit diesen Zuständen nie abfinden können -, ({10}) die unerträglichen Schikanen unserer Mitbürger im Transitverkehr sind einzustellen, desgleichen die polizeistaatliche Überwachungspraxis von Besucherkontakten, mit der die Begegnung der Menschen erschwert wird. Das ist das Schreckliche, daß die Menschen, wenn sie ihre vertraglichen Rechte in Anspruch nehmen, Angst haben und daß diese Angst jeden ergreift und daß diese Angst dann auch zu so schweren Vorfällen führen kann, wie wir sie in den letzten Tagen erlebt haben und wie das bereits seit Jahren vor sich geht. Im übrigen gilt für die Verträge mit der DDR als Maxime: Sinn und Zweck von Verträgen kann es nur sein, die Folgen der Teilung erträglicher zu machen und dabei den Weg zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit offenzuhalten. Ein geregeltes Verhältnis darf nicht zur Billigung von Unrecht oder zur dauernden Hinnahme von unmenschlichen Zuständen dienen und der DDR keine Anhaltspunkte liefern, mit denen sie die Spaltung der deutschen Nation begründen könnte. ({11}) Wir sind dafür, mit der DDR offen und fair umzugehen. Dies bedeutet, daß wir ein, wenn es sein muß, unbequemer, aber ein verläßlicher und ein berechenbarer Partner sind. Dasselbe erwarten wir von der anderen Seite. Dazu gehört die Bereitschaft, das Prinzip der Gleichheit von Leistung und Gegenleistung anzuerkennen und danach zu handeln. Eine Nation besteht vor allem auch in ihrer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Diese Wurzeln unserer Nation gilt es verstärkt zu pflegen und zu fördern, damit insbesondere unsere junge Generation sich das Erbe bewahrt und das Ausland die deutsche Frage positiv annimmt. Wenn wir es nicht tun, dann werden das andere besorgen. Lassen Sie mich heute ein paar Sätze wiederholen, die ich vor zehn Jahren anläßlich einer Debatte über Jugend und Verfassung an dieser Stelle gebraucht habe: Josef Stalin hat 1952 auf dem - -({12}) - Sie sollten zuhören. Sie sollten zuhören, auch Sie von den GRÜNEN können noch etwas lernen. ({13}) Josef Stalin hat 1952 auf dem 19. Parteitag seiner Genossen folgendes verkündet: Früher wurde die Bourgeoisie als das Haupt der Nation betrachtet. Sie trat für die Rechte und für die Unabhängigkeit der Nation ein. Sie stellt sie über alles. Jetzt ist vom nationalen Prinzip nicht die Spur übriggeblieben. Das Banner der nationalen Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität ist über Bord geworfen worden. Ohne Zweifel werdet ihr, Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner erheben und vorantragen müssen, wenn ihr Patrioten eures Landes sein, wenn ihr die führende Kraft der Nation werden wollt. Es gibt sonst niemand, der es erheben könnte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wäre verhängnisvoll, wenn wir Demokraten die nationale Frage den Kommunisten überließen. ({14}) Ich bin davon überzeugt, eine neue Generation würde unzweifelhaft die Frage der nationalen Identität aufgreifen und eine Antwort verlangen. ({15}) - Es mag sein, daß Sie mit meiner Antwort nicht zufrieden sind. Ich halte sie dennoch für richtig, und es täte Ihnen gut, sie zu bedenken. Sie wären dann in einer guten Tradition von Kurt Schumacher und anderen großen Sozialdemokraten der 50er und 60er Jahre. ({16}) In den vergangenen 13 Jahren stand im Bundestag der Regierungskoalition nur eine Oppositionspartei gegenüber. Heute sitzen neben der SPD erstmals die GRÜNEN mit auf den Oppositionsbänken, ({17}) vorläufig auf vier Jahre. Alle in diesem Haus vertretenen Parteien müssen sich am Grundgesetz messen lassen, das ihnen den eindeutigen Auftrag erteilt, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Die Verfassung geht selbstverständlich davon aus, daß die Parteien des Deutschen Bundestages sich zu diesem Staat und zu seiner verfassungsmäßigen Ordnung bekennen. Sicherlich sind Sie, Herr Schily, bei Ihrem Gespräch mit dem Ständigen Vertreter der DDR, Herrn Moldt, sich darüber im klaren gewesen, daß eine Bewegung wie die der GRÜNEN im real existierenden Sozialismus, im ostdeutschen Arbeiter- und Bauernparadies keine Chance hätte, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. ({18}) Verschiedene Ereignisse der Vergangenheit geben mir aber Anlaß zu der Frage, wie Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion der GRÜNEN, zu diesem Staat stehen. Ihr Bemühen, die nüchterne Atmosphäre dieses Saales bei der konstituierenden Sitzung des 10. Deutschen Bundestages durch Blumen aufzulockern, die ich heute schon nicht mehr sehe, ({19}) mag als eine rührende Geste gewirkt haben. Blumen sind Zeichen der Freundschaft und der Friedfertigkeit. Sie selbst verwenden in Ihrem Bundesprogramm den Begriff „Gewaltlosigkeit". Allerdings stehen diese Ihre Bekundungen nicht im Einklang mit dem Verhalten vieler Ihrer Mitglieder draußen im Lande, ({20}) die sich offen zur Gewalt bekennen. ({21}) Wie anders soll man die Äußerungen der Berliner AL ({22}) vom Frühjahr 1981 verstehen, das Parlament sei bloß ihr Spielball, ihr Standbein sei die außerparlamentarische Opposition? ({23}) Hier offenbart sich die ganze Widersprüchlichkeit einer Bewegung, ({24}) die nach dem Motto verfährt: im Parlament „flower" und auf der Straße „power". ({25}) - Es scheint Ihnen offensichtlich nicht zu gefallen, daß Ihnen Fragen gestellt werden. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß in diesem Hause nicht nur Sie Fragen stellen, sondern auch wir Sie fragen. Darauf sind Sie offensichtlich nicht vorbereitet! ({26}) - Ihre Ungeduld in Ehren, aber Sie werden sich das Zuhören hier auch noch angewöhnen müssen. ({27}) Sie tun sich - das wissen wir - innerparteilich schwer, auch Ihre Finanzierungsfragen sind noch nicht hinlänglich geklärt, und Sie machen sich gegenseitig gesundheitliche Probleme. Aber ich wünsche Ihnen durchaus, daß Sie dieses Anfangsstadium überwinden können. ({28})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogt?

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nein, Nein! Sie können nur eine Frage stellen.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie müssen sich auch noch daran gewöhnen, daß hier ein Redner Fragen zulassen kann oder nicht. Normalerweise tue ich das sehr gern, ({0}) aber bei einer solchen Aussprache muß es gestattet sein, daß ein Redner seine Rede zusammenhängend zu Ende führt. Das hat der Herr Kollege Dr. Vogel auch getan. ({1}) Wir sind durchaus bereit, hier im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages mit den GRÜNEN konstruktiv zu diskutieren. Dies erfordert jedoch Klarheit im programmatischen Bereich. Solange sich die GRÜNEN einseitig auf Fundamentalopposition und Aussteigerprinzipien beschränken, ({2}) sehe ich nur wenige Ansätze für einen fruchtbaren politischen Dialog. ({3}) Der Kollege Dr. Vogel hat zu Recht auf das Phänomen der Angst hingewiesen, das die Welt beherrscht und das auch in unserem Land eine große Rolle spielt. ({4}) - Ich nehme an, daß Sie sich mit diesem Ausdruck selber nicht ernst nehmen. ({5}) Das kann Ihnen in Diktaturen passieren, aber doch nicht bei uns! Machen Sie sich doch nicht lächerlich! ({6}) Es gibt einen Pessimismus bezüglich der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung, es gibt Ungewißheit über weltpolitische Gefahren, es gibt Furcht vor neuen Technologien und Techniken. Dies sind Anzeichen für dieses Phänomen Angst. In Teilen der Jugend ist diese Angst sicherlich der Grund, zunehmend die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Geschichte und der Politik zu stellen. ({7}) - Wenn Sie bei dem Zwischenruf nicht so kreischen würden, könnte man Sie besser verstehen! ({8}) Angst ist jedoch ein schlechter Ratgeber. Wenn wir Angst vor der Zukunft haben, werden wir die vor uns liegenden Probleme nicht lösen können. Angst bewirkt Lethargie und Lähmung. Diese Lethargie müssen wir überwinden. Optimismus bezüglich der Zukunft setzt voraus, daß wir unseren Bürgern über das tatsächliche Ausmaß der Probleme reinen Wein einschenken. Wir müssen klarmachen, daß die Zeiten üppiger Wachstumsraten und großer Verteilungsspielräume vorbei sind. Wir müssen klarmachen, daß der Staat nicht alle Ansprüche der Bürger befriedigen kann. ({9}) Wir sind in den vergangenen Jahren zunehmend in einen Zustand geraten, in dem der einzelne glaubt, nur noch Rechte gegen den Staat geltend machen zu können, ohne gleichzeitig Pflichten erfüllen zu müssen. ({10}) Dies hat zwangsläufig zu einer Überforderung des Staats geführt. Dadurch hat sich bei vielen ein Versorgungsdenken entwickelt, bei dem das Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen verlorengegangen ist. ({11}) Doch nur in einer Stärkung des Verantwortungsbewußtseins des einzelnen und in einer Vergrößerung seiner Freiheitsspielräume sehe ich eine Chance, die gegenwärtige Krise zu überwinden. ({12}) Wir brauchen, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine konsequente Neubesinnung auf Würde und Bestimmung der Menschen. Wir brauchen eine Belebung der geistig-religiösen Wertewelt. Wir können auf die tragenden Traditionen als Inbegriff von Lebenserfahrung und Kulturleistung nicht verzichten. Unser Platz ist in der europäischen Völkerfamilie und an der Seite Amerikas, der mächtigsten Demokratie der Welt. Wir werben und kämpfen für die demokratische Lebensordnung. Wir treten ein für mehr Menschlichkeit und Verläßlichkeit, Festigkeit und Wahrhaftigkeit, Wohlwollen und Treue. Das erfordert eine Mobilisierung der privaten und gesellschaftlichen Initiativen, Mitverantwortung und Nachbarschaftshilfe, aber auch Bereitschaft zu Opfer, Einschränkung und Verzicht. Das erfordert Stärkung des Leistungswillens, Verständigung und Vertrauen, Ermutigung und Hoffnung. Möglichkeiten und Grenzen der Politik sind uns bewußt. Politische Utopien können keine Antwort auf die Fragen der Angst geben. Ohne christlichen Bezug erscheinen mir diese Probleme nicht lösbar. Wenn Otto von Bismarck und Ferdinand Lassalle zitiert wurden, dann muß es auch erlaubt sein, einen Satz aus dem Neuen Testament zu zitieren; ({13}) denn die Antwort auf diese Fragen stehen für den Christen dort. Dort heißt es: In der Welt habt ihr Angst; doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Christliches Politikverständnis schöpft daraus Zuversicht und Hoffnung. - Ich danke Ihnen. ({14})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanzler hat heute für die Bundesregierung eine Regierungserklärung abgegeben, die sich auszeichnet durch Nüchternheit in der Darstellung der Probleme ({0}) - Ihre Heiterkeit bei der Problembehandlung zeigt, wie groß Ihre Realitätsferne schon geworden ist -, ({1}) aber auch in der Darstellung der Lösungsmöglichkeiten und durch Zuversicht. ({2}) Meine Damen und Herren, diese Zuversicht in das Regierungsprogramm, die Ihnen fehlt, haben die Wähler am 6. März in diese Politik investiert. ({3}) Sie wollen eine Politik, die in dieser Regierungserklärung formuliert worden ist: eine Politik für Freiheit und Frieden; Freiheit nach innen und nach außen, Frieden nach innen und nach außen. Die Freiheit, Herr Kollege Vogel, umfaßt die Menschenwürde, aber auch noch einige zusätzliche Rechte, die wir miterkennen müssen. Freiheit und Frieden sind die Maxime der Koalition der Mitte. Zur inneren Freiheit gehört, daß wir nicht nur das BürgerStaat-Verhältnis erkennen müssen, nicht nur das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat. Ich sage ganz bewußt: zu „seinem" Staat; denn dieser demokratische Staat steht dem Bürger nicht feindlich gegenüber, sondern es ist sein Staat, den er durch Sie als gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestags kontrolliert. ({4}) Aber es ist genauso die Freiheit des Bürgers in der Gesellschaft. Es würde nicht ausreichen, die Freiheit im Bürger-Staat-Verhältnis zu sichern, wenn sie in der Gesellschaft für den Bürger verlorenginge. Ich war betroffen darüber, daß heute zuerst Heiterkeit und später ironische Kommentierung aufkamen, als der Bundeskanzler sagte, daß die größte Bürgerinitiative in unserem Lande die Sportbewegung sei. Ich bin froh darüber, daß der Bundeskanzler dem persönlichen, privaten Engagement, das in der Sportbewegung von Millionen Menschen sichtbar wird, hier seine Anerkennung gezollt hat. ({5}) Als Sie zu diesem Thema gesprochen haben, Herr Kollege Dr. Vogel, hätte es nahegelegen, wenn Sie schon etwas hinzufügen wollten, nicht nur die Bürgerinitiative Sportbewegung zu erwähnen. Es gibt noch andere Beweise, andere Zusammenschlüsse staatsbürgerlichen Engagements. Sehen Sie sich einmal an - überlegen Sie einmal, was das heißt -, wenn junge Menschen in den freiwilligen Feuerwehren ihre Freizeit für die Gemeinschaft opfern. ({6}) Sehen Sie sich einmal an - überlegen Sie einmal, was das heißt -, wenn junge Menschen ihre Freizeit im Technischen Hilfswerk für die Gemeinschaft opfern. Das ist alles wirkliche Bürgerinitiative aus gesellschaftlicher Solidarität. ({7}) Sie wollen wir fördern, weil ihr Engagement ein Stück unserer gemeinsamen Freiheit ausmacht. Genauso geht es darum, unsere Wirtschaft als eine Freiheitsordnung zu verstehen und zu begreifen. Bei der Auseinandersetzung, die hier geführt worden ist über die Zweckmäßigkeit dieser oder jener von der Regierung vorgeschlagenen wirtschaftlichen Maßnahme, bei den Bedenken, die gegenüber diesen Maßnahmen vorgebracht worden sind, wird übersehen, daß die Soziale Marktwirtschaft nicht nur die effektivste Wirtschaftsordnung, sondern zuallererst eine Freiheitsordnung für alle Bürger in unserem Lande ist, ({8}) eine Freiheitsordnung für Arbeiter, Angestellte und Unternehmer. ({9}) - Ja, das ist in der Tat so. Ich rate Ihnen, das zu tun. Dann würden Sie nicht mehr Ihre Witze über die jungen Menschen machen - wie Sie das eben durch Ihre Bemerkung gemacht haben -, die Ihren Dienst in der freiwilligen Feuerwehr leisten. ({10}) Es gehört auch zu Ihrer Realitätsferne, daß Sie das als einen lächerlich zu machenden Tatbestand im Deutschen Bundestag behandeln. ({11}) Ich sage Ihnen: Ich ziehe den Hut vor all den jungen Menschen, die in der Sportbewegung, in der Feuerwehr, im Technischen Hilfswerk ihre Leistungen für die Gesellschaft erbringen. ({12}) Wenn wir die Soziale Marktwirtschaft als eine Freiheitsordnung verstehen, dann müssen wir wissen, daß diese Soziale Marktwirtschaft, daß diese Freiheitsordnung um so freiheitlicher ist, je mehr selbständige Existenzen es in dieser gesellschaftlichen Ordnung gibt. Die Zahl der selbständigen Existenzen in Handel, Handwerk, Gewerbe und freien Berufen gibt Auskunft darüber, welche Initiativen, persönlichen Entwicklungen für unsere Bürger möglich sind. Eine große Zahl von selbständigen Existenzen - was auch heißt: eine große Zahl von Arbeitgebern - zwingt den einzelnen Arbeitnehmer nicht mehr, zwischen wenigen Großunternehmen zu wählen. Das gibt ihm mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der nur noch wenige mächtige Gewerkschaften wenigen ebenso mächtigen Großunternehmen gegenüberstehen. ({13}) Deshalb ist die Förderung der Mittel- und Kleinbetriebe und der selbständigen Existenzen mehr als nur ein ökonomischer Vorgang. Es ist eine der Maßnahmen und Notwendigkeiten, um den freiheitlichen Charakter, die Liberalität unserer Gesellschaft zu stärken. ({14}) - Sie sagen, das sei ganz unbestritten. Aber so unbestritten ist das nicht. Dieselbe Heiterkeit, dieselbe Ironie hat der Bundeskanzler geerntet, als er hier vom bäuerlichen Familienbetrieb gesprochen hat. Ich sage Ihnen: Eine der größten Reformleistungen in diesem Land nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Agrarstrukturreform, die es ohne einen Radikalismus geschafft hat, daß wir heute gesunde bäuerliche Familienbetriebe haben. ({15}) Sie sollten einmal sehen, welch große Umweltschutz- und Landschaftspflegeleistung die deutschen Bauern für unsere Gesellschaft erbringen. ({16}) Auch das bedarf der gesellschaftlichen Anerkennung. Ich will an dieser Stelle gern meinem Freund Josef Ertl dafür danken, daß er gerade dieser Aufgabe, der Stärkung des bäuerlichen Familienbetriebs, in seiner Amtszeit so große Aufmerksamkeit und Fürsorge gewidmet hat. ({17}) Er hat gewußt, daß die soziale Abfederung notwendig ist, um ohne gesellschaftliche Verwerfungen, ohne soziale Härten diese große Reformleistung möglich zu machen. Auch diese selbständigen Existenzen im ländlichen Raum sind ein Stück Freiheit für uns alle. Nur wenn wir das erkennen, werden wir in der Lage sein, aus diesem Bild einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung heraus die richtigen Maßnahmen zu treffen, um das Kernproblem unserer innenpolitischen Aufgaben, nämlich die Überwindung der Arbeitslosigkeit, zu lösen. Herr Kollege Dr. Vogel, Sie haben gesagt, in der Erkenntnis, daß die Friedenssicherung und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die beiden zentralen Probleme seien, stimmten wir überein, aber dann schieden sich die Wege in der Tat. Das stimmt. Denn das, was Sie heute vorgetragen und was Sie in den letzten Tagen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit präsentiert haben, sind samt und sonders Vorschläge, die genau das Gegenteil von dem bewirken würden, was Sie vorgeben. Zusätzliche Belastungen bei Steuern und Abgaben würden die Konkurrenzfähigkeit der Betriebe weiter herabsetzen. Höhere Staatsverschuldung würde zusätzlichen Druck auf die Zinsen, und zwar nach oben, ausüben und das rückgängig machen, was wir eingeleitet haben. Zusätzliche Bürokratisierung würde den Entscheidungsraum des einzelnen einschränken, und die Eingriffe in den Wirtschaftsablauf schließlich würden die Investoren entmutigen. Ich will Ihnen dazu noch etwas sagen. Sie wollen eine Ergänzungsabgabe zusätzlich erheben. Aber die Sachverständigen rügen die Regierung, daß sie nicht noch stärkere steuerliche Entlastungen vorgenommen hat. Das heißt also, wir sind auch nach Auffassung der Sachverständigengutachter auf dem richtigen Wege. Wir gehen nach ihrer Meinung nur nicht weit genug. Ihr Weg jedoch würde in die absolut falsche Richtung gehen und die Investoren zusätzlich belasten und damit den wirtschaftlichen Aufschwung hemmen. ({18}) Bezüglich der Sozialpolitik haben Sie sich völlig der Notwendigkeit verschlossen, auch hier strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Sie haben nicht einsehen wollen, daß es nur durch strukturelle Veränderungen möglich sein wird, die soziale Sicherheit auf Dauer durch eine gesunde und wachsende Wirtschaft zu garantieren. Wenn wir alle Ihre Ablehnungsvorschläge mitmachen würden, wäre das Ergebnis, daß nicht nur die Steuern für die Staatszuschüsse zu den Sozialversicherungsträgern steigen würden, sondern daß auch die Beiträge steigen würden, was die Arbeitgeber zusätzlich belastet, was die Arbeitnehmer zusätzlich belastet. Und wir wissen doch: Die Lohnnebenkosten sind es, die unsere Wirtschaft strangulieren und belasten. ({19}) Und die müssen wir abbauen; die dürfen wir nicht erhöhen. ({20}) Spüren Sie denn gar nicht, wie mit zusätzlicher Erhöhung von Steuern und Belastungen am Ende eine immer größere Flucht in die Schwarzarbeit eintreten würde? Auch das ist eine Form der Entsolidarisierung. Denn derjenige, der in die Schwarzarbeit hineingeht, zahlt dafür weder Steuern noch Sozialabgaben. Er trägt nicht dazu bei, daß unser soziales System überleben und bestehen kann. Der Staat darf nicht durch seine Gesetzgebung einer solchen Entwicklung noch Vorschub leisten, ja geradezu dazu anreizen und auffordern. Deshalb war es notwendig, daß wir hier durch Entscheidungen - weitere Entscheidungen sind notwendig - dazu beitragen, daß die Belastungen nicht erhöht werden, ({21}) daß die steuerlichen Belastungen reduziert werden können. - Sie können ja im Lauf der zwei Jahre, die Sie hier sein werden - leider wollen Sie uns j a im Weg der Rotation nach zwei Jahren verlassen -, zu dieser Frage noch Stellung nehmen. ({22}) Zu dem, was Sie, Herr Kollege Dr. Vogel, hier über ein Arbeitszeitgesetz mit der Beschränkung der Arbeitszeit und mit einer staatlich kontrollierten und dirigierten Überstundenregelung vorgetragen haben: Fragen Sie mal den Handwerksbetrieb, was es für ihn bedeutet, wenn er mit einem umständlichen Antragsverfahren Überstunden genehmigt haben muß, nur um eine saisonale Leistung oder eine Leistung in einer bestimmten Drucklage erbringen zu können. Diese Betriebe haben keine große Bürokratie, die das noch erledigen kann. Da muß es die Frau des Handwerkers selber machen. Und dann kommt die Bewilligung noch zu spät, und ein anderer hat die Arbeit übernommen und, wie ich fürchte, schwarz erledigt. ({23}) Sie kritisieren den Bundeskanzler, daß er in der Regierungserklärung nichts über den Ausbau der Mitbestimmung gesagt hat. Herr Kollege Dr. Vogel, was meinen Sie denn damit? Wie wollen Sie denn die Mitbestimmung ausbauen? ({24}) Sie können immer mit uns reden, die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers zu stärken. Aber Sie werden mit uns nicht reden können, wenn es Ihnen darum gehen sollte, mächtige gesellschaftliche Organisationen ({25}) noch mächtiger in unserer Gesellschaft zu machen. ({26}) Liberalität bedeutet nämlich Stärkung der persönlichen Rechte. ({27}) Liberalität bedeutet aber nicht die Stärkung der Organisationsmacht. Ich sage noch einmal: Sie blicken, wenn Sie Gefahren für die persönliche Freiheit sehen, immer nur auf den Staat, der unser Staat ist und der parlamentarisch kontrolliert ist. Wir blicken auch auf die Gefahren, die sich aus gesellschaftlicher Machtkonzentration, aus zu starker Organisationsmacht, aus zu starker Verbändemacht ergeben können. Und wir blicken auch auf die Gefahren, die sich dann ergeben, wenn durch immer höhere Steuer- und Abgabenbelastung, durch immer größere Bürokratisierung der Entscheidungsraum des einzelnen Schritt für Schritt eingeschränkt und erstickt wird. Auch so kann eine freie Gesellschaft ihren freiheitlichen Inhalt verlieren. ({28}) Das ist der Grund, warum die hier zu treffenden Entscheidungen mehr sind als die Diskussion über diese oder jene richtige, weniger oder mehr wirksame ökonomische Entscheidung. Hier geht es um eine Freiheitsentscheidung, um diese Freiheitsordnung „Soziale Marktwirtschaft" als Teil unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung auszubauen und zu erweitern. Nur wenn uns das gelingt, werden wir auch die großen Antriebskräfte, die in unseren Bürgern stecken, ganz gleich, welcher wirtschaftlichen Gruppe sie angehören, für den wirtschaftlichen Aufschwung mobilisieren können. Es gibt keinen Zweifel, daß die Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit anderen Staaten, im Prozeß einer sich auch weltwirtschaftlich abzeichnenden Erholung auf jeden Fall günstigere Ausgangsdaten hat als solche Länder, die eher Ihren Vorstellungen, meine Damen und Herren von der SPD, folgen. Nur mein Amt als Außenminister hindert mich daran, hier bestimmte Länder zu nennen; das können vielleicht andere Kollegen später in die Debatte einführen. ({29}) Es muß also unsere Aufgabe sein, durch die Stärkung des freiheitlichen Charakters unserer Gesellschaft, es muß unsere Aufgabe sein, nicht durch zusätzliche Belastungen, sondern durch Entlastung, nicht durch zusätzliche Bürokratisierung, sondern durch Entbürokratisierung dazu beizutragen, daß sich die gesellschaftlichen, daß sich die wirtschaftlichen Kräfte entwickeln können. Nur eine wachsende Volkswirtschaft wird auch in der Lage sein, die großen ökologischen Probleme zu lösen, die ganz unbestreitbar vorhanden sind. ({30}) Es ist auch kein Geheimnis, daß unsere Bundesrepublik Deutschland, schon verglichen mit den anderen europäischen Staaten, in der Umweltschutzgesetzgebung eine führende Position hat, aber wenn ich sie vergleiche mit den sozialistischen Ländern, meine Damen und Herren, dann ist das, was wir hier an Umweltschutz geschaffen haben, eine kaum noch vergleichbare Größe, ({31}) weil eben für uns zu einer menschenwürdigen Ordnung auch eine menschenwürdige Umwelt gehört und weil wir bestreiten, daß Ökonomie und Ökologie sich ausschließende Ziele sind. Sie sind vereinbar, aber nur dort, wo eine wirklich leistungsfähige Wirtschaftsordnung vorhanden ist. Und das ist hier in unserer Sozialen Marktwirtschaft der Fall. Diese Soziale Marktwirtschaft ist auch eine der Voraussetzungen dafür, daß wir unsere wirtschaftliche und damit unsere soziale Stabilität bewahren können. Und das wiederum ist die Voraussetzung für die politische Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland. Das alles zusammengenommen ermöglicht es uns, unsere Aufgaben auch in der internationalen Politik zu erfüllen. Es ist für uns alle erkennbar - damit komme ich zu dem Schwerpunkt, der Friedenssicherung -, daß das Jahr 1983 zu einem Entscheidungsjahr für Europa und die Welt werden wird. ({32}) Die Fragen des West-Ost-Verhältnisses, der NordSüd-Konflikt, die europäische Einigung, aber eben auch im Ost-West-Verhältnis die deutsch-deutsche Frage machen das offenkundig. Für die deutsche Politik ist in einer solchen Lage die Bestimmung ihres Standortes besonders wichtig. Wir werden unsere nationale und unsere europäische Friedensaufgabe nur dann erfüllen können, wenn wir uns als Volk und als Staat im Herzen Europas begreifen, wenn wir begreifen, daß es für uns angesichts der Größe unseres Landes, angesichts unseres politischen, wirtschaftlichen, aber auch verteidigungspolitischen Gewichts und angesichts unserer geographischen Lage keine Flucht in den Winkel der Geschichte gibt. Aber es gibt für uns auch nicht die Alternative der Selbstüberschätzung, die vergißt, daß das Schicksal der Deutschen immer das Schicksal Europas war und umgekehrt, und vor allen Dingen, daß unsere Nachbarn in West und Ost unser Schicksal, unsere Politik auch als Teil ihrer Politik und ihres Schicksals empfinden. Wenn ich das so sage, Herr Kollege Dr. Vogel, dann möchte ich ein Wort noch zu Ihren Hinweisen anschließen, die nicht unerwartet kamen, den Hinweisen auf die Diskussion und Kontroversen in der Koalition zur Deutschlandpolitik. Die Regierungserklärung entscheidet über diese Politik. Es ist ein ganz normaler Vorgang, daß man sich in einer Koalition, die eben gebildet wurde, deren Partner bekanntlich in vielen entscheidenden Fragen der Außenpolitik auf verschiedenen Seiten gestanden haben, zusammenfinden muß. Entscheidend ist, daß man sich über das Regierungsprogramm einigen kann. Nun muß ich Ihnen offen sagen, wenn Sie den Bundeskanzler rügen, daß er darüber nicht gesprochen habe: Ich habe von Ihnen im Wahlkampf gehört, wie Sie der Welt und vor allem unseren Wählern klarmachen wollten, daß Ihre Koordinierungsfähigkeit, Ihre Zusammenführungsfähigkeit, so weit gehe, daß Sie auch die Sowjetunion und die Amerikaner noch zusammenbrächten. Man hat es j a förmlich gesehen. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie in der Sicherheitspolitik wenigstens Ihre eigene Partei bis auf den heutigen Tag hätten zusammenführen können. ({33}) Da wäre eine Menge zu sagen, nicht nur über das, was hier geschieht, sondern auch darüber, was draußen gesagt wird. Ich werde aber auch noch Bemerkungen zu Ihrem Vortrag hier machen. Wichtig ist, meine Damen und Herren, daß wir als Bundesrepublik Deutschland niemals Ursache oder Objekt von Rivalität in Europa sein dürfen; denn das würde uns in Gegensatz zu unserem Ziel bringen, dem Frieden in Europa zu dienen. Die Grundentscheidungen der deutschen Nachkriegsaußenpolitik haben die Antwort auf diese Herausforderung gegeben. Es sind Grundentscheidungen, die weit über den Tag hinausführten, die auch nicht kurzfristigen Interessenbeurteilungen unterworfen sind. Wir haben eine Wertentscheidung für die Zugehörigkeit zum Westen getroffen. Und das gründet sich zuallererst auf die gemeinsame Überzeugung von Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht. Deshalb ist die Europäische Gemeinschaft mehr als eine ökonomische Wohlstandsgemeinschaft. Und deshalb ist das westliche Bündnis, die NATO, mehr als eine militärische Allianz alten Stils. Beide Schicksalsgemeinschaften sind geprägt durch die Begriffe Freiheit und Frieden. ({34}) - Sie sagen „Türkei". Sehen Sie, da liegt der Unterschied zwischen unserem Bündnis und dem Warschauer Pakt: Wir drängen darauf, daß in der Türkei die Freiheitsrechte wiedereingeführt werden, und die Mächte des Warschauer Paktes drängen darauf, daß in Polen die Gewerkschaftsrechte unterdrückt werden. Das ist der Unterschied. ({35}) Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Beide, die Europäische Gemeinschaft und das westliche Bündnis, sind Schicksalsgemeinschaften für Freiheit und Frieden. Und diejenigen, die uns in die Lage versetzen, im westlichen Bündnis unseren Beitrag für die gemeinsame Sicherheit zu erbringen - ich meine unsere Soldaten in der Bundeswehr -, leisten deshalb Friedensdienst und Freiheitsdienst. Deshalb sollte das Bild der Bundeswehr unter dieser Aufgabenstellung, Friedensdienst und Freiheitsdienst, in unseren Schulen unseren Schülern, also der heranwachsenden Generation, vermittelt werden. ({36}) Wir wollen ganz gewiß nicht eine Jugend, die zur unkritischen Anbetung der Institutionen des Staates erzogen wird; aber wir wollen auch nicht, daß unkritische Ablehnung und unkritische Verweigerung zur Maxime werden und als solche noch gepriesen werden. ({37}) Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel, daß diese beiden Gemeinschaften, Europäische Gemeinschaft und NATO, seit ihrer Gründung zu einem Pfeiler europäischer Stabilität geworden sind, übrigens nicht nur für Westeuropa, sondern für ganz Europa. Die Ideale, denen wir uns in diesen Gemeinschaften verpflichtet fühlen, Freiheit, Menschenrechte, sind die Hoffnung für die vielen, die in anderen Teilen Europas auf diese Rechte noch warten. Diese Wertentscheidung der Bundesrepublik Deutschland hat uns zum Teil, zum Bestandteil der Gemeinschaft westlicher Demokratien werden lassen. Diese Zugehörigkeit hat uns unsere Sicherheit bis auf den heutigen Tag garantiert, und - vor allem - sie hat uns aus der Rivalität zwischen West und Ost herausgehalten. Diese Zugehörigkeit hat uns auch einen Zuwachs an internationaler Handlungsfähigkeit gebracht. Es ist eben nicht wahr, daß unsere Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO die Wahrnehmung unserer nationalen Interessen behindert; das Gegenteil ist richtig! In dem gegenwärtigen West-Ost-Gegensatz, der Europa nun schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges beherrscht und dessen Ende noch nicht abzusehen ist, ist eine Interessenwahrnehmung für uns überhaupt nur als Teil des Westens möglich. Wir haben das in guten und in schlechten Tagen zu spüren bekommen; dafür ist übrigens auch Berlin ein Prüfstein. Denn in Berlin wurde - wie im Marshallplan zum Wiederaufbau Europas - ein neues Kapitel deutsch-amerikanischer Freundschaft aufgeschlagen. Diese deutsch-amerikanische Freundschaft ist ein unverzichtbarer Pfeiler unserer Freiheit in Sicherheit. Nicht das Maß an Gegensätzen, nicht das Maß an Polemik und Kritik, sondern das Maß an Übereinstimmung und Verbundenheit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten stärkt unsere internationale Position, stärkt unsere Position im übrigen auch im Gespräch - im dringend notwendigen Gespräch - mit der Führung der Sowjetunion. Das Wort von der Wahrnehmung der deutschen Interessen - im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft - ist so lange unbestreitbar richtig, wie darunter die auch unter Freunden unverzichtbare Geltendmachung eigener Vorstellungen und Ziele verstanden wird - aber eben unter Freunden und wie unter Freunden üblich. Die gleiche Forderung nach Geltendmachung unserer Interessen führt dann in die Irre, wenn sie besonders kritisch wahrgenommen werden soll gegenüber dem Freund, den Vereinigten Staaten, aber besonders unkritisch gegenüber der Sowjetunion. ({38}) Eine solche Haltung, eine solche Politik leistet der gefährlichen Illusion Vorschub, als seien wir von den Vereinigten Staaten und von der Sowjetunion gleich weit entfernt. Der künstlich geschürte Eindruck vom gleich weiten Abstand von Moskau und Washington ist einer der außenpolitischen Schleichwege, die zu verdecktem und auch offenem Eintreten für eine neutralistische Bundesrepublik Deutschland hinführen sollen. Das würde für uns den Verlust der Sicherheit und Handlungsfähigkeit, für Europa die Gefahr von Instabilität bedeuten. Deshalb ist es wichtig, daß diese Bundesrepublik Deutschland ihre Vorstellungen im Bündnis geltend macht und dann, wenn die Entscheidungen im Bündnis gefallen sind, ihre Verpflichtungen auch konsequent erfüllt. Deshalb wird die konsequente Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses - konsequent im Verhandlungsteil ebenso wie in seinem Stationierungsteil - für unsere Glaubwürdigkeit und für unser Gewicht im westlichen Bündnis entscheidend sein. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Verhandlungsziele, die in Genf verhandelt werden, sind gemeinsame Ziele des Bündnisses. Der Verzicht auf die landgestützten Mittelstreckenraketen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, also die sogenannte Null-Lösung, ist doch nicht eine amerikanische Erfindung, wie das auch in der in Ihrer Fraktion, Herr Kollege Dr. Vogel, gebrauchten Formulierung „die Reagansche Null-Option" anklingt. Nein, diese Null-Lösung ist ein deutscher Vorschlag. Wir haben ihn eingeführt - die Amerikaner haben ihn übernommen -, weil uns Deutschen doch am meisten daran gelegen sein muß, daß es weder sowjetiBundesminister Genscher sche noch amerikanische Mittelstreckenraketen gibt. ({39}) Das gleiche gilt auch für den Vorschlag eines Zwischenergebnisses. Es gibt doch gar keinen Zweifel: Jede sowjetische Rakete weniger, die stationiert bleibt, und als Folge davon jede amerikanische Rakete weniger, die stationiert werden muß, ist ein Gewinn für uns alle und besonders für uns hier in Mitteleuropa. Die Stationierung bei Ausbleiben konkreter Verhandlungsergebnisse zum vorgesehenen Zeitpunkt Ende 1983, diese Stationierung ist nicht das Nachgeben gegenüber amerikanischem Druck, sondern diese Stationierung ist die Konsequenz aus einer von der Bundesrepublik Deutschland 1979 miterarbeiteten und vom gesamten Bündnis im Dezember 1979 getroffenen Entscheidung. Damals, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Dezember 1979, ist entschieden worden, daß Ende 1983 stationiert werden soll. Und nur für den Fall, daß bis dahin konkrete Verhandlungsergebnisse da sind, wäre eine Abänderung dieser Stationierungsentscheidung möglich. Deshalb, Herr Kollege Vogel, sollten Sie aufhören zu sagen, Sie seien gegen einen Automatismus bei der Stationierung. Sie selbst haben als Mitglied der damaligen Regierung aus guten Gründen diese Automatik mitbeschlossen. ({40}) Sie wollen sich heute aus dieser gemeinsamen Verantwortung, der damals alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zugestimmt haben, herausbegeben. ({41}) - Sie sind, Herr Kollege Voigt, auf der Flucht vor der Sicherheitspolitik, die Sie als Regierungspartei selbst mitbeschlossen haben. ({42}) Es ist Ihr gutes Recht, heute zu sagen, Sie sehen das heute anders. Aber tun Sie bitte nicht so, als ob die Stationierung Ende 1983, wenn sie denn notwendig würde, eine Erfindung dieser Regierung wäre. Nein, das hat die frühere Regierung beschlossen. Und wir führen diesen Beschluß - wenn notwendig, sage ich - aus. Wenn notwendig! Denn niemand wollte lieber auf das Ziel verzichten können - darauf kommen wir zurück -, nach Möglichkeit weder sowjetische noch amerikanische Mittelstrekkenraketen zu haben. ({43}) Meine Damen und Herren, zu unserer Friedenspolitik gehören eben neben den Anstrengungen für die eigene Verteidigung der Wille zur Zusammenarbeit und das Ringen um Abrüstung. Es ist unbestreitbar, daß zu keiner Zeit zuvor an so vielen Verhandlungstischen zwischen West und Ost über Abrüstung verhandelt worden ist - über die interkontinentalen strategischen Waffen in Genf, über die Mittelstreckenraketen auch in Genf, in Wien über die Truppenreduzierung in Mitteleuropa. in Madrid über die Einsetzung einer europäischen Abrüstungskonferenz und über allgemeine Fragen der Abrüstung im Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen ebenfalls in Genf. Wir wissen: Ergebnisse werden wir bei all diesen Verhandlungen nur dann erzielen, wenn auch wir nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die der anderen Seite sehen. Aber das muß auch umgekehrt gelten. Wir werden auf der Grundlage des Gleichgewichts beharrlich und unbeirrbar eine Politik fortsetzen, die auf wirkliche Entspannung zielt. Und die zielt hin auf eine Entwicklung zu einer europäischen Friedensordnung, in deren Verlauf der Nicht-Krieg durch Abschrekkung immer mehr ergänzt und am Ende ersetzt wird durch einen Frieden, der auf Vertrauen und Kooperation gegründet wird. Der Bundeskanzler hat sich heute in seiner Regierungserklärung zu dieser europäischen Friedensordnung bekannt, eben weil wir wissen, daß Abschreckung nicht die letzte Antwort für Sicherheit in Europa sein kann. Aber wir halten an dieser Abschreckung so lange fest, solange es keine andere, bessere Möglichkeit gibt, die Sicherheit zu garantieren, der wir friedliches Zusammenleben in Europa seit mehr als 30 Jahren verdanken. ({44}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb an den einmal gemeinsam formulierten Zielen Rüstungskontrolle und Abrüstung weiterarbeiten. Wir sind der Meinung, daß eine Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses es erfordert, daß man eine möglichst breite Zusammenarbeit zwischen West und Ost anstrebt, weil man durch eine möglichst breite Zusammenarbeit auch die Chancen für Fortschritte in den Einzelbereichen erhöht. Deshalb gehören der politische Dialog, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle zusammen. Der Grundsatz der Ausgewogenheit der Leistungen muß nicht nur die Einzelvereinbarungen bestimmen, sondern auch in ausgewogene Gesamtinteressen beider Seiten eingebettet sein. Deshalb haben wir wirtschaftlichen West- Ost- Beziehungen immer zuallererst eine politische Bedeutung gegeben. Herr Kollege Dr. Vogel hat heute in seinem Beitrag zu Recht darauf hingewiesen, daß die Eröffnung eines Handelskrieges mit der Sowjetunion nicht in unserem Interesse liegen würde. Er hat das aber nur ökonomisch begründet. Ich sage Ihnen: Wir müssen es zuallererst politisch sehen, weil auch wirtschaftliche Beziehungen ein Stück politischer Stabilisierung zwischen West und Ost bedeuten. ({45}) Der Bundeskanzler hat das in der Regierungserklärung für die Bedeutung des innerdeutschen Handels dargelegt. Meine Damen und Herren, diese politische Bedeutung der West-Ost-Wirtschaftsbeziehungen muß auch dort gesehen werden, wo es um Entscheidun110 gen über Entwicklung oder Begrenzung der wirtschaftlichen Beziehungen geht. Einschränkungen sind überall dort richtig und notwendig, wo unsere Sicherheitsinteressen gefährdet werden könnten. Einschränkungen würden aber dort die eigenen Interessen verletzen, wo sie die Gesamtentwicklung und die politisch stabilisierende Wirkung behindern. Das Bewußtsein, daß die gesamte Entwicklung der West-Ost-Beziehungen das Maß an Fortschritt auch in Einzelbereichen bestimmt, erklärt die Bedeutung, die wir dem KSZE-Prozeß und der Folgekonferenz in Madrid beimessen. Dabei steht jetzt mehr auf dem Spiel, als die einzelnen Formulierungen des Schlußdokuments erkennen lassen, um das jetzt in Madrid noch gerungen wird. Es geht darum, den Helsinki-Prozeß, den die Staaten Europas und Nordamerikas gemeinsam als Modell für Friedenssicherung und Zusammenarbeit geschaffen haben, nicht auseinanderbrechen oder versanden zu lassen, sondern diesen Prozeß lebensfähig zu erhalten und durch neue Impulse zu stärken. Die Bemühungen in Madrid werden erschwert von schwierigen und konfliktgeladenen internationalen Spannungen, von Enttäuschungen über schwerwiegende Verletzungen der Schlußakte durch Androhung und Anwendung von Gewalt, durch Mißachtung der Menschenrechte. Afghanistan und Polen sprechen eine deutliche und für viele auch ernüchternde Sprache. Doch wir alle wissen: Enttäuschungen und Rückschläge machen den KSZE-Prozeß nicht überflüssig. Die Schlußakte von Helsinki ist nicht nur ein politisches Instrument für Regierungen; sie ist auch in das Bewußtsein der Menschen eingegangen, und deshalb muß sie auch für die Menschen in ihren Ergebnissen erlebbar sein. Der Entwurf der neutralen und nichtgebundenen Länder für ein Schlußdokument sieht weitere Erleichterungen für menschliche Kontakte, für Besuche und die Zusammenführung von Familien vor. Wichtig bleibt, daß wir die Weichen nicht auf Abgrenzung und Abschottung stellen, sondern auf Öffnung der Grenzen für den Austausch von Menschen, Informationen und für Ideen, denn dem gehört die Zukunft. Meine Damen und Herren, auch die Tragik der deutsch-deutschen Grenze, an die uns die Tagesnachrichten immer wieder erinnern, kann nur durch eine Evolution im Sinne der Schlußakte überwunden werden. Beide deutschen Staaten sollten ihren besonderen Beitrag für den Frieden in Europa dadurch erbringen, daß sie gerade in der Erfüllung der Schlußakte von Helsinki ihre besondere Verantwortung sehen und sie auch wahrnehmen. Meine Damen und Herren, es gibt keinen Zweifel: Alle Fragen des West-Ost-Verhältnisses, der Abrüstung, der Friedessicherung hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland werden auch hier bei uns am intensivsten diskutiert. Ein geteiltes Land, das an der Schnittlinie zwischen dem freien Europa und den sozialistischen Staaten liegt, muß für die Gefahren steigender Spannungen besonders empfindsam sein. Es muß auch für die Gefahr eines Rückfalls in den Kalten Krieg und für die Gefahren der Aufrüstung besonders empfindsam sein. Die besondere Empfindlichkeit für diese Fragen bei den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der DDR ist auch eine Realität der fortbestehenden deutschen Nation. Sie ist eine Realität in ihrer Sorge um den Frieden, die stärker als alle Versuche der Abgrenzung ist, eine Realität, für die weder Stacheldraht noch Minenfeld ein Hindernis bedeuten können. ({46}) Deshalb sollten wir der Versuchung widerstehen, aufrichtiges Friedensengagement bei uns zu verdächtigen, es aber in der DDR zu loben. In beiden Teilen Deutschlands bedarf es der Anerkennung und der ernsthaften Würdigung. In der Mittellage unseres Landes kann Deutschlandpolitik immer nur europäische Friedenspolitik sein. Schon die Väter des Grundgesetzes haben in der Präambel den Wunsch des deutschen Volkes formuliert, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Der Brief zur deutschen Einheit bezeichnet die Herstellung einer europäischen Friedensordnung als das Ziel deutscher Politik, und zwar mit den Worten: „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Der Grundlagenvertrag hat den Rahmen für die Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses geschaffen. Aber wir würden die Verantwortung der Regierenden hier in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR verkürzen, wenn wir nicht die aus der gemeinsamen Geschichte gewachsene Verantwortungsgemeinschaft sehen und beachten würden, eine Verantwortungsgemeinschaft für das Schicksal der deutschen Nation, für den Frieden in Europa, d. h. eben auch für die deutsche und europäische Zukunft. Dieser Verantwortungsgemeinschaft entspricht es, alles zu tun, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht. Dieser Verantwortungsgemeinschaft entspricht es auch, alles zu tun, um die Gefahren eines neuen Kalten Krieges abzuwenden. Der Grundlagenvertrag spricht von dem Wunsch, zum Wohl der Menschen, zum Wohl der Menschen in beiden deutschen Staaten, die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen. Zum Wohl der Menschen, das muß für uns und für die DDR das Leitmotiv des Handelns sein. Deshalb ist es die Pflicht jeder Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß Erleichterungen für die Menschen geschaffen, Schikanen vermieden und Belastungen abgebaut werden. Die Ausweitung des Reiseverkehrs, die Erleichterung des Reiseverkehrs müssen deshalb ein zentrales Ziel deutsch-deutscher Politik sein. Daß Mauer und Stacheldraht weder Normalität bedeuten noch gar begründen können, ist ebenso offenkundig wie das unveränderte Ziel, daß man sie Schritt für Schritt durchlässiger machen muß, um sie schließlich überwinden zu können. Diese Ziele wie auch die anderen Ziele im deutsch-deutschen Verhältnis können im Wege der Konfrontation nicht erreicht werden. ({47}) Nichts darf von unserer Seite geschehen, was das zwischen beiden deutschen Staaten Erreichte aufs Spiel setzt. Alles muß geschehen, damit die Möglichkeiten, die der Grundlagenvertrag bietet, auch voll genutzt werden. In Abwandlung eines anderen Wortes gilt für das deutsch-deutsche Verhältnis: Wer sich mit der Anomalität der Lage nicht abfinden will, j a, wer das Erreichte durch Stillstand nicht gefährden will, der muß verhandeln. Das gilt für alle staatlichen Ebenen bis hin zu den höchsten. Hier liegt der Grund, warum die Absage des Besuches des Staatsratsvorsitzenden Honecker in der Bundesrepublik Deutschland nicht das letzte Wort im deutsch-deutschen Verhältnis sein darf. ({48}) Es ist gewiß richtig, daß Begegnungen nicht zum Selbstzweck werden dürfen. Aber es ist genauso richtig, daß die Nichtbegegnung kein Mittel konstruktiver Politik sein kann. Deshalb kann ich Befriedigung darüber, daß der Besuch des Staatsratsvorsitzenden Honecker jetzt nicht zustande kommt, nicht empfinden. ({49}) Ganz sicher entspricht eine solche Befriedigung nicht den Gefühlen und dem Willen der Menschen in beiden Teilen unseres Landes. Die Briefe, die uns in den letzten Tagen aus der DDR erreichen, zeigen, was gedacht, was gesprochen wird in den Familien, in der Nachbarschaft und wohl auch im Kollegenkreise. Vielleicht ist dort das Bewußtsein dafür, was der Stand, was die Qualität der deutsch-deutschen Beziehungen für den eigenen, ganz persönlichen Lebensbereich bedeutet, tiefer und auch stärker entwickelt als gemeinhin bei uns. ({50}) Das umfaßt mehr als verbesserte Reisemöglichkeiten. Es betrifft die ganz unmittelbaren Lebensverhältnisse, die sich bei einem Rückfall in den Kalten Krieg für unsere Mitbürger in der DDR verschlechtern würden. ({51}) Das alles dürfen wir nicht außer acht lassen bei der Gestaltung unserer Beziehungen zur DDR. Keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland darf je außer acht lassen, daß wir Teil des Westens sind, wenn wir nicht Frieden und Freiheit aufs Spiel setzen wollen. Aber keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland darf je vergessen, daß in der DDR Deutsche wie wir wohnen. Es wird darauf ankommen, daß wir mit Festigkeit die Ziele unserer Politik vertreten, daß wir mit Nachdruck die Führung der DDR auf Geist und Inhalt des Grundlagenvertrages verweisen, daß wir darauf drängen, daß den Worten dieses Vertrages die Taten für die Menschen folgen. Deshalb sind Dialog und Zusammenarbeit für die den Menschen dienende Gestaltung des deutsch-deutschen Verhältnisses so wichtig. Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik muß im Verhältnis der beiden Staaten zueinander das Ziel haben, das ohnehin belastete Verhältnis zwischen West und Ost nicht noch zusätzlich aus dem deutsch-deutschen Verhältnis heraus zu belasten. Eine Verschlechterung des West-Ost-Verhältnisses trifft die Deutschen zuallererst und zu allermeist. Unsere Mitbürger in der DDR trifft es stärker als uns. Aus unserer nationalen Verantwortung dürfen wir nie vergessen, daß unsere Mitbürger in der DDR den schwereren Teil des gemeinsamen nationalen Schicksals tragen. Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland als Wertentscheidung als Teil des Westens und die Definition der deutschen Frage als europäische Friedenspolitik hat eine neue, für uns Deutsche im Herzen Europas einzigartige Ausgangslage geschaffen, nämlich die Identifizierung unserer nationalen Ziele mit dem Willen und mit den Sehnsüchten der europäischen Völker. Hier liegen die geschichtliche Herausforderung und die historische Chance für uns, die wir auf gar keinen Fall verspielen dürfen. Wir werden die Herausforderung Europa, die zugleich die große Chance für die Europäer ist, nur meistern, wenn wir aus der Geschichte lernen und nicht geschichtslos von einer Tagesfrage zur nächsten hasten. Wir beobachten in der DDR ein ansteigendes Interesse an der Geschichte, dort gefördert von der Regierung und den Staatsparteien. Die DDR sucht geradezu ihren Staat als die Fortsetzung der guten Traditionen der deutschen Geschichte darzustellen. Das ist eine Art Alleinvertretungsanspruch auf die besseren Epochen der deutschen Geschichte, der da geltend gemacht wird. Manche bei uns fragen, ob das etwa heißt: deutsche Geschichte als Mittel der Abgrenzung, deutsche Geschichte als Mittel der Deklarierung einer DDR-Nation. Manche bei uns in der Bundesrepublik sind darüber besorgt. Ich kann ihnen sagen: Die deutsche Geschichte taugt nicht als Abgrenzungswerkzeug, und nicht Sorge über das staatlich neu formulierte Geschichtsbild in der DDR kann unsere Antwort sein. Statt kleinmütig-besorgt zu fragen, was die DDR denn damit will, sollten wir lieber hier bei uns das Interesse an deutscher Geschichte bei der heranwachsenden Generation wecken und stärken. ({52}) In den Schulen muß das beginnen, aber in den Familien j a wohl auch, meine Damen und Herren! ({53}) - Sie sagen „wieder Staat". Hier im Deutschen Bundestag ist ja einmal darüber diskutiert worden, was die Schule der Nation ist. Damals ist mit Recht gesagt worden: Die Schule der Nation ist die Schule. ({54}) Dann muß sie diesem hohen Anspruch auch gerecht werden. ({55}) Viele Eltern wetteifern darin, ihren Kindern Spanien, Frankreich, Italien und Jugoslawien zu zeigen. Nichts ist dagegen einzuwenden, schon gar nicht von mir als Außenminister. Aber sollte nicht auch einmal eine - vielleicht nur kurze - Reise auf die Wartburg oder in das Goethe-Haus in Weimar dabeisein? ({56}) Dresden und Rostock, Greifswald und Halle, das ist auch Deutschland, genauso wie Warschau, Prag und Budapest auch Europa sind. Die Kultusministerkonferenz muß gefragt werden, ob der Unterricht in unseren Schulen wirklich unserer Geschichte, unserer Nation und unserer Verantwortung für die ganze Nation gerecht wird. ({57}) Wäre es nicht eine großartige Entscheidung der Kultusministerkonferenz, wenn sie dafür Sorge tragen würde, daß jeder unserer Schüler einmal in seiner Schulzeit nach Berlin und einmal in die DDR reist? ({58}) Kein Volk kann auf Dauer ohne Bewußtsein seiner Geschichte leben, und, meine Damen und Herren, kein Volk kann ohne das Bewußtsein der Verantwortung für die Zukunft leben. Beides gehört zusammen. Die unzerstörbare Einheit der deutschen Nation wird uns gerade in diesem Jahr 1983 bewußt, in dem Jahr, in dem die Deutschen in West und Ost den 500. Geburtstag Martin Luthers feiern. Eisleben, Wittenberg, die Wartburg, aber eben auch Coburg, Heidelberg, Augsburg und Worms, so heißen die großen historischen Stationen in Luthers Leben. Luther hat in ganz Deutschland gelebt, und er hat für ganz Deutschland gelebt. „Für meine Deutschen bin ich geboren, und ihnen diene ich auch", so sagte er immer wieder. ({59}) Sosehr wir Luther zuallererst von seinem religiösen Antrieb her begreifen müssen, so ist doch der Theologe Luther nicht der ganze Luther. Er ist vielmehr auch der Mann, der das politische Bewußtsein der Deutschen und ihren Willen zur Freiheit wachrüttelte und damit ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl neue Ziele und Formen gab. Meine Damen und Herren, als Luther lebte, gab es auf deutschem Boden unzählige größere und kleinere Territorien, doch Luther fühlte sich nicht als Mansfelder, er fühlte sich als Deutscher. Zu den geschichtlichen Wahrheiten gehört eben auch: Völker können voneinander getrennt werden, sie sind auch von innen her teilbar, aber sie sind von außen her unteilbar. Die Polen haben das in ihrer wechselvollen Geschichte bewiesen. Die deutsche Nation lebt weiter in der Einheit ihrer Geschichte und ihrer Kultur und im Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, in der gemeinsamen Verantwortung für die gemeinsame Zukunft. Wenn die Demokraten hier ihre Verantwortung nicht erkennen, können sie - da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Waigel, voll zu - eines Tages aufwachen, um feststellen zu müssen, daß andere diese Aufgabe übernommen haben. ({60}) Nur in einer wirklichen Friedensordnung in Europa kann unsere Nation ihre Trennung überwinden. Wir alle sind uns bewußt: Das ist ein langer Weg, aber es ist auch der einzige. Die Zukunft muß innerhalb einer europäischen Friedensordnung inmitten Europas ein Deutschland zeigen, dessen Existenz den Interessen seiner Nachbarn nicht widerspricht, sondern sie fördert. Meine Damen und Herren, Arnold Duckwitz, einer der großen Bremer Bürgermeister des 19. Jahrhunderts, schreibt in den „Denkwürdigkeiten aus meinem öffentlichen Leben" über die Staatsphilosophie eines kleinen Staates folgendes: Ein kleiner Staat wie Bremen darf nie als ein Hindernis des Wohlergehens der Gesamtheit der Nation erscheinen. Vielmehr soll er seine Stellung in solcher Weise nehmen, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze, seine Existenz als eine Notwendigkeit angesehen wird. Darin liegt die sicherste Bürgschaft seines Bestehens. Meine Damen und Herren, was wäre uns Deutschen, was wäre Europa erspart geblieben, wenn dieser Gedanke unsere Staatsräson über Jahrhunderte gewesen wäre, der Gedanke so formuliert: Ein Staat wie Deutschland, im Herzen Europas, darf nie als ein Hindernis für das Wohlergehen der Gesamtheit der europäischen Staaten erscheinen. Vielmehr soll er seine Stellung in solcher Weise nehmen, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze, seine Existenz als eine Notwendigkeit angesehen wird. Darin liegt die sicherste Bürgschaft seines Bestehens. Das ist der Geist, meine Damen und Herren, in dem wir für eine europäische Friedensordnung arbeiten wollen. Das ist der Geist, in dem wir unsere Verantwortung für die ganze, unteilbare deutsche Nation erfüllen wollen. - Ich danke Ihnen. ({61})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat Frau BeckOberdorf von der Fraktion DIE GRÜNEN. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Anrede suche ich mir noch selber aus. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meines Wissens bin ich die erste Frau, die in diesem Haus als Sprecherin einer Oppositionsfraktion auf die Regierungserklärung eines Bundeskanzlers antwortet. ({0}) Dies macht ein Stück jener politischen Kultur aus, für die die GRÜNEN eintreten. ({1}) Tragende Elemente unserer Politik sind Gewaltfreiheit, Herr Waigel, Toleranz und Sanftheit. ({2}) Alle diejenigen, die sich gegen Unterdrückung von Menschen, Zerstörung der Natur und Friedlosigkeit nach innen und außen wehren, sollen hier mit uns zu Wort kommen. Viele Debatten, die in diesem Hause geführt worden sind, muten die Bürger und auch mich an, als handele es sich um einen Schaukampf von Politikern, die sich wie Hähne spreizen und die sich in ihren Grundeinstellungen letztlich doch einig waren. ({3}) Wir wollen uns auf diese billige Sorte Polemik, mit der die frischgebackene Regierung von heute die Regierung von gestern für alle Übel der Welt verantwortlich macht, nicht einlassen. Die Fragen, um die es hier geht, sind für politische Schau- und Konkurrenzkämpfe zu wichtig und zu ernst. ({4}) Sie, Herr Kohl, wurden im vergangenen Herbst als Kanzler für das Herz, als Mann des Vertrauens aufgebaut. Der Wunsch nach Hoffnung ist in der Bevölkerung groß. So wurden Sie denn am 6. März gewählt, weil Ihre Parole vom Aufschwung diese Hoffnung nährte. Wir jedoch haben Angst vor dem, was hinter Ihrem politischen Konzept steckt. Wir befinden uns in praktisch jeder politischen Frage in einem inhaltlichen Gegensatz zu Ihnen und Ihrer Regierung. Das, was Sie heute morgen in Ihrer Regierungserklärung vorgestellt haben, umreißt eine Ideologie, die mit dem Rückgriff auf Werte der 50er Jahre den Aufgaben der heutigen Zeit gerecht werden will. Sie bemühen viele große Worte wie Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung und pflegen dabei eine Unverbindlichkeit, die einzig und allein Ausdruck Ihrer Hilflosigkeit ist; ({5}) Hilflosigkeit - da helfen auch keine starken Worte - in drei Themenbereichen, die ich hier nur kurz anreißen möchte: die Krise der internationalen Beziehungen, die Blockkonfrontation, aus der sich in Angst erregender Weise die Kriegsgefahr bis hin zur Gefahr eines atomaren Holocausts entwickelt hat; die ökologische Krise, die unser Leben bedroht und unseren Kindern die Zukunft raubt; die wirtschaftliche Krise, die Millionen von Menschen an den Rand dieser Gesellschaft drängt, wo das Geschwätz vom sozialen Netz zur Farce wird und Sie sich mehr um die Löcher dieses scheinbaren Netzes kümmern als um die Maschen. ({6}) Ich bin überzeugt, es ist die historische Aufgabenstellung unserer Zukunft, daß wir bereit sind, die Realität wirklich wahrzunehmen, daß wir es ernst meinen mit einem wirklichen Neuansatz in der Politik, mit dem, was Sie mit dem Begriff der Wende karikiert haben. Immer mehr Menschen in diesem Lande erfahren, daß es um unseres eigenen Überlebens willen gilt, neue Formen unseres Zusammenlebens, neue Formen der gesellschaftlichen Organisation und eine menschengerechte Organisation auch des Wirtschaftslebens zu entwickeln. Diese Aufgabe aber, Herr Kohl, haben Sie sich offenbar nicht gestellt. Sie haben sich dieser Aufgabe nicht nur einfach entzogen, sondern Sie können sie nicht meistern. Ihre Politik nimmt für sich in Anspruch, eine konservative Politik zu sein. Konservativ sein hieße bewahren. Angesagt ist in der Praxis jedoch eine Politik der Betonierung unserer Landschaft, des Ausbaus unsinniger, umweltzerstörender Kanäle, der rücksichtslosen Beschleunigung des Atomprogramms, des Abbaus sozialer Leistungen und der Stationierung todbringender Raketen. Das ist keine Politik der Bewahrung, sondern der Zerstörung. ({7}) Sie lösen damit eben nicht Ihren Anspruch ein, konservativ, bewahrend zu wirken, sondern sind - das kann man nicht anders benennen - objektiv reaktionär, und das nicht nur angesichts der Reaktoren. ({8}) Dagegen ist es eine tragische Ironisierung Ihrer Politik, daß wir als diejenigen, die Sie als Systemveränderer und Mitglieder Ihrer Schwesterpartei als verdreckte, pseudoakademische Erscheinungen beschimpfen, in diesem Parlament auch auftreten müssen, um mit unserer radikalen, vorwärts gewandten Politik auch für Bewahrung einzutreten. ({9}) Was Sie als geistige Erneuerung verkaufen wollen und gleichzeitig die Wende nennen, ist eine Wende zu den Altvätern Adenauer und Erhard. ({10}) Adenauer war es, der von Wiedervereinigung sprach und gleichzeitig die Einbindung in den Westen betrieb. Das war keine Politik der Wiedervereinigung, sondern eine Politik der Trennung. ({11}) Wir wurden als Bollwerk gegen den Osten feilgeboten. Genannt wurde das Einbindung in die Gemeinschaft der freien Völker des Westens. Aber diese Gemeinschaft hat das Feindbild-Denken zur Grundlage ihrer Politik gemacht. ({12}) Anstatt daß diese Gesellschaft nach 1945 innehielt, um zu ergründen, wie es zum Faschismus, zu dem fürchterlichen Krieg kommen konnte, wurde mit in das große Geheul über den Feind aus dem Osten eingestimmt. Dieses Feindbild wird in Ihrer Regierung wieder gepflegt, Herr Kohl. Es bietet das Alibi für das, was Sie Frieden in Freiheit nennen. Frieden in Freiheit heißt für Sie wie für große Teile der SPD eine Politik der Abschreckung mit Atomwaffen. ({13}) Abschreckung heißt, daß Sie bereit sein müssen, Ernst zu machen, Herr Kohl - aber darüber sind Herr Reagan und Sie ja wohl übereingekommen -, Ernst zu machen mit dem Abwurf von Atombomben auf die Menschen, die angeblich unsere Gegner sind. Das sind Menschen in der UdSSR, aber auch in Polen, Ungarn und der DDR, Herr Kohl. Wir sagen Ihnen, daß wir solch eine Strategie, die Bereitschaft, ganze Völker auszulöschen, für ein Verbrechen halten. ({14}) Was ist das für eine christliche Politik, die sich anmaßt, die Zerstörung der Schöpfung möglich zu machen! ({15}) Angesichts dieser Politik nehmen wir Ihnen Ihr Klagen über das Schicksal von Solidarnosc, der Charta '77, der sogenannten Dissidenten in der UdSSR und der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen" auch nicht ab, sondern halten es für Heuchelei. ({16}) Aber da sind Sie sich mit Herrn Honecker j a auch einig, wenn Sie die Menschen, die für einen gewaltfreien Frieden auf die Straße zu gehen gezwungen sind, Staatsfeinde oder gesellschaftszerstörende Elemente nennen. Die Menschen aus diesen Bewegungen sind unsere Partner, eine Außenpolitik von unten, die nicht darauf wartet, bis sich die Staaten einigen. Ohne diese Außenpolitik von unten werden sich die Staaten nie einigen. ({17}) „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" tönten Sie im Wahlkampf, und die Rampen für die neuen Raketen werden bereits gebaut. In Vasallentreue wird unser Land der Regierung der USA für amerikanische Erstschlagswaffen angeboten. Jeder weiß inzwischen, daß in Genf nicht ernsthaft verhandelt wird. ({18}) Sie überhören geflissentlich die Ankündigung des führbaren und begrenzbaren Atomkriegs in Europa. Deswegen sind Sie für uns nicht ein Kanzler des Vertrauens, sondern ein Kanzler tiefsten Mißtrauens. ({19}) Vor diesem Hause zu schwören, Schaden vom Volk wenden zu wollen, und gleichzeitig dieses Land mit Atomraketen zu übersäen, das war für uns einer der Gründe, dem Schauspiel Ihrer Vereidigung nicht beizuwohnen. ({20}) Gegen Ihre Unsicherheitspolitik, die Sie Sicherheitspolitik nennen, setzen wir die Forderung nach der Aufkündigung jeder Partnerschaft an der nuklearen Abschreckung der NATO. ({21}) Was sie als neue deutsche Außenpolitik bezeichnet, ist die Fortführung des Alten mit gefährlichen Mitteln. Eine wirklich neue deutsche Außenpolitik würde heißen: Keine Pershing II und keine Cruise Missiles in diesem Land! Schritte zur Demilitarisierung bis zur Atomwaffenfreiheit, damit auch andere Länder aufgefordert sind, dasselbe zu tun! ({22}) Uns geht es eben nicht nur um die Pershing II, sondern genauso um die SS 20. ({23}) Es würde heißen: Abrücken von der Bindung an den westlichen Block, damit sich auch der östliche bewegen kann. ({24}) Das würde auch heißen: Aufhören mit dem beschämenden Schauspiel, auf dem Rücken der Toten an der Grenze zur DDR Innen- und Deutschlandpolitik zu betreiben. Es würde heißen, endlich zur DDR normale zwischenstaatliche Beziehungen herzustellen, wie auch zu Frankreich. Das wäre Friedenspolitik. ({25}) Wir sind in dieses Parlament mit dem Auftrag von über 2 Millionen Menschen eingezogen, eine Politik der Gewaltlosigkeit zu vertreten und eben diese Strategie aus den Blöcken heraus zu entwikkeln. Wir werden in diesem Herbst den Anfang machen, wenn wir aus diesem Parlament herausgehen, um uns mit all unserer Kraft und physischen Existenz gegen die Stationierung der Raketen gewaltfrei zu wehren. ({26}) So wie Ihre Sicherheitspolitik sich ins Gegenteil verkehrt und zu einer Schreckenspolitik wird, beruht Ihre Konzeption vom Aufschwung auf einer Illusion. Nicht etwa, daß die Wende auf dem Arbeitsmarkt eingetroffen wäre. Doch es ist Ihnen gelungen, auch hier Hoffnungen zu wecken mit der ach so einfachen und gängigen Parole „Wachstum schafft Arbeitsplätze". Sie erschwindelten das Vertrauen, Herr Stingl und viele Unternehmen halfen nach, und Herr Lambsdorff entwickelte das Konzept. Schon war der Aufschwung herbeigeredet. Dieser Graf ist es, der behauptet - ich zitiere -: „Von Wachstumsgrenzen kann keine Rede sein." Sie ignorieren nach wie vor, daß es den Bericht „Global 2000" gibt, der uns zeigt, daß die Wachstumsideologie absurd ist. Ihr Wachstum in diesem Land tötet in den Ländern der Dritten Welt täglich Tausende von Kindern. ({27}) Sie haben immer noch nicht verstanden, daß das Wachsen einer chemischen und pharmazeutischen Industrie nicht auf Wohlstand schließen läßt, sondern Zeichen der zunehmenden Krankheit in unserer Gesellschaft ist. ({28}) Gewinn ist kein neutraler Begriff, Herr Kohl. ({29}) Das Verheerende ist, daß sich in unserer Gesellschaft hinter dem Gewinn Zerstörung und Elend verbergen. ({30}) Sie setzen genau da an, wo die Sozialdemokratie scheiterte, nämlich an der Hoffnung auf höhere Wachstumsraten. Diese Ihre Wirtschaftspolitik hinterfragt nicht, wieweit diese wachstumsfördernden Maßnahmen sinnvoll für den Menschen sind, ob sie ökologisch verträglich, ob sie unter Beachtung des Nord-Süd-Gefälles moralisch überhaupt zu rechtfertigen sind. ({31}) Man sollte glauben, es gebe Ihnen zu denken, daß keiner der berufenen Prognostiker Wachstumsraten vorhersagt, die zu einer Beseitigung der Arbeitslosigkeit führen. Das haben Sie doch jetzt von den Wirtschaftsinstituten schriftlich. Man sollte glauben, es gebe Ihnen zu denken, wenn die Wirtschaftspropheten, unberührt von Ihrer Aufschwungseuphorie, ein im großen und ganzen stagnierendes Bruttosozialprodukt vorhersagen. Was Sie jetzt anbieten, ist eine hilflose Mischung aus neokonservativem Angebots- und keynesianistischen Nachfragekonzepten. Auch hier brauchen wir die Daten nicht zu bemühen. ({32}) Wir alle wissen, daß die Ihnen geistesverwandte Maggie Thatcher und Ronald Reagan vor einem Heer von Arbeitslosen stehen und daß nicht wie früher Kaugummi in die Zone, sondern Butterkekse nach Detroit geschickt worden sind. ({33}) Die Jugendlichen, denen Sie als Kanzler des Vertrauens Lehrstellen versprachen, wissen jetzt als erste, was von Ihrem Versprechen zu halten ist. ({34}) Herr Lambsdorff rühmte sich damit, daß die Gewißheit bestehe, daß nach dem 6. März eine Wirtschaftspolitik betrieben wird, die investitions- und leistungsfreundlich ist, und Sie appellieren an die Einsicht der Bevölkerung, daß man vom Anspruchsdenken herunterkommen und den Sozialstaat tieferhängen müsse. ({35}) Doch ein Konzept zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit ist von Ihnen nicht zu erwarten. ({36}) Investitionen in Großprojekte wie die Verkabelung, Hochtemperaturreaktoren, den Schnellen Brüter und in die Rüstungsindustrie binden viel Kapital und schaffen wenig Arbeit für den Menschen. Die Einführung neuer Technologien entpuppt sich als der unkontrollierte Arbeitsplatzfresser größten Ausmaßes. ({37}) Wollen Sie Unternehmen, die wegen Mangels an Absatz krisengeschüttelt sind, noch erweitern, neue Kapazitäten in der Automobilindustrie oder der chemischen Industrie schaffen, obwohl die alten Anlagen bei weitem zu groß sind? Dies ist kein Konzept für die Zukunft, ein Konzept ohne Zukunft vor allem für Behinderte, sozial Schwache und Rentner, die sich einschränken sollen, damit dieses Programm zugunsten der Expansion bezahlbar wird. Es ist ohne Zukunft für die Frauen, die jetzt wieder an Heim und Herd geschickt werden, ohne Zukunft für die Ausländer, die fix zum Sündenbock der Krise gemacht wurden - das kennen wir schon aus der Geschichte -, weil sie angeblich Arbeit wegnehmen. Wenn dieses Parlament noch einen Sinn haben soll, ({38}) muß es Raum bieten für Utopien, die machbar sind. ({39}) Es ist eine konkrete Utopie, die vorhandene Arbeit auf alle zu verteilen. ({40}) Die Senkung der Arbeitszeit schafft Raum für die notwendige Aufteilung der Erziehungs- und Hausarbeit zwischen Mann und Frau. Sie schafft Raum für eine soziale Sicherheit, in der nicht alle Versorgung staatlich vermittelt und bürokratisiert ist. Was wir brauchen, ist eine Wende zu einem menschenwürdigen Leben, welches nicht auf Kosten der Zukunft aufgebaut ist, ({41}) eine Wende, die von der maßlosen ökologischen Belastung der Umwelt und der forcierten Aufrüstungspolitik abkehren will, ({42}) die damit aufhören will, unseren gesellschaftlichen Reichtum in unproduktive Wirtschaftskanäle zu lenken. Die neuen sozialen Bewegungen haben ihre Sache in die eigene Hand genommen, weil auf Politik wie bisher keine Hoffnungen mehr zu setzen sind. Diese Bewegungen sollen mit Intelligenz und großer Entschlossenheit eine tatsächliche Wende herbeiführen. ({43}) Auch Ihre Regierung, Herr Kohl, hat den allgemeinen Trend entdeckt und redet vom Umweltschutz. Während vor wenigen Jahren noch die als „grüne Spinner" bezeichnet wurden, die das Sterben der Wälder bereits sahen, können selbst Sie heute über solche Erscheinungen nicht mehr hinwegreden. Auch Sie sprechen von der Notwendigkeit der Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, der Erhaltung einer gesunden Luft, eines gesunden Bodens und reinen Wassers. Doch wie sieht Ihr Umweltschutz aus? Zwischen Reden und Handeln besteht eine große Kluft. Sie können nicht hier die norddeutsche Küstenregion und das Wattenmeer zerstören und dort von Landschaftsschutz sprechen. ({44}) Sie können nicht den Flughafen um die Startbahn West und den Hafen in Hamburg erweitern und gleichzeitig Naturschutz predigen. ({45}) Gleiches gilt für den Bau des sinnlosen RheinMain-Donau-Kanals. ({46}) Es ist ein Skandal, wenn Sie von der Notwendigkeit der Nutzung der Atomenergie sprechen, weil dies die angeblich umweltfreundlichste Energieversorgung sei, ({47}) wo doch jeder wissen könnte, daß diese Technologie das größte Risiko in sich birgt, welches die Menschen jemals in Kauf genommen haben. ({48}) Umweltschutz muß radikal sein - Herr Kohl, ich weiß, daß Sie dieses Wort fürchten -, ({49}) radikal im urtümlichen Sinne, nämlich an die Wurzel gehend. Wenn sich dagegen Ihr technokratischer Umweltschutz weiterhin nach den Regelungen der Zumutbarkeit für die Wirtschaft bemißt, wenn Sie weiterhin Nachsorge vor Vorsorge stellen, wenn die Verfahren der Produktion nicht so geändert werden, daß sie Mensch und Natur angepaßt sind, wird die Zerstörung der Natur weitergehen. Hier, Herr Kohl, wäre der Einsatz von Forschungsgeldern sinnvoll, statt das Forschungsministerium zum aussichtslosen Atomministerium zu machen. ({50}) Es werden nicht die Herren von BASF und Hoechst sein, die Ihnen diese Aufgabe abnehmen, auch wenn Herr Riesenhuber darauf vertraut. Nehmen Sie endlich ernst, was außerhalb dieses Hohen Hauses geschieht, und verteufeln und kriminalisieren Sie nicht länger die Menschen, die auf die Straße gehen, um für das Überleben künftiger Generationen zu kämpfen! ({51}) Ihr Innenminister, Herr Bundeskanzler - es wird Sie nicht erstaunen, daß wir ihn nicht den unseren nennen -, heißt Zimmermann. Dieser Mann, nomen est omen, steht für ein Programm. ({52}) Über dieses innenpolitische Programm, das durch Herrn Zimmermann verkörpert wird, werden Sie sich nicht einfach hinwegreden können. Politik à la Zimmermann: Liegen wir falsch, wenn wir davon ausgehen, daß der Innenminister dem Umweltminister mit dem Einsatz des Bundesgrenzschutzes gegen Kernkraftgegner zu Hilfe kommen wird und dies für eine umweltpolitische Maßnahme hält? ({53}) Liegen wir falsch, wenn wir vermuten, daß er auf der Linie liegt, bei der in Baden-Württemberg bei der Einsatzplanung für Wyhl von vornherein Tote einkalkuliert werden, um den Bau eines weiteren überflüssigen Atomkraftwerkes durchzusetzen? ({54}) Und liegen wir falsch, ({55}) wenn wir ihm zutrauen, aus Anlässen wie der jüngsten Erschießung eines Jugendlichen in Bayern nur einige belanglose Sätze zu finden? Wir haben erst vor kurzem erlebt, wie leicht dieser Minister mit dem Begriff der Verfassungsfeindlichkeit bei der Hand war, als er alle die, die sich gegen die staatliche Datensammelwut wandten, als Staats- und Verfassungsfeinde diffamierte. ({56}) Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Einwände dieser „Verfassungsfeinde" immerhin so ernst nehmen müssen, daß es die Volkszählung gestoppt hat. Herr Zimmermann sollte, wenn er sich schon nicht entschuldigen kann, doch zumindest zugeben, daß er vorschnell geurteilt hat. ({57}) Ich glaube, mit diesem Minister, der in den nächsten Jahren darüber befinden soll, was dem Geist und dem Buchstaben der Verfassung entspricht, werden wir noch einige Überraschungen dahin geFrau Beck-Oberdorf hend erleben, was verfassungskonform ist und was nicht. Möglicherweise werden wir auch durch die Erfahrung überrascht, was für eine dehnbare Verfassung wir eigentlich haben. ({58}) Vermutlich hat uns das, was im Zusammenhang mit der Volkszählung geboten wurde, ein Vorspiel geliefert, mit welchem Geist in Zukunft Innenpolitik betrieben werden wird. Gegner einzelner staatlicher Maßnahmen werden zu Verfassungsgegnern erklärt. Politische Kontroverse wird zu einem Delikt, für das der Verfassungsschutz zuständig ist. Ich muß Ihnen sagen, daß sich unsere Gegnerschaft zu den neuen Informationstechnologien auch daraus speist, daß wir sie niemals in den Händen eines Mannes wie des Bundesministers Zimmermann sehen wollen. ({59}) Wir vermuten, daß Sie trotz der Klage über sozialdemokratische Erblasten zumindest ein Erbe mit Handkuß übernehmen werden: das der Berufsverbote. ({60}) - Das muß ich leider sagen, meine Herren von der SPD. Das ist ja wohl so. ({61}) Diese Innenpolitik ist der Flankenschutz für das außen- und wirtschaftspolitische Programm dieser Bundesregierung. Sie ist Instrument für die Durchsetzung der Raketenstationierung bis hin zur Durchsetzung der Sparmaßnahmen gegen gewerkschaftlichen Widerstand. Herr Bundeskanzler, ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß wir hier praktisch in jeder Frage eine inhaltliche Kontroverse bekommen werden. Das wird in den nächsten Jahren hier geschehen. Diese Kritik an Ihrer Regierung und an Ihrer Politik sehen wir als unsere Hauptaufgabe in diesem Parlament an. ({62}) Ich möchte mich auch noch mit einem Wort an Herrn Vogel wenden. Das, was wir heute nachmittag von Ihnen gehört haben, Herr Vogel, die Kritik an der Aufrüstung, die Skepsis gegenüber der Großtechnologie, die Zurückhaltung gegenüber der Industriegesellschaft und der Hinweis, daß das vorher ja auch schon andere gesagt haben, zeigt uns, daß sich in Ihrer Partei anscheinend etwas bewegt hat. ({63}) Ich möchte allerdings unserer Skepsis Ausdruck verleihen, ob Sie das auch so geäußert hätten, wenn die Wahlen am 6. März anders ausgeganen wären. ({64}) Hoffentlich wird sich dieser geistige Wandel, der sich hier heute angekündigt hat, auch in einer Politik der entsprechenden praktischen Schritte niederschlagen. ({65}) Ich denke, das werden wir in diesem Herbst sehen. Eines sollten Sie wissen: Im Herbst werden wir auf der Seite stehen, wo die Knüppel der Staatsgewalt auf die Menschen niedergehen werden, die die Stationierung neuer Raketen aus Verantwortung vor sich und ihren Kindern nicht hinnehmen können. ({66})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke ({0}).

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst der Kollegin Beck-Oberdorf zu ihrer parlamentarischen Jungfernrede sehr herzlich gratulieren. ({0}) Ich stimme zwar bei weitem nicht mit allem überein, was sie gesagt hat, aber alles das, was sie gesagt hat, ist nachdenkenswert und diskussionswert gewesen. ({1}) Ich bin allerdings der Meinung, Sie haben meinen Kollegen Jochen Vogel nicht ganz fair behandelt, als Sie sagten, er würde nach einem Wahlsieg anders geredet haben. Denn genau das, was er heute gesagt hat, finden Sie schon in unserem Dortmunder Wahlprogramm. - Frau Kollegin, wenn Sie mir hier einen Augenblick zuhören könnten, ({2}) fände ich das mitmenschlich und ungeheuer nett. - Schönen Dank. - Ich bin der Meinung, daß man weder den Genfer Verhandlungen noch der Bewußtseinsbildung in diesem Lande dient, wenn man sich jetzt schon zum „Märtyrer des Herbstes" macht, bevor überhaupt entschieden ist, ob wir nicht doch noch ein Verhandlungsergebnis erreichen. ({3}) Dann muß ich eine Klarstellung machen: Sie sind nicht die erste Frau, die für eine Fraktion auf eine Regierungserklärung antwortet. Durch einen schnellen Blick ins Bundestagsprotokoll habe ich mich davon überzeugt, daß Helene Wessel Ihnen vorausgegangen ist, die für die Fraktion des Zentrums am 22. September 1949 auf die erste Regierungserklärung von Konrad Adenauer geantwortet hat. ({4}) Jetzt komme ich zur Außen- und Sicherheitspolitik, die in der ersten, allgemeinen Runde nur in den Grundlagen hat diskutiert werden können. Herr Bundeskanzler, als Sie im Oktober vergangenen Jahres die neue Koalition gebildet haben, haben Sie unserem Volk Kontinuität in der Außenpolitik ver118 Dr. Ehmke ({5}) sprochen. Nach Ihrem Wahlsieg vom 6. März hat aber die CDU mit der CSU ein Papier vereinbart, das - im Gegensatz zu Ihrem Versprechen - auf weiten Feldern die Diskontinuität der deutschen Außenpolitik postuliert. Dieser Widerspruch wird dadurch unterstrichen, daß in der Koalitionsvereinbarung über Außenpolitik so gut wie gar nichts steht. Herr Bundeskanzler, wir befürchten, daß sich das, was Sie Herrn Strauß in diesem Punkte versprochen haben, nicht mit dem verträgt, was Sie dem Wähler und vielleicht auch Herrn Genscher versprochen haben. Das läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Nun hat der Herr Kollege Genscher vorhin gesagt, es solle gelten, was in der Regierungserklärung steht. Diesen Wunsch, Herr Kollege Genscher, kann ich natürlich verstehen, zumal Sie, hoffe ich, j a eher als FDP-Vorsitzender denn als Außenminister gesprochen haben. Die Schwierigkeit ist nur: Es ist ungeheuer schwer zu sagen, was in der Regierungserklärung zu diesen Fragen steht; denn sie ist so allgemein, ({6}) Herr Kollege Genscher, sie ist so allgemein, daß Sie sich bitte nicht einbilden dürfen, der Streit zwischen der CSU und der FDP über Deutschland- und Außenpolitik wäre mit dieser allgemein gehaltenen Regierungserklärung aus der Welt. ({7}) Denn sehen Sie: Das Papier, das Herr Strauß vorgelegt hat, ist sehr konkret und sehr scharf gefaßt - er hat es ja in der „Quick" veröffentlichen lassen. Was uns mehr beunruhigt, Herr Bundeskanzler, ist, daß das interne Papier, das CSU und CDU vereinbart haben - auch das ist ja veröffentlicht worden - zeigt, daß Strauß sich innerhalb der Union in den Koalitionsverhandlungen sogar mit einem Teil seiner abstrusen Forderungen durchgesetzt hat. Da steht die Forderung, unsere Bevölkerung psychologisch auf das Aufstellen neuer amerikanischer Raketen vorzubereiten, in schöner Einfalt neben der Wiederbelebung juristisch verbrämter politischer Illusionen in Sachen Wiedervereinigung. Aber, Herr Bundeskanzler: Mehr Waffen in Ost und West werden die deutsche Einheit doch nicht fördern; sie werden im Gegenteil die bestehende Teilung zementieren. ({8}) Das gleiche gilt für die deutschlandpolitischen Ausfälle der CSU und den Scherbenhaufen, den Sie angerichtet haben. Herr Waigel, eigentlich das Interessanteste an Ihrer Rede fand ich, daß Sie diese CSU-Linie hier heute noch einmal vertreten haben. Ich fand die Antwort des FDP-Vorsitzenden darauf sehr zaghaft. ({9}) Da wird in dem CSU/CDU-Papier die alte Formel von der angeblichen Unteilbarkeit der Entspannung nicht nur wieder aufgewärmt, sondern sogar zur „geographischen Unteilbarkeit", j a, zur „Ununterbrechbarkeit" der Entspannung verschärft. Da dies der Forderung gleichkommt, Spannungen in der Welt zu globalisieren, wird folgerichtig postuliert, die Bundesrepublik müsse eine Mitverantwortung für die globale Eindämmung der Sowjets übernehmen, ohne daß genau gesagt wird, wie. ({10}) Daß Herr Strauß sich für diese Aufgabe für den richtigen Mann hält, ist seit langem bekannt. Richtig ist aber auch, daß man in der amerikanischen Politik schon verdammt weit nach rechts gehen muß, um einen so primitiven Antikommunismus wiederzufinden, wie er in dem unionsinternen Papier niedergelegt ist. ({11}) Herr Bundeskanzler, insofern stellt das Papier eine Neuauflage der Kalten-Kriegs-Rhetorik der 50er Jahre dar: Schuld an den Spannungen in der Welt sind allein die Sowjets. Nicht einmal für Südafrika oder für El Salvador wird eine Ausnahme gemacht. Mein Kollege Holtz wird darüber noch zu sprechen haben. Ich möchte Sie auf eines hinweisen. Die Abschnitte in dem Papier über Südafrika und Namibia könnten von der Propagandaabteilung Südafrikas geschrieben sein. ({12}) Ich bin sehr gespannt, wie sich die Vertreter der Apartheid für diesen Dienst erkenntlich zeigen werden. Ich habe heute wohl gehört, daß in der Regierungserklärung gesagt worden ist, daß Sie gegen die Apartheid seien. Aber dann seien Sie doch so gut und kommen Sie hierher und sagen: Dieses ganze Papier gilt nicht. Die Kollegen von der CSU sagen uns, es sei vereinbart, und sie würden sich darauf berufen. Und das ist nur ein Beispiel. ({13}) Der ganze Nord-Süd-Konflikt wird über den Leisten des Ost-West-Konflikts geschlagen, und dann wird die Empfehlung gegeben, man dürfe rechte Diktaturen nicht an den Maßstäben der parlamentarischen Demokratie messen, aber „sozialistischen Experimenten" müsse man natürlich mit Nachdruck entgegentreten. ({14}) - Das steht in diesem Papier, Herr Kollege Klein, das Sie hoffentlich vorher gesehen haben. Wenn nicht, sind Sie entschuldigt. Diese Grundsätze führen dann auch dazu, daß Sie sich in Zentralamerika auf seiten der Söldner Somozas im Kampf gegen die Sandinisten wiederfinden, und da sind Sie auf der falschen Seite. ({15}) Daß in diesem Zusammenhang auch der Aufhebung der Beschränkung des Rüstungsexports das Wort geredet wird - dies wird j a nicht nur von einzelnen CDU-Kollegen gefordert, sondern dies steht als Forderung in Ihrem Unionspapier -, überrascht kaum, wenn man weiß, wie Herr Strauß darüber denkt. Dr. Ehmke ({16}) Was uns interessiert, Herr Bundeskanzler, ist dies: Wie konnte die CDU nach der Regierungserklärung vom Oktober, nach dem Wahlversprechen und angesichts dessen, was Sie jetzt in allgemeinen Worten gesagt haben, eigentlich dieses Papier unterschreiben? Es enthält das Gegenteil von dem, was Sie versprochen haben. Das zeigt nicht nur ein Vergleich dieses Unionspapiers mit dem, was Helmut Schmidt hier noch einmal am 1. Oktober zur Außenpolitik zusammenfassend gesagt hat. Das zeigt auch ein Vergleich mit dem Aufsatz, in dem Außenminister Genscher im September vergangenen Jahres in der „Außenpolitik" aus seiner Sicht die deutsche Außenpolitik noch einmal zusammengefaßt hat. Herr Bundeskanzler, Sie sollten noch in dieser Debatte Klarheit schaffen, was nun eigentlich gilt: Ihre Regierungserklärung mit ihren vagen Allgemeinheiten oder die konkreten Festlegungen im Unionspapier, das mit Herrn Strauß vereinbart worden ist und in dem das Gegenteil von dem steht, was Sie heute in der Regierungserklärung vorgetragen haben. ({17}) Wir verstehen ja Ihre Zwangslage zwischen CSU und FDP. Die Art des Wortwechsels in den letzten Wochen hat ja keinen Zweifel darüber gelassen, wie weit die Meinungsverschiedenheiten gehen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie können Existenzfragen der Nation nicht durch Ausklammern lösen. Um Kurt Schumacher zu zitieren: Mit den Mitteln der kleinen Schlauheit kann man keine große Politik machen. Auch wir als Opposition möchten von Ihnen wissen, woran wir mit Ihnen sind. Wenn Sie wirklich zu dem stehen, was Sie nur mit allgemeinen Worten sagen - die Außenpolitik der sozialliberalen Koalition solle fortgesetzt werden -, dann kommen Sie hier herauf und nehmen Sie das Unionspapier vom Tisch, so daß sich auch keiner von der CSU darauf berufen kann. ({18}) Wenn nicht, müssen wir allerdings befürchten, daß Ihre Aussagen nur eine Fassade sind, hinter der der Streit weitergehen wird. Dann werden Sie uns auch nicht auf Ihrer Seite haben können. Lassen Sie mich daher die Position der SPD in einigen zentralen Punkten noch einmal darstellen. Ich beschränke mich - andere Kollegen werden andere Themen behandeln - auf drei Themen, auf das Bündnis, die Strategiedebatte in der NATO und die Genfer Verhandlungen. ({19}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer Regierungserklärung vom 13. Oktober gesagt, das Bündnis sei der „Kernpunkt deutscher Staatsräson". Diese undurchdachte Aussage macht aus der Bundesrepublik ein Instrument der NATO, während die NATO in Wirklichkeit ein Instrument zum Schutz der Atlantischen Gemeinschaft einschließlich der Bundesrepublik ist. ({20}) Jochen Vogel hat in seiner Erwiderung die positive Haltung der SPD zum westlichen Bündnis, wie sie auch in unserem Wahlprogramm erneut zum Ausdruck gekommen ist, noch einmal unterstrichen. ({21}) - Wer etwas anderes sagt - dies, Herr Kollege, auf Ihren Zwischenruf hin -, spricht nicht für die SPD. Lassen Sie mich für die Bundestagsfraktion noch eines hinzufügen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Erbe von Kompetenz, Respekt und Vertrauen zu bewahren, das die Vorgänger - stellvertretend nenne ich hier nur Fritz Erler - hart erarbeitet haben. Dieses Erbe werden wir weder durch Alleingänge aus den eigenen Reihen noch durch Diffamierungskampagnen aus Ihren Reihen in Frage stellen lassen. ({22}) Zu diesem Erbe gehört allerdings keine blinde Gefolgschaftstreue im Bündnis. Das haben wir auch in unserem Wahlprogramm zum Ausdruck gebracht: „Die Interessen der einzelnen Partner im Bündnis sind nicht immer deckungsgleich. Es ist heute nötiger denn je, daß die Bundesrepublik ihre eigenen Interessen wirksam im Bündnis vertritt." Meine Damen und Herren von der Koalition, was belastet denn heute das Bündnis? Was läßt denn heute viele Menschen in unserem Volk - innerhalb wie außerhalb der SPD - um den Frieden fürchten? Es ist der Rüstungswettlauf der beiden Großmächte, der auch eine der Ursachen der Weltwirtschaftskrise ist. Und es ist die Sorge, daß auch die Hauptmacht des eigenen Bündnisses die Lage eher noch verschärft als entspannt. Dem liegt, jedenfalls was die SPD betrifft, keine Fehleinschätzung des Großmachtstrebens der Sowjetunion zugrunde. Gerade eine realistische Einschätzung sowjetischer Großmachtpolitik führt uns zu der Einsicht, daß ein verkrampfter Antikommunismus und eine auf immer mehr Waffen setzende Politik keines der heutigen Probleme der Welt lösen kann. ({23}) In Europa - das muß laut gesagt werden - mischt sich die Sorge, ob eine dauerhafte, berechenbare Außenpolitik heute in den Vereinigten Staaten institutionell überhaupt möglich ist - eine Sorge, die viele Amerikaner teilen - mit der Ablehnung von Teilen der Politik der gegenwärtigen amerikanischen Administration. Ich teile viele dieser Zweifel und Sorgen. Über sie muß im Bündnis genauso offen wie in den Vereinigten Staaten selbst gesprochen werden. Ich empfehle unseren konservativen Kollegen insofern einmal das Studium etwa der Rede von Lord Carrington auf dem diesjährigen Alastair-Buchan-Erinnerungstreffen. Eine solche Kritik an der Politik einer amerikanischen Administration als „anti-amerikanisch" zu diffamieren, ist genauso töricht, als wenn man eine Kritik an der Politik Helmut Schmidts oder Helmut Kohls als „anti-deutsch" bezeichnen würde. Wer allerdings solche Zweifel an der Politik einer amerikanischen Administration im Zweifel am Dr. Ehmke ({24}) Bündnis umfunktioniert, unterliegt einem politischen Trugschluß. Sicherheit für unser Land kann es nicht außerhalb des Bündnisses geben. Die Vorstellung einer Art deutschen sicherheitspolitischen Naturschutzparks zwischen den beiden hochgerüsteten Supermächten ist eine Illusion. Auch erfolgreiche Rüstungskontrolle setzt auf absehbare Zeit das Bestehen der Blöcke und damit das Bestehen des Bündnisses voraus. Es geht nicht um das Bündnis, es geht um die richtige Bündnispolitik. Für sie braucht man Mitstreiter in Europa, für sie braucht man vor allem aber auch Mitstreiter in den Vereinigten Staaten selbst. Deutsche Alleingänge, meine verehrte Vorrednerin, würden uns durch Vertrauensverlust in eine Isolierung geraten lassen, aus der heraus wir gar nichts mehr beeinflussen könnten. Nicht weniger verhängnisvoll wäre allerdings eine deutsche Politik, die Beflissenheit und Liebdienerei gegenüber Washington für das Gebot der Stunde hielte. Die Unionsparteien, auch Sie selbst, Herr Bundeskanzler, stehen in der Gefahr, die Wertgemeinschaft des westlichen Bündnisses, zu der alle politischen Kräfte des Westens, einschließlich der Friedensbewegung, gehören, auf eine Wert- und Interessengemeinschaft der Konservativen zu verkürzen. ({25}) Eine solche Verkürzung könnte nur auf Kosten der deutschen Interessen gehen und müßte der Lebenskraft des Bündnisses Abbruch tun. Ich frage die Bundesregierung: Gilt eigentlich die im Harmel-Bericht von der NATO festgelegte politische Linie noch, oder ist sie inzwischen durch die amerikanische Militärpolitik aufgehoben worden? Ich frage auch den Bundesverteidigungsminister: Ist die Bundesregierung für eine Änderung der NATO-Politik? Ich frage das auch den Bundesaußenminister, der sich in seinem schon erwähnten Artikel mit so großem Nachdruck für diese so wesentlich von der sozialliberalen Koalition mitbestimmte Bündnispolitik ausgesprochen hat. Im Harmel-Bericht hat sich die NATO auf eine Politik festgelegt, die sicherheitspolitische Festigkeit auf der Basis eines militärischen Gleichgewichts mit entspannungspolitischer Beweglichkeit verbindet, bis hin zu Formen der Kooperation, gerade auch der wirtschaftlichen Kooperation, mit dem Ostblock. Denn im Ergebnis können nicht Waffen, sondern kann nur eine besonnene Politik den Frieden sichern, und darum gilt es, unsere besonnene Außenpolitik fortzusetzen. Wir sehen diese Außenpolitik aber heute in Frage gestellt. Sicher nicht zuletzt durch das Verhalten der Sowjets, durch ihren Einmarsch in Afghanistan, die Unterdrückung der „Solidarität" in Polen, schließlich durch die sowjetische Rüstungspolitik, die kein Opfer scheut, mit den Vereinigten Staaten wenigstens militärisch gleichzuziehen. Ich teile aber die Meinung von Altbundeskanzler Schmidt, von Lord Carrington und anderen, daß von einer militärischen Unterlegenheit der Vereinigten Staaten und des Westens nicht die Rede sein kann. ({26}) Nichts könnte diese Tatsache besser unterstreichen als die Antwort, die der Chairman der Joint Chiefs of Staff, General Vessey, auf die Frage eines Senators gegeben hat, ob er denn mit den Sowjets die Rüstungen tauschen würde. „Um Himmels Willen, nein", lautete die Antwort. Inzwischen scheint, wie die Haushaltsdebatte im amerikanischen Kongreß zeigt, auch die Mehrheit des Kongresses die Rüstungsprogramme der Reagan-Administration für übertrieben zu halten. Im Kongreß gewinnt auch der Gedanke eines nuklearen „Freeze" Boden, d. h. die Idee, daß man angesichts eines ungefähren nuklearen Gleichgewichts mit dem weiteren Rüsten aufhören solle. Uns ist bewußt, daß in anderen Kreisen der Vereinigten Staaten in dieser Situation gerade umgekehrt die Besorgnis wächst, die Sowjetunion könne die Vereinigten Staaten vom Platz 1 verdrängen. Man muß nur sehen: die gleiche Situation löst in Moskau die Befürchtung aus, die der Sowjetunion von den Vereinigten Staaten feierlich zugesagte „Gleichheit und gleiche Sicherheit" sollten nur auf dem Papier bleiben. Ich frage die Bundesregierung: Was ist Ihre Meinung zu diesen Fragen? Wir haben kein Wort davon in der heutigen Regierungserklärung gehört. Teilt die Bundesregierung die Meinung, man könne die Sowjets, wenn schon nicht tot-, so doch wenigstens weich-rüsten? Und was ist die Haltung der Bundesregierung, Herr Kollege Wörner, zu der Militärpolitik, wie sie in der sogenannten Military Guidance für die amerikanischen Streitkräfte niedergelegt worden ist? Ich weiß, die Diskussion darüber wird oft sehr einseitig geführt, denn die gleichen Fragen werden auch in der sowjetischen militärischen Führung erörtert, ohne daß dies an die Öffentlichkeit dringt. Das macht die Lage für uns aber nur noch schlechter. Da es sich bei der Military Guidance nicht um irgendwelche Szenarios handelt, sondern um Führungsleitlinien für die amerikanischen Streitkräfte, muß die Bundesregierung die Frage beantworten: Hält sie denn z. B. einen atomaren Krieg für begrenzbar und dann vielleicht auch noch für gewinnbar? Und wie denkt sie über die Frage eines deutschen Vetorechts beim Einsatz nuklearer Waffen von deutschem Boden? ({27}) Noch unmittelbarer, Herr Verteidigungsminister, wird unsere Politik von der Vorstellung einer westlichen Globalstrategie berührt, die nicht nur die Wirtschafts- und Dritte-Welt-Politik in ihren Dienst stellen will, sondern auch eine sogenannte horizontale Eskalation regionaler militärischer Konflikte, also die geographische Ausdehnung eines irgendwo anders ausgebrochenen Konflikts vorsieht. Herr Bundeskanzler, wir sehen mit großer Sorge, daß im CSU/CDU-Papier solche globalstrategischen Vorstellungen übernommen werden und der Bundesrepublik in ihnen eine Rolle zugesprochen wird, wie gesagt, ohne daß genau gesagt wird, welche. Die NATO ist aber kein Weltmachtersatz und die Bundesrepublik schon gar keiner. Eine Neuauflage deutscher Großmannssucht à la Wilhelm II. ist wohl das letzte, was wir brauchen. Da Sie das auch sagen Dr. Ehmke ({28}) in Ihrer Regierungserklärung, bitte ich Sie noch einmal: Nehmen Sie dies unglaubliche Unionspapier zur Außen und Sicherheitspolitik hier heute vom Tisch, auch wenn es nur als internes Papier bezeichnet ist. ({29}) Eine kritische Betrachtung bündnisinterner Probleme wird von konservativer Seite - Herr Genscher hat dafür heute ein neues Beispiel geliefert - gerne als Distanzierung vom Bündnis diffamiert, als Äquidistanz zu beiden Supermächten. Lassen Sie mich dazu folgendes sagen: Von einer Äquidistanz kann natürlich gar keine Rede sein, in geographischer Hinsicht nicht, weil die Bundesrepublik sehr viel weiter von Amerika entfernt liegt als von der Sowjetunion, und in politischer Hinsicht nicht, weil wir demokratische Bündnispartner der Vereinigten Staaten sind, die Sowjetunion aber Führungsmacht des Gegenblocks ist. Nur, verehrter Kollege Genscher, ändert dieser Umstand nichts daran, daß das Wettrüsten der beiden Supermächte - im Gegeneinander und Miteinander zugleich - unsere Existenz in Westeuropa, ja die Existenz der ganzen Welt gefährdet. Die beiden Supermächte haben im Nichtverbreitungsvertrag die völkerrechtliche Verpflichtung zu nuklearer Abrüstung übernommen. ({30}) Sie an diese Verpflichtung immer wieder zu erinnern, wie es Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner großen Rede vor der 2. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen getan hat, ist eine wichtige Aufgabe deutscher Politik. Leider haben wir dazu von Ihnen heute nichts gehört. Die von beiden Großmächten übernommene Verpflichtung ist auch ein Ausdruck dessen, was wir Sicherheitspartnerschaft nennen. Der Außenminister hat in seinem Artikel geschrieben, „daß eine sozusagen einteilige Politik reiner Gegnerschaft im Nuklearzeitalter nicht mehr möglich ist", allerdings ohne daß er sich den Begriff der Sicherheitspartnerschaft zu eigen gemacht hätte. Helmut Schmidt hat das am 1. Oktober 1982 prägnanter ausgedrückt: Weder der Westen noch der Osten kann allein seinen Frieden garantieren. Sicherer Friede bedarf der Sicherheitspartnerschaft, der Partnerschaft zum Frieden. Dieses Zitat, Herr Präsident, bringt mich zur Frage der Strategiedebatte innerhalb der NATO, die wir in diesem Hohen Hause noch gar nicht erörtert haben. Wir müssen uns aber aus eigenem Antrieb an dieser Debatte beteiligen, weil sie Lebensinteressen unseres Volkes berührt. In den Vereinigten Staaten wird die Debatte mit Lebhaftigkeit geführt. Wir bedauern, daß die Regierungserklärung auch dazu nichts - absolut nichts - zu sagen hat. ({31}) In der Strategiedebatte sind zwei Themenkreise, die ineinandergreifen, voneinander zu unterscheiden. Erstens der Themenkreis, der nicht nur die Kirchen beiderseits des Atlantik zunehmend bewegt: ob Abschreckung durch Androhung eines nuklearen Selbstmords auf Gegenseitigkeit moralisch und politisch überhaupt vertretbar ist. Der zweite Themenkreis ist aber noch weit bedrängender: ob nämlich die technologische Entwicklung zu immer zielgenaueren Waffen mit immer kleineren nuklearen Sprengköpfen - auch die Entwicklung der SS-20, der Pershing 2 und der Marschflugkörper gehört in diesen Zusammenhang - nicht in Ost und West fast automatisch zu strategischen Planungen führt, die nukleare Waffen nicht mehr als politische Abschreckungswaffen, sondern als militärische Kriegführungswaffen ansehen und einplanen. ({32}) Es ist u. a. diese Entwicklung, die die Forderung hat laut werden lassen, die Verteidigung Europas stärker konventionell zu organisieren, um in der Planung wenn nicht überhaupt auf den Ersteinsatz, so doch wenigstens auf einen früheren Einsatz von Atomwaffen verzichten zu können. In dieser Debatte zeichnet sich die Möglichkeit ab, nukleare Gefechtsfeldwaffen durch moderne konventionelle Waffen zu ersetzen. Wir hätten gern die Meinung der Bundesregierung zu diesen Fragen gehört, übrigens auch im Hinblick auf die neue französische Verteidigungsplanung. Einerseits zeichnen sich hier Möglichkeiten ab, die Nuklearschwelle, die durch die Strategie der „flexiblen Antwort" gefährlich gesenkt worden ist, wieder entscheidend anzuheben. Andererseits dürfen andere damit verbundene Fragen, z. B. die nach der Gefahr eines konventionellen Rüstungswettlaufs oder die nach den Kosten einer solchen Umrüstung, nicht bagatellisiert werden. Die Frage einer Konventionalisierung unserer Verteidigungsplanung muß in engem Zusammenhang mit der konventionellen Rüstungskontrolle, d. h. mit den MBFR-Verhandlungen in Wien, gesehen werden. Einerseits haben wir ein Interesse daran, daß bei einer Konventionalisierung der Verteidigung Westeuropas die Fähigkeit der NATO zur Vorneverteidigung nicht gemindert wird. Andererseits müssen wir allen Planungen eine klare Absage erteilen, die uns aus militärisch-operativen Gründen, die ich als solche anerkenne - Tiefe des Raumes, bewegliche Verteidigung durch Gegenangriffe auch in das Gebiet des Warschauer Pakts - dem politischen Mißverständnis aussetzen könnten, hier würden Möglichkeiten für eine globalstrategische Ausdehnung eines in einer anderen Region der Welt etwa ausbrechenden Konflikts geschaffen. ({33}) Auch insoweit muß es vielmehr bei der Vorneverteidigung bleiben. Am defensiven Charakter der NATO und unserer Bundeswehr als einem Teil der NATO-Streitkräfte in Europa, dürfen wir nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen. ({34}) Interessanterweise wird aber auch eine Konventionalisierung sogenannter Interdiktionswaffen für Dr. Ehmke ({35}) möglich gehalten, die die Heranführung einer zweiten und dritten Welle sowjetischer Divisionen aus den westlichen Teilen der Sowjetunion unterbinden sollen. ({36}) Das läßt militärisch-operativ auch die Frage der geplanten Aufstellung von Pershing-2-Raketen und Marschflugkörpern in einem neuen Licht erscheinen. Denn diese Waffen sind ja für solche Interdiktionszwecke bestimmt und nicht etwa, wie oft irrtümlich angenommen und auch gesagt wird, für die Bekämpfung der mobilen sowjetischen SS-20-Raketen. Herr Kollege Wörner, wenn die Aufgabe der Interdiktion auch konventionell gelöst werden kann, besteht unseres Erachtens um so mehr Grund, für das politische Problem eurostrategischer Nuklearwaffen mit großer Geduld eine politische Lösung, d. h. eine Verhandlungslösung, zu suchen. ({37}) Also noch bevor wir zur nuklearen Abschreckung, dem Thema der Bischöfe, kommen, müssen wir die Rolle der Nuklearwaffen wieder zurückdrücken auf die Rolle politischer Abschreckungswaffen, heraus aus dem Bereich militärischer Anwendungswaffen. In diesem Zusammenhang fordern wir die Bundesregierung auf, den Vorschlag der Palme-Kommission für einen nuklearfreien Korridor zwischen Ost- und Westeuropa als einen ersten Schritt in dieser Richtung aufgeschlossener zu prüfen, als sie es bisher getan hat. Wir tun dies, obwohl uns die Probleme der Kontrolle der Einhaltung eines solchen Abkommens durchaus bewußt sind. Bei Schaffung einer konventionellen Verteidigungsfähigkeit in Westeuropa könnte die nukleare Abschreckung für Westeuropa im übrigen seegestützten Systemen übertragen werden. Damit komme ich auf das Thema, das heute im Vordergrund der Erörterung steht, das aber - ich sage es noch einmal - nicht das drängendste Problem ist, nämlich auf die Frage der Strategie nuklearer Abschreckung. Meines Erachtens wird man sich trotz schwerwiegender Bedenken, die ich nicht bagatellisiere, auf diese Strategie noch eine Weile verlassen müssen, solange keine bessere Strategie entwickelt worden ist. ({38}) Ob die Menschheit überhaupt je auf Waffen verzichten wird, die sie einmal erfunden hat, mag nach der geschichtlichen Erfahrung der Menschheit zweifelhaft erscheinen. ({39}) Aber auch eine bloße Annäherung an das Ziel der Abschaffung von Nuklearwaffen setzt voraus, daß sich in West und Ost der Gedanke der Sicherheitspartnerschaft, des Aufeinander-Angewiesenseins selbst antagonistischer Blöcke zur Sicherung des gemeinsamen Überlebens weiter durchsetzt. Ich darf hier die Aufforderung des Kollegen Vogel wiederholen: Herr Bundeskanzler, wir sind der Meinung, die Bundesregierung täte gut daran, das Angebot des Warschauer Pakts für einen konventionellen und nuklearen Gewaltverzicht sorgfältig und positiv zu prüfen. ({40}) Schließlich haben der Westen und hat die Bundesregierung genau das gefordert, als der sowjetische Außenminister vor der 2. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen den Verzicht der Sowjetunion auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen bekanntgegeben hat. Da haben wir gefordert, daß die Sowjetunion das auch auf konventionelle Waffen erstrecken solle. Jetzt erstreckt sie es nach sechs Monaten auf konventionelle Waffen, aber die Bundesregierung tut so, als ob nichts geschehen sei. Das ist nicht in Ordnung. So untergraben wir unsere eigene Glaubwürdigkeit. ({41}) Lassen Sie mich im Rahmen dieser Ausführungen zum Bündnis und zur Strategiedebatte noch ein kurzes Wort zu den Genfer Verhandlungen sagen. Sie sind sowohl für das Verhältnis der Supermächte und der Blöcke zueinander als auch für den Zusammenhalt des Bündnisses von weit größerer Bedeutung, als es der Gegenstand der Verhandlungen selbst ist, der in seiner Bedeutung oft positiv und negativ überschätzt wird. Die Geschichte dieser Verhandlungen in Genf zeigt, daß die Frage der eurostrategischen Waffen von Anfang an nicht nur ein Streitpunkt zwischen uns und der Sowjetunion war, sondern auch ein Gegenstand lebhafter Diskussion mit unseren amerikanischen Freunden. Ich bekräftige dabei zunächst noch einmal unsere Auffassung, daß die gegen alle unsere Einwände fortgesetzte SS-20-Rüstung der Sowjetunion eine geradezu provokatorische Verletzung europäischer Sicherheitsinteressen darstellt. ({42}) Die Diskussion mit den Vereinigten Staaten war von der Sorge der Europäer bestimmt, daß die Vereinigten Staaten mit der Sowjetunion ein ungefähres Gleichgewicht der strategischen Waffen vereinbaren, Westeuropa aber dem Druck des eurostrategischen Potentials der Sowjetunion ausgesetzt lassen könnten. Der Sinn der Initiativen Helmut Schmidts war die Einbeziehung eurostrategischer Waffen und, wie wir hinzufügen, auch der Raketen mit einer Reichweite unter 1 000 km in die Raketenverhandlungen der Supermächte. Wir haben gleichzeitig darauf bestanden, daß sich die NATO nicht nur auf Gegenmaßnahmen vorbereitet, sondern mit der Sowjetunion gleichzeitig Verhandlungen über eurostrategische Waffen führt. Das war in der Rüstungskontrolle übrigens ein großer Schritt nach vorne: Verhandlungen über Waffen, die es noch gar nicht gab. Nach dem NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 stand für diese Verhandlungen ein Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung. Zwei Jahre Dr. Ehmke ({43}) sind aber alleine dafür benötigt worden, erst die Sowjetunion und nach Regierungsantritt von Präsident Reagan auch die USA überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen. Obwohl, Herr Kollege Genscher, der NATO-Doppelbeschluß selbst bestimmt, daß erst im Lichte des Verhandlungsergebnisses entschieden werden solle, was aufgestellt wird, ist in Teilen der Reagan-Administration von Anfang an die Auffassung verbreitet gewesen, der Verhandlungsteil des NATO-Doppelbeschlusses diene mehr der Beruhigung der europäischen Öffentlichkeit; eigentliches Ziel des Beschlusses sei die Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstrekkensysteme in Westeuropa. Diese Auseinandersetzung in Washington dauert bis auf den heutigen Tag an. Wir Sozialdemokraten haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns eine Verhandlungslösung den politischen Vorrang hat. Die beiderseitige Anhäufung von immer mehr Waffen bringt nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für Europa. Diese Einsicht bestimmte auch die Politik der sozialliberalen Bundesregierung. Bundeskanzler Schmidt hat am 1. Oktober 1982 von dieser Stelle aus noch einmal unterstrichen, daß die Aufstellung amerikanischer Raketen für die Bundesrepublik davon abhänge, daß die Genfer Verhandlungen - ich zitiere - „trotz größter Anstrengungen unserer amerikanischen Freunde" dennoch scheiterten. Seit Beginn der Verhandlungen im November 1981 sind die Supermächte aber über die Postulierung ihrer jeweiligen Ideallösungen als Ausgangspositionen nicht hinausgekommen. Die einzige wirkliche Bewegung war der wohlüberlegte informelle Vorschlag von Botschafter Paul Nitze vom Sommer vergangenen Jahres. Er ist von den Sowjets viele Wochen unbeantwortet geblieben und dann von Washington und Moskau abgelehnt worden. Wir sind der Meinung, daß das nicht das letzte Wort sein darf. ({44}) Wir bedauern, Herr Bundeskanzler, daß Sie durch Ihre Zusage an Präsident Reagan, bei einem Scheitern der Genfer Verhandlungen - aus welchen Gründen auch immer sie scheitern - die amerikanischen Waffen in der Bundesrepublik automatisch zu stationieren, den Druck von Washington genommen haben, in Genf zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen. Eine solche Politik ist genauso verfehlt wie eine Politik, die durch die Aussage, unter keinen Umständen zu stationieren, den Druck von der Sowjetunion nimmt. Ich muß an dieser Stelle dem Kollegen Genscher schlicht widersprechen, wenn er den Automatismus verteidigt. Es ist nie ein Automatismus vereinbart worden. ({45}) Nicht nur war die Beschlußlage der SPD anders, sondern - ich sage es noch einmal - der letzte Satz des Doppelbeschlusses selbst heißt, daß im Lichte des Verhandlungsergebnisses entschieden werde. Das setzt voraus, daß überhaupt erst einmal wirklich verhandelt worden ist. ({46}) Das im Dezember 1982 von Generalsekretär Andropow gemachte Angebot ist vom Westen trotz unseres Drängens monatelang unbeantwortet geblieben. Eine Verschwendung kritischer Verhandlungszeit, für die die Bundesregierung Mitverantwortung trägt. Der schließlich nach der Bundestagswahl von Präsident Reagan gemachte Vorschlag einer Zwischenlösung ist zu vage, um die Sowjetunion in Zugzwang bringen zu können. Er rechtfertigt allerdings in keiner Weise die propagandistische Ablehnung dieses Vorschlages durch die Sowjetunion, die uns j a schließlich mit ihrer 55-20-Rüstung das ganze Problem überhaupt erst eingebrockt hat. Wir hätten auf amerikanischer Seite einen in der Sache weitergehenden Vorschlag für richtig gehalten, z. B. das Angebot, das auch im Nitze-Vorschlag enthalten war, war für einen substantiellen Abbau der SS-20-Raketen auf die Aufstellung von Pershing-II-Raketen zu verzichten. Wir bedauern, daß Sie, Herrn Bundeskanzler, sich die amerikanische Ablehnung dieses Vorschlages bei Ihrem letzten Besuch in Washington ausdrücklich zu eigen gemacht haben. Wir bedauern auch, daß der in Punkt 6 der amerikanischen ,,Freeze"-Resolution enthaltene Gedanke einer Verbindung der INF-Verhandlungen mit den Start-Verhandlungen von der amerikanischen Regierung bisher nicht aufgegriffen worden ist. Solche Vorschläge könnten die Sowjets nicht einfach ablehnen, ohne damit vor der Weltöffentlichkeit die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen zu übernehmen. ({47}) Wir selbst sollten uns aber gemeinsam darüber im klaren sein, daß ein tragbares Verhandlungsergebnis politisch wichtiger ist als alles andere, einschließlich einer Zeitplanung, die vor vielen Jahren und unter dem Vorbehalt der Prüfung des Verhandlungsergebnisses beschlossen worden ist. ({48}) Lassen Sie mich in großem Ernst in diesem Zusammenhang aber auch folgendes sagen: Wir hatten Anlaß, Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihnen, Herr Verteidigungsminister, schon vor einigen Monaten darzulegen, daß wir jeden Versuch einer vorgezogenen Stationierung oder Teilstationierung amerikanischer Waffen als einen Wortbruch ansehen würden. Ich kann nur hoffen, daß Sie das in Washington hinreichend deutlich gemacht haben. ({49}) Aus allen diesen Gründen erwarten wir, daß zu Beginn der nächsten Verhandlungsrunde in Genf am 17. Mai ein konkreter westlicher Vorschlag vorgelegt wird. Wir erwarten selbstverständlich auch von der Sowjetunion konkrete, über das Angebot der Andropow-Rede hinausgehende Vorschläge. Einen weiterführenden Schritt hat der Generalsekretär Andropow gestern getan. Wir können uns mit der Vorstellung einer Zwischenlösung, die nicht die Verhandlungen voran124 Dr. Ehmke ({50}) bringt, sondern nur den Beginn der Stationierung ermöglichen soll, nicht einverstanden erklären. ({51}) Um noch einmal Helmut Schmidt zu zitieren: Wir erwarten größte Anstrengungen unserer amerikanischen Freunde in Genf, doch noch zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen. Wir warnen die Bundesregierung und das Bündnis, in einer für das Vertrauen in das Bündnis und seinen Zusammenhalt so zentralen Frage die Schnelligkeit für wichtiger zu halten als die Richtigkeit der Entscheidung. ({52}) Zum dauerhaften Zusammenhalt des Bündnisses benötigen wir mehr als nur jeweilige Regierungsmehrheiten. Wir brauchen eine breite Zustimmung unseres Volkes zur Sicherheitspolitik der Allianz. Wir brauchen dafür vor allem auch die junge Generation, die die Lasten der Sicherheitspolitik, einschließlich des Wehrdienstes, in erster Linie zu tragen haben wird. Eine Sicherheitspolitik, die die Sorgen der Menschen vor dem Wahnsinn des Rüstungswettlaufes nicht praktisch ernst nimmt und darüber hinaus eine Abkehr von der im HarmelBericht niedergelegten vernünftigen NATO-Politik mitmacht oder hinnimmt, einer solchen Politik wird die wichtigste Kraft fehlen: die Überzeugungskraft gegenüber den eigenen Bürgern. ({53}) Herr Bundeskanzler, nachdem Sie in Ihrer Regierungserklärung bei Allgemeinheiten geblieben sind, ist es hohe Zeit, daß Sie mit Ihren vagen Redensarten aufhören und stattdessen noch in dieser Debatte dem Hohen Hause und unserem Volk klipp und klar sagen, woran wir bei Ihnen und Ihrer Regierung mit der Außen- und Sicherheitspolitik sind. - Schönen Dank. ({54})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ehmke hat nach den Ausführungen der Sprecherin der GRÜNEN gesagt, das sei alles nachdenkenswert und diskussionswürdig. Es ist immerhin interessant, zu wissen, was die deutsche Sozialdemokratie für diskussionswürdig hält. Aber da hätten Sie mit der Diskussion wenigstens anfangen sollen, Herr Ehmke. Ich glaube, daß wir das doch auch der Bevölkerung draußen schuldig sind. ({0}) Frau Beck-Oberdorf, Außenpolitik von unten soll gemacht werden. Ich frage Sie: Was hat das den Afghanen genutzt: ihre Friedenssehnsucht und die Außenpolitik von unten, wenn man nicht auch den Frieden oben organisiert? ({1}) Friedenssehnsucht allein hilft eben nicht, den Frieden zu erhalten. Das ist eine bittere Lektion, die wir in der Geschichte gelernt haben. ({2}) Sie haben nebenbei erwähnt, es gehe Ihnen auch um die SS-20. Nun, die sind jahrelang aufgestellt worden. Und erst, nachdem wir gesagt haben, wir wollen ein Gegengewicht schaffen, zeigen sich erste Anzeichen für ein Einlenken der Sowjets. Es müßte doch auch Ihnen zu denken geben, daß mit Ihrer Politik keine einzige SS-20 zu verschrotten wäre. Sie haben dann gesagt, wir sollten die DDR wie Frankreich behandeln. Ich frage Sie: Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, einen Schlußstrich unter die deutsche Geschichte zu ziehen? ({3}) Und wie halten Sie es eigentlich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR? Wo bleibt Berlin? Es gibt noch viele andere Fragen, auf die Sie eine Antwort schuldig sind. ({4}) - Entschuldigen Sie mal! Ich versuche doch nur, ganz sachlich zu ein paar Punkten Stellung zu nehmen, weil ich meine, daß wir Ihnen das schuldig sind. ({5}) Sie haben dann mit Kriegsszenarien hantiert und unsere moralische Rechtfertigung in Frage gestellt. Klar ist: Unsere Strategie dient der Verhinderung jedes Konflikts. Wir stehen moralisch in der Rechtfertigung der westlichen Verteidigungsbereitschaft sehr gut da. Denn die tatsächliche Erhaltung des Friedens ist doch wohl ein hohes moralisches Gut, das es zu wahren gilt. Und die tatsächliche Erhaltung des Friedens ist uns bisher geglückt und wird uns auch weiter glücken, wenn wir weiterhin die richtige Politik machen. ({6}) Nun lassen Sie mich noch einiges zu dem sagen, was mir an den Ausführungen des Oppositionsführers, Herrn Vogel, aufgefallen ist. Er hat dem Bundeskanzler vorgeworfen, er spreche über Abrüstung nur im Konjunktiv - und das angesichts der Bemühungen der Bundesregierung. Herr Vogel, das ist Ihr unseliger Hang, Kritik mit Nörgelei zu verwechseln. Sie sollten da sehr vorsichtig sein. ({7}) Mit Nörgelei dienen Sie weder den deutschen Interessen noch den Interessen Ihrer eigenen Partei. ({8}) Sie haben auch gesagt, der Bundeskanzler habe zu dem Wort der amerikanischen Bischöfe nicht Stellung genommen. Nun, ich kann Ihnen mühelos Stellungnahmen der Bundesregierung zu dem zuleiten, was dort beschlossen worden ist, nämlich ein Einfrieren der Atomrüstung, etwa auch am 27. Oktober vor den Vereinten Nationen. Aber dort ist in diesen Tagen ja auch etwas beschlossen worden, was die Frage der defensiven Option eines atomaren Ersteinsatzes angeht. Und da möchte ich Sie fragen: Wie ist denn eigentlich die Stellung der SPD zu diesem Beschluß der amerikanischen Bischöfe? Wollen Sie die Strategie der NATO aufgeben? Anderen vorzuwerfen, sie nähmen nicht Stellung, aber selber hier nur unverbindliche Streicheleinheiten verteilen, ohne selbst zu sagen, welche Strategie denn für die deutsche Sozialdemokratie gilt, das ist zu billig. Und wer das macht, kann anderen nicht Allgemeinplätze vorwerfen. ({9}) - Ich habe sehr genau zugehört. Herr Vogel, Sie haben dann etwas gemacht, was, wie ich finde, intellektuell nicht redlich ist. - Ist er gar nicht da? Da muß er von Herbert Wehner aber noch etwas lernen: daß man in diesem Deutschen Bundestag bis zum Ende der Debatten da sein muß.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte es angesichts der begrenzten Redezeit so wie die Kollegen vorher halten. Herr Vogel, Sie haben sich selbst bescheinigt, Sie argumentierten kompliziert, und behaupten, wir verträten einfache Parolen. Sie haben gesagt, es sei einfacher, zu sagen, mehr Rüstung bringe mehr Sicherheit. Wer sagt das denn? Die Politik der Bundesregieung heißt: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. Wenn Herr Honecker das verstanden hat, wenn Herr Honecker diese Formulierung verwendet, können wir doch wohl von dem deutschen Oppositionsführer erwarten, daß er ebenso in der Lage ist, dies zu verstehen, und unsere Politik hier nicht falsch darstellt. ({0}) Herr Ehmke, Sie haben im ersten Teil sehr viel Polemik verwandt. Es hat Sie geärgert, daß man diese Regierungserklärung nicht so angreifen kann, wie Sie sich das in den letzten Tagen erträumt haben. Es tut mir leid, daß wir Ihnen hier nicht die gewünschten Angriffsflächen geboten haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Was für diese Koalition gilt, das sind die Formulierungen der Regierungserklärung. Halten Sie sich daran und messen Sie uns an dem, was dort niedergelegt worden ist, und an nichts anderem! Im übrigen spiegelt diese Regierungserklärung das Mandat wider, das der Bundeskanzler persönlich, das aber auch diese Koalition durch die Wähler am 6. März erhalten haben. ({1}) Durch Polemik können Sie hier nachträglich keine zusätzlichen Wählerstimmen gewinnen. Was Ihre ständige Warnung vor einem Rückfall in den Kalten Krieg angeht, darf ich kurz etwas zitieren und Ihnen dann im Anschluß - seien Sie vorsichtig - die Verfasser nennen. Da heißt es in einer Definition: Der Kalte Krieg ist die für das Nachkriegsstadium der sowjetischen Expansionspolitik bezeichnende Methode. Sie entspricht der kommunistischen Absicht, das Nachkriegschaos, die Not und den Hunger, die Unsicherheit, die anwachsenden sozialen Spannungen und Friedenssehnsucht der Völker auszunutzen, um den Sowjets eine weitere Ausweitung ihres Machtblocks zu gestatten. Das ist zitiert aus dem „Handbuch sozialdemokratischer Politik", herausgegeben vom Bundesvorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1953. ({2}) Vielleicht sollten Sie Ihre Geschichtsforschungen insofern gelegentlich auch mal auf Ihre eigene Partei ausdehnen. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist jedermann klar: Diese Bundestagswahl war auch außenpolitisch eine Schlüsselwahl. Wir haben einen klaren Wählerauftrag bekommen. ({4}) Wir sehen mit tiefer Besorgnis - und darum geht es -, daß die Sozialdemokratie drauf und dran ist, sich in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik in Utopien und Illusionen einzuigeln. Der Kollege Waigel hat zu Recht davon gesprochen: Wenn die 50er Jahre grüßen lassen, dann bei Ihnen. Nur, der Unterschied ist eben der, daß es damals noch Männer wie Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer gab, die eine entschiedene Abwehrhaltung gegenüber dem Machtanspruch des Kommunismus und gegenüber den sowjetischen Hegemonialbestrebungen bezogen hatten, während dieses Element heute fehlt, Sie aber in vielen anderen Elementen langsam zu dem zurückkehren, was Sie damals vertreten haben. Meine Damen und Herren, die SPD muß die Realität des kommunistischen Herrschaftssystems, die Realität der sowjetischen Machtpolitik so zur Kenntnis nehmen, wie sie sind, nicht aber so, wie man sie gern hätte. Wir haben in der Raketenfrage einen ganz konkreten Anlaß, die Sozialdemokratie anzusprechen. Sie laufen nicht nur Gefahr, unberechenbaren Emotionen statt rationaler Einsicht zu folgen, - ({5}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind, Herr Ehmke; ich habe Ihnen doch auch mit großer Geduld zugehört. ({6}) Offensichtlich trifft das einen wunden Punkt. ({7}) - Entschuldigen Sie, Sie versuchen sich hier zum großen Wahrer der Kontinuität aufzuspielen, und in Wirklichkeit wäre der Bruch mit der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik von Ihnen gekommen, wenn die alte Regierung am Ruder geblieben wäre. Darum sollten Sie sich Sorgen machen. ({8}) Nachdem Herr Vogel auch heute hier wieder gesagt hat, es reiche, wenn die Sowjets auf ihrer Seite, was die Mittelstreckenraketen angeht, drastisch reduzieren, damit wir unsererseits auf die Nachrüstung verzichten, kann ich nur sagen: Ihre Politik läuft letztlich darauf hinaus, einen Gleichgewichtsverzichtsvertrag mit der Sowjetunion zu befürworten. Dies ist nicht die Politik der NATO, dies ist nicht unsere Politik. ({9}) Die Sowjetunion hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr intensiv ihren Einfluß auf Westeuropa verstärkt. Aber das Bewußtsein der hegemonialen Zielsetzungen der Sowjetunion ist in dieser Zeit weitgehend geschwunden. Die Aggressivität der kommunistischen Ideologie wird vielfach nicht mehr deutlich erkannt. Während der Westen die friedliche Koexistenz fälschlich als statisch mißverstand, als die möglichst lange dauernde spannungsfreie Erhaltung eines gegebenen Zustands, ging es der Sowjetunion um politischen Geländegewinn, um die Ausweitung ihres Einflusses und ihrer Macht. ({10}) - Aber das hat doch mit der Außen- und Sicherheitspolitik zu tun. Herr Ehmke, wir machen doch gerade den Fehler, hier unter Raketen-Experten nur über militärische Dinge zu sprechen, und verkennen dabei die politische Bedeutung dieser Entwicklung. Das muß doch wieder in das Bewußtsein gerufen werden. ({11}) Sie können doch kein Verständnis in der Bevölkerung verlangen, wenn Sie immer nur mit Begriffen wie SS-20, SS-4, SS-5, INF, START usw. herumhantieren, aber die politische Bedrohung, die hinter dieser militärischen Bewaffnung steht, nicht wieder in das Bewußtsein rücken. Darum geht es, auch in dieser Debatte. ({12}) Das politische Ziel dieser sowjetischen Aufrüstung sind eben nicht die USA, sondern ist Westeuropa. Und die Frage muß doch sein, ob wir diese sowjetische Hochrüstung herausgefordert haben. Ich meine, die Antwort kann nur nein lauten; denn ganz sicher haben wir in den letzten zehn, fünfzehn Jahren unsere militärische Stärke weder konventionell noch nuklear erhöht. ({13}) Gibt es also irgendein legitimes Sicherheitsinteresse der Sowjetunion, das die Hochrüstung gegen uns rechtfertigen könnte? Ich meine, auch hierauf kann die Antwort nur nein lauten. Was sollen also die SS-20-Raketen? Natürlich hat die Sowjetunion keineswegs vor, diese Raketen auf uns abzufeuern, um herauszufinden, wer oder was am Ende eines nuklearen Infernos noch übrigbleibt. Entgegen allen Horrorszenarien, die täglich vorgeführt werden, gibt es keine wirkliche Atomkriegsgefahr in Europa. Niemand könnte dabei gewinnen, jeder nur verlieren. ({14}) Wohl aber hat die Sowjetunion herausgefunden, daß die Angst vor einem Atomkrieg ein vorzügliches Mittel der Politik sein kann. Und eben deswegen versucht sie, ein Geschäft mit der Angst zu betreiben. ({15}) Wir sollten dem durch unser eigenes Verhalten nicht entgegenkommen. ({16}) Die SS-20 sind ein Drohpotential. Herr Gansel, wenn ich das noch tun darf, möchte ich den Altkanzler Schmidt zitieren, ({17}) der sehr richtig immer wieder betont hat, daß die politische Handlungsfreiheit Westeuropas durch diese sowjetische Aufrüstung bedroht sei. Am 1. Februar formulierte Helmut Schmidt in einem Fernsehinterview folgendermaßen: ({18}) - Also, haben Sie jetzt auch schon etwas dagegen, daß ich Helmut Schmidt zitiere? Hören Sie erst mal zu! ({19}) Helmut Schmidt im Wortlaut: „eine ernsthafte Bedrohung der Entschlußfreiheit zukünftiger Bundesregierungen". Das war seine Motivation für den Einsatz für die Nachrüstung. Ich muß Ihnen und Ihrem Herrn Vogel die Frage stellen, ob Sie nicht auch diese Gefahr einer Bedrohung der Entschlußfreiheit zukünftiger Bundesregierungen sehen. Wir jedenfalls werden eine Politik machen, die die Entschlußfreiheit dieser Bundesregierung und aller folgenden Bundesregierungen, egal, wer sie bilden wird, sichern wird. Ich meine, Sie sollten uns in dieser Politik unterstützen. ({20}) - Herr Ehmke, wenn Sie sich als jemand, der maßgeblich an den Beschlüssen der NATO mitgewirkt hat, führend an der Flucht vor Ihren eigenen Beschlüssen beteiligen, dann, meine ich, sollten Sie das mit sich selbst im Hinblick auf Ihre Glaubwürdigkeit ausmachen. ({21}) Sie sollten Ihre innere Unruhe, die daraus entstanden ist, nicht hier im Bundestag so deutlich sichtbar demonstrieren. ({22}) Warum setze ich mich eigentlich so intensiv mit Ihnen auseinander? ({23}) Weil Sie auch als Opposition nicht igendwelche Sandkastenspiele vollziehen können, weil wichtig ist, daß die Sowjetunion vor Fehleinschätzungen bewahrt wird. Erst wenn die Sowjetunion von Fehleinschätzungen abrückt, wird es zu weiteren Fortschritten in Genf kommen. Und hier liegt eben auch die Bedeutung der Opposition. Solange sich die Sowjetunion Hoffnungen macht, den NATO-Doppelbeschluß über die Innenpolitik unseres Landes aushebeln zu können, wird sie in Genf keinen Millimeter nachgeben. ({24}) Durch die, milde gesagt, zwiespältige Haltung der deutschen Sozialdemokratie in der Sicherheitspolitik, die Moskau eine westliche Null-Lösung zum Nulltarif vorgaukelt, ist in Genf schon viel wertvolle Zeit verlorengegangen. Wir fordern die SPD deshalb nachdrücklich auf, so schnell wie möglich zu ihrer eigenen Kontinuität deutscher Sicherheitspolitik zurückzukehren. ({25}) Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Allein der Wahlsieg von Helmut Kohl hat einen Bruch in der Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verhindert. Denn die SPD war nicht länger bereit, dem in dieser Frage verantwortungsbewußten Kurs ihres damaligen Kanzlers Helmut Schmidt zu folgen. Das ist die Lage, hier ist die wirklich ernsthafte Bedrohung einer notwendigen Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sollten sich nicht um andere Debatten, die hier stattgefunden haben, scheinheilig Sorgen machen. ({26}) Nun gestatten Sie mir noch ein Wort zur Sowjetunion und - im Anschluß daran - zur innerdeutschen Situation. Die Führung der Sowjetunion sollte sich sehr genau überlegen, ob sie ihre ganze Politik allein auf die Raketenfrage fixiert; denn sie läuft dabei Gefahr, sich politisch selber zu blockieren. Die CDU/ CSU jedenfalls hält eine solche eindimensionale Ausrichtung der deutsch- sowjetischen Beziehungen nicht für weiterführend, sondern für kontraproduktiv. Nun zu den innerdeutschen Beziehungen: Sie waren schwierig, sie sind schwierig, und sie werden auch künftig schwierig bleiben; die vergangenen Wochen haben dies wieder deutlich vor Augen geführt. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der widernatürlichen Teilung des deutschen Volkes. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, man könnte den Deutschen je einreden, diese Teilung als normal zu empfinden und hinzunehmen; sie ist und bleibt unnormal. Eben deshalb darf sich niemand wundern, daß belastende Ereignisse, belastende Entwicklungen starke Emotionen auslösen. In ihnen entlädt sich die ganze Empörung über die Teilung unseres Volkes, in ihnen dokumentiert sich auch die Ablehnung der Unnormalität in Deutschland. Wer diesen psychologischen Aspekt außer acht läßt, mißachtet einen ganz entscheidenden Faktor der innerdeutschen Beziehungen. Die Lage in Deutschland und damit die Lage im Herzen Europas wird sich erst dann normalisieren, wenn auch den Deutschen das Recht auf nationale Selbstbestimmung gewährt wird. ({27}) Jedermann weiß, wie sich die Deutschen dann entscheiden werden, aber niemand weiß, wann das der Fall sein wird. Deswegen bleibt es für die vorausschaubare Zeit eine Hauptaufgabe unserer Politik, die Folgen der Teilung für die Menschen in Deutschland erträglicher zu machen und die Einheit der Nation über die Zeit der Trennung hinweg zu erhalten. Beziehungen zur DDR, dem anderen Staat in Deutschland, spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle. Maßgeblich dafür sind die abgeschlossenen Verträge. Sie müssen eingehalten, ausgefüllt und weiterentwickelt werden. Hier gilt es, sich strikt an den Buchstaben, aber ebenso strikt an den Geist dieser Verträge zu halten. Alle innerdeutschen Verträge und Vereinbarungen sind auf Fortschritte hin programmiert, nicht auf Rückschritte. Wer daher Erreichtes wieder einschränkt oder neue Belastungen schafft, entzieht dieser Vertragspolitik auf Dauer ihre Grundlage. Dies gilt insbesondere für den Bereich der menschlichen Kontakte im geteilten Deutschland. Damit meine ich nicht nur die Besuchsmöglichkeiten, sondern ebenso die Art und Weise des Umgangs von staatlichen Organen mit Besuchern. Gewiß, Freundlichkeit kann man nicht anordnen, aber man kann sie erlauben. Wenn man dem Ziel guter Nachbarschaft wirklich näherkommen will, dann muß es doch wenigstens möglich werden, ohne Angst und Beklemmung von Deutschland nach Deutschland und durch Deutschland zu reisen. ({28}) Vor wenigen Tagen erst hat es Richard von Weizsäcker in einem Interview so formuliert: Entspannung muß sich im Lebensgefühl der Menschen äußern. Sie müssen die Situation als entspannt empfinden. Genau darauf kommt es an. Verträge und Deklarationen können beeindruckend klingen, Papier ist geduldig. Aber das Empfinden der Menschen ist noch immer der beste Prüfstein für die tatsächliche Lage. Mit Verträgen kann man erst dann zufrieden sein, wenn die Empfindungen der Menschen mit papiernen Absichtserklärungen im Einklang stehen. ({29}) Meine Damen und Herren, die vorläufige Absage seines Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland durch Erich Honecker verhindert es, ({30}) die Probleme und Perspektiven der beiderseitigen Beziehungen gegenwärtig auf höchster Ebene zu erörtern. Doch das sollte uns nicht daran hindern, den notwendigen Dialog auf allen sich bietenden Ebenen intensiv und ergebnisorientiert fortzusetzen. ({31}) Wir jedenfalls sind dazu bereit. Neuere Verlautbarungen der DDR lassen erwarten, daß auch dort eine entsprechende Bereitschaft vorhanden ist. Beide Staaten in Deutschland tragen politische Verantwortung, die über den Bereich der gegenseitigen Beziehungen hinausgeht. Wir halten fest an unserer Auffassung, daß beide Staaten unter voller Beachtung ihrer jeweiligen Bündnisverpflichtungen geradezu modellhaft einen Beitrag für eine wirkliche Entspannung zwischen Ost und West leisten könnten ({32}) und in beiderseitigem Interesse auch leisten sollten. Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat deutlich gemacht, daß diese Regierung der Mitte einen klaren und berechenbaren politischen Kurs steuern wird. Sie steht fest an der Seite der freien Staaten des Westens. Sie erfüllt ohne Wenn und Aber ihre Bündnisverpflichtungen, und sie stärkt damit die westliche Gemeinschaft in entscheidender Weise. Sie strebt Zusammenarbeit und fairen Interessenausgleich mit dem Osten an. Aber sie wird sich sowjetischen Machtansprüchen nicht beugen. Sie setzt sich für bessere Beziehungen zur DDR ein, die von Berechenbarkeit, Ausgewogenheit, Vertragstreue und dem Willen zu praktischen Ergebnissen geprägt sind. Die Interessen der Menschen, insbesondere die unserer Landsleute in der DDR, stehen dabei im Mittelpunkt. Grundlegende Rechtspositionen wird sie bei allem nicht antasten lassen. Die Bundesregierung tritt engagiert für eine umfassende Abrüstung ein. Aber sie setzt dabei unsere Sicherheit nicht aufs Spiel. Ihr klares Bekenntnis zum NATO-Doppelbeschluß fördert das Zustandekommen eines ausgewogenen Verhandlungsergebnisses in Genf. Alles in allem: Diese Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl ist eben der beste Garant dafür, daß in einer schwierigen Zeit die notwendigen Entscheidungen getroffen werden zum Wohle unseres Landes. - Schönen Dank. ({33})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Kelly.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Daß die Dinge geschehen, ist nichts, daß sie gewußt werden, ist alles." Liebe Freundinnen und Freunde! Rosa Luxemburg erklärte im September 1913 auf einer politischen Veranstaltung: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffe gegen unsere französischen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Nein, das tun wir nicht." Dieser Humanismus kam einem Hochverrat gleich. Der Richter verurteilte die Angeklagte Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis. Ich spreche dies an in diesem Hohen Haus der vielen Männer und wenigen Frauen, weil die Menschen aus der Friedens- und Ökologiebewegung, für die ich hier spreche, in dieser Tradition der Gewaltfreiheit stehen, im Atomzeitalter auch die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, strikt ablehnen. Der Bundeskanzler, der jetzt wohl nicht hier ist, hat am 25. November 1982 gesagt ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete - Frau Kelly ({0}): Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Einen Augenblick, bitte schön.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Weil wir den Frieden -

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete Kelly, wenn der Präsident Sie unterbricht, dann bitte ich, dies auch zu beachten.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verzeihung.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Der Herr Bundeskanzler ist im Saal. Er ist Abgeordneter und hat natürlich das Recht, sich auf seinem Abgeordnetenplatz niederzulassen.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verzeihung. - Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Weil wir den Frieden erhalten wollen, ist der Gewaltverzicht das Kernstück unserer Sicherheitspolitik. Als eine der Krefelder Mitinitiatoren weiß ich aber leider, welche Diffamierungskampagnen von vielen Herren in diesem Hohen Haus gegen die Friedensbewegung geführt wurden, wie man mit denen umgeht, die nach gewaltfreien Lösungen suchen, die strukturelle und persönliche Gewalt als Mittel der Politik im Sinne von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Albert Schweitzer ablehnen. Es ist eine Ironie, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, von der Politik des Gewaltverzichts sprechen und eventuell in diesem Sommer Gummischrotgeschosse der Polizei eingeführt und gegen gewaltfreie Friedensdemonstranten eingesetzt werden. Es ist eine Perversion, wenn Sie von der Erhaltung des Friedens als oberstem Ziel der Politik sprechen, doch Mitglieder Ihrer Regierung bereit sind, ({0}) die ohnehin schon sehr lockeren Rüstungsexportrichtlinien weiterhin zu lockern. ({1}) Wir werden nicht die Waffenschmiede der Welt, sagte Ihr Vorgänger Helmut Schmidt, sagten auch Sie. Tatsache ist aber, daß die Bundesrepublik heute an vierter Stelle als Spitzenreiter in der Tabelle der Waffenexporteure steht. Hauptabnehmer des deutschen Waffenexports sind südamerikanische Militärdiktaturen, wohin zwei Drittel aller deutschen Waffenexporte gehen. Auch Sozialdemokraten haben ihren Teil dazu beigetragen. Bisher lieferte die BRD Waffen in 72 Staaten. ({2}) Eine Außenpolitik, die daran denkt, Pakistan - ich zitiere - „in seiner besonderen Lage wirksame Hilfe zu leisten", die darangeht, die Militärjunta in der Türkei trotz brutaler Menschenrechtsverletzungen stärker zu unterstützen, wobei an die Türkei als stabilen Vorposten der NATO an der Südostflanke gedacht wird, eine Außenpolitik, die zuläßt, daß vor wenigen Wochen die zweite gebaute Fregatte an die argentinische Marine ausgeliefert worden ist, an das Land der mehr als 15 000 Verschwundenen, von der Junta für tot Erklärten, hat kein Recht, von Entspannungspolitik zu sprechen. ({3}) Dies sind gesetzwidrige Rüstungsgeschäfte, die gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen. Heute morgen haben schon Teile der Friedensbewegung und Teile der GRÜNEN gewaltfrei dagegen protestiert, nur war die Polizei nicht sehr gewaltfrei. Welche Heuchelei für eine sogenannte christliche Regierung, die durch die ungeheuren Summen für Rüstungshaushalt, Stationierungsmaßnahmen und Rüstungsexport eine Politik der Unterschlagung betreibt. Der klare Widerspruch zwischen verschwenderischer Rüstungsproduktion und der Summe unbefriedigter Lebensbedürfnisse - in zwei Sekunden verhungern drei Menschen, jede Minute fast 100; das sind im Jahr zirka 50 Millionen Menschen, die gesamte Einwohnerzahl der Bundesrepublik - ist allein schon ein Angriff auf jene, die ohnehin schon Opfer sind, ein Angriff, der zum Verbrechen wird; denn die Kosten der Rüstung töten im sogenannten Frieden. ({4}) Der Bundeskanzler hat deutlich erkennen lassen - bei seinen sicherheitspolitischen Leitlinien und bei den Leitlinien zur Außenpolitik sowie bei der Beschreibung der NATO- und Dritte-Welt-Politik -, daß diese Bundesregierung - und nicht wir - dabei ist, Gesetze zu brechen, dabei ist, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu mißachten, und damit ihren Regierungsanspruch verwirkt. ({5}) Wir, die grenzüberschreitende und systemsprengende blockfreie Friedensbewegung in Ost und West, werden gegen diese menschenverachtende Politik gewaltfreien Widerstand - sogar im Sinne des Grundgesetzes gegen Erstschlagswaffenstationierung - sowie Gehorsamsverweigerung auf vielen Ebenen leisten. ({6}) Wir als die GRÜNEN im Bundestag werden dabei nicht weniger riskieren als unsere Verbündeten in der außerparlamentarischen Opposition. Ich glaube nicht, Herr Bundeskanzler, daß Sie und Ihre Kollegen für sich in Anspruch nehmen können, nach moralischen Kategorien zu handeln. Sie handeln nur nach Zweckmäßigkeit und nach dem Muster der zynischen Außenpolitik eines Ronald Reagan. ({7}) Demzufolge, Herr Kohl, werden die widerlichsten Militärdiktaturen von Ihrer Bundesregierung unterstützt, wenn es in das außenpolitische Kalkül Ihrer sogenannten christlichen Regierung und in das antikommunistische Weltbild paßt. Ein Bundeskanzler, der ständig von tragischen Ereignissen in Polen und Afghanistan spricht, ist nicht glaubwürdig, wenn er gleichzeitig zur Brutalität der amerikanischen Kriegspolitik in anderen Teilen der Welt schweigt. ({8}) Die Bundesregierung handelt verwerflich - deswegen unser Transparent an diesem Morgen; es war eine gewaltfreie Form von Demonstration -, wenn sie die amerikanische Kriegspolitik in Lateinamerika unterstützt und unter dem Vorwand, sowjetischen Expansionismus eindämmen zu wollen, einen unerklärten Krieg gegen Nicaragua führt. Daß die Bundesregierung sich dabei den amerikanischen Diffamierungskampagnen gegenüber den Verhältnissen in Nicaragua anschließt, jedoch das Regime in El Salvador durch die Entsendung eines Botschafters aufwerten will, zeigt schlaglichtartig ihre Doppelbödigkeit in der Menschenrechtsfrage. ({9}) Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kohl, halten wir Frieden und Menschenrechte für unteilbar. ({10}) Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kohl, setzen wir uns für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker ein, sei es in Afghanistan, seien es die Kurden in der Türkei oder sei es in Nicaragua. ({11}) Wir verurteilen jede Form interventionistischer Politik und fordern Ihre Regierung auf, sich sofort und ohne Vorbehalt für die Ermordung des deutschen Entwicklungshelfers und Arztes Dr. Albert Pflaum in Nicaragua mitverantwortlich zu erklären. ({12}) Durch Ihr Schweigen wie auch durch Ihr Handeln in der Zentralamerikapolitik - Sie haben Nicaragua heute morgen nicht einmal mit einem Wort erwähnt - ist die Bundesregierung an der Ermordung ihres eigenen Entwicklungshelfers mitschuldig. ({13}) - Das ist vielleicht sehr unglaublich, aber wir meinen, daß die GRÜNEN die Dinge beim Namen nennen sollten. Wir meinen, daß der Tod von Dr. Pflaum ebenso hätte dazu führen müssen, daß wir in diesem Bundestag heute morgen aufstehen und an ihn denken. ({14}) Im Keller des Westens sowie im Keller des Ostens sind, Herr Kohl, sehr viele Leichen; nicht nur im Keller des Ostens. Die Friedensbewegung in Ost und West ist untereinander loyal und nicht den Militärblöcken gegenüber. ({15}) - Meine Herren, Sie wirken sehr infantil, wenn Sie nicht in der Lage sind, jemanden hier ausreden zu lassen. ({16}) Wir werden bei Ihrer Europapolitik sehr wachsam sein, Herr Kohl, und warnen vor dem Blickfeld, in dem die jetzige Europäische Gemeinschaft, der ich neun Jahre angehört habe - ich weiß sehr wohl, was dort vorbereitet wird -, zur Basis der europäischen NATO-Säule werden könnte. Wir verurteilen eine Verstärkung sowie Europäisierung der Verteidigungsstrukturen in Westeuropa sowie jeden Baustein auf dem Weg zu einer Strauß-Thatcher-Kohl-europäischen Atomstreitmacht. Wir lehnen eine europäische Agentur für Rüstungsbeschaffung ab, und wir streben eine ökologische zivile Gemeinschaft der dezentralen und selbstbestimmten Regionen Europas an. Da die Gesetze für das Leben und Überleben von Ihrer Regierung ständig gebrochen werden, rufen wir hiermit zum außerparlamentarischen gewaltfreien Widerstand gegen die Militarisierung und Nuklearisierung in diesem Land auf. Das tun nicht nur wir, sondern auch die außerparlamentarische Bewegung in ganz Europa, in Amerika, in Japan und auch in Osteuropa von unten rufen dazu auf. ({17}) Wir sprechen den Regierenden das Recht ab, weiterhin in unserem Namen zu handeln und mit ihrer angeblichen Sicherheitspolitik alles Leben zu gefährden, das sie zu verteidigen vorgeben. ({18}) Nicht nur die amerikanischen Bischöfe sind auf der Seite der GRÜNEN, ({19}) sondern es sind auch sehr viele Generäle und Admirale, die sich als Generäle für den Frieden zusammengeschlossen haben, ({20}) die genau vor einigen Wochen gewaltfrei vor einer Kaserne in Nürnberg demonstriert haben. ({21}) Wir stehen nicht allein, sondern zusammen mit der Freeze-Bewegung in den USA, mit vielen Kongreßabgeordneten und Senatoren, mit unseren Freunden in der Solidarnosc, in der Charta 77 sowie in der Schwerter-zu-Pflugscharen-Bewegung in der DDR, mit Aktionsgruppen in allen Teilen der Welt werden wir unserer Pflicht zum bürgerlichen Ungehorsam nachkommen. ({22}) Es bleibt die Hoffnung, den von Ihnen mit zu verantwortenden atomaren Holocaust zu verhindern. Wir lassen auf jeden Fall nicht zu, daß Gerichte, daß Herrschende, daß die Polizei und wer sonst noch, die selbst Gewalt anwenden, unseren Begriff von Gewaltfreiheit selbst definieren und uns die moralische Integrität absprechen. ({23}) Vielleicht sollten viele von Ihnen nicht über den Wehrkundeunterricht sprechen, vielleicht sollten viele von Ihnen zu den Begriffen zurückgehen, die Jesus in der Bergpredigt geprägt hat, die Mahatma Gandhi, Bertha von Suttner und Rosa Luxemburg geprägt haben. Vielleicht sollten Sie in Ihrem Bildungsunterricht zu denjenigen zurückgehen, die Gewaltfreiheit als ein Mittel der Politik gesehen haben. ({24}) Die Begriffe der Blockade in Großengstingen in Baden-Württemberg und die Begriffe von Wyhl, der Widerstand, der diese GRÜNEN überhaupt in dieses Parlament hineingetragen hat - das waren nicht die Medien, das war die Bewegung - sind für uns symbolisch. ({25}) Vielleicht sollten Sie das noch hören, daß wir bitten und daß wir fordern, daß Großengstingen und Wyhl zum Widerstandssymbol überall werden, auch in diesem gewaltfreien und vielleicht für Sie - nicht für uns - heißen Herbst, auch in Bonn, dem politischen Stationierungsort der amerikanischen Erstschlagwaffen. Wo Recht zu Unrecht wird, wird gewaltfreier Widerstand zur Pflicht. ({26})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.

Helmut Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001932, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich hätte gern dem Brauch einiger Kollegen Folge geleistet und der Dame, die gerade vor mir sprach, gratuliert. Ich bin dazu allerdings nicht in der Lage, Frau Kelly. Ihr Auftritt, den Sie hier gerade vor dem deutschen Parlament gegeben haben, spricht eigentlich gegen Ihre Bewegung. Denn wenn Sie hier für Gewaltfreiheit und in sehr deutlichen Worten auch gegen all das, was wir hier tun, in derartiger Form auftreten, dann muß man ernsthaft fragen: ist das, was Sie hier gesagt haben, nicht eher von Haß erfüllt ({0}) und widerspricht völlig dem, was Sie fordern? Ich freue mich darauf, Frau Kelly, daß Sie in Kürze eine Kollegin von mir im Auswärtigen Ausschuß sein werden. Ich habe gehört, daß ich neben Ihnen in Kürze sitzen darf. Vielleicht werden Sie in den nächsten Jahren - das ist jetzt bitte keine Überheblichkeit und auch kein Zynismus - Gelegenheit haben, mal die Themen mitzustudieren, mit denen wir uns im politischen Alltag jeden Tag auch zu beschäftigen haben, die Sie aber nicht erwähnen, indem Sie sich auf Ihre Lieblingsthemen zurückziehen. ({1}) - Gestatten Sie mir: als Vertreter der FDP habe ich jetzt genau zehn Minuten, und zwei sind schon abgelaufen. Ich komme noch nicht mal dazu, hier ein Konzept vorzutragen, das geschlossen ist. Ich bitte im voraus um Nachsicht. Sehen Sie, bevor Sie einen Menschen kennen - das ist mir in vielen Veranstaltungen mit Leuten Ihrer Art passiert -, da geht schon der Vorhang herunter: wir sind etabliert, wir gehören zu der Gruppe, die all das, was sie sagt, ja gar nicht glaubt, nicht verwirklichen will. Das ist genau der Stil, in dem wir hier, glaube ich, nicht zusammen arbeiten können - bei allem guten Willen von uns. ({2}) Es ist in der Regierungserklärung keineswegs, wie das Frau Kelly dargestellt hat, nun alles in eine Richtung gelaufen, die Sie so gern darstellen möchten draußen, als seien wir z. B. diejenigen, die den Atomkrieg vorbereiten wollten. ({3}) - Gesetze brechen. - Sie reden von einem Widerstandsrecht, liebe Frau Kelly, das Sie sich vielleicht im Grundgesetz erst einmal genauer ansehen sollten, wie es dort formuliert ist. Ihre Interpretation von Widerstandsrecht ist nicht einleuchtend für mich; das muß ich Ihnen ganz klar sagen. ({4}) Ich sage Ihnen: Wir müssen hier einen Stil finden, miteinander über sehr wesentliche Fragen dieser Nation zu diskutieren, die Sie nicht einfach wegdiskutieren können. Sie können sich die Welt, die Sie gern hätten, nicht durch Absichtserklärungen schaffen, sondern Sie haben Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. ({5}) - Kein Mensch in diesem Saal ist für die Nachrüstung, sondern wir sind dafür, daß landgestützte Mittelstreckenraketen abgebaut werden. Das ist in der heutigen Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers, in der Rede des Herrn Bundesaußenministers und in den Reden aller unserer Kollegen, auch der SPD, deutlich geworden. Aber wir können nicht davon ausgehen, daß dann, wenn wir gar nichts tun, sich die Weltsituation etwa verbessert oder die Bedrohung von Deutschland abgewendet wird, die ja nicht durch die Aufstellung amerikanischer Raketen hervorgerufen wurde, sondern durch die Aufstellung sowjetischer Raketen. Damit hätten Sie sich in Ihrem Beitrag zumindest auch einmal beschäftigen müssen. ({6}) Wenn Sie hier solche massiven Vorwürfe erheben, dann ist Ihnen sicher verborgen geblieben, wie sehr gerade diese Regierung bemüht ist, das, was in den vergangenen Jahren außenpolitisch erreicht Schäfer ({7}) worden ist, auszubauen und fortzusetzen, auch gegenüber den Vereinigten Staaten. ({8}) Wenn es gelingen wird, die Madrider Folgekonferenz gut zu beenden - und wir sind auf dem Weg dazu - und eine europäische Abrüstungskonferenz zu schaffen, die sich zum erstenmal mit ganz Europa befassen wird, dann können Sie uns hier nicht den Vorwurf machen, uns sei am Frieden nicht gelegen. Wir leisten dafür konkrete Arbeit, was Sie offensichtlich allerdings nicht zu tun gedenken, denn Sie erschöpfen sich in Gemeinplätzen und in Pauschalattacken, die in dieser Form zurückzuweisen sind. ({9}) Meine Damen und Herren, ich habe sehr wenig Zeit, und ich kann nur mit einigen Bemerkungen auf einen Bereich eingehen, den man heute bereits mehrfach angesprochen hat. Frau Kelly hat sich darüber beklagt, daß er nicht genug angesprochen worden ist. Es geht um unser Verhältnis zur Dritten Welt, um unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und um das Spannungsverhältnis, das gelegentlich - das gebe ich Ihnen zu - dadurch entsteht. Ich bedaure, daß eine Presseerklärung, die ich heute vormittag abgegeben habe, etwas aus dem Zusammenhang gerissen, verschärft und verkürzt, zu einem kurzen Konflikt mit dem Herrn Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit geführt hat. Ich habe mich nämlich zu dem Mord an dem deutschen Entwicklungshelfer in Nicaragua geäußert. Nachdem heute vormittag eine Radiomeldung gekommen war, in der der Eindruck erweckt wurde, dieser Mord habe dazu geführt, daß man jetzt prüfe, ob wir weiter Entwicklungshilfe an Nicaragua zahlen sollten, war ich - ich bitte um Ihr Verständnis - etwas erregt. Ich möchte nur eines sehr deutlich machen. Natürlich bedeutet deutsch-amerikanische Freundschaft nicht, daß wir in allen Punkten mit den Vorstellungen der derzeitigen amerikanischen Regierung übereinstimmen. Wir stimmen aber sehr wohl mit einer Mehrheit im amerikanische Kongreß überein, die j a auch bestimmte Entwicklungen in der Dritten Welt und bestimmte Äußerungen amerikanischer Politiker dazu kritisiert. Ich habe mich heute morgen auf einen beachtlichen Vorgang in den Vereinigten Staaten bezogen, nämlich auf den Vorgang, daß der zuständige Unterausschuß des amerikanischen Senats heute nacht die amerikanische Regierung aufgefordert hat, keinerlei Gelder mehr für Aktionen des CIA in Honduras zu geben. Ich erwähne das hier, weil ich es für eine sehr positive Entscheidung dieses Unterausschusses des amerikanischen Kongresses halte. Meine Damen und Herren, ich glaube nicht - auch da darf ich wieder an das anschließen, was Sie hier sehr kritisch bemerkt haben -, daß wir in der außerordentlich schwierigen Debatte in der deutschen Öffentlichkeit - auch mit unserer Jugend - unsere Glaubwürdigkeit wahren können, wenn uns immer wieder der Vorwurf gemacht wird, wir bezögen uns in unserer leidenschaftlichen Kritik allein auf Vorgänge wie die sowjetische Invasion in Afghanistan, die wir hier leidenschaftlich zurückgewiesen haben, auf Vorgänge wie die Anwesenheit kubanischer Truppen in Angola, wir bezögen uns also nur auf Aktivitäten des Ostblocks und auf Menschenrechtsverletzungen östlicher Regierungen. Wie werden in allen Diskussionen auch deutlich zu machen haben, daß wir auch im Westen Konfrontationspolitik, etwa in Lateinamerika, nicht für glücklich halten, sondern daß es unsere Aufgabe sein muß, friedliche Lösungen, Verhandlungslösungen, herbeizuführen. Da meine ich, wir sollten gerade im lateinamerikanischen Raum unsere europäische Politik, die ich für gut halte, fortsetzen, auch wenn sie nicht von allen Beratern des amerikanischen Präsidenten gutgeheißen wird. Es sollte uns auch niemand davon abhalten, mit aller Deutlichkeit für die Menschenrechte auch in diesen Staaten einzutreten und deutlich zu machen, daß man dort nicht Lösungen herbeischießen lassen kann, daß man dort nicht Regime militärisch unterstützen darf, die keinen Ansatz für langfristige Lösungen bieten, und daß man nicht ungeliebte Regime - und ich gebe zu, daß das sandinistische Regime sich auch Kritik von uns gefallen lassen muß, weil es totalitäre Tendenzen hat - durch militärische Aktionen zu Fall bringen soll, von wem auch immer diese ausgehen und von wem auch immer sie finanziert und unterstützt werden. Das ist ein Anspruch, den der amerikanische Senat und der amerikanische Kongreß insgesamt ganz klar und deutlich gemacht haben. Es wäre unsinnig, so zu tun, als wäre es schon Antiamerikanismus, wenn wir das hier erwähnen, weil wir glauben, daß die Glaubwürdigkeit unserer europäischen Abrüstungspolitik und unserer europäischen DritteWelt-Politik erschüttert werden kann, wenn in bestimmten Bereichen der Dritten Welt plötzlich andere Gesetze gelten, als sie gegenüber dem Osten gelten. Daran sollten wir, glaube ich, in unserer Kritik nicht vorbeigehen; und wir sollten hier auch nicht so tun, als wäre alles, was in Lateinamerika geschieht, in Ordnung. Wir sollten Menschenrechtsverletzungen nicht nur im Ostblock und nicht ausschließlich gegenüber der Sowjetunion kritisieren. ({10}) Meine Damen und Herren, das sage ich hier nicht zum erstenmal. Ich glaube, daß sehr viele Kollegen im amerikanischen Kongreß mit dieser Meinung übereinstimmen, weil sie auch im Interesse der Vereinigten Staaten ist und für unsere westlichen Werte steht, die wir hier so oft beschwören. Wir müssen im Interesse der Gemeinsamkeit dieser Werte daran interessiert sein, andere Methoden und andere Mittel anzuwenden, um zu einer friedlichen Welt zu kommen, in der wirklich kein Hunger mehr herrscht. Noch ein Wort. Frau Kelly, auch mit der Lösung der Hungerprobleme ist es nicht so einfach, wie Sie es dargestellt haben. Die Menschen, von denen Sie gesprochen haben, verhungern nicht deshalb, weil Schäfer ({11}) wir Waffen in diese Länder liefern, sondern sie leiden auch deshalb, weil ihre eigenen Regierungen in der Dritten Welt eine zum Teil verantwortungslose Waffenimportpolitik betreiben, um sich vor fiktiven oder wirklich vorhandenen Feinden zu schützen. Sie sollten bitte aufhören, ständig uns dafür verantwortlich zu machen. Wenn die Dritte-Welt-Politik überhaupt noch einen Sinn haben kann und soll, dann ist es nicht nur die Verantwortung der Industriestaaten, dort zu helfen, sondern es ist auch die Verantwortung dieser Länder, dafür Sorge zu tragen, daß sie aus eigener Kraft weiterkommen, was nicht allein von uns abhängig sein kann. ({12}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten dieser Regierung die Chance geben, ihre außenpolitische Linie, ihre sicherheitspolitische Linie fortzusetzen. Wir sollten nicht so tun, als hätten wir nun eine völlige Veränderung. Ein letztes Wort zu Herrn Ehmke. Lieber Herr Ehmke, mir ist in keiner Besprechung meiner Fraktion aufgefallen, daß das Papier, von dem Sie hier so häufig gesprochen haben, ernsthaft Gegenstand von Verhandlungen in der Koalition gewesen ist. ({13}) Ich muß auch noch einmal sehr deutlich sagen: Ich beschäftige mich nur mit Papers, nicht mit Non-Papers. Ich sehe die von Ihnen zitierten Papiere, die in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden, als Non-Papers an. - Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Voigt ({0}).

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat nach meiner Meinung zumindest schon eines gezeigt, nämlich daß es ganz sinnvoll sein kann, wenn die GRÜNEN oder einige von ihnen das erste Mal in voller Realität erfahren, was CDU/CSU bedeutet. Sie werden die nächsten Jahre das Vergnügen haben, das weiter erfahren zu können. Es kann auch ganz sinnvoll sein, wenn offensichtlich große Teile der CDU/CSU das erste Mai in vollem Umfang wahrnehmen, was grüne Politik bedeutet. ({0}) Ich bitte Sie darum, auch wenn Sie mit dem, was die GRÜNEN sagen, nicht einverstanden sind, doch mit etwas größerer Toleranz und Aufmerksamkeit als bisher zu reagieren. ({1}) Bundeskanzler Schmidt ist es durch seine Politik gelungen, die beiden nuklearen Weltmächte in Genf an den Verhandlungstisch zu bringen. Wir werden die Bundesregierung daran messen, was sie tut, damit es in Genf zu einem Verhandlungsergebnis kommt, und zwar zu einem Ergebnis, das als Konsequenz einer drastischen sowjetischen Reduzierung die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen überflüssig macht. Es geht nicht um vorweggenommene Schuldzuweisungen, wohl aber um eine klare und eindeutige Zuordnung von politischer Verantwortung. Es wird nur dann zur Stationierung dieser neuen amerikanischen Mittelstrekkenwaffen kommen, wenn Politiker versagt haben. Diese Feststellung ist Ausdruck der Erkenntnis, daß in Genf ausgewogene Kompromisse, die eine Stationierung überflüssig machen, objektiv denkbar wären. Um es umgekehrt zu formulieren: Wenn es nicht zu einem Ergebnis oder nicht zu diesem Ergebnis kommt, dann ist es nicht die Verantwortung von katholischen oder evangelischen Bischöfen, auch nicht die Verantwortung der Friedensbewegung, sondern dann ist es jenen Politikern in Ost und West anzulasten, die in ihrer Regierungsverantwortung den Verlauf und die Ergebnisse der Genfer Verhandlungen positiv hätten beeinflussen können und dies nicht genügend getan haben. ({2}) Nach meiner Meinung haben sie bisher sowohl in Ost als auch in West die Verhandlungen nicht mit ausreichender Kompromißbereitschaft geführt. ({3}) Der politische Schaden, der durch ein Scheitern der Genfer Verhandlungen entstünde, kann nicht durch Polizisten behoben werden. Dies kann auch nicht die Aufgabe der Polizei sein. Im Interesse von uns allen ist es dann - auch das ist die Aufgabe der Polizei -, das Recht auf friedliche Demonstration zu schützen, die Einhaltung der Rechtsordnung mit angemessenen Mitteln zu gewährleisten und eine Eskalation der Gewalttätigkeit soweit wie möglich zu verhindern. ({4}) Bei dieser Aufgabe verdient sie die Unterstützung aller demokratischen Politiker. Sprecher der Friedensbewegung haben immer wieder unterstrichen und betont, daß sie am friedlichen Verlauf ihrer Kundgebungen und Demonstrationen interessiert sind. Die pauschale Diffamierung der Friedensbewegung durch Politiker vor allen Dingen der Regierungskoalition, insbesondere solcher aus dem Innenministerium - wenn ich einmal den Kollegen Spranger namentlich hervorheben darf, ohne ihn besonders lobend erwähnen zu wollen -, lösen bei der Friedensbewegung zu Recht Empörung aus. Diese Empörung droht von einer wachsenden Verbitterung über solche Politiker und die Institutionen, die sie repräsentieren, begleitet zu werden. Verbitterung könnte Gewalttätigkeit provozieren. Wer dafür nicht mitverantwortlich werden will, muß deshalb die Friedensbewegung gegen ungerechtfertigte Diffamierungen in Schutz nehmen. Das werden wir Sozialdemokraten auch tun. Die geplante Änderungen des Demonstrationsrechts sind ebenso falsch wie die faktische Ein134 Voigt ({5}) schränkung des Demonstrationsrechts in BadenWürttemberg durch die Einführung einer Gebührenordnung. Sie sind in ihren bereits heute absehbaren politischen Wirkungen verhängnisvoll. Diese Einschränkungen des Demonstrationsrechts wirken nicht friedensstiftend. Im Gegenteil: Sie tragen zur Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte bei. Sie können zur Ursache von Gewalttätigkeit werden, obwohl sie formal mit der Absicht begründet werden, Gewalttätigkeit zu blockieren. ({6}) Sie stiften Unfrieden. Sie sind Ausdruck des Unverständnisses und des Mißtrauens der Koalitionsparteien gegenüber der Friedensbewegung und kritischen Bürgern überhaupt. Wenn Bundeskanzler Kohl in seiner durchaus nicht sehr kurzen, sondern sehr langen Regierungserklärung das Wort Friedensbewegung nicht ein einziges Mal und den Begriff Friedensforschung ebenfalls nicht erwähnt - und erst recht natürlich beide nicht unterstützt -, dann kann das nur mit tiefer Sorge hinsichtlich des Geistes erfüllen, der in den Köpfen solcher Politiker beherbergt ist, die Konzeptionen der Regierungen entwerfen. ({7}) Die Bundesregierung fordert die rationale Diskussion über die Sicherheitspolitik. Aber sie fördert sie nicht. Sie fördert sie dann nicht, wenn Mitglieder der Bundesregierung Vertreter alternativer sicherheitspolitischer Konzeptionen als bewußte oder unbewußte Helfershelfer sowjetischer Machtpolitik verdächtigen. In der Kritik aus der Friedensbewegung an der heute gültigen Sicherheitspolitik, die übrigens in manchen Punkten auch von Angehörigen der Bundeswehr geteilt wird, äußert sich ein persönliches Leiden an der Wirklichkeit, das unseren Respekt verdient, auch wenn wir nicht in allen Punkten und Konsequenzen übereinstimmen. Diesen Respekt sollte auch die Bundesregierung ausdrücken. Dieses Leiden an der Wirklichkeit entsteht aus dem Bewußtsein eines wachsenden Widerspruchs zwischen Abrüstungsstreben und Abrüstungsdeklarationen einerseits und der Realität der wachsenden Aufrüstung andererseits. Die Erfahrung, daß die bisherige Politik unfähig war, diesen Widerspruch zu verringern oder gar aufzuheben, verstärkt den Legitimationsverlust traditioneller Friedens- und Sicherheitspolitik. Diese Kritik sollte von Vertretern der Bundesregierung und Regierungskoalition nicht als Flucht aus der Wirklichkeit pauschal zurückgewiesen werden. Sie verdient es, als Ausdruck des Leidens an der Wirklichkeit und als Ausdruck einer auch für mich nachvollziehbaren Einsicht in die Unzulänglichkeit der bisherigen Ergebnisse rüstungskontrolipolitischer Verhandlungen ernst genommen zu werden. Allerdings: Obwohl die Ergebnisse von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen bisher unbefriedigend waren, gibt es bislang keinen besseren und erfolgversprechenderen Weg zur Abrüstung als den Weg des wechselseitigen Interessenausgleichs, den Weg der Verhandlungen. ({8}) Die SPD bleibt die Partei der Verhandlungen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Kritiker der bisherigen Rüstungskontrollpolitik keine erfolgversprechenderen, aussichtsreicheren Konzeptionen vorgelegt haben, werden wir auf diesem Konzept beharren und im Sinne dieses Konzeptes drängen. ({9}) Wer in der Friedensbewegung überzeugen will, muß durch die Glaubwürdigkeit seiner friedens- und abrüstungspolitischen Ziele und Praxis überzeugen können. Wer den Irrationalismus alternativer sicherheitspolitischer Vorstellungen beklagt, muß in der Lage sein, die Rationalität seiner Sicherheitspolitik glaubwürdig zu begründen, oder er muß bereit sein, seine bisherige Sicherheitspolitik neu zu überdenken. Solange im Bündnis nicht über eine neue Strategie entschieden worden ist, gilt die bisherige. ({10}) Aber wir Sozialdemokraten sind der Meinung, daß es Anlaß und Ursachen gibt, die bisherige Militärstrategie des westlichen Bündnisses zu überdenken. Aber wo sind die bisherigen Beiträge der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Strategie des westlichen Bündnisses? Auch hier hat Bundeskanzler Helmut Schmidt - auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt - allein mehr zur Strategiedebatte beigetragen als alle Mitglieder der neuen Bundesregierung zusammengenommen. Die SPD wird sich insgesamt mit konstruktiven Vorschlägen an dieser Strategiedebatte beteiligen. Einige unserer Überlegungen sind z. B., daß jetzt einseitig die Zahl der nuklearen Gefechtsfeldwaffen verringert werden kann, daß langfristig die Rolle der nuklearen Gefechtsfeldwaffen völlig neu überdacht werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch unser Vorschlag einer positiven Diskussion über den Palme-Vorschlag zu sehen. Nach unserer Auffassung ist die Rolle der chemischen Waffen neu zu überdenken, nicht im Sinne des Rogers-Plans betreffend eine Einbettung in die Doktrin der flexiblen Antwort der NATO, sondern im Sinne der Möglichkeit, chemische Waffen vom Territorium der Bundesrepublik auch einseitig abzuziehen. Was Horst Ehmke angedeutet hat, ist eigentlich weitgehend bereits auch Konsens in der SPD-Fraktion, nämlich daß man bisherige nukleare Waffen, die zur Abriegelung z. B. von Truppenzuführungen im Hinterland eines potentiellen Gegners gedacht sind, auf längere Sicht durch konventionelle Waffen ersetzen kann. Das bedeutet, daß die militärische Funktion zumindest der Pershing 2, aber auch der Cruise Missile neu überdacht und hinterfragt werden muß. Allerdings möchte ich in diesem Zusammenhang auch vor einer Militarisierung in unserem Reden und Denken warnen. Die mit dem Ost-West-Konflikt verbundenen militärischen Risiken können nicht dadurch überwunden werden, daß man sich vorrangig oder ausschließlich auf die Diskussion alternativer verteidigungspolitischer Konzeptionen und neuer Militärstrategien fixiert. Wer in der Sowjetunion nur das Reich des Bösen zu sehen imVoigt ({11}) stande ist, wird zu einer westlichen Strategie gegenüber der Sowjetunion kaum Konstruktives beitragen können. Wir brauchen keine neuen Religionskriege, sonder eine aktive Friedens- und Verständigungspolitik. Wir brauchen einen neuen „Westfälischen Frieden" ohne vorangegangene Religionskriege. Die Vorstellung konservativer Sicherheitspolitiker, daß zusätzliche Waffenbeschaffungen mehr oder weniger automatisch auch einen zusätzlichen Gewinn an eigener Sicherheit bewirken, wird zu Recht von großen Teilen der Bürger nicht mehr ohne weiteres vollzogen. Zu Recht warnen Bischöfe und Wissenschaftler ebenso wie die Friedensbewegung vor den Risiken des anhaltenden Wettrüstens und der Rüstungsdynamik. Ich möchte nachdrücklich der Auffassung des von mir sonst - auch wenn er häufig eine andere Meinung hat - sehr geschätzten Staatsministers im Auswärtigen Amt, Mertes, widersprechen, der im Ost-West-Konflikt zur Zeit das Risiko der Erpreßbarkeit und Einschüchterung durch die Sowjetunion gefährlicher einschätzt als die Gefahren, die - so wörtlich - „durch ungelöste politische Streitfragen, durch ungehemmte Weiterverbreitung und Weitervermehrung von Kernwaffen, durch technische und psychologische Kalkulationsfehler, kurzum durch menschliches Versagen ohne Angriffsabsicht" entstehen könnten. Kollege Mertes wendet sich auch gegen den Begriff und das Konzept einer Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West. Wir halten daran fest. Wir tun das deshalb, weil in dem Begriff angedeutet ist, worum es geht. Es geht tatsächlich um einen anderen Umgang mit einem potentiellen militärischen Gegner und mit einem ideologischen Kontrahenten. Wer zu diesem anderen Umgang mit der Sowjetunion im Zeitalter der Nuklearwaffen nicht bereit ist, wird, auf Dauer gesehen, nicht Abrüstung bewirken und nicht Frieden sichern können. Aus diesem Grunde - nicht nur wegen des Begriffs, sondern wegen der Sache - halten wir an diesem Konzept fest. Zuletzt lassen Sie mich hier wiederholen, was wir während des Wahlkampfs und auch schon in der Schlußphase der sozialliberalen Koalition gesagt haben. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird im neuen Bundestag eine parlamentarische Initiative mit dem Ziel einbringen, die Bundesregierung aufzufordern, die für eine eventuelle Stationierung von Pershing 2-Raketen, Cruise Missiles, Marschflugkörpern vorgesehenen Orte öffentlich bekanntzugeben. Wir fordern auch die Offenlegung der bisher geheimgehaltenen Lagerungsstätten für chemische Waffen. Die bisherige Praxis der Geheimhaltung ist militärisch nicht erforderlich und politisch falsch. Mehr Öffentlichkeit und Durchschaubarkeit militärischer Planung und Entscheidung können zum Abbau von Mißtrauen und zur Versachlichung der sicherheitspolitischen Diskussion in der Bevölkerung beitragen. Dieses Vertrauen ist erforderlich. Dafür muß man praktisch etwas tun. Zuallerletzt: Mir ist bei Bundesaußenminister Genscher etwas aufgefallen. Er hat früher in Debatten für die Zukunft Jahre der Abrüstung angekündigt. Jetzt spricht er von Jahren der Entscheidung und den Jahren der Krise. ({12}) Bedeutet es, daß er die Hoffnung auf Abrüstung preisgegeben hat und daß er uns zu Entscheidungen bewegen will, die Aufrüstung bedeuten? Dann würde er auf unseren Widerspruch stoßen. Denn eine Automatik solcher Entscheidungen werden wir nicht unterstützen. ({13})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Bastian. ({0})

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie können mich ja tragen, wenn Sie wollen. Ich habe nichts dagegen. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung, über die wir heute hier sprechen, kommt in ihren sicherheitspolitischen Aussagen, zu denen ich mich leider nur kurz äußern kann, eher einer Bankrotterklärung gleich. ({1}) Daran ändert auch der Versuch eines etwas unbeholfen wirkenden Taktikunterrichts durch den Kollegen Rühe, der nachgeschoben wurde, wenig. ({2}) Einer Bankrotterklärung nämlich, weil der Bundeskanzler leider nur die sattsam bekannten Täuschungsformeln wie sogenannte Nachrüstung, sogenannter Doppelbeschluß, sogenannte NullLösung - ({3}) - Ja, ich weiß Ihre geistreichen Äußerungen schon zu bewundern. Sie brauchen sie nicht immer wieder unter Beweis zu stellen. ({4}) Es ist in dem, was vorhin gesagt wurde, schon deutlich genug geworden. Der Bundeskanzler hat sich leider darauf beschränkt, die sattsam bekannten Täuschungsformeln zu wiederholen, mit denen der Weg in die sicherheitspolitische Sackgasse unserer Tage gepflastert ist, statt auch nur einen einzigen neuen und konstruktiven Gedanken zu äußern, aus dem erkennbar geworden wäre, welchen Beitrag die Bundesregierung zur Überwindung der Stagnation und zur Dämpfung der wiederbeginnenden Konfrontation im Ost-West-Verhältnis zu leisten ge136 denkt und wie sie sich die überfällige Ablösung der unseligen Teilung unseres Kontinents in zwei waffenstarrende Militärblöcke durch eine tragfähigere europäische Friedensordnung überhaupt vorstellt. Aussagen dazu sind jedoch vom Regierungschef eines Landes zu fordern, dessen historisches Erbe es allen Deutschen zur besonderen Pflicht macht, nun endlich Wege aus der Europa belastenden Hinterlassenschaft des 2. Weltkriegs zu suchen. ({5}) Solche Aussagen hätten dem Kanzler deshalb besser zu Gesicht gestanden als die nebelhaft pathetischen, aber angesichts der gleichzeitig geschaffenen Tatsachen unglaubhaften Bekundungen einer angeblichen Abrüstungs- und Entspannungsbereitschaft. Wie soll es denn auch zusammenpassen, wenn der Bundeskanzler einerseits versichert, Frieden mit immer weniger Waffen schaffen zu wollen, und andererseits die bevorstehende Aufrüstung unseres Landes zur Abschußrampe neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen ohne jede einschränkende Bedingung gutheißt? ({6}) Der Bundeskanzler weiß doch ganz genau - und wenn er es nicht weiß, kann er es sich von seinem Verteidigungsminister sicher sagen lassen -, ({7}) daß aus seiner Versicherung nichts werden kann, solange er jenen Konfrontationskurs beflissen unterstützt, den die Vereinigten Staaten leider eingeschlagen haben und den viele ungeschminkte Erklärungen des amerikanischen Präsidenten und seiner Berater, die ja zur Verfügung stehen und die Sie sicher auch kennen, auch wenn Sie sie nicht wahrhaben wollen, ebenso belegen wie die veränderten nuklearstrategischen Zielsetzungen und die Produktion dazu passender strategischer und eurostrategischer Nuklearwaffen mit eindeutig offensiver Zweckbestimmung. ({8}) Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, wirklich an einem Frieden mit weniger Waffen interessiert wären, wie Sie es versichern, dann hätten Sie bei Ihren Besuchen in Washington und in Ihrer Regierungserklärung den amerikanischen Vorstellungen vom fährbaren, gewinnbaren Atomkrieg, vom Krieg im Weltraum und vom Totrüsten der Sowjetunion im Interesse unseres Kontinents energisch widersprechen müssen, ({9}) anstatt servil die deutsch-amerikanische Übereinstimmung zu beschwören, weil die amerikanischen Intentionen die Ablösung der westlichen Kriegsverhinderungsstrategie durch ein frivoles Kriegführungsdenken markieren und damit die Geschäftsgrundlage der NATO als Verteidigungsbündnis auflösen. ({10}) Und natürlich hätten Sie, Herr Bundeskanzler, auch bei Frau Thatcher und Präsident Mitterrand nachdrücklich gegen die abenteuerliche Aufstokkung der britischen und französischen Mittelstrekkenwaffen protestieren müssen, die das Wettrüsten weitertreibt und kaum geeignet ist, von den Sowjets als Anreiz zur Verminderung ihrer SS-20-Mittelstreckenraketen empfunden zu werden, weil j a allein schon die europäischen Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich nach Abschluß dieser Aufrüstungsprogramme über weit mehr eurostrategische Nuklearwaffen verfügen werden, als von der Sowjetunion gegenüber Westeuropa in Stellung gebracht sind, was Sie und Ihre Minister der deutschen Öffentlichkeit leider verschweigen. ({11}) Doch auch von einem solchen Protest war nichts zu hören. Im Gegenteil! ({12}) Das emphatische Bekenntnis Präsident Mitterrands zur sogenannten Nachrüstung bei uns ist von Ihnen als Beweis für die Richtigkeit Ihrer Rüstungspolitik in Anspruch genommen worden, obwohl es doch nur beweist, daß die französischen und deutschen Interessen in der nuklearen Rüstung absolut unvereinbar sind. Denn nicht Frankreich ist unser Vorfeld, sondern die Bundesepublik ist das nukleare Vorfeld und im Konfliktfall auch Schlachtfeld Frankreichs. ({13}) Ihre Begeisterung für die französische Haltung läßt deshalb nur eine Frage offen: ob Sie nicht sagen, was Sie wissen, oder nicht wissen, was Sie sagen. ({14}) Wer angesichts der britischen und französischen Nuklearwaffen eine westliche Verhandlungsposition unterstützt, die irreführend als „Null-Lösung" deklariert wird, obwohl sie doch den Abbau schon jetzt existierender Mittelstreckenwaffen nur vom Osten fordert, aber nicht eines der jetzt schon im Westen vorhandenen Systeme ebenfalls zur Disposition stellen will, wer ein solches Konzept oder eine nur graduell, nicht substantiell bessere Zwischenlösung so vehement begrüßt, wie die Bundesregierung es tut, ({15}) der setzt sich allerdings dem Verdacht aus, an einem konstruktiven, die Nuklearwaffen reduzierenden Ergebnis in Genf weit weniger interessiert zu sein als am ungehinderten Stationieren von Pershing-2-Raketen und Marschflugkörpern der USA bei uns und unseren Nachbarn. ({16}) - Ich sagte schon: Ihr Maß an Witz sollten Sie am späten Abend nicht überfordern; es reicht nicht für alle Gelegenheiten. Das haben Sie schon bewiesen. ({17}) Anstelle dieser heuchlerischen Verhandlungsposition fordern wir daher von der Bundesregierung ein eindeutiges Bekenntnis nicht nur gegen jede Art von sogenannter Nachrüstung ({18}) - stehen Sie bequem, meine Herren -, sondern auch zu Abrüstungsverhandlungen, die diesen Namen verdienen, weil es ihr Ziel ist, alle in Ost und West jetzt schon existierenden, auf Europa gerichteten und in Europa gelagerten Nuklearwaffen zum Verschwinden zu bringen. ({19}) - Ich habe Sie leider nicht verstanden, aber es war sicher sehr witzig. Davon gehe ich aus. Wir fordern von der Bundesregierung auch den Mut, einer Verfremdung der NATO zur Hilfsorganisation für die Durchsetzung amerikanischer Groß- und Vormachtsinteressen ebenso entgegenzutreten wie jeder Absicht, unser Land als Speerspitze eines neuerwachten antikommunistischen Kreuzzugsdenkens zu mißbrauchen, worin zwangsläufig auch die Gefahr eines Mißbrauchs unserer Soldaten liegt, die heute zweifellos in der Überzeugung dienen, Sicherheit zu produzieren, aber morgen schon von der von Ihnen mitverschuldeten Rüstungsentwicklung im Konfliktfall zu den Zerstörern alles dessen degradiert werden können, was wir erhalten sehen wollen. Darum fordern wir eine Politik, die zur Auflösung beider Militärblöcke hinführt, und dabei als Teil eines atomwaffenfreien, rüstungsarmen Mitteleuropa auch eine völkerrechtlich neutrale Bundesrepublik ohne automatische Teilhaberschaft an den Konflikten größerer Mächte, jedoch mit einem den veränderten Bedingungen besser angepaßten sicherheitspolitischen Konzept, in dem die soziale Verteidigung ausschlaggebende Bedeutung hat. ({20}) - Sie können gerne Nachhilfeunterricht bekommen, wenn Sie es nicht wissen; es gibt genügend Unterlagen darüber. ({21}) Unsere Forderungen schließen die entschiedene Absage an jenen Revanchismus ein, mit dem vor allem die CSU auf die Geschicke unseres Landes Einfluß zu nehmen sucht. Und daher, Kollege Waigel, gestatten Sie mir eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen. Erstens. Wenn Sie die Grüne Bewegung nicht kennen und von ihr auch nichts gelesen haben, dann sollten sie ihr auch nicht vorwerfen, das Verhältnis zur Gewalt nicht eindeutig geklärt zu haben. Zweitens. Wenn Sie Stalin zitieren, wie Sie es getan haben, dann sollten Sie vielleicht auch darauf hinweisen, daß, wie es die Geschichtsschreibung belegt, Stalin immerhin noch mehr Interesse an der Errichtung eines wiedervereinigten neutralen Deutschland gezeigt hat als Ihr so hochgelobter Konrad Adenauer ({22}) - ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören -, der die Wiedervereinigung von Anfang an der Westintegration geopfert hat. ({23})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Bastian, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß die von Ihnen beantragte Redezeit abgelaufen ist. ({0})

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich bin gleich fertig. Wir fordern die Zurückweisung jeder Tendenz zur Militarisierung der Gesellschaft, wie sie z. B. auch in der Benachteiligung von Kriegdienstverweigerern sichtbar wird, in einem Gesetz, das Sie beschlossen haben, worin ohne jede sachliche Begründung mit der Behauptung, der durchschnittliche Wehrdienstleistende würde fünf Monate Wehrübungen nach Ableistung des aktiven Grundwehrdienstes leisten müssen, die Verlängerung des Zivildienstes beschlossen worden ist. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Bastian, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. Für Sie sind zehn Minuten Redezeit beantragt worden. Ich habe die Aufgabe, hier dafür zu sorgen, daß Sie zu Ende kommen.

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir verlangen daher von der Bundesregierung - damit komme ich zum Ende, Herr Präsident; danke schön für die Möglichkeit der Zeitüberschreitung - die Aufhebung des am 16. Dezember 1982 verabschiedeten Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung und des Zivildienstes als ersten Beweis für die Stichhaltigkeit des Kanzlerwortes, Frieden mit immer weniger Waffen und Soldaten schaffen zu wollen. Den darauf folgenden weiteren Beweisen sehen wir erwartungsvoll, aber skeptisch entgegen. ({0}) Aber unsere Geduld sollte nicht überschätzt werden. Wir werden diese Beweise einfordern, gestützt auf die Friedensbewegung im Lande, wenn Sie uns keine andere Wahl lassen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Klein ({0}).

Hans Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte, als der Abgeordnete Bastian hier das Wort ergriff, ({0}) zunächst den Eindruck, zumindest zwischen einem Teil der vorgeblichen Ziele der GRÜNEN und dem schnarrenden Kasinoton, in dem sie vorgetragen wurden, bestehe ein gewisser Gegensatz. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, da ist kein Gegensatz. Die Militanz dieser Ausführungen steht in absoluter Deckungsgleichheit mit ihrem Ton. ({2}) Herr Bastian, nachdem Sie die Politik von Reagan, Thatcher und Mitterrand als abenteuerlich bezeichnet hatten, habe ich nur noch auf den Satz gewartet: Der Feind steht im Westen. ({3}) Das, was Sie über Stalins Deutschlandpolitik gesagt haben, ({4}) wird an Peinlichkeit nur noch unterboten ({5}) durch die Bezugnahme der Frau Kelly auf die Bergpredigt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Diederich ({0})?

Hans Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Da ich nur eine Redezeit von zehn Minuten habe, habe ich keine Zeit dafür. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ganze könnte als ein Stück gewünschten grünen Kabaretts abgebucht werden; ({0}) die Medien werden Ihnen den Gefallen sicherlich tun. Frau Kelly, Sie haben vorhin gesagt, die Bewegung sei aus sich heraus so stark; das habe nichts mit den Medien zu tun. Ich habe Sie heute zum ersten Mal reden hören, und ich muß sagen: es hat doch eine Menge mit den Medien zu tun! ({1}) Die Medien haben ein Bild von Ihnen gezeichnet, daß ich dachte, wunder wer hier erscheinen wird - und dann diese Rede; ach, du lieber Gott! ({2}) Wie gesagt, das könnte als ein Stück Kabarett, grünes Kabarett abgehakt werden, ({3}) wenn nicht die Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion - von Herrn Voigt bis zu Herrn Vogel - diese ungeheuren Bemühungen des Anbiederns an Sie unternähmen. ({4}) Herr Kollege Voigt, ich werde den Eindruck nicht los, daß Sie den Weg für sehr kurz halten, der zu Ihren alten Freunden aus der APO-Szene der Frankfurter Jahre führt. ({5}) Herr Voigt hat hier angekündigt, die sozialdemokratische Fraktion werde die Offenlegung der Stationierungsorte für amerikanische Raketen in der Bundesrepublik Deutschland beantragen. ({6}) - Ich bedanke mich für den Applaus. - Herr Voigt kündigte den Antrag von etwas an, was seitens der Bundesregierung seit geraumer Zeit gefordert wird. Allerdings beschränkt sich Herr Voigt, meine sehr verehrten Damen und Herren, leider nur auf die Hälfte der Forderung. Von unserer Seite wird nämlich Offenlegung der Standorte in West und Ost gefordert. ({7}) Sie können sich sehr verdient machen, meine sehr verehrten Damen und Herren von den GRÜNEN, wenn Sie diese Forderung unterstützen. Ich fürchte nur, daß Ihre neuen Heiligenfiguren à la Stalin dabei nicht mitspielen werden. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Satz zu einem wichtigen Punkt anfügen, der heute von verschiedenen Rednern hier angeschnitten worden ist, nämlich zur Politik gegenüber Mittelamerika. Aus unserer Sicht, aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion, ist es dringend notwendig, den schmalen Raum freiheitlich-demokratischer Kräfte in den mittelamerikanischen Staaten gegen mörderische Gewalttätigkeit rechter wie linker Radikaler zu erweitern. ({9}) Wer eine andere Absicht als diese aus den Erklärungen des Herrn Bundeskanzlers heute herausgehört haben will, meine sehr verehrten Damen und Herren, der handelt böswillig. ({10}) Und wenn das Wort - auch das lassen Sie mich bitte noch aufgreifen -, dieses unglückselige Wort von der Sicherheitspartnerschaft, Herr Kollege Voigt, von der Sicherheitspartnerschaft der BunKlein ({11}) desrepublik Deutschland mit der Sowjetunion hier wieder eingeführt wird, nehmen Sie doch bitte einmal ganz ernsthaft zur Kenntnis: Die Wirkung dieses Wortes - Sie sprachen j a davon, man müsse einen anderen Umgang mit der Sowjetunion finden; aber es geht auch um den Umgang mit unseren Verbündeten -, mit dem Sie der Sowjetunion die gleiche Qualität verleihen wie unseren amerikanischen Freunden, ist in einer Richtung, nämlich in westlicher Richtung, absolut gegen unsere Interessen gerichtet. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn Sie das leugnen - lesen Sie doch die amerikanische Presse! -: Für uns ist es allemal wichtiger, daß die Freundschaft mit den Amerikanern intakt bleibt - auch das hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung sehr deutlich gemacht -, ({13}) als daß wir in die Gefahr geraten, erneut einer zwielichtigen Schaukelpolitik geziehen zu werden, wie das in der Schlußphase der letzten Bundesregierung der Fall gewesen ist. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbst der von mir in vielfacher Hinsicht hochgeschätzte Kollege Ehmke hat sich heute nur über die Runden helfen können, indem er einen Popanz aufbaute und mit dem einen Schattenboxkampf veranstaltete. Aber nach allen Reden, die von der Opposition, ob rot, ob grün, in dieser Debatte heute gehalten worden sind, kann ich nur sagen, daß ich überzeugt bin, die Mehrheit der Deutschen ist heute sicherer denn je, daß sie am 6. März die richtige Entscheidung gefällt hat. ({15})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Büchler ({0}).

Hans Büchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000294, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht sollten wir versuchen, ziemlich am Ende dieser Debatte zu mehr Ernsthaftigkeit zurückzukehren. Ich meine vor allem, wir sollten uns noch heute abend etwas bemühen, über Deutschlandpolitik zu reden. Und darüber gibt es ja einiges zu sagen. Der Herr Kollege Klein hat nun die Opposition - grün oder rot, wie er sie bezeichnet hat - abwerten wollen. Auch er ist nicht mehr durchgedrungen. Wir sollten es dabei lassen. Mir geht es um das, was der Kollege Waigel heute am frühen Nachmittag gesagt hat. Da hat ein Bundeskanzler eine Regierungserklärung abgegeben. Dann kam der erste Sprecher der Fraktion der Regierungspartei und hat nun die Pflöcke eingesetzt. Der Kollege Waigel hat, so meine ich, eine andere Deutschlandpolitik aufgezeigt, als das der Bundeskanzler in seiner Erklärung getan hat, und zwar Punkt für Punkt. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Herr Kollege Waigel, Sie haben auch einfließen lassen, die Begegnungen während des Kalten Krieges seien häufiger gewesen, als es jetzt der Fall ist. Sie sollten sich an die Realitäten erinnern und sollten sich zurückerinnern, wie es wirklich war, bevor diese Koalition, unsere Koalition, die sozialliberale Koalition angetreten ist. Ich muß also ehrlich und offen fragen, Herr Kollege Waigel: Ist es für Sie eine Garantie, daß mehr Begegnungen zwischen Deutschen stattfinden, wenn der Kalte Krieg wieder ausbricht? Oder wollen Sie diesen Kalten Krieg? Das muß man doch sehen. Zumindest ist eines deutlich geworden: Die Richtlinien in der Deutschlandpolitik bestimmt also hier die CSU. Auch Außenminister Genscher hat sich als Parteivorsitzender lange über die Deutschlandpolitik ausgelassen. Ich war zufällig nicht im Saal, habe Ihre Ausführungen, Herr Kollege Genscher, aber im Fernsehen verfolgt. Dort erschien die Unterzeile: „Wie man Dornröschen wieder wachküßt - Fortsetzung folgt - ist verschoben." So ist es wohl mit der FDP. Das, was Sie als Deutschlandpolitik vorgebracht haben, gilt nicht mehr in dieser Koalition. Das ist meine feste Überzeugung. ({0}) Warum ist aber diese Deutschlandpolitik plötzlich in den Mittelpunkt getreten? Es waren die aktuellen Ereignisse, die diese Deutschlandpolitik plötzlich in die Öffentlichkeit gezerrt haben. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß hat zwei tragische Todesfälle auf den Transitwegen von und nach Berlin zum Anlaß genommen, seinen ganzen Unmut über 13 Jahre erfolgreiche Vertragspolitik der sozialliberalen Koalition mit der DDR loszuwerden. Sein Ziel ist ohne Zweifel die Wende in der Deutschlandpolitik. Das sagt er auch ganz deutlich. Ich meine, er will diese Deutschlandpolitik in die Eiszeit zurückführen. Er hat natürlich auch, wie ich meine, vergessen oder nimmt bewußt nicht wahr, daß die Entspannungspolitik mit dieser Deutschlandpolitik zusammenhängt. Für uns ist das nicht aufzuzwirnen. Für uns ist das verknüpft. Entspannungspolitik und Deutschlandpolitik gehören zusammen, wenn dieser Politik ein Erfolg beschieden sein soll. Wir konnten erwarten, daß die heutige Regierungserklärung nach diesem Vorlauf zumindest eine Klarstellung erbringen würde, wohin die Reise in der Deutschlandpolitik gehen soll. Dies ist nicht geschehen. Die Klarstellung ist eindeutig ausgeblieben. Wir haben zwar die Handschrift von Franz Josef Strauß in einigen Thesen wiedererkannt - darüber gibt es keinen Zweifel -, aber es war nicht das Konzept von Franz Josef Strauß. Es war auch nicht, wie die FDP das will, das Konzept einer Fortsetzung unserer Deutschlandpolitik der vergangenen 13 Jahre. Es war ein Mischmasch ohne klare Linienkompetenz, ohne daß man weiß, wohin die jetzige Koalition in der Deutschlandpolitik will. Dies ist das Schlimme an diesem ganzen Vorgang. ({1}) Büchler ({2}) Mit der Regierungserklärung wurde natürlich auch nicht das destruktive Störpotential in den Reihen der Regierungsparteien und Regierungsfraktionen erstickt. Es wäre die Chance des Kanzlers gewesen, das heute zu tun. Er hat es nicht getan. Seine Stellungnahme war hilflos. Er ist in der Deutschlandpolitik in eine Situation hineingeschlittert, die die Deutschlandpolitik wahrscheinlich auf Jahre hinaus gefährden wird. Er und niemand anders trägt die Verantwortung dafür. Wir als Opposition müssen schauen, konstruktiv dabei zu helfen, daß wir im Interesse der Menschen aus dem wieder herauskommen, was hier angerichtet worden ist. ({3}) Die sechs Punkte der CSU sind bestimmend. Herr Lintner, Sie kommen nach mir zu Wort. Sie können das noch einmal untermauern. Dafür wären wir dankbar. Dann wüßten wir endgültig, wohin die Reise geht. ({4}) - Ich höre zu. Da brauchen Sie keine Sorge zu haben. - Verträge anerkennen - okay, das sagen Sie. Sie sollen aber ganz eng ausgelegt werden. Druck soll auf die DDR ausgeübt werden. Es wird gefordert, das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung müsse stimmen. Als wenn das in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen wäre. Das war der Fall. Dies ist ein Wertmaßstab, den man natürlich verschieden auslegen kann. Was Sie mit Ihren sechs Punkten noch wollen, ist, Konfrontation zu schaffen, anstatt Spannungen abzubauen. ({5}) Das ist die eindeutige Botschaft, die heute von Herrn Waigel und auch bei Ihnen im Vorgefecht zu hören war. ({6}) - Ich sage es Ihnen ja Punkt für Punkt. Passen Sie also auf. Stellen Sie es dem gegenüber, was Sie gesagt haben. Dann wird dies deutlich. Was ist also der eigentliche Vorgang? Wir wollen ja einen fairen Vorgang für beide Seiten haben. ({7}) Wir wollen nicht den Partner, also die DDR, gängeln. Wir wollen ihn auch nicht demütigen. Auch dies muß klar sein. ({8}) - Meine fränkische Aussprache kann natürlich manchmal durchschlagen. Das geht halt anders als bei einem General. ({9}) Die deutschlandpolitischen Vorstellungen der FDP - das muß man ganz deutlich sagen - sind natürlich auf der Strecke geblieben. Die FDP ist bei diesem Programm der neuen Koalition total untergegangen. Von der Handschrift der FDP ist nichts zu sehen. Herr Kollege Ronneburger, es tut mir leid: Es ist so. Wir können es nicht ändern. Sie wissen es auch ganz genau. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. ({10}) Wir stellen hier fest: 13 Jahre sozialdemokratisch geprägte Deutschlandpolitik - ich rechne Sie mit ein - haben den Frieden in Europa sicherer gemacht. Das ist wohl das Hauptverdienst dieser letzten 13 Jahre Deutschlandpolitik gewesen. ({11}) Sie haben darüber hinaus - das beziehe ich mit ein - die menschlichen Erleichterungen geschaffen, daß Menschen wieder zusammenkommen können, daß auf menschlichem Gebiet wieder etwas getan worden ist. Ich muß fragen: Wollen Sie das leichtfertig aufs Spiel setzen? Es scheint so zu sein. Der Transitverkehr ist in diesen 13 Jahren sicherer geworden. Wir müssen fragen: Wollen Sie ihn unsicherer machen? Wir haben es zuwege gebracht, daß der Besucherverkehr zwischen beiden Teilen Deutschlands in beiden Richtungen erheblich ansteigen konnte. Wir müssen fragen, ob Sie diese Entwicklung durch die jetzige Politik stoppen wollen. Darauf brauchen wir eine Antwort. Wir haben die Sicherheit - trotz dieser Vorfälle - auf den Transitstraßen wesentlich verbessern können. Die Frage bleibt offen, ob Sie das zurückdrehen, ob Sie diese Sicherheit wieder aufgeben wollen. Wir haben in den letzten 13 Jahren den Sportaustausch intensiviert, wir haben den Jugendaustausch intensiviert, wir haben die kulturellen Beziehungen, soweit das ohne das Abkommen, das noch nicht vorliegt, möglich war, intensivieren können. Es waren zugegebenermaßen kleine Schritte, und es waren viele Rückschläge dabei. Auch das ist klar. Aber letztlich müssen wir feststellen, daß in der Bilanz viele menschliche Erleichterungen und eine gewisse Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten stattgefunden haben, und zwar durch eine Politik der Beharrlichkeit, die wir damals vorgetragen und verwirklicht haben. Wir haben oft gesagt, zu dieser Politik gebe es keine Alternativen. Darüber hat es immer großes Gelächter gegeben, wenn wir hier diskutiert haben. In der Zwischenzeit weiß ich es besser - ich muß mich entschuldigen -: Heute haben wir leider erkennen können: Es gibt mehrere Alternativen in der Koalition, sogar vier oder fünf, wie ich glaube. Aber es sind im großen und ganzen verhängnisvolle Alternativen. In dem Zusammenhang möchte ich sagen, daß wir gegenüber der DDR keine Leisetreterei betrieben haben. Wir haben aber auch keine Kraftmeierei betrieben, ({12}) und das war die Voraussetzung dafür, daß etwas zuwege gebracht werden konnte. Es war eine Politik der Vernunft und des Ausgleichs der Interessen Büchler ({13}) beider Teile in Deutschland und der Menschen in Deutschland. ({14}) Mauer, Schießbefehl und Grenzanlagen wurden von uns ebenso wie der erhöhte Zwangsumtausch entschieden abgelehnt. Die Verpflichtungen der DDR aus der KSZE-Schlußakte, die Sie abgelehnt haben, werden für uns Gesprächsthema mit der DDR bleiben. Auch darüber gibt es gar keinen Zweifel. Für uns ist auch das Ziel der Erhaltung der Einheit der Nation nach wie vor gegeben, und das wird auch weiter so sein. Wir fordern den anderen Teil Deutschlands natürlich auf, ihre besondere Verantwortung für die Friedenssicherung in Europa und der Welt bewußt wahrzunehmen, wie das auch gemeinsam in den letzten Jahren getragen worden ist. Deshalb meine ich, daß der Dialog mit der DDR- Führung nicht abreißen darf. Daß dieser Dialog dabei ist, abzureißen, ist darauf zurückzuführen, daß Sie eine Politik der Demütigung und der Stärke gegenüber der DDR für richtig halten. Wenn Sie das aber durchsetzen wollen, das sage ich Ihnen ganz deutlich -, dann verstößt die Unterbrechung dieses Dialogs gegen die elementaren Sicherheitsinteressen dieser Bundesrepublik Deutschland und des Friedens in Europa. Dies müssen Sie sehen. Wer die Ost-West-Beziehungen vernachlässigt, wird sich gegen die Friedenssicherung in dieser Welt versündigen. Deswegen ist es nötig, daß dieser Dialog fortgeführt wird. Wir sind nicht am Ende einer möglichen Entwicklung, sondern das Treffen am Werbellinsee gibt neue Aufträge und Möglichkeiten der Weiterentwicklungen. Das heißt also, wir haben eine Basis geschaffen, auf der Sie weiterarbeiten können, wenn Sie sie aufgreifen. Sie werden keine schnellen Erfolge haben, aber Sie haben, weil wir die Grundlagen geschaffen haben, die Möglichkeit, im deutsch-deutschen Verhältnis weiterzukommen, viel für menschliche Erleichterungen, viel für die Friedenssicherung in Europa zu tun. Aber Sie müssen das wirklich wollen und es anpacken. Wir werden Sie dabei unterstützen, wenn Sie das wollen. Bis jetzt steht eine positive Antwort der Bundesregierung darauf aus. Ich hoffe, daß sie im Laufe dieser Debatte noch gegeben wird. - Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Lintner.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Büchler, zunächst möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie hier uns angeboten haben, gemeinsam Deutschlandpolitik zu betreiben. Ich muß allerdings erklären, daß das, was Sie hier vorgetragen haben, natürlich ein nur unvollkommener und unvollständiger Ansatz dafür war. Denn soweit Sie sich im letzten Teil ganz allgemein verbreitet haben, war es eine Mischung aus Nostalgie, und Sie haben an der aktuellen Situation im Grunde genommen vorbeigeredet. Soweit Sie aber versucht haben, aktuell zu sein, haben Sie, glaube ich, nicht ganz das vollständig Richtige vorgetragen; denn angesichts der sechs Forderungen der CSU zum Thema Deutschlandpolitik ist das Wort „Eiszeit" aus Ihrem Munde eigentlich nicht besonders logisch. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann sind die sechs Forderungen ohne weiteres auch für Sie akzeptabel und jahrelang von Ihnen mitgetragen worden. Dann können Sie hier aber natürlich nicht die Eiszeit beschwören. Genauso muß ich sagen: die Klarstellung, die Sie gefordert haben, war heute, wenn ich so sagen darf, fast in CSU-gewollter Klarheit in der Regierungserklärung vorhanden, so daß Sie sicher, wenn Sie es noch einmal nachlesen, Ihr Urteil revidieren müssen. Nun zum Schluß: Deutschlandpolitik. Ich will als Resümee dessen, was ich heute dazu gehört habe, sagen, daß die Opposition offensichtlich hier Probleme beklagt und dabei auf die heutige Bundesregierung verweist. Wenn sie das tut, ist es zumindest unvollständig, auch historisch unvollständig. Denn sie müßte eigentlich ergänzend die Ursachen dafür nennen. Die Ursachen für die heutige Situation mit ihren Problemen sind durchweg Zustände, die in der DDR geschaffen worden sind und die von den früheren Bundesregierungen, glaube ich, nicht kritisiert oder jedenfalls nicht öffentlich kritisiert worden sind. So ist es eben zugelassen worden, daß eine Atmosphäre der Einschüchterung, des auf Angst-machen abgestellten martialischen Verhaltens seitens der DDR-Grenzorgane geschaffen worden ist. Diese Atmosphäre ist, glaube ich, verantwortlich für den beklagenswerten Tod von zwei Bundesbürgern und nicht etwa die Empörung über diese Zustände. Wenn Sie das bedenken, müßten Sie eigentlich sehr schnell erkennen - auch Sie von der SPD -, daß diese Ursachen nicht erst seit Oktober letzten Jahres bestehen, also dem Zeitpunkt des Regierungswechsels, sondern sie herrschen schon lange an dieser Grenze, und ich füge hinzu: zu lange. Es wäre die Pflicht des früheren Bundeskanzlers gewesen, auf Änderung zu drängen und diese Zustände nicht schweigend hinzunehmen. Verschweigen ist nicht nur hier unnütz gewesen, sondern es hat, so, glaube ich, kann man feststellen, die heutige Empörung über diese Vorgänge gesteigert, und es hat vor allem eine rechtzeitige prophylaktische Änderung verhindert. ({0}) Daß wir hier nicht alleine stehen, will ich Ihnen mit Hilfe einer unverdächtigen Zeugin beweisen, nämlich der Zeitung „Le Monde", die gestern wörtlich geschrieben hat -: Hier liegt ein Problem, welches seit Jahren existiert. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Regierung Schmidt ihm nicht genügend Aufmerksamkeit widmete. Der Meinung möchte ich nichts hinzufügen. Die jetzige Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben längst die überfälligen notwendigen Konsequenzen gezogen und haben sich mit Recht in aller Öffentlichkeit gegen diese Schikanen gewandt und Abhilfe gefordert. Es hätte eigentlich hier für die Opposition und die von ihr beschworene konstruktive Haltung ein Anlaß zu hilfreicher Gemeinsamkeit mit der Regierungskoalition bestanden. Aber Ihr Führer Vogel hat diese Möglichkeit versäumt. Er hat - ({1}) - Ihr Fraktionsführer; ich gestehe Ihnen das gerne zu. - Ihr Fraktionsführer, Herr Vogel, hat diese Möglichkeit versäumt. ({2}) - Er führt nicht. Sehen Sie, da hatte ich wieder unrecht mit der Bezeichnung. - Er hat eigentlich die Vorgänge zu billiger Polemik gegen den Bundeskanzler mißbraucht. Außerdem, meine Damen und Herren, machen Sie sich ein bißchen des Versuchs schuldig, die Empörung in die falsche Richtung zu leiten. Auch hier will ich eine Pressestimme zitieren. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" charakterisiert das heute wie folgt: Wenn Anlaß zu Empörung besteht, muß sie so laut und deutlich geäußert werden wie im Falle der beiden Psychoterror-Opfer in den DDR- Verhörräumen. Das hat nichts mit „Kaltem Krieg" - ich füge hinzu: eine Vokabel, die Ihr Fraktionsführer heute ja etliche Male verwand hat zu tun; dieses primitive Schlagwort zur Verhinderung angemessener Interessenwahrung sollte aus dem Verkehr gezogen werden. Meine Damen und Herren, diese Aufforderung gilt für Sie. ({3}) Hilfreich ist es hier, daß selbst die Führung der DDR - und das sehe ich durchaus als konstruktiven Beitrag für die Zukunft an - in einem Kommentar des „Neuen Deutschland" von gestern Mängel bekannt hat, die - so wörtlich laut „FAZ" im Laufe der Zeit hier und da zutage getreten sind. ({4}) Daraus sollen sich Möglichkeiten zur Lösung von Problemen im Rahmen von innerdeutschen Gesprächen ergeben, und ich bin sicher, daß die Bundesregierung diese Anregung aufgreifen wird. ({5}) Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam gar nicht erst die Legende aufkommen lassen, es seien Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, die diese Besuchsabsage bewirkt hätten. Die SED-Führung ist nämlich für die Zustände und damit auch für die Absage ganz allein verantwortlich. ({6}) Meine Damen und Herren, uns hat die gelassene Reaktion der Bundesregierung gutgetan, und ich glaube, sie war auch zur Problemlösung sehr hilfreich, denn die klare Haltung der Bundesregierung macht die Bonner Politik j a auch vorhersehbar und damit viel berechenbarer, als es früher der Fall gewesen ist. ({7}) - Herr Kollege Grüner - das sage ich, weil ich Ihren Namen nicht kenne -, das entspricht im übrigen - Sie können es nachlesen - auch einer ausdrücklichen Forderung der SED-Führung in dem gerade zitierten Artikel des „Neuen Deutschland". Meine Damen und Herren, das hat auch Vorteile für die DDR-Regierung.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Lintner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es tut mir leid, Herr Kollege, ich habe nur noch zwei Minuten. Wir können das j a im Ausschuß ausführlich erörtern. Das hat also auch Vorteile für die DDR-Regierung. Sie sollte wissen, daß all das natürlich nicht unter dem von ihr erhobenen Vorwurf zu rechtfertigen ist, es handele sich hier um etwas, was als Stunk gegen die Beziehungen der DDR zu klassifizieren sei, wie es im „Neuen Deutschland" heißt. Die DDR muß wissen, daß die Koalitionsregierung und die sie tragenden Parteien bereit sind, hierüber zu reden, daß sie aber natürlich nach wie vor auch der Meinung sind, daß diese Dinge offen angesprochen werden müssen. Das heißt, wir werden die notwendige Kritik nicht unterlassen. Wir müssen der DDR zumuten, dies zu lernen. Meine Damen und Herren, ich möchte hier auch betonen, daß all das, was dazu - auch von unserer Seite - geäußert worden ist, nicht etwa ein Ausdruck des Desinteresses an vernünftigen und sachlichen Beziehungen oder gar einer destruktiven Haltung in Sachen innerdeutsche Beziehungen ist. Hier handelt es sich vielmehr um einen längst überfälligen Prozeß der Normalisierung der Verhaltensweisen einer Regierung, und das müssen wir für uns in Anspruch nehmen. ({0}) Meine Damen und Herren, CDU und CSU haben in diesem Bereich der Politik zu oft die Verständigungsbereitschaft betont, als daß es notwendig wäre, dies immer wieder zu sagen und jetzt womöglich erneut den guten Willen unter Beweis zu stellen. Wir sind - das ist zuzugeben - um eine deutliche, um Eindeutigkeit bemühte Sprache bemüht, um nicht einen gegenteiligen Eindruck entstehen zu lassen und weil wir es für hilfreich erachten, wenn vorhandene Unterschiede nicht vorschnell überdeckt und verwischt werden. Diese Überzeugung wird sicher zu einer Reihe von Akzentuierungen in der Deutschlandpolitik führen. - Ich bedanke mich. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider ({0}).

Dirk Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002041, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine wenigen verbliebenen Damen und Herren! Es ist spät geworden. Ich muß Ihnen sagen: Ich habe auch kalte Füße bekommen; nicht nur durch die Situation in diesem Saal, sondern weil ich hier heute abend, gerade was die Deutschlandpolitik angeht, eine Menge Reden gehört habe, die eigentlich 30 Jahre alt waren. ({0}) Die Deutschlandpolitik, die alle Regierungen seit Adenauer in diesem Hause hier gemacht haben, ist gescheitert. Diese simple Tatsache will sich das Hohe Haus nicht eingestehen. ({1}) Die totale Hinwendung zur Westintegration, die totale Vermählung mit dem Atlantischen Bündnis - wie Herr Kohl es ausdrückt: Das Bündnis ist der Kernpunkt der deutschen Staatsräson -, diese totale Verzahnung mit dem Westen und der Ausbau und die Aufrüstung dieses Westens haben dazu geführt, daß nicht nur die Teilung Europas, sondern auch die Teilung Deutschlands und die Teilung Berlins absolut zementiert worden sind. ({2}) Wenn Sie noch einmal die Rede Ihres verehrten Parteifreunds Weizsäcker nachlesen, die er im Herbst des vorigen Jahres gehalten hat, werden Sie bemerken, daß auch dort das Eingeständnis spürbar ist, daß die Deutschlandpolitik momentan konzeptionslos ist ({3}) und daß man eine Bewegung will, aber keine Bewegung weiß. ({4}) In dieser Situation, in der eigentlich eine Bewegung nötig wäre, hören wir dann die Töne von der CSU, von den Herren Strauß, Stoiber und Wiesheu, die uns die Wende in der Deutschlandpolitik offerieren. Aber diese Wende in der Deutschlandpolitik ist eine Wende zurück in den Kalten Krieg. Es hat uns doch sehr, sehr verwundert, daß das etwas Neues sein soll. ({5}) Eine Wende in der Deutschlandpolitik hin zum Kalten Krieg aber kann heute, 1983, nach den bestehenden Bedingungen und nach den vertraglichen Grundlagen, die Sie ja auch nach dem Modus vivendi erhalten wollen, nichts anderes bedeuten, als daß die aggressiven Töne der Reaganschen, der amerikanischen Außenpolitik in die deutschen Verhältnisse umgesetzt werden sollen. Darauf zielen Strauß, Stoiber und Wiesheu mit ihren Attacken auf das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten eigentlich ab. Ich bin gar nicht so sicher, daß Herr Kohl ganz und gar dagegen ist. Er hat lange stillgehalten und abgewartet und auch einmal abchecken wollen, wie weit in der Öffentlichkeit eigentlich diese Töne von Herrn Strauß rüberkommen. Es gibt zwar Widersprüche zwischen der CDU und der CSU, aber ich glaube, daß auch Herr Kohl ein Interesse daran hat, daß die amerikanische Außenpolitik auf die deutschen Verhältnisse übertragen wird. ({6}) - Sie werden es nicht ohne weiteres zugeben. Deswegen drücke ich mich immer etwas vorsichtiger aus. Wenn aus den Reihen der CDU/CSU heute die Oder-Neiße-Grenze wieder in Frage gestellt wird und wenn die Grenzen von 1937 nicht nur de jure, was man eigentlich sagen wollte, sondern auch de facto in Frage gestellt werden, dann glauben wir, daß mit der Deutschlandpolitik und mit den aggressiven Tönen heute wieder einmal der Hebel angesetzt wird. Das, was man früher der östlichen Seite immer vorgeworfen hat, versucht man selber, um den Status quo, der bisher bestanden hat, endlich zu beenden. ({7}) - Warum reden Sie eigentlich dauernd dazwischen? Das ist ja kaum zu ertragen. Ich will Ihnen auch gar nicht zuhören. ({8}) Es gibt in der Deutschlandpolitik nur eine wirkliche Wende: Unserer Meinung nach müssen hier das ganze Haus und die deutsche Politik darüber nachdenken, ob sie sich nicht von der NATO-Bindung lösen müssen. ({9}) Wir denken in diese Richtung. Wir stellen auch Forderungen in dieser Richtung auf, ({10}) daß die Ablösung vom NATO-Bündnis erfolgt und eine völlig neue Friedenspolitik betrieben wird, die wegkommt von den Blöcken, wie das auch Kollegen aus den eigenen Reihen gesagt haben, ({11}) die hinkommt zu einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Eine solche Friedenspolitik muß von der unheimlichen Verantwortung der beiden deutschen Staaten an der Nahtstelle der Blockkonfrontation ausgehen. Es muß ein neuer Weg friedenspolitischer Art beschritten werden. Nur auf dieser Grundlage sehen wir heute eine Chance für eine Schneider ({12}) neue Deutschlandpolitik, die uns nicht wieder in einen neuen Krieg mir den endgültigen Folgen, die wir alle ganz genau kennen, hineinreißt. ({13})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich mit einer einleitenden Frage an den Kollegen Schneider wenden. Wenn Sie von einer konzeptionslosen Deutschlandpolitik sprechen, sind Sie sich dann eigentlich darüber im klaren, daß die Existenz des freien Berlin und die Situation, in der sich diese Stadt und mit ihr auch die Alternativen in ihren Mauern heute befinden, wahrscheinlich nicht mit der vergleichbar wäre, die gegegeben wäre, wenn dieses Haus und die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland nicht eine aktive Deutschlandpolitik betrieben hätten, die auch zum Berlin-Abkommen geführt und damit die Situation entscheidend beeinflußt hat? ({0}) Herr Kollege Schneider, Sie gehen damit in eine Richtung, wie sie unser Kollege Bastian schon einmal in einer Fernsehdiskussion vorgezeichnet hat, als er gesagt hat, die Bundesrepublik müsse aus der NATO austreten ({1}) - herzlichen Dank für Ihren Beifall; vielleicht kam er verfrüht -, sie müsse neutralisiert werden, aber selbstverständlich müßten die Westmächte auch nach diesem Schritt ihre Verantwortung für Berlin wahrnehmen. Das ist nun einfach ein Mangel an Realitätssinn, der kaum zu überbieten ist. Ich muß Ihnen das so deutlich sagen. ({2}) Aber darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle folgendes tun. Ich möchte zunächst einmal jedermann im Hohen Hause noch einmal darauf aufmerksam machen, daß wir heute über die Regierungserklärung und über nichts anderes sprechen. Ich möchte alle diejenigen, die zum Teil von Unklarheiten gesprochen haben - Kollege Ehmke, Kollege Büchler, und Kollege Vogel tat es auch -, bitten, gerade den Abschnitt Deutschlandpolitik dieser Regierungserklärung doch noch einmal genau nachzulesen. Sie werden dann feststellen, daß ganz eindeutige, klare Aussagen darüber gemacht worden sind, wie diese Deutschlandpolitk aussehen soll. Diese meine Aufforderung richte ich mit allem schuldigen Respekt allerdings auch an den Staatsbürger aus Bayern, der j a in der Auseinandersetzung der letzten Wochen einige sehr deutliche Äußerungen gemacht hat. Aber auch wir, Kollege Waigel, sollten uns noch einmal über den einen oder anderen Punkt unterhalten; denn hier geht es um die Regierungserklärung, und ich will Ihnen nachweisen, was das bedeutet. Ich will mich nicht nur auf eine Bemerkung des Bundeskanzlers ganz am Anfang des Abschnitts Deutschlandpolitik zurückziehen, wo es heißt: Realpolitik ja, Resignation nein. Ich glaube, das ist eine sehr deutliche und unverkennbare Aussage, von der ich hoffe, daß sie vom ganzen Hause getragen wird, auch vom Kollegen Schneider, nämlich real von der Situation auszugehen, die wir heute haben, aber nicht zu resignieren in der Deutschlandpolitik. Hier ist Klarstellung durch Konkretisierung absolut möglich. „Schon lange bestehende Probleme", Kollege Lintner - das reicht natürlich, wenn Sie es so sagen, weit über die Zeit der sozialliberalen Koaliton in die Vergangenheit zurück. Wir sollten uns hier keine Illusionen machen. ({3}) Aber diese Regierungserklärung spricht weiter von einem Erträglichmachen der Teilung, d. h. es wird gesagt, daß die Deutschlandpolitik, die wir betreiben, im Interesse der Menschen im geteilten Lande getan wird. Sie spricht gleichzeitig davon, daß diese Teilung nur in einer dauerhaften Friedensordnung in Europa geändert, d. h. überwunden werden kann. Da bin ich dem Außenminister sehr dankbar, daß er über die Bemerkung „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen" noch weit hinausgegangen ist, indem er unsere Verantwortung deutlich gemacht hat, nämlich Spannungen abzubauen, die Eskalation von Spannungen zu verhindern, und verdeutlichte, daß in Art. 5 des Grundlagenvertrages die gemeinsamen Bemühungen der beiden Staaten um Entspannung und Abrüstung eindeutig festgeschrieben sind. Aber diese Eindeutigkeit in bezug auf die Deutschlandpolitik wird natürlich erst dann völlig sichtbar, wenn man sich einmal die Dokumente und Vertragstexte, auf die diese Regierungserklärung Bezug genommen hat, tatsächlich zur Hand nimmt. Ich möchte gerne, daß wir uns alle darüber im klaren sind, daß der Hinweis auf das Grundgesetz und seine Präambel: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" uns allerdings einen großen Spielraum für die Art und Weise einräumt, in der wir diese Grenze, diese Teilung eines Tages, wie die Regierungserklärung sagt, in einer gesamteuropäischen Friedensordnung überwinden werden. Aber es heißt im Grundgesetz, und zwar bei den Grundrechten, auch: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." Auch diesen Passus gegenüber der DDR mit aller Entschiedenheit zu vertreten und nicht zu verschweigen, wo gegen diese Menschenrechte verstoßen wird, gehört mit zu dem, was uns das Grundgesetz aufträgt. Die Briefe zur deutschen Einheit hat der Außenminister bereits zitiert. Ich erinnere noch einmal an das Anstreben einer Friedensordnung, in der das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedergewinnt. Dies ist unverändert unser Ziel. Aber dann ist j a auch auf den Grundlagenvertrag und auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu diesem Vertrag Bezug genommen worden. Nun möchte ich, um Ihnen die Dauerhaftigkeit dieser Aussage klarzumachen, meine Damen und Herren, einfach aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitieren. Es heißt dort zum Grundlagenvertrag wörtlich: Er ist kein beliebig korrigierbarer Schritt wie viele Schritte in der Politik, sondern er bildet, wie schon sein Name sagt, die Grundlage für eine auf Dauer angelegte neue Politik. Dementsprechend enthält er weder eine zeitliche Befristung noch eine Kündigungsklausel. Das Bundesverfassungsgericht sagt: Dieser Vertrag stellt eine historische Weiche, von der aus das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik neu gestaltet werden soll. Dies bezeichnet die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers zu meiner großen Befriedigung als eine der Grundlagen für die zukünftige Deutschlandpolitik. ({4}) Das heißt, hier geht es nicht um kurzfristiges Schwanken und Hin und Her, sondern um die Frage, wie wir den Menschen im geteilten Land dienen können und wie wir durch diesen Dienst die Chance der Überwindung der Teilung eines Tages erreichen und sie jedenfalls offenhalten können. Ich will noch einen anderen Passus aus diesem Urteil zitieren, damit auch dies eindeutig klar ist: Schließlich muß klar sein, daß mit dem Vertrag schlechthin unvereinbar ist die gegenwärtige Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl. ({5}) Insoweit gibt der Vertrag eine zusätzliche Rechtsgrundlage dafür ab, daß die Bundesregierung in Wahrnehmung ihrer grundgesetzlichen Pflicht alles ihr Mögliche tut, um diese unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen. So weit das Bundesverfassungsgericht an der anderen Stelle, die damit ebenso deutlich zitiert sein soll. Nur, seien wir uns über eines im klaren: Ich wehre mich gegen jeden Vorwurf, frühere Regierungen oder diese Regierung hätten nicht ausreichend Wert oder Nachdruck darauf gelegt, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern. Und eines sollten wir auch an diesem Tage und bei der Debatte über diese Regierungserklärung deutlich sagen und nicht verschweigen: daß die Situation der Menschen im geteilten Land in den vergangenen Jahren besser geworden ist; ({6}) daß sie nicht gut geworden ist, daß wir noch nicht das erreicht haben, was unser Ziel ist; aber daß sie besser geworden ist. Dies sollte niemand von uns übersehen. Wir sollten in Wahrnehmung gemeinsamer Interessen der Deutschen auf beiden Seiten der Grenze - ich will aus Zeitgründen die einzelnen Sachgebiete jetzt nicht noch einmal anführen - und in Wahrnehmung einer gemeinsamen Verantwortung handeln, einer Verantwortung, die auf unserer Seite der Grenze in ganz besonderer Weise gespürt werden sollte. Wir, meine Damen und Herren, können reden, wir können handeln, wie wir wollen. Wir sollten alles, was wir deutschlandpolitisch tun und tun können, dafür einsetzen, daß eines Tages die Rechte und Freiheiten, die wir so selbstverständlich jeden Tag in Anspruch nehmen, auch auf der anderen Seite der Grenze ihre Gültigkeit haben werden für die deutschen Menschen, die für den verlorenen Krieg mehr haben bezahlen müssen als irgendeiner von uns. ({7})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Ich unterbreche die Aussprache über die Regierungserklärung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 5. Mai 1983, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.