Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
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Meine Damen und Herren, am 3. Oktober ereignete sich bei einem Übungsschießen der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Münsingen ein schweres Unglück. Dabei wurden zwei Offiziere der Bundeswehr getötet und 25 Menschen zum Teil schwer verletzt. Zu den Schwerverletzten gehört auch unser Kollege Dr. Fritz Wittmann aus München.
Die Nachricht hat uns tief erschüttert. Im Namen des Deutschen Bundestages spreche ich den Angehörigen der Soldaten, die in Erfüllung ihres Dienstes ihr Leben ließen, unser tief empfundenes Mitgefühl aus. Den Verletzten gilt von Herzen unser Genesungswunsch. - Sie haben sich zu Ehren der Verunglückten erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen.
Erstens. Am 10. Oktober 1983 hat Bundesminister Dr. Dollinger seinen 65. Geburtstag gefeiert. Ich wünsche ihm namens des Deutschen Bundestages Glück und Segen.
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Zweitens. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um den Zusatzpunkt „Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes" erweitert werden. Dieser Zusatzpunkt soll am Freitag nach Punkt 13 der Tagesordnung aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Drittens. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung durch Beschluß vom 23. Juni 1976 ersucht, dem Bundestag alle vier Jahre bis zur Mitte der Legislaturperiode einen Forschungsbericht und alle zwei Jahre einen Faktenbericht vorzulegen. Auf Antrag des Bundesministers für Forschung und Technologie sollen diese Berichte nach einer interfraktionellen Vereinbarung künftig im ersten Quartal der jeweiligen Berichtsjahre vorgelegt werden. Ist der Bundestag damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berufsbildungsberichts 1983 - Drucksache 10/334 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({2}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß
Dazu liegt Ihnen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/482 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Zur Begründung Frau Bundesminister Dr. Wilms.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte zum Berufsbildungsbericht 1983 findet in einem Augenblick statt, in dem die aktuelle Lage auf dem Ausbildungsmarkt die öffentliche Diskussion beherrscht. Bevor ich auf Einzelheiten dieser aktuellen Lage eingehe, lassen Sie mich noch einige grundsätzliche Bemerkungen zum Bericht 1983 machen.
Nach § 3 des Berufsbildungsförderungsgesetzes ist jährlich ein Bericht über die voraussichtliche quantitative und qualitative Entwicklung der Ausbildungsplatzsituation des kommenden Jahres vorzulegen. Der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung hat am 13. Januar 1983 seine Stellungnahme zu diesem Bericht in Form eines Mehrheits- und Minderheitenvotums abgegeben.
Die Schwerpunkte des Berichts 1983 machen deutlich, welche Aspekte der beruflichen Bildung die Bundesregierung als besonders wichtig ansieht. Dazu vier Punkte.
Die Ausführungen über die Durchsetzung der Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bil1826
dung sollen erneut ein Anstoß sein, dem beruflichen Bildungsbereich, den mehr als drei Viertel der jungen Menschen durchlaufen, mehr gesellschaftliche Anerkennung und gleichwertigen Rang in der Bildungslandschaft zu geben.
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Junge Menschen mit berufspraktischer, betrieblicher Ausbildung müssen ihre eigenständigen und gleichrangigen Bewährungs- und Aufstiegschancen im Beruf haben. Wir brauchen den hochqualifizierten Facharbeiter ebenso wie die wissenschaftliche Spitzenleistung.
Angesichts der künftigen Arbeitsmarktstrukturen und der wachsenden Zahl von Abiturienten halten wir es für dringend geboten, die Einbahnstraße Abitur-Hochschule zu verlassen und das berufliche Bildungswesen stärker für Abiturienten zu öffnen. Es ist nicht verantwortbar, die Abiturienten ausschließlich auf die Hochschule zu verweisen, um sie dann nach langem Studium möglicherweise in die Hoffnungslosigkeit der Akademikerarbeitslosigkeit fallen zu lassen.
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Das ist ein Problem, das uns in den nächsten Jahren in jedem Fall erhebliche Kopfschmerzen bereiten wird und das unsere gesamten Lösungsüberlegungen beanspruchen wird. Ich weiß, daß wir dabei in den nächsten Jahren, bis die ersten geburtenschwachen Jahrgänge in die Ausbildung kommen, vor einer Gratwanderung stehen. Denn erst allmählich werden die Abiturienten einen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, ohne einen Realschüler oder Hauptschüler möglicherweise zu verdrängen. Der betriebliche Ausbildungsmarkt ist j a nicht unbegrenzt aufnahmefähig. Trotzdem müssen wir diesen Weg schon heute beginnen, damit wir den Abiturienten morgen gerade außerhalb der Hochschulen echte Ausbildungschancen bieten können.
Ein besonders schwieriges Kapitel - wir wissen es alle - ist heute und wird morgen noch sein die Situation von Mädchen und Frauen in der beruflichen Bildung. Die Berufsausbildungschancen für Mädchen sind nach wie vor sowohl quantitativ wie qualitativ eingeengt. Ihnen werden immer noch weniger Ausbildungsplätze in einem kleineren Berufsspektrum angeboten. Andererseits hat sich das Berufswahlverhalten der Mädchen und jungen Frauen, die heute oftmals über einen höheren qualifizierten schulischen Abschluß als früher verfügen, noch nicht arbeitsmarktgemäß und zukunftsorientiert geändert. Nur bei sehr viel Flexibilität und Einsicht auf beiden Seiten, sowohl bei den Ausbildungsbetrieben wie bei den Frauen selbst, werden wir die gegenwärtigen Strukturprobleme lösen können.
Noch ein Wort zu den nach wie vor großen Ausbildungsproblemen benachteiligter Jugendlicher. Die Bundesregierung hat im Regierungsentwurf für den Haushalt 1984 die Mittel für das Benachteiligtenprogramm auf 144 Millionen DM aufgestockt, so daß 1984 über 5 200 Jugendliche neu, zusätzlich in das Programm aufgenommen werden können. Dies allein reicht auf die Dauer alles nicht aus. Die Berufsvorbereitung und die Berufsberatung sind gerade für diesen Personenkreis zu intensivieren. Auch neue Formen sozialpädagogischer Vorbereitungsmaßnahmen sind zu erproben. Es zeigt sich, daß gerade die schulische Vorbildung solcher oft einseitig begabter Kinder unzureichend ist. Grund- und Hauptschulen sollten der Förderung dieser Kinder stärkere Aufmerksamkeit als bisher widmen.
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Ich denke, angesichts sinkender Schülerzahlen besteht hierzu eher die Möglichkeit als in Zeiten überfüllter Klassen. Die Berufsbildung kann unmöglich alle Versäumnisse in der Schulbildung der jungen Menschen aufholen.
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Es ist an der Zeit, daß sich die Schulen wieder verstärkt der Bildung der Jugendlichen in den allgemeinen Grundkenntnissen annehmen.
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Dem Berufsbildungsbericht 1983 kommt heute selbstverständlich besonderes Interesse zu wegen der dort vorgenommenen Prognosen und Lageeinschätzungen, die sich heute an den Realitäten messen lassen können. Lassen Sie mich dazu fünf Feststellungen machen.
Durch den persönlichen Einsatz des Bundeskanzlers und durch die besonderen Anstrengungen der Bundesregierung ist es gelungen, daß in diesem Jahr so viele neue Ausbildungsverträge wie niemals zuvor abgeschlossen worden sind.
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Industrie und Handel haben zum Stichtag 30. September 1983 bei den bisher abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in ihrem Bereich einen Zuwachs von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr ermittelt, das Handwerk in seinem Bereich einen Zuwachs von 10,8 %.
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Insgesamt meldet z. B. der Deutsche Industrie- und Handelstag heute ein Mehr von 24 300 Ausbildungsstellen gegenüber dem Vorjahr.
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Wir können auf Grund der bislang vorliegenden Daten mit Sicherheit von einer Zunahme der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge um ca. 38 000 gegenüber dem Vorjahr ausgehen.
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Die Gesamtzahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge dürfte etwa 670 000 betragen. Eine so hohe Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge wurde bislang in keinem Ausbildungsjahr erreicht.
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Daneben stehen nach den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit noch ca. 20 000 angebotene, bis jetzt unbesetzte Stellen. Ich wiederhole es: Ohne den großen persönlichen Einsatz des Bundeskanzlers und das große Engagement der BundesregieBundesminister Frau Dr. Wilms
rung und vieler Politiker in diesem Jahr, die gehandelt und nicht hämisch geredet haben,
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hätten wir diese Rekordzahl an Verträgen nicht erreicht, und wir hätten heute vielleicht 100 000 und mehr Jugendliche ohne Bewerbungschancen; denn es wurden ja nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit 78 000 Bewerber mehr als 1982 vermittelt, und das trotz der schlechten Wirtschaftslage, in der sich viele Betriebe befinden.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch dies noch einmal erwähnen: Auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erleben wir auch jetzt die Folgen einer 13jährigen SPD-geführten Politik!
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Die Attraktivität der betrieblichen Berufsbildung für junge Menschen war offensichtlich nie so groß wie in diesem Jahr; noch nie haben sich so viele Jugendliche um Ausbildungsplätze beworben. Insgesamt wird eine Bewerberzahl erreicht, die wahrscheinlich bei etwa 714000 liegt. Damit werden die bisherigen Nachfragerekordjahre 1980 und 1982 um etwa 50 000 übertroffen. Allein bei der Bundesanstalt für Arbeit, bei den Arbeitsämtern also, bewarben sich etwa 93 000 Jugendliche mehr als im vorigen Jahr. Dieser Ansturm von Jugendlichen gerade auf die praxisorientierte Berufsbildung ist bildungspolitisch in hohem Maße erfreulich. Die beste Versicherung für die Zukunft wird auch von immer mehr Jugendlichen in einer soliden, praxisorientierten Berufsbildung gesehen.
Bei der Erstellung des Berufsbildungsberichts wurde von den Fachleuten für 1983 auf der bislang für alle Jahre geltenden Berechnungsbasis ein Bedarf von 655 000 Ausbildungsplätzen geschätzt. Auf dieser Geschäftsgrundlage mit einem Plus von 30 000 Lehrstellen wurde dem Bundeskanzler die Lehrstellenzusage durch die Wirtschaft gegeben und auch eingehalten.
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Diese Leistung der Wirtschaft in äußerst schwierigen Zeiten gilt es anzuerkennen.
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Ich möchte der Wirtschaft auch im Namen der gesamten Bundesregierung für diese große Ausbildungsleistung Dank sagen.
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Die Prognose war jedoch aus heutiger Sicht nicht weitreichend genug. Dafür gibt es Gründe. Lassen Sie mich einige nennen. Wichtigste Ursache ist das veränderte Bildungsverhalten der jungen Menschen. Wegen zunehmend schlechter Aussichten in akademischen Berufen verzichten mehr Hochschulberechtigte auf ein Studium, um eine Berufsausbildung zu absolvieren. Etwa 20 000 Abiturienten mehr als im Vorjahr - das ist eine Steigerung von 58 % - wollen in diesem Jahr einen betrieblichen Ausbildungsplatz. Dies gilt gerade für junge Frauen, insbesondere für diejenigen, die früher ein Lehramtsstudium aufgenommen hätten, für das sie heute keine Berufschance mehr sehen.
Zwei Drittel der schwierig zu vermittelnden Bewerber sind Mädchen, viele mit mittlerer Reife und sogar schulischer Berufsbildung. Viele Jugendliche schalten heute Ausbildungen hintereinander, ziehen Warteschleifen im Bildungswesen aus Sorge vor Arbeitslosigkeit.
Die Attraktivität der beruflichen Bildung ist enorm gewachsen. Dies hängt auch damit zusammen, daß wir durch die mit Nachdruck geführten Kampagnen zur Erhöhung der Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze bei den Jugendlichen einen Mobilisierungseffekt erreicht haben. Die berufliche Bildung ist ökonomisch gesehen auch in der Vorstellung der jungen Leute ein knappes Gut geworden.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch eine grundsätzliche Bemerkung. Das duale System ist keine Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit. Ausbildung kann Berufstätigkeit nicht ersetzen. 50 000 nicht vermittelte Bewerber bei einem Plus von 78 000 Vermittlungen bei den Arbeitsämtern zeigen in aller Deutlichkeit, daß auf Grund der schlechten Arbeitsmarktlage junge Menschen als Alternative zur Arbeitslosigkeit immer stärker Ausbildungsplätze nachfragen. Der eigentliche Mangel sind für viele junge Menschen Arbeitsplätze. Das Angebot an Ausbildungsplätzen kann dieser Nachfrage nie voll entsprechen. Deshalb liegt der Hauptschlüssel für die Beseitigung der Mangelerscheinungen in einer zukunftsweisenden Wirtschafts- und Finanzpolitik, auf die die Bundesregierung ihr Hauptaugenmerk richtet.
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Wir sind zuversichtlich, daß wir die Talsohle in der Konjunktursituation durchschritten haben. Alle Zahlen weisen ja darauf hin.
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- Daß wir die Talsohle erreicht und durchschritten haben.
Notwendig ist auch eine Politik eines flexibleren Arbeitsmarktes. Dazu gehören strukturelle Veränderungen, etwa in den Arbeitsformen, ebenso wie ein neues Verständnis von Solidarität zwischen den Generationen.
Meine Damen und Herren, die aufgezeigten Entwicklungen können kein Grund für hämische oder destruktive und schwarzmalerische Stellungnahmen sein.
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Wir sollten im Gegenteil froh sein und das auch deutlich sagen, daß durch das Engagement der Wirtschaft und die Aktivitäten der Bundesregierung ein so herausragendes Ergebnis zustande kam. Trotzdem müssen wir um der jungen Men1828
schen willen um weitere Verbesserungen bemüht sein. Ich wiederhole das, was früher gesagt wurde. Der statistische Stichtag 30. September ist kein Endpunkt für die Vermittlung von Ausbildungsplätzen. Die Wirtschaft wird in den nächsten Wochen im Wege des Nachrückverfahrens weitere Ausbildungsplätze erneut anbieten und besetzen. So wurden im Vorjahr in den letzten drei Monaten des Jahres noch zirka 8 500 junge Menschen vermittelt. Im Spitzengespräch mit der Wirtschaft vor kurzer Zeit ist gerade diese Möglichkeit von Nachbesetzungen erörtert worden. Betriebe und Berufsschulen, Kammern und Arbeitsverwaltung sind hier zu einem Höchstmaß an Flexibilität und gegenseitiger Hilfe aufgerufen.
Mit dem in der vergangenen Woche vom Bundeskabinett beschlossenen einmaligen Sonderprogramm in Höhe von rund 160 Millionen DM werden zusätzlich etwa 7 000 bis 8 000 überbetriebliche Ausbildungsplätze aktiviert. Die Lehrlinge werden eine Ausbildungsvergütung bis zur Höhe der Berufsausbildungsbeihilfe nach dem Arbeitsförderungsgesetz erhalten, also bis zu 395 DM monatlich plus Sozialabgaben. Diese Zuwendung des Bundes für die Vergütung halte ich angesichts der schwierigen Situation für sinnvoll; denn es kommt jetzt darauf an, mit dem vorhandenen Geld möglichst vielen Jugendlichen eine Ausbildungschance zu geben.
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Das Sonderprogramm stellt keinen Bruch mit dem dualen System dar. Aus ordnungspolitischen Gründen werden keine betrieblichen, sondern ausschließlich Ausbildungen bei über- und außerbetrieblich organisierten Trägern in anerkannten Ausbildungsberufen gefördert. Eine Überleitung in die betriebliche Ausbildung soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt angestrebt werden. Die Vergabe der Mittel durch die Bundesanstalt für Arbeit erfolgt nur in engster Konsultation mit den örtlichen Kammern, so daß hier kein ausbildungspolitisch gefürchteter Wildwuchs entstehen kann. Die Betriebe der Wirtschaft werden nicht aus ihrer Verantwortung für die betriebliche Berufsbildung entlassen. Der Staat wäre auch gar nicht in der Lage, die großen Finanzierungsleistungen der Wirtschaft zu erbringen.
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Direkte Subventionen an die Betriebe kommen deshalb für die Bundesregierung auch nicht in Frage.
Auch die Länder, meine Damen und Herren, bleiben aufgefordert, ebenso wie die Wirtschaft in ihren Bemühungen, weitere Ausbildungsmöglichkeiten bis Ende des Jahres zu schaffen, nicht nachzulassen.
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Wir können nach allen Berichten, die uns vorliegen, davon ausgehen, daß durch Länderangebote zusätzlich noch weitere 10 000 bis 15 000 Ausbildungsplätze in den nächsten Wochen bereitgestellt werden.
Die Bundesanstalt für Arbeit wird ebenfalls für einen Teil der noch unvermittelten Bewerber zusätzliche Bildungsgänge, Grundbildungslehrgänge, MBSE, einrichten. Hierdurch werden weitere etwa 5 000 Plätze angestrebt.
Meine Damen und Herren, mit diesen Maßnahmen und mit dem Engagement der Wirtschaft wird es gelingen, den größten Teil der bis zum 30. September noch unversorgten Jugendlichen unterzubringen.
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Ca. 700 000 Jugendliche werden in diesem Jahr eine Chance zur beruflichen Bildung erhalten, eine Leistung, um die wir in Europa beneidet werden. Dies muß man einmal sehr, sehr deutlich sagen.
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Ich war gerade in diesen Tagen in Schweden, dem Lande, das von der Sozialdemokratie so hoch gelobt wird. Die Schweden beneiden uns um die Leistung, die wir in diesem Jahr und auch in den nächsten Jahren erreichen werden.
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- Schauen Sie sich mal die Arbeitslosenzahlen in Schweden an, und schauen sie sich mal die Chancen an, die junge Menschen dort haben!
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Bei alledem, meine Damen und Herren, ist schon jetzt auf das Jahr 1984 zu blicken. Auch 1984 bleibt die Ausbildungsplatzsituation äußerst angespannt, und alle Kräfte sind herausgefordert; denn die Gründe, die in diesem Jahr zu einer Zerreißprobe geführt haben, bleiben auch 1984 bestehen. Aber ebenso, wie es in diesem Jahr gelungen ist, allen bösen Unkenrufen zum Trotz, nicht zu einer dramatischen, ausweglosen Situation für die junge Generation zu kommen, wird es uns auch im nächsten Jahr gelingen - davon bin ich überzeugt -, eine gute Chance für junge Menschen bereitzustellen.
Ich habe die Zuversicht und ich bitte die Wirtschaft schon heute von hier aus, daß sie auch im nächsten Jahr unvermindert ihre Verantwortung für die Berufs- und Lebenschancen der Jugendlichen sieht und ohne staatliche Alimentierung das Ausbildungsangebot auf der jetzt erreichten Höhe hält. Es wird darauf ankommen, in einer Gemeinschaftsaktion von Wirtschaft, Gewerkschaften, Staat und Verbänden eine erneute Anstrengung zu bewerkstelligen, um jungen Menschen Ausbildungschancen zu geben.
An der Sicherstellung der Ausbildungschancen für die junge Generation wird sich auch 1984 erweisen, daß Solidarität und soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik nicht Leerformeln, sondern gelebte Wirklichkeit sind. Die Bundesregierung hat bereits jetzt mit ihren Arbeiten begonnen, um die Lehrstellenprobleme auch 1984 befriedigend zu lösen. Wir
werden auf diesem Wege weiterfahren. - Vielen Dank.
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Beifall der Koalition hatte die Dame, die der Bundeskanzler hier ständig im Regen stehen läßt, natürlich verdient.
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Wir diskutieren heute den Berufsbildungsbericht 1983. Dieser Bericht ist in einer Zeit entstanden, als der Bundeskanzler mit dem Aufschwung und der Ausbildungsplatzgarantie die Bundestagswahl gewinnen wollte.
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Jetzt dauert der Aufschwung ein bißchen länger, und die Ausbildungsplatzgarantie ist schon heute geplatzt; denn wir wissen seit Mittwoch vergangener Woche, daß die optimistischen Prognosen des Berichts wenig mit der Wirklichkeit der jungen Menschen in der Bundesrepublik zu tun haben.
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Sie haben im Berufsbildungsbericht mit 655 000 Bewerbern für dieses Jahr gerechnet. Mit dieser Prognose, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben Sie weit daneben gelegen, weil wir heute davon ausgehen müssen - Frau Wilms hat die Zahl soeben genannt -,
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daß insgesamt weit über 700 000 Bewerber um einen Ausbildungsplatz nachgefragt haben. Frau Minister Wilms, Sie können sich doch nicht davon freisprechen, daß sich die Zahlen so entwickelt haben. So etwas hat doch Gründe! Wer die Ursachen dafür sucht, muß sie doch in der Politik der Union finden.
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Wer jungen Menschen in weiterführenden Schulen das BAföG wegnimmt, der braucht sich doch nicht darüber zu wundern, daß sie verstärkt betriebliche Ausbildungsplätze anstreben.
({5})
Wer Abiturienten die Aussicht eröffnet, am Ende des Studiums mit 40 000 DM in der Kreide zu stehen, der hätte dies auch in seinen Hochrechnungen berücksichtigen müssen.
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Wer die Zukunftschancen der jungen Generation nur in Sonntagsreden beschwört,
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aber auf konkrete arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verzichtet, der zwingt junge Menschen doch dazu, wenn sie eine Ausbildung hinter sich haben, noch eine andere anzuhängen, weil es immer besser ist, in Ausbildung zu sein, als arbeitslos auf der Straße zu liegen.
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Frau Minister Wilms, Sie sollten sich eigentlich freuen, wenn sich das Bildungsverhalten der jungen Menschen verändert hat,
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wenn sie nicht direkt in die Arbeitslosigkeit gehen wollen, sondern auf jeden Fall eine Ausbildung mitmachen wollen. Sie hätten das in Ihre Rechnungen mit einbeziehen müssen und nicht hier, wie soeben geschehen, lauthals beklagen dürfen.
Meine Partei und die Gewerkschaften haben Sie, Frau Minister Wilms, insbesondere was die Konsequenzen aus der BAföG-Kürzung angeht, rechtzeitig gewarnt. Sie haben unsere Warnungen überhört.
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Am 30. September hat die Bundesanstalt für Arbeit festgestellt, daß die Ausbildungsplatzgarantie des Bundeskanzlers ein Windei war.
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„Für jeden ist eine Lehrstelle da", hieß es in den Anzeigen. So ist es in den Wahlanzeigen versprochen worden. Frau Minister Wilms, jetzt können Sie sich doch nicht plötzlich auf das Kleingedruckte berufen. Hier handelt es sich doch nicht um Haustürgeschäfte,
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von denen man hinterher wenigstens noch zurücktreten kann, sondern hier haben Leute ihre Stimme abgegeben, weil der Bundeskanzler den jungen Leuten konkret etwas versprochen hat.
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Jetzt sind offiziell noch 50 000 Bewerber da, die keinen Platz gefunden haben. Dazu kommen noch etwa weitere 30 000, die nur vorübergehend von Auffangmaßnahmen erfaßt sind, die jedenfalls nicht qualifizierte Ausbildung bedeuten.
Die Zahl der unvermittelten Bewerber stieg gegenüber dem Vorjahr um 46,3 %. Die Zahl der unbesetzten Stellen ist demgegenüber gesunken. Das heißt: Im Jahr der Kanzlergarantie gibt es die schlechteste Berufsbildungsbilanz seit 1970!
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Die Zahlen lassen sich auch nicht durch Zahlenspielereien uminterpretieren, wie wir sie eben von Frau Minister Wilms gehört haben.
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Eines hat Bundeskanzler Kohl aus dieser Situation offenbar gelernt: Er will für 1984 und die Folgejahre keine Lehrstellengarantie mehr abgeben.
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Die politischen Konsequenzen sind indes dürftig ausgefallen. Mit Ihrem neuen Sonderprogramm können Sie bestenfalls 8 000 Jugendliche versorgen,
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und auch das nur unter der Voraussetzung, daß das Programm noch rechtzeitig vor Ort in die Tat umgesetzt werden kann.
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Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat Ihnen im Dezember 1982 und im Juni 1983 Vorschläge gemacht, wie der Bund die Ausbildung möglichst aller Jugendlichen sichern könnte. Sie haben unsere Vorschläge abgelehnt. Der Bundeskanzler muß jetzt die Konsequenzen dafür tragen.
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Es klingt ja nachträglich wie Hohn, was Helmut Kohl am 7. Januar dieses Jahres im Zweiten Deutschen Fernsehen wörtlich gesagt hat:
Ich trete vor die Wähler nicht mit irgendwelchen Versprechungen, weil ich gewiß bin, daß nach den Erfahrungen von 1976 und 1980 unsere Wähler genug haben von Politikersprüchen vor der Wahl, die nach der Wahl dann nicht eingehalten werden,
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und von gegebenen Worten, die nicht eingehalten werden.
Es ist wahr: Die Wähler haben genug von solchen windigen Wahlkampfversprechungen.
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Wenn ich in den Jargon des CDU-Generalsekretärs verfallen wollte, würde ich sagen: Bundeskanzler Kohl hat die Bundestagswahl 1983 mit einer Lehrstellenlüge gewonnen.
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Der Bundeskanzler will für das Jahr 1984 keine Garantie mehr übernehmen. Es gibt ja 1984 auch keine Bundestagswahl. Vielleicht hat er auch selbst gemerkt, daß er den Mund zu voll genommen hat. Aber zusätzliche politische Anstrengungen könnten wir wohl von ihm erwarten. Die Experten sagen schon heute voraus, daß die Probleme 1984 mindestens ebenso schwierig sein dürften. Die Nachfrage dürfte ungefähr in der Größenordnung dieses Jahres liegen, also zwischen 650 000 und 700 000, das Angebot jedoch erheblich darunter.
Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet damit, daß sich die außerordentlichen Mobilisierungsanstrengungen 1983 auf das Angebot im nächsten Jahr mindernd auswirken werden. Hinzu kommt, daß die Beschäftigung nicht so zunimmt, daß die Unternehmen zu zusätzlichen Ausbildungsanstrengungen veranlaßt würden. Schließlich ist auch damit zu rechnen, daß 40 % weniger Plätze als 1983 frei werden, weil im nächsten Jahr ein relativ schwacher Ausbildungsjahrgang durch das duale System gelaufen und fertig geworden sein wird.
Im Berufsbildungsbericht 1983 heißt es wörtlich: „Das duale System hat eine Bewährungsprobe bestanden." Damit ist das Ausbildungsjahr 1982 gemeint, als immerhin am Ende 36 000 als Unvermittelte übrigblieben. Das war also damals schon nicht ganz richtig.
Hinsichtlich der Ausbildungssituation in diesem Jahr kann man nur festhalten, daß das duale System trotz großer Anstrengungen in einem wesentlichen Punkt gescheitert ist, nämlich an der vom Bundesverfassungsgericht den Arbeitgebern aufgegebenen Verpflichtung, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen.
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Im Urteil vom 10. Dezember 1980 zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Verantwortung der Gruppe der Arbeitgeber für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen hervorgehoben. Ich zitiere aus diesem Urteil noch einmal, weil das offenbar nicht alle von Ihnen kennen. Wörtlich:
In dem in der Bundesrepublik bestehenden dualen Berufsausbildungssystem mit den Lernorten Schule und Betrieb ({24}) liegt die spezifische Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen der Natur der Sache nach bei den Arbeitgebern, denn nur sie verfügen - zumal in einer insoweit durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 GG geprägten Rechtsordnung - typischerweise über die Möglichkeit, Ausbildungsplätze zu schaffen und anzubieten.
Und weiter unten heißt es im gleichen Abschnitt:
Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgabenteilung den Arbeitgebern die praxisbezogene Berufsausbildung der Jugendlichen überläßt, so muß er erwarten, daß die gesellschaftliche Gruppe der Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer objektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, daß grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung der übernommenen Aufgabe nicht mehr ausreichen sollte.
Wer die Wirtschaft für ihre zusätzlichen Anstrengungen lobt, sollte dieses Urteil nicht ganz vergessen. Ich halte es für etwas ungewöhnlich, daß in der Bundesrepublik jemand - wie heute morgen wieKuhlwein
der geschehen - mit Lob überhäuft wird, der seine vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Pflicht nur unzureichend erfüllt hat.
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Ich halte das duale System im Prinzip durchaus für ein vernünftiges System der Berufsausbildung, vor allem wenn es in erster Linie so verstanden wird, daß es ein Optimum von Fachtheorie, Fachpraxis und Allgemeinbildung bieten soll. Ich habe mich deshalb über eine Presseerklärung von Frau Wilms gewundert, nach der - wörtlich - das duale System an den Rand seiner Möglichkeiten stößt, Puffer, Wartesaal und Schutz vor Jugendarbeitslosigkeit zu sein. Ich habe immer geglaubt, Frau Minister Wilms, daß in den Betrieben qualifiziert ausgebildet würde und daß das nicht nur Puffer und Wartesäle sind.
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Die Bundesbildungsministerin ist offenbar anderer Auffassung. Ich gebe ihr allerdings in dem einen Punkt recht, daß wir uns nicht noch einmal auf eine automatische Funktionsfähigkeit des Systems verlassen dürfen.
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Wir fordern Sie deshalb auf, für 1984 rechtzeitig politisch wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht aller jungen Menschen auf Ausbildung auch wirklich zu gewährleisten.
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Wenn Sie heute schon wissen, daß 1984 am Ende wieder Zehntausende auf der Strecke bleiben werden, dann müssen Sie rechtzeitig alternative Programme für die Ausbildung in außerbetrieblichen Werkstätten und in Berufsschulen vorlegen, dann müssen Sie auch von den Streicheleinheiten wegkommen und mit den Arbeitgebern auch einmal Tacheles reden.
In diesen Zusammenhang gehören dann auch Überlegungen, wie die unbestritten hohen Kosten für eine qualifizierte Berufsausbildung unter den Arbeitgebern gerechter als bisher verteilt werden können. Mir wird angst und bange, wenn ich die Antworten auf eine Schnellumfrage des CDU-Wirtschaftsrates lese, wo aus der Sicht der Unternehmer die Ursachen des Lehrstellenmangels liegen. Da werden Jugendliche wegen angeblich schlechten schulischen Ausbildungsstands aussortiert. - Wer macht eigentlich in sieben von elf Bundesländern die Schulpolitik und ist dafür verantwortlich? ({29})
Da werden die Kosten der Ausbildung kräftig übertrieben. Gleichzeitig wird das Verbot der Beschäftigung an langen Berufsschultagen beklagt, was ja wohl damit zusammenhängt, daß die jungen Leute dem Betrieb, wenn sie da sind, eine ganze Menge bringen und nicht nur Geld kosten. Da wird den Jugendlichen Desinteresse und „null Bock" unterstellt.
Meine Damen und Herren, der CDU-Wirtschaftsrat hätte besser daran getan, den Unternehmen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuzuschicken und sie an ihre Pflichten zu erinnern.
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Jedenfalls läßt das Umfrageergebnis den Schluß zu, daß sich hier jemand in verfassungswidriger Weise aus seiner Verantwortung davonstehlen will.
Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Jahren trotz aller Bekenntnisse zum dualen System den Bereich ausweiten müssen, in dem außerbetrieblich oder in beruflichen Vollzeitschulen ausgebildet wird. Frau Wilms hat soeben darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung bereit ist, das schrittweise, wenn auch wenig dotiert, zu tun.
Dann wird sich die Frage aufdrängen, ob Sie auch in Zukunft daran festhalten wollen, daß Vollzeitschule oder außerbetriebliche Ausbildung nur Lükkenbüßer für das duale System sein dürfen, oder ob sie künftig einen festen Platz im System der Berufsausbildung haben werden. Dann wird sich auch die Frage stellen, ob nicht außerbetriebliche Ausbildung oder die Schule in der Berufsausbildung dasselbe leisten können wie das herkömmliche duale System.
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- Wenn Sie meinen, daß das von vornherein ausscheidet, dann frage ich Sie, wie Sie das Sonderprogramm, das die Bundesregierung in der letzten Woche beschlossen hat, beurteilen wollen; denn danach soll j a außerbetrieblich subventioniert ausgebildet werden.
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- Ein Sonderprogramm, in dem Sie eine schlechtere Ausbildung vorsehen und planen und aus Bundesmitteln bezahlen, als sie sonst stattfindet? Ich habe es gehört, ich habe es vernommen; ich werde es künftig in meine Bewertung mit einbeziehen.
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Jedenfalls wird sich auch die Frage stellen - und sie wird beantwortet werden müssen -, warum denn der Steuerzahler einspringen muß, wenn ein Teil der Arbeitgeber ihre Ausbildungspflicht vernachlässigen.
Wir wollen kein dirigistisches System.
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Wir wollen die Berufsausbildung auch nicht verstaatlichen. Aber wir wollen dafür sorgen, daß ein Zustand geändert wird, bei dem nur 50 % der Handwerksbetriebe ausbilden, und zwar, wie sie selbst behaupten, mit hohen Kosten. Wir wollen einen Zustand beenden, in dem Großunternehmen der Automobilindustrie sich mit Ausbildungsquoten rühmen, die nicht einmal ausreichend sind, um den eigenen Beschäftigungsstand zu halten. Oder ist Ihnen etwa entgangen, daß nach allen Statistiken Klein- und Mittelbetriebe weit überdurchschnittlich ausbilden, während sich Großunternehmen sehr
häufig vornehm zurückhalten, um den Klein- und Mittelbetrieben nachher für eine Mark mehr in der Stunde die Arbeitskräfte abzukaufen?
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Ist Ihnen verborgen geblieben, daß bei der derzeitigen einzelbetrieblichen Finanzierung der Berufsausbildung grandiose Fehlentwicklungen programmiert sind? Wie hoch schätzen Sie eigentlich den Umschulungsbedarf, wenn nach dem Berufsbildungsbericht 1983 die Zuwachsraten vor allem mit mehr Ausbildungsplätzen bei den Fleischern, den Bäckern und im Hotel- und Gaststättengewerbe erzielt worden sind? Wer soll die alle beschäftigen? Wer soll die Umschulung nachher bezahlen?
Sie können uns nach wie vor darauf festnageln, daß für uns noch immer eine Ausbildung besser ist als keine. Aber niemand kann doch im Ernst behaupten, daß ein solches System auf Dauer vernünftig ist. Kein politisch Verantwortlicher kann einen solchen Zustand einfach auf sich beruhen lassen.
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Lassen Sie mich zusammenfassen. Der Bundeskanzler hat sein Wahlversprechen nicht erfüllt. Jetzt muß politisch gehandelt werden, und zwar zur Versorgung der übriggebliebenen 50 000 genauso wie zur Bewältigung der Probleme im nächsten Jahr. Ihr Sonderprogramm reicht dazu bei weitem nicht aus. Wir fordern Sie auf, auf die geplante Vermögensteuersenkung zu verzichten und unser Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu übernehmen.
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Wir fordern Sie auf, durch gesetzliche Maßnahmen alle Arbeitgeber an der Finanzierung der Berufsausbildung zu beteiligen.
Die jungen Menschen haben das Recht auf einen qualifizierten Ausbildungsplatz. Denen sind ideologische Streitigkeiten egal. Die Bundesregierung hat sich bereits davon überzeugen lassen, daß außerbetriebliche Ausbildung und berufsschulische Vollzeitausbildung kein Teufelswerk sind.
Meine Damen und Herren, legen Sie in diesen Bereichen zu, und machen Sie sich an eine Strukturreform bei der Finanzierung, Frau Minister Wilms! Wir als Opposition werden Ihnen dabei gern behilflich sein. - Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Kollege Kuhlwein, ich muß Ihnen sagen - wenn Sie mir eine Sekunde Aufmerksamkeit schenken -: Ich habe während Ihrer gesamten Rede überlegt und spekuliert, welchen Bericht Sie denn gelesen haben.
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Den Berufsbildungsbericht 1983 können Sie mit Ihren Ausführungen nicht gemeint haben. Wenn Sie von der schlechtesten Berufsbildungsbilanz sprechen, dann frage ich Sie: Haben Sie diesen Bericht nicht ordentlich gelesen, oder haben Sie in den vergangenen Jahren die Berichte einfach links liegenlassen?
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Wir haben gerade jetzt - ich komme jetzt darauf - die beste Ausbildungsbilanz überhaupt. Wenn Sie, Herr Kuhlwein, sagen, Sie könnten die Union von der derzeitigen Situation nicht freisprechen, dann muß ich fragen: Wo sind wir denn hier eigentlich? Ist Ihr Gedächtnis wirklich so kurz, daß Sie nur noch bis zum 1. Oktober 1982 zurückdenken können und nicht an die dreizehn Jahre davor, in denen Sie an der Regierung waren?
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Ich gebe Ihnen in einem recht: Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes hatten wirklich genug von windigen Versprechungen, 1976 von der Renten- oder 1980 von der Schuldenlüge. Sie haben Ihnen am 6. März die Quittung gegeben. Sie sollten das endlich einmal respektieren und akzeptieren und nicht ständig wieder mit Ihren alten Belehrungen oder - ich muß fast sagen - mit Ihren alten immer wiederkehrenden Forderungen kommen. Sie haben jetzt wieder tief in die sozialistische Trickkiste hineingegriffen, indem Sie wieder eine Ausbildungsumlage und was weiß ich alles gefordert haben.
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Als Sie noch in der Regierung waren und als Staatssekretär in diesem Ministerium Verantwortung getragen haben, haben Sie das ja Gott sei Dank etwas auf die Seite gelegt.
Wenn wir uns die vorläufigen Vermittlungsergebnisse der letzten Woche ansehen, muß ich sagen, daß bislang - bislang! - nicht nur 35 000 Lehrstellen mehr vermittelt bzw. Ausbildungsverträge mehr abgeschlossen worden sind. Frau Minister Wilms hat mit Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß der 30. September noch lange nicht das Ende der Möglichkeiten der diesjährigen Ausbildungsplatzbeschaffung darstellt. Das heißt, wir haben bis jetzt 665 000 Ausbildungsplätze.
Natürlich liegt die Zahl der Bewerber und der Interessenten bei etwa 714 000, wenn man die Zahlen der Bundesanstalt hochrechnet. Wir haben aber immerhin noch am 30. September 20 000 Lehrstellen gemeldet. Und Sie wissen ganz genau, daß am 1. September eine ganze Reihe von Lehrstellen - man spricht von 15 000 bis 20 000 - gar nicht angetreten wurden, die wiederum auf den Markt kommen werden.
Wir können - ich muß das noch einmal sagen - mit Stolz darauf hinweisen, daß in diesem Jahr die beste Bilanz vorgelegt wurde und daß sich in den vergangenen zehn Jahren die AusbildungsanstrenRossmanith
gungen der Wirtschaft, die Sie wieder versucht haben anzugreifen, um 50 % gesteigert haben.
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- Natürlich haben sie das.
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- Wer sagt denn - Herr Kuhlwein, bitte hören Sie mir doch zu -, daß der 30. September das Ende ist? Auch in den besten Jahren hatten wir 15 000 bis 20 000 Jugendliche, die nicht vermittelt werden konnten, wobei es aber nicht an der Wirtschaft und den nicht vorhandenen Lehrstellen lag, sondern an der persönlichen Situation dieser Jugendlichen.
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- Ja, Herr Zander, wir reden im Dezember darüber. Ich fürchte mich vor dieser Diskussion nicht, weil ich ganz genau weiß, daß wir dann sogar noch bessere Zahlen vorlegen können, als es im Moment der Fall ist. Sie haben schon im letzten Jahr, als Sie noch Staatssekretär waren und als Minister Engholm noch im Amte war, der sich jetzt in Schleswig-Holstein versucht, ein Spektakel inszeniert, indem Sie gesagt haben, 100 000 oder 200 000 Lehrstellen werden fehlen. Herr Kuhlwein, selbst die 36 000, die Sie immer wieder anführen, werden j a nicht dadurch besser, daß Sie sie ständig wiederholen. Das waren die Zahlen vom 30. September des vergangenen Jahres. Sie wissen ganz genau, daß diese Zahl am Ende des vergangenen Jahres, als die Ausbildungssituation überblickt werden konnte, ganz anders ausgesehen hat.
Seit 1982 wurden 78 000 Ausbildungsverträge mehr abgeschlossen.
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- Ja natürlich! Gerade wir Politiker sollten dankbar registrieren, daß bei der hohen Arbeitslosigkeit
- ich muß es nochmals sagen; ich tue das nicht aus Freude oder um immer wieder auf die Vergangenheit zurückzugehen, sondern Sie bringen das j a bedauerlicherweise immer wieder in die Diskussion -, bei einer immens hohen Arbeitslosigkeit, in diesem Jahr 700 000 junge Menschen einen Lehrvertrag und eine Ausbildung erhalten können.
Wer die Arbeitslosigkeit letztendlich zu vertreten hat, brauche ich wohl nicht ständig zu wiederholen. Ihre Angriffe auf das duale System sind fast schon penetrant. Ich kann nur Frau Minister Wilms wiederholen: Die gesamten Industrienationen beneiden uns um dieses System. Gemeinsam mit der Schweiz, die ein ähnliches Ausbildungssystem hat, haben wir die besten Möglichkeiten, jungen Menschen eine entsprechende Ausbildung zu vermitteln.
Ich will wiederholen, was Frau Minister Wilms schon gesagt hat: Ihr so hochgelobtes sozialistisches Modell Schweden hat dazu geführt, daß dort 25 bis 30% der jungen Menschen ohne Ausbildung sind - das gilt übrigens auch für Frankreich; ich brauche nicht zu sagen, wer dort Präsident ist -; bei uns sind es etwa 10% bis maximal 15%.
Mir fällt es wirklich schwer, auf dieses Minderheitsvotum überhaupt einzugehen, das besagt, daß im Jahre 1982 263 000 Jugendliche ohne berufliche Ausbildung geblieben sind. Ich weiß nicht, wo die sein sollen und was überhaupt geschehen wäre, wenn tatsächlich noch 263 000 Lehrstellen offen gewesen wären. Wo hätten Sie dann diese angeblichen 263 000 jungen Leute hergenommen? Sie sollten auch hier realistische Zahlen nehmen und nicht ständig das eine mit dem anderen vermengen.
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- Nein, nicht Sie jetzt hier. Aber im Berufsbildungsbericht, den Sie angeblich gelesen haben, ist ein Minderheitsvotum, in dem es heißt, daß in Deutschland 1982 angeblich 263 000 Jugendliche ohne Ausbildung geblieben sind.
Was ich für sehr wichtig halte und vor allem an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, sage: Wir sollten uns hier nicht immer wieder in ideologischen Kämpfen oder in Kriegsgräben wiederfinden, sondern wir sollten gemeinsam Sorge dafür tragen, den jungen Menschen tatsächlich eine Ausbildung zu ermöglichen, gerade jetzt in dieser schwierigen Situation, in der wir uns natürlich befinden.
({9})
Kein Mensch negiert die Tatsache der schwierigen Situation.
Natürlich hat Bundeskanzler Helmut Kohl die Zusage, die er gegeben hat, einhalten können. Nicht nur 30 000, sondern 35 000 zusätzliche Ausbildungsstellen wurden bislang - wohlgemerkt: bislang! - zur Verfügung gestellt.
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Wir sind überhaupt noch nicht am Ende. Frau Minister Wilms hat in sehr, sehr vielen Initiativen - das wissen Sie, und das sollten Sie einmal dankbar anerkennen; ich brauche nicht auf die neueste Initiative einzugehen - Sorge dafür getragen, daß diese schwierige Situation, die keiner leugnet, gemeistert wird.
Ich möchte Kanzler Kohl, Frau Minister Wilms und ihrem Hause und vor allem auch all den Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause Dank sagen, die sich nicht hämisch, wie es noch im Hessenwahlkampf war, gefreut haben, daß die Situation so schwierig ist und daß die jungen Leute keine Ausbildungsstelle erhalten,
({11})
sondern die hier gehandelt - Ausbildungsplatzbörsen und ähnliches mehr - und dafür Sorge getragen haben, daß auch schwierige Punkte bereinigt werden konnten.
({12})
Ich darf zusammenfassen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt mit Nachdruck den Kurs
der Bundesregierung, das duale Berufsausbildungssystem als gleichberechtigten Partner neben dem allgemeinen Bildungssystem zu bewahren und damit zu stärken. Gerade die Tatsache, daß in diesem Jahr 65%, d. h. über 20 000, mehr Abiturienten in das duale Ausbildungssystem eingestiegen sind, zeigt, wie gut dieses Ausbildungssystem ist. Wir sollten nicht ständig daran herummäkeln, sondern alles dafür tun, dieses System, so wie es ist, zu erhalten und alle Beteiligten darin bestärken, damit diese Ausbildungsmöglichkeit in Zukunft entsprechend gefestigt werden kann.
Ferner teilt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Sorge der Bundesregierung, daß die unerwartet starke Lehrstellennachfrage, vor allem bei benachteiligten Jugendlichen und in strukturschwachen Gebieten, natürlich auch auf Engpässe stößt. Deshalb wurde jetzt dieses Programm aufgelegt. Wir begrüßen es nicht nur, sondern wollen mit Sorge dafür tragen, daß es auch entsprechend zur Anwendung kommt.
({13})
- Ich höre Ihnen dann auch gern wieder zu, Herr Kuhlwein, aber gestatten Sie mir jetzt bitte meinen letzten Satz, Kolleginnen und Kollegen.
Die Bundesregierung hat damit erneut unter Beweis gestellt, daß es ihr in der Bildungspolitik in erster Linie darauf ankommt, der Wirtschaft, den jungen Leuten und auch den Eltern - wir müssen die Familien hier mit einbeziehen - durch subsidiäre Förderungsmaßnahmen bei der Schaffung neuer Ausbildungsstellen behilflich zu sein. Die letzten Zahlen und die letzten Statistiken der Arbeitsämter haben die Richtigkeit dieses Weges bewiesen. Sie haben auch bewiesen, daß der Weg, der bis September 1982 eingeschlagen wurde, falsch war, wobei der damalige Bildungsminister Engholm meinte, daß er die Wirtschaft zwiebeln bzw. pressen müsse, um mehr Ausbildungsplätze zu erreichen. Wir wollen den anderen, den für das duale System richtigen Weg gehen. - Ich bedanke mich.
({14})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Temperament ist etwas sehr Schönes, und wir haben es jetzt von beiden Seiten kennengelernt. Der Tagesordnungspunkt, zu dem wir heute sprechen, heißt „Beratung des Berufsbildungsberichts 1983". Wenn es natürlich auch ganz selbstverständlich ist, daß im Mittelpunkt der heutigen Debatte und unseres gemeinsamen Interesses, das sich hinter den Polemiken verbirgt, die aktuelle Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt steht, so sollten wir nicht vergessen - ich hebe das besonders hervor -, daß dieser Berufsbildungsbericht ein wichtiges Instrument gesamtstaatlich verantworteter Bildungspolitik darstellt.
({0})
- Ich danke für den Beifall, Herr Kuhlwein. Ich weiß, bei Ihnen bin ich immer in guten Händen.
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Er wird bekanntlich im Bundesinstitut für Berufsbildung unter Beteiligung der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Länder vorbereitet und vom Bundeskabinett beschlossen. Wir brauchen solche Instrumente gesamtstaatlich verantworteter Politik.
Man kann sich natürlich andererseits, wenn man sich für die Bildungs- und Berufschancen der jungen Generation und vor allem der jetzt zur Debatte stehenden geburtenstarken Jahrgänge besonders engagiert, die eine oder andere Verbesserung dieses Instrumentes wünschen, man kann Prognosefehler bedauern und daraus Folgerungen ziehen wollen. Aber eines bleibt deutlich: Der Bericht, der im Februar 1983 von der Bundesregierung beschlossen wurde, hatte auch in diesem Jahr eine wesentliche Frühwarnfunktion, und er hat so auch indirekt zu den Ausbildungsanstrengungen aller an der beruflichen Bildung Beteiligten beigetragen. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß dieser Bericht wie seine Vorgänger nicht ausschließlich auf die quantitative Seite der beruflichen Bildung bezogen ist, sondern den Versuch einer Wegweisung durch die komplizierten Zusammenhänge regionaler, sektoraler und auch qualitativer Fragestellungen unternimmt, daß er Probleme hinter den quantitativen Bewegungen aufzeigt und Lösungsansätze beschreibt.
Die Verbindung quantitativer und qualitativer Entwicklungen oder Notwendigkeiten wird auch in Zukunft um so wichtiger werden, je deutlicher sich, aus welchen Gründen auch immer, das hier heute morgen mehrfach erwähnte Bildungsverhalten junger Leute verändert,
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woraus sich nicht nur weiterhin, gegenwärtig und in nächster Zukunft, ein verstärktes Bemühen um eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen ergeben muß, sondern sich natürlich auch ganz andere neue Fragen nach neuen Ausbildungsformen und Inhalten stellen.
Bringt das schon eine Fülle notwendiger berufsbildungspolitischer Überlegungen mit sich, so sollten uns die heutigen Erfahrungen vor einem ganz anderen Hintergrund zeigen, daß in diese Überlegungen sehr frühzeitig die künftigen demographischen Veränderungen in Richtung auf die geburtenschwachen Jahrgänge einbezogen werden müssen. Manches, worunter wir heute leiden, ist ein Leiden an Kurzatmigkeit.
Meine Damen und Herren, dies setzt den Mut zu neuen Ideen, dies setzt die partnerschaftliche Zusammenarbeit aller an der beruflichen Bildung Beteiligten in der Wirtschaft, in den Ländern und im Bund voraus. Dies zeigt aber auch noch einmal, daß Flexibilität notwendig ist, weil sich in den hier nur kurz und aphoristisch angedeuteten Fragen und Aufgaben die vielen sehr individuellen, von zahlreichen Erwartungen - auch Wünschen und HoffnunNeuhausen
gen - abhängigen Entscheidungen junger Menschen widerspiegeln, woraus sich, damit diese Erwartungen in einem realistischen Zusammenhang mit den individuellen und allgemeinen Möglichkeiten stehen, auch erheblichere Anforderungen an die Berufsberatung ergeben, als sie heute eigentlich gelöst werden können.
Aber ich will in die unmittelbare Gegenwart zurückkehren. Die Zusage der Wirtschaftsverbände, das Ausbildungsplatzangebot um 30 000 über den im Frühjahr geschätzten Bedarf von 655 000 hinaus zu steigern, ist erfüllt worden. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.
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Dies war nach den Trendmeldungen aus den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern in den vergangenen Monaten natürlich zu erwarten. Deshalb gelten Dank und Anerkennung allen, die wie Handel, Handwerk, Industrie, Selbständige, Gewerkschaften, Lehrer, Ausbilder und freie Träger zu der ganz beachtlichen Mobilisierung des Ausbildungsplatzangebots - teilweise auch durch unkonventionelle Initiativen - beigetragen haben.
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Große Zahlen und abstrakte Termini sowie Zusammenfassungen wie „die Wirtschaft" verdecken oft, daß es eben nicht nur im Bereich der Bewerber um Ausbildungsplätze um sehr individuelle Entscheidungen und Probleme geht, sondern natürlich auch im Bereich des Angebots. Immer sind es ja einzelne Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewußt werden, Möglichkeiten prüfen und Entscheidungen fällen. Diese einzelnen Menschen, die diese Verantwortung erkannt haben, sind es denen unser Dank und unsere Anerkennung vor allem gelten. Deshalb greifen ihnen gegenüber auch nicht die Vorwürfe, die heute morgen wieder gegenüber der Wirtschaft ausgesprochen worden sind; demjenigen, der diese Ausbildungsleistungen erbracht hat, wäre schlecht gedankt, wenn wir ihm heute in einem so globalen Zusammenhang Vorwürfe machten.
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Aber, meine Damen und Herren, leider hat sich auch die mehrfach öffentlich geäußerte Befürchtung der FDP bestätigt, daß es durch eine sprunghafte Steigerung der Bewerberzahl zu einer insgesamt schwierigeren Ausbildungsstellensituation kommen würde. 50 000 nicht vermittelte Lehrstellenbewerber waren am Stichtag 30. September noch bei den Arbeitsämtern gemeldet. Das ist ebenfalls ein Faktum, an dem wir nicht vorbeigehen können.
Und obwohl, wie ebenfalls die Vorjahre zeigen, der 30. September nicht als endgültiger Abschlußtermin betrachtet werden kann, obwohl die Daten über das Ausbildungsplatzangebot unter Einbeziehung der Kammerstatistiken noch nicht vollständig sind und deswegen heute auch keine vollständige Bilanz gezogen werden kann und obwohl immer noch nicht abgemeldete Doppelbewerbungen eine
Rolle spielen mögen - zu dieser Annahme muß man kommen, wenn man sich vor Ort erkundigt -, so ist dieses Ergebnis vor allem deshalb bedrükkend, weil sich hinter der statistischen Zahl noch eine Dunkelziffer verbirgt, die wir ebenfalls im Auge behalten müssen.
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Hier ist wiederum ein Punkt, der für die Zukunft sehr sachlich analysiert werden sollte und nicht zu Polemiken Anlaß bieten darf. Zahlreiche ursprüngliche Lehrstellenbewerber sind zum Stichtag der Berufsbildungsbilanz bereits in berufliche Vollzeitschulen, allgemeinbildende Schulen, Fachhochschulen und Hochschulen abgewandert oder in die verschiedenen Sonderprogramme der Länder und der Bundesanstalt für Arbeit aufgenommen worden und deshalb aus der Bewerberstatistik herausgefallen.
Wie wir, meine Damen und Herren, aus dem Berufsbildungsbericht 1983 wissen, bleiben von jedem Jahrgang, der die Mittelstufe der allgemeinbildenden Schulen verläßt, zahlreiche Jugendliche ohne volle berufliche Qualifizierung. Das sind dann diejenigen, aus denen sich der Hauptteil der arbeitslosen Jugendlichen rekrutiert.
Die außergewöhnliche Situation dieses Jahres - mehr Ausbildungsplätze, für die wir dankbar sind, aber zugleich mehr unversorgte Lehrstellenbewerber, die weiterhin Probleme aufwerfen - ist nach unserer Auffassung eindeutig auf den sprunghaften Zuwachs der Bewerberzahlen zurückzuführen. Bis zum 30. September hatten sich gegenüber dem Vorjahr rund 94 000 Jugendliche mehr als Lehrstellenbewerber gemeldet; das ist eine Steigerung von 18,5 %. Meine Damen und Herren, die Rückwirkungen der allgemeinen Arbeitslosigkeit und der Andrang von unversorgten Bewerbern aus den Vorjahren machen sich hier ebenso bemerkbar wie das bereits mehrfach zitierte veränderte Bildungsverhalten der jungen Menschen. Vor allem die Steigerungsraten bei den Bewerbern mit Fachhochschulreife - plus 43,6 % - und mit Hochschulreife - plus 65,1 % - deuten eben darauf hin, daß sich hier ein Motivationsbündel gebildet hat, in dem neben grundsätzlich neuen Bildungsentscheidungen auch die schlechteren Berufschancen für Akademiker und auch die Änderungen bei der BAföG-Förderung miteinander in Verbindung stehen.
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Die FDP, meine Damen und Herren, hat sehr frühzeitig auf die Probleme eines derartigen möglichen Abdrängungseffektes hingewiesen. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Der seit Anfang der 70er Jahre bestehende Trend, daß mit steigender Abiturientenzahl auch eine steigende Zahl von an sich Hochschulberechtigten in das duale System der beruflichen Bildung eintritt, ist nach unserer Auffassung eine vernünftige Entwicklung.
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Aber unter dem Vorzeichen der geburtenstarken
Jahrgänge müssen sprunghafte Veränderungen im
Berufsverhalten im Interesse dieser jungen Men1836
schen vermieden werden. Wie auch immer dies unter den verschiedenen Gesichtspunkten allgemein zu beurteilen wäre, jetzt gilt immer noch: Jeder zusätzliche Abiturient, der auf ein ursprünglich geplantes Studium verzichtet, und jeder zusätzliche Haupt- und Realschüler, der auf den Besuch einer weiterführenden allgemeinbildenden oder beruflichen Vollzeitschule verzichtet, verschärft den Wettbewerb um Ausbildungsstellen im dualen System der beruflichen Bildung. Wir werden diese Fragen auch im Zusammenhang mit dem Bericht der Bundesregierung auf Grund der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 16. Dezember 1982 zu beraten haben.
Meine Damen und Herren, gerade im Interesse der Hauptschulabsolventen und der Problemgruppen auf dem Ausbildungsstellenmarkt muß auch die Öffnung des Bildungssystems beibehalten werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß sich die Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft sehr frühzeitig und wiederholt für die Aufrechterhaltung der Öffnungspolitik ausgesprochen hat. Es gilt, dies in gesamtstaatlicher Verantwortung durchzuführen. Denn - neben allen anderen Gesichtspunkten -: Der Beitrag der Bildungs- und Wissenschaftspolitik zur Lösung der Probleme auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt wird auch in den nächsten Jahren unverzichtbar sein.
Meine Damen und Herren, trotz seiner begrenzten Kompetenzen trägt der Bund hier entscheidende gesamtstaatliche Verantwortung. Daher begrüße ich auch ausdrücklich das Sonderprogramm der Bundesregierung für etwa 7000 bis 8000 Jugendliche. Ich würde mir allerdings wünschen, daß auch für die Jugendlichen, die ursprünglich für das Benachteiligtenprogramm vorgesehen waren, aber dort aus Haushaltsgründen nicht berücksichtigt werden konnten, noch eine befriedigende Lösung gefunden wird.
Meine Damen und Herren, im übrigen ist es ganz sicher, daß derartige Programme nicht ausreichen werden, um alle quantitativen Probleme auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu lösen. Es ist deshalb noch einmal an alle Betriebe und Verwaltungen zu appellieren, auch jetzt noch vorhandene Ausbildungsstellen zu besetzen, wieder frei gewordene Ausbildungsstellen neu zu besetzen und hilfsweise auch Praktika durchzuführen oder Arbeitsstellen zur Überbrückung zur Verfügung zu stellen.
Meine Damen und Herren, die Länder haben sich bemüht, durch zahlreiche Sonderprogramme und durch den Ausbau beruflicher Vollzeitschulen einen Entlastungsbeitrag zu leisten. Nicht nur in diesem Zusammenhang - das darf ich, glaube ich, trotz der Kompetenz der Länder für diesen Bereich sagen - hat die Berufsschule eine wichtige Funktion. Die Berufsschullehrer haben gerade in dieser Zeit ein Anrecht darauf, daß ihre Leistung hier auch einmal sehr deutlich gewürdigt wird.
({9})
Meine Damen und Herren, wir wissen alle, daß das Jahr 1984 nicht leichter werden wird. Ich habe zu Anfang darauf hingewiesen, daß sich die Probleme auch in den nächsten Jahren - wenn auch unter sich langsam verändernden Vorzeichen - nicht vermindern werden. Aber wenn es wahr ist, was wir immer wieder betonen und auch heute sagen, daß die Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen Bildung gestärkt werden muß, wenn es wahr ist, daß die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft vom Leistungswillen der jungen Generation abhängt, wenn dieser Leistungswille und das Leistungsvermögen die wichtigsten Ressourcen sind, über die wir verfügen, wenn junge Menschen als einzelne ihren Platz in einer sich schnell verändernden Welt finden sollen, dann, meine Damen und Herren, ist die Berufsbildungspolitik auch in Zukunft eines der wichtigsten Aufgabengebiete.
Deshalb sind wir alle, Bund, Länder, Gemeinden, Arbeitgeber, Gewerkschaften, ja die gesamte ältere Generation, aufgefordert, sich dieser Aufgabe in quantitativer und auch in qualitativer Hinsicht anzunehmen und unseren Beitrag für die Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen der jungen Generation zu leisten. Solidarität zwischen den Generationen bedarf der ständigen Übung. Mit Sonntagsreden ist es nicht getan. - Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sehe schon die freudigen Gesichter der Damen und Herren von der CDU/CSU. Das freut mich auch.
({0})
- Ich habe keine neue.
({1})
Fast ist das Jahr 1983 vorüber, und endlich steht der Berufsbildungsbericht auf der Tagesordnung des Bundestages. Man denkt, Hochaktuelles besprechen zu können. Man täuscht sich aber dabei.
Der Bericht umfaßt, wie üblich, das Jahr 1982, wurde im Februar gedruckt und im Juli dem Bundestag von der Bundesregierung zugeleitet. Dies wäre ja auch nicht weiter schlimm, wenn nicht in dieser Zeit eine ganze Menge passiert wäre, wenn nicht in diesem dreiviertel Jahr in dem Bereich, der Gegenstand dieses Berichts sein muß, im Bereich der Berufsbildung ständig hätte öffentlich diskutiert werden müssen.
Wir können feststellen: Ein Rekordversuch ist zu Ende gegangen. Aber leider haben irgendwelche böse Buben das Ziel an eine Stelle gestellt, wo diejenigen, die den Rekord leisten wollten, das Ziel nicht mehr vermutet haben. Es ist richtig, was Frau Wilms gesagt hat: Die Wirtschaft und die Bundesregierung haben ein Rekordjahr hinter sich gebracht. Aber von daher ist auch dieser Berufsbildungsbericht zu messen. Er erhält aus den Geschehnissen dieses Jahres seine Bedeutung.
Zunächst ist festzustellen: Der Bericht ist, wie wir wissen, quantitativ, statistisch unzureichend. Ganz
offensichtlich ist die einfache Fortschreibung der Zahlen für 1983 mit den Modellen, die bisher verwendet worden sind, nicht richtig gewesen. Wir haben falsche Ergebnisse im Bericht. Man vergleiche: 655 000 Suchende als Vorausschätzung, Ist-Zahl weit über 700 000. Das sagt j a alles.
Trotz der regierungsamtlich bestätigten Anstrengungen der Wirtschaft, zu denen sie - darauf hat Herr Kuhlwein schon hingewiesen - verfassungsmäßig verpflichtet ist, ist keine Lösung der Ausbildungsprobleme allgemein in Sicht.
Zweitens ist festzustellen: Nur das Minderheitsvotum der Arbeitnehmer und des Landes Bremen weist auf massive, schon länger andauernde Defizite in der Versorgung mit Ausbildungsplätzen hin. Ich glaube, Herr Rossmanith hat die Zahlen und deren Herkunft nicht ganz verstanden. Da steht nämlich: 1981 274 000 unversorgte Jugendliche, 1982 263 000 unversorgte Jugendliche; 1983 wird mit 272 000 unversorgten Jugendlichen gerechnet.
({2})
- Unversorgte Jugendliche, Herr Kollege Daweke, bedeutet hier aber, daß alle Jugendlichen, die aus dem Sekundarbereich I abgehen und in den weiteren Ausbildungs- und den Arbeitsmarkt hineingehen, gezählt werden. Unversorgte Jugendliche, also Jugendliche, die keine Ausbildungsplätze bekommen, die zum Teil Ausbildungsplätze haben wollen, zum Teil nicht einnehmen können, gibt es eine Viertelmillion in diesem Land, und das seit Jahren. Das sollte auch den Kollegen von der SPD zu denken geben, wenn sie ständig nur auf die Regierung und die CDU/CSU und die Koalition schimpfen.
({3})
Es ist ein altes Phänomen, kein neues. Wir werden um diese Sache auch nicht herumkommen, wenn wir in diesem Jahr zum 30. September, zum gesetzlichen Stichtag, 50 000 Jugendliche ohne Arbeitsplatz angegeben finden. Das sind wiederum nur diejenigen, die sich einmal um einen Ausbildungsplatz beworben haben, und nicht all diejenigen, die in diesem Jahr aus der Schule kommen und keinen Ausbildungsplatz bekommen.
({4})
Es war also schon zur Zeit der Drucklegung des Berichts von Zahlen auszugehen, von denen die Regierung offenbar überrascht worden ist.
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- Diese Zahlen sind reale Zahlen. Es geht nicht darum, was realistisch ist, sondern darum, was real ist.
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Was in der ganzen Diskussion offensichtlich vergessen wird, ist, daß in diesen Zahlen eine große Menge von ausländischen Jugendlichen, die zusammen mit ihren Eltern hierhergekommen sind, enthalten sind. Die Lösung dieses Problems kennen wir: Abschieben ist die Lösung. Das wissen wir auch.
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Aber zurück zum Bericht und zur Politik der Regierung: Vielleicht ist die Überraschung über diese Zahlen auch der Grund für die Untätigkeit dieser Regierung. Eher scheint es mir aber so zu sein: Sie hat dagesessen wie das Kaninchen, das gebannt und beschwörend auf die Schlange „Wirtschaft" starrt und vielleicht noch hofft, daß das Schlimmste nicht kommen wird. Es kam aber doch; nur wurde nicht das Kaninchen gefressen, sondern die Jugendlichen.
Trotz aller schon lange erkennbaren Unzulänglichkeiten der statistischen Prognose verharrte und verharrt die Bundesregierung im Wartestand. Damit das Warten nicht zu langweilig wird, kommt schnell noch ein Pausenfüller: Für 7 000 bis 8 000 Jugendliche sollen Sonderplätze zur Verfügung gestellt werden, Sonderplätze zu Sonderbedingungen: 395 DM Ausbildungsvergütung, was weit unter den normalerweise tariflich festgelegten Ausbildungsvergütungen in anderen Bereichen und in anderen Programmen liegt.
({8})
Anerkennenswert in diesem Programm ist allenfalls die Orientierung auf Mädchen und junge Frauen und auf strukturschwache Regionen. Aber Frau Wilms selbst hat gesagt, unter den 50 000, von denen hier geredet wird - möglicherweise sind es ja mehr -, sind zwei Drittel junge Frauen und Mädchen. Selbst wenn man dieses ganze Programm mit 7 000 Plätzen nur für Mädchen und Frauen verwendete, bliebe immer noch eine große Anzahl von Mädchen und Frauen unversorgt. Denen, die übrigbleiben, wird dieses Programm auch nicht viel helfen.
Darauf, daß dabei selbstgeschaffene Probleme, die sich besonders auf Mädchen - nicht zuletzt auf solche mit gutem oder mittlerem Schlußabschluß - auswirken, eine Rolle spielen, ist bereits von Herrn Neuhausen, was den allgemeinen Bereich der Motivation angeht, und von Herrn Kuhlwein, was die Entscheidungen der Bundesregierung und der Koalition zu den Ausbildungsförderungsmaßnahmen anlangt, hingewiesen worden.
Nach den bisherigen wenigen Versuchen, die z. B. „Abbau der ausbildungshemmenden Vorschriften" genannt wurden, aber in Wirklichkeit nur eine Verschlechterung für die Auszubildenden bedeuten und keine sinnvolle Erweiterung der Ausbildungsmöglichkeiten bringen können, ist die Hilflosigkeit der Bundesregierung für mich nur allzu deutlich geworden.
Klar ist aber auch eine weitere Tatsache: daß die vielgepriesene Wirtschaft es weder leisten kann noch leisten wird, den verfassungsmäßigen Auftrag, genügend Ausbildungsmöglichkeiten bereitzuhal1838
ten, zu erfüllen. Das gilt nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für nächstes Jahr.
Jetzt kommt die Frage nach der neuen Lösung. Dazu sagt der Bildungsbericht herzlich wenig. Er erwähnt die Verringerung der Zahl der Ausbildungsberufe. Es wurden etwa statt der 220 alten 157 neue Ausbildungsordnungen gesetzt. Er nennt einige Schwerpunkte von Neuordnungen, etwa im Bereich der Datenverarbeitung und der Elektronik. Er vermerkt auch die Schwerfälligkeiten bei der Erarbeitung neuer Ausbildungsordnungen.
Den raschen Technologiewechseln in der Wirtschaft kann mit derart schwerfälligen Verfahren, wie sie im Berufsbildungsbericht benannt werden, nicht annähernd gefolgt werden, zumal auch der Teil „Weiterbildung", der gerade in diesem Bereich notwendig wäre, in der Berufsbildungsberichterstattung überhaupt nur einen ganz geringen Stellenwert hat. In dem langen Bericht finden sich dazu sieben Seiten; in dem uns als Drucksache vorgelegten Bericht steht dazu kein einziges Wort.
Es kann also kaum gelingen, mit derartig komplizierten Verwaltungsverfahren neue Wege zu beschreiten, Wege, die sich nicht mehr als Anpassung an den sogenannten technischen Fortschritt verstehen lassen, sondern dahin führen, den zerstörerischen Charakter dieses Fortschritts zu überwinden. Wir von den GRÜNEN werden hier keine allumfassende Alternative anbieten, auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dieses immer wieder von uns gefordert haben. Ich kann mir schon vorstellen, daß Sie das gerne möchten und daß Sie unsere Vorschläge brauchen, da Sie selbst keine haben, die Sie der Regierung mit auf den Weg geben können.
({9})
Ich habe solche Vorschläge noch nicht vernommen.
Wir werden keine umfassende Alternative anbieten; wir müssen aber darauf hinweisen, daß längst nicht alle Möglichkeiten erschöpft sind. In den vielen Selbsthilfeinitiativen, die sich außerhalb der offiziellen Politik entwickelt haben, gibt es eine große Anzahl phantasievoller, kreativer Projekte, die die Ausbildung von Jugendlichen betreiben wollen, aber nicht können, weil das Geld fehlt.
({10})
- Wir? Die Fraktion der GRÜNEN? Das kann ich Ihnen im Moment gar nicht sagen, Herr Daweke.
({11})
Dies ist aber wohl nicht das Problem, ob eine Bundestagsfraktion einen Ausbildungsplatz anbietet.
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- Sie machen das, das finde ich toll. Nur sind diejenigen, die wir hier zu vertreten haben, nicht diejenigen, die hier im Parlament arbeiten. Wir haben einen Arbeitsplatz, und wir haben eine Ausbildung. Ich denke jedoch, daß es notwendig sein wird, das Wort von der Solidarität zwischen den Generationen auch auf diese Selbsthilfeinitiativen anzuwenden. Wir fordern daher - wir haben dieses auch in Anträgen dargestellt, die wir bei den Beratungen des Haushalts 1984 in die Ausschüsse gebracht haben - einen Initiativenfonds, der dem Aufbau und der Entwicklung von selbstverwalteten Projekten dienen soll, in denen auch Ausbildung betrieben wird. Zwingend notwendig erscheint es uns, die Fähigkeit gerade junger Menschen, ihr Leben selbst aufzubauen und zu entwickeln, auch finanziell zu unterstützen.
Wir können auch nicht die Auswirkungen des Pillenknicks, die offenbar die Lösung für die Probleme der geburtenstarken Jahrgänge in der Mitte der 60er Jahre sein sollen, abwarten. Damals waren CDU/CSU und SPD zusammen an der Regierung. Es wird dann nämlich nicht ein Problem der ausbildungslosen Jugendlichen, sondern ein Problem der unausgebildeten arbeitslosen Erwachsenen geben. Ich denke, es sind neue Überlegungen gefordert. Sie sind von einer Bundesregierung gefordert, die mit der Angabe angetreten ist, daß sie all die Schwierigkeiten, die in den letzten 10, 15, 20 Jahren entstanden sind, nun endlich bereinigen will.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kastning.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat anfangen, wenn der Herr Präsident es genehmigt.
({0})
- Danke für den Hinweis. Ich bin neu, Herr Daweke.
Das Zitat:
Für jeden ist eine Lehrstelle da.
({1})
Diese Aussage von Helmut Kohl war so groß gedruckt, daß ich das sogar ohne Brille lesen konnte, und ich nehme an, noch zig Millionen Bürger in „diesem unserem" Lande können das auch lesen und begreifen. Ich wollte nur noch einmal klarstellen, was da gesagt worden ist.
Meine Damen und Herren, ich denke, auch wenn das heute morgen etwas anders klang, daß Frau Minister Wilms bei verschiedenen Gelegenheiten zu erkennen gegeben hat, daß eben dieses Versprechen nicht erfüllt ist und im Verlaufe dieses Jahres nicht erfüllbar sein wird. Warum sonst richtet sie sich wieder mit Appellen an die Kommunen, fordert zusätzliche Ausbildungsplätze? Aus Umfragen in meinem eigenen Wahlkreis weiß ich, daß zumindest von dort nichts kommen wird? Warum appelliert sie wieder wie jüngst über die Spitzenverbände an die Wirtschaft?
Vor zirka drei Wochen, Frau Minister, wurde voller Stolz darauf verwiesen, daß die Bundesländer eigene Programme entwickelt hätten, die jetzt angelaufen sind bzw. in den nächsten Wochen anlaufen. Hier möchte ja wohl die Bundesregierung unter Heranziehung der Länder - Schmückung mit fremden Federn - so tun, als sei all das gelaufen, was geweissagt wurde. Wir sind den Ländern außerordentlich dankbar, daß sie die Initiative ergriffen haben, wenngleich diese Initiativen sehr unterschiedlich zu bewerten sind.
Meine Damen und Herren, mit der Übernahme eines Teiles dessen, was die SPD seit langem gefordert hat, nämlich eines Sonderprogrammes für 7 000 bis 8 000 Plätze, hat die Bundesregierung nun sicher einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan. Aber dieser Schritt kommt zu spät, und er wird angesichts der Zahl von 50 000 Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz wohl auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein bleiben. Und warum erst jetzt, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien?
({2})
- Ich glaube, der Ausbildungsstand der Koalitionsfraktionen ist so, daß nur noch die Zahl 13 in der Mathematik eine Rolle spielt. Das ist kläglich. Ich höre das und nichts anderes hier seit sechs Monaten.
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Meine Damen und Herren, hat man denn seitens Ihrer Fraktionen nach der Aussage des Kanzlers in der Regierungserklärung „Der Aufschwung hat begonnen" ernsthaft auf positive Auswirkungen aus diesem Aufschwung, der nicht in Sicht ist, gewartet? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Es läßt sich doch nicht widerlegen, daß Ihre Verzögerungsstrategie
({4})
im Hinblick auf staatliche Maßnahmen auf dem Ausbildungssektor dazu gedient hat, den unvermeindlichen Offenbarungseid des Kanzlers möglichst lange hinauszuschieben. Im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, Herr Kollege Rossmanith, ist noch vor 14 Tagen sinngemäß vom Kollegen Daweke gesagt worden, wir müßten auf den Aufschwung setzen, und dann lösten sich die Probleme. Ich habe das noch sehr gut in Erinnerung.
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Meine Damen und Herren, in der Diskussion wird gesagt, auch heute morgen wieder, das Berufswahlverhalten der Jugendlichen habe sich verändert. Ich weiß nicht, wie man eine solche Behauptung dauernd aufrechterhalten kann; denn im Berufsbildungsbericht selber, mindestens im Minderheitenvotum, das heute morgen schon angesprochen worden ist, also auch außerhalb der SPD, hat es warnende Stimmen gegeben, die gesagt haben, daß es z. B. einen Nachfragestau gebe und die Zahl der Nachfragenden gegenüber dem Jahre 1982 sehr, sehr hoch liegen werde. Natürlich steht in dem offiziellen Teil - das habe ich gelesen und wahrscheinlich auch die Frau Minister -, daß das Nachfrageniveau 1983 etwa gleichbleiben würde. Nun ist es schon eine Weile her, daß diese Aussage formuliert worden ist, nehme ich an; denn das ist der Bericht 1982. Aber, meine Damen und Herren, wenn ich verantwortungsbewußt da herangehe, muß ich auch die anderen Teile des offiziellen Berichtsteils lesen. Da gibt es sehr wohl Hinweise darauf, daß sich z. B. der Anteil der Schüler mit Hochschulzugangsberechtigung, die eine Berufsausbildung im dualen System nachfragen werden, ansteigen dürfte. Und wenn an anderer Stelle zugleich auch noch ein Anstieg der Nachfrage aus dem Bereich der beruflichen Vollzeitschulen prognostiziert wird, kann ich nicht so tun, als sei die Welt in Ordnung.
({6})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Unionsparteien haben doch wohl - oder hat hier eine Hand nicht gewußt, was die andere tut - durch ihre Politik und vor allem durch ihre Äußerungen dazu beigetragen, daß sich dieser Nachfragetrend bei den Abiturienten verstärkt hat. Ich denke dabei an die jahrelange Verteufelung der akademischen Ausbildung durch Mitglieder der Unionsparteien. Ich denke dabei an die Bemühungen von Unionsvertretern noch vor geraumer Zeit, in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung alternative Ausbildungsmöglichkeiten für Studienberechtigte außerhalb der Hochschulen zu entwickeln, d. h. sie mittelfristig und planmäßig ins duale System abzudrängen. Und mir scheint, wenn ich mich in diesem Zusammenhang noch an den eigenartigen Begriff der Überqualifikation erinnere, daß hier nicht die Bildungspolitik im Vordergrund steht, sondern ein gutes Stück konservativer Gesellschaftsideologie durchschimmert.
({7})
Ich denke, meine Damen und Herren - Herr Kollege Kuhlwein hat das vorhin schon gesagt -, auch an den vollzogenen Kahlschlag bei der Ausbildungsförderung.
Ich bin gespannt darauf - um auf den Berufsbildungsbericht zurückzukommen -, wie das in diesem Bericht angekündigte Modellprogramm „Alternativen zum Studium" aussehen wird, wenn es nicht zu Lasten der jetzt schon Bedrängten im dualen System auf den Markt kommen soll. Will die Bundesregierung eine neue Säule der Berufsausbildung schaffen?
({8})
- Das kann sie nachlesen lassen. Ich glaube, es sind genug Beamte da, die das Protokoll nachher auswerten werden.
Will die Bundesregierung eine neue Säule der Berufsausbildung schaffen, oder, Herr Daweke,
sollen speziell für Abiturienten neue Berufsbilder innerhalb des dualen Systems entwickelt werden?
({9})
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß Sie zunehmend Gefahr laufen, ein wesentliches Prinzip des dualen Systems auszuhöhlen, nämlich daß grundsätzlich jeder Zugang zu jedem Beruf haben soll.
({10})
- Ich möchte, daß die Dinge hier auf den Tisch kommen, daß wir sie diskutieren, Herr Kollege. Die Bundesregierung hat eine Ankündigung gemacht, und diese Ankündigung gehört nun langsam auf den Tisch, zumindest im Ausschuß. Wenn Sie Lust haben, dann können Sie ja als Gast dazukommen; ich glaube, Ihnen als Bundestagsabgeordneter steht dieses Recht zu. Dann unterhalten wir uns weiter.
Zurück zum angekündigten Sonderprogramm der Bundesregierung. So sehr es uns freut, daß nun endlich die Scheuklappen abgelegt werden und die Koalitionsfraktionen bereit sind, auch außerbetriebliche Ausbildungsplätze zu fördern, so sehr kommt doch Skepsis hinsichtlich des Umfangs und auch der zeitlichen Plazierung der Maßnahmen auf.
Noch ist - jedenfalls in der Öffentlichkeit - nicht erkennbar, nach welchen Kriterien gefördert werden soll. Bei allem Bemühen um die Bewältigung des quantitativen Problems darf j a wohl die Frage der Qualität der Berufsaubildung nicht völlig hintangestellt werden. Viele junge Menschen, insbesondere Mädchen, werden schon jetzt in Berufen ohne Zukunft ausgebildet. Selbst die Wirtschaft - insbesondere die Kammern - weist auf den mittelfristigen Bedarf an Fachkräften in sogenannten Zukunftsberufen hin.
({11})
Deshalb denke ich, daß gerade der Staat diese Aspekte bei seinen Maßnahmen mit zu berücksichtigen hat. Kopfprämien haben wir in einigen Ländern lange genug gezahlt.
({12})
Zu Ihrer Frage, was ein Zukunftsberuf ist: Es ist zumindest nicht vorausschauend, wenn ich immer mehr Mädchen in die Ausbildung zu Bürogehilfen hineintreibe, obwohl ich weiß, daß sie auf Grund der technologischen Entwicklung schon sehr bald wieder rausfliegen werden.
({13})
Meine Damen und Herren, noch ist auch nicht zu erkennen, wann die Maßnahme in der Praxis greift. Darüber müssen wir ein bißchen mehr Klarheit haben. Ich denke, wir wollen gemeinsam die Regierung drängen, daß sie nun endlich zu Potte kommt; denn es hat wenig Sinn, wenn eine Maßnahme erst dann greift, wenn die Hälfte des Ausbildungsjahres vorüber ist, denn die entsprechenden Mittel sind erst im Haushalt 1984 vorgesehen, und die diesbezüglichen Richtlinien müssen erst noch verabschiedet werden.
Es existiert dann noch eine Frage, die manchem zwar eigenartig erscheinen mag, die ich aber dennoch ansprechen muß: Ist die in diesem Sonderprogramm vorgesehene monatliche Ausbildungsvergütung der Höhe nach eigentlich mit § 10 des Berufsbildungsgesetzes vereinbar, wonach eine angemessene Ausbildungsvergütung zu zahlen ist?
({14})
- Das ist immer eine Frage des Standpunkts, Frau Kollegin. Daß das hier eine politische Entscheidung ist, das wissen wir. Sie sollen sich auch dazu bekennen, daß es eine solche ist, die Ihrer Vorstellung entspricht. Nur das wollen wir deutlich machen, und sonst nichts.
({15})
Wird mit der Regelung der Bundesregierung, wonach 395 DM Ausbildungsvergütung zu zahlen sind, nicht ein - ich sage es ruhig einmal so - staatlich subventionierter Einheitstyp Auszubildender zweiter Klasse geschaffen? Anders ausgedrückt: Diejenigen, die ohnehin Probleme haben, werden gegenüber den Auszubildenden im Betrieb benachteiligt.
Das Ganze wird noch kurioser, wenn man sich die Programme der Länder ansieht, die Frau Wilms j a auch genannt hat. In Hamburg kann ein junger Mensch erfreulicherweise in eine staatlich geförderte außerbetriebliche Maßnahme mit einer tariflichen Ausbildungsvergütung gehen. Im benachbarten Niedersachsen wird ein Jugendlicher demnächst die Chance haben, im Rahmen eines Sonderprogramms eine Berufsausbildung ohne jedwede Ausbildungsvergütung absolvieren zu können, es sei denn, er fällt unter die klägliche Regelung des BAföG. Dazwischen liegt dann das Kompromißangebot des Bundes.
Meine Damen und Herren, besteht nicht die Gefahr - oder wollen Sie es sogar? -, daß mit diesem Angebot des Bundes, 395 DM zu zahlen, das allgemeine Niveau der Ausbildungsvergütung gedrückt wird?
Zu welchen eigentlich noch viel ernsteren Verwerfungen im Berufsbildungssystem die Verzögerungsstrategie der Bundesregierung und die daraus resultierende mangelnde Bund-Länder-Koordinierung führen kann, zeigt noch einmal das Beispiel Niedersachsens, wo in einer Sondermaßnahme Ausbildungsplätze in Ergänzungsschulen in privater Trägerschaft geschaffen werden sollen. Es handelt sich um Schulen, d. h. es gibt also keine Ausbildungsvergütung und auch keine Berufsausbildungsbeihilfe der Arbeitsverwaltung. Es ist zwar eine externe Abschlußprüfung bei den Kammern vorgesehen, aber hinsichtlich der darauf ausgerichteten Bildungsinhalte gibt es bislang keine rechtliche Sicherheit für die Schüler. Mit dieser Maßnahme der Regierung Albrecht, die, wie ich es sehe, geschaffen wurde, weil aus Bonn nichts kam, soll die außerbetriebliche und die vollqualifizierende
schulische Berufsausbildung unterlaufen werden. Berufsschule wird privatisiert zum Zwecke der Verdeckung der Grenzen des dualen Systems. Wenn der Kollege Rossmanith vorhin von der sozialistischen Trickkiste und von Systemveränderung sprach, so kann ich nur sagen: Ihre Untätigkeit und das, was daraus resultiert, das ist Systemveränderung. Die Systemveränderer sitzen in Ihren Reihen und nicht bei uns.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Nelle.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht 1983 ist in der Tat wie seine Vorläufer eine gute Gelegenheit, über die aktuellen, die anstehenden Probleme der Berufsbildung in unserem Lande zu debattieren, besonders aber über die Sicherung und Verbesserung der Berufschancen junger Menschen, und das vor allem vor dem Hintergrund der geburtenstarken Jahrgänge, mit denen wir es heute zu tun haben: mit kühlem Kopf, aber engagiert,
({0})
nicht jedoch in polemischer und ewig negierender Form, wie das heute und bei allen Gelegenheiten außerhalb dieses Hauses von Vertretern der rotgrünen Koalitionsopposition gemacht wird.
({1})
Wie meine Vorredner erwähnten, haben wir es in erster Linie mit einem quantitativen Problem zu tun. Der Berufsbildungsbericht geht noch im Februar davon aus - das ist richtig, Herr Kuhlwein; Sie haben das angesprochen -, daß wir 655 000 Jugendliche haben werden, die um eine Ausbildungsstelle nachsuchen. Das war eine Fehleinschätzung. Das muß gesagt werden. Aber, bitte schön, wir haben auch schon vor Oktober 1982 bereits gemeinsam mit dieser Zahl gearbeitet.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Nein, Herr Präsident, ich habe nur zwölf Minuten Redezeit.
({0})
Ich will aber an dieser Stelle mit Blick auf künftige Berichte die Forderung erheben, die Prognosetechnik zur Ermittlung der Zahl der in den nächsten Jahren benötigten Ausbildungsstellen wesentlich zu verbessern und viel ausführlicher als bisher auf künftige Entwicklungen einzugehen, damit jungen Menschen, aber auch der Wirtschaft sowie Bund und Ländern Hilfen für Entscheidungen im Bereich der Berufsausbildung gegeben werden.
Ich will nochmals sagen, Herr Kuhlwein und Herr Kastning: Auf dieser Basis von 655 000 Ausbildungsplatzsuchenden und dem Versprechen der Wirtschaft, 30 000 Ausbildungsplätze zusätzlich einzurichten und bereitzustellen, ist das Kanzlerwort gefallen.
({1})
Sieben Monate später - Herr Kuhlwein, nehmen Sie das doch endlich zur Kenntnis und polemisieren Sie weder hier noch draußen -,
({2})
also Ende September 1983, stehen nachweisbar 685 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung.
({3})
Das Versprechen ist eingehalten. Industrie und Handel meldeten 6 %, Handwerk, der öffentliche Dienst und die Landwirte 5 %, die freien Berufe 3 % mehr. Herr Kuhlwein, wenn Sie so dazwischenrufen, frage ich Sie: Wo bleibt denn dann eigentlich die Anstrengung etwa des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Untergliederungen? Ich habe von Einstellungen, erst recht nicht von einer Erhöhung der Zahl der Ausbildungsplätze nichts gehört.
({4})
Mithin können wir zu diesem Zeitpunkt sagen, daß wir 34 000 Ausbildungsplätze mehr als im Vorjahr haben. Das ist eine stolze Leistung, und wir haben allen Grund, der Wirtschaft und der Verwaltung Dank zu sagen. Dank gilt auch - ich will wiederholen, was meine Vorgänger schon gesagt haben - den Kammern, Innungen, Handwerkerschaften, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Berufsbildungsausschüssen, Schulen, Arbeitsämtern, Zeitungsverlagen und Politikern, die nicht geklagt und polemisiert haben, sondern etwa durch Ausbildungskonferenzen, Ausbildungsbörsen, durch gezieltes Ansprechen von Unternehmen, durch Insertion in Tageszeitungen, also durch eine Vielzahl von Aktivitäten das Problem angepackt und zum größten Teil gelöst haben. Herr Kuhlwein, wo bleibt da eigentlich Ihre Aktivität und die Ihrer Kollegen in diesem Rahmen?
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Ich will sagen, daß in der Tat das Problem nicht gelöst ist; denn es gibt 50 000 junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz haben.
({6})
Es ist nur falsch, meine Damen und Herren von der Opposition, hier so zu tun, als sei das ein völlig neues Problem. Wir hatten auch in den letzten Jahren leider über unvermittelte Bewerber zu klagen, die keinen Ausbildungsplatz bekamen.
({7})
1842 Deutscher Bundestag - 10.vWahlperiode Nelle
- Es waren 1980 17 000, in 1981 22 000. Bis zum 30. September 1982 - da hatten Sie die Regierungsverantwortung - waren es 36 000. Herr Kuhlwein, nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß dies bei einer geringeren Zahl von jungen Leuten geschah, die auf diesen Markt kamen.
({8})
Um aber bis zum Ende des Jahres einem großen Teil dieser Ausbildungsplatzsuchenden zu helfen, haben die Bundesregierung und die meisten Länderregierungen gehandelt.
({9})
Die Ministerin hat die Zahlen hier genannt; ich brauche sie nicht zu wiederholen.
Herr Kastning, Sie sagten eben: zu spät. Ich darf hier an das Sonderprogramm erinnern. Zu Ihrer Zeit standen im Haushalt 1982 lediglich, wie ich einmal sagen darf, lächerliche 49 Millionen DM zur Verfügung. Wir haben diese Summe im letzten Jahr auf 122 Millionen DM aufgestockt. Wir haben diese Summe im Haushalt 1984 auf 144 Millionen DM aufgestockt.
Herr Kastning, Sie haben auch die Länder erwähnt. Ich will es auch tun. Es gibt kein Bundesland, das hier nicht auch hilft. Ich will das am Beispiel von Niedersachsen, das Sie erwähnt haben - ich komme selbst aus diesem Land -, verdeutlichen. Das Land Niedersachsen will Jugendlichen ohne Lehrvertrag eine zweijährige Ausbildung in einem qualifizierten Ausbildungsberuf geben. Das Land Niedersachsen stellt dafür 27 Millionen DM zur Verfügung.
({10})
Wenn wir uns mit den quantitativen Problemen von 1983 befassen, müssen wir auch auf 1984 und 1985 schauen. Ich will einige Anregungen geben, wie man diesem Problem vielleicht beikommen kann.
Es ist richtig, daß wir damit rechnen müssen, daß vermehrt Abiturienten in das duale System kommen. Wir hatten 1982 36 000 Abiturienten. Im Jahre 1983 müssen wir mit 63 000 Abiturienten rechnen. Diese Zahl wird steigen.
Ich meine, dies ist auf der anderen Seite ein Faktum, das den Hinweis auf die Flexibilität der jungen Menschen, aber auch des Ausbildungssystems erlaubt. Ich meine, das sollten wir begrüßen. Wir müssen aber nach weiteren Möglichkeiten suchen. Ich meine, die Ansätze in Baden-Württemberg mit der Berufsakademie - in kleinerem Umfang haben wir das in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg, auch in Nordrhein-Westfalen - sind ein Beispiel für alle anderen Länder. Baden-Württemberg will die Zahl von 3 800 sogar auf 5 000 Plätze erhöhen.
Ich will in diesem Zusammenhang aber auch noch ein anderes Problem ansprechen, bei dem Sie auf der linken Seite des Hauses mir sicherlich auch keinen Beifall zollen werden. Ich will über die Problematik der ausbildungsplatzhemmenden Gesetze sprechen. Ich habe in einer Untersuchung des Einzelhandelsverbands nachgelesen. Da heißt es ganz eindeutig, das Angebot an Lehrstellen wäre bei Wegfall einer Vielzahl von Vorschriften wesentlich höher.
({11})
Es wurden in den Gutachten besonders das Berufsbildungsgesetz - gemeint ist die Ausbildereignungsverordnung -, das Schwerbehindertengesetz, das Jugendarbeitsschutzgesetz
({12})
und die Anrechnungsverordnung des Berufsgrundbildungsjahrs - vor allen Dingen da, wo es in verschulter Form angeboten wird - genannt.
({13})
Die Bundesregierung - wir unterstreichen das - unterstützt die Initiativen der Länder zum Abbau ausbildungsplatzhemmender Vorschriften und bereitet selbst entsprechende Änderungen rechtlicher Bestimmungen vor. Wir begrüßen das. Aber wir betonen von dieser Stelle auch und sagen der Wirtschaft, daß von dieser Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen dirigistische Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung nicht mehr ausgehen werden.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang - Herr Kastning, Sie haben eben gesagt: keine dirigistischen Maßnahmen; Herr Kuhlwein hat das auch gesagt - an die Markierungspunkte zur beruflichen Bildung von Herrn Dohnanyi aus dem Jahre 1973. Das steckt den Ausbildungsbetrieben bis heute in den Knochen.
Ich will auch die Ausbildungsvergütung - bisher ein Tabu - nicht unerwähnt lassen. Wir können hier und heute nur an die hierfür zuständigen Tarifpartner appellieren, die Ausbildungsvergütung nicht im gleichen Tempo wie in den letzten Jahren anzuheben. Ein Einfrieren wäre empfehlenswert.
({14})
Sie hören richtig: Die Ausbildungsvergütung im Baugewerbe beträgt im dritten Jahr 1 257 DM. Das ist mehr, als ein Arbeitsloser heute bekommt. Bei der Studie, die ich eben erwähnte, waren für 43,3% der befragten Betriebe die Kosten der Ausbildung ein Grund, weitere Auszubildende nicht einzustellen.
Der Berufsbildungsbericht 1983 kann aber nicht debattiert werden, ohne ein Wort über die Arbeitsverwaltung, besonders über die Berufsberatung, zu sagen. Wenn eine Untersuchung richtig ist, nach der sich 73 % der Jungen und 83% der Mädchen eines Jahrgangs mit ihrem Ausbildungswunsch bei 425 Berufsbildern auf 27 bzw. 25 Berufe konzentrieren, dann kann bei der Information und Beratung der Schüler etwas nicht stimmen. So hat dann auch eine andere Studie in diesem Zusammenhang festgestellt, daß Berufsberater oftmals weder die BeNelle
triebe, in die sie vermitteln, noch deren Qualifikationsanforderungen kennen. Diese für die Jugendlichen schwerwiegenden Folgen können durch Qualifikationsverbesserungen der Berufsberater beseitigt werden. Ich fordere dazu auf.
Wir haben heute verständlicherweise sehr eingehend über das quantitative Problem gesprochen. Wir dürfen aber nicht die qualitative Problematik der Berufsbildung vergessen. Ich will sie - auch wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit - nur stichwortartig ansprechen.
Erstens. Unsere Berufsbilder müssen stärker auf die qualitativen Ansprüche der Facharbeiterplätze von morgen fortgeschrieben werden und dürfen nicht Lehr- und Lerninhalte von gestern enthalten.
({15})
Zweitens. Sowohl die berufliche Grund- als auch die Fachbildung müssen stärker praxisorientiert und weniger verschult sein.
Drittens. Berufsbilder und Lehrer müssen sich ständig weiterbilden, um der rasanten technologischen Entwicklung zu folgen.
Viertens. Es muß eine bessere Abstimmung zwischen Betrieb und Schule erfolgen.
Fünftens. Lehr- und Lernmittel müssen ständig weiterentwickelt werden.
({16})
Lassen Sie mich zum Abschluß noch einmal allen danken, die bisher mitgeholfen haben, sowohl das quantitative als auch das qualitative Problem zu lösen, und - wie wir hoffen - weiter mithelfen. Lassen Sie uns alle, die wir für Berufsbildung verantwortlich und an ihr beteiligt sind, zusammenstehen, um so den jungen Menschen Hoffnung auf eine gute berufliche Zukunft zu geben; denn es bleibt der Wahlspruch: Ausbildung ist Zukunft.
({17})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte geht zu Ende. Ich will noch einmal in wenigen Bemerkungen die Position der Bundesregierung klarstellen.
Erstens. 1983 wird das Rekordjahr der abgeschlossenen Ausbildungsverträge.
({0})
Der bis jetzt geltende bundesrepublikanische Rekord stammt aus dem Jahre 1980. Damals gab es 650 000 abgeschlossene Ausbildungsverträge. Diesmal wird es mit Sicherheit sehr viel mehr geben.
({1})
- Einem Rekord klatscht man Beifall und pfeift nicht.
({2})
78 000 Bewerber sind mehr untergebracht als 1981/82. Herr Kuhlwein, es ist mir rätselhaft, wie Sie dazu kommen, dies als ein Windei zu bezeichnen. Das ist für Zehntausende von jungen Leuten,
({3})
die sonst hoffnungslos auf der Straße gestanden hätten,
({4})
mehr Hoffnung, mehr Zuversicht und mehr Lebenschance.
({5})
- Ich komme auch dazu. Diesen Erfolg verdanken wir Handwerk, Handel und Industrie.
({6})
- Über Mathematik können wir doch nicht streiten, Herr Kuhlwein. Wir haben einen Nachkriegsrekord in Sachen Ausbildung. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({7})
Für die Tatsache, daß wir in diesem Jahr die höchste Zahl der Ausbildungsverträge haben, gilt es denen Dank zu sagen, die mitgewirkt haben. Jeder Handwerker, der einen Jugendlichen mehr ausbildet, als er für seinen Betrieb braucht, hat mehr für die Jugend getan als die, die nur reden und kritisieren.
({8})
Wer mehr tut, als er für seine Zwecke braucht, leistet einen Dienst für das Gemeinwohl. Das Gemeinwohl ist nämlich nicht die Summe egoistischer Interessen. Wer mehr als seine Pflicht tut, ist ein staatsbürgerliches Vorbild. Viele Handwerker, auch viele Unternehmer haben ein Beispiel gegeben, daß sie mehr getan haben als ihre Pflicht. Denen gilt unser Dank und unsere Anerkennung.
({9})
- Ich komme auch noch zu denen, Herr Kuhlwein. Warten Sie nur ab!
Ohne Appell des Bundeskanzlers
({10})
wäre dieser Erfolg sicherlich nicht erreicht worden.
({11})
In dieser Stunde der Bilanz, einer vorläufigen Bilanz, frage ich alle Kritiker, was sie beigetragen
haben, die Ausbildungsplatzsituation zu verbessern.
({12})
Jeder möge hier vortreten. Wer mit leeren Händen kommt, kann sich an der weiteren Diskussion nicht beteiligen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!"
({13})
- Nein, lassen Sie mich meine Thesen im Zusammenhang darstellen. Es sind nur wenige Bemerkungen.
Noch immer gibt es Jugendliche ohne Lehrstelle. Deshalb sind unsere Anstrengungen nicht zu Ende. Wir geben keine Entwarnung. Jeder, der keinen Lehrplatz hat, beunruhigt uns - jeder. Jeder einzelne hat ein Anrecht darauf, einzusteigen.
({14})
Wir wollen keine Aussteiger, sondern Einsteiger.
Deshalb appelliere ich auch in dieser Stunde noch einmal an alle Arbeitgeber, besonders an jene, die nicht oder noch nicht ausbilden, obwohl sie ausbilden könnten. Wer sich von anderen Betrieben den beruflichen Nachwuchs beschafft, obwohl er selbst ausbilden könnte, handelt unsolidarisch ({15})
wie einst die Trittbrettfahrer: Mitfahren und nicht zahlen. Bund, Länder und Gemeinden müssen ein gutes Beispiel geben. Der Bund wird mit einem Sonderprogramm über- und außerbetriebliche Ausbildungsplätze schaffen. Das ist für weitere 7000 bis 8000 junge Mitbürger eine vermehrte Chance, sieben- bis achttausendmal mehr Hoffnung, mehr Zuversicht. Wir warten nicht auf die großen Lösungen. Darüber werden wir wahrscheinlich alle alt. Wir nähern uns dem Ziel Schritt für Schritt.
Herr Kuhlwein, Sie haben die Ausbildungsvergütung angesprochen und eine unterschiedliche Position von Opposition und Regierung dazu festgestellt. Ich will durchaus zugeben: Wir haben möglicherweise eine unterschiedliche Vorstellung von Solidarität. Wenn ich die Wahl habe, einen Lehrling mit 1000 DM Ausbildungsvergütung einzustellen oder zwei Lehrlinge mit 500 DM, dann entscheide ich mich für die zwei Lehrlinge mit 500 DM. Das ist unsere Vorstellung.
({16})
Ich will hier noch einmal in Erinnerung bringen, daß wir für die Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz außerhalb ihres Heimatortes suchen und finden, Hilfen zur Verfügung stellen. Wir belassen es nicht bei Worten. Wir bieten das Instrument des Arbeitsförderungsgesetzes an.
In diesem Jahr sind mehr Jugendliche als zuvor statt in die Hochschule in die Berufsausbildung des dualen Systems gegangen. Das ist unerwartet und konnte so nicht geschätzt werden.
({17})
- Sie haben mit Ihren Prognosen immer danebengelegen. Sie sind wirklich ein schlechtes Beispiel für Prognosen.
({18})
- Ich verstehe nie, warum Sie immer in Unruhe verfallen, wenn ich rede. Woran liegt das eigentlich? Das frage ich mich schon seit Jahren.
({19})
Macht es Sie unruhig, wenn hier Argumente vorgetragen werden?
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Nein. Ich bekomme so viele Zwischenrufe, daß ich keine Zwischenfrage brauche.
({0})
Wenn es etwas ruhiger würde, würde ich auch Zwischenfragen zulassen. Sie müssen sich zwischen Zwischenrufen und Zwischenfragen entscheiden.
({1})
Meine Damen und Herren, im Berufsbildungsbericht wurde mit 35 000 gerechnet - Ende August waren es schon 65 418, also doppelt so viele, wie wir gerechnet hatten -, die eine Hochschulberechtigung haben und ins duale System gehen. In diesem Umschwung könnte auch ein Umdenken, eine Umwertung enthalten sein. Die klassische praktische Berufsausbildung gewinnt an Ansehen.
({2})
Wir bedauern das gar nicht. Universität, Bildung und Reform, das ist die klassische sozialdemokratische Dreieinigkeit, und diese Dreieinigkeit verfällt jetzt etwas. Aus den Reformruinen kehren die Enttäuschten in die Realität zurück. Ich meine , das ist gut.
({3})
Wir stellen gemeinsam fest, daß auch im handwerklichen Beruf Fortschritt und Emanzipation liegt. Es tut mir leid, daß Sie das in Frage stellen.
({4})
Sie scheinen sich sehr weit von der Partei eines Bebel, eines Ebert, eines Böckler entfernt zu haben. Das waren alles Handwerker, die alle die handwerkliche Bildung durchgemacht haben.
Das duale System verbindet Lernen mit Mitarbeit und Bildung mit Praxis. Ich glaube, daß dieses System auch eine Einrichtung der Chancengleichheit ist. Das ist auch ein Lieblingswort der Sozialdemokraten. Chancengleichheit besteht nicht nur darin, daß die Kinder verschiedener sozialer Schichten gleiche Chancen haben - dazu bekenne ich mich -, Chancengleichheit besteht auch darin, daß alle Begabungen gleiche Chancen haben. Wer mit der Hand denken lernt, ist soviel wert, wie derjenige, der die Welt mit dem Kopf begreift. Auch das ist Chancengleichheit.
({5})
Ich glaube, daß dieses System „Lernen durch Mitarbeit" auch eine Chance für junge Menschen ist, den Ernstfall des Lebens nicht erst kennenzulernen, wenn sie schon 30, 40 Jahre alt sind. Vielleicht ist ein Teil der Frustration der universitären Jugend auch darin zu sehen, daß sie bis zum Alter von 30 Jahren in Spiel und Sandkasten der Theorie beschäftigt werden.
({6})
Vielleicht könnte eine Verkürzung dieses Bildungssystems auch dazu beitragen, etwas mehr Wirklichkeit und etwas mehr Bewährung dem einzelnen als Chance anzubieten, was ich auch für eine Voraussetzung für Lebensglück halte.
Niemand darf jetzt aufgeben, auch die jungen Mitbürger, die noch eine Lehrstelle suchen, dürfen den Mut nicht sinken lassen. In jedem Jahr sind zwischen Oktober und Dezember noch Lehrstellen vermittelt worden, in jedem Jahr hat sich auch in diesen Monaten die statistische Schere geschlossen. Von September bis Dezember des vergangenen Jahres wurden von den unvermittelten Bewerbern noch 7 384 vermittelt; das waren 21,6 %, und 1980 war es sogar eine Verminderung von 36,4 %.
Wer etwas gelernt hat - hier wende ich mich an meine jungen Mitbürger -, hat es leichter, ist auch sicherer gegen Arbeitslosigkeit. Zwei Drittel der jugendlichen Arbeitslosen haben keine Berufsausbildung hinter sich gebracht.
({7})
- Man muß es wiederholen. Das sind die Kandidaten der Arbeitslosigkeit. Deshalb bemühen wir uns um Qualifikation. Im übrigen haben ein Drittel der jugendlichen Arbeitslosen den Hauptschulabschluß nicht geschafft. Mir gibt es immer zu denken, daß von denen, die den Hauptschulabschluß nicht geschafft haben und sich anschließend in Sonderlehrgänge der Bundesanstalt für Arbeit begeben, 80 % die Berufsreife erreichen. Jetzt frage ich Sie, woran das liegt. Das mag auch daran liegen, daß unsere Hauptschule zum Stiefkind des deutschen Bildungssystems geworden ist.
({8})
Da beginnt die Bildungsreform. Sie haben sich immer nur auf Universitäten und Hochschulen konzentriert.
({9})
Die Chancengleichheit beginnt in der Grund- und Hauptschule.
Ich glaube, daß die berufliche Bildung, qualifizierte Bildung, auch ein Beitrag zur Überwindung arbeitsmarktpolitischer Schwierigkeiten ist. Moderne Arbeitsplätze brauchen qualifizierte Arbeitnehmer. Unsere weltwirtschaftliche Chance liegt bei den intelligenten Produkten. Berufliche Qualifizierung schafft noch keine Arbeitsplätze, aber sie ermöglicht moderne Arbeitsplätze, und wir brauchen moderne Arbeitsplätze, die zukunftsträchtig sind.
({10})
Berufsausbildung ist deshalb auch ein Beitrag zur Vollbeschäftigung.
Das nächste Jahr erfordert noch einmal eine Kraftanstrengung. Deshalb stehen wir alle in der Pflicht.
({11})
- Ja, mir sind diejenigen, die etwas machen, lieber als diejenigen, die nur meckern. Machen ist für die jungen Leute besser als Meckern.
({12})
Meine Damen und Herren, wir werden uns nicht in Dogmen festbeißen. In einer ungewöhnlichen Situation müssen auch ungewöhnliche Ziele angesteuert, ungewöhnliche Wege gegangen werden.
Herr Bundesminister, erlauben Sie ein Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Reetz?
Herr Minister, auch wir haben in Offenburg so ein Berufsförderungswerk und darauf aufgebaut eine überbetriebliche Ausbildung zum Holzfachwerker, zur Bürokauffrau usw. Können Sie mir sagen, warum gerade diese anschließende überbetriebliche Ausbildung auch in diesem Jahr Kürzungen der Bezüge erfahren hat, so daß die Ausbildung nicht durchgeführt werden kann?
({0})
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben dem Sonderprogramm der Bundesregierung sicherlich entnommen, daß wir trotz knapper Haushaltslage in dieser Frage noch einmal zulegen. Wie Sie wissen, ist das Sonderprogramm zum Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit sechsmal so hoch ausgestattet, wie es von der alten Bundesregierung geplant war.
({0})
- Da waren die Probleme nicht so groß? Sie haben
uns im letzten Jahr bei geringerer Bewerberzahl
34 000 unvermittelte Bewerber hinterlassen, Herr Kuhlwein!
({1})
Wir werden auch unkonventionelle Wege gehen. Es darf kein Nachteil sein, einem geburtenstarken Jahrgang anzugehören. Denn welch verkehrte Welt wäre das: Zugehörigkeit zu einem geburtenstarken Jahrgang als Nachteil!
({2})
Deshalb können wir nicht darauf warten, bis sich die Probleme des Bildungssystems durch Rückgang der Geburtenzahlen lösen. Jetzt muß geholfen werden, weil jeder seine Chance haben soll. Die Bundesregierung stellt sich dieser Herausforderung.
({3})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wann immer seit dem 6. März das Thema Ausbildungsplätze in diesem Hause angesprochen wurde, haben wir erleben müssen, wie das Wahlversprechen des Bundeskanzlers „Für jeden ist eine Lehrstelle da" Zug um Zug zurückgenommen wurde.
({0})
Wenn heute feststeht, daß über 50 000 Jugendliche bei allen Bemühungen der ausbildenden Wirtschaft und mit dieser Garantieerklärung des Bundeskanzlers keine Lehrstelle gefunden haben, so könnte sich diesen Betroffenen leicht der Vergleich aufdrängen, daß sie es hier mit einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu tun haben.
({1})
In der Debatte ist hier heute mehrmals das Wort „Häme" gefallen. Ich möchte, wie ich es in diesem Hause schon einmal getan habe, erneut entschieden zurückweisen, daß Sozialdemokraten Freude empfinden könnten, wenn mehr als 50 000 Jugendliche heute auf der Straße stehen.
({2})
Denn die Initiativen des Landes Hessen haben u. a. immerhin 4 000 Lehrstellen mehr gebracht; und das waren auch Sozialdemokraten, die da gehandelt haben.
({3})
Herr Blüm, wir haben vorhin viele geblümte Worte gehört.
({4})
In einem kann ich Sie beruhigen: Ich komme nicht aus dem Sandkasten der Theorie, sondern kann auf ein ganz normales, reges Berufsleben als Frau zurückgreifen. Deshalb möchte ich heute einen Punkt ansprechen und darauf eingehen, auf wen all das,
was zu Lehrstellen zu sagen ist, im besonderen zutrifft.
Zwei Drittel der jetzt noch unversorgten Ausbildungsplatzbewerber sind Mädchen, obwohl der Anteil der Mädchen mit einem Haupt- und Realschulabschluß höher ist als der der Jungen. Auch bei den Jugendlichen, die in Not- und Auffangprogrammen untergebracht sind - das sind einige Zehntausend -, stellen die Mädchen den Hauptanteil. Dabei sehe ich ganz von denen ab, die nach erfolgloser Suche nach einem Ausbildungsplatz bereits resigniert haben und eine Meldung beim Arbeitsamt unterlassen.
Somit müssen wir davon ausgehen, daß das Wahlversprechen bei mindestens 50 000 bis 60 000 Mädchen nicht eingelöst wird. Aber vielleicht haben die Bürger dieser Bundesrepublik und wir alle gar nicht gemerkt, daß ja diese Lehrstellengarantie des Bundeskanzlers „Für jeden ist eine Lehrstelle da" durchaus geschlechtsspezifisch abgefaßt war.
({5})
Damit ließe sich dann auch erklären, warum man sich erst heute zu einem einmaligen Sonderprogramm für Ausbildungsplatzbewerber durchgerungen hat und darin - man höre und staune - nun die Ausbildungsplatzförderung für Mädchen als vorrangig ansieht.
({6}) Das wird auch höchste Zeit!
({7})
Mit diesem - das steht in der Überschrift - „einmaligen Sonderprogramm" sollen 7000 bis 8000 Ausbildungsplätze geschaffen werden. Daß die Mädchen dabei die Verlierer bleiben, insbesondere im Hinblick auf das Jahr 1984, liegt auf der Hand.
Der Berufsbildungsbericht spricht eine deutliche Sprache: Nur rund 25 % aller Ausbildungsplätze werden Männern und Frauen angeboten, mehr als 50 % dagegen nur Männern und 25 % nur Frauen. Die Ausbildungsplätze für Frauen liegen mit 85 % vorwiegend im Dienstleistungsbereich. Dazu jetzt ein Beispiel aus der Praxis: In meinem eigenen Arbeitsamtsbereich, in der soweit gesunden Region Mittlerer Neckar, ergaben sich bei einer Lehrstellenbörse am 3. Oktober folgende Zahlen: angebotene Ausbildungsplätze, nur männlich: 147; männlich und weiblich: 13; weiblich: 25. Ich glaube, daß die Zahl der Mädchen, die auf der Straße stehen und warten, daß diese Garantie eingelöst wird, mit 50 000 bis 60 000, wenn man die Dunkelziffer und die Parkzahlen dazurechnet, durchaus realistisch ist.
Die Ausbildungschancen für Frauen sind demnach zweifach vermindert: quantitativ und qualitativ. Die Bundesregierung ist durch ihre sich über viele Monate erstreckende Untätigkeit dafür verantwortlich, daß diese Entwicklung fortschreitet. 85 % der Frauen befinden sich in nur 25 von rund 425 Ausbildungsberufen. Das ist vorhin dargelegt worden, es wurde auch bedauert und gesagt, daß man das ändern müsse. Eine Dequalifizierung bereits bei der Ausbildung ist schon allein damit vorFrau Odendahl
gegeben. Ich erwähne als Beispiel den kaufmännischen Bereich, die für Frauen übrigbleibende Ausbildung zur Bürogehilfin, während Ausbildungsplätze für Vollkaufleute fast nur noch männlichen Bewerbern zur Verfügung stehen.
Lassen Sie mich auch noch eine kurze Bemerkung zu dem von Arbeitgeberverbänden initiierten berufspraktischen Jahr machen, das in Form direkter Zuwendungen durch die Arbeitsverwaltung gefördert wird. Der Sprecher des Bildungswerkes der Wirtschaft in Hessen formulierte es am 15. September so: Das Landesarbeitsamt soll das Angebot für 7 500 DM pro Teilnehmer „kaufen". Das sogenannte Angebot der Unternehmer auf Kosten der öffentlichen Hand führt zu keinerlei formaler Qualifikation. Nach eigener Aussage der Initiatoren in Hessen dürfte das Ergebnis unter dem der Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Eingliederung junger Ausländer liegen. Hält die Bundesregierung dieses Projekt mit derzeit ca. 2 000 Jugendlichen im Bundesgebiet wirklich für eine sinnvolle Maßnahme?
({8})
Es handelt sich doch wohl eher um ein Abdrängen ausbildungswilliger junger Menschen auf ein Nebengleis und möglicherweise um die Entlastung einiger Betriebe von ihrer Ausbildungspflicht.
({9})
Auch bei der BAföG-Streichung sind Frauen die Hauptleidtragenden. Sie werden aus dem Vollzeitschulbereich auf den Ausbildungsmarkt gedrängt, um hier - ich habe es bereits angesprochen - wiederum nur zweite Wahl zu sein.
Ich gehe auch deshalb so ausführlich auf die Situation der Frauen und Mädchen ein, weil die Summe der negativen Entwicklungen bei ihnen voll durchschlägt. Sie werden während ihres ganzen Berufslebens bis hin zu späteren Auswirkungen bei der Alterssicherung in besonderem Maß benachteiligt. Gerade der Berufsbildungsbericht zeigt, daß es eine Reihe sinnvoller Maßnahmen gibt, um hier korrigierend einzugreifen. Die von der früheren Bundesregierung eingeführten Modellversuche für die Ausbildung von Frauen in gewerblich-technischen Berufen haben sich als erfolgreich erwiesen. Verhängnisvoll für die Lage der Frauen im Ausbildungsbereich wäre es, nach dem bisherigen Rezept der neuen Koalition zu verfahren, nämlich nichts zu tun.
Die SPD-Bundestagsfraktion legt zum Berufsbildungsbericht 1983 einen Entschließungsantrag vor, weil wir meinen, daß aus diesem Bericht sofort Konsequenzen gezogen werden müssen.
Das von der Bundesregierung nun endlich vorgelegte einmalige Sonderprogramm wird nicht ausreichen - egal, welches Zahlenmodell man auch zugrunde legt -, das Versprechen des Bundeskanzlers „Für jeden ist eine Lehrstelle da" auch nur annähernd einzulösen. Die Jugendlichen, die bis heute noch immer auf das Einlösen dieses Versprechens warten, können nicht weiterhin vertröstet werden, daß j a irgendwann - heute wurde auch das wieder beschworen - der versprochene wirtschaftliche Aufschwung kommt. Keiner dieser Jugendlichen wird verstehen können, wie sich die jetzt geplatzte Lehrstellengarantie des Bundeskanzlers damit vereinbaren läßt, daß ausgerechnet da, wo die Bundesregierung selber verantwortlich ist, nämlich bei den Bundesbetrieben, Ausbildungsplätze abgebaut worden sind; ganz abgesehen davon, daß man von den Ländern und Kommunen nur das fordern kann, was man selber zu geben bereit ist.
({10})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei dem vor einigen Monaten eingebrachten Antrag auf Wiederherstellung des BAföG mit großem Nachdruck auf die Auswirkungen des Wegfalls der Schülerausbildungsförderung hingewiesen. Es war doch vorauszusehen, daß mehr Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien einen Ausbildungsplatz im dualen System suchen und daß wegen der Umstellung des Studenten-BAföG auf Volldarlehen immer mehr Abiturienten - und ich muß darauf hinweisen: es sind wiederum vorwiegend Mädchen - vor dem Studium zurückschrecken und ebenfalls einen Ausbildungsplatz suchen.
({11})
Damit können Sie sich nicht aus der Verantwortung schleichen, daß Sie trotz aller Warnungen über Monate hin nichts getan haben.
Der Berufsbildungsbericht zeigt, daß für 1984 mit einer ähnlich schwierigen Situation gerechnet werden muß. Wir wollen verhindern, daß sich dann das gleiche Trauerspiel mit dem Hin- und Herschieben von Zahlen bis hin zu der Diffamierung, die Jugendlichen hamsterten Ausbildungsplätze, wiederholt.
Wir fordern deshalb erstens, daß die Bundesregierung bis Mitte November 1983 eine komplette, regional aufgeschlüsselte und nach Jungen und Mädchen differenzierte Auszählung der bisher unversorgten Jugendlichen nach dem derzeitigen Stand vorlegt.
({12})
Es werden da j a ganz hohe Erwartungen von Ihnen ausgesprochen. Die wollen wir dann hören.
Wir fordern zweitens, daß die bei Post und Bahn noch nicht besetzten Ausbildungsplätze sofort angeboten werden. Es handelt sich immerhin um 2 000 Ausbildungsplätze. Unser Kollege Ernst Haar hat in einem Telegramm an den Bundeskanzler mit Recht die Durchsetzung der Richtlinienkompetenz gegenüber den Ressortministern entsprechend den öffentlichen Zusagen des Bundeskanzlers gegenüber den ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen eingefordert.
Wir fordern drittens, daß die Kommunen aufgefordert werden, in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen regionale Aktionsprogramme zu erstellen, für die der Bund Mittel aus dem vor kurzem beschlossenen Sonderprogramm für Ausbildungsplatzbewerber zur Verfügung stellt. Bis Dezember 1983 soll die Bundesregierung weitere Programme vorlegen, um die noch nicht durch andere Maßnah1848
men erfaßten Bewerber sofort zu vermitteln. Es kann nicht von Jahr zu Jahr ein größeres Defizit auf das neue Ausbildungsjahr verfrachtet werden.
Darüber hinaus soll die Bundesregierung bis Ende 1983 einen Vorschlag unterbreiten, wie bei der beruflichen Bildung eine gerechte Verteilung der Kosten zwischen Ausbildungsbetrieben und solchen Betrieben, die nicht ausbilden, erreicht werden kann.
Wir beantragen die Überweisung unseres Entschließungsantrages zusammen mit dem Berufsbildungsbericht an die zuständigen Ausschüsse.
({13})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Berufsbildungsbericht 1983 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den Haushaltsausschuß zu überweisen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/482 soll ebenfalls an die genannten Ausschüsse überwiesen werden.
Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Beratung des Agrarberichts 1983 der Bundesregierung
- Drucksachen 10/89, 10/386 Berichterstatter:
Abgeordneter Müller ({1})
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, für die Aussprache einen Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vorzusehen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Kein Widerspruch; danke sehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Michels.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Folgen des Verursacherprinzips lassen sich für die Verbraucher, für die Verursacher, für uns alle um so leichter tragen, je höher wir das Vorsorgeprinzip ansiedeln. Diese Erkenntnis liegt unserem Entschließungsantrag zugrunde.
Müssen wir uns nach den mannigfachen Verwerfungen in den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft nicht fragen: Liegen die zu beobachtenden Konzentrationstendenzen in der tierischen Erzeugung im Rahmen einer wünschenswerten Entwicklung unserer Landwirtschaft? Wenn wir uns die durchschnittlichen Tierbestände aller tierhaltenden Betriebe ansehen, so ist die Welt des bäuerlichen Familienbetriebs bei uns auch im Vergleich mit den anderen Ländern der EG noch weitgehend in Ordnung. Wir sollten aber nicht übersehen, daß, zumal bei der Legehennen-, Schweine- und Milchviehhaltung, durchaus Entwicklungen - wenn auch noch in geringem Umfang - zu beobachten sind, die uns in mannigfacher Hinsicht nicht gleichgültig lassen dürfen.
Wir bitten die Regierung, uns Vorschläge zugehen zu lassen, welche geeignet sind, dem bäuerlichen Familienbetrieb jene Priorität einzuräumen, die nötig ist, um eine nicht gewünschte Entwicklung zur gewerblichen Tierhaltung zu erschweren oder zu unterbinden. Das für 1984 in Aussicht gestellte Agrarkreditprogramm sollte im wesentlichen der Investitionshilfe für Einrichtungen zur Arbeitserleichterung in Klein- und Mittelbetrieben vorbehalten bleiben. Wir müssen uns fragen, ob die zur Zeit gültigen Richtlinien, nach welchen die Gewerbesteuerpflicht eintritt, dem Ziel noch wirksam dienen, den bäuerlichen Familienbetrieb zu schützen und zu erhalten.
Fragen müssen wir auch: Läßt sich mit der Gesetzgebung zum Umweltschutz den zunehmenden Konzentrationstendenzen in der tierischen Erzeugung entgegenwirken? Läßt sich damit, wie wir in unserem Antrag sagen, die bäuerliche Landwirtschaft stärken? In einigen Bundesländern wird zur Zeit im Rahmen des Abfallbeseitigungsgesetzes eine Gülleverordnung erlassen, die die Tierzahl stärker an die Flächen binden soll. Bei allem Zwang zur Ökonomie darf die Strukturentwicklung nicht zu Lasten der Ökologie gehen.
Die beste Voraussetzung zur Erhaltung einer bäuerlichen Landwirtschaft ist eine gute Infrastruktur im ländlichen Raum, die ein Nebeneinander von Voll-, Zu- und Nebenerwerbslandwirten ermöglicht. Baden-Württemberg und weite Teile Bayerns sind dafür gute Beispiele. Ideologische Polemik ist hier völlig fehl am Platze. Ein Betrieb am Rande einer Großstadt erzielt in der Regel höhere Verkaufserlöse und benötigt daher bei weitem nicht den Produktionsumfang wie die marktfern gelegenen Betriebe in Ostwestfalen oder Schleswig-Holstein.
Unser Bundesminister Kiechle hat sehr große Anstrengungen unternommen, den Milchmarkt wieder in Ordnung zu bringen. Seine Vorschläge laufen darauf hinaus, eine Preissenkung zu vermeiden; denn solche Preissenkungen treffen gerade die kleinen und mittleren Betriebe am härtesten.
Alle Überlegungen, meine Damen und Herren, werden aber nur umfassend erfolgreich sein können, wenn sich auch unsere europäischen Nachbarn für den gleichen Weg entscheiden.
Mit unserem zweiten Punkt sprechen wir das soziale Sicherungssystem an. Die Agrarsozialpolitik hat den in der Landwirtschaft tätigen Menschen und ihren Familien viele Sorgen abgenommen und Schutz gegeben. Leider sind die Einkommen in den
letzten acht Jahren, wie Sie unserem Antrag entnehmen können, nur um 1,2 % gestiegen, während sich die Beiträge zur Altershilfe, Kranken- und Unfallversicherung in der gleichen Zeit um 16%, 11 % bzw. 18 % nach oben bewegt haben. Der uns vorliegende Haushaltsentwurf für 1984 sieht einen Bundeszuschuß von 279 Millionen DM für die Unfallversicherung vor. Nach ihrer mittelfristigen Finanzplanung hatte die SPD hierfür nur noch 200 Millionen DM vorgesehen, obschon auch neueste Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen sind, daß die alte Last, die ja durch den Bundeszuschuß abgedeckt werden soll, einen Bedarf von 350 Millionen DM ausmacht.
Eine nach Betriebsgrößen unterschiedliche Staffelung des Bundeszuschusses zur Altershilfe bringt für einen Teil der Versicherten zweifelsohne eine geringe Entlastung. Das kann aber nur geschehen zu dem Preis, daß gerade die kleinen Vollerwerbsbetriebe wesentlich stärker belastet werden. Der Anteil der immer wieder zitierten Großbetriebe, meine Damen und Herren, ist so gering, daß bei einer Staffelung der Beiträge genau jene getroffen werden, die wir eigentlich schonen müssen und schonen wollen. Nur 4,4 % aller Betriebe in der Bundesrepublik haben eine Betriebsgröße von 50 ha und mehr.
Weiter sprechen wir mit unserem Antrag die Möglichkeiten und Maßnahmen zur Verhinderung und Verminderung von Waldschäden und deren Folgen an. Angesichts der Tatsache, daß heute ca. 35 % des deutschen Waldes geschädigt sind, drängt sich uns allen die Frage auf: Waren diese Folgen voraussehbar?
({0})
- Ja.
Wenn ja: Ist man dann im Rahmen der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten an die Beseitigung der Schadensursachen in der Vergangenheit herangegangen? Diese Frage müssen sich insbesondere jene gefallen lassen, die heute ständig unsere Bundesregierung kritisieren wollen.
({1})
Über das hinaus, was der Verlust eines Teiles des deutschen Waldes für uns alle bedeutet, haben unsere Land- und Forstwirte wohl als einzige Gruppe große wirtschaftliche, finanzielle Opfer hinzunehmen. Und sie gehören gewiß nicht zu den Verursachern.
({2})
Die Verminderung der Stickoxid- und Schwefeldioxidemissionen muß zu einer Hauptaufgabe in ganz Europa werden; denn die Luft kennt keine Grenzen.
({3})
Wir erkennen dankbar die zielstrebigen Leistungen unseres Bundesinnenministers an. Durch die Verschärfung der Großfeuerungsanlagen-Verordnung und den Kabinettsbeschluß vom 20. Juli dieses Jahres zur Einführung bleifreien Benzins bis 1986 sind wesentliche Weichenstellungen zur Reinhaltung der Luft erfolgt.
Wir meinen aber, daß der Nutzung nachwachsender Rohstoffe für die Äthanolgewinnung noch mehr Bedeutung zukommen muß. Wir halten es für nötig, daß die Pilotanlagen zur Gewinnung von Äthanol weiter vom BML gefördert werden, um durch die Beimischung von Äthanol zum Kraftstoff eine teilweise Sicherstellung des Energiebedarfs aus eigenem Aufkommen und eine Reduzierung der Schadstoffabgase beim Pkw zu erreichen.
Die Politik der hohen Schornsteine hat die Ursachen nicht beseitigt, sondern den Schaden in weiter abgelegene Regionen geführt. Sie hat das Problem lediglich räumlich verlagert.
Mit unserem Entschließungsantrag haben wir auf die wunden Punkte der Wirtschafts-, Struktur-, Sozial- und Umweltpolitik hingewiesen. Wir wollen verhindern, daß der Staat immer mehr zum Reparaturbetrieb wird. Uns, den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, geht es nicht um eine rhetorische Konfrontation, sondern wir wollen durch unseren sachlichen Beitrag früh genug einer möglichen Fehlentwicklung entgegenwirken. - Schönen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Wimmer ({0}).
Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem halben Jahr haben wir in diesem Hohen Hause den Agrarbericht 1983 der Bundesregierung beraten. Es war damals eine sehr ausführliche Debatte. Der Bundesminister Kiechle hat in der Einbringungsrede seine agrarpolitischen Zielvorstellungen und die von ihm beabsichtigten Handlungsschwerpunkte vorgetragen. Es ist sicher heute nicht der Platz, eine erneute Agrardebatte zu führen. Es würde allerdings reizen, einmal zu untersuchen, was von dem Reden beim Handeln des Agrarministers dann noch übrigbleibt. Aus Zeitgründen nur eine Bemerkung hierzu.
Die Unruhe und die Ungeduld in der Landwirtschaft über diese Regierung wachsen von Tag zu Tag.
({0})
Der vorliegende Entschließungsantrag zeigt es: Was als Unterstützung der Bundesregierung gedacht ist, verkehrt sich bei näherer Betrachtung in das Gegenteil. Da wird die Bundesregierung zunächst ersucht, angesichts der zunehmenden Konzentrationstendenzen in der tierischen Erzeugung umgehend geeignete Maßnahmen zur Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft vorzunehmen,
({1})
die Verhinderung unerwünschter Großbestände zu erreichen.
({2})
Wimmer ({3})
Die Kollegen der Koalitionsfraktionen sehen hier Gefahren. Diese Sicht teilen wir. Nur bleibt das Handeln auf Ihrer Seite aus.
({4})
Es gibt inzwischen riesige Tierfabriken, die die Umwelt belasten und die den bäuerlichen Betrieben die Entwicklungschancen wegnehmen.
({5})
Herr Staatssekretär Gallus, der j a gelegentlich auf diese Gefahren hinweist, sagte, es müßten unter Umständen Bestandsobergrenzen gefordert werden. Der Herr Bundesminister Kiechle sieht aber keinen Handlungsbedarf; für ihn ist die Beratung der Bauern, wie er vor wenigen Tagen in einem Interview erklärt hat, hilfreicher und wirkungsvoller als neue Gesetze. Von vorgeschriebenen Höchstbestandsgrenzen in der Tierhaltung halte er nichts. Ich bin sehr gespannt, wer im Ministerium eigentlich die richtige Meinung vertritt, der Herr Staatssekretär oder der Herr Minister.
({6})
Hier ist einmal eine Klärung notwendig. Was gilt denn eigentlich?
({7})
Was geschieht, ist auf jeden Fall zu wenig. Wer eine weitere Konzentration verhindern will, wer eine umweltfreundlicher produzierende Landwirtschaft befürwortet - wir tun dies -, der muß jetzt handeln. Es könnten im Bereich des Steuerrechts eine Reihe von Maßnahmen zur Entlastung der kleinen und mittleren Betriebe getroffen werden. Ich denke hierbei an eine Änderung der Freibetragsgrenzen, an eine Veränderung bei den Sonderabschreibungen, an Veränderungen in der Viehbewertung und in der Umsatzpauschalierung. Wer die bäuerliche Landwirtschaft erhalten will, muß bereit sein, die gewerbliche Tierhaltung gegenüber der bäuerlichen Tierhaltung stärker zu belasten, als das bisher der Fall war.
({8})
Dies wollen wir. Die Regierung aber tut hierzu nichts.
Das Nichtstun dieser Regierung ist besonders ärgerlich im Bereich der Agrarsozialpolitik. Punkt 2 des Entschließungsantrages verkleistert eigentlich das Problem, um das es hier geht. Es geht darum, daß die Bundesregierung endlich einmal den Auftrag des Deutschen Bundestages vom 16. Dezember 1982 erfüllt und einen Gesetzentwurf über eine sozial gerechte Verteilung der Bundeszuschüsse im Rahmen der Altershilfe für Landwirte vorlegt. Wir haben bereits 1981 einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Sprecher der damaligen Opposition, der jetzige Bundesminister Kiechle, hat diesen Entwurf abgelehnt und ihn als „sozialistisches Teufelswerk" abqualifiziert.
({9})
Der Bundesrat fungierte damals als Erfüllungsgehilfe, so daß dieses Gesetz nicht in die Tat umgesetzt werden konnte.
({10})
Anläßlich der Beratungen über den Bundeshaushalt 1984 hat jetzt der Bundesrat um eine Prüfung gebeten, wie dem Anliegen einer gestaffelten Beitragsermäßigung zugunsten kleiner und mittlerer Betriebe kostenneutral entsprochen werden könnte. Offensichtlich ist auch jetzt beim Bundesrat die Einsicht gewachsen, daß hier endlich etwas geschehen muß. Nur der zuständige Bundesminister handelt nicht.
({11})
Man prüfe noch, läßt man immer wieder verlauten. Was gibt es eigentlich noch zu prüfen? Es gab einen Gesetzentwurf. Viele Sachthemen wurden bereits ausführlich diskutiert. Es gibt einen fertigen Gesetzentwurf des Arbeitsministeriums. Es gibt auch im Landwirtschaftsministerium einbringungsreife Entwürfe. Wenn man es tatsächlich wollte, dann könnte man es in wenigen Wochen oder Monaten über die Hürde bringen. Aber es wird immer wieder das fadenscheinige Argument angeführt, man müsse noch prüfen.
1983 werden die Beiträge zur Altershilfe für Landwirte um mehr als 20 % auf 129 DM im Monat steigen. Die jetzt schon vorhandene Ungerechtigkeit, die soziale Ungleichbehandlung wird dadurch weiter verschärft. 1981 und 1982 beliefen sich die Beiträge zur Altershilfe in den kleinen landwirtschaftlichen Betrieben auf 7,1 % des Gewinns: in den großen Betrieben betrug der Anteil lediglich 2,1 %. Ich habe kein Verständnis dafür, daß Großunternehmen in der Landwirtschaft den gleichen Bundeszuschuß erhalten wie kleine Unternehmen. Das muß geändert werden.
Dieser untragbare Zustand soll nach dem Willen des Ministers Kiechle weiter aufrechterhalten werden,
({12})
denn es wird - wie es heißt - immer nur „geprüft". Ich meine, der Minister wird unglaubwürdig, wenn er sich andererseits landauf und landab für die Förderung und bessere Unterstützung kleiner und mittlerer bäuerlicher Betriebe einsetzt. Quotenlösungen bei Milch und der Agrarkredit sind die falschen Instrumente, um den einkommensschwachen kleinen und mittleren Betrieben zu helfen. Dort, wo unmittelbar und wirksam durch eine sozial gerechtere Staffelung der Bundesmittel zur Altershilfe, geholfen werden kann, verweigert sich der Minister nachhaltig. Für diese Haltung gibt es keine Entschuldigung. Technische und administrative Probleme der Durchführung gibt es nicht. In der Unfallversicherung und auch in der Krankenversicherung werden bereits Staffelungen vorgenommen. Warum greift man nicht auf Erfahrungen in diesem Bereich zurück und wählt einen Indikator für die Staffelung, mit dem man bereits Erfahrungen hat?
Wimmer ({13})
Ich sage es ganz deutlich: Wer eine sozial gerechte Verteilung der Bundeszuschüsse politisch nicht will, dem fällt auch mit Sicherheit nichts ein.
({14})
Die Verschleppungstaktik von Bundeslandwirtschaftsminister Kiechle trifft die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe.
({15})
Wenn er ihnen jetzt einen Agrarkredit aufschwatzt und noch dazu die Landabgaberente streicht, dann verschärft er die sozialen Gegensätze in der Landwirtschaft. Die Verantwortung hierfür trägt einzig und allein der derzeitige Landwirtschaftsminister Kiechle.
In der Entschließung fordern die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auf, die Abdeckung strukturwandelbedingter Defizite - sogenannte Altlast - in der Unfallversicherung anzustreben. Wo bleibt denn das Gutachten, das von der alten Regierung in Auftrag gegeben wurde, das auch bereits fertig vorliegt? Es muß endlich einmal vorgelegt werden, damit man dem Problem der Altlast tatsächlich gerecht wird. Auch das halten Sie unter Verschluß. Irgend jemand hockt auf diesem Gutachten.
Zu dem letzten Punkt des Entschließungsantrages brauche ich nicht viel zu sagen. Das Waldsterben nimmt dramatische Ausmaße an. Der Anblick der Wälder erfüllt uns alle sicher mit größter Sorge. Wir teilen die Meinung, daß wesentlich weitere Schritte zur Luftreinhaltung erforderlich sind. Kabinettsbeschlüsse allein reichen hierzu nicht aus. Dazu ist ein Gesetzentwurf notwendig, und auf den warten wir. Das gilt auch für die Bleifreihaltung des Benzins. Vielleicht üben die Agrarpolitiker der Union und der FDP Druck auf ihre Regierung aus, damit jetzt gehandelt wird und der Wald nicht zum Teufel geht. Mit Schauentschließungsanträgen wie dem, den wir heute behandeln, lösen wir diese Probleme nicht.
Sie hätten Gelegenheit gehabt, bei den Beratungen im Ausschuß, in der Haushaltsdebatte ganz konkreten Vorschlägen unserer Fraktion zuzustimmen. Sie haben das nicht getan. Das läßt den Schluß zu, daß mit diesem Entschließungsantrag der Bundesregierung nur Flankenschutz für ihr Nichthandeln gegeben werden soll. Dieser Entschließungsantrag ist nicht konkret genug. Außer Allgemeinplätzen enthält er nichts. Aus diesem Grund stimmen wir dem Entschließungsantrag nicht zu.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Beratung des Agrarberichtes 1983 war es der Fraktion der FDP ein besonderes Bedürfnis - gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion -, auf drei Punkte speziell hinzuweisen: die Struktur-, Sozial- und Waldpolitik.
Herr Kollege Wimmer, eines ist sicher richtig: daß wir beide Bayern sind und daß wir immer unzufrieden sind. Das beziehe ich natürlich auch auf den agrarpolitischen Bereich. Da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite. Aber trotzdem gilt: Politik ist die Kunst des Möglichen.
({0})
Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis. Wir waren ja lange genug miteinander in der Regierung. Ich hatte auch damals immer das Bedürfnis, mehr zu fordern. Es hätte noch immer mehr sein können.
Die Diskussion um die zukünftige Agrarpolitik in Europa ist in vollem Gange. Auf dem Gipfel in Stuttgart ist die Kommission beauftragt worden, ein Papier zur Reform der europäischen Agrarpolitik vorzulegen, was Ende Juli auch geschehen ist. Es geht darum, dafür Sorge zu tragen, daß die europäische Agrarpolitik finanzierbar bleibt.
({1})
Dabei legt die FDP Wert auf die Feststellung, daß die bäuerliche Landwirtschaft nur dann eine Zukunft haben wird, wenn sich die Einkommenssituation auch in der Zukunft so entwickelt, daß kein zu großer Abstand zu den übrigen Bereichen unserer Volkswirtschaft entsteht.
Inwieweit das Papier der Kommission dem Rechnung trägt, bleibt abzuwarten, zumal die Kommission bisher keine Aussagen darüber gemacht hat, welche Konsequenzen ihre Vorschläge für die Einkommenssituation der Landwirtschaft haben werden. Nach allem, was wir bisher wissen - die Kommission will in drei Jahren 15 bis 20 Milliarden DM in der Agrarpolitik einsparen -, kann nur ein Laie glauben, daß das ohne Einkommenseinbuße an der europäischen und damit auch an der deutschen Landwirtschaft vorübergehen wird.
Der zweite gravierende Bereich, den es neu zu ordnen gilt, ist die Agrarstrukturpolitik Europas. Wir müssen davon ausgehen, daß wir nicht nur bei der Milch - wie auch bei der Fleischproduktion - übersättigte Märkte haben. Wenn der vielgenannte und von uns allen beschworene Familienbetrieb erhalten werden soll, müssen wir auch die Veredelungskapazitäten der bäuerlichen Landwirtschaft erhalten.
Sicher gibt es verschiedene Wege, dieses Ziel zu erreichen. Wir sind aber der Auffassung: Wenn man mit Erfolg verhindern will, daß Kapital außerhalb der Landwirtschaft in die bäuerliche Veredelungsproduktion eingreift, vor allem in die Schweineproduktion, wenn man eine Situation wie bei der Eierproduktion verhindern will, dann wird man um entsprechende Entscheidungen nicht herumkommen.
({2})
Dazu gehört auch, wenn andere Maßnahmen nicht greifen - das möchte ich besonders betonen; hier gilt es sicherlich noch in hartem Streit abzuklären, was der Kompromiß sein wird -, über Bestandsobergrenzen bei der Veredelungsproduktion, besonders bei Schweinen, zu diskutieren, wie es meine Partei in ihrem Programm 1980 verankert hat.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Frage nicht als nebensächlich zu betrachten, sondern ernsthaft zu prüfen. Vor wenigen Tagen hat sich auch der Deutsche Tierärztekongreß in Baden-Baden dafür ausgesprochen. Die Haltung des Deutschen Bauernverbandes diesbezüglich ist ebenfalls bekannt. Wir müssen in der Sache weiterkommen.
Erwähnen möchte ich noch, daß diese Frage letzten Endes auch in den Bereich des Tierschutzes und des Umweltschutzes hineinreicht, und zwar durch die Belastung der Umwelt durch zu hohe Tierbestände, wie es in gewissen Gebieten, besonders in Holland, schon längst der Fall ist. Ich halte es für nicht mehr wahrhaftig, von der Erhaltung des bäuerlichen Familienbetriebs zu reden, wenn man nicht möglichst bald, am besten in ganz Europa - das wünsche ich mir, und das ist auch unsere Forderung -, diese Rahmendaten so gestaltet, daß dieser vielbeschworene Betriebstyp eine Überlebenschance hat. Bedenken wir, daß es nicht übertrieben ist, wenn man sagt, daß auf Grund des technischen Fortschritts bereits 40 000 Betriebe mit je 400 Liegeplätzen bei einer jährlichen Produktion von 1 000 Mastschweinen ausreichen, die gesamte deutsche Schweineproduktion zu erstellen. 400 Liegeplätze reichen aber für jemanden, der nur Schweine mästet, bei den heutigen Preisen nicht aus, um eine Familie zu ernähren.
({3})
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß es höchste Zeit ist, die staatliche Förderung in ganz Europa vorübergehend auszusetzen, und zwar nicht nur beim Bau neuer Kuhställe, sondern gleichermaßen bei den Schweine- und Bullenställen.
({4})
Der zweite Punkt des Entschließungsantrags der CDU/CSU und der FDP betrifft die Neugestaltung der EG-Agrarsozialpolitik, insbesondere die differenzierte Gestaltung des Beitrags zur landwirtschaftlichen Alterskasse. Wenn von seiten des Bundes nicht mehr Geld für den Agrarsozialbereich zur Verfügung gestellt wird, ist es mehr als ein Gebot der Gerechtigkeit, daß die Zuschüsse zur Agrarsozialpolitik entsprechend der Leistungsfähigkeit der einzelnen Betriebe eingesetzt werden. Auch hier muß noch miteinander geredet werden. Es ist selbstverständlich, daß bei der Ausgestaltung der Mittel für die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften die Belastungen der deutschen Landwirtschaft, die sich aus der alten Last ergeben, Berücksichtigung finden müssen.
Nun komme ich zum dritten Punkt, der sicher für das ganze Land eine besondere Bedeutung hat und sich für die Landwirtschaft ganz besonders darstellt, nämlich zum Waldsterben. Die neuesten Zahlen des Bundeslandwirtschaftsministeriums, daß bereits ein Drittel des deutschen Waldes geschädigt ist, haben uns alle schockiert. Wir wissen auch, daß wir hier eine große Verantwortung zu bestehen haben. Die Frage, die wir hier zu beantworten haben, ist schlicht und einfach, wie wir schnell noch weitere Maßnahmen einleiten können, damit wir von den fortschreitenden Belastungen unserer Wälder und deren Schädigung nicht überrollt werden, bzw. ob die bis jetzt beschlossenen Maßnahmen ausreichen werden, mit den Problemen fertigzuwerden. Hier muß man eindeutig feststellen, daß die TA Luft nach unserer Meinung weiterentwickelt werden muß. Eine weitere Verschärfung der Werte in der Großfeuerungsanlagen-Verordnung muß in Erwägung gezogen werden. Die Einführung von bleifreiem Benzin ist besonders zu begrüßen. Ich möchte an dieser Stelle dem Innenminister Zimmermann besonders Dank sagen, daß er dies so schnell vollzogen hat.
({5})
Ich lege Wert darauf festzustellen, daß er hier sehr flexibel war und sehr schnell eine alte FDP-Forderung übernommen hat. Herzlichen Dank dafür.
({6})
Was wir aber vor allen Dingen brauchen, ist eine europäische Konferenz über das Waldsterben, damit auch andere Staaten nicht nur reden, sondern ihre Pflicht, den europäischen Wald zu retten, erfüllen.
({7})
Wir sind sicher, daß es mit vereinten Kräften möglich sein wird, mit dem Problem des Waldsterbens fertigzuwerden. Dazu ist es notwendig, daß wir nüchtern und mit Verstand an die Probleme herangehen und uns nicht davor scheuen, die finanziellen Opfer auf uns zu nehmen, welche sich aus diesem Problem ergeben. Genauso, wie zur Reinhaltung des Wassers in den letzten 25 Jahren 100 Milliarden DM aufgewendet worden sind, wird es uns gelingen, auch diese finanziellen Opfer aufzubringen.
Ich möchte die Bundesregierung auffordern und bitten, die Frage zu prüfen, wie den geschädigten Land- und Forstwirten geholfen werden kann. Denn diese gravierenden Vermögensverluste können niemandem im Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zugemutet werden. Dies ist für die Landwirtschaft eine ganz besondere Herausforderung. Hier steht auch der Staat mit in der Verpflichtung.
Die FDP-Fraktion möchte diese drei Punkte, die sie im Entschließungsantrag herausgestellt hat, als ihre Sorgen um die Landwirtschaft, um die Bevölkerung in diesem Staat betrachten. Wir als FDP sagen: Wir werden nicht nachlassen, um den besten Weg zu streiten.
({8})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Fraktion der GRÜNEN möchte ich die Ablehnung des vorliegenden Entschließungsantrages begründen. Ich will versuchen nachzuweisen, warum Ihre Vorschläge unseres Erachtens nach nicht ausreichen, die
schlechte Situation der Kleinbetriebe wesentlich zu verbessern, die durch den Agrarbericht deutlich dokumentiert ist und auf die gestern auf der Tribüne einige Bäuerinnen und Bauern auf nachdrückliche Weise mit einem Transparent, das sie für kurze Zeit entfaltet hatten, hinweisen wollten, auf dem stand: „Kontingentierung - Ruin für die kleinen Bauern".
({0})
Aus Ihrem Antrag greife ich nur einen Punkt heraus. Sie fordern von der Bundesregierung einschneidende Maßnahmen auf dem Gebiet der Veredelung von Tieren, z. B. Bestandsobergrenzen.
Nun sind wir nicht grundsätzlich gegen Bestandsobergrenzen. Wir wissen auch, daß das eine populäre Forderung des Deutschen Bauernverbandes ist. Wir sagen: Bestandsobergrenzen könnten unter zwei Bedingungen als Begleitmaßnahme gelten: Sie müssen niedrig genug angesetzt sein, und sie müssen durch direkte Stützungsmaßnahmen für die kleineren und mittleren Betriebe ihre eigentliche agrarpolitische Basis finden.
Sehen wir uns nun einmal an, welche Vorschläge in der Diskussion sind. Da ist bei Kühen von 60 bis 100 Tieren die Rede, bei Schweinen von 500 bis 800 Liegeplätzen, bei Sauen von 60 bis 80, bei Legehennen von 15 000 bis 30 000 und bei Masthähnchen von 25 000 bis 50 000 Tieren.
Ich will diese Zahlen kommentieren. Sie sind so hoch angesetzt, daß sämtliche Wachstums- und Förderbetriebe unter diese Schwelle passen. Das scheint mir auch die Funktion solcher Vorschläge zu sein. Sie nehmen die Tatsache auf, daß Betriebe, die viel Kapital aufgenommen haben, heute in gewisse Schwierigkeiten gekommen sind und eine Ruhe in den Rationalisierungsphasen brauchen. Die Bestandsobergrenzen geben diesen Betrieben sozusagen eine Atempause. Gleichzeitig sichern sie diese Betriebe vor der Konkurrenz und dem Einstieg außerlandwirtschaftlichen Kapitals in den landwirtschaftlichen Bereich, wie dies in der Hühnerhaltung mit so verheerenden Auswirkungen für die bäuerlichen Betriebe Ende der 60er Jahre passiert ist. Bestandsobergrenzen sind also für Wachstumsbetriebe ein Schutz und eine Ruhepause.
Was bedeuten sie aber für die Kleinbetriebe? Unterhalb der Schwelle der Bestandsobergrenzen wird der Verdrängungswettbewerb ungehindert weitergehen. Es ist sogar anzunehmen, daß die Zahlen der Bestandsobergrenzen zum Produktionsanreiz und Entwicklungsziel kleinerer und mittlerer Betriebe werden. Sie bringen diesen Betrieben also keine Bestandssicherung, sondern verschärften Verdrängungswettbewerb und verschärfte Konkurrenz.
({1})
Das Grundprinzip unseres alternativen Antrags ist ganz einfach: nicht nur oben begrenzen, sondern zuerst und vor allem unten die Existenz sichern. Wie wir dies machen wollen, möchte ich hier noch einmal erklären, da es offensichtlich immer noch viele Unklarheiten über unser System der gestaffelten Preise gibt.
Warum treten wir für dieses System ein? Der Markt macht alle Erzeugnisse gleich, nach dem Motto: gleicher Preis für gleiche Ware, egal, wie ungleich die aufgewendete Arbeit ist. Das ist überall und bei allen Märkten der Fall. Im Gegensatz zu fast allen anderen Märkten sind aber in der Landwirtschaft die Unterschiede in den Erzeugungskosten zu einem ganz erheblichen Teil fest vorgegeben und von dem einzelnen Bauern nicht zu verändern. Objektiv bedingte Unterschiede in den Produktionskosten gibt es z. B. durch die vorgegebene Bodengüte, das Klima, den Standort, die nicht willkürlich zu verändernde Betriebsgröße und die Transportkosten. All diese Unterschiede sind nicht abhängig von der Fähigkeit des einzelnen Betriebsleiters.
Wir sagen nun: Auch der Kleinbetrieb muß bei ordentlicher Bewirtschaftung ein ausreichendes Einkommen erzielen. Die landwirtschaftliche Arbeit muß sich für ihn wieder lohnen. Darum muß es für ihn eine Grundquote geben, die seinen Produktionskosten entspricht. Bei Milch z. B. soll eine Grundquote bis zu 50 000 oder 60 000 Litern mit 90 Pfg bezahlt werden. Diese 90 Pfg bekommt dann aber jeder Betrieb - zunächst der Kleinbetrieb, aber auch die anderen Betriebe, die höhere Mengen Milch liefern - für die Grundquote.
Die nächste Stufe bilden die Mittelbetriebe. Diese erhalten wie die Kleinbetriebe erst einmal die Grundquote von 90 Pfg und sollen dann bis zu einer Menge von etwa 150 000 Litern den Durchschnitt des heutigen Milchpreises oder 10 Pfg mehr bekommen. In diesem Bereich liegen auch heute die meisten Betriebe.
Die dritte Stufe betrifft die Produktion, die über 150 000 oder 200 000 Liter Milch geht. Für diese Produktion wollen wir preislich jeden Anreiz nehmen. Hier könnte dann ergänzend zu der deutlichen und schmerzhaften Abstaffelung des Milchpreises auch eine Bestandsobergrenze kommen.
Die praktische Durchführbarkeit dieses Systems ist gerade bei der Milch sehr einfach. Die Milch passiert den Flaschenhals der Molkerei, und die jeweilige Menge, die dann den Preis bestimmen würde, wird auch heute schon erfaßt. Jochen Borchert kann also seine Stempeluhr ruhig einpacken und an die EG-Kommission nach Brüssel schicken.
Es bleibt noch die Frage der Kontrolle. Sie sollte nirgendwo anders als in der Hand der Bauern eines Dorfes liegen. Hier ist die Kontrolle am besten gesichert und die Möglichkeit von Betrügereien am schwierigsten.
Die gestaffelten Preise sind also möglich. Man muß sie nur politisch wollen. Es gibt ein Land in Europa, nämlich Norwegen, das diese Staffelung auch in der Praxis durchgesetzt hat.
({2})
Ergänzend zu diesen Maßnahmen fordern wir zum ersten Punkt Ihres Antrages noch die erhebliche Verteuerung von Importfuttermitteln zur Ver1854
hinderung flächenunabhängiger Produktion und ein grundsätzliches Verbot industrieller Massentierhaltung und bestimmter Haltungsformen.
({3})
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Gallus.
({0})
- Die Regierung wird auch reden dürfen.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Aus der Sicht der Bundesregierung möchte ich zum Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen kurz Stellung nehmen. Doch bevor ich zur Sache komme, möchte ich den Herrn Kollegen Wimmer ansprechen.
Herr Kollege Wimmer, Sie haben hier nach meiner Auffassung den Herrn Bundeslandwirtschaftsminister in einer viel zu weitgehenden Form angegriffen und gesagt, daß er nur reden und nicht handeln würde.
({0})
Wir stehen agrarpolitisch in einer gravierenden Auseinandersetzung über die Neuordnung der Agrarpolitik Europas. Daß diese Neuordnung nicht von heute auf morgen geschehen kann, weiß jeder Eingeweihte, und, Herr Kollege Wimmer, das wissen Sie auch.
({1})
Ich bin im Gegensatz zu Ihnen der Auffassung, daß sich Herr Minister Kiechle gerade auf europäischer Ebene bisher auf allen Gebieten mannhaft geschlagen hat.
({2})
Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Auch Ihnen ist bekannt, daß ich zu manchen Fragen wie auch schon früher bei Minister Ertl zum Teil andere Auffassungen habe. Aber eine Lösung muß gefunden werden.
({3})
Es muß eine Lösung gefunden werden, die weniger Geld kostet; denn sonst bricht das ganze Marktordnungssystem der EG zusammen.
({4})
Weil das so ist, glaube ich, daß es trotz aller Diskussionen, die wir bisher geführt haben, Zeit ist, gemeinsam zusammenzustehen, damit wir einen gangbaren Weg in die Zukunft finden.
({5})
Zu Frau Kollegin Vollmer möchte ich nur eines sagen. Frau Kollegin, ich kann Ihnen einen gewissen Sachverstand nicht absprechen, und ich habe Sie schon mehrfach gelobt.
({6})
Aber es entbehrt jeder sachlichen Grundlage, hier Versprechungen in bezug auf den Milchpreis zu machen und eine Staffelung des jetzt bestehenden Milchpreises nach oben zu versprechen, was den Milchmarkt insgesamt noch verteuert. Wir werden das nicht durchsetzen können, da wir in der EG jetzt schon eine Milchproduktion von 122% haben, die uns jährlich 12 Milliarden DM kostet. Ihr Vorschlag kostet noch wesentlich mehr.
({7})
Der größte Teil der Milch wird in Europa in Betrieben bis zu 150 000 1 produziert. Aus dem höheren Bereich kommt nur ein ganz geringer Anteil. Ich sage Ihnen: Ihr Vorschlag ist überhaupt nicht zu finanzieren. Er verteuert die Milchproduktion in der Weise, daß der Verbraucher dann, z. B. über den Butterpreis, den noch höheren Milchpreis zu bezahlen hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Vollmer?
Ja. Ich möchte nur noch den Satz zu Ende führen. Frau Kollegin, ich sage Ihnen: Wir haben schon bei dem heutigen Milchpreis die Situation, daß die Verbraucher von der Butter zur Margarine abwandern. Ein Kilo Margarine kostet nämlich 5,12 DM und ein Kilo Butter 9,80 DM. Bei Ihrem Vorschlag würde das Kilo Butter höchstwahrscheinlich 12 DM kosten. Wer dann noch Butter essen würde, das müssen Sie mir sagen.
Frau Kollegin, Sie haben jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Gallus, würden Sie uns glauben, daß wir die Sache durchgerechnet haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, daß damit der Milchmarkt 4 Milliarden DM weniger kostet, und daß wir mit dem Vorschlag, den ich gestern gemacht habe, die Menge bei den Betrieben mit mehr als 40 Kühen wegzunehmen, ebenfalls die gesamte Menge wegbekommen?
Frau Kollegin, rechnen kann jeder. Die Frage ist, ob er mit den richtigen Zahlen rechnet.
({0})
Da möchte ich Ihnen gerne helfen. Das nächste Mal kommen Sie zu mir, dann gebe ich Ihnen die entsprechenden Zahlen, und dann kommt auch Entsprechendes heraus,
({1})
und zwar kommt dann das heraus, Frau Kollegin, was realistisch ist.
Lassen Sie mich nun zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen noch einiges zur Sache sagen: zunächst einmal zur Konzentration in der Tierhaltung. Es sind sicher einige darauf gespannt, was ich dazu sagen werde. Der Konzentrationsprozeß in der Tierhaltung schreitet weiter fort. Eine ähnliche Entwicklung wie bei den Legehennen und Masthühnern, wo mehr als die Hälfte bzw. mehr als drei Viertel aller Tiere in gewerblichen Großbeständen gehalten werden, muß bei anderen Tierarten, insbesondere bei Schweinen, verhindert werden, um die Produktions- und Marktanteile den bäuerlichen Familienbetrieben zu erhalten. Ziel ist es, die Massentierhaltung ohne ausreichende Eigenfuttererzeugung durch entsprechende Änderungen in der Agrarförderung, durch steuerliche Maßnahmen und durch Änderungen in der Umweltschutzgesetzgebung einzuschränken.
Im Bundeslandwirtschaftsministerium ist eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft und zur Hemmung einer weiteren Zunahme der Konzentration in der Tierhaltung geprüft worden. Folgende Maßnahmen, die Gesetzesänderungen erforderlich machen würden, könnten in die Diskussion einbezogen werden:
Erstens. Entlastung der landwirtschaftlichen Tierhaltung bei der Grundsteuer. Die Zuschläge zum Vergleichswert bei der Einheitsbewertung wegen übernormaler Tierhaltung landwirtschaftlicher Betriebe sollen bei der Grundsteuer reduziert werden.
Zweitens. Neuabgrenzung zwischen landwirtschaftlicher und gewerblicher Tierhaltung, Änderung des Bewertungsgesetzes, Änderung des Vieheinheitenumrechnungsschlüssels, Erweiterung des Aufstockungsspielraums für kleinere, flächenarme Betriebe und schließlich Einführung einer absoluten VE-Grenze zwischen landwirtschaftlicher und gewerblicher Tierhaltung.
Über diese Maßnahmen hinaus könnte gegebenenfalls auch eine stärkere Belastung der gewerblichen Tierhaltung mit Gewerbesteuer in Erwägung gezogen werden.
Als nicht durchsetzbar nach bisherigem Kenntnisstand - Herr Kollege Wimmer, ich unterstreiche: nach bisherigem Kenntnisstand - müssen gesetzliche Bestandsobergrenzen angesehen werden. Eine sorgfältige Prüfung durch BMJ, BMI und BML hat ergeben, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken hierzu nicht ausgeräumt werden können.
Zur Sozialpolitik. Die Belastung landwirtschaftlicher Betriebe mit Beiträgen zur sozialen Sicherung ist in den zurückliegenden Jahren in der Tat beträchtlich gestiegen. Dies liegt u. a. daran, daß die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft nicht mit der Ausgabenentwicklung des Systems sozialer Sicherung Schritt halten konnte. Die Bemühungen der Bundesregierung gehen in zwei Richtungen: die allgemeine Kostenentwicklung weiter zurückzudrängen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Betriebe zu verbessern.
Im übrigen ist zu sehen, daß in einer Zeit, in der die Wirtschaft belebt und die hohe Arbeitslosigkeit abgebaut werden müssen, die beträchtlichen Bundesmittel zur Agrarsozialpolitik besonderen Haushaltszwängen unterliegen.
Bei der Zurückführung konsumtiver Mittel, zu denen auch die Ausgaben für die Agrarsozialpolitik gehören, ist jedoch darauf zu achten, daß der Landwirtschaft nicht mehr als anderen Gruppen zugemutet werden darf und die Belastung landwirtschaftlicher Betriebe in erträglichen Grenzen gehalten werden kann.
Das vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung erstellte Gutachten zur Belastung landwirtschaftlicher Betriebe mit Beiträgen zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung, das voraussichtlich Ende 1983 abgeschlossen wird, wird u. a. das strukturwandelbedingte Beitragsdefizit „alte Last" quantifizieren. Herr Kollege Wimmer, auch hier Fairneß: Die Bundesregierung kann kein Institut zwingen, zu einer bestimmten Zeit ein Gutachten vorzulegen. Wir alle warten schon sehr lange darauf. Allerdings sind immer wieder Teilgutachten veröffentlicht worden, so daß jeder geglaubt hat, das Gutachten liege schon vor.
({2})
- Nein, das ist noch nicht fertig;
({3})
es muß noch abschließend überarbeitet werden. Nach Prüfung des Gutachtens wird mit dem Berufsstand und den Versicherungsträgern die Gesamtsituation dahin erörtert werden, ob - und gegebenenfalls welche - Folgerungen aus den Ergebnissen zu ziehen sind. Wir machen das so schnell wie möglich. Im übrigen haben wir einschlägige Erfahrungen auch schon in der alten Regierung - der habe ich j a auch angehört - gesammelt. Da war das mit dem Zeitfaktor auch immer so eine Sache; das bleibt in jeder Regierung so. ({4})
Fest steht jedenfalls, daß die im Zeitablauf gestiegenen Sozialabgaben kleinere Betriebe - da sind wir uns höchstwahrscheinlich einig -, gemessen am Gewinn, weit stärker als größere Betriebe belasten, so daß zur Zeit insbesondere geprüft wird, wie sich durch abgestufte Zuschüsse - unter Berücksichtigung der Ertragskraft der landwirtschaftlichen Unternehmen - eine sozial gerechte Finanzierung realisieren läßt.
Was die Waldschäden und die Maßnahmen zur Luftreinhaltung angeht, so kann ich es kurz machen: Der deutsche Wald ist gegenwärtig auf einer Fläche von rund 2,5 Millionen Hektar geschädigt; die Zahlen sind von unserem Hause, vom Herrn Minister in der letzten Woche bekanntgegeben worden. Dies entspricht einem Anteil an der gesamten Waldfläche von etwa 35 %. Damit hat sich die Scha1856
densfläche gegenüber dem Vorjahr vervierfacht, meine Damen und Herren.
Zur Bekämpfung der Waldschäden wird die Bundesregierung ihre Luftreinhaltepolitik mit Nachdruck fortführen. Ergänzend zur bereits in Kraft gesetzten Großfeuerungsanlagen-Verordnung und zur Änderung des Immissionsteils der TA Luft bereitet die Bundesregierung weitere Maßnahmen vor. Dazu gehören - vor allem auf nationaler Ebene - die Änderung des Emissionsteils der TA Luft, die Einführung bleifreien Benzins und der Katalysatortechnik zur Reinigung der Kfz-Abgase ab 1. Januar 1986. Außerdem wird geprüft, ob und wie durch Schaffung neuer marktwirtschaftlicher Anreizinstrumente die Emissionsbegrenzung schneller und wirksamer erreicht werden kann. Da die Immissionen in den Waldschadensgebieten zu einem sehr großen Anteil auf den Import von Luftschadstoffen zurückzuführen sind, bemüht sich die Bundesregierung in der EG, OECD und ECE sowie in bilateralen Gesprächen mit den Nachbarstaaten, eine Verringerung der Luftschadstoffbelastung zu erreichen, die sich an den deutschen Grenzwerten orientiert.
Darüber hinaus müssen auch alle Möglichkeiten genutzt werden, die Schadensentwicklung durch waldbauliche Maßnahmen zu verzögern und abzumildern. In den letzten beiden Jahren wurden die Forschungsanstrengungen zur Untersuchung der Ursachen neuartiger Waldschäden und zur Entwicklung von Einrichtungen zur Luftreinhaltung erheblich verstärkt. Zur besseren Koordinierung des Einsatzes von Forschungsmitteln und zur Entwicklung abgestimmter Forschungsansätze wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Länder eingerichtet und ein Forschungsbeirat berufen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird die Anregungen des Antrags ernsthaft prüfen. - Ich bedanke mich.
({5})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/386 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ({0})
- Drucksache 10/319 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({1})
Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Der Ältestenrat schlägt vor, für die Aussprache einen Beitrag von je zehn Minuten für jede Fraktion vorzusehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Götz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder steht unter den Rechtspolitikern ein hochbrisantes, ein faszinierendes Thema zur Debatte, nämlich die Änderung des Bundeszentralregistergesetzes. Wer nicht weiß, was es ist:
({0})
Es ist nicht schwer zu erklären. Es ist etwas, worüber man nicht ideologisch, nicht in Kampfstimmung diskutieren kann. Vielmehr muß man schlicht und einfach eine Gesetzesänderung treffen, weil man früher andere Gesetze entsprechend geändert hat.
Das Bundeszentralregistergesetz ist ein Folgerecht. Über seine Änderung müssen wir heute in erster Lesung kurz beraten. Da es auf der Tagesordnung steht, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, Ihnen wenigstens kurz zu sagen, um welche Änderungen es geht.
Das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes umfaßt im wesentlichen Anpassungen an Änderungen des Jugendhilferechts und an Änderungen im Bereich des Betäubungsmittelrechts sowie Änderungen, die sich auf Grund von Erfahrungen bei den Registerbehörden ergeben haben.
Der Entwurf verzichtet bewußt darauf, Diskussionspunkte aufzunehmen, die im Zusammenhang mit dem Jugendhilferecht in der letzten Zeit lautgeworden sind. Wir sind uns wohl darüber einig, daß im Jugendhilferecht in nicht allzu ferner Zukunft über einige Änderungen diskutiert werden muß. Wir sollten deshalb im Zusammenhang mit dem Bundeszentralregistergesetz die möglichen materiellen Änderungen des Jugendhilferechts noch nicht zum Anlaß nehmen, um dazu heute Stellung zu nehmen.
Der Entwurf verzichtet auch ganz bewußt darauf, außer der formellen Anpassung des § 56 des Bundeszentralregistergesetzes an die neuen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die elterliche Sorge weitere Änderungen des Erziehungsregisterrechts vorzunehmen. In der Diskussion um die Neuordnung des Jugendhilferechts ist von verschiedenen Seiten eine wesentliche Einschränkung der im Erziehungsregister einzutragenden Tatsachen, vereinzelt auch die völlige Abschaffung des Erziehungsregisters gefordert worden. Diese Fragen sollten aber, wie ich bereits gesagt habe, heute nach meiner Auffassung nicht mitdiskutiert werden, sondern nach nochmaliger eingehender Überprüfung
im Zusammenhang mit einer Reform des gesamten Jugendhilferechts ihre Lösung finden. Entsprechende Gesetzesänderungen bei der Jugendhilfe müssen dann natürlich zu einer weiteren Änderung des Bundeszentralregistergesetzes führen.
Soweit der Gesetzentwurf Änderungen des Verwaltungsverfahrens vorsieht, entspricht er Erfahrungen bei den Registerbehörden und dient im wesentlichen der Verwaltungsklarheit und der Verwaltungsvereinfachung. Wir sollten ihnen deshalb nach meiner Auffassung zustimmen.
Auch eine Vereinheitlichung der Vorschriften über die Auskunftserteilung für waffen-, jagd- oder sprengstoffrechtliche Zwecke dienen der Verwaltungsvereinfachung und sollten deshalb ebenfalls den Konsens der Fraktionen in diesem Haus finden.
Da in einer Zeit der leeren Kassen durch den Gesetzentwurf keine Kosten entstehen, vielmehr bei den Ländern erhebliche Einsparungen durch eine Rationalisierung der Datenverarbeitung ermöglicht werden, begrüße ich namens der CDU/ CSU-Fraktion den Entwurf.
Besonders hervorzuheben ist nach meiner Auffassung, daß durch eine Änderung des § 30 des Bundeszentralregistergesetzes Eintragungen, aus denen sich die Betäubungsmittelabhängigkeit des Betroffenen erkennen läßt, aus Resozialisierungsgründen in einem Führungszeugnis nicht stattfinden sollen. Die gleiche Erwägung gilt grundsätzlich für die unbeschränkte Auskunft. Eine Ausnahme muß allerdings nach unserer Auffassung dann stattfinden, wenn ein neues Strafverfahren gegen den Betroffenen anhängig ist. Hier ist die Kenntnis auch dieser Eintragung für die zutreffende Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten durch das Gericht unverzichtbar. Eine entsprechende Änderung des § 39 Abs. 3 des Bundeszentralregistergesetzes berücksichtigt daher in gleichem Maß die Interessen des Betroffenen und die Interessen der Rechtspflege und der Rechtssicherheit. Datenschutzrechtliche Gründe sind nicht berührt.
Durch die Einfügung eines § 52 a in das Bundeszentralregistergesetz wird sichergestellt, daß Eintragungen von ausländischen Strafnachrichten oder sonstigen amtlichen Mitteilungen aus dem Ausland nur dann vorgenommen werden, wenn sie an den Strafbestimmungen des deutschen Rechts gemessen worden sind. Wenn sich ergibt, daß eine entsprechende Strafvorschrift in der Bundesrepublik Deutschland fehlt oder daß im Einzelfall eine im Ausland abgeurteilte Tat bei uns nicht straffähig ist, z. B. weil strafprozessuale Bestimmungen im Ausland nicht beachtet worden sind oder weil beispielsweise die Rechtswidrigkeit oder auch die Schuld fehlt, findet in der Bundesrepublik Deutschland keine Eintragung statt.
Auch sieht das neue Gesetz eine Art Rechtsmittel für den Betroffenen vor. Er hat die Möglichkeit, Einwendungen zu erheben. Auf Grund dieser Einwendungen wird erneut eine Überprüfung der beantragten Eintragung stattfinden, und wenn die Vorbehalte, die Einwendungen des Betroffenen zu
Recht bestehen, findet keine Eintragung statt. Ich meine, daß durch diese Änderung des Gesetzes ein echter Fortschritt im Sinne der Betroffenen erreicht wird.
({1})
Ich bin der Meinung, daß im weiteren Gesetzgebungsverfahren geprüft werden sollte, ob im Sinne des Vorschlags des Bundesrates nicht generell von der Rückwirkung von sogenannten Altfällen bei Verurteilungen von Personen nach dem Betäubungsmittelrecht abgesehen werden sollte.
Außerdem befürworte ich die Prüfung des Vorschlags des Bundesrates, im Zusammenhang mit der Änderung des Bundeszentralregistergesetzes auch die Führung des Verkehrszentralregisters auf die Bundeszentralregisterbehörde zu übertragen. Nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion sprechen Gründe der Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit für eine Zusammenlegung dieser Behörden, was natürlich nicht zwangsläufig eine Verlegung der Arbeiten von Flensburg nach Berlin mit sich bringen muß. Wenn die Schätzung der Bundesländer zutrifft - was ich an dieser Stelle nicht beurteilen kann -, daß eine gemeinsame Datenbearbeitung durch beide Registerbehörden zu einer Kosteneinsparung von nahezu 45 Millionen DM in einem Jahr führt, so sollte dem Vorschlag des Bundesrates nach meiner Auffassung in jedem Fall Rechnung getragen werden.
Insgesamt, meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, dem Entwurf in dieser ersten Lesung Ihre positive Meinung entgegenzubringen. Unsererseits darf ich die Überweisung an die zuständigen Ausschüsse beantragen. - Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klein ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Herrn Kollegen Götz dafür dankbar, daß er zu Beginn einige allgemeinverständliche Erläuterungen zum Thema „Bundeszentralregister" gegeben hat, und ich möchte wünschen, daß Sie alle, die Sie hier - im Saal oder oben - sitzen, dort nicht registriert sind.
Meine Damen und Herren, dieses Zentralregister besteht jetzt mehr als zehn Jahre. Es trat an die Stelle von 93 Einzelregistern, die bei den Landgerichten geführt worden waren. Wir konnten feststellen, daß in den letzten sieben Jahren die Registerbestände der Landgerichte nach Berlin übernommen worden sind. Wir sehen darin einen großen Fortschritt, denn an einer Stelle anzufragen ist besser, als möglicherweise 93 Stellen als Adressaten zu sehen.
Ein Register, in dem sowohl Straftaten als auch Verwaltungsentscheidungen festgehalten sind, soll vielerlei bewirken:
Klein ({0})
Es soll zum einen dazu beitragen, daß Gerichte, die über Mehrfachtäter zu befinden haben, auch Aufschluß über die früheren Straftaten erhalten.
Andererseits soll ein Arbeitgeber darüber informiert werden, ob ein Bewerber für eine neue Stelle eine reine Weste hat oder ob er für die in Aussicht genommene Tätigkeit nicht Belastungen aus früheren Zeiten mitbringt.
Ein Arbeitsplatzsuchender wiederum soll die Möglichkeit haben, seine Chance, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen, durch den Nachweis einer blütenreinen Weste aus dem Zentralregister zu vergrößern.
Wir finden auch, daß die differenzierte Handhabung gegenüber den Auskunftsbegehrenden einem straffällig Gewordenen auch dann eine Chance einräumt, wenn seine Strafe im Register noch nicht gelöscht worden ist.
Schließlich bedeutet die Tatsache, daß nur wenige Stellen - und natürlich immer der Betroffene selbst - nachfragen können, ja auch, daß ein straffällig Gewordener Schutz genießt, also kein Freiwild ist.
Auch die Regelung, daß nach angemessener Zeit Eintragungen im Register in Berlin - jeweils orientiert an der Höhe des Strafmaßes - gelöscht werden können, läßt den Versöhnungscharakter dieses Registers und dieses Gesetzes erkennen.
Zu Recht wurde von dem Kommentator des Gesetzes, Herrn Albrecht Götz, gesagt, daß eine unbefristete Aufbewahrung von Strafeintragungen und eine unbegrenzte Auskunft gegenüber der Öffentlichkeit oftmals für den Betroffenen eine schlimmere Wirkung als das Urteil selbst haben. Oftmals hat der Verurteilte die Nach- und Nebenwirkungen einer Strafe intensiver zu spüren bekommen als die eigentliche Geld- oder Freiheitsstrafe. Ein gebrandmarkter Vorbestrafter hat oftmals ein Leben lang daran tragen müssen, daß er einmal eine Jugendsünde begangen hatte; er bekam schlechtere Arbeitsmöglichkeiten, die seinen Fähigkeiten und seinen Qualitäten nicht entsprachen, und das Kainszeichen war oftmals nicht mehr auszulöschen.
Wir sollten daran denken, auch Sie, meine Damen und Herren von CDU und CSU, daß hinter jeder Eintragung ein menschliches Schicksal steht. Aus diesem Grunde ist die differenzierte Handhabung dieses Registers und der Auskunftserteilung, wie ich meine, eine positive Regelung. Sie soll durch dieses neue Reformgesetz nicht geschmälert werden.
Das Gesetz greift den Gedanken der Versöhnung, von dem ich sprach, und der Resozialisierung erneut auf. Was praktiziert werden soll, ist auch die Nachwirkung von zwei bedeutsamen Reformgesetzen der sozialliberalen Koalition, nämlich zum Recht der elterlichen Sorge - nicht ohne Grund ist diese Formulierung an die Stelle von „Recht der elterlichen Gewalt" getreten - und zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechtes, in dem versucht wird, den Grundsatz „Therapie statt Strafe" zu praktizieren.
Hier soll dem Inhalt und dem Gedanken der Resozialisierung Rechnung getragen werden. Die §§ 14 und 18a tragen diesem Gedanken der Wiedereingliederung hinreichend Rechnung.
Meine Damen und Herren, eine meßbare, eine positive Veränderung gegenüber der jetzigen Regelung sehen wir in der Einfügung des § 20 a - Herr Kollege Götz, Sie haben auch darüber gesprochen -, wonach künftig für die Strafverfolgungsstatistik nicht mehr Zählkarten ausgestellt werden, wie es gegenwärtig der Fall ist, sondern in Zukunft diese Meldungen in einem einheitlichen Verfahren nach Berlin gehen. Wenn man bedenkt, daß 80 % der rund 900 000 Strafverfolgungsfälle in der Bundesrepublik im Jahr in Berlin registriert werden, dann liegt es nahe, diese Nachricht auch aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung zentral nach Berlin mit einer Notiz für die Strafverfolgungsstatistik zu geben. Die restlichen 20 %, die für die Statistik interessant sind, nicht aber für die Speicherung in Berlin, werden über Berlin den Statistischen Landesämtern oder dem Bundesamt zugeleitet. Die Kosteneinsparung - Sie sprachen an anderer Stelle von einem Betrag von 45 Millionen DM; ich komme darauf zurück - bei diesem Vereinfachungsvorgang ist ebenfalls bedeutsam und nicht unbeträchtlich. Der Vorgang wird jedenfalls in Zukunft die Landesjustizbehörden nicht mehr im bisherigen Umfang belasten.
Meine Damen und Herren, das Gesetz bringt aber nicht nur positive Veränderungen. Ich habe an zwei Stellen auch meine Fragezeichen zu setzen. Herr Kollege Götz, Sie haben die Verurteilung von Deutschen im Ausland angesprochen. Dies ist nicht so einfach zu werten wie es hier im Gesetzentwurf und auch in Ihrer Darstellung gesehen wird. Es heißt: wenn ein im Ausland straffällig gewordener Deutscher nach den gleichen Rechtskriterien wie bei uns verurteilt worden ist, muß eingetragen werden. Wir möchten, daß diese Prüfung enger an den Sachverhalt gebunden wird. Es ist natürlich schwierig, nach deutschem Recht zu bewerten, was draußen geschehen ist. Es darf nicht automatisch unterstellt werden, daß, wie es im Gesetzentwurf heißt, der Sachverhalt, der draußen zur Anklage geführt hat, korrekt wiedergegeben wird. Es ist vielmehr unser nachdrückliches Verlangen, daß die Sachverhalte, die der Anklage und dem Urteil zugrunde gelegen haben, bei uns noch einmal nachgeprüft werden, ehe in Berlin eingetragen wird.
Mir ist ein Fall bekannt, bei dem ein junger Deutscher vor einigen Wochen in Marokko wegen eines Rauschgiftdeliktes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, obwohl er nach meinem Empfinden subjektiv und auch objektiv unschuldig gewesen ist. Er wurde von gerissenen Dealern in eine Affäre hineingezogen. Vor einem deutschen Gericht hätte er sich vermutlich hinreichend entlasten können, wäre möglicherweise freigesprochen worden; mit Sicherheit wäre das Strafmaß geringer ausgefallen. Deshalb ist es wichtig für uns, daran zu denken, daß Auslandsurteile, bei denen die Gesichtspunkte des rechtlichen Gehörs und der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze, wie wir sie kennen, nicht hinreichend beachtet worden sind, immer einer NachprüKlein ({1})
fung unterliegen müssen, ehe solche Urteile in Berlin registriert werden.
Problematisch erscheint mir ferner die Neufassung des § 11 Abs. 4, wonach Entscheidungen von Verwaltungsbehörden Eingang in das Strafregister finden können. Bisher ist in Berlin immer dann registriert worden, wenn ein Paß versagt wurde, wenn er entzogen oder in seiner räumlichen Geltung eingegrenzt wurde. Neu ist, daß künftig auch ein Personalausweis, der nicht unbegrenzt gilt, vielleicht nur auf Teile der Bundesrepublik oder die gesamte Bundesrepublik begrenzt ist, in die Datei in Berlin Eingang finden soll. Dies war bisher nicht der Fall. Ich messe dieser Vorschrift keine sehr große Bedeutung bei, was die Zahlen angeht; aber wenn wir bedenken, welche Diskussionen in der letzten Zeit über den maschinenlesbaren Personalausweis geführt worden sind, der bei Grenzkontrollen besonders leicht mit einer zentralen Datei verbunden werden kann, dann muß man hier ein Warnzeichen setzen. Ich hoffe sehr, Herr Kollege Götz, daß wir in den Ausschußberatungen über diesen § 11 noch einmal sehr eingehend werden reden können; denn man muß festhalten: Ein Paß ist etwas Freiwilliges, ein Personalausweis ist zwingend vorgeschrieben. Hier sehen wir eine gefährliche Einengung dieser Möglichkeit.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Götz sprach noch von den Absichten, die Register in Flensburg und Berlin zusammenzufassen. Wir wissen, daß der Bundesrat dieses Votum, von Schleswig-Holstein abgesehen, einmütig getragen hat. Es ist in der Tat nicht einzusehen, weshalb bei gleichen Sachverhalten sowohl in Flensburg als auch in Berlin Fakten registriert werden. Die Berechnungen haben ergeben, daß beim Register in Flensburg derzeit 5 Millionen Eintragungen, beim Register in Berlin 4,2 Millionen Eintragungen zu verzeichnen sind. Zirka 40 % der in Berlin registrierten Fälle tauchen auch in Flensburg auf. Es ist die Regel, daß eine anfragende Dienststelle Anfragen nach Flensburg wie auch nach Berlin richtet. Fachleute haben errechnet - die Zahl wurde genannt -, daß diese Doppelarbeit bei der Erfassung, bei der Speicherung und bei der Beantwortung von Anfragen jährlich 45 Millionen DM zusätzlich kostet. Käme es zu einer Zusammenlegung, könnte der Datenbestand um rund 1,7 Millionen Fälle verringert werden, ohne daß die Qualität des Registers auch nur im geringsten verlöre. Wenn man bedenkt, daß heute in Flensburg pro Arbeitstag durchschnittlich 21 000 und in Berlin 31 000 Anfragen oder Mitteilungen eingehen, wird allein an dieser Zahl deutlich, daß eine Fusion überlegenswert ist.
Dies muß freilich nicht bedeuten, daß die Arbeit von Flensburg nach Berlin verlagert werden müßte. Aber eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen diesen beiden zentralen Registern ist doch nützlich. Eine Regelung, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen worden ist - sie wird von uns im Ansatz begrüßt -, würde die Funktionsfähigkeit des Bundeszentralregisters in Berlin stärken. Man könnte daran denken, daß möglicherweise in Flensburg frei werdende Arbeitskräfte in anderen Bereichen, z. B. der Verkehrssicherheit oder der Verkehrserziehung, tätig werden könnten. Wir hoffen, daß die Zusage der Bundesregierung, zu prüfen, nicht erst nach vielen Jahren eingelöst wird und der Prüfungsbericht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag vorliegt, sondern daß noch dieser Bundestag über das Prüfungsergebnis befinden kann.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß: Das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes bringt alles in allem eine ganze Reihe von Verbesserungen. Es wirft aber auch neue Fragen auf. Ich habe zwei davon angesprochen.
Ein Besuch beim Zentralregister in Berlin vor einiger Zeit hat mir im übrigen den Eindruck vermittelt, daß dort sehr sorgfältig gearbeitet und vor allem auch der Gesichtspunkt des Datenschutzes sehr eingehend beachtet wird.
({2})
Und selbst der gestrenge Herr Professor Bull, unserer früherer Datenschutzbeauftragter, hat sich über die Arbeit des Bundeszentralregisters und über die dort gezeigte Akribie positiv geäußert. Es ist zu wünschen, meine Damen und Herren, daß nach Abschluß der Beratungen über die Änderungen des Registergesetzes die Rechtssicherheit vergrößert wird und daß dieses wichtige Organ der Rechtspflege alles in allem seinen vielfältigen Aufgaben noch besser gerecht werden kann. - Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der vorgelegte Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes, der bekanntlich der Diskontinuität zum Opfer gefallen war, wird in der jetzt vorgelegten Fassung von meiner Fraktion auch weiterhin befürwortet.
Wir meinen, daß die vorgesehenen Neuregelungen dazu beitragen, daß einerseits die Unstimmigkeiten, die sich aus der praktischen Anwendung des Gesetzes ergeben, beseitigt, andererseits aber auch die Rechte des von einer Eintragung Betroffenen weiter gestärkt werden.
Der Entwurf enthält neben zahlreichen Änderungen rein redaktioneller Art und solchen der Anpassung im Sprachgebrauch auch Verbesserungen in der Terminologie sowie wichtige Neuerungen, die entscheidend mit dazu beitragen werden, die bestehenden Probleme im Registerrecht nunmehr einer sachgerechten Lösung zuzuführen.
Dazu dienen zunächst die gesetzliche Einführung einer Hinweispflicht bei möglicher Gesamtstrafenbildung und die Vereinheitlichung des Rechtsmittelweges gegen Entscheidungen der Registerbehörde. Dies bringt eine erhebliche Besserstellung der von der Eintragung Betroffenen mit sich.
Die Besserstellung der Betroffenen setzt sich aber auch bei der Regelung über die Weitergabe von Daten fort. Es ist nunmehr ausdrücklich normiert, daß die Eintragungen, aus denen sich die Betäubungsmittelabhängigkeit eines Betroffenen erkennen läßt, nicht mit in das Führungszeugnis aufgenommen werden dürfen. Hiermit wird nach unserer Auffassung ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung und zur Resozialisierung dieser Gruppe geleistet. Mit dieser Regelung wird den Betroffenen, wie wir meinen, auch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft in hohem Maße erleichtert. Gerade angesichts der augenblicklichen Arbeitsmarktsituation würde wohl derjenige, dessen Führungszeugnis Hinweise dieser Art enthielte, nur schwer eine Aussicht auf Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß haben. Dies ist aber unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Resozialisierung.
Bei dieser Handhabung ist auch gewährleistet, daß der Wert des amtlichen Führungszeugnisses als Entscheidungshilfe für die Privatwirtschaft nicht gemindert wird und das berechtigte Interesse des Arbeitgebers, kriminell auffällige Personen von einer Anstellung auszuschließen, gewahrt bleibt.
Die verschiedentlich geäußerten Befürchtungen, die zunehmenden Registervergünstigungen könnten dazu führen, daß die Arbeitgeber ihren Informationsbedarf durch private Auskunftstätigkeiten, z. B. nach dem Vorbild des Kreditgewerbes, decken, sind aus unserer Sicht unbegründet. Zum einen entfällt bei einem neuen Strafverfahren diese aus Resozialisierungsgründen geschaffene Begünstigung wieder, zum anderen ergibt die Abwägung zwischen dem Interesse des Verurteilten an der Erlangung einer Arbeitsstelle und den Interessen des Arbeitgebers an der Kenntnis der für die Einstellung maßgebenden Gesichtspunkte, daß in diesem Fall das Interesse der Gesellschaft an der Wiedereingliederung des Betroffenen der Vorzug gegeben werden muß.
Die weiteren Regelungen dieses Entwurfs, meine sehr verehrten Damen, meine Herren, finden ihre Begründung in der Notwendigkeit, Anregungen aus der Praxis aufzunehmen, diese umzusetzen und eine den Bedürfnissen entsprechende Regelung zu schaffen, die dann auch praktikabel ist.
Meine Fraktion begrüßt diesen Entwurf. Wir werden seiner Überweisung gerne zustimmen. - Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Reetz.
Frau Präsidentin! Liebe wenige Kolleginnen und Kollegen, die hier noch beisammen sind!
({0})
Mit den Tagesordnungen der Plenarsitzungen sind j a immer bestimmte Absichten verbunden, sowohl was den Inhalt als auch den Zeitpunkt der Diskussion betrifft. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Zusammenhang zwischen der
Beratung des Berufsbildungsberichts, die vorhin stattgefunden hat, und dem Gesetzentwurf der Regierung zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes besteht.
Ich möchte hier den Ausspruch von Herrn Götz, wir sollten diesen Tagesordnungspunkt nur sachlich, juristisch angehen, etwas modifizieren. Diesen Tagesordnungspunkt gehe ich auch politisch an.
({1})
- In beidem. Das gehört natürlich zusammen. Sie können j a ein Thema nicht politisch angehen und dabei total unsachlich argumentieren.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Bötsch?
Ja, bitte.
Wären Sie bereit, sich von dem Mitglied Ihrer Fraktion, das dem Ältestenrat angehört, vielleicht einmal darüber informieren zu lassen, wie Tagesordnungen zusammengestellt werden, damit Sie nicht auf solch abstruse Vermutungen kommen, wie Sie sie jetzt hier geäußert haben?
({0})
Frau Reetz: ({1}): Das passiert ja nicht immer bewußt. Es gibt auch unbewußte Zusammenstellungen.
({2})
- Bei jedem Menschen.
Die Rechtsänderungen, von denen wir sprechen, sind bedingt durch Anpassung an andere, neu geregelte Gesetze, z. B. das Gesetz der elterlichen Sorge und das Betäubungsmittelgesetz. Aber es sind auch Änderungen, von denen es heißt, die Praxis des Bundeszentralregisters in Berlin lasse sie als wünschenswert erscheinen. Warum?
Von meiner Tätigkeit im Gemeinderat her gehe ich immer davon aus, daß den Vorlagen der Verwaltung mit Skepsis zu begegnen ist;
({3})
denn die Absicht wird oft auch durch Begründungen nicht erhellt. Hier sehe ich eine Verbindung zur vorgegebenen Politik, der Wendepolitik, gegenüber jungen Leuten, die ja besonders oft das Bundeszentralregister in Anspruch nehmen müssen, z. B. für ein Führungszeugnis, für Bewerbungen oder für besondere Reisen.
Übrigens steht in der Ferne die Reform des Jugendhilferechts. Sie provoziert die Frage: Warum jetzt Änderungen in Anpassung an Gesetze, von denen schon heute feststeht, daß sie grundsätzlich überarbeitet werden müssen?
Ich habe in einem „rororo"-Bändchen gelesen, daß ein Mann in einem beantragten Führungszeugnis den Vermerk erhielt: fortgesetzte Untreue, sechs
Monate Gefängnis. Es handelte sich um eine Strafe, die zur Bewährung ausgesetzt worden war und zehn Jahre zurücklag. Sie hätte schon vor fünf Jahren gelöscht werden müssen. Seltsamerweise hatte der Mann zudem drei Jahre zuvor schon einmal ein Führungszeugnis beantragt und es mit dem Aufdruck „Kein Eintrag" erhalten. Dieser mysteriöse Fall zeigt, daß das Bundeszentralregister offensichtlich in der Lage ist, verschiedene Auskünfte zu geben.
({4})
- Das ist belegt.
Mit Art. 1 Nr. 4 wird das Bundeszentralregistergesetz dem Gesetz zur Änderung des Personalausweisgesetzes angepaßt. Das ist schon gravierend; denn die im Bundeszentralregistergesetz enthaltene Eintragspflicht einer Paßbeschränkung wird auf den Personalausweis ausgedehnt, der unter diesen Umständen nicht mehr zum Verlassen der Bundesrepublik berechtigt. Big Brother winkt im Orwell-Jahr. Der Computer macht's möglich, daß zur Vereinfachung und Arbeitsersparnis das Ausfüllen von 700 000 Zählkarten der Strafverfolgungsstatistik der Justizbehörden der Länder dadurch entfällt, daß Bundeszentralregister und Strafverfolgungsregister gleichermaßen bedient werden, eine Umstellung von großem Programmieraufwand, die dennoch von den Mitarbeitern der Registerbehörde, wie es heißt, allein bewältigt wird. Der Datenschutz von Individualdaten soll gewahrt bleiben.
Die Eintragung von ausländischen Verurteilungen wird im Entwurf neu formuliert. Wir beobachten kritisch, daß eine ausländische Verurteilung auch dann eingetragen werden soll, wenn der Sachverhalt zwar nicht direkt, aber bei sinngemäß umgestelltem Sachverhalt nach dem hier geltenden Recht ungeachtet etwaiger Verfahrenshindernisse zu einer Strafe oder Maßregelung führt. Aber bei nur teilweiser Eintragungsfähigkeit einer ausländischen Entscheidung wird die ganze Entscheidung eingetragen, d. h. die Regelung ist neu, daß die ausländische Verurteilung eingetragen wird, wenn sie von der Behörde des Staates, der sie ausgesprochen hat, mitgeteilt worden ist. Allerdings ist der Betroffene nach der Eintragung zu hören. Die Richtigkeit seiner Einwendung ist von Amts wegen zu prüfen. Der Betroffene hat die Beschwerdemöglichkeit beim Generalbundesanwalt und Bundesjustizminister bei Ablehnung der Löschung.
Mit der Regelung, daß eine Eintragung dann erfolgt, wenn sie von der Behörde des Staates, der die Verurteilung ausgesprochen hat, mitgeteilt worden ist, soll wohl sichergestellt werden, daß keine materielle positive Prüfung der Richtigkeit der Mitteilung zu erfolgen hat.
Die Ausschüsse werden sich sachkundig und im Detail mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung beschäftigen. Sie werden herausarbeiten, daß die Notwendigkeit für die Änderungen besteht, vor allem auch auf Grund der computermäßigen Bearbeitung. Das bereitet mir Unbehagen. Sie werden auch feststellen, daß niemand durch die neue Regelung direkt zu Schaden kommt.
Aber indem wir das Erfassungsnetz immer dichter knüpfen, kommen wir dem Überwachungsstaat immer näher. Das soziale Netz bekommt gleichzeitig immer größere Löcher.
Ich will damit nicht unterstellen, daß die Beamten und Angestellten des Bundeszentralregisters uns in den Überwachungsstaat führen, wenn sie den Bürger gewissermaßen immer transparenter machen. Aber ich fürchte, daß uns die Kontrolle entgleitet, sei es über das elektronische Machtmonopol, sei es über die elektronische Anarchie. Das ist in diesem Fall dasselbe.
Das ist es, was ich hier sehr deutlich zum Ausdruck bringen will. Der vorliegende Gesetzentwurf betrifft nur einen kleinen Abschnitt des großen Rasters, das mit Hilfe der neuen Kommunikationsmittel immer schwerer auf uns niederdrückt. Ist es nicht ein Witz, wenn wir von „Kommunikationsmitteln" reden? Kommunikation bedeutet doch: direkt miteinander reden, aufeinander zugehen, direkt miteinander umgehen. Statt dessen rationalisieren wir nicht nur die Produktion der Waren; nein, jetzt rationalisieren wir auch unsere eigenen Wesensmerkmale.
Wen wundert es dann noch, wenn einer hingeht und an die Wand sprüht - vielleicht mit letzter Einfallskraft - „Vorsicht, frisch gesprüht!"? - Ende.
({5})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen.
Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, die Geschäftsführer haben mich wissen lassen, daß sie den nächsten Tagesordnungspunkt nicht gern durch die Mittagspause auseinanderreißen lassen würden. Deswegen treten wir jetzt in die Mittagspause ein und fahren um 14 Uhr mit der Fragestunde fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren in der Behandlung von Punkt 1 der Tagesordnung fort:
Fragestunde
- Drucksache 10/457 Aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung haben wir noch zwei restliche Fragen. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Würzbach erschienen. Ich rufe die Frage 95 des Abgeordneten Horacek auf:
Vizepräsident Westphal
Seit wann und aufgrund welcher vertraglicher Vereinbarungen werden auf dem US-Army-Gelände in Frankfurt-Hausen, Rosittenerstraße 13, die Pershing I- und Pershing II- Systeme deponiert, montiert und gewartet?
Herr Abgeordneter, beim dem von Ihnen angesprochenen Gelände handelt es sich um eine logistische Einrichtung der amerikanischen Streitkräfte. Rechtsgrundlage für deren Betreiben bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sind der Deutschland-Vertrag sowie in seiner Ausführung der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954. Im übrigen verweist die Bundesregierung auf ihre wiederholte Erklärung, daß vor der Debatte des Deutschen Bundestages, die nun für den 21. November 1983 geplant ist, weder Pershing II-Raketen noch Marschflugkörper noch Teile davon in der Bundesrepublik Deutschland stationiert werden.
Sie wollen eine Zusatzfrage stellen? - Bitte schön!
Können wir beide Fragen zusammen behandeln, oder beantworten Sie zuerst die erste und dann die zweite Frage?
Herr Horacek, das hätten Sie vorher erbitten müssen. Jetzt wird einzeln beantwortet. Sie haben Zusatzfragen?
Dann habe ich eine erste Nachfrage: Sie haben gesagt, daß keine Systemteile da sind. Aus meiner zweiten Frage ergibt sich ganz klar - und ich glaube, Sie hätten die Beweise, die die „Hessenschau" und auch die GRÜNEN im Römer vorgelegt haben, auch haben können -
Herr Horacek, Sie müssen Fragen stellen.
Ja, dies muß ich zu der Frage sagen, weil sonst -
Unsere Geschäftsordnung, Herr Horacek, sieht vor, daß wir kurze Fragen stellen.
Ja. Auf dem Gelände sind Kisten mit der Aufschrift „Pershing Modification Team" und der Aufschrift „Pershing Cylinder Assemble". Was ist in den Kisten drin?
({0})
Ich wiederhole, indem ich klar sage, daß auf dem Gelände, nach dem Sie fragen, innerhalb oder außerhalb von Kisten weder Pershing II- noch Marschflugkörper-Raketen oder Teile davon gelagert sind.
Sie haben eine zweite Zusatzfrage, Herr Horacek.
Meine zweite Zusatzfrage ist dann: Was tun die MAN-Lastzüge mit den Aggregaten, über die ein Schlosser in der „Hessenschau" bekundet hat, daß die Umrüstung in den mobilen Werkstätten von der Pershing I auf Pershing II schon längst passiert ist?
Herr Kollege, vielleicht sind wir uns einig, daß Raketen Raketen und Lastwagen Lastwagen sind und daß Lastwagen keine Raketen sind.
Ja, was aber bedeuten die Aufbauten auf diesen Wagen?
Sie haben keine weiteren Fragen mehr. Es tut mir furchtbar leid; dies ist unser Verfahren. - Herr Fischer hat sich zu einer weiteren Zusatzfrage gemeldet.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen oder verneinen, daß auf dem Gelände der US-Army in Frankfurt-Hausen, Rosittenerstraße 13, die Pershing I in der Vergangenheit deponiert, montiert oder gewartet wurde?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, ich halte mich hier an die Gepflogenheit der vorangegangenen Bundesregierung, die auch wir uns zu eigen gemacht haben, keine Aussagen zu solcherlei Deponierungs-, Instandsetzungs-, Lagerungs- und anderen Fragen zu machen, eine Verhaltensweise, die Sie - das sehe ich Ihnen an - j a kennen. Die Bundesregierung hält aus gutem Grunde hieran fest.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, entgegen Ihren sonstigen Gepflogenheiten haben Sie bei der Beantwortung der Frage 95 doch eine Aussage gemacht, nämlich die, daß dort keine Kisten entsprechenden Inhalts lagern. Da Sie so sicher zu sein scheinen, möchte ich Sie gern fragen: Waren Sie persönlich da und haben nachgeguckt, oder woher stammt Ihr Wissen?
Liebe Frau Kollegin Blunck, wenn wir - auch Sie - nur über Dinge redeten, die wir selber gesehen haben, dann würden wir alle miteinander weniger reden können, weil wir von der Zeit her persönlich nur wenig kontrollieren könnten.
({0})
Ich wiederhole hier sehr klar, daß - weil in Genf die Verhandlung noch läuft und die Bundesregierung mit den Alliierten der Hoffnung ist, daß dort ein vernünftiges Ergebnis herauskommt ({1})
die Aussage ohne Zweifel steht, daß sich in der Bundesrepublik - und damit auch in dem nachgefragParl. Staatssekretär Würzbach
ten Depot - keine Teile von Raketen, von Pershing oder Cruise Missiles, befinden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bastian.
Herr Staatssekretär, wenn es so ist, wie Sie gesagt haben, wie erklären Sie sich dann die belegbare und durch Photos bewiesene Tatsache, daß die Aufschrift auf den photographierten Kisten, die nachweist, daß hier Pershing-Teile gelagert sind, innerhalb von vier Wochen unkenntlich gemacht wurde? Wenn hier keine von uns angenommenen Teile lagern würden, wäre diese Schwärzung ja nicht notwendig gewesen.
({0})
Da es so ist, wie ich gesagt habe, trete ich mit Ihnen nicht in Spekulationen über das Überstreichen von irgendwelchen Aufschriften ein.
({0})
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Kelly.
Ich wollte den Herrn Staatssekretär bitten, mir darüber Auskunft zu geben, ob er weiß, daß in Greenham Common schon die ersten Familien eingeflogen worden sind und dort schon die ersten Manöver mit Marschflugkörpern stattgefunden haben.
Ich wiederhole ein drittes Mal - und ich wäre dankbar, wenn Sie es zur Kenntnis nehmen würden, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen -, daß vor dem 21. November und einem dann notwendigen Abtasten des Ergebnisses weder ganze Raketen noch Teile davon in der Bundesrepublik gelagert sind.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sauermilch.
Herr Staatssekretär, was würde die Bundesregierung tun, wenn sich herausstellen würde, daß in den Kisten von Hausen dennoch Teile von Pershing-Il-Raketen sind?
Herr Kollege, es sind keine Teile von Pershing II oder Cruise Missiles in der Bundesrepublik gelagert.
({0})
Von wem denn? Die müßten aus Amerika kommen. Wir haben enge Verbindungen zu den Amerikanern und Abmachungen, die eingehalten werden. Es werden vor dem eben noch einmal bekräftigten Datum auch keine Teile hier gelagert.
Ich möchte Ihnen einmal sagen: Sie sollten nicht durch die Art und Weise, in der Sie hier fragen, versuchen, gegenteilige Auffassungen mit bestimmter Zielsetzung hier in die Öffentlichkeit zu transportieren.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Gottwald.
Herr Staatssekretär, sind etwa nicht zu den Raketen gehörende Systemteile in den Kisten?
Frau Kollegin, wir können hier über Kisten streiten. Ich will versuchen zu antworten. Ich hoffe, richtig verstanden zu haben, in welche Richtung Sie wollen. Wenn wir die Raketen hier haben müssen, weil wir in Genf zu keinem Ergebnis oder zu einem wie auch immer gearteten Zwischenergebnis kommen, brauchen wir zu einer Rakete natürlich Elektro-, Transport- und andere Dinge. Dies schließt j a niemand aus. Im Gegenteil, dies hat die Bundesregierung, wer immer für sie gesprochen hat, klar gesagt: Damit unser Verhalten in Verbindung mit beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses glaubwürdig bleibt - das ist Voraussetzung für den Erfolg der Verhandlungen in Genf -, müssen natürlich bestimmte Vorbereitungen getroffen werden, und zwar im Bereich der Infrastruktur und in anderen Bereichen. Dies ist von niemandem bestritten worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sielaff.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihre Antworten jetzt nicht qualifizieren oder bewerten, wie Sie das mit den Fragen der Abgeordneten machen. Meine Frage ist: Können Sie uns mit der gleichen Sicherheit sagen, was sich in den genannten Kisten befindet?
Das sage ich Ihnen: mit klarer Sicherheit kein einziger Teil einer Rakete von Pershing II oder Cruise Missiles.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie nun nicht mehr in Zweifel ziehen, daß es dort Kisten gibt, die die Aufschrift „Pershing II" gehabt haben, und diese Aufschrift nachträglich geschwärzt wurde, interessiert auch mich, ob Sie wissen, was in den Kisten ist, nicht nur, was nicht darin ist.
({0})
Herr Kollege, die Einleitung zu Ihrer Frage, in der Sie mir eine Aussage unterstellten, ist so nicht zutreffend, wie Sie im Protokoll nachlesen können. Ich habe dies, was Sie mir unterstellten, so nicht gesagt. Wir wissen zweifelsfrei, daß keine Raketenteile - darauf wol1864
len Sie hinaus - in der Bundesrepublik gelagert sind. Die Firma, die dort - das ist überhaupt kein Geheimnis - diese Systeme mit erstellt, liefert bestimmte Dinge in dem Bereich, den ich ansprach, im Bereich der Elektronik, der Überprüfungssystematik hier an, die dort vorhanden sind. Ich weiß nicht, warum es diese aufgeregten Fragen nach Teilen gibt, die mit der Rakete selbst nicht verwechselt werden dürfen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schneider ({0}).
Herr Staatssekretär, Sie haben vorher bei der Beantwortung einer anderen Frage gesagt, daß bestimmte Vorbereitungen schon getroffen worden sind oder getroffen werden. Können Sie mir darüber Auskunft geben, welches diese Vorbereitungen sind?
Das sind schwerpunktmäßig Vorbereitungen in der Infrastruktur. Falls wir diese Systeme stationieren müssen, können wir sie nicht auf irgendeinen Marktplatz oder auf irgendeinen Platz bei Kasernen stellen, sondern es müssen speziell dafür vorbereitete Anlagen erstellt werden, die den technischen Besonderheiten entsprechen. Diese müssen bautechnisch und infrastrukturmäßig erstellt werden. Sie brauchen wegen der komplexen technischen Konstruktion darüber hinaus elektronische Überprüfungssysteme, und man ist im Begriff, diese ebenfalls hierherzubringen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Reetz.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns unterstellt, daß wir in unserer Fragestellung eine bestimmte Richtung haben. Darf ich auch Ihnen, der Regierung, unterstellen, daß Sie eine bestimmte Richtung haben, und zwar die, daß nicht ist, was nicht sein soll?
Frau Kollegin, ich kann nicht verstehen, auf welchen Teil Ihrer persönlichen Einschätzung ich hier ernsthaft antworten soll. Ich nehme dies zur Kenntnis.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Simonis.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Sperling so interpretieren, daß Sie zwar wissen, was in den Kisten ist, die Absender der Kisten aber offensichtlich zunächst einem Schreibfehler unterlegen sind und diesen dann weggeschwärzt haben, als sie gemerkt haben, daß sie die Kisten falsch beschriftet haben?
Frau Kollegin Simonis, dies dürfen Sie nicht. Wir wissen sehr wohl, woher die Kisten kommen. Ich glaube, wir alle sollten davon überzeugt sein: Wenn wir es wollten, wenn die Amerikaner es wollten, die Deutschen es wollten, so hätten wir - dies sollten Sie uns zutrauen - solche Transporte wirklich ohne plakative Aufschrift im Verborgenen vornehmen können. Wir wissen, daß die Firma erste Zulieferungen aus dem genannten, soeben noch einmal beschriebenen und überhaupt nicht zu verbergenden technischen Bereich hierhergeschickt hat. Wir wissen aber sehr genau - dies machte ich vorhin deutlich -, daß dies keine Einzelteile von Raketen oder Marschflugkörpern sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Hirsch.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre Erläuterung des etwas ominösen Kisteninhaltes so verstehen, daß es sich nach Ihrer Aussage zwar nicht um Raketenbestandteile, aber um Systembestandteile handelt, die zum Funktionieren dieses Systems notwendig sind, daß es sich also - mit den Worten der Rechtssprache - um wesentliche Bestandteile des Systems handelt?
({0})
Herr Kollege, dies habe ich sehr deutlich erklärt. Wenn Sie die Rakete, wenn wir sie brauchen, dann irgendwann hier haben, müssen Sie die Rakete auf ein Abschußgestell, das Abschußgestell auf ein Fahrzeug stellen, das Fahrzeug an elektronische Systeme anschließen. Insofern beantworte ich Ihre Frage mit einem Ja.
({0})
Ich rufe die Frage 96 des Abgeordneten Horacek auf:
Ist die Bundesrepublik Deutschland angesichts des von den Frankfurter GRÜNEN im Römer am 21. September 1983 und des in der Hessenschau vom 3. Oktober 1983 vorgelegten Beweismaterials bereit, die US-Regierung aufzufordern, die bereits gelieferten Systemteile der Pershing-Il-Raketen des amerikanischen Rüstungsproduzenten Martin Marietta, von dem Pershing Modifikationszentrum Europa, FrankfurtHausen, Rosittenerstr. 13, zurückzuziehen, oder sind die oben genannten Aktivitäten bereits ein Teil der sogenannten „vorbereitenden Maßnahmen" für die Stationierung der Pershing II, die, wie die Große Anfrage des Abgeordneten Bastian und der Fraktion DIE GRÜNEN ergab, im Einvernehmen mit der Bundesrepublik Deutschland getroffen werden, obwohl die Verhandlungen in Genf noch nicht abgeschlossen sind?
Herr Staatssekretär, bitte zur Beantwortung.
Wenn die Genfer Verhandlungen nicht zu den gewünschten Ergebnissen kommen, sollen die neuen Mittelstreckenraketen ab Ende 1983 in Europa stationiert werden. Die Bundesregierung stellt fest, daß bisher keine Pershing-Il-Raketen oder Teile davon gelagert worden sind oder vor der Debatte des Bundestages gelagert werden. Im übrigen verweise ich auf die Antwort zu Ihrer ersten Frage.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Horacek.
Ich bin über das Parlamentarische schon ein bißchen unterrichtet und will die Frage auf folgendes beschränken: Sicher wissen
auch Sie - ich kann es Ihnen zeigen -, was der Neubau der Halle auf dem dortigen Gelände bedeutet. Diese Halle ist mit derjenigen identisch, die ich in Amerika bei der Firma Martin Marietta gesehen habe und in der Flugsimulation usw. gemacht wird.
Herr Kollege, ich habe auf manche Nachfragen Ihrer Kollegen soeben geantwortet: Wir brauchen, wenn diese neuen Raketen nötig sind, dafür im Bereich der Infrastruktur, der Überwachung, der Überprüfung und der Instandsetzung auch neue Wartungseinrichtungen.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Horacek.
Sie wissen, wo das Gelände ist. Es ist mitten in der Stadt. Kennen Sie das Papier der Firma Martin Marietta? Darin wird ausgesagt, daß es schon ein gewohnter Anblick sei, in deutschen Städten Raketen herumzufahren, und deshalb sei es kein Problem, so ein Wartungs- bzw. Depotgelände mitten in einer Großstadt zu haben.
Ich habe darauf hingewiesen, daß wir dort unterschiedliche Überprüfungen und Wartungen vornehmen. Ich sage Ihnen hier sehr klar, daß dort Gefechtsköpfe nie gelagert worden sind und gelagert werden. Ich bin mit dieser Aussage, wie ich weiß, sehr weit gegangen. Aber das scheint mir hier sehr nötig zu sein, um sehr klarzumachen, daß diese Dinge auseinanderzuhalten sind.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Staatssekretär, wie wollen Sie, nachdem Sie eben eingeräumt haben, daß wir über wesentliche Bestandteile des Systems sprechen, also über Bestandteile, ohne die die Rakete nicht funktionieren kann, politisch zwischen wesentlichen und anderen, also offenbar noch wesentlicheren Bestandteilen unterscheiden?
({0})
Herr Abgeordneter Hirsch, uns beide kennend und trotz des ernsten Themas auch ein bißchen das Spiel mit den Worten, das Sie hier bemühen, jetzt möglicherweise entblätternd, muß ich sagen: Das wesentlichste Stück ist doch wohl das, wo wir hundertprozentig nicht nur sicher sind, sondern dafür sorgen werden, daß es - wenn nötig - nach dem 21. November hierher kommt, nämlich die Rakete. Die ist nicht hier. Ich will mein Bild nicht wiederholen, daß die Rakete, wenn wir sie brauchen, auf das Gestell und das Gestell auf das Fahrzeug usw. kommen muß.
({0})
Das wesentlichste Element, das Kernstück allein nützt nichts, sondern man braucht dazu eine gewisse Infrastruktur. Man braucht die rollende, die elektronische Technik, die die Überprüfung ermöglicht. Hier würde ich bezüglich der Frage, was wesentlich und was unwesentlich sei, in der Tat unterschiedlich gewichten.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Staatssekretär, können Sie mir, nachdem Sie hier von wesentlichen Teilen des Systems gesprochen haben, bitte bestätigen, daß nach dem 21. November, wenn eine Aufstellung der Raketen nicht erforderlich ist, diese wesentlichen Teile per Kiste wieder zurückgeschickt werden müssen?
Frau Kollegin, die Regierung des Bundeskanzlers Schmidt und unsere Regierung, die das nahtlos übernommen hat, sind sich einig gewesen, daß es, obwohl die Infrastrukturvorbereitungen, die technischen Dinge, über die wir hier reden, und möglicherweise eine Anzahl von Raketen viel Geld kosten, von dem wir alle wissen, was man damit bei uns im Land und in anderen Teilen der Welt sonst Wichtiges tun kann, den Preis wert ist, unsere produzierten, noch in Amerika liegenden Raketen zu verschrotten, wenn wir in Genf dazu kommen, die sowjetischen Raketen wegzukriegen. Ihre Frage ist also zu bejahen. Auch die Dinge, über die wir hier reden, werden dann, wenn Sie wollen, wenn's geht, einer anderen Nutzung zugeführt oder verschrottet.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Hause hier verbindlich zusagen, daß vor einer Beschlußfassung des Deutschen Bundestages - wann immer diese im November stattfinden wird - weder Raketenteile noch Raketen in der Bundesrepublik disloziert werden?
Herr Kollege, ich nehme an, daß Sie erst soeben zu uns kommen konnten. Sonst hätten Sie das in dieser Fragestunde von mir schon dreimal klar gehört.
({0})
Ich nehme Ihre Frage auf und wiederhole nun ein viertes Mal: Vor dem 21. November - und hoffentlich, wenn das Ergebnis es zuläßt, auch nicht danach - wird keine Rakete, werden auch nicht Teile von Raketen hier gelagert.
Herr Kollege, ich nutze Ihre Frage als Gelegenheit, um hier auch noch etwas anderes, gerade an die Adresse der SPD, sehr deutlich zu sagen: Wir, die unionsgeführte Regierung unter Helmut Kohl, haben Abmachungen vorgefunden, wonach die Raketen schon jetzt hier gewesen wären. Der seinerzeitige Bundeskanzler Schmidt hatte abgemacht, die Raketen bereits ab August - später ist das ein bißchen in den September geschoben worden - hier zu stationieren. Helmut Kohl ist es gewesen, der das hinausgeschoben und hinausgeschoben und
hinter den 21. November geschoben hat, meine Kollegen.
({1})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Fischer.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihrer Antwort bezüglich dieser Halle vorhin entnommen, daß dort Raketen, Pershing II, ohne Sprengköpfe gewartet werden. Mich würde als Frankfurter Abgeordneter interessieren, ob diese Halle - mitten in einem Industrie- und Wohngebiet in Frankfurt - mit Wissen und mit Billigung der Bundesregierung errichtet wurde. Denn immerhin handelt es sich bei den Raketen - auch ohne Sprengköpfe - um sehr gefährliche Einrichtungen.
Ich verweise auf die Frage Ihres neben Ihnen sitzenden Kollegen. Seine erste Frage sagt sehr klar, auf welcher Grundlage diese Anlage dort besteht. Im übrigen weise ich Ihre Übersetzung zurück, die Sie mir unterstellten, ich hätte gesagt, dort würden PershingII-Raketen gewartet; dies ist nicht der Fall.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Eigen.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß diese Diskussion, die wir hier führen, in der einige Fraktionen drängende Fragen nach NATO-Maßnahmen stellen, bei unseren Freunden in Europa und in den USA einen sehr eigenartigen Eindruck erwecken muß,
({0})
wenn dieselben hier keinerlei Fragen nach der russischen Bewaffnung stellen?
({1})
Herr Kollege Eigen, dies ist sicherlich der Fall; wir erleben das ja innerhalb und außerhalb des Parlaments. Aber für viel gewichtiger halten wir die Auswirkungen auf den Verhandlungspartner in Genf, auf die Sowjetunion. Doch die Sowjetunion sieht, daß die Bundesregierung und die beiden Koalitionspartner, CDU/ CSU und FDP, an dem Doppelbeschluß in beiden Teilen sehr ernsthaft festhalten, um einen Erfolg zu haben: weniger russische und damit weniger amerikanische oder gar keine russischen Raketen mehr und dafür keine neuen amerikanischen hier.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Schoppe.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie angesichts der Kürzungen im Sozialbereich: Wieviel Geld hat die Bundesrepublik großzügig und möglicherweise - hoffentlich - umsonst für Infrastrukturmaßnahmen ausgegeben, wenn die
Pershings und die Missiles hier nicht aufgestellt werden, und zwar einschließlich der Kosten für die Rücksendung der Kisten?
Frau Schoppe, ich muß feststellen, daß diese Frage nun nicht mehr in einem Zusammenhang mit der vorgelegten Frage steht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Catenhusen.
Herr Staatssekretär, auf welche schriftliche Vereinbarung stützt sich Ihre Aussage, daß schon Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Vereinbarung mit den Amerikanern über eine schon vor November erfolgende Dislozierung von Teilen der geplanten amerikanischen Mittelstrekkenraketen getroffen hat?
Auf eine Vorlage, die der vormalige Bundeskanzler im Mai 1980 persönlich mit diesem Datum abgezeichnet hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Peter.
Herr Staatssekretär, selbst auf die Gefahr hin, daß auch ich von Ihnen gesagt bekomme, die Frage sei schon mehrfach gestellt worden,
({0})
wiederhole ich die Frage des Herrn Kollegen Conradi, ob die Bundesregierung garantieren kann, daß vor einem Beschluß des Deutschen Bundestages keine Raketen oder Raketenteile stationiert werden. Vor einem Beschluß! Ich frage nicht nach einem Termin.
Herr Kollege, die Bundesregierung achtet die Hoheit des Parlaments, und dies hat sie zu tun, nicht nur der Verfassung gehorchend, sondern ihrem eigenen Antrieb folgend. Deshalb - wiederhole ich Ihnen - werden wir vor Abschluß der letzten Verhandlungsrunde oder -stunde in Genf und der sich daran hier am 21. November anschließenden Debatte darüber, der sich - das befinden das Parlament, die Fraktionen - einer Abstimmung anschließt oder nicht anschließt, garantiert kein einziges Teil einer Rakete wo auch immer in der Bundesrepublik stationieren.
Meine Damen und Herren, ich habe noch vier Zusatzfragen auf der Liste. Ich nehme an, Sie verstehen es, daß ich dann Schluß mache. Wir haben sehr großzügig Zusatzfragen zugelassen. Die andern wollen dann in anderen Sachgebieten auch noch ran.
Die nächste Zusatzfrage kommt von dem Abgeordneten Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin ein Dokument herangezogen: Mai 1980, abgezeichnet vom Bundeskanzler Helmut Schmidt. Sind Sie bereit, dieses Dokument dem Verteidigungsausschuß in dieser Form, wie Sie es zitiert
haben, im Zusammenhang vorzulegen? Und sind Sie zusätzlich bereit, zur Kenntnis zu nehmen oder darüber nachzudenken, daß die Entscheidung im Mai 1980 sicher eine Entscheidung war, die unter dem gegenwärtigen Verhandlungsdruck oder auf Grund der allgemeinen Entwicklung nicht zu diesen Schlußfolgerungen geführt hätte, die Sie heute hier als Bundesregierung hier vertreten?
Herr Kollege, sicher wird es möglich sein, daß in diese Papiere Einblick genommen werden kann. Da werden wir nach der geeigneten Form zu suchen haben, in der dieses geschieht. Ich habe darauf hingewiesen, daß entsprechend der Entwicklung der Verhandlungen unser Bundeskanzler in Absprache mit dem amerikanischen Präsidenten und allen anderen Staaten der NATO den Beginn einer möglichen Stationierung hat hinauszögern können, um keine Präjudizierung und Überschneidung hier herbeizuführen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dörflinger.
Herr Staatssekretär, können Sie mir, obwohl es bestritten wird, ausdrücklich bestätigen, daß die Vorbereitungsarbeiten für eine mögliche Stationierung von Raketen in der Bundesrepublik Deutschland bei der früheren Regierung zumindest genau so weit gegangen sind wie bei der jetzigen? Und sehen Sie im Verhalten des Bundeskanzlers, das Sie soeben zitiert haben nicht einen Ausdruck dessen, daß die Regierung im Gegensatz zu anderen auf einen Verhandlungserfolg in Genf setzt?
Ich bestätige den ersten Teil uneingeschränkt. Ich gehe noch ein wenig weiter, als Sie fragten. Bis zum Wechsel der Regierung vor knapp einem Jahr läßt sich aus den Akten keinerlei Versuch der Regierung Schmidt ersehen, den Beginn, den ich mit August oder September bezifferte, durch Gespräche mit den Alliierten hinauszuzögern.
Und der zweite Punkt. Daß wir mit allem Ernst und mit allem Nachdruck - und dies kann nur sein, wenn beide Teile des Doppelbeschlusses verfolgt werden - auf ein Ergebnis drängen, bemüht sich die Bundesregierung jeden Tag deutlich zu machen. Und sie wäre stärker und die Vereinigten Staaten, die in Genf verhandeln, wären stärker, wenn sie von allen Seiten des Hauses hier Unterstützung bekämen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schneider.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren bisherigen Aussagen zum Stand der Vorbereitung der Dislozierung der Pershing II so verstehen, daß bisher alles zu dieser Vorbereitung getan worden ist und daß nur noch die Raketen fehlen, so wie bei einem fertigen Haus nur noch auf den Mieter gewartet wird?
Dies ist nicht der Fall. Aber es ist Notwendigstes, Grundlegendes getan worden; noch nicht alles. Dies zu dem Bild, das Sie verwenden, daß - ich übersetze das mal - nur noch die Rakete kommen muß und daß es dann sofort funktioniert. Aber es ist vieles von dem Notwendigen getan worden - aus dem Grund, der Sowjetunion zu zeigen, daß wir es ernst meinen mit dem Ziel, daß sie ihre Dinge abbaut, daß wir keine neuen hierher bringen müssen.
({0})
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sperling.
Herr Staatssekretär, dann stimmt es nach Ihren Aussagen doch wohl, daß die frühere Regierung bemüht war, die Stationierung überflüssig zu machen, während sich die jetzige Regierung nur noch bemüht, die Stationierung zu verschieben.
({0})
Herr Kollege, ich hoffe, daß Sie noch einmal Gelegenheit haben, sich mit dem gedanklichen Ansatz Ihres früheren Bundeskanzlers Schmidt, der ja maßgeblich zum Zustandekommen des Doppelbeschlusses beitrug, zu beschäftigen, welcher zum Inhalt hatte, die Sowjetunion dazu zu bringen, auf ihr angelegtes, auf uns gerichtetes, uns bedrohendes Mittelstreckenmonopol zu verzichten, wenn sie sieht, daß wir zwar nicht Rakete gegen Rakete, aber, wenn sie es bei den Verhandlungen nicht anders einräumt, einige Raketen gegen ihre schon vorhandenen stellen.
Das Ziel, das Schmidt verfolgte, ist auch unseres: die sowjetischen Raketen weg- und keine neuen amerikanischen Raketen hierherzubekommen. Damit dieses unser Ziel in Genf von der Sowjetunion ernstgenommen wird, sind die Schritte, über die wir uns hier heute unterhalten haben, notwendig.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung. Ich danke dem Herrn Staatssekretär Würzbach für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung.
Ich rufe Frage 9 des Abgeordneten Waltemathe auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Zweckentfremdungsverordnung und die Hindernisse für die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen aufgehoben werden sollten?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Waltemathe, die Bundesregierung hält die Möglichkeit, in besonderen Situationen Zweckentfremdungsverordnungen zu erlassen, für einen Bestandteil des Mieterschutzes. Ihre Frage ist deshalb mit Nein zu beantworten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß Sie nicht die Aussage unterschreiben würden, daß das Zweckentfremdungsverbot Investitionen behindert oder die Mobilität einschränkt?
Herr Kollege Waltemathe, das, was Sie ansprechen, steht in engem Zusammenhang mit dem Verbot von Umwandlungen von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Ich darf noch einmal erklären, was die Bundesregierung hierzu früher gesagt hat: Ein Verbot der Umwandlung wird von der Bundesregierung allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen abgelehnt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, da ich nicht danach gefragt habe, was die frühere Bundesregierung meinte, sondern gefragt habe, was die jetzige Bundesregierung bzw. der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau politisch meint, möchte ich Sie fragen, ob Sie der wissenschaftlichen Lehrmeinung entgegentreten, nach der Luxusmodernisierung und Umwandlung von Mietin Eigentumswohnungen für die Investitionstätigkeit hilfreich wären, wie es ein Abteilungsleiter Ihres Hauses geschrieben hat.
Herr Kollege Waltemathe, ich möchte Ihre Frage mit zwei Bemerkungen beantworten. Erstens. Meine Antwort soeben beruft sich nicht auf die frühere Bundesregierung, sondern auf eine Antwort der Bundesregierung vom 23. September auf die Frage 162 des Abgeordneten Müller ({0}).
Zweitens. Sie spielen auf den Abteilungsleiter Wohnungswesen im Bauministerium an. Dieser Abteilungsleiter war wissenschaftlich tätig; er hat als Wissenschaftler viele Abhandlungen geschrieben. Die Sachkunde dieses Wissenschaftlers hat dazu geführt, daß die Bundesregierung ihn in dieses neue Amt berufen hat.
({1})
- Das schließt nicht ein, daß die Bundesregierung wissenschaftlichen Äußerungen immer folgen muß.
({2})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß durch diese Fragen und durch diese Diskussion die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Universitätsdozenten Dr. Eckhoff eine besondere Publizität erfahren?
Herr Kollege Möller, das können Sie so sehen. Die Bundesregierung wird auch weiterhin auf wissenschaftlichen Rat Wert legen; nur behält sich jede Bundesregierung - auch und insbesondere diese - vor, sich eine eigene Meinung zu bilden, bevor sie an die Öffentlichkeit tritt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, es geht doch hier nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern es geht doch um die Frage, ob die Bundesregierung über die jetzigen Regelungen hinaus das Herausmodernisieren aus Altbauten begünstigen will oder nicht - eine Frage, die deswegen von Bedeutung ist, weil die Altbaumieter in aller Regel einkommensschwach sind und bei einer Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen die Eigentumswohnungen selbst nicht erwerben können, sondern dann in absehbarer Zeit ihre Wohnung verlieren. Die Frage ist doch also in Wirklichkeit, ob dieser Prozeß über die bisher bestehenden Regelungen hinaus erleichtert werden soll oder nicht. Können Sie dazu etwas sagen?
Herr Kollege Hirsch, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Mieter bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nach der geltenden Rechtslage hinreichend geschützt sind. Die Bundesregierung beruft sich dabei sogar auf eine Erklärung des früheren Wohnungsbauministers, die dieser auf eine Anfrage der damaligen Opposition abgegeben hat. Dort heißt es:
Nach Auffassung der Bundesregierung
- die damals hier von Herrn Dr. Haack vertreten worden ist gewährleistet das geltende Recht den Mietern einen nach den bisherigen Erfahrungen ausreichenden Schutz vor dem Verlust ihrer Wohnung.
Er hat damals hinzugefügt, notwendig sei allerdings die Aufklärung der Mieter und Vermieter über ihre Rechte und Pflichten. Dies ist auch die Auffassung dieser Bundesregierung.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Herr Staatssekretär, ist Ihre Qualifikation der Äußerungen des Leiters Ihrer Grundsatzabteilung, sie seien lediglich wissenschaftlicher Art, dahin zu verstehen, daß der Leiter der Grundsatzabteilung nun eine Politik zu vertreten hat, die
in Widerspruch zu seinen früheren wissenschaftlichen Äußerungen steht?
Der Leiter der Abteilung Wohnungswesen hat zunächst einmal keine Politik zu vertreten. Er berät die Bundesregierung. Wir werden niemals einem Mitarbeiter des Hauses einen Maulkorb umhängen. Die Mitarbeiter sollen sagen, was sie denken, aber die Leitung des Hauses behält sich vor, abschließend die politischen Entscheidungen hier in diesem Bundestag mitzuteilen.
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Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kansy.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Möglichkeit, beim Erwerb von Wohnungseigentum aus dem Bestand den § 7 b in Anspruch zu nehmen, einem Vorschlag der damaligen Regierung Schmidt entspricht, und wie hat sich die damalige Einführung dieser Möglichkeit unter den eben angesprochenen Gesichtspunkten bewährt?
Ich bestätige zunächst den ersten Teil Ihrer Frage und möchte in dem Zusammenhang, Herr Kollege Kansy, auf die Beantwortung der von Ihrer Fraktion gestellten Kleinen Anfrage verweisen.
Wir kommen zu einer Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, können Sie mein Vergnügen daran teilen, daß sich die heutige Bundesregierung lieber auf die Auffassungen der früheren Bundesregierung beruft als auf die wissenschaftlich inspirierten Neigungen der früheren Opposition?
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Herr Kollege Sperling, Sie haben früher immer den Grundsatz vertreten, als Sie an dieser Stelle standen: Man muß sie mit den eigenen Waffen schlagen. Wenn ich davon Gebrauch mache, so bitte ich auch dafür um Verständnis.
Es wäre interessant, einmal die Äußerungen, die der frühere Abteilungsleiter W im Amte gemacht hat, mit denen zu vergleichen, die er jetzt macht.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt ({0}).
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie den Widerspruch, daß Sie einen Leiter einer Grundsatzabteilung berufen, der in einem Ministerium grundsätzliche kreative Überlegungen anstellen soll, daß dieser aber in dieser Funktion das Gegenteil von dem tun soll oder denken soll, was er vorher in wissenschaftlichen Publikationen geäußert hat?
Einen Augenblick, Herr Staatssekretär. Ich muß sagen, daß der Zusammenhang zur Frage nicht mehr herstellbar ist. Insofern müssen Sie sie nicht beantworten.
Ich rufe Frage 10 des Abgeordneten Waltemathe auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß der Soziale Wohnungsbau bis auf eine Restgröße mittelfristig eingestellt werden sollte?
Herr Kollege Waltemathe, in der Regierungserklärung hat der Bundeskanzler bekräftigt, daß der Soziale Wohnungsbau Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ist. Dementsprechend hat die Bundesregierung das Sonderprogramm zur Verstärkung des Sozialen Wohnungsbaus aufgelegt, das die Finanzhilfen des Bundes auf ein deutlich höheres Niveau gebracht hat.
Für die Jahre 1983 und 1984 steht ohne die 500 Millionen DM für die Bausparzwischenfinanzierung ein zusätzlicher Verpflichtungsrahmen in Höhe von 2 Milliarden DM zur Verfügung, mit denen Eigentumsmaßnahmen und Mietwohnungen im Sozialen Wohnungsbau gefördert werden. Der Soziale Wohnungsbau im ersten Förderungsweg ist vom Durchschnitt der Jahre 1965 bis 1969 mit 162 000 Wohnungen auf 50 000 Wohnungen im Durchschnitt der Jahre 1980 bis 1982 zurückgegangen. Auf Grund der zusätzlichen Förderungsmaßnahmen konnte ein noch stärkerer Rückgang des Sozialen Wohnungsbaus verhindert und sogar eine Steigerung erzielt werden.
Auf weitere Sicht ist der Soziale Wohnungsbau aus finanzpolitischen und - ich betone dies ganz besonders - aus sozialpolitischen Gründen in Verbindung mit der steuerlichen Neuregelung auf ein Programm im ersten Förderungsweg für bestimmte Zielgruppen und auf ein treffsicherer gestaltetes Eigentumsprogramm auszurichten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, da ich nicht ganz sicher bin, wie Sie nun meine Frage beantwortet haben, d. h. ob Sie der Auffassung sind, der Soziale Wohnungsbau soll auf eine Restgröße zusammenschrumpfen oder er solle, weil er zur Sozialen Marktwirtschaft gehört, im Rahmen des finanziell Machbaren im wesentlichen beibehalten werden, möchte ich Sie noch einmal fragen, ob Sie mit Ja oder Nein beantworten können, ob der Soziale Wohnungsbau auf eine Restgröße schrumpfen soll.
Die Bundesregierung hat das Wort „Restgröße" nie gebraucht.
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Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, was hält die Bundesregierung oder Ihr Haus politisch von der wissenschaftlichen Lehrmeinung, daß die Ob1870
jektförderung durch eine Subjektförderung ersetzt werden soll?
Herr Kollege Waltemathe, Sie wissen so gut wie ich, daß sich der Soziale Wohnungsbau in weiten Teilen sogar als unsozial erwiesen hat. Ich denke an die vielen Fälle der Fehlbelegungen, die wir vorfinden. Ich denke an die Fälle, wo junge Familien im Sozialen Wohnungsbau heute in eine Wohnung einziehen und die doppelte oder dreifache Miete gegenüber den Familien bezahlen müssen, die vor fünf oder zehn Jahren eingezogen sind. Das bedeutet, daß das System des Sozialen Wohnungsbaus, sozialpolitisch gesehen, überprüft werden muß, und dem verschließt sich die Bundesregierung nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, gilt Ihre positive Meinung zum Sozialwohnungsbau auch für den Bestand, und zweitens, weiß der zuständige Abteilungsleiter des Grundsatzreferates von dieser positiven Meinung der Bundesregierung?
Ich betone noch einmal, daß ich hier die Meinung der Bundesregierung vortrage, und diese ist mit dem Abteilungsleiter Wohnungswesen erarbeitet worden.
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Ich rufe Frage 11 des Abgeordneten Conradi auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Neugestaltung der Eigentumsförderung nach dem „Investitionsgutmodell" erfolgen sollte?
Herr Kollege Conradi, die Bundesregierung erwägt eine Neugestaltung der Förderung selbstgenutzten Wohneigentums. Dabei kommt es dem Wohnungsbauminister ganz besonders darauf an, im Anschluß an den erweiterten Schuldzinsenabzug die steuerlichen Rahmenbedingungen für das eigengenutzte Wohneigen tum neu zu ordnen und eine Lösung zu finden, die die steuerliche Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums einheitlich regelt. Ziel ist es dabei, die Schwelle zum selbstgenutzten Wohneigentum, insbesondere auch für die mittleren Einkommensschichten, herabzusetzen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Kann ich, Herr Staatssekretär, daraus entnehmen, daß die Bundesregierung das selbstgenutzte Wohneigentum in seiner steuerlichen Behandlung nicht mit den Einkünften aus Kapitalanlagen oder anderen Investitionen gleichsetzen will?
Die Antwort auf Ihre Frage möchte ich wie folgt formulieren: Wir werden dafür Sorge tragen, daß der Eigenheimer, der Selbstnutzer, steuerlich künftig nicht mehr schlechter gestellt wird als derjenige, der ein Mehrfamilienhaus hat.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.
Ich kann aus Ihren Antworten, Herr Staatssekretär, richtig entnehmen, daß Sie eine steuerliche Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums nach dem Investitionsmodell, d. h. vergleichbar anderen Investitionen, nicht ausschließen?
Herr Kollege Conradi, Sie sprechen ein Modell an, dessen Inhalt noch nicht hinreichend bestimmt ist. Nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion wird es weder eine Konsumgutlösung noch eine Investitionsgutlösung in Form der reinen Lehre, wie Sie sie eben angesprochen haben, geben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die neue steuerliche Eigentumsförderung nicht den bestrafen darf, der am meisten Eigenkapital einsetzt, und den begünstigen darf, der am meisten spart?
Herr Kollege Daniels, Sie sprechen damit den Schuldzinsenabzug an. Die Bundesregierung hat den Schuldzinsenabzug aus konjunkturpolitischen Gründen für drei Jahre gewählt. Die Erfolge damit sind gut. Das schließt nicht aus, daß der Gedanke des Vorsparens weiter vertieft wird. Ich darf Ihnen sagen, daß der Wohnungsbauminister sehr darum bemüht ist, z. B. die Festlegungsfrist für die prämienunschädliche Verwendung der Bausparmittel von zehn Jahren auf sieben Jahre zurückzuführen. Das würde Ihrem Anliegen entgegenkommen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, wir sind uns einig, daß es hier um eine Grundsatzentscheidung geht. Bis wann wird die Grundsatzabteilung Ihres Hauses in der Lage sein, ein Konzept auszuarbeiten und über den Minister an uns bzw. die Öffentlichkeit zu bringen? Kennt die Grundsatzabteilung Ihres Hauses die Meinung ihres Abteilungsleiters, und inwieweit befindet sie sich in Übereinstimmung mit dem, was die Bundesregierung dazu denkt?
Herr Kollege Müntefering, Sie wissen, daß das Gesamtpaket Schuldzinsenabzug, Bausparzwischenfinanzierung und Sozialer Wohnungsbau 1986 ausläuft. Die Bundesregierung ist darum bemüht, eine Anschlußregelung zu treffen. Die Bundesregierung weiß, daß sie das früher als 1986 dokumentieren muß, damit es keinen Attentismus gibt. Wir sind darum bemüht, die Konzeption Anfang nächsten Jahres vorzulegen. Dabei geht es auch um bestimmte Eckdaten. Die
Anfangsbelastung soll geringer werden. Darüber hinaus soll eine familienpolitische Komponente eingebaut werden. Wir stimmen sicher darin überein, daß nicht mehr Bürokratie geschaffen werden soll, sondern daß dabei Bürokratie abgebaut werden soll.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß die Anfangsbelastung für den Erwerber eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung möglichst niedrig gehalten werden sollte, um auch den Empfängern von kleinen und mittleren Einkommen den Erwerb von Eigentum zu ermöglichen?
Herr Kollege Möller, ich bestätige dies noch einmal. Ich glaube, ich habe das soeben schon als ein erstes Orientierungsdatum genannt, aber da Sie dies noch einmal erfragen, bestätige ich Ihnen das ausdrücklich. Das entspricht insbesondere auch den Wünschen derer, die bauen wollen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, da Sie bei der Beantwortung der Ausgangsfrage ausdrücklich betont haben, Ihre Antwort sei mit dem Abteilungsleiter W abgestimmt, darf ich Sie fragen, ob die Antwort auch mit dem Finanzministerium abgestimmt wurde.
Herr Kollege Waltemathe, bezüglich dieser Fragen stehen wir mit dem Finanzminister in Verhandlungen. Ich spreche hier im Namen der Bundesregierung, und das gilt dann für die gesamte Bundesregierung.
Ich rufe Frage 12 des Abgeordneten Conradi auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die II. Berechnungsverordnung fehlerhafte Ansätze für die Zinsen und falsche Vorstellungen über Entschuldungsgewinne enthält?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Conradi, die Bundesregierung ist nicht dieser Auffassung. Das angesprochene Verfahren, auch bei sinkender Kapitalbindung grundsätzlich unveränderte Zinszahlungen anzusetzen, führt in dem bestehenden System nicht zu unangemessenen Ergebnissen.
Zusatzfrage.
Kann ich das so verstehen, daß die Bundesregierung am Grundsatz der Berechnungsverordnung, wonach de facto Entschuldungsgewinne möglich sind, festhalten will?
Herr Kollege Conradi, die der II. Berechnungsverordnung zugrunde liegende Systematik wird durch die Bundesregierung nicht geändert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kansy.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie generell die Lesbarkeit und Verständlichkeit der II. Berechnungsverordnung - unabhängig von derem sachlichen Inhalt - für einen Mieter in diesem Lande?
Die Lesbarkeit der II. Berechnungsverordnung ist nicht gut. Es wäre an der Zeit, im Rahmen der Umstrukturierung auch die Lesbarkeit zu verbessern. Die Bundesregierung mußte sich bei der Novellierung jedoch auf ein Mindestmaß beschränken, und das hat sie getan.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Antwort auf die ursprünglich gestellte Frage schließen, daß sich die Bediensteten im Hause des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, die sich mit der II. Berechnungsverordnung zu beschäftigen haben, nicht nach Aufsätzen richten, sondern nach den politischen Weisungen, die Sie hier vorgetragen haben?
Herr Kollege Waltemathe, bei jeder heute von mir zu beantwortenden Frage spielen Sie auf den Abteilungsleiter Wohnungswesen an. Ich wäre doch dankbar, wenn wir das einmal beenden könnten. Ich kann Ihnen noch einmal versichern: Der Bundesminister hat nach Abwägung aller Umstände einen ausgewiesenen Fachmann in dieses Haus geholt,
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und der ausgewiesene Fachmann hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, seine Meinung kundzutun. Die endgültige politische Auffassung des Hauses wird durch den zuständigen Minister festgelegt. Darauf können Sie sich auch in Zukunft verlassen.
Vizepräsident. Westphal: Herr Staatssekretär, ich fürchte, Sie haben noch keinen Grund, dankbar zu sein; denn ich sehe, hierzu gibt es noch eine Reihe von Fragen.
Die nächste Frage, die Frage 13, hat Frau Abgeordnete Dr. Czempiel eingebracht:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß das Wohngeld in seiner bewährten Form nur noch vorläufig beibehalten und durch ungebundene Transferzahlungen ersetzt werden sollte?
Frau Kollegin Czempiel, Wohngeld wird unter der Voraussetzung gewährt, daß mindestens Beträge in Höhe des Wohngeldes tatsächlich zur Aufbringung der Wohnkosten eingesetzt werden. Wohngeld in Form ungebundener Transferleistungen widerspräche diesem Grundsatz und wird deshalb von der Bundesregierung nicht befürwortet.
Eine Zusatzfrage, Frau Dr. Czempiel.
Kann die Bundesregierung dann sagen, was Wissenschaftler meinen, wenn sie Wohngeld durch ungebundene Transferleistungen ersetzen wollen?
Frau Kollegin Czempiel, ich betone noch einmal die Auffassung der Bundesregierung zum Wohngeld. Wir haben immer gesagt, wir wollen Marktwirtschaft in der Wohnungsbaupolitik unter individueller Absicherung der einkommensschwachen Bevölkerungskreise. Da spielt das Wohngeld eine ganz entscheidende Rolle.
Das Wohngeld hat den großen Vorteil, daß es treffsicher ist. Es wird nämlich nur so lange gewährt, wie einer der Hilfe bedarf. Wohngeld schafft auch keine Fälle künftiger Fehlbelegungen. Deshalb hält die Bundesregierung ausweislich der Regierungserklärung an dem Prinzip des Wohngelds fest.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Czempiel.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wird die Bundesregierung also ungebundene Transferleistungen ablehnen?
Ich habe das eben bereits bekundet.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode zu tun, um die Leistungsfähigkeit des Wohngeldes zu festigen und weiterzuentwickeln?
Herr Kollege Möller, die Bundesregierung beabsichtigt, in dieser Legislaturperiode die Wohngeldleistungen im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel mit dem Ziel anzupassen, das bisherige Leistungsniveau zu erhalten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, gilt das Wort des Bauministers noch, daß das Wohngeld zum 1. Januar 1985 novelliert - und das soll ja wohl heißen: verbessert - werde, so daß Anfang nächsten Jahres eine Novelle auf den Tisch kommt, und mit welcher finanziellen Masse wird in dem Zusammenhang gerechnet, die eingesetzt werden kann?
Sie werden verstehen, daß ich mich jetzt nicht auf genaue Zahlen einlassen kann. Aber der Wohnungsbauminister hat die Absicht, an dem Termin, den Sie nannten, festzuhalten.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Rönsch.
Herr Staatssekretär, wie hat sich der Anteil der Wohngeldempfänger bei den Mietern im öffentlich geförderten Wohnungsbau einerseits und bei den frei finanzierten Wohnungen andererseits in den letzten Jahren entwikkelt?
Wir haben darüber eine Statistik, die ich aber im Moment nicht präsent habe. Ich will Ihnen die Frage gerne schriftlich beantworten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, da Sie jetzt bei mehreren Fragen, auch bei dieser, der Meinung des Abteilungsleiters entgegengetreten sind, darf ich Sie fragen, wodurch sich dieser Abteilungsleiter nun besonders ausgewiesen hat.
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Herr Kollege Waltemathe, erstens durch seine wissenschaftliche Leistung, zweitens durch einen klaren Überblick über die Gesamtproblematik. Drittens ist er ein Mann der sozialen Marktwirtschaft,
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der durchaus auch einen Sinn für sozialpolitische Komponenten hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kansy.
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung Anregungen insbesondere aus dem Bereich der großen Großstädte, bei einer eventuellen Novellierung des Wohngeldes vor allem den dortigen Anliegen gerecht zu werden?
Herr Kollege Kansy, Sie spielen damit auf das Wohngeld S an. Diese Frage ist in der Diskussion. Hier sind noch mehrere Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen: Einmal der berechtigte Hinweis auf die Sondersituation der Ballungsgebiete. Auf der anderen Seite kommen dadurch auch regionalspezifische Probleme auf uns zu. Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.
Ich rufe die Frage 14 der Frau Abgeordneten Dr. Czempiel auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Propagierung der Selbst- und Eigenhilfe im Wohnungsbau eine Anstiftung zur Steuerhinterziehung ist?
Frau Kollegin Czempiel, Dienst- und Werkleistungen, die auf Gefälligkeit oder Nachbarschaftshilfe beruhen, sowie die Selbsthilfe im Sinne von § 36 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes erfüllen weder den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit nach dem Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, noch unterliegen sie einer Besteuerung. Deshalb kann die Propagierung dieser Tätigkeiten auch nicht als Anstiftung zur Steuerhinterziehung gewertet werden.
Frau Abgeordnete Czempiel, lassen Sie sich einen Moment unterbrechen. Hinter Ihnen stehen ein paar Kollegen, von denen ich den Eindruck habe, daß Ihre Unterhaltung intensiv ist, aber stört. Insofern würde ich bitte, daß das an anderer Stelle fortgesetzt wird.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Czempiel.
Ist es richtig, daß die Bundesregierung den wissenschaftlichen Ratschlägen nicht folgen wird, um die Selbsthilfe beim Bauen zu unterbinden?
Frau Kollegin, hier gibt es zwei Seiten: auf der einen Seite die Schwarzarbeit, auf der anderen Seite die Selbsthilfe. Die konkrete Grenzziehung im Einzelfall ist schwierig. Dieser Versuch wurde mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit unternommen. Dieses Gesetz grenzt die Selbsthilfe von der Schwarzarbeit ab. Nach diesem Gesetz gehören zur Selbsthilfe die Arbeitsleistungen, die zur Durchführung eines Bauvorhabens vom Bauherrn selbst, von seinen Angehörigen oder von anderen unentgeltlich oder auf Gegenseitigkeit erbracht werden.
Diese Formulierungen beruhen auf einer Novellierung vom 1. Januar 1982.
Zu der Frage, welche Erfahrungen wir mit diesem Gesetz gemacht haben: Wir sind gerade dabei, diese Erfahrungen zu sammeln, denn wir sind verpflichtet, bis zum 30. Juni 1984 über die Erfahrungen mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung zu berichten.
Zusatzfrage, Herr Dr. Daniels.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung nach ihrem gegenwärtigen Kenntnisstand dieses Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit für änderungsbedürftig?
Die Bundesregierung will zunächst die Erfahrungen mit diesem Gesetz sammeln, bevor sie diese Frage abschließend beantwortet. Wenn es Auswüchse mit der Schwarzarbeit draußen vor Ort gibt, ist das natürlich auch ein Anlaß für die Exekutive, darüber zu wachen, daß die geltenden Bestimmungen eingehalten werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß ohne Selbsthilfe für viele Bürger unserer Bundesrepublik Deutschland der Erwerb von Wohneigentum nicht möglich wäre?
Herr Kollege Möller, im Rahmen des geltenden Rechts, an das wir uns halten, möchte ich Ihre Frage mit einem klaren Ja beantworten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Immer ({0}).
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung in Zukunft die Gewährung öffentlicher Mittel zum Wohnungsbau, insbesondere zum Eigenheimbau, davon abhängig machen, wie es die Bauwirtschaft fordert, daß die Bauten nachgewiesenermaßen nicht in Schwarzarbeit errichtet wurden?
Ich sehe hier keinen Kausalzusammenhang, Herr Kollege.
Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung vieler Fachleute, daß das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit ausreicht, daß es vielmehr ein Vollzugsdefizit der Länder gibt?
Dieses schließe ich nicht aus, Herr Kollege Grünbeck. Gleichwohl möchten wir erst einmal die Erfahrungen, die wir zur Zeit sammeln, sorgfältig prüfen, bevor wir dann am 30. Juni 1984, wie das Gesetz es befiehlt, hierüber dem Hause Mitteilung machen.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Schmitt ({0}) auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die öffentliche Hand nicht mehr wie bisher aus sozialen Gründen besonders preisgünstiges Bauland für einkommensschwächere Haushalte zur Verfügung stellen sollte, und welche Folgerungen zieht sie gegebenenfalls daraus für die öffentliche Eigentumsförderung?
Herr Kollege Schmitt, Bund, Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstige Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts und die von ihnen wirtschaftlich abhängigen Unternehmen sind nach § 89 Abs. 1 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes zur Förderung des Wohnungsbaus verpflichtet, Grundstücke als Bauland für den Wohnungsbau zu angemessenen Preisen bereitzustellen. Der Bund kommt dieser Verpflichtung durch die Bereitstellung verbilligter bundeseigener Grundstücke für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau nach.
Die Bereitstellung preisgünstigen Baulands zugunsten bestimmter, insbesondere einkommensschwächerer Bevölkerungsgruppen ist vor allem auch eine Aufgabe der gemeindlichen Baulandpolitik.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt.
Herr Staatssekretär, hält danach die Bundesregierung die wissenschaftliche Lehrmeinung für falsch, daß preisgünstiges Bauland für einkommensschwächere Haushalte die Baulandpreise auf dem freien Markt in die Höhe treibt?
Herr Kollege Schmitt, ich verweise noch einmal auf das, was ich soeben für die Bundesregierung erklärt habe, möchte allerdings hinzufügen, daß es früher ein Gesetz gab über die verbilligte Veräußerung, Vermie1874
tung und Verpachtung von bundeseigenen Grundstücken. Darin hieß es, daß der Bundesminister der Finanzen ermächtigt wird, bebaute und unbebaute bundeseigene Grundstücke unter dem vollen Wert zu veräußern. Es war die frühere Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, daß dieses Gesetz ersatzlos aus dem Verkehr gezogen wurde.
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Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit einzuräumen, daß sich dieses Gesetz nur auf bundeseigene Grundstücke bezog und daß unabhängig davon Länder und Gemeinden eigene Entscheidungen treffen können, und sind Sie nicht auch der Auffassung, daß die Grundstückspreise stärker durch den Mangel an Bauland, vor allem in den Ballungsgebieten, und derzeit geltende steuerrechtliche Regelungen bestimmt werden?
Herr Kollege Schmitt, ich hatte soeben bereits darauf hingewiesen, daß es sich um bebaute und unbebaute bundeseigene Grundstücke handelte. Aber der Bund sollte mit gutem Beispiel vorangehen, und das hat er in diesem Punkt damals nicht getan. Daß es einen Sachzusammenhang gibt zwischen Baulandpreisen und Mangel an Bauboden, verkenne ich nicht. Wir appellieren an die Gemeinden, sich in den Dienst einer Grundstückspolitik zu stellen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Möller.
Herr Staatssekretär, bestätigen Sie meinen Hinweis, daß das Gesetz, das Sie soeben erwähnt haben und das damals mit den Stimmen der SPD aufgehoben worden ist, eine Novellierung erfahren sollte, die damals mit den Stimmen der SPD-Kollegen im Ausschuß ebenfalls verhindert worden ist, nachdem damals von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion eine Novelle eingebracht worden war zur verbilligten Veräußerung von Grundstücken insbesondere an die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen?
Herr Kollege Möller, Sie haben recht. Die CDU/CSU hatte damals einen Gesetzentwurf eingebracht. Dieser Gesetzentwurf, der eine Änderung des Grundstücksverbilligungsgesetzes zum Ziel hatte, wurde im Hinblick auf das Außerkraftsetzen des Gesetzes durch die damalige Mehrheitsfraktion in der Ausschußsitzung für gegenstandslos erklärt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dörflinger.
Herr Staatssekretär, können Sie angesichts der soeben auch in der Frage des Kollegen Schmitt zum Ausdruck gekommenen rührenden Sorge um den geistigen Horizont eines leitenden Mitarbeiters von Ihnen bestätigen, daß es zur Qualifikation auch gehört, alternative Konzepte zu überlegen?
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Herr Kollege Dörflinger, wir legen größten Wert darauf, daß bei allen wichtigen Entscheidungen, die zu treffen sind, nicht nur eine Einheitsmeinung, sondern die Palette der Möglichkeiten dem federführenden Minister auf den Tisch gelegt wird. Der Wohnungsbauminister Dr. Schneider legt größten Wert darauf, nicht etwas gefiltert zu bekommen, sondern das Spektrum aller Möglichkeiten auf dem Tisch zu haben, bevor er die politische Entscheidung fällt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, wann haben wir denn mit einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu rechnen, der den Wortlaut des alten Gesetzentwurfs der Opposition aufgreift und obendrein die damalige Gesetzesänderung der früheren Regierung rückgängig macht und zu dem alten Rechtszustand zurückkehrt? Kommt das bald?
Herr Kollege Sperling, es ist schon interessant, daß Sie etwas fordern, was Sie selber vorher abgeschafft haben. Ich kann noch einmal sagen: Zur Bodenpolitik wird die Bundesregierung gesondert Stellung nehmen.
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Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß der sozialpolitische oder auch wohnungspolitische Zweck, der durch eine verbilligte Abgabe von Bauland unter dem Verkehrswert erreicht werden kann, auch auf andere Weise mit dem gleichen Wirkungsgrad erreicht werden könnte, etwa durch eine Zuschußzahlung oder eine andere Art von Subvention, und daß deshalb die Frage, welche Methode man hier wählt, keine Frage der Verneinung des sozialpolitischen oder wohnungspolitischen Zwecks ist, sondern ausschließlich eine Frage der zweckmäßigen Methode und Art der Förderung?
Herr Kollege Dr. Daniels, ich bestätige Ihre Auffassung. Das Bauen hat drei Kostenfaktoren: das Bauland, dann die Baukosten selbst und schließlich die Finanzierungskosten. Gerade auf dem Gebiet der Baukosten hat der Wohnungsbauminister kürzlich mehrere Modelle für kosten- und flächensparendes Bauen vorgelegt, die nichts anderes zum Ziel haben, als die gesamte Finanzierung auf eine bessere Basis zu stellen, so daß auch die Eigentum begründen können, die es bisher nicht konnten. Insofern beantworte ich Ihre Frage mit Ja.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Rönsch.
Herr Staatssekretär, aus gegebenem Anlaß frage ich, ob Sie nicht auch der Meinung sind, daß z. B. Gemeinden billiges Bauland nicht an Bezieher höherer Einkommen, z. b. Oberbürgermeister oder Stadträte, vergeben sollten.
Ich darf noch einmal sagen, die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, Frau Kollegin Rönsch, gehen dahin, daß viele Gemeinden, auch meine eigene Heimatstadt, auf Grund besonderer sozialpolitischer Kriterien Bauland an die abgeben, die erstmals bauen wollen, und dabei genau das verwirklichen, was Sie im Sinn haben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sauermilch.
Herr Staatssekretär, hat Ihr Haus schon einmal Überlegungen angestellt, ob nicht möglicherweise neue Finanzierungsmodelle für den sozialen Wohnungsbau der Art entwickelt werden können, daß Grundstücke im Verfahren der Erbpacht an die Errichter von Gebäuden im sozialen Wohnungsbau gegeben werden? Damit könnte man Grundstücke zum Nulltarif zur Verfügung stellen und später wieder darüber verfügen.
Herr Kollege Sauermilch, das Erbbaurecht ist ein wichtiger Faktor, die Basis für Eigenheime zu schaffen. Die Bundesregierung bejaht das Rechtsinstitut des Erbbaurechts. Nur möchte die Bundesregierung nicht eine Politik begünstigen, die in die Richtung des ausschließlichen Erbbaurechts geht. Sie möchte, daß auch die, die es bisher nicht konnten, privates Eigentum an Grund und Boden erwerben können. Sie macht eine Politik, die Sie mit der Überschrift versehen können: Mehr Mieter sollen Eigentümer werden.
Nun eine Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, wir haben von Ihnen erfahren, daß Sie der Meinung entgegentreten, verbilligte Grundstücke verteuerten den Baulandmarkt, und wir haben gelernt, daß die alte Regierung Fehler gemacht hat. Ich darf Sie fragen: Wann wird die Wenderegierung in der Lage sein, alles zum Guten zu wenden und ein Grundstücksverbilligungsgesetz vorzulegen?
Herr Kollege Waltemathe, die Wende ist allein dadurch eingetreten, daß es in der Bevölkerung ein neues Bewußtsein für private Investitionen gegeben hat.
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- Wenn Sie darüber lachen, kann ich nur sagen: Ihr früherer Wohnungsbauminister hätte sich glücklich geschätzt, wenn er mit einem solchen Sofortprogramm an die Öffentlichkeit hätte treten können, wie es der Wohnungsbauminister Schneider tun konnte.
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Letzte Zusatzfrage zu dieser Frage, Herr Abgeordneter Kansy.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß eine Entlastung des Baulandmarktes auch dadurch erzielt werden kann, daß eine neue Form des Bauens und des Wohnens
- unter dem Schlagwort „flächensparendes Bauen"
- erreicht wird? Gedenkt die Bundesregierung, das zu fördern?
Herr Kollege Kansy, ich möchte darauf hinweisen, daß natürlich auch die Baulückenproblematik hier eine Rolle spielt. Wenn wir feststellen, daß in mehreren Städten die Baulücken in öffentlicher Hand sind, dann sollte die öffentliche Hand hier mit gutem Beispiel vorangehen.
Zu dem, was Sie zum flächen- und kostensparenden Bauen sagen, möchte ich sagen, daß der Wohnungsbauminister gerade hier einen Schwerpunkt der Politik gesetzt hat. Ich erinnere an die vielen Preisausschreiben, die es jetzt zu dieser Frage gibt. Die ersten Erfolge sind da. Man kann zu Konditionen, die sich um 300 000 DM bewegen, auch heute ein Eigenheim erwerben, ohne daß die Ausstattung zu wünschen übrig läßt.
Wir kommen zur Frage 16 des Abgeordneten Müntefering.
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Einkommensgrenzen, die zum Bezug einer öffentlich geförderten Wohnung berechtigen, herabgesetzt werden sollten?
Herr Kollege Müntefering, die Bundesregierung ist nicht dieser Auffassung.
Das war schon alles? - Dann kommt eine Zusatzfrage vom Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, gilt diese Verneinung auch für die Frage, ob Bewohner, die nicht mehr innerhalb der Einkommensgrenzen liegen, aus der Wohnung ausziehen müssen?
Sie berühren damit das Problem der Fehlbelegung. Die Bundesregierung hat zu keiner Zeit die Auffassung vertreten, daß ein Fehlbeleger sein Haus verlassen soll. Nur sollte der Fehlbeleger, weil er ja jetzt bessere Einkommensverhältnisse hat, eine marktgerechte Miete zahlen. Ich glaube, wir sind es dem deutschen Steuerzahler schuldig, daß wir eine Konzentration der öffentlichen Mittel auf die anstreben, die dieser Hilfe wirklich bedürfen, und die Mitnehmereffekte ausschalten.
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Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.
Herr Staatssekretär, da Sie auch in diesem Punkt der Einkommensgrenzen die Linie des sozialdemokratischen früheren Ministers fortsetzen und im Gegensatz zu dem stehen, was Ihr Abteilungsleiter Wohnungswesen dazu ge1876
schrieben hat, frage ich Sie: Können Sie mir einen Punkt nennen, in dem dieser Abteilungsleiter mit der Meinung des Bundesbauministers in Übereinstimmung ist?
Herr Kollege Müntefering, wir setzen nichts fort - wie Sie soeben gesagt haben -, was die frühere Bundesregierung hier gemacht hat. Wir haben diesen Tatbestand vorgefunden. Man kann in der Tat trefflich darüber streiten, ob es eine glückliche Regelung war, daß Sie 51 % der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland ein Wohnrecht im Sozialen Wohnungsbau einräumen, aber nur ein Drittel dieser Berechtigten diesen Anspruch verwirklichen kann, weil nur für dieses Drittel Sozialwohnungen zur Verfügung stehen. Sie haben mit der früheren Regierung Erwartungen geweckt, die Sie niemals erfüllen können, da nur ein Drittel der Berechtigten versorgt werden kann, während zwei Drittel der Berechtigten zwar einen Anspruch haben, aber niemals in einer Sozialwohnung wohnen können.
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Abgeordneter Sperling, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß Ihr wissenschaftlich ausgewiesener Mitarbeiter noch eine Menge Meinungswandel vor sich hat, den Sie bereits hinter sich haben?
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Herr Kollege Sperling, Sie sind für die Qualität Ihrer Fragen bekannt. Ich sage noch einmal, Herr Kollege Sperling: Sie sollten nicht der Versuchung erliegen, einen Keil zwischen den Abteilungsleiter Wohnungswesen und der Leitung des Hauses zu treiben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kansy.
Herr Staatssekretär, angesichts der Fülle der Fragen, die unsere Kollegen von der Opposition insbesondere einer Abteilung Ihres Hauses widmen, frage ich Sie: Sind Sie nicht heute auch zu der Auffassung gekommen, daß Sie mit der Wahl dieses Abteilungsleiters die größtmögliche Beachtung gefunden haben, die Ihnen eine parlamentarische Opposition überhaupt schenken konnte?
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Herr Kollege Kansy, Publizität ist für eine Regierung notwendig. Wir haben sie jetzt durch einen Gesichtspunkt mehr erreicht.
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Jetzt kommt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Waltemathe.
Herr Staatssekretär, nachdem der Ausgewiesene offensichtlich bei Ihnen im Ministerium Asyl gefunden hat, möchte ich eine sachliche Frage anschließen: Sind Sie hinsichtlich der Einkommensgrenzen im Sozialen Wohnungsbau der Auffassung, daß diese von Zeit zu Zeit an die Einkommensentwicklung angepaßt werden müssen, so daß sie möglicherweise in Kürze im Hinblick auf eingetretene Einkommenssteigerungen heraufgesetzt werden müssen?
Herr Kollege Waltemathe, zunächst einmal möchte ich das Wort „Asylrecht" namens der Bundesregierung zurückweisen.
Zweitens, Herr Kollege Waltemathe, brauchen wir mehr Gerechtigkeit innerhalb des Sozialen Wohnungsbaus, wie wir ihn vorfinden. Da spielt die von Ihnen angeschnittene Frage der Überprüfung eine Rolle, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, mehr Gerechtigkeit im Sozialen Wohnungsbau zu schaffen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, wie es kommt, daß die alte sozialliberale Bundesregierung das Gesetz zur Fehlbelegungsabgabe verabschiedet hat und daß sich bisher ausgerechnet die SPD-regierten Länder geweigert haben, dieses Gesetz in ihren eigenen Ländern einzuführen?
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Herr Kollege Grünbeck, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Minister Zöpel hat in Nordrhein-Westfalen die Fehlbelegungsabgabe eingeführt. Das möchte ich hier feststellen. Ich darf vielleicht darauf hinweisen, daß die CDU/CSU-Fraktion nie ein Befürworter der Fehlbelegungsabgabe war und daß es damals einen Kompromiß im Vermittlungsausschuß gegeben hat, den alle Seiten des Hauses gemeinsam getragen haben.
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Die Liberalisierung ist bei dem Modellvorschlag am stärksten eingetreten, der von der damaligen Opposition eingeführt wurde; denn die Zinsanhebung hat in der Tat wieder zu verstärktem Wohnungsbau geführt.
Herr Grünbeck, Sie waren offensichtlicht so von Ihrer Fragestellung fasziniert, daß Sie vergessen haben, daran zu denken, daß wir auch während der Beantwortung der Frage noch stehenbleiben wollen.
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Eine Zusatzfrage des Kollegen Möller.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, Ihrem Abteilungsleiter, dem Universitätsdozenten Dr. Eekhoff, zu empfehlen und dazu die nötigen Gelegenheiten zu geben, den Kollegen der SPD die Möglichkeit einzuräumen, in einem
wissenschaftlichen Seminar - privatissime et gratis - in die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Wohnungswirtschaft eingeführt zu werden?
Herr Kollege Dr. Möller, wir drängen uns nicht auf, sind aber jederzeit bereit, Ausführungen zu machen, wenn wir dazu gebeten werden.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Müntefering auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die gemeinnützige Wohnungswirtschaft unter mangelnder Effizienz leidet, und welche Folgerungen zieht sie gegebenenfalls daraus für eine Neuregelung des Rechts der Gemeinnützigkeit?
Herr Kollege Müntefering, Bund und Länder prüfen zur Zeit, ob und inwieweit das Recht über die Gemeinnützigkeit im Wohnungswesen an die gegenwärtigen Verhältnisse angepaßt werden muß. Dabei werden alle bekannten Vorschläge berücksichtigt und gewertet. Ferner hat die Bundesregierung eine Überprüfung der Steuervorteile der gemeinnützigen Wohnungs- und Siedlungsunternehmen eingeleitet. Die Prüfungen sind noch im Gange.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, ich möchte von Ihnen doch gern wissen, ob Sie der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft mangelnde Effizienz unterstellen.
Das Wort „Effizienz" ist in dieser Weise nicht angebracht. Wohl aber gibt es in der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft eine völlig neue Problemorientierung, allein dergestalt, ob sie künftig weiterhin zum Bauen verpflichtet sein sollen oder nicht. Ich kann für die Bundesregierung zunächst einmal feststellen, Herr Kollege Müntefering, daß am Prinzip der Gemeinnützigkeit nicht gerüttelt werden soll.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Müntefering.
Herr Staatssekretär, wenn Sie das so einschätzen wie wir und die Bedeutung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft bejahen, wären Sie dann bereit, wissenschaftlichen Äußerungen entgegenzutreten, die der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft mangelnde Effizienz unterstellen und ihr unterstellen, daß sie sich mit Gehältern und sonstigen Sonderleistungen besonders gut segnet?
Herr Kollege Müntefering, ich greife zunächst Ihr Bild von der Wissenschaft auf. Es gibt ein wissenschaftliches Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium. Die Experten kommen da zu der Erkenntnis, daß der Status quo der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft überprüft werden müsse. Es wird auf zwei Möglichkeiten hingewiesen: Entweder sei das Steuerprivileg zu belassen, oder es sei zu nehmen. Wenn man das Steuerprivileg belasse, müsse als Äquivalent eine Gegenleistung erbracht werden, d. h. eine stärkere Bindung der Gemeinnützigen an die Versorgung der einkommenschwachen Bevölkerungskreise.
Diesem wissenschaftlichen Petitum verschließt sich die Bundesregierung nicht. Deshalb ist der Prüfungsauftrag ergangen. Wir haben gleichzeitig eine Bund-Länder-Kommission eingesetzt, die in diesen Tagen dabei ist, den Schlußbericht auszuarbeiten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Grünbeck.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, die Frage zu beantworten, wie hoch der Prozentsatz der Förderung von Mietwohnungen der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften ist im Verhältnis zu der Förderungsquote im Eigenheim-
bzw. im Eigentumswohnungsbau?
Ich will es gern überprüfen und Ihnen mitteilen.
Herr Dr. Möller zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die gemeinnützige Wohnungswirtschaft zwischen Staat und Markt gerade für Bevölkerungskreise mit niedrigen und mittleren Einkommen eine ganz besondere Rolle spielt?
Herr Kollege Möller, die gemeinnützige Wohnungswirtschaft hat in Zeiten des Wiederaufbaus einen hervorragenden Anteil an der Gesamtversorgung gehabt. Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft ist bereit, ihre Aufgaben zugunsten derjenigen Einkommensgruppen, um die es sich handelt, auch in Zukunft zu erfüllen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Waltemathe.
Herr Staatssekretär, halten Sie insgesamt die von uns gestellten Fragen - auch die letzte - für nützlich, weil sie Ihnen Gelegenheit gegeben hat, den Mitarbeitern Ihres Hauses zu sagen, nach welchen Kriterien sie arbeiten sollen?
Herr Kollege Waltemathe, ich muß Sie enttäuschen: Wir sind erst bei der vorletzten Frage.
({0})
Herr Staatssekretär, Sie mußten diese Frage nicht beantworten. Was Kollege Waltemathe gefragt hat, war zwar humoristisch, stand aber nicht im Sachzusammenhang mit seiner Hauptfrage.
Ich rufe die Frage 18 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk auf:
Vizepräsident Westphal
Treffen Pressemeldungen ({0}) zu. die besagen, daß der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau innerhalb eines Jahres präzise Aussagen darüber machen will, auf welche Weise den Gemeinden in Fremdenverkehrsgebieten Möglichkeiten - beispielsweise durch die Erhebung besonderer Steuern und Abgaben vor Ort - an die Hand gegeben werden sollen, den ausufernden Zweitwohnungsbau in den Griff zu bekommen?
Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich im Zusammenhang damit auch die Frage 19 beantworten.
Die Fragenstellerin ist einverstanden. Ich rufe also auch die Frage 19 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk auf:
Wenn ja, wann ist tatsächlich mit einer solchen Gesetzesvorlage zu rechnen?
Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, den von Ihnen erwähnten Pressemeldungen liegt eine Problembeschreibung des Herrn Wohnungsbauministers zur Situation der Zweitwohnungen zugrunde. Nach geltendem Recht haben die Gemeinden weitreichende Möglichkeiten, einer unerwünschten Bildung von Zweitwohnungen, insbesondere durch Umwandlung von Beherbergungsbetrieben in Apartmenthäuser, entgegenzuwirken. Auch der Erlaß von Erhaltungssatzungen nach § 39h des Bundesbaugesetzes, durch die Fremdenverkehrsgemeinden die Errichtung von Zweitwohnungen in zahlreichen Fällen verhindern können, ist vor kurzem erst durch eine neue Gerichtsentscheidung bestätigt worden. Ob darüber hinaus noch gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, ist Gegenstand der von der Bundesregierung bereits eingeleiteten Gesamtüberprüfung des Städtebaurechts, die ein neues Baugesetzbuch zum Ziel hat.
Die Frage der Zulässigkeit der Erhebung einer Zweitwohnungssteuer durch die Gemeinden muß nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes vom jeweiligen Landesgesetzgeber entschieden werden. Einige Länder haben bereits entsprechende Möglichkeiten geschaffen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Skarpelis-Sperk.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung eine Änderung des Bundesbaugesetzes erwägt, um dem ausufernden Zweitwohnungsbau entgegenzuwirken, und sind Sie bereit, mir zu sagen, in welchem Zeitraum Sie diese Änderung des Bundesbaugesetzes oder ein neues Bundesbaugesetz vorzulegen bereit sind?
Ich darf noch einmal auf meine Antwort zu sprechen kommen: Soweit es sich um die Zweitwohnungssteuer handelt, verweise ich auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder.
({0})
- Darauf wiederhole ich ebenfalls: Ob weitere gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, ist Gegenstand der von der Bundesregierung eingeleiteten Gesamtüberprüfung des Städtebaurechts.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Skarpelis-Sperk.
Dies bedeutet also, daß die Pressemeldungen in der „Allgäuer Rundschau" vom 30. September 1983, in der der Bundesbauminister innerhalb eines Jahres verbindliche Aussagen zugesagt hat, nicht zutreffen?
Ich kann die Pressemeldung in der Form, wie Sie die Frage stellen, nicht bestätigen.
Sie haben zwei weitere Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, haben die Beamten Ihres Hauses die von mir in der Fragestellung zitierte Pressemeldung, die Ihnen j a über den Ausschnittdienst zugänglich sein sollte, nicht gelesen? Denn darin sind diese Anmerkungen gemacht worden.
Frau Kollegin, ich sage noch einmal: Die Pressemeldung liegt vor. Ich habe die Pressemeldung zum Anlaß genommen, Ihnen mitzuteilen, daß dieser eine Problembeschreibung des Ministers zugrunde liegt und der Minister die Aussage in der Form, wie es in der Pressemeldung steht, nicht getan hat.
Letzte Zusatzfrage.
({0})
Dann kommt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Erfahrungen bekannt, wonach durch die Erhebung der Zweitwohnungssteuer die Grundstückspreise in den Gemeinden, in denen die Zweitwohnungssteuer erhoben wurde, sprunghaft angestiegen sind?
Dies läßt sich nicht in bezug auf eine Gemeinde beantworten; dies unterliegt einer unterschiedichen Betrachtungsweise. Sie können die Fälle nicht für eine Gemeinde generell beurteilen; da müßten Sie dann schon in eine Einzelbetrachtung eintreten.
Sie können in diesem Fall eine zweite Zusatzfrage stellen. Aber ich will Sie nicht animieren. Ich wollte Sie nur auf Ihr Recht aufmerksam machen.
({0})
Herr Präsident, ich bin Ihnen für Ihre fürsorgliche Amtsführung außerordentlich dankbar.
Herr Staatssekretär, in Baden-Württemberg liegen Erkenntnisse vor, daß die Zweitwohnungssteuer zu erheblichen Grundstücksverteuerungen
geführt hat. Wären Sie bereit, dort entsprechende Rückfragen zu stellen und das Ergebnis dem Parlament zu vermitteln?
Herr Kollege Grünbeck, nach unseren Erkenntnissen wird die Zweitwohnungssteuer in einigen Gemeinden - es darf ja nicht in allen Gemeinden sein - der Länder BadenWürttemberg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen erhoben; Bayern hat sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Ich werde in diesen drei Ländern die von Ihnen gewünschte Information einholen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dörflinger.
Herr Staatssekretär, kann man davon ausgehen, daß die Bundesregierung gerade diese Problematik in ihre Überlegungen zur Formulierung eines neuen Baugesetzbuches einfließen lassen wird, und sind Sie darüber hinaus nicht auch meiner Meinung, daß es sich dabei nicht nur um ein Bundesgesetz handeln kann, sondern auch um ein besonders verantwortungsbewußtes Verhalten der jeweiligen Gemeinden geht, was Grundstücke usw. angeht?
Erstens. Ich habe soeben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die von Ihnen gestellte Frage bei der Novellierung des Städtebaurechts gepüft wird.
Zweitens bestätige ich Ihnen ausdrücklich, daß es in der Hoheit der einzelnen Gemeinden steht, ob sie eine Zweitwohnungssteuer erheben. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Zulässigkeit einer Zweitwohnungssteuer in einem Grundsatzurteil, das in der „Neuen Juristischen Wochenschrift" 1980 abgedruckt ist, noch einmal ausdrücklich bejaht.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dörflinger.
Ich darf kurz ergänzen: Mir ging es nur darum - dazu wollte ich noch einmal Ihre Meinung hören - zu erfahren, ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß es nicht nur um die Zweitwohnungssteuer, sondern auch um das Ausschöpfen des bereits jetzt vorhandenen baurechtlichen Instrumentariums geht, um derartige Fehlentwicklungen zu vermeiden.
Ich teile Ihre Meinung allein im Hinblick auf die Erhaltungssatzungen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Sauermilch.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es vor allem in Ferienregionen - ich erwähne hier das Beispiel der Insel Sylt - so hohe Konzentrationen von Zweitwohnungen gibt, daß es wohl erforderlich ist, darüber nachzudenken, zur Beseitigung dieses Mißstands Maßnahmen über die Zweitwohnungssteuer hinaus zu ergreifen?
Herr Kollege Sauermilch, zunächst fällt dies in die Zuständigkeit der einzelnen Länder. Darauf habe ich soeben hingewiesen. Die Frage, ob darüber hinaus etwas getan werden muß, ist schon einmal gestellt worden. Dies wird von der Bundesregierung bei der Novellierung des Städtebaurechts überprüft.
Damit sind wir am Ende der Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, der uns sehr lange beschäftigt hat. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung der Frage 23 der Abgeordneten Frau Simonis steht Herr Staatssekretär Boenisch bereit. Weitere Fragen haben wir für ihn nicht. Ich rufe also die Frage 23 der Abgeordneten Frau Simonis auf:
Gibt es nach Auffassung der Bundesregierung in der deutschen Bevölkerung im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß eine antiamerikanische Haltung, und wenn ja, welche Umstände sieht die Bundesregierung als Ursachen dieser Haltung an?
Es ist nicht zu leugnen, daß in der deutschen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß auch Mißtrauen gegenüber den Amerikanern geäußert wird und zum Teil auch antiamerikanische Gefühle ausgedrückt werden. Besonders deutlich ist das bei Teilen der Friedensbewegung, bei Teilen der GRÜNEN und bei marxistischen Gruppen. Jedoch hat all das nach unseren Erkenntnissen auf die prinzipiell amerikafreundliche Haltung der Bevölkerung kaum Einfluß. Auch antiamerikanische Töne in einigen Medien haben nichts daran zu ändern vermocht, daß die Bundesrepublik Deutschland ein amerikafreundliches Land ist und zum Kummer derer, die es gern ändern möchten, auch bleiben wird.
({0})
Frau Simonis zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie dann die Meinung einer bekannten deutschen Meinungsforscherin, die das in Amerika so vorgetragen hat, daß die antiamerikanische Haltung in der deutschen Bevölkerung im wesentlichen darauf zurückzuführen sei, daß durch psychologische Kriegführung bei uns hier in den Medien, also durch ehemalige Kollegen von Ihnen, der Antiamerikanismus förmlich hervorgezüchtet werde.
Frau Simonis, ich habe ja ganz klar gesagt, daß es die antiamerikanische Haltung in der deutschen Bevölkerung nicht gibt - Gott sei Dank nicht gibt, wie ich hinzufügen möchte - und auch im Interesse des hier diskutierenden Parlaments nicht geben sollte.
Eine weitere Zusatzfrage der Abgeordneten Simonis.
Teilen Sie dann meine Auffassung, Herr Staatssekretär, daß es dem deutschamerikanischen Verhältnis nicht gerade dienlich ist, wenn die antiamerikanische Bewegung in der deutschen Bevölkerung so dargestellt wird, wie sie dargestellt worden ist?
Mir sind diese Äußerungen im Wortlaut nicht bekannt, und deswegen möchte ich dazu nicht Stellung nehmen, bevor ich sie nicht gelesen habe. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß eine so renommierte Meinungsforscherin wie Frau Noelle-Neumann das so undifferenziert gesagt hat, wie Sie es jetzt hier vortragen.
Danke schön. Wir haben eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bastian.
Ist nach Auffassung der Bundesregierung der frühere amerikanische Verteidigungsminister McNamara, der in voller Übereinstimmung mit der Einschätzung der von Ihnen apostrophierten deutschen Friedensbewegung soeben noch einmal die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik als gefährlich und militärisch unnötig bezeichnet und dabei die Behauptung aufgestellt hat, die Westeuropäer würden ihre eigene Zerstörung mit diesem Vorgang betreiben, ein Amerikaner oder ein Antiamerikaner?
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Bastian, daß der Zusammenhang zur Frage nicht herzustellen ist.
({0})
Aber wenn Herr Boenisch antworten will, werde ich ihm nicht im Weg stehen.
Ich antworte gern, auch wenn ich den Zusammenhang mit der Frage nicht sehe. Ich habe hier schon bei früherer Gelegenheit zum Ausdruck gebracht, daß ich die Friedensbewegung nicht für antiamerikanisch halte. Wie käme ich auf so einen Gedanken. Denn eine Friedensbewegung gibt es auch in Amerika. Auch die ist nicht antiamerikanisch.
({0})
Ich habe auch jetzt wieder von Teilen der Friedensbewegung gesprochen. Und auch Sie werden nicht leugnen wollen, daß es leider Teile der Friedensbewegung gibt, die antiamerikanisch sind.
Was nun den ehemaligen Verteidigungsminister McNamara angeht, so hat er von der Meinungsäußerungsfreiheit Gebrauch gemacht, die es Gott sei Dank in diesem Land und auch bei uns gibt. Deswegen verstehe ich auch die Frage nicht, weshalb man ihm irgendeine Art von Antiamerikanismus unterstellen sollte oder einen zu großen Proamerikanismus, wenn er irgend etwas sagt, was Ihnen gerade gefällt.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.
Herr Staatssekretär, der Begriff „antiamerikanische Haltung" ist sowohl in der Fragestellung als auch in Ihrer Antwort enthalten. Würden Sie bitte so freundlich sein, mir zu erklären, was denn nun eigentlich eine antiamerikanische Haltung ist, woran man sie erkennt und wie Sie das erkennen.
({0})
Es würde sicherlich zu weit führen, wenn wir hier den Begriff des Antiamerikanismus in allen Einzelheiten diskutieren würden, aber ich sage Ihnen ganz offen, daß ich schon glaube, daß auch solche Fragestellungen, wie ich sie vorhin in bezug auf die Kisten gehört habe, antiamerikanische Gefühle zumindest fördern können.
({0})
- Doch, doch, so ist es! Sie unterstellen nämlich grundsätzlich die Bösartigkeit eines Vorgangs; Sie unterstellen, daß die Amerikaner gar nicht ernsthaft verhandeln wollen, sondern Dinge, die sie in Kisten fertig verpackt haben, in jedem Falle stationieren möchten. Das ist nämlich der Grund für solche Fragen.
({1})
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Kelly.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie es als positiv oder als negativ empfinden, wenn Teile der von Ihnen beschriebenen Grünen vor der National Defense University, vor dem War College, vor 280 Offizieren, darunter Generäle, ihre Haltung gegen die amerikanische Regierung vortragen, und ob Sie nicht der Meinung sind, daß auch die amerikanische Friedensbewegung hier in der Bundesrepublik ihre Meinung der Bundeswehr und ihren Generälen vortragen sollte.
({0})
Ich. hätte nichts dagegen, daß die amerikanische Friedensbewegung ihre Meinung den deutschen Generälen vorträgt, wenngleich ich meine, daß die deutschen Generäle gut genug informiert sind und die Argumente der amerikanischen Friedensbewegung ganz genau kennen.
Andererseits muß ich sagen, daß das Auftreten der deutschen Friedensbewegung in Amerika gerade durch undifferenzierte Äußerungen auch zu Irritationen bei den Amerikanern beigetragen hat.
({0})
Es ist nämlich bei Ihnen nicht immer klar, daß Sie nur eine bestimmte amerikanische Politik kritisieren, sondern bei Ihnen kommt manchmal auch zum Ausdruck, daß Sie die Haltung der Vereinigten
Staaten insgesamt und die Politik des ganzen Amerika meinen - was Sie offenbar nicht tun.
Meine Damen und Herren, wir sind am zeitlichen Ende unserer Fragestunde angelangt. Ich danke dem Herrn Staatssekretär Boenisch für die Beantwortung der Fragen.
Der Abgeordnete Dr. Schöfberger hat um schriftliche Beantwortung seiner Frage 24 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Alle anderen Fragen werden entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Nichtigkeit der Entscheidungen der als „Volksgerichtshof" und „Sondergerichte" bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
- Drucksache 10/116 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Darf ich fragen, ob das Wort zur Begründung gewünscht wird. - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zuerst der Abgeordnete Fischer ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regieanweisung für die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes sieht einen Redebeitrag von 10 Minuten vor. Ich meine, daß das Thema es eigentlich verdient hätte, gründlicher und vor allem grundsätzlicher diskutiert zu werden, als es bei dieser Zeitvorgabe möglich ist.
({0})
Es geht hier nicht um historische Reminiszenzen, sondern um Fragen, die auch heute - vielleicht gerade heute wieder - von besonderer Aktualität und politischer Brisanz sind.
Es gibt wenige Juristen unserer Zeit, deren Bild und Verhalten sich so tief im allgemeinen Bewußtsein eingegraben haben wie die Gestalt des obersten Nazi-Richters Roland Freisler. Jeder, der sich auch nur am Rande für die Geschichte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates interessiert, hat dieses Bild irgendwann einmal gesehen: den brüllenden, den tobenden, den geifernden Mann in der schwarzen Richterrobe, für den Menschen, über die er zu urteilen hat, nur Objekte seiner Willkür und Rachsucht sind. Wie kein anderer hat Freisler den Volksgerichtshof in den Dienst nationalsozialistischen Terrors und nationalsozialistischer Rachejustiz gestellt.
Der Volksgerichtshof war 1934 etabliert worden. Er sollte das ganz bewußt eingesetzte Mittel sein, um Strafjustiz im nationalsozialistischen Sinne auszuüben. Diese Aufgabe hat der Volksgerichtshof voll erfüllt: in elf Jahren weit über 5 000 Todesurteile. Allein 1944 wurden 2 097 Todesurteile verhängt, d. h. fast die Hälfte der 4 379 vor dem Volksgerichtshof angeklagten Männer und Frauen wurden hingerichtet. Freisler war der Prototyp des Richters, von dem das Nürnberger Juristenurteil sagt, daß unter der Robe des Richters der Dolch des Mörders verborgen war. Der Volksgerichtshof war ein Teil der Mordmaschinerie des Dritten Reiches.
Nicht viel anderes gilt für die sogenannten Sondergerichte. Auch sie waren speziell dafür eingerichtet, Gegner des nationalsozialistischen Regimes mit den Mitteln des Strafrechts zu erledigen. Auch sie haben ihre Aufgabe meisterlich im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie erfüllt. Viele Urteile, die dort im Namen des deutschen Volkes gesprochen wurden, gereichen uns bis zum heutigen Tage zur Unehre. Ich erinnere an die Rassenschandeurteile und an das Wüten deutscher Richter und Staatsanwälte an Sondergerichten in besetzten Gebieten, insbesondere in Polen.
Wir haben uns nach dem Kriege mit der Beurteilung der Tätigkeit des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte immer besonders schwer getan. Sie wissen, daß es bis heute nicht gelungen ist, auch nur einen der beteiligten Richter rechtskräftig wegen seiner Mitwirkung am justitiell verbrämten Mord zu verurteilen. Der Bundesgerichtshof hat im bekannten Rehse-Urteil im Jahre 1968 festgestellt, der Volksgerichtshof sei ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenes Gericht im Sinne des Gerichtsverfassungsgesetzes gewesen. Ich habe hier keine Urteilsschelte zu üben, doch, meine Damen und Herren, zu teilen vermag ich diese Auffassung ebensowenig wie die Bundesregierung, für die der Parlamentarische Staatssekretär Professor Klein in der Fragestunde am 8. Dezember 1982 erklärt hat, der Volksgerichtshof sei kein Gericht im Sinne eines Rechtsstaates gewesen.
Vielleicht muß man das alles vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der 60er Jahre sehen. Diese Auffassung des Gerichts fügt sich ein in die allgemeinen Auffassungen, die bis in die letzten Jahre gerade in Juristenkreisen verbreitet waren, über die Rolle und die Funktion der Justiz im Dritten Reich. Vielleicht war die weithin gewahrte personelle Kontinuität nach 1945 mit dafür verantwortlich, daß wir zu Beginn der 50er und bis weit in die 60er Jahre hinein niemals kritisch nachgedacht haben über die Justiz und über ihre Funktion bei der Festigung des NS-Regimes.
Vielmehr müssen wir feststellen, daß zunächst Rechtfertigung und zum Teil auch Beschönigung Kritik und Selbstkritik verhindert haben. Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, die Nationalsozialisten hätten wohl sehr viel mit der Justiz gemacht und sie zwangsweise in ihren Dienst gestellt. Was indes die Justiz für die Nationalsozialisten getan hat und ob sie sich nicht mehr oder weniger bereitwillig in den Dienst des NS-Staates gestellt hat, diese Fragen wurden diskret verschwiegen.
Erst in den letzten Jahren hat sich eine Wandlung und eine unbefangenere Befassung mit der Rolle der Justiz im Dritten Reich angebahnt. Vieles
Fischer ({1})
deutet darauf hin, daß die Verstrickung der Justiz im Dritten Reich viel tiefer gewesen ist, als wir bislang angenommen haben. Ein Teil dieser Verstrikkung wurde wieder aktuell durch den bekannten Film über die Widerstandsgruppe „Die weiße Rose". Insbesondere der Nachspann dieses Films hat uns wieder bewußt werden lassen, daß offensichtlich noch heute Urteile des Volksgerichtshofs nicht in allen Fällen als von vornherein ungültig angesehen werden können.
Die Rechtslage ist unübersichtlich. Sie ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Eine bundeseinheitliche Regelung fehlt bis heute. Der Versuch, hieran etwas zu ändern, ist bereits im Jahre 1950 im Deutschen Bundestag gescheitert. Viele von denen, die damals vor NS-Gerichten standen und lebend davonkamen, können nicht sicher sein, ob die von den Nazi-Richtern gesprochenen Urteile aufgehoben, aufhebbar, von vornherein nichtig oder von einem späteren Zeitpunkt an nichtig sind. Hier will unser Antrag eingreifen. Er will klarmachen, daß der Deutsche Bundestag die vom Volksgerichtshof gesprochenen Urteile als von Anfang an nichtig betrachtet, und zwar alle Urteile. Wegen der Urteile der Sondergerichte schlagen wir eine Überprüfung durch die Bundesregierung vor.
Für meine Fraktion ist nicht nur die Überlegung maßgebend, daß wir denen, die vor der Willkürjustiz eines verbrecherischen Regimes angeklagt wurden, nachträglich Genugtuung zuteil werden lassen, uns geht es auch darum, daß sich der Deutsche Bundestag offen und unzweideutig von den Taten dieser Gerichte distanziert. Ich meine, diese Distanzierung ist sich eine Rechtsordnung schuldig, die auf einer Verfassung beruht, die sich ganz bewußt als eine Ordnung verstanden wissen will, die ein Gegenbild sein will zu den Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945. Die Abschaffung der Todesstrafe durch unser Grundgesetz ist ganz wesentlich durch die Urteile des Volksgerichtshofs veranlaßt worden. Die Betonung der richterlichen Unabhängigkeit, mehr aber noch die Hervorhebung des Rechts auf den gesetzlichen Richter und ebenso das Verbot der Ausnahmegerichte gehen auf das Erschrecken über die Untaten der Sondergerichte und des Volksgerichtshofs zurück.
Mancher wird fragen: Warum kommt diese Distanzierung erst heute? Ich sage: Diese Distanzierung mag so spät kommen, wie sie kommt. Sie mag heute weithin Symbolcharakter haben. Aber sie muß kommen. Wir schulden das nicht nur denjenigen, die bis heute mit dem Makel einer strafgerichtlichen Verurteilung durch diese Gerichte leben mußten, wir schulden es vor allem denen, die Opfer dieser Justiz geworden sind. Wir schulden es - und ich nenne sie nur stellvertretend - den Mitgliedern der Weißen Rose. Wir schulden es den Männern und Frauen aus der Arbeiterbewegung und den Widerstandskämpfern aus allen Schichten unseres Volkes. Wir schulden es auch uns selber und unserer demokratischen Ordnung.
Und wer heute, meine Damen und Herren, mit offenen Augen und Ohren durchs Land geht, der weiß, daß diese Rückbesinnung nicht zur Unzeit geschieht. - Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Volksgerichtshof war Macht- und Terrorinstrument des Nationalsozialismus. Er war von vornherein Mittel zur Unterdrükkung und Vernichtung politischer Gegner in Hüllen der Rechtspflege. Nicht der Täter, seine Tat und seine Schuld standen im Mittelpunkt des Verfahrens, sondern die Sicherung und Erhaltung des nationalsozialistischen Regimes. So war es ausgesprochene Zielsetzung, nicht Recht zu sprechen, sondern die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten. Und diese Zielsetzung wurde insbesondere in den Kriegsjahren zur Wirklichkeit. Man bemühte sich nicht einmal mehr um eine juristische Fassade. Maßstab der Urteile waren allein die Absicht der Machthaber und ihre Durchsetzung. Sie waren eifernder Ausdruck politischer Fanatiker. Und dabei folgte man der Forderung Goebbels: es sei nicht vom Gesetz auszugehen, sondern vom Entschluß, der Mann müsse weg.
Daher, meine Damen und Herren, teilt jeder in diesem Hohen Hause die Meinung der Antragsteller. Der sogenannte Volksgerichtshof war ein Werkzeug des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Wir alle brandmarken dieses Tribunal, diese Herrschaft des Unrechts. Dabei wollen wir alle, wie es der Herr Bundespräsident am 17. Juni gesagt hat, eine Aufarbeitung des Geschehens, das zu dieser Entwicklung geführt hat, mit dem Ziel, solche Tiefen der Verblendung, des Hasses und der Gewalt für alle Zukunft in unserem Lande unmöglich zu machen.
Meine Damen und Herren, zur Aufarbeitung dieses Geschehens haben zweifelsohne - das ist gerade gesagt worden - die Regisseure des Films „Die weiße Rose" beigetragen. Eines daher zur Klarstellung: Dieser Film zeigt eindrucksvoll den mutigen Widerstand dieser Gruppe gegen Tyrannei und Unrecht. Er ist ein wichtiger Hinweis auf ein anderes, ein besseres Deutschland während der Nazizeit. Dieser Film endet jedoch mit dem angreifbaren Schluß, daß Urteile gegen die „Weiße Rose" nach Auffassung des Volksgerichtshofs zu Recht bestünden und noch heute Gültigkeit hätten. Mittlerweile herrscht hier Übereinstimmung. Die Urteile gegen die Mitglieder der „Weißen Rose" wurden am 28. Mai 1946 aufgehoben. Rechtsgrundlage hierfür war Gesetz Nr. 21 der amerikanischen Militärregierung vom gleichen Tage. Herr Kollege Fischer, ich bestreite daher die Aussage Ihres Kollegen Emmerlich, diese Äußerung sei korrekt. Der Nachspann ist eben unrichtig.
Darüber hinaus wird in einer Presseerklärung Ihrer Fraktion die Auffassung vertreten, es habe keine ausreichende Aufarbeitung dieser Urteile des NS-Regimes gegeben. Deshalb - so sagten Sie geMarschewski
rade - stellten Sie den heutigen Antrag. Ich kann Ihnen, zumindest was die Allgemeinheit dieser Aussage, was die strafrechtliche Aufarbeitung betrifft, nicht ganz zustimmen. Am 20. Oktober 1945 erging die Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrats. Darin wurde gesagt: Verurteilungen, die unter dem Hitler-Regime ungerechtfertigterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten, müssen aufgehoben werden. - Dieser Gesetzgebungsauftrag wurde dann in den einzelnen Besatzungszonen ausgeführt. Dies galt für die amerikanische Zone, für die britische Zone, für die französische Zone und für Groß-Berlin. Danach wurde die Wiedergutmachung zonenverschieden entweder unmittelbar durch Gesetz geregelt, durch die Möglichkeit der Antragstellung oder durch die Möglichkeit der Wiederaufnahme. Meine Damen und Herren, diese Möglichkeiten bestehen auch heute noch. Die vorgenannten vorkonstitutionellen Regelungen sind gültiges Recht der Bundesrepublik Deutschland, und zwar gemäß Art. 125 Nr. 2 unseres Grundgesetzes.
Was die zunächst etwas fraglichen Antragsfristen betrifft, so wissen Sie, daß diese Fristen im Bundesentschädigungsgesetz von 1965 aufgehoben worden sind. Das war auch, sehr verehrter Herr Kollege Fischer, wahrscheinlich der Grund, warum die SPD-Fraktion 1950 diesen Antrag gestellt hat. Nur: Ich meine, dieser Antrag von 1950 ist ein wenig sinnvoller gewesen, weil er letzten Endes eine Einzelfallregelung vorsah. Gestatten Sie mir trotzdem die Frage, was Sie nach der ersten Antragstellung vor 30 Jahren dazu gebracht hat, den vorliegenden Antrag gerade jetzt zu stellen, obwohl das Justizministerium jahrelang von SPD-Ministern geführt wurde.
({0})
Ich wiederhole: Auch heute noch - das muß unter Juristen klar sein, meine Damen und Herren - besteht die Möglichkeit, durch Antrag auf Wiederaufnahme flächendeckend für die ganze Bundesrepublik eine Aufhebung dieser unseligen Urteile jederzeit zu erreichen.
({1}) - Durch Antrag.
Und darüber hinaus: Ich habe bei dem Herrn Bundesjustizminister nachgefragt, und mir ist gesagt worden, daß im Bundeszentralregister kein einziges Urteil des Volksgerichtshofs mehr registriert ist.
({2})
Was die Sondergerichte anlangt, wissen Sie, daß im Augenblick nur noch 330 Urteile registriert sind, die aber ausschließlich im strafrechtlichen Bereich begründet sind. Die letzten neun politischen Urteile sind im März dieses Jahres getilgt worden.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß hinsichtlich der Urteile des Volksgerichtshofs und hinsichtlich der Urteile der Sondergerichte der Schlußstrich unter dieses dunkelste Kapitel deutscher Strafrechtsgeschichte gezogen worden ist. Aus der geschilderten Rechtslage ergibt sich daher: Für
Schritte dieses Parlaments in Richtung SPD-Antrag bestehen Bedenken. Verzichtete man, Herr Kollege Fischer, auf eine Einzelfallprüfung, wie Sie es vorschlagen, dann entstünden Probleme hinsichtlich der Rechtssicherheit, und zwar bei freisprechenden Urteilen, bei Urteilen, die nur im Strafmaß überzogen sind, oder bei Urteilen, bei denen das Strafmaß in etwa heutigen Anschauungen entspricht. Das wären Probleme der Rechtssicherheit, die Sie letzten Endes mit lösen müßten.
({3})
- Meine Damen und Herren der GRÜNEN, es ist so. Bis heute besteht die Möglichkeit, solche Urteile aufzuheben, wobei Sie mir nicht sagen können, ob ein einziges Urteil vorhanden ist, das noch nicht aufgehoben ist.
Ich meine, die Entwicklung der Nachkriegszeit und die getroffenen rechtlichen Regelungen zeigen, daß hinsichtlich des nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege die gebotene Wiedergutmachung in angemessener Weise geregelt worden ist.
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus?
Ich muß jetzt zum Ende kommen, weil ich mich auf eine etwas längere Redezeit eingestellt hatte. Herzlichen Dank.
Diese Regelung zeigt also, daß das Problem soweit wie möglich in angemessener Weise gelöst worden ist. Sie zeigt auch, daß eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattgefunden hat. Wir haben in dieser Auseinandersetzung Unrecht Unrecht genannt und den Widerstand als verantwortungsvolles, moralisches Handeln bezeichnet.
({0})
Wir haben bei der Aufarbeitung dieses Geschehens bis 1945 eines erneut erfahren, was Radbruch treffend formuliert hat: „Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, der Rechtsstaat aber wie das tägliche Brot ... und das Beste an der Demokratie gerade dies, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern."
Die Unionsfraktion ist mit der Überweisung des SPD-Antrages Durcksache 10/116 an den Rechtsausschuß einverstanden. - Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion steht, wie bereits erwähnt wurde, im Zusammenhang mit den Diskussionen um den Film „Die weiße Rose". Die dabei aufgeworfenen Fragen haben den Deutschen Bundestag bereits vor einem Jahr beschäftigt, kurz nachdem ich das Amt des Bundesministers der Justiz übernommen hatte.
Ich habe seinerzeit zunächst einmal sehr vage Hinweise sofort zum Anlaß genommen, eine Überprüfung einzuleiten, ob - und, wenn das wirklich so sein sollte, gegebenenfalls welche - Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs und Urteile der Sondergerichte noch im Bundeszentralregister erfaßt sind. Ich muß ehrlich sagen: Ich war zutiefst betroffen - erstaunt ist hierfür nicht der richtige Begriff; ich habe das nicht für möglich gehalten -, als sich ergab, daß am 5. Januar 1983, also fast 38 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, noch drei Urteile des Volksgerichtshofs im Bundeszentralregister eingetragen waren. Ich habe daraufhin veranlaßt, daß diese Urteile umgehend getilgt wurden.
Ich habe weiter dafür gesorgt, daß von den 339 Urteilen von Sondergerichten, die im Januar 1983 noch im Bundeszentralregister festgehalten waren, diejenigen Entscheidungen, die wegen politischer Delikte ergangen waren - dabei handelte es sich insgesamt, wie von meinem Vorredner bereits erwähnt, um neun Verurteilungen -, unverzüglich im Register gelöscht wurden.
({0})- Ich glaube, daß Freisprüche in diesem Zusammenhange natürlich eine besondere Problematik darstellen. Es wird Gegenstand der Ausschußberatungen sein, sich mit dieser Frage sehr genau zu beschäftigen. Ich möchte diese Frage hier nicht ansprechen. Aber ich bitte Sie doch, daraus zu ersehen, daß jedenfalls das Bemühen vorhanden ist und immer war - und wo es sein muß, auch in Zukunft vorhanden sein wird -, die letzten Spuren der NS- Justiz zu beseitigen. Alle Bestrebungen, die einen sinnvollen Beitrag hierzu leisten, finden meine volle Unterstützung. Ich betone noch einmal: Die Betroffenheit muß natürlich vorhanden sein; denn wenn man, frisch in ein Amt dieser Art gekommen, feststellen muß, daß solche Eintragungen noch vorhanden sind, wird man sich die Frage stellen müssen, ob eigentlich nicht die jahrelangen Diskussionen zu diesem Thema, die immer wieder geführt wurden, hätten Anlaß sein können, dies weit früher zu machen. Aber wie auch immer: Diese Frage ist in einem, wie ich meine, vernünftigen und befriedigenden Sinn geregelt.
Die Forderung, die Entscheidungen des ehemaligen Volksgerichtshofs beispielsweise durch Gesetz ex tunc, also von Anfang an, für nichtig zu erklären, erscheint mir jedoch nicht ganz das geeignete Mittel, die Folgen nationalsozialistischen Unrechts auch auf dem Gebiet der Rechtsprechung zu beseitigen, und zwar ganz einfach aus folgendem Grund. Ich bitte, mit mir gemeinsam dies einmal zu bedenken und im Ausschuß dazu die notwendigen Erwägungen anzustellen. Der Wunsch nach einer ausdrücklichen Nichtigkeitserklärung erweckt doch den Eindruck, als stellten die Urteile des Volksgerichtshofs und der nationalsozialistischen Sondergerichte ein Stück unbewältige Vergangenheit dar, mit dem wir uns eigentlich erst heute so recht auseinanderzusetzen beginnen.
Aber dies ist nicht die Wahrheit, wie vorhin bereits erwähnt. Wie immer man im einzelnen die
Dinge als mehr oder weniger befriedigend ansehen mag - Tatsache ist, daß diese nationalsozialistischen Unrechtsurteile bereits aufgehoben worden sind, und zwar auf Grund der zwischen 1946 und 1951 erlassenen landes- und zonenrechtlichen Vorschriften, die gemäß Art. 125 des Grundgesetzes als partielles Bundesrecht heute weiter fortgelten.
So sind etwa - um ein konkretes Beispiel zu geben - die Urteile gegen die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose" durch das bayerische Gesetz Nr. 21 vom 28. Mai 1946 bereits aufgehoben worden.
Insofern, Herr Kollege Fischer ({1}), ist das Beispiel, das Sie im Zusammenhang mit der Diskussion um den Film „Weiße Rose" zitiert haben, in dieser Form das beste Beispiel nicht. Ich darf daran erinnern, daß sich, was den Nachspann zu diesem Film angeht, der Bundesgerichtshof gegen diese Darstellung gewandt und ganz entgegen seiner sonstigen Praxis, in der Öffentlichkeit nicht das Wort zu nehmen, hier aus gutem Grund Veranlassung gesehen hat, sich in einer sehr abgewogenen und zurückhaltenden, aber auch klarstellenden und deutlichen Weise dagegen zu verwahren, daß etwa derartige Urteile gutgeheißen würden oder man keinen Anlaß gesehen habe, sich dagegen zu wenden.
Nun ist es richtig, daß die damaligen Unrechtsurteile in einigen Ländern in bestimmten Fällen nur auf Antrag aufgehoben wurden. Man kann aber davon ausgehen, daß in fast allen Fällen ein solcher Antrag gestellt wurde. Schon 1950 hat Ihre Fraktion einen ähnlichen, aber damals etwas präziser formulierten Antrag gestellt. Damals berichteten die meisten Landesjustizverwaltungen, das Problem könne als erledigt angesehen werden. Wo damals noch Einzelfälle wegen abgelaufener Fristen nicht erledigt werden konnten, half dann im Jahre 1965, wie bereits erwähnt, das Schlußgesetz zum Bundesentschädigungsgesetz, das dafür gesorgt hat, daß sämtliche Fristvorschriften aufgehoben wurden und insofern die Möglichkeit besteht, auch später entsprechende Anträge zu stellen.
Der Berliner Senator der Justiz hat in der Sitzung des Rechtsausschusses des Abgeordnetenhauses am 27. Januar 1983 berichtet, zwischen 1970 und 1982 seien nur noch 13 Aufhebungsanträge gestellt worden. Man kann davon ausgehen, daß für andere Länder Vergleichbares zutrifft.
Ich halte es für ganz bezeichnend, daß die zum Teil ja zu Recht sehr engagiert geführten Debatten der letzten Monate nicht ein einziges noch gültiges Volksgerichtshofsurteil zutage gefördert haben. Das wird man hier in diesem Zusammenhang - nicht zur Selbstberuhigung, aber um einfach der Wahrheit die Ehre zu geben - erwähnen müssen.
In einem weiteren Punkt - hier fordern Sie entgegen der etwas schrofferen Fassung in Ihrem Antrag eine Überlegung und Überprüfung - geht es um die Urteile der sogenannten Sondergerichte. Auch diese Gerichte waren in der Vergangenheit natürlich häufig Gegenstand der Diskussion. Insbesondere ist die Frage gestellt worden, ob eine geneBundesminister Engelhard
relie Nichtigerklärung der Sondergerichtsurteile in Betracht zu ziehen ist. Die Bundesregierung hat - früher wie heute - zu dieser Frage den Standpunkt eingenommen, daß es eines solchen Gesetzes nicht bedarf. An dieser Auffassung hat sich auch nichts geändert.
({2})
Aber jetzt beginnen die Schwierigkeiten: Auf Grund der Zuständigkeitsverordnung vom 21. Februar 1940 konnte neben politischen Sachverhalten praktisch jede einigermaßen bedeutende Strafsache vor ein Sondergericht gebracht werden. Wie eingangs schon ausgeführt, bin ich auch dem Problem der Sondergerichtsurteile nachgegangen. Es sind 330 Urteile heute noch im Bundeszentralregister festgehalten. Wenn man hier jetzt über diesen schwierigen Bereich zu sprechen hat, wird man mit aller Deutlichkeit klarmachen müssen: Was ich jetzt erwähne, soll auch nicht im Schein der Rechtfertigung der Sondergerichte dienen; daß sie Instrumente nationalsozialistischer Unrechtsherrschaft waren, steht außer allem Zweifel. Nur kommt man, wenn man sich sachlich mit der Frage auseinandersetzt, hinsichtlich jener 330 Urteile an folgendem nicht vorbei. Es handelt sich um Urteile im Bereich der allgemeinen, auch heute im Strafgesetzbuch unter Strafe stehenden Kriminalität.
({3})
- Nein, Herr Kollege Fischer.
({4})
- Aber nein, Herr Kollege. Ich werde Ihnen im Ausschuß dann gern die Unterlagen im einzelnen zur Verfügung stellen.
Folgendes Problem steht im Mittelpunkt, weswegen man sich jedem Einzelfall widmen muß und generelle Maßnahmen nicht nur nicht zweckmäßig, sondern nahezu unmöglich sind. Unter den von den Sondergerichten Abgeurteilten befinden sich 207 Verurteilte mit einer ganzen Latte von Eintragungen; ich will das hier im einzelnen nicht ausführen. Es befinden sich darunter 200, die auch nach dem Jahre 1960 verurteilt worden sind. 25 Personen sind noch nach dem Jahre 1980 verurteilt worden. Ich habe hier Einzelfälle, die in einer ganz erschreckenden Weise Lebensschicksale zeigen, die von der Schwerkriminalität und den sich daran anknüpfenden strafrechtlichen Folgen geprägt sind: ein ganzes Leben lang Straftaten und Strafanstalt im steten Wechsel.
Ich möchte das hier nicht im einzelnen ausführen. Das, was bei der Überprüfung im Bundeszentralregister und im Bundesministerium der Justiz auf der Suche nach noch zu Unrecht eingetragenen politischen Urteilen Stück für Stück zu Tage gefördert worden ist, ist natürlich im einzelnen aufgelistet worden. Diese Unterlagen stelle ich für die Beratung im Rechtsausschuß gerne zur Verfügung.
Ich meine, daß man sich der Einzelfallprüfung zuwenden muß, wenn man in diesem Bereich noch etwas unternehmen will. Ich glaube, daß wir, was die Urteile des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte angeht - das werden die Beratungen in den Ausschüssen ergeben -, in der Vergangenheit das Notwendige veranlaßt haben und heute, wo auch immer Probleme auftauchen, die der Lösung bedürfen, entsprechend reagieren können.
Wir haben darüber hinaus aber neue Probleme. Das sollten wir nicht vergessen. Denn es besteht kein Anlaß, in Selbstzufriedenheit zu verfallen. Wenn wir verfolgen können, daß sich am Rande des politischen Spektrums heute bereits wieder Stimmen erheben, die glauben, Widerstandskämpfer von einst im Dritten Reich schmähen zu können - auch die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose" -, die glauben, nationalsozialistische Massenvernichtungsmaßnahmen rundweg und frech ableugnen zu können,
({5})
dann wissen wir, daß wir notfalls auch mit den Mitteln des Strafrechts aufgerufen sind, in gravierenden Fällen dem zu begegnen.
({6})
Die Bundesregierung hat das Einundzwanzigste Strafrechtsänderungsgesetz erneut eingebracht, das in einiger Zeit zur Beratung stehen wird.
Meine herzliche Bitte wäre die: Wenn manchmal Diskussionen im Land über das entbrennen, was bei uns möglicherweise nicht so ganz in Ordnung sein mag, dann wäre es ganz zweckmäßig, auch daran zu erinnern, daß wir entschlossen sind, alle Maßnahmen zu ergreifen, um uns gegen Extremisten, von welcher Seite auch immer, zur Wehr zu setzen, und unsere Zukunft sauber zu erhalten suchen.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({0}).
Viel Rechtstechnik war heute hier zu hören. Eigentlich handelt es sich um eine Geschichtsstunde. Ich bedaure sehr, daß diese Geschichtsstunde nicht auf mehr Widerhall bei allen Fraktionen, vor allen Dingen aber bei der Bundesregierung, stößt.
({0})
- Auch bei meiner Fraktion; da haben Sie vollkommen recht.
„Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein." So sprach, Herr Präsident, meine Damen und Herren, der ehemalige Marinerichter und spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Karl Filbinger. Einmal Recht, immer Recht, dachte dieser wackere Christdemokrat, selbst wenn die Köpfe unter dem Beil fielen, der Genickschuß von der SS angesetzt wurde oder die Opfer langsam am Galgen der Nazis verröchelten.
Filbinger hatte selbst noch fleißig an Kriegsgerichtsurteilen und an deren Vollstreckung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mitgewirkt. Er wußte
Fischer ({1})
also, wovon er zu seiner Verteidigung zu sprechen hatte.
38 Jahre nach der totalen Niederlage des NaziReiches debattieren wir heute im Deutschen Bundestag einen Antrag der SPD-Fraktion über die „Nichtigkeit der Entscheidungen der als ,Volksgerichtshof und ,Sondergerichte` bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes". 38 Jahre danach ist ein solcher Antrag, wenn nicht rechtstechnisch, so zumindest politisch offensichtlich immer noch nötig.
({2})
Dabei ist die Sache selbst, jenes blutigste und dunkelste Kapitel in der Geschichte der deutschen Justiz, mehr als eindeutig. Wir haben hier von Justizmorden und von nichts anderem zu sprechen, begangen von Mördern und Mordgehilfen in der Richterrobe, 16 000 Todesurteile an der Zahl, verhängt von ordentlichen deutschen Gerichten zwischen 1933 und 1945, 5 000 weitere, verhängt von dem berüchtigten Volksgerichtshof unter Freisler. Die zahllosen Stand- und Militärgerichtsurteile, die zum Tode führten, sind in dieser blutigen Bilanz nicht eingerechnet. Die Opfer kamen aus Deutschland, aber auch aus allen anderen von den Nazis unterworfenen Ländern. Da wurden etwa Juden in Polen wegen Überschreitung der Ausgangssperre zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihr deutscher Richter wurde nach dem Kriege freigesprochen und ist in Ehren gealtert. Hier genau ist der Punkt, weshalb diese Debatte immer noch aktuell ist. Es geht nicht um die Rechtstechnik. Was nützt es, Urteile aufzuheben, wenn die Schuldigen in Ehren alt werden und heute ihre Pensionen verzehren, meine Damen und Herren?
({3})
Das ist der eigentliche Punkt jener Geschichtsstunde, die wir heute im Bundestag vor kleiner Besetzung abhalten.
Todesurteile wurden verhängt und exekutiert für defätistische Äußerungen, j a, es genügte oft nur ein unbedachtes Wort, um von den Henkern in Richterrobe unters Fallbeil geschoben zu werden. Der geringste Verdacht des Widerstandes gegen die braune Barbarei wurde mit dem Tode geahndet. Die Geschwister Scholl und der Widerstandskreis „Weiße Rose" sollen hier als Namen für alle anderen Widerstandskämpfer erwähnt werden. Es bedurfte eines kritischen Fernsehfilms über die „Weiße Rose", um erneut die Frage nach der heutigen Gültigkeit dieser Bluturteile der Nazi-Justiz aufzuwerfen. Erstaunt, ja fassungslos, muß man zur Kenntnis nehmen, daß die westdeutsche Justiz diese braunen Terrorurteile im Regelfall als rechtskräftige Entscheidungen im Sinne der heute geltenden Prozeßordnung begreift, zumindest über 30 Jahre hinweg begriffen hat.
Nicht einer dieser furchtbaren Juristen wurde nach dem Kriege wegen eines solchen Terrorurteils als Mörder oder Gehilfe verurteilt, nicht ein einziger.
({4})
Ganz im Gegenteil: Verfolgt man die Nachkriegskarrieren der überlebenden Mitglieder - es gibt da mehr als eine Handvoll - von Hitlers Volksgerichtshof, so findet man diese nicht etwa in den Zuchthäusern des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats wieder, sondern als ehrbare Gerichtspräsidenten, Oberstaatsanwälte und Rechtsanwälte.
({5})
Mittlerweile verzehren sie - es sind alles ältere Herren - ihre wohlverdienten Pensionen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Fischer, meinen Sie mit dem vorhin Gesagten Ihren ehemaligen Kollegen Vogel? Ich habe eine konkrete Frage: Können Sie aus dieser unseligen Zeit des Nationalsozialismus einen Richter nennen - wir haben das vorhin gemeinsam verurteilt -, der jetzt noch im Dienst ist?
Dazu sind sie alle zu alt. Aber ich nehme an, Sie als jüngerer Jurist, Jahrgang 1940, hätten Ihre Juristenausbildung unter der Leitung eben dieser Herren durchaus erhalten können, wenn man deren spätere Karrieren ansieht.
({0})
Ich behaupte nicht, daß sie jetzt noch im Dienst sind. Dazu sind sie viel zu alt. Sie sind alle aus den Jahrgängen 1900, 1904, 1898. Aber sie bekommen ihre Renten, ihre Pensionen.
({1})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Meine Meinung dazu habe ich damals kundgetan, und ich möchte Herrn Vogel in dem Punkt in Schutz nehmen, daß es sich bei ihm nicht um ein Mitglied von Hitlers Volksgerichtshof gehandelt hat. Ansonsten habe ich unserer damaligen Entscheidung nichts hinzuzufügen.
Die westdeutsche Republik gedenkt alljährlich der Opfer des Widerstandes, was gut so ist, während die Mörder in der Richterrobe als honorige Bürger ungestraft im Auditorium sitzen und, wie vorgekommen, gedämpft applaudieren.
Der Richter Rehse, Beisitzer von Roland Freisler am Volksgerichtshof, wurde noch 1968 in Berlin freigesprochen, da ihm eine Rechtsbeugung bei all den vielen Todesurteilen nicht nachzuweisen war, an denen er mitgewirkt hatte. Für ihn galt § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes und das darin enthaltene Richterprivileg. Solange der Mann bei seinen Justizmorden nur ehrlich überzeugt war, konnte und kann ihm strafrechtlich nichts vorgeworfen
Fischer ({0})
werden. So die damalige Meinung des Bundesgerichtshofs.
({1})
- Herr Kollege, Sie kennen das Spiel mit der Uhr. Es tut mir furchtbar leid.
Die dahinterstehende politische Gesinnung kam bereits im Jahre 1955 in dem berüchtigten Huppenkothen-Urteil des Bundesgerichtshofs zum Ausdruck, das ich hier wörtlich zitieren will:
Ausgangspunkt dabei ist das Recht des Staates auf Selbstbehauptung. In einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind ... bei allen Völkern von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutze erlassen worden. Auch dem nationalsozialistischen Staat kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, daß er solche Gesetze erlassen hat ...
Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer wegen seiner Tätigkeit in der Widerstandsbewegung abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden.
Soweit der Bundesgerichtshof.
Sauber mußten die Nazirichter bei ihrem mörderischen Handwerk also geblieben sein, und sauber sind sie ja nach Meinung der westdeutschen Justiz geblieben.
Ich wiederhole: Es gab nicht eine einzige rechtskräftige Verurteilung eines Blutrichters in der Bundesrepublik.
Folgt man dem Grundgesetz, so erübrigt sich eigentlich der Antrag der SPD-Fraktion. Art. 139 und die damit übernommenen Befreiungsverordnungen und -gesetze der Alliierten nach dem Krieg erklären diese Terrorurteile für null und nichtig.
Daß es im Jahr 1983 dennoch eines solchen Antrags politisch bedarf - und deshalb unterstützen wir ihn -, zeigt, wieweit die politische Wirklichkeit und das Grundgesetz angesichts des braunen Filzes in der westdeutschen Nachkriegsdemokratie auseinanderklaffen. Die Mörder waren hier jahrelang angesehene Staatsdiener - sie waren es, das läßt sich nicht leugnen - und auch Politiker und haben zum Aufbau von Staat und Justiz ihren entscheidenden Beitrag geleistet. Heute fordert man Juristen seitens des Justizministers wieder zu dem alten Kadavergehorsam gegenüber den Mächtigen im Staat und ihren Entscheidungen auf. Man nennt dies Rechtspositivismus. Diese unselige Fachidiotie hat bereits einmal die deutsche Justiz auf dem Weg ins Verbrechen begleitet.
Statt Richter und Staatsanwälte öffentlich aufzufordern, sich bei politischen Äußerungen zurückzuhalten, sollte, so meine ich, Justizminister Engelhard froh sein, daß sich gegenwärtig manche Juristen einen unabhängigen kritischen Verstand bewahrt haben,
({2})
daß sie sich nicht als elitäre, allein der Staatsvergottung verpflichtete Kaste begreifen, sondern sich gerade als Juristen in die politische Tagesauseinandersetzung begeben.
Hätte diese Haltung 1933 unter den deutschen Richtern und Staatsanwälten mehr Verbreitung gehabt, so wären die folgenden Jahre des Mordens nicht so geflissentlich hingenommen worden.
({3})
Ich komme zum Schluß. Angesichts der jüngeren deutschen Geschichte wird Widerstand, verfassungsmäßiger Widerstand gegen unsinnige und gefährliche Entscheidungen der Mächtigen,
({4})
zur Pflicht. Besser, meine Damen und Herren, einmal im Widerstand geirrt und dafür die Konsequenzen getragen,
({5})
denn als jämmerlicher Mitläufer oder gar Täter ein weiteres Mal schuldig werden.
({6})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der Beurteilung des auslösenden Anlasses dieser Debatte sind wir uns in allen Fraktionen einig. Auch ist es mit Sicherheit gut, daß hier, ausgelöst durch den mehrfach erwähnten Film über den Widerstand der Weißen Rose, Gelegenheit genommen wird - vor welcher Zahl von Abgeordneten auch immer -, das, was hier geschehen ist - im Justizbereich als einem Teil einer verbrecherischen Maschinerie -, wieder einmal zu diskutieren und in Erinnerung zu rufen. So weit sind wir einig.
Zu den rechtstechnischen Dingen ist vieles gesagt worden, aber ich meine: keineswegs nur; das ist auch richtig so. Ungeachtet der Tatsache, daß kein Urteil des sogenannten Volksgerichtshofes nachweisbar ist, dessen Aufhebung oder Nichtigerklärung, je nach der leider - aus der Historie erklärbar - unterschiedlichen Gesetzeslage, zur Zeit begehrt werden würde, glaube ich, daß diese Art von Vergangenheitsbewältigung mit einem formalen Gesetz auch Gefahren in sich birgt für das, was wir für die Zukunft zu bedenken haben und was wir gerade auch aus diesen in Justizform gekleideten Verbrechen, aus der Erfahrung, wie man Justiz zu diesen Zwecken mißbrauchen kann, lernen sollten.
Herr Fischer, ich bin durch Ihre letzten Worte natürlich erschüttert, erschüttert darüber, daß Sie gerade in diesem Zusammenhang die Worte - Wortwahl ist Geschmacksache; da will ich nicht rechten - „Kadavergehorsam" und „Rechtspositivismus" - Sie hätten wohl auch „Begriffsjurisprudenz" sagen können - in einem Atemzug nennen - gerade in diesem Zusammenhang! Das macht Türen auf für Entwicklungen, die in letzter Konse1888
Kleinert ({0})
quenz genau zu dem führen können, was wir nach den Erfahrungen der Vergangenheit alle mit Recht verhindern wollen. Wir brauchen Richter, die natürlich nicht Kadavergehorsam üben - wem gegenüber denn? Was rechtlich möglich ist, war übrigens schon vor den Zeiten des Dritten Reiches durch unsere Gesetze geschehen, um derartiges zu verhindern. Die Menschen, die dann nach zwei juristischen Staatsexamen in diese Versuchung gebracht worden sind, haben versagt, und das kann immer wieder geschehen. Das wird um so eher wieder geschehen, als wir nicht bereit sind, auf dieses Unrecht mit peinlichster rechtlicher Genauigkeit zu reagieren.
({1})
Gerade in diesem Zusammenhang sind wir es uns und insbesondere der zukünftigen rechtlichen Entwicklung - gemessen an der Verantwortung aus der hier in Rede stehenden Vergangenheit - schuldig, Rechtsstaatlichkeit auch in den Fällen zu üben, in denen der Betreffende dies nach übereinstimmender Meinung wohl weniger als die meisten anderen verdient hätte. Wenn Sie aber glauben, nur einem gegenüber auf rechtsstaatliche Grundsätze verzichten zu können, dann - ({2})
- Wie soll ich Ihre Äußerung verstehen, daß kein Richter verurteilt ist, daß diese Richter Renten und Pensionen beziehen - Sie mißbilligen dies offensichtlich; ich übrigens im Ergebnis auch -, wenn nicht dahin gehend, daß Sie hier ein Versäumnis beklagen,
({3})
daß irgend etwas hätte geschehen sollen, und zwar rechtlich, um diesen Zustand zu beseitigen? Da sage ich Ihnen allerdings: Das wollen wir nicht. Dann wollen wir sie beschämen, auch wenn sie selbst dies gar nicht so verstehen können. Wir wollen das äußerste Maß an Rechtsstaatlichkeit anwenden, gerade wenn es sich um die Sühne des unrechtmäßigen Verhaltens handelt; sonst eröffnen wir für die Zukunft neue Möglichkeiten ähnlich ungeheuerlicher Entwicklungen.
Wenn heute die Theorie verbreitet wird, man solle doch die Begriffsjuristerei, man solle doch dieses peinliche Festkleben am geschriebenen Recht weglassen und dem Richter mehr schöpferische Freiheit geben, damit er nach den Umständen des Einzelfalles, so wie er sie nun einmal sieht, entscheiden kann, dann kommen wir um so weniger dahin, wohin wir kommen müssen, daß wir nämlich so viel Hemmnisse wie nur denkbar einbauen, um Wiederholungen des seinerzeitigen ungeheuerlichen Unrechts zu vermeiden.
Und das ist eine Aufgabe, die nicht im Jahr 1983 und nicht in diesem Jahrtausend beendet wird, sondern es ist die ständige Aufgabe der Erziehung junger Juristen, der Weiterbildung älterer Juristen, der Setzung von Rahmenbedingungen durch uns alle in der politischen Welt und der ständigen Erinnerung an das, was seinerzeit geschehen konnte.
Deshalb ist es gut, darüber zu sprechen. Deshalb werden wir im Ausschuß darüber sprechen und anschließend die Ergebnisse unserer Beratungen hoffentlich hier in einem etwas größeren Kreis noch einmal erörtern. - Ich danke Ihnen.
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrags an den Rechtsausschuß vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
- Drucksache 10/423 Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird zur Begründung das Wort gewünscht? - Zur Begründung nicht.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schneider ({0}). Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leeres Haus! Das Asylverfahrensgesetz vom Juli 1983 ist insgesamt kein Ruhmesblatt für den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein. Mit dieser dritten Änderung im Bereich des Asylverfahrens innerhalb von vier Jahren wurde das Recht von politisch Verfolgten auf Schutz zu einem Abwehrrecht des Staates vor asylsuchenden Flüchtlingen umgebogen. Dieser Vorwurf ergibt sich aus den Bestimmungen zur Verfahrensbeschleunigung sowie aus den mangelnden rechtlichen Einspruchsmöglichkeiten gegen solche Schnellverfahrenspraxis.
Grundlage dieses Asylverfahrensgesetzes war die Annahme, daß die meisten Asylsuchenden einen anderen als den angegebenen Zweck verfolgten, also sogenannte Scheinasylanten oder sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge seien. Aus diesem Grund war aber schon 1980 der Visumzwang für Angehörige aus Sri Lanka, Äthiopien, Afghanistan, Indien, Bangladesh und natürlich auch der Türkei eingeführt worden, der, gekoppelt mit sehr strengen Maßnahmen gegen Fluggesellschaften, zu einem drastischen Rückgang der Zahl der Asylersuchen führte.
Schon dieser Visumzwang erwies sich als eine gezielte Maßnahme gegen politische Flüchtlinge. Wer aus den genannten Ländern heute in der Bundesrepublik Schutz suchen will, muß versuchen, die Bundesrepublik illegal zu erreichen, weil auch
Schneider ({0})
Flüchtlinge, die über Zweitstaaten einreisen, zurückgewiesen werden. Ein Flüchtling aus Afghanistan müßte demnach vom Flughafen Kabul flüchten, weil der Umweg über Pakistan sein Asylrecht in der Bundesrepublik erlöschen läßt.
Nach Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes genießen politisch Verfolgte in der Bundesrepublik Asyl. Jeder Verfolgte, ohne Rücksicht auf Herkunft, ohne Rücksicht auf seine politische Gesinnung, ja ohne Rücksicht darauf, ob die politische Gesinnung friedlich oder mit Gewalt durchgesetzt werden sollte, genießt dieses Grundrecht. Es kommt nicht darauf an, ob ein Staat mit strafrechtlichen oder mit anderen Mitteln verfolgt. Entscheidend ist, ob auf seiten des Staates, gleichgültig, ob offen oder versteckt, politische Verfolgungsmotive vorhanden sind. Das sagte das Bundesverwaltungsgericht am 17. Mai 1983. In dieser Entscheidung heißt es wörtlich:
In Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist das Asylrecht des politisch Verfolgten, über das Völkerrecht und das Recht anderer Staaten hinausgehend, zum subjektiven öffentlichen Recht in der Form eines verfassungsrechtlichen Asylanspruchs erhoben. Seine Voraussetzungen und sein Umfang sind wesentlich bestimmt von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die als oberstes Verfassungsprinzip nach der geschichtlichen Entwicklung des Asylrechts die grundgesetzliche Gewährleistung eines weitreichenden Schutzanspruchs entscheidend beeinflußt hat.
Die Bundesrepublik ist damit das einzige europäische Land, das in dieser starken Form einen Rechtsschutz für Flüchtlinge in seine Verfassung hineingeschrieben hat, einen Artikel, der Schutz vor Auslieferung, Ausweisung, Abschiebung und Abweisung gewähren soll.
Ich betone diese herausragende Stellung des Asylrechts nach dem Grundgesetz hier deshalb so nachdrücklich, weil durch die Praxis des Umgangs mit Asylsuchenden und insbesondere durch § 18 des Asylverfahrensgesetzes die Verfassungsansprüche so gut wie aufgehoben erscheinen.
Besonders schockierend wurde der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit einer breiteren Öffentlichkeit bewußt, als am 30. August der junge Türke Kemal Altun aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts in Berlin sprang, weil er nicht mehr glauben konnte, daß er in der Bundesrepublik vor Ausweisung und damit vor Folter und Tod sicher sei.
({1})
Die Verantwortlichen haben damals ihre Hände in Unschuld zu waschen versucht und sich darauf versteift, daß sie sich korrekt an Recht und Gesetz gehalten hätten. Sie haben sich hinter Paragraphen und juristischen Absicherungen verschanzt. Als besondere Schutzwehr diente bei all diesen Rechtfertigungen der berüchtigte § 18 des Asylverfahrensgesetzes, dem wir mit der vorgeschlagenen Änderung seine folgenschwere Wirkung nehmen wollen.
Der § 18 hatte im Fall Altun die juristische Handhabe geliefert, um einem politischen Willen der Bundesrepublik Ausdruck zu verschaffen, der nur als Vertreibungspolitik bezeichnet werden kann. Es ist wohl kaum anzunehmen, daß vor einem Jahr dem Asylverfahrensgesetz und damit auch diesem § 18 im Bundestag von allen Fraktionen zugestimmt worden wäre, wenn man damals daran gedacht hätte, daß er in einer Weise, die das Asylrecht praktisch außer Kraft setzt, angewendet wird. Ein Paragraph, der offensichtlich Auslieferungen durch eigens zuständige Gerichte unabhängig überprüfen lassen sollte, wurde durch den politischen Willen der Bundesregierung zur - im wahrsten Sinne des Wortes - tödlichen Falle für Asylbewerber.
Es ist nötig, die Absichten der Bundesregierung hier noch einmal zu skizzieren, die in der behördlichen Praxis gegenüber Asylbewerbern ebenso zum Ausdruck kommen wie in vorgelegten oder geplanten Gesetzentwürfen. Alles, was die Bundesregierung derzeit unternimmt, spricht dem Anspruch Hohn, ein - ich zitiere - „friedliches und nachbarschaftliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern auch in Zukunft zu gewährleisten". Dies schrieb Herr Kohl in seinem Grußwort an die Kirchen, die kürzlich die Woche der ausländischen Mitbürger durchführten. Herr Kohl schrieb auch: „Hierbei kann unser christlicher Glaube helfen, der uns gebietet, im anderen den Nächsten zu sehen, und damit auch über die Nationalitäten hinweg verbindet."
Von dieser christlichen Einstellung findet sich in dem Brief des Justizministeriums an das Außenamt vom 21. Juli kein Fünkchen mehr. Der Brief macht nur eines deutlich: daß die Regierung alles getan hat, um Kemal Altun an die türkische Militärjunta auszuliefern - aus Gründen der „Glaubhaftigkeit", der „Kooperationsbereitschaft" und der „Vertragstreue". Altun war nur deshalb über 13 Monate im Gefängnis, weil - das weist dieser Brief aus - die Bundesregierung einen Weg suchte, um an rechtsstaatlichen Verfahren vorbei und ohne eine Entscheidung der Menschenrechtskommission in Straßburg abzuwarten den jungen Türken auszuliefern. Der Brief ist ein erschütternder Beweis dafür, wie leichtfertig die Bundesregierung den FolterVorwurf gegen die Türkei und die eklatante Verletzung von Menschenrechten durch das Militärregime bagatellisiert.
({2})
Die Bundesregierung will die Zahl der Ausländer drastisch reduzieren, und dazu ist ihr derzeit nahezu jedes Mittel recht.
({3})
Die Bundesrepublik ist zu einem Land geworden, in dem 4,5 Millionen Ausländer Angst haben, weil sie, weitgehend rechtlos, zu Menschen zweiter Klasse gestempelt werden.
({4})
Schneider ({5})
Die Berichte über die Unterbringung von Asylbewerbern sprechen eine eindeutige Sprache.
({6})
Das Asylverfahrensgesetz wurde geschaffen, um Wirtschaftsflüchtlinge schnellstens zur Umkehr zu zwingen. Es hat zu inhumanen und verfassungswidrigen Umständen geführt. Es gibt kein anderes Land, wo politische Flüchtlinge auf dem Papier einen Rechtsschutz auf Asyl haben; es gibt aber vermutlich auch kein anderes Land, wo Flüchtlinge, auch Flüchtlingsfamilien mit Kleinkindern, jahrelang auf eine endgültige Entscheidung warten und dabei unter demütigenden Umständen in Lagern vegetieren müssen.
({7})
Von türkischen Asylbewerbern wird derzeit nur 11)/0 anerkannt, und bei diesen Anerkennungen legt die Bundesregierung noch in den meisten Fällen Widerspruch ein. Wer dennoch anerkannt wird, kann durch § 18 trotzdem in ein Verfolgerland ausgewiesen werden. Diese schlimme Praxis wird auch noch durch ein Verfassungsgerichtsurteil vom 13. März 1983 gedeckt.
Jahr für Jahr sind hier im Bundestag juristische Instrumente geschaffen worden, die den Ausländern Daumenschrauben anlegen und ihnen das Leben zur Qual werden lassen. Wir meinen, es ist Zeit, diesen Prozeß im Sinne der Menschlichkeit wieder umzukehren. Ein erster Schritt zur Bewahrung von Verfassungsgrundsätzen, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem Eindruck der HitlerDiktatur dekretiert hatten, könnte die vorgeschlagene Änderung des § 18 und die damit verbundene Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sein. Wir fordern die Fraktionen auf, unseren Gesetzentwurf in der Sache zu unterstützen. Sie würden damit nur einer Auffassung folgen, die das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars seit Jahren vertritt. Der Flüchtlingskommissar beruft sich dabei mit seiner Haltung auf Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, in der es heißt:
Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.
Ich sage es zum Schluß noch einmal ganz deutlich: Wir befürchten, daß sich die Bundesrepublik weiter auf einen Weg begibt, wo die europäischen Nachbarn veranlaßt sein könnten, mit den Fingern auf diesen Staat zu zeigen, weil wir nichts aus der deutschen Vergangenheit gelernt haben. Wir hoffen, daß es nicht dazu kommt.
({8})
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die auch einer allgemeinen Stimmungsmache dienenden und abzielenden Bemerkungen von Herrn Schneider möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.
Zu Ihrem Antrag weise ich darauf hin, daß es verständlich, ja, selbstverständlich ist, daß nach dem Freitod des türkischen Staatsangehörigen Kemal Altun eine Diskussion darüber eingesetzt hat,
({0})
ob und gegebenenfalls wie
({1})
geltendes Recht geändert werden kann oder geändert werden soll.
({2})
Dabei geht es dann insbesondere um das nun deutlicher gewordene Spannungsverhältnis zwischen dem Auslieferungsrecht auf der einen und dem Asylrecht auf der anderen Seite. Ich muß bei dieser Gelegenheit bemerken, daß allerdings, als wir das Asylverfahrengesetz im vergangenen Jahr beraten und verabschiedet haben, man damals von keiner Seite noch unter der alten Bundesregierung Veranlassung gesehen hat, dies bei den Beratungen in den Ausschüssen in besonderer Weise hervorzuheben,
({3})
es als ein Problem, über das besonders nachzudenken notwendig ist, hervorzuheben.
Sie wissen - deswegen habe ich das Wort genommen, und ich bitte, dies bei den Beratungen in den Ausschüssen zu berücksichtigen -: Ich habe veranlaßt, daß eine interministerielle Arbeitsgruppe in Abstimmung mit dem Bundesminister des Auswärtigen und dem Bundesminister des Innern unter dem Vorsitz des Bundesministers der Justiz gebildet worden ist. Aufgabe dieser Arbeitsgruppe ist es, alle hier inmitten stehenden Fragen zusammenzutragen, alle rechtlichen Lösungen zu untersuchen. In einigen wenigen Monaten wird diese Arbeit, die am 22. September dieses Jahres begonnen wurde, abgeschlossen sein. Diese Untersuchungen werden uns die Entscheidungen erleichtern. Dann wäre es ganz sicherlich schlecht, wenn parallel gearbeitet würde und wenn innerhalb der Ausschüsse zu einem Zeitpunkt, wo diese Ergebnisse als zumindest eine wesentliche Beratungshilfe noch nicht vorliegen, die Beratungen geführt würden. Dies an dieser Stelle zu sagen und Ihnen für die weiteren Beratungen in den Ausschüssen anheimzugeben, war der Sinn dessen, was ich hier ausgeführt habe.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle waren und sind noch immer betroffen über den tragischen Freitod des jungen Türken Kemal Altun. Und ich begreife, daß das von vielen als ein verständlicher Anlaß gesehen wird, darüber nachzudenken und sachlich zu debattieren, ob Recht und Verfahren von Auslieferung und Asyl verbessert werden können. Aber die Rede des Kollegen Schneider habe ich als peinlich empfunden. Es war eine Hetzrede gegen die Bundesregierung und gegen unsere Gerichte.
({0})
Es war eine Diffamierung, die unter dem Niveau einer rechtspolitischen Debatte in diesem Hause ist.
({1})
Lassen Sie mich in der Sache auf den Gesetzentwurf eingehen, wie er formuliert worden ist. Dieser Entwurf erscheint in der Tat zunächst in gewisser Weise plausibel. Es wird häufig von einem Spannungsverhältnis zwischen den beiden Verfahren gesprochen. Offensichtlich wird das so gesehen, daß zwei unterschiedliche Institutionen, Bundesamt und Verwaltungsgerichte beim Asylverfahrensrecht auf der einen Seite und die Oberlandesgerichte und das Bundesverfassungsgericht beim Auslieferungsverfahren auf der anderen Seite, bei gleichem Sachverhalt zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen könnten, etwa, daß die Verwaltungsgerichte im Asylverfahren die Gefahr der politischen Verfolgung für gegeben erachten, das Oberlandesgericht aber entscheidet, den Straftäter auszuliefern. Ist das nicht ein Unterlaufen des im Grundgesetz garantierten Asylrechts? Ich weiß, daß dazu auch von Fachleuten, von namhaften Juristen, kritische Fragen gestellt werden. Dennoch glaube ich, daß es gute Gründe für das geltende Recht gibt.
Asylverfahren und Auslieferungsverfahren haben es - und das ist der entscheidende Punkt - eben nicht mit einem identischen Sachverhalt zu tun. Beim Auslieferungsverfahren gibt es ein wichtiges zusätzliches Element. Eine Auslieferung erfolgt nur, wenn der ersuchende Staat ausdrücklich eine Garantie dafür gibt und im konkreten Fall auch tatsächlich bietet, daß der Ausgelieferte in seinem Heimatland nicht aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt wird oder Nachteile hinnehmen muß. Der Ausgelieferte darf nur für eine bei der Auslieferung genau festgelegte Tat bestraft werden, und er erhält die Garantie, später wieder ausreisen zu dürfen. Die Auslieferungsvereinbarung wirkt also wie eine Schutzglocke, die über den Ausgelieferten gestülpt wird und ihn vor Übergriffen und vor politischer Verfolgung schützt. Er ist also besser geschützt vor etwaigen Verfolgungen als seine Mitbürger in seinem Heimatland.
Aber nun gehen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch weiter. Sie wollen auch dann schon die Auslieferung ausschließen, wenn nur ein Antrag auf Asyl gestellt wird. Meine Damen und Herren, man muß sich das einmal in seinen Auswirkungen vorstellen. Das Asylverfahren dauert oft mehrere Jahre. Es kann formlos von jedem Ausländer in einfachster
Form in Gang gesetzt werden. Und selbst ein völlig unbegründet eingeleitetes Verfahren kann mit einigem Geschick über Jahre in der Schwebe gehalten werden.
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Auch nach Verlassen des Heimatlandes kann noch durch politisch aggressives Verhalten die Gefahr einer politischen Verfolgung begründet werden.
Wie lange eigentlich können dann unsere Strafverfolgungsbehörden Straftäter in Auslieferungshaft halten? Da gibt es das Beschleunigungsgebot, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der ein rasches Verfahren bedingt. Wenn wir so entscheiden würden, wie in diesem Gesetzentwurf vorgesehen, dann würde das geradezu eine Einladung an Straftäter im Ausland bedeuten, sich hier bei uns in der Bundesrepublik zu versammeln. Wir würden ein Eldorado für kriminelle Elemente aus dem Ausland werden!
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Was ist eigentlich mit dem Europäischen Auslieferungsabkommen von 1964? Wir müßten dieses Auslieferungsabkommen doch brechen. Ein ausländischer Staat, der glaubhafte Garantien für ein faires Verfahren bietet, hat doch einen Anspruch darauf, daß wir ausliefern. Wir haben eine Verpflichtung. Ein Auslieferungsstopp träfe ja nicht nur Länder, bei denen das problematisch werden kann, etwa die Türkei, sondern er träfe in gleicher Weise England, Frankreich, Italien, USA - die westlichen Demokratien. Soll das auch für sie gelten? Gibt es einen Grund, das so zu regeln?
Was wäre eigentlich mit unserem Interesse, mit dem Interesse der Bundesrepublik Deutschland, unseren staatlichen Strafanspruch gegenüber Straftätern durchzusetzen, die sich im Ausland befinden? Was ist eigentlich mit unserem Interesse? Wir haben darum gekämpft - ich bin damals Berichterstatter gewesen -, Deutsche, die unter teilweise unmenschlichen Bedingungen im Ausland einsitzen, wieder hierher zu bekommen, damit sie ihre Strafe unter humanen Bedingungen verbüßen können. Nur wer selbst ausliefert, an den wird auch ausgeliefert.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang gleich auch noch einen Vorwurf aufgreifen, der vielfach erhoben wird. Ich weiß natürlich, daß auch ausländische Ersuchen denkbar sind, die mit manipulierten Unterlagen begründet werden. Natürlich kann auch ein Oberlandesgericht oder das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, getäuscht werden, aber wer kann Justizirrtümer überhaupt gänzlich ausschließen? Wir haben in der Bundesrepublik - ganz im Gegensatz zu dem, was sie gesagt haben, Herr Schneider - ein Maximum an rechtsstaatlichen Garantien. Zuständig sind die Oberlandesgerichte; ich als Jurist habe noch Respekt vor hohen Gerichten. Das sind Kollegialorgane mit hochqualifizierten Juristen, die mit dem Grundsatz „in dubio pro reo" arbeiten, die also gewohnt sind, in diesen Fällen vorsichtig und behut1892
sam vorzugehen, d. h. auch im Zweifelsfalle zugunsten des Betroffenen zu entscheiden. Schließlich kann auch noch das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden.
Wieviel mehr rechtsstaatliche Garantien können wir noch bieten, meine Damen und Herren? Wir wollen alles prüfen; der Minister hat es gesagt. Ich sehe aber leider nicht, daß man zu einer grundlegenden Verbesserung kommen könnte.
Lassen Sie mich auch dem Vorwurf entgegentreten, die Oberlandesgerichte prüften nur sehr formal. Es mag solche Fehler gegeben haben, aber ich bitte Sie einmal, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Februar 1983 zu lesen, in denen mit großer Sorgfalt dargestellt worden ist, mit welcher Gründlichkeit die Gerichte bei gegebenem Anlaß zu prüfen haben, ob im Einzelfall die Gefahr der politischen Verfolgung gegeben ist.
Gerade zur Türkei ist gesagt worden, daß dort heute teilweise eine Situation zu beklagen ist, auf Grund deren dieser Anlaß gegeben ist. Deshalb muß im Falle der Türkei besonders gründlich geprüft werden, ob eine türkische Stelle mit manipulierten strafrechtlichen Vorwürfen versucht, politischer Gegner im Wege des Auslieferungsverfahrens habhaft zu werden.
Meine Damen und Herren, insbesondere aber Herr Schneider, ich bitte Sie wirklich, sich einmal die Entscheidungen vom 23. Februar durchzulesen. Ich glaube, Sie werden Ihre Vorwürfe dann nicht mehr guten Gewissens hier im Hause vertreten können. Sie werden dann erkennen, wie sorgfältig die unterschiedlichen Gesichtspunkte, die dabei zu berücksichtigen sind, gegeneinander abgewogen werden.
Ich habe die Rede des Kollegen Schneider als stillos empfunden. Ich habe den Eindruck gehabt, daß er eigentlich gar nicht zu seinem Gesetzentwurf geredet hat, sondern daß er hier nur eine diffamierende Anklage gegen unsere staatliche Ordnung abliefern wollte.
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Er hat diese Rede dabei weniger gegen die Bundesregierung oder die sie tragenden politischen Kräfte gehalten, sondern es war eine Diffamierung, eine Herabsetzung der deutschen Gerichte. Ihre Schläge treffen vor allem die deutschen Gerichte, die nach meiner festen Überzeugung über jeden Zweifel erhaben sind und unser aller volles Vertrauen verdienen. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bachmeier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ereignisse der letzten Wochen sind Anlaß, das Spannungsverhältnis von Auslieferungs-
und Asylrecht neu zu überdenken. Darin waren sich ja auch die Herren Vorredner einig.
Wir müssen gesetzliche Änderungen ins Auge fassen, die es den politisch Verantwortlichen unmöglich machen, ein Grundrecht auf dem Altar einer guten polizeilichen Zusammenarbeit mit Diktaturen zu opfern.
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Meine Fraktion spricht sich deshalb dafür aus, gesetzlich festzuschreiben, daß anerkannte politische Flüchtlinge nicht mehr an den Verfolgerstaat ausgeliefert werden dürfen. Das entspricht dem hohen Stellenwert, den das Grundrecht auf Asyl in unserem Grundgesetz hat.
Es ist blauäugig, auf Zusagen des Verfolgerstaates zu vertrauen, er werde den von ihm politisch Verfolgten nur strafrechtlich verfolgen.
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Ein Politzuschlag bei der Strafzumessung oder eine schikanöse Behandlung beim Strafvollzug z. B. können nie mit Sicherheit ausgeschlossen werden; denn sie sind praktisch kaum oder nur sehr schwer beweisbar.
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Ein gesetzliches Auslieferungsverbot würde zwar unmittelbar nur für den vertragslosen Auslieferungsverkehr gelten. Fast alle Auslieferungsverträge enthalten jedoch eine Klausel, nach der die Auslieferung bei der Gefahr politischer Verfolgung versagt werden kann. Auf die Auslegung dieser Verträge würde selbstverständlich auch das gesetzliche Auslieferungsverbot ausstrahlen, zumal hierdurch dem grundgesetzlich verbrieften Asylrecht wirksamer als bisher Rechnung getragen werden kann.
Nicht so einfach zu beantworten ist dagegen die Frage, ob auch in Zukunft eine Auslieferung schon vor Abschluß eines laufenden Asylverfahrens möglich sein soll. Das bisher geltende Recht verpflichtet die Oberlandesgerichte - das ist schon gesagt worden - und die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Auslieferung die Gefahr politischer Verfolgung zu prüfen. Es läßt eine Auslieferung vor Abschluß des Asylverfahrens zu.
Ursprünglich war diese Regelung als Schutzvorschrift für den Betroffenen gedacht. Damit sollte verhindert werden, daß die für die Auslieferung zuständigen Instanzen zunächst ein möglicherweise Jahre dauerndes Asylverfahren abwarten müssen und der Betroffene unter Umständen Jahre in Auslieferungshaft sitzt. Eine erhebliche Gefährdung des Betroffenen wird allerdings auch dadurch herbeigeführt, daß er zwar später im Asylverfahren als politischer Flüchtling anerkannt wird, jedoch zuvor bereits ausgeliefert wurde. Deshalb muß durch eine stärkere Verzahnung von Auslieferungs- und Asylverfahren ein oft gefährliches Auseinanderlaufen der getrennten Verfahren verhindert werden.
Denkbar wäre, in diesen Fällen die Entscheidung über den Asylantrag und über die Auslieferung bei einem Gericht zu konzentrieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß die Auslieferung nur mit Zustimmung des mit dem Asylverfahren befaßten Verwaltungsgerichts erfolgen darf. Diese Zustimmung kann allerdings nur dann erteilt werden,
wenn der Asylantrag voraussichtlich keinen Erfolg hat.
Keinesfalls darf es jedoch dazu kommen, daß jedes - ich betone: jedes - laufende Asylverfahren eine Auslieferung bis zu seinem Abschluß hemmt. Mißbräuchliche Anträge würden dadurch geradezu provoziert. Selbst nach negativem Abschluß eines Asylverfahrens hätte es der Betroffene in der Hand, seine Auslieferung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu verhindern, indem er sofort einen neuen Asylantrag stellt. Der Auslieferungsverkehr bräche selbst mit den Staaten zusammen, in denen nicht der leiseste Anhaltspunkt für eine politische Verfolgung besteht.
Was noch viel schlimmer ist: Echte Asylbewerber laufen Gefahr, in diesem Fall mit Kriminellen in einen Topf geworfen zu werden; denn jeder ausländische Kriminelle würde geradezu eingeladen zu versuchen, in die Bundesrepublik zu flüchten und sich durch Kettenasylanträge einer Auslieferung und Strafverfolgung zu entziehen. Dem Grundrecht auf Asyl wird damit ein Bärendienst erwiesen. Wer es mit diesem Grundrecht ernst meint, darf solche Rohrkrepierer nicht ins Auge fassen.
Neben den bisher genannten Punkten muß das Auslieferungsrecht - darauf legen wir besonderen Wert - auch noch in folgenden Punkten überprüft werden. Das Kammergericht Berlin hat z. B. im Fall Altun ausschließlich nach Aktenlage entschieden, daß keine Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung bestehen, ohne Altun jemals persönlich angehört zu haben. Dieser Praxis ist ein Riegel vorzuschieben, indem gesetzlich zwingend geregelt wird, daß vor einer Entscheidung über eine Auslieferung eine mündliche Verhandlung stattzufinden hat.
Auch die Dauer der Auslieferungshaft ist ein Problem. Während § 121 der Strafprozeßordnung für die Dauer der Untersuchungshaft den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisiert, fehlt eine entsprechende Regelung im Auslieferungsrecht für die Auslieferungshaft. Sie sollte eingeführt werden. Das scheint uns bei der Länge der uns zur Verfügung stehenden Daten dringend geboten zu sein.
Die Kontrollmöglichkeiten für die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität müssen ebenfalls verbessert werden. Versteckte Verstöße sind ohne Hinweis des Betroffenen kaum beweisbar. Es sollte daher gesetzlich geregelt werden, daß nur noch ausgeliefert wird, wenn sichergestellt ist, daß der Ausgelieferte jederzeit Kontakt mit der deutschen Botschaft aufnehmen und von Angehörigen der Botschaft besucht werden kann.
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Last not least: In der Schweiz und in Österreich ist eine Auslieferung verboten, wenn Verstöße gegen Art. 3 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu befürchten sind. Die Bundesrepublik hat diese Konvention ebenfalls unterzeichnet. Wer es mit dieser Konvention ernst meint, darf nicht sehenden Auges in einen Staat ausliefern, der sich nicht an diese Grundsätze hält und in dem dem
Verfolgten Folterungen drohen und in dem kein faires Strafverfahren gewährleistet ist.
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Deshalb muß geprüft werden, ob im deutschen Recht eine ähnliche Regelung gefunden werden kann.
Meine Fraktion wird in den nächsten Wochen konkrete Vorschläge zu den aufgeworfenen Fragen unterbreiten.
Herr Bundesjustizminister, grundsätzlich - dies noch abschließend - begrüßen wir es natürlich, daß sich das Justizministerium im Rahmen einer interministeriellen Arbeitsgruppe mit diesen Fragen beschäftigt. Keinesfalls aber darf die Installierung dieser interministeriellen Arbeitsgruppe dazu führen, daß das hier eingeleitete Gesetzgebungsverfahren blockiert wird. Da lassen uns die Ausführungen des Kollegen Olderog von der größten Partei der Regierungskoalition nichts Gutes erwarten. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schneider, ich fand Ihr Ausführungen bedauerlich. Sie haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie lassen nicht einmal erkennen, was der vernünftige Kern Ihres Vorschlags ist.
Ich fand Ihre Angriffe auf die Bundesregierung insbesondere deswegen wirklich vollkommen deplaziert, weil es auf dieser Erde sehr viel besser wäre, wenn alle Regierungen in Auslieferungsfragen dieselbe Sensibilität hätten wie die deutsche Bundesregierung. Das muß man einmal mit aller Deutlichkeit feststellen.
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Sie waren noch nicht in diesem Hause, als die deutsche Bundesregierung vor der Frage stand, ob sie ausländische Staatsangehörige ausliefert, um dadurch die Möglichkeit zu erhalten, deutsche Schwerstkriminelle, von denen wir wußten, daß sie weiter kriminelle Taten ausüben würden, zu bekommen. Auch in einem solchen wirklich existentiellen Fall ist die deutsche Bundesregierung in gar keiner Weise von ihrem im höchsten Maße sensiblen und die Menschenrechte beachtenden Verfahren abgewichen. Ich wünschte wirklich - ich muß das wiederholen -, daß andere Regierungen sich diesem Vorbild ohne Zögern anschlössen.
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Das Problem, das Sie hier schildern und das uns in der Tat beschäftigt, nämlich das richtige Verhältnis zwischen Auslieferungs- und Asylrecht, beschäftigt ja die Menschheit, wie man bei Tacitus nachlesen kann, seit mehreren tausend Jahren. Es ist in der Tat im deutschen Recht das große Pro1894
blem, was eigentlich zu geschehen hat, wenn das Asylrecht auf der einen Seite mit dem Auslieferungsrecht auf der anderen Seite kollidiert. Das ist deswegen nicht befriedigend geregelt, weil die Frage, ob einem Menschen eine politische Verfolgung droht oder nicht, in zwei völlig getrennten Verfahren entschieden wird; über das Asylrecht entscheiden die Verwaltungsgerichte, und über das Auslieferungsersuchen entscheidet das Oberlandesgericht, und zwar völlig unabhängig voneinander. Das ist ein Tatbestand, auf den ich für meine Fraktion schon vor Wochen aufmerksam gemacht, wobei ich vorgeschlagen habe, diese Kollision in einer sachlichen Weise zu lösen. Man kann einem normalen Menschen nur schwer klarmachen und man kann auch selber nur schwer begreifen, daß über das Asylgesuch auf der einen und das Auslieferungsverfahren auf der anderen Seite von zwei verschiedenen Gerichten unterschiedliche Urteile gefällt werden können. Man kann die Verfahren teilen, aber nicht die Menschen. Man kann nicht einem Flüchtling rechtskräftig sagen, er habe Asyl, und dann ebenso rechtskräftig entscheiden, daß er ausgeliefert werden darf, und zwar gerade an den Staat, aus dem er anerkannter- und berechigterweise wegen politischer Verfolgung geflohen ist. Das ist zwar seit vielen Jahren so, aber daraus folgt nicht, daß es so bleiben muß.
Ich halte es für ganz hoffnungslos, hier den Versuch zu unternehmen, die sehr komplizierten juristischen Probleme auseinanderzulegen, auch die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik im einzelnen darzustellen und dabei dann auch die Frage zu erörtern, ob diese Abkommen so, wie sie jetzt praktiziert werden, wirklich bestehenbleiben müssen.
Das politische Problem liegt j a in der Tat darin, daß die politische Verfolgung und die strafrechtliche Verfolgung häufig miteinander verbunden sind, so daß abstrakt und auch im Einzelfall nur sehr schwer zu entscheiden ist, ob derjenige, der bei uns politisches Asyl sucht, gleichzeitig berechtigterweise wegen einer strafbaren Handlung verfolgt wird oder nicht.
Nun hat das Verfassungsgericht diese Frage mehrfach entschieden, bezogen auf die Fälle, in denen das Asylrecht noch nicht rechtskräftig anerkannt ist, in denen das Asylverfahren also noch läuft. Es hat gesagt: In diesem Fall ist die Auslieferung zulässig. Nur ist dieser Zustand deswegen unbefriedigend, weil er geradezu dazu anreizt, das Asylverfahren prozessual in die Länge zu ziehen, um inzwischen die Entscheidung im Auslieferungsverfahren herbeizuführen. Das aber wirkt dem, was wir alle wollen, nämlich einer Beschleunigung der Verfahren, drastisch entgegen. Darum sollte auch nach unserer Meinung das geltende Recht geändert werden, um zu verhindern, daß der anerkannte politische Flüchtling - nicht etwa wegen eines völlig neuen Sachverhalts, sondern auf der Grundlage aller schon bei der Asylgewährung bekannten Tatsachen - gleichwohl an den Verfolgerstaat ausgeliefert werden kann. Wenn keine neuen Tatsachen auftreten, muß das gewährte Grundrecht auf Asyl Vorrang haben.
Wir begrüßen die Einsetzung der Kommission durch den Justizminister. Ich denke, daß wir nicht allzuviel Zeit haben, dieses Problem unentschieden zu lassen, schon deswegen, weil j a eine Novelle zum Asylverfahrensgesetz aus ganz anderen Gründen notwendig werden wird. Und in der Tat müssen wir uns auch Klarheit darüber verschaffen, wie viele vergleichbare Fälle wann tatsächlich zur Entscheidung anstehen.
Ich möchte bei Gelegenheit dieser ersten Lesung aber noch einmal darauf hinweisen, daß es uns nicht nur auf die rechtliche Gestaltung des Asylrechts ankommt, sondern auch darauf, wie es in der Wirklichkeit praktiziert wird. Es hat sich in der Praxis eine Engherzigkeit eingeschlichen, die der Gewährung eines Grundrechtes nicht würdig ist. Wenn Gerichte sagen, daß Folterungen kein politischer Verfolgungstatbestand sein müssen, dann kann man das zwar erklären, aber nicht verstehen. Wir haben bisher auch den Eindruck, daß die Möglichkeit des Asylverfahrensgesetzes, Asylbewerber in Sammelunterkünfte zu zwingen, die Möglichkeit, sie auf Sozialhilfe durch Naturalleistungen zu beschränken und ihnen gleichzeitig die Arbeitserlaubnis für zwei Jahre zu verweigern, die Menschen in eine unwürdige Lage bringt, in den Status entmündigter Pfleglinge versetzt.
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Außerdem werden sie, wie man leicht feststellen kann, in die Schwarzarbeit abgedrängt und zum Objekt der Ausbeutung durch diejenigen, die ihnen die Möglichkeit der Schwarzarbeit verschaffen.
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Wir müssen uns also nicht nur die Sammelunterkünfte ansehen - was wir mit dem Innenausschuß tun werden -, sondern wir sollten darüber hinaus ernsthaft prüfen, ob die in dem Memorandum des Flüchtlingskommissars enthaltenen Überlegungen gesetzgeberisch aufgegriffen werden sollten. Das bezieht sich z. B. auf die Frage der Bewegungsfreiheit innerhalb der Bundesrepublik und darauf, ob die Verweigerung der Arbeitserlaubnis derart strikt gehandhabt werden darf, wenn es gleichzeitig an jeder sozialen Betreuung fehlt. Das ist der Punkt. Darüber muß man auch mit dem Flüchtlingskommissar sprechen. Darüber müssen wir uns auch untereinander Klarheit verschaffen.
Wir sind stolz darauf, daß unsere Verfassung das Asylrecht gewährt. Wir müssen bereit sein, für diejenigen auch Opfer zu bringen, die der Rechtsstaatlichkeit und der Gerechtigkeit unseres Landes vertrauen. Wenn wir das Asylrecht zu bloßem Papier werden ließen, würden wir unseren Staat verändern.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf erfaßt eben nur einen Teil der zu lösenden und zu behandelnden Probleme. Das Problem, das der Öffentlichkeit zuletzt bei dem Fall Altun deutlich geworden ist, muß gelöst werden. Wir sehen dem Vorschlag des
Justizministers über die weitere Behandlung mit großem Interesse entgegen. Wir vertrauen darauf, daß dieser Vorschlag nicht allzulange auf sich warten lassen wird. Deswegen sind wir mit der Überweisung des Entwurfs an die Ausschüsse einverstanden. - Vielen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen. Sind Sie mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe die Punkte 7 a bis 7 c der Tagesordnung auf:
7. a) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Bastian und der Fraktion DIE GRÜNEN
Giftgas - Lagerung, Gefährdung - Rechtsgrundlagen
- Drucksachen 10/97, 10/444 -
b) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN
Giftgas - Souveränität, Kontrolle - Giftgasrüstung
- Drucksachen 10/98, 10/444 -
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN
Giftgas - Öffentliche Information - Völkerrecht, Interpretation - Repressalien
- Drucksachen 10/99, 10/444 Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Punkte 7 a bis 7 c der Tagesordnung eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wird das Wort zur zusätzlichen Begründung gewünscht? - Das ist der Fall.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogt ({0}).
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist hier über einen doppelten Skandal zu sprechen: über den Skandal der Lagerung von US- amerikanischem Giftgas auf bundesrepublikanischem Boden und über den Skandal, in welcher Art und Weise die Bundesregierung drei Große Anfragen der Fraktion der GRÜNEN beantwortet hat.
Ich möchte zunächst zum eigentlichen Sachverhalt kommen. Es handelt sich zunächst um Mutmaßungen, auf die die Bevölkerung angewiesen ist, daß an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Giftgase, insbesondere Nervengase, gelagert sind. Bei unserer Frage nach den Orten dieser Lagerung mußten auch wir sozusagen mit der Stange im Nebel herumstochern, weil die Bundesregierung generell, schon über Jahre hinweg, diesen Sachverhalt zu einer Geheimsache erklärt hat. Z. B. kam auf unsere Frage, ob in Pirmasens oder in Miesau bei Landstuhl oder in Weilerbach bei Kaiserslautern solche Giftgasvorkommen zusätzlich zu denen von Fischbach zu vermuten sind, immer die Antwort: Die Bundesregierung verweigert zu diesen Fragen im Einvernehmen mit der NATO die Auskunft. Man muß dazu anmerken, daß in der Vormacht der NATO, in den USA selbst die Lagerung von Giftgas keinem Geheimnisgebot, keinem Geheimnisvorbehalt unterliegt, daß wir also auch insofern - wir haben schon gesagt, daß die Bundesrepublik eine Art Nuklearkolonie ist - eine Kolonie der Vereinigten Staaten sind, in der ein minderes Recht herrscht als in den Vereinigten Staaten selbst.
Die Mutmaßungen, ob nun ausschließlich in Fischbach 2 000 Tonnen Giftgas - vorwiegend Nervengas - oder bei Viernheim, Hanau und Fischbach insgesamt 4 000 Tonnen Giftgas lagern, gehen, entsprechend dieser Geheimhaltungsmaßgabe, natürlich auseinander. Perry Robinson, der international anerkannte Friedensforscher und Giftgasspezialist, nennt im SIPRI-Jahrbuch aus dem Jahre 1982 Fischbach als einziges Giftgasdepot in der Bundesrepublik. Fischbach ist ein Ort im Dahner Felsenland, in einer der schönsten Regionen der Bundesrepublik überhaupt. Robinson geht davon aus, es handle sich um die tödlich wirkenden Nervengase GB, auch unter dem Namen Sarin bekannt, und VX, die wahrscheinlich sämtlich in Granaten abgefüllt seien. Die Munition habe ein Gesamtgewicht von 10 000 Tonnen, woraus man wiederum rückschließen kann, daß es sich um 1 000 Tonnen Giftgas handeln würde. Eine deutsche Untersuchung von Peter Koch aus dem Jahre 1981 spricht davon, daß allein in Hanau 6 000 Tonnen Giftgas gelagert seien. In der „Österreichischen Militärzeitschrift" wird 1981 die Menge des in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Giftgases auf 2 000 bis 4 000 Tonnen geschätzt und bestätigt, es handle sich dabei um GB, also Sarin, und VX.
Das Giftgas befindet sich, wie schon erwähnt worden ist, unter amerikanischer Verfügungsgewalt. Die Bundesrepublik ist im übrigen das einzige Land, in dem die USA außerhalb ihrer Grenzen seit 1950 Giftgas kontinuierlich stationiert haben. Zum Tatbestand gehört auch, daß die Bevölkerung angefangen hat, sich gegen diese Stationierung zu wehren. Die Bevölkerung, das sind nicht ausschließlich Friedensgruppen oder Anrainer, die besorgt sind, sondern das ist erfreulicherweise ebenfalls der DGB-Landesbezirk Rheinland-Pfalz. Der DGB- Landesbezirk Rheinland-Pfalz unter Julius Lehlbach hat bereits im September 1982 Verfassungsbeschwerde eingereicht, und er hat vor kurzem feststellen müssen, daß sich die Bundesregierung dem
Vogt ({0})
DGB gegenüber genauso verzögerlich und hinhaltend verhält, wie sie das gegenüber den drei Großen Anfragen der GRÜNEN getan hat, die immerhin schon im Mai gestellt worden sind und deren Beantwortung mehrfach angemahnt werden mußte.
Im Falle des DGB ist es ein noch größerer Skandal, da diese Verfassungsbeschwerde im Jahre 1982 eingereicht worden ist. Das Verfassungsgericht hat der Bundesregierung und dem Bundestag nach mehrfacher Terminverlängerung aufgegeben, sich bis zum November 1983 zu äußern. Die Bundesregierung hat nun abermals eine Fristverlängerung bis zum 28. Februar 1984 gefordert. Dazu sagt der DGB Rheinland-Pfalz:
Anstatt sich bis zum 15.9. 1983, wie das Bundesverfassungsgericht verlangt hatte, zu äußern, will sie dies jetzt auch erst am 28.2. 1984 tun. Dieses Wegschieben und Aufschieben von Verantwortung durch die Bundesregierung läßt vermuten, in welch schwierige Situation sie durch die Verfassungsbeschwerde geraten ist.
Damit komme ich zum zweiten Teil des Skandals. Die Antwort der Bundesregierung hätte in einer schwierigen Frage, die weite Teile der Bevölkerung beunruhigt, einen Dialog dieses Hauses mit der Bundesregierung über die Möglichkeiten des Wegschaffens von Nervengas, von Giftgas aus der Bundesrepublik eröffnen können. Statt dessen haben wir mit dieser sogenannten Antwort ein politisch-bürokratisches Konstrukt bekommen, das den wesentlichen Fragen ausweicht und im übrigen ein Verweiskatalog ist. Dies ist, schlicht gesagt, eine Zumutung im Umgang mit Volksvertretern, und es ist sozusagen das I-Pünktchen, das wir bekommen haben, nachdem wir bereits nach einem halben Jahr Fragepraxis in diesem Haus die niederschmetternde Bilanz ziehen mußten, daß nämlich 80 % der Anfragen gar nicht wirklich beantwortet werden.
({1})
Wir fragen ja nicht immer dasselbe. Die Regierung antwortet aber in einer Art von politischem Dadaismus immer dasselbe. Die Art, wie die Regierung antwortet, kann man an einem Fall aufzeigen.
({2})
Ich meine den Fall, in dem der Bundestagsabgeordnete Bastian in einer Anfrage wissen wollte, wie die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung auch unter dem Aspekt der Souveränität ist. Auf diese Anfrage ist dann statt einer Antwort ein Verweis auf eine Beantwortung von schriftlichen Anfragen dieses Abgeordneten Bastian gekommen. In diesen schriftlichen Fragen hatte er nach Nervengas und den Stationierungsorten gefragt. Die darauf gegebene Antwort des Staatssekretärs Würzbach ist nichts anderes als die Wiederholung des Geheimhaltungsvorbehalts. Das nennt man - etwas vornehmer - Redundanz. Ich nenne es politischen Dadaismus.
Im übrigen ist in der ganzen Auseinandersetzung etwas anderes entscheidend. Damit komme ich zu den sogenannten „Vorbemerkungen" dieser Antwort. Man sollte eigentlich eine konkrete, präzise Beantwortung erwarten, etwa nach dem biblischen Grundsatz: Euere Rede sei j a, j a oder nein, nein. Aber statt dessen ist man mit einer Vorbemerkung abgefrühstückt worden, die nichts anderes ist als eine Anwendung der ohnehin schon umstrittenen Abschreckungstheorie dieser Bundesregierung und der NATO, diesmal bezogen auf das Thema Giftgas.
Entscheidend ist nicht, was die Bundesrepublik, wie es in dieser Vorbemerkung heißt, auf verschiedenen Papieren und Resolutionsentwürfen der Weltöffentlichkeit oder dem potentiellen militärischen Gegner signalisieren will, sondern entscheidend ist, was der Gegner und die Weltöffentlichkeit auf Grund der Fakten annehmen müssen oder was sie auf Grund der Fakten auch nur glauben annehmen oder befürchten zu müssen. Da ist ganz einfach die Tatsache, daß auf deutschem Territorium mit stillschweigender Duldung und Kenntnis der Bundesregierung völkerrechtsmäßig geächtete Waffen völkerrechtswidrig gelagert werden und zum Abschuß bereitstehen.
Was dann zur Begründung gesagt wird, ist ein Verweis, den man eigentlich nur als infantil bezeichnen kann. Ich muß mit Bedauern feststellen: Nach einer Erkundungsreise zusammen mit dem Unterausschuß Abrüstung und Rüstungskontrolle des Deutschen Bundestages sowohl in Washington wie in Moskau haben wir überall das gleiche erlebt. Unter Hinweis auf das, was die anderen machen, was man aber nicht genau belegen kann, wird die Begründung verweigert, und man meint, dies sei schon Hinweis genug.
Unsere Position ist, gleichgültig, ob die Sowjetunion Giftgas hat oder nicht: Für unser Land ist Giftgas unakzeptabel. Das schließt natürlich auch den Ausschluß der Stationierung ein, auch dann, wenn diese Stationierung unter fremdem Verschluß erfolgt.
Ich möchte noch eine Frage an die Adresse des Bundesverteidigungsministers stellen. In der „Vorbemerkung" zu der Antwort heißt es u. a. ganz lapidar: „Die Bundesregierung sieht ... keine Veranlassung, die Vereinigten Staaten aufzufordern, ihr C-Potential aus der Bundesrepublik Deutschland abzuziehen." - Das ist also das Giftgaspotential. Ich möchte fragen: Wie verträgt sich das mit der Haltung des Verteidigungsministers Wörner, der anläßlich seines Besuchs im November 1982 in Washington gesagt hat, er setze sich für den Abbau der amerikanischen Giftgasdepots in der Pfalz ein, in denen die Nervengase VX und GB gelagert seien?
Auf die Frage nach der Gefährdung der deutschen Bevölkerung im Kriegsfall - wir haben die Frage aufgespalten: erstens im Friedensfall, zweitens im Kriegsfall - wird schlichtweg mit Christian Morgenstern geantwortet; man weigert sich nämlich, den Fall mitzudenken, daß die Abschreckungsstrategie schiefgehe. Ich meine, wir hatten hier oft genug Gelegenheit, zu diskutieren, daß das, was
Vogt ({3})
schiefgehen kann, irgendwann - sozusagen nach Murphys Law - auch einmal schiefgehen wird.
Herr Abgeordneter, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß.
Die Befürchtung großer Teile unseres Volkes, daß an mehreren Orten der Bundesrepublik irrsinnige Mengen Giftgase lagern, wird durch diese Antwort der Bundesregierung nicht kleiner, sie wird größer. Unsere Entschlossenheit, diesen Wahnsinn zu stoppen, wird steigen. Und: Wir werden mit wachsenden Kräften der Friedensbewegung - erfreulicherweise auch zusammen mit dem DGB Rheinland-Pfalz - nicht nur Widerstand üben, sondern auch den positiven Schritt machen, die Geheimhaltungspraxis der Regierung gegen das eigene Volk zu durchbrechen und die Souveränität des deutschen Volkes über das eigene Territorium und über das eigene Schicksal wiederzugewinnen. - Ich danke Ihnen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung teilt die Sorge aller der Bürger, die die Gefahren chemischer Waffen - die Gefahren chemischer Waffen weltweit, meine Damen und Herren - kennen. Deshalb, Herr Kollege, der Sie soeben hier gesprochen haben, hätten Sie das Wort „Skandal" nicht im Zusammenhang mit der Bundesregierung verwenden sollen,
({0})
sondern Sie hätten es mit uns als Skandal bezeichnen sollen, daß es überhaupt noch chemische Waffen weltweit geben kann;
({1})
das ist die Herausforderung.
Für die Bundesregierung ist und bleibt es das Ziel ihrer Politik, ein weltweites Abkommen über ein umfassendes und nachprüfbares Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung chemischer Waffen zu erreichen. Die Bundesrepublik Deutschland - das müssen wir unseren Bürgern und der Welt immer wieder sagen - ist in beispielhafter Weise vorangegangen. Wir haben schon 1954 auf die Herstellung von A-, B- und C-Waffen feierlich verzichtet. Wir haben uns einer Kontrolle der Einhaltung dieser Verzichte freiwillig unterworfen.
({2})
Wir sind Vertragspartei des Genfer Protokolls von
1925, das jeden Einsatz von chemischen Waffen verbietet. Wir setzen uns für die weltweite Beseitigung
dieser ganzen furchtbaren Waffenkategorie nachdrücklich ein.
({3})
Die Bundesregierung hat die C-Waffen-Verbotsverhandlungen in Genf mit substantiellen, praktischen Beiträgen gefördert. Sie hat im vergangenen Jahr ein vernünftiges und praktikables Nachprüfungsmodell vorgelegt, das aus einer Mischung von Regelkontrollen für besonders sensitive Verbotsbereiche und Kontrollen im Verdachtsfall besteht und dabei den Umfang obligatorischer, internationaler Ortsinspektionen auf ein Mindestmaß beschränkt. Unsere eigenen praktischen Erfahrungen mit Kontrollen zur Überprüfung unserer Herstellungsverzichte haben wir im Jahre 1980 in einem Seminar von Mitgliedstaaten des Abrüstungsausschusses vorgeführt. Wir werden im kommenden Jahr erneut eine praktische Veranstaltung durchführen.
Die Verhandlungen über ein C-Waffen-Verbot befinden sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Im August gelang es in Genf, sich auf eine umfassende Zusammenstellung aller wesentlichen Elemente eines C-Waffen-Abkommens zu einigen. Damit ist die Gesamtmaterie aufbereitet; die Felder grundsätzlicher Übereinstimmung und Annäherung in Teilbereichen sind ebenso definiert wie die Bereiche, in denen es noch unterschiedliche Positionen gibt.
Ungelöst ist vor allem die Frage obligatorischer, verpflichtender internationaler Ortsinspektionen, die die Sowjetunion nach wie vor verweigert, indem sie auf der Freiwilligkeit solcher Inspektionen besteht.
({4})
Wenn es Ihnen so ernst ist wie uns, dann unterstützen Sie uns bei dem Appell, daß sich alle einer obligatorischen Nachprüfung unterwerfen.
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Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kelly?
Ich bitte, weiterreden zu dürfen, Herr Präsident. - Die Einhaltung eines umfassenden, echten Abrüstungsvertrages läßt sich ohne verbindliche Inspektionen nicht sicherstellen. Hier erwarten wir den entscheidenden Schritt von der Sowjetunion, der dann den Weg zum Abschluß dieses so wichtigen Abkommens freimachen würde.
Unsere amerikanischen Partner, über die Sie hier so oft gesprochen haben, Herr Kollege, haben die Verhandlungen über ein Verbot der chemischen Waffen in diesem Jahr durch drei wichtige Initiativen wesentlich gefördert und auch damit ihr ernsthaftes Bemühen um einen Verhandlungserfolg erneut deutlich bewiesen.
Wir begrüßen es, daß die „Arbeitsgruppe chemische Waffen des Abrüstungsausschusses" ihre Arbeit noch vor Beginn der Jahressitzung 1984 wieder aufnimmt. Und dazu werden wir wiederum einen aktiven Beitrag leisten.
Wir hoffen, daß auch die Staaten des Warschauer Pakts, die seit 1982 keine Initiative auf diesem Gebiet mehr unternommen haben, durch konkrete Schritte und Verhandlungsflexibilität Fortschritte ermöglichen, Fortschritte, die zu einem im Interesse aller Staaten liegenden umfassenden Abkommen über das Verbot chemischer Waffen führen.
Die sowjetische Militärdoktrin bezieht den Einsatz chemischer Kampfstoffe in die Mittel der Kriegsführung ein. Der C-Waffen-Einsatz ist Bestandteil des sowjetischen Offensivkonzepts. Es entspricht diesem Konzept, daß die Sowjetunion über ein erhebliches Potential an chemischen Kampfstoffen in Europa verfügt.
({0})
Sie besitzt auch die Möglichkeit der kurzfristigen Herstellung großer Mengen chemischer Kampfstoffe.
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- Sehen Sie: Wir haben Ihren Redner doch in Ruhe angehört. Ich spreche ganz unpolemisch. Aber es muß doch auch für Sie erträglich sein, die Wahrheit über die sowjetische Rüstung hier anzuhören.
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Während die USA auch auf dem Gebiet der C- Waffen seit über zehn Jahren Zurückhaltung übten, hat die Sowjetunion in den letzten zehn Jahren ihre Fähigkeit zu chemischer Kriegsführung konsequent ausgebaut.
Angesichts dieser Entwicklung wird die Aufgabe, die Beseitigung aller chemischen Waffen zu erreichen, um so dringender - aller chemischer Waffen, der westlichen und der östlichen. Darum geht es, damit wir vor den Gefahren eines chemisch geführten Krieges bewahrt bleiben.
({3})
Das ist und bleibt das Ziel der Politik der Bundesregierung, ein Ziel, das wir im Rahmen unserer Friedenspolitik verwirklichen. Denn auch diese Verhandlungen über die chemischen Waffen sind eingebettet in das West-Ost-Verhältnis und in die breit angelegten Abrüstungsverhandlungen, die zwischen West und Ost geführt werden.
Für alle diese Fragen gilt: Sicherheit ist nicht nur eine Frage der militärischen Potentiale; aber Sicherheit ist nicht denkbar ohne ein Gleichgewicht der politischen und der militärischen Kräfte.
({4})
Dieses Gleichgewicht kann für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bündnispartner nur durch die feste Verankerung in der Nordatlantischen Allianz, im Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika gewährleistet werden. Die Bundesregierung bleibt dem Konzept der umfassenden Friedenssicherung durch das Atlantische Bündnis verpflichtet, das im Harmel-Bericht zum Ausdruck kommt. Das bedeutet Friedenssicherung durch Gewährleistung ausreichender militärischer Stärke und politischer Solidarität des Bündnisses zur Verhinderung von Aggression und Einschüchterung. Friedenssicherung durch Dialog und Zusammenarbeit mit dem Osten durch Rüstungskontrolle und Abrüstung: Wer eines dieser beiden Elemente vernachlässigt, der gefährdet die Politik der aktiven Friedenssicherung.
({5})
Zwischen West und Ost wird heute in bisher nicht gekanntem Umfang über Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung verhandelt. Dabei zeigt sich, daß auch in schwierigen Zeiten der WestOst-Dialog über Kernfragen der Beziehungen konstruktiv weitergeführt werden kann und auch weitergeführt wird.
Das durch die Schlußakte von Helsinki geknüpfte Netz kann auch schweren Belastungen standhalten. Das hat der erfolgreiche Abschluß des KSZE-Treffens in Madrid bewiesen. Das Abschlußdokument von Madrid hat wichtige Fortschritte gebracht. Es berücksichtigt die Belange der Menschen ebenso wie die Fragen der Zusammenarbeit, der Sicherheit und der Vertrauensbildung.
Jetzt kommt es darauf an, den KSZE-Prozeß konstruktiv fortzuführen. Er bietet einen der hoffnungsvollsten Ansätze, die zwischen Ost und West bestehenden Probleme im Weg des Ausgleichs zu regeln, zu entschärfen und gemeinsame Aufgaben durch Zusammenarbeit zu lösen. Die KSZE hat die Menschenrechte, die menschlichen Kontakte mit dem Prozeß der Entspannung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verbunden. Sie ist eine Sache nicht nur der Staaten, sondern auch der Bürger geworden. Die Lösung der schwierigen Sicherheitsfragen, auch der chemischen Waffen, kann durch ein positives politisches Umfeld erleichtert werden. Deshalb bemühen wir uns gerade in dieser Zeit um die Pflege der Kontakte und der Entwicklung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn.
Dazu gehört auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die das West-Ost-Verhältnis stabilisiert. Weder wollen wir einen Handelskrieg, noch wollen wir einen Mißbrauch wirtschaftlicher Beziehungen als Mittel politischer Disziplinierung.
({6}) Das gilt gegenüber allen Staaten.
Zu den bedeutsamsten Ergebnissen der Madrider KSZE-Verhandlungen gehört der Beschluß, eine Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa abzuhalten. Damit wird erstmals der Rüstungskontrolldialog im konventionellen Bereich auf ganz Europa - vom Atlantik bis zum Ural - ausgeweitet. Das schafft völlig neue rüstungskontrollpolitische Rahmenbedingungen.
In einer ersten Konferenzphase soll durch vertrauensbildende Maßnahmen ein höheres Maß an Transparenz und Berechenbarkeit im militärischen Bereich erreicht werden. Schon das wäre ein wichtiBundesminister Genscher
ger Beitrag zur Stabilisierung der militärischen Lage in Europa. Ein Klima des Vertrauens könnte auch den Weg zu europaweiten konventionellen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen ebnen.
Für die Konferenz in Stockholm hat das westliche Bündnis auf der Grundlage deutscher Vorschläge konkrete Vorstellungen entwickelt. Wir sehen in der Europäischen Abrüstungskonferenz einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine auf Zusammenarbeit und Vertrauen gegründete künftige Sicherheitsordnung für ganz Europa.
Neben der Europäischen Abrüstungskonferenz werden wir die Wiener Truppenreduzierungsverhandlungen für Mitteleuropa weiter aktiv vorantreiben. Nachdem sich hier beide Seiten bewegt haben, erscheint jetzt ein Durchbruch möglich, wenn die östliche Seite in den offenen Fragenkomplexen
- Streitkräftedaten und Nachprüfbarkeit von Reduzierungsvereinbarungen - den Weg für konkrete Ergebnisse freimacht.
Bei den Verhandlungen über nukleare Waffen, also bei den START- und den INF-Verhandlungen, haben die Vereinigten Staaten in jüngster Zeit neue Vorschläge eingeführt, die geeignet sind, die Verhandlungen substantiell vorwärtszubringen.
({7})
- Ja, das finden Sie lustig.
({8})
Ich will Ihnen etwas sagen: Die Bürger in diesem Lande wollen wissen, wer einen konstruktiven Beitrag zur Abrüstung leistet. Das tut man am Verhandlungstisch, und das tut man, indem man die eigene Regierung und das Bündnis unterstützt.
({9})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Ehmke?
Herr Kollege, da ich vorhin eine Frage abgelehnt habe, bitte ich, das auch bei Ihnen tun zu dürfen, so gerne ich normalerweise Fragen von Ihnen beantworte.
({0})
Diese Vorschläge, die auch sowjetische Anregungen und Forderungen aufnehmen, zeigen den aufrichtigen Willen der Vereinigten Staaten, zu einem baldigen, für beide Seiten akzeptablen Ergebnis zu kommen.
({1})
Wo stehen wir jetzt bei den Mittelstreckenverhandlungen? Das militärische Gleichgewicht ist durch die Mitte der 70er Jahre begonnene, immer noch fortschreitende Aufstellung moderner Mittelstreckenraketen durch die Sowjetunion nachhaltig gestört worden. Die sowjetischen Mittelstreckenraketen SS 20 sind eine militärische und politisch-strategische Bedrohung für die Nachbarn der Sowjetunion. Sie sind Waffen der Vorherrschaft, sie sind Hegemonialwaffen.
({2})
Sie sollen als Ergebnis ihrer die Vereinigten Staaten ausschließenden Reichweite Westeuropas von den Vereinigten Staaten von Amerika abkoppeln. Hierin - nicht in bloßen Zahlenvergleichen über Raketen - liegt der politisch-strategische Kern der Herausforderung.
Die Allianz hat sich mit dem Doppelbeschluß eindeutig gegen eine Aufrüstungsspirale entschieden,
({3})
indem sie sich auf ein Mindestmaß dessen beschränkte, was für die Gewährleistung glaubhafter Abschreckung vom Kriege unabdingbar ist. Unser Ziel bleibt es, die Anhäufung nuklearer Potentiale abzubauen, statt sie zu vergrößern.
Das Bündnis hat schon 1980 in Ausführung des Doppelbeschlusses 1 000 nukleare Sprengköpfe aus Europa abgezogen.
({4})
Ein weiterer entscheidender Abrüstungsschritt ist von der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe Ende des Monats zu erwarten. In jedem Falle werden wir also als Folge des NATO-Doppelbeschlusses weniger und nicht mehr Nuklearwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland haben als bisher.
({5})
Es ist und bleibt für uns und für unsere Verbündeten das Ziel, alle sowjetischen und amerikanischen landgestützten Mittelstreckenraketen größerer Reichweite abzuschaffen. Damit würde eine Waffenkategorie, die uns besonders bedroht und die besonders destabilisierend wirkt, beseitigt.
Die Sowjetunion ist bisher nicht bereit, einem so weitgehenden Ziel zuzustimmen.
({6})
Deshalb hat das Bündnis Ende März dieses Jahres vorgeschlagen, sich auf ein Zwischenergebnis zu einigen. Jeder wirkliche Abrüstungsschritt der Sowjetunion würde mit einem entsprechenden Schritt bei der westlichen Nachrüstung beantwortet werden; je größer der Schritt ist, um so besser.
({7})
Am 26. September 1983 hat Präsident Reagan in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen zusätzlich erklärt, die Vereinigten Staaten seien bereit, im Rahmen eines Abkommens, das gleiche globale Obergrenzen für landgestützte Mittelstreckenflugkörper vorsieht, nicht das gesamte sowjetische Potential durch die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenflugkörpern in Europa auszugleichen. Eine bloße Verlage1900
rung der sowjetischen Raketen von Europa nach Ostasien ist damit nach wie vor ausgeschlossen. Die Vereinigten Staaten würden die vereinbarte Obergrenze nur zu einem Teil durch die Stationierung in Europa ausfüllen. Die in einem Abkommen festgelegten Reduzierungen würden auf Marschflugkörper und Pershing II aufgeteilt.
Dies bedeutet, meine Damen und Herren, die Sowjetunion hat es in der Hand, durch ihre eigene Bereitschaft zur Reduzierung ihrer Raketen auch auf die Zahl der Pershing II Einfluß zu nehmen. Die Vereinigten Staaten sind außerdem bereit, schon jetzt über Begrenzungen für bestimmte INF-Flugzeuge zu verhandeln. Damit gehen sie auf eine von der Sowjetunion erhobene Forderung ein.
Bei der Ausarbeitung dieser neuen Vorschläge hat sich der Konsultationsprozeß im Bündnis erneut bewährt. Wir haben daran aktiv mitgewirkt. Leider war die Reaktion der Sowjetunion auf die neuen Vorschläge bisher enttäuschend. Auf unserer Seite bleibt der ernsthafte Wille, in den Genfer Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen zu einem Ergebnis zu kommen, das für beide Seiten annehmbar ist. Ein sowjetisches Monopol an Mittelstreckensystemen ist und bleibt für uns nicht akzeptabel.
({8})
Die Forderung der Sowjetunion nach Anrechnung der britischen und französischen Systeme blockiert noch immer diese Verhandlungen. Noch 1980 bei den deutsch-sowjetischen Gesprächen in Moskau lehnte auch die sowjetische Führung die Einbeziehung dieser Systeme in die Mittelstreckenverhandlungen ab, weil es sich um strategische Systeme handelt.
({9})
Meine Damen und Herren, es lohnt sich nachzulesen, was der französische Staatspräsident und der britische Außenminister Ende September vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die rüstungskontrollpolitische Erfassung ihrer nuklearen Potentiale gesagt haben. Diese Ausführungen sollten ein zusätzliches Motiv sein, die strategischen Potentiale der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion drastisch zu reduzieren, so wie das der amerikanische Präsident vorgeschlagen hat.
({10})
- Wenn man über die Abrüstung redet, redet man immer zur Sache. Das sollten Sie in dieser Lage wissen.
({11})
Wenn sich die Sowjetunion angesichts dieser Erklärung entschließen würde, ihre Forderung nach Anrechnung der Drittstaatensysteme im INF-Zusammenhang fallen zu lassen, wäre der Weg für ein Abkommen frei. Wir hoffen noch immer, daß die Sowjetunion diesen Weg beschreiten wird.
Unsere Erwartungen an die Sowjetunion, ihre Bedrohung mit Mittelstreckenraketen abzubauen, ist die Erwartung eines Landes, das selbst vertraglich auf eigene Atomwaffen verzichtet hat.
({12})
Durch diesen Verzicht haben wir aber zugleich auch das Recht erworben, daß wir selbst nicht mit Atomwaffen bedroht werden können.
({13})
Unsere Bereitschaft, falls unumgänglich zur Wiederherstellung verlorengegangenen Gleichgewichts, amerikanische Mittelstreckenraketen auf unserem Territorium zu stationieren, ist die Entscheidung eines Landes, das angesichts eigenen Verzichts auf den Schutz durch Verbündete angewiesen ist.
Um jeden Zweifel auszuschließen, stelle ich fest: Wenn nicht rechtzeitig konkrete Verhandlungsergebnisse vorliegen, die eine Stationierung ganz oder teilweise überflüssig machen, wird die Stationierung wie geplant beginnen. Der Deutsche Bundestag wird dazu am 21. November auf der Grundlage eines Berichts der Bundesregierung noch einmal Stellung nehmen.
Es ist unser Wille, daß auch nach einem möglichen Beginn der Stationierung weiter verhandelt wird. Jeder schon stationierte Marschflugkörper, jede schon stationierte Pershing II stehen in diesen Verhandlungen zur Disposition. Sie werden wieder abgebaut, wenn ein Verhandlungsergebnis das erlaubt. Je früher sich die Sowjetunion zu einem Kompromiß entschließt, um so besser. Sie könnte damit auch den West-Ost-Beziehungen insgesamt einen entscheidenden Impuls geben.
Wir sind jetzt in der Zusammenarbeit zwischen Ost und West in den schwierigsten Bereich des Entspannungsprozesses vorgedrungen, in den Bereich der militärischen Sicherheit. Das gilt eben für alle diese Verhandlungen, die man nicht losgelöst voneinander sehen darf, die man im Zusammenhang sehen muß, die Verhandlungen über chemische Waffen ebenso wie die über die Atomwaffen.
Wir werden mit langem Atem und Beharrlichkeit auch hier zum Ziel kommen, so, wie wir die Fortschritte im KSZE-Bereich bis hin zur Madrider Konferenz erreicht haben. Wir werden uns auch in den kommenden, entscheidenden Wochen mit Festigkeit und aufrichtigem Verhandlungswillen um ein konkretes Verhandlungsergebnis bemühen.
Meine Damen und Herren, deshalb ist der Vorwurf unwahr und unredlich, die Bundesregierung habe sich mit dem Scheitern der Genfer Verhandlungen und, als Folge davon, mit der Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden abgefunden. Das Gegenteil ist richtig.
({14})
Wir haben uns aber auch nicht, wie das bei vielen unserer Kritiker der Fall zu sein scheint, mit der Bedrohung unseres Landes durch sowjetische Mittelstreckenraketen abgefunden.
({15})
- Auf die Beseitigung dieser Bedrohung hinzuwirken, Herr Kollege, das ist das Ziel unserer Bemühungen in bezug auf die Verhandlungen.
({16})
- Ich rede doch wirklich ganz unpolemisch. Ich verstehe gar nicht, daß Sie das nicht ertragen können. Wenn ich polemisch mit Ihnen reden wollte, könnte ich Ihnen vorhalten, was Sie hier im Deutschen Bundestag in der letzten Legislaturperiode gesagt haben und was Sie jetzt auf Ihren Parteitagen beschließen.
({17})
Meine Damen und Herren, wer aus Sorge vor der Nachrüstung und ihren Folgen die Gefahren sowjetischer Vorrüstung gegenüber Westeuropa verdrängt oder wer diese Gefahren nicht wahrhaben will, der gefährdet den Verhandlungserfolg und der trägt zur Destabilisierung der Lage in Europa bei.
Der Erfolg der Abrüstungsbemühungen in den verschiedenen Bereichen setzt voraus, daß die politischen Rahmenbedingungen, unter denen diese Verhandlungen zu führen sind, von allen Seiten positiv gestaltet werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihre Vertragspolitik wesentliche Beiträge zur Stabilität in Europa geleistet. Sie hat mit diesen Verträgen die Grundlagen für beiderseitige vorteilhafte Zusammenarbeit geschaffen. Das gilt im Verhältnis zur Sowjetunion genauso wie im Verhältnis zur DDR und zu den anderen Staaten des Warschauer Pakts. Unsere Politik des Ausgleichs und der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Osten ist langfristig angelegt. Wir sehen in den Beziehungen unseres Landes zu unseren Nachbarn einen wichtigen Faktor für europäische Stabilität und Friedenssicherung. Unser Angebot zur Zusammenarbeit ist aufrichtig. Es umfaßt alle Bereiche, die politische Zusammenarbeit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die kulturelle Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Wir sind der festen Überzeugung, daß die Felder des möglichen Zusammenwirkens viel größer sind, als daß im Augenblick für viele erkennbar ist.
Eine solche Zusammenarbeit setzt eine klare und eindeutige Position der Bundesrepublik Deutschland voraus. Wir sind Teil des Westens und wollen es bleiben. Wir sind Teil der Europäischen Gemeinschaft, mit der wir unsere Zukunft gestalten. Wir sind Teil des westlichen Bündnisses und ein verläßlicher Partner und Freund der Vereinigten Staaten. Diese klare Position unseres Landes macht unser Land und seine Außenpolitik ebenso berechenbar wie die langfristige Anlage unserer Politik gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten.
Die Wahrnehmung deutscher und europäischer Interessen suchen wir in der Stärkung der Europäischen Gemeinschaft. Eine dynamische sich entwikkelnde Europäische Gemeinschaft ist die beste Garantie für die Wahrnehmung der Europäischen Interessen auch im westlichen Bündnis.
Meine Damen und Herren, wir werden das alles zu bedenken haben, wenn uns in den kommenden Wochen wichtige Entscheidungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaft abverlangt werden. Wir dürfen als Deutsche niemals vergessen, was wir nicht nur ökonomisch, sondern was wir auch politisch aus unserer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft gewinnen. Das oft gedankenlose Hantieren mit dem Begriff der Nettozahlerposition läßt leicht die Gesamtbilanz unserer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft übersehen. Zu dieser Gesamtbilanz gehört der größere europäische Markt, gehört unsere Landwirtschaft und gehören vor allen Dingen unser größerer außenpolitischer Handlungsspielraum und unsere außenpolitische Durchsetzungskraft. Zu dieser Gesamtbilanz gehört auch das Verhältnis der DDR zum Gemeinsamen Markt.
Das auch durch die Europäische Gemeinschaft abgesicherte System des innerdeutschen Handels ist eine wesentliche Grundlage unserer Zusammenarbeit mit der DDR. Aus nationaler Verantwortung muß dieser Aspekt für uns in der europäischen Gesamtbilanz einen vorrangigen Stellenwert haben.
Für die Sicherung des Friedens in Europa, für den Erfolg von Abrüstungsverhandlungen ist der Dialog mit allen Staaten des Warschauer Pakts, ist die Zusammenarbeit mit ihnen von ausschlaggebender Bedeutung. Meine Damen und Herren, Friedenssicherung ist mehr als nur Verteidigungsfähigkeit. Friedenssicherung bedeutet Verteidigungsfähigkeit und Wille zu Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung. So steht es im Harmel-Bericht, und so wollen wir es auch in Zukunft halten.
Das Bemühen um Ausgleich und Zusammenarbeit ist kein Gegensatz und schon gar nicht Anlaß, am Willen zur Verteidigung zu zweifeln. Die Europäer im demokratischen Mittel- und Westeuropa blicken auf den anderen Teil Mitteleuropas und auf Osteuropa in dem Bewußtsein der langen Geschichte vielfältiger Bindungen und gemeinsamer Erfahrungen, im Guten wie im Bösen. Viel stärker, als mancher das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten hat, wirkt sich dieses Bewußtsein der gemeinsamen Geschichte trotz aller Systemunterschiede verbindend aus. Natürlich ist das Bewußtsein eines auch geographisch vorgegebenen gemeinsamen Schicksals in einer immer enger werdenden Welt prägend für die Menschen in West und Ost. Sie begreifen das alles als Herausforderung, gemeinsam eine friedliche Zukunft zu gestalten.
Eine auf Vertrauen gegründete europäische Friedensordnung wird immer mehr als das langfristige Ziel europäischer Politik erkannt. Für uns in der Bundesrepublik Deutschland im Herzen Europas bleibt das Ringen um Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung eine nationale Schicksalsaufgabe. Wir wissen, daß Deutschlandpolitik nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie als europäische Friedenspolitik verstanden wird. Wir Deutschen haben in der Geschichte unser Schicksal oft im Gegensatz und Widerspruch zu unseren Nachbarn gestaltet. Heute stimmen unsere nationalen Interessen mit den Interessen der europäischen Völker
überein. Denn Europa ist geteilt so wie Deutschland geteilt ist. Diese Teilung zu überwinden ist eine deutsche und europäische Aufgabe. Es gibt in unserem Lande keine feindseligen Gefühle gegenüber irgendeinem europäischen Volk, weder im Westen noch im Osten.
({18})
Wir wollen mit allen Völkern in Freundschaft und Frieden leben. Das sage ich ausdrücklich auch an die Adresse der Völker der Sowjetunion.
({19})
Wir erkennen das historisch gewachsene sowjetische Sicherheitsbedürfnis. Wir sind uns bewußt, daß manche Überzeichnung in diesem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion mit einem dunklen Kapitel in der deutschen Geschichte zusammenhängt.
Der Besuch, den der Bundeskanzler und ich Anfang Juli dieses Jahres in Moskau abgestattet haben, hat Gelegenheit zu einem ausführlichen, intensiven Meinungsaustausch mit der sowjetischen Führung gegeben. Die Sowjetunion soll wissen, daß jedes Wort weiter gilt, das der Bundeskanzler und ich im Juli gesagt haben. Die Fortsetzung dieses Meinungsaustausches mit dem sowjetischen Außenminister, die in New York nicht stattfinden konnte, soll am kommenden Wochenende in Wien stattfinden. Wir wollen auch bei dieser Begegnung als Deutsche unsere Möglichkeiten nicht überschätzen, aber wir wollen auch unserer Verantwortung nicht ausweichen.
Wir haben den Dialog mit der Sowjetunion stets mit Aufgeschlossenheit und gegenseitigem Respekt geführt. Er trägt bei zur Berechenbarkeit und zu einer zuverlässigen Einschätzung der Lage. Wir wenden uns mit einer Botschaft des guten Willens an die Sowjetunion. Die Sowjetunion soll wissen, daß unsere Friedenspolitik ernsthaft, aufrichtig und von unserer geschichtlichen Verantwortung getragen ist. Wir wollen die deutsch-sowjetischen Beziehungen mit langfristigen Perspektiven ausbauen und verbessern. Dabei sind wir uns der Bedeutung der deutsch-sowjetischen Beziehungen für das West-Ost-Verhältnis bewußt.
Es liegt im Interesse beider Seiten, das zu bewahren, was auf der Grundlage der in den 70er Jahren geschlossenen Verträge erreicht wurde, und das zu nutzen, was beim Ausbau langfristiger Beziehungen noch geschaffen werden kann. Der Moskauer Vertrag ist ein Gewaltverzichtsvertrag. Er verbietet die Anwendung und Androhung von Gewalt. Er ist auf Gleichberechtigung gegründet. Er beinhaltet kein Sicherheitsprivileg für eine Seite.
({20})
Wir begrüßen, daß auch unsere europäischen Partner den Dialog mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten führen. Wir wissen, daß der deutschsowjetische Dialog den amerikanisch-sowjetischen Dialog nicht ersetzen kann. Deshalb treten wir für Begegnungen auf hoher und höchster Ebene auch zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ein. Die internationale Entwicklung darf nicht außer Kontrolle geraten.
Zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer verantwortungsbewußten Friedenspolitik gehören die Zurückhaltung und Mäßigung bei der Wahrnehmung der eigenen Interessen. Das erfordert die Fähigkeit, auch die Interessen der anderen Seite zu sehen, ihre Probleme und ihre Sorgen. Das muß in Europa gelten, das muß sich aber auch in allen Teilen der Welt bewähren.
Der nah- und mittelöstliche Raum mit seinen verschiedenen Krisenherden zeigt die ganze Größe der Gefahr. Leider ist das nicht das einzige Krisengebiet. Afghanistan und Kambodscha, das südliche Afrika, der Tschad und Zentralamerika geben zur größter Besorgnis Anlaß.
({21})
In dieser Zeit ist es wichtig, daß sich alle Staaten in West und Ost ohne jede Einschränkung an den Gewaltverzicht halten.
({22})
- Das hat nämlich auch etwas zu tun mit dem Thema, Bereitschaft auf den weltweiten Verzicht von chemischen Waffen zu zeigen.
({23})
Gewaltverzicht heißt auch, den Willen zu Gewaltanwendung aus den Köpfen der Menschen zu verbannen. Gewaltverzicht heißt Friedenserziehung, heißt Abbau von Feindbildern, heißt Schluß mit der Dämonisierung der anderen Seite.
Bundeskanzler Kohl hat sich am 4. Juli 1983 in Moskau zu den Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Konkretisierung bestehender Gewaltverzichtserklärungen geäußert und dazu gesagt: „Eine erneute verbindliche Bekräftigung des Gewaltverbots kann zur Verbesserung der internationalen Lage beitragen, wenn dadurch Gewaltandrohung konkret verhindert wird, Gewaltanwendung dort, wo sie andauert, beendet wird." Gewaltandrohung verhindern, bestehende Gewaltanwendung beenden - das ist die Aufgabe, die nicht auf die lange Bank geschoben werden darf, die jetzt erfüllt werden muß, an der sich überall bewährt werden muß.
Die Bundesregierung wird sich in dieser schwierigen internationalen Lage leiten lassen von Vernunft, Nüchternheit und Berechenbarkeit ihrer Politik. Wir kennen unsere Verantwortung im Herzen Europas. Wir wissen, daß Furcht ein schlechter Ratgeber ist und daß Resignation kein Ersatz für Politik ist.
({24})
Wir wissen, daß Verhandlungsbereitschaft kein Zeichen von Schwäche ist, und wir wissen auch, daß Dialogverweigerung weder von gutem Willen noch von Stärke zeugt.
Hier liegt der Kern unserer Verantwortung als Staat im Herzen Europas, einer Verantwortung, die wir in vollem Bewußtsein der staatlich geteilten Nation erfüllen, einer Verantwortung, die Frieden und Freiheit will.
({25})
Wir kennen den großen Einfluß, den eine konstruktive Entwicklung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zur DDR auf das WestOst-Verhältnis hat. Wir bekennen uns zur Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen in West und Ost für den Frieden in Europa. Wir begrüßen es, daß auch Generalsekretär Honecker das Wort von der Verantwortungsgemeinschaft verwendet hat. Die Entschlossenheit, alles zu tun, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht, erfordert Initiativen des Friedens beider deutscher Staaten. Das muß sich bei der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki beweisen. Hier haben beide deutsche Staaten die Möglichkeit zu zeigen, daß sie Vorreiter von Entspannung und Zusammenarbeit in Europa sein wollen.
Wir sind dazu bereit. Wir begrüßen jeden Schritt in dieser Richtung. Ich schätze es positiv ein, daß die Abrüstungsbeauftragten beider Seiten sich am Ende dieses Monats in Bonn zur Fortsetzung ihrer Gespräche treffen werden. Das deutsche Volk in den beiden deutschen Staaten will keine neue Eiszeit, es will mehr Kontakte, es will mehr Zusammenarbeit, es will eine gemeinsame friedliche Zukunft.
Dem dienen alle unsere Abrüstungsbemühungen. Dem dienen auch unsere Bemühungen, Vernichtungswaffen wie die chemischen Waffen weltweit zu beseitigen.
({26})
Die Bilanz des Luther-Jahres 1983 wird sein, daß das Bewußtsein der Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen für den Frieden noch stärker ist, als das am Anfang des Jahres der Fall war.
({27})
Dieses Bewußtsein, meine Damen und Herren, wird die Bundesregierung bei jedem ihrer Schritte und bei jeder Abrüstungsverhandlung, die sie führt, leiten. Wenn Sie das anerkennen, dann können Sie uns unterstützen, auch bei den Genfer Verhandlungen über ein weltweites Verbot der chemischen Waffen.
({28})
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die Bundesregierung keine Kabinettssitzung mehr macht, ist ihre Sache. Daß Herr Genscher jetzt Tagesordnungspunkte benutzt, um dahinter eine Regierungserklärung zu verstecken, ist neu. Oder ist die Regierung nicht in der Lage, hier eine Regierungserklärung zu den Punkten, die Sie angesprochen haben, abzugeben?
({0})
Herr Außenminister, Sie haben die Debatte über
die Große Anfrage zur Lagerung von Giftgas auf
dem Boden der Bundesrepublik Deutschland für
eine Erklärung zum Gegenstand der Genfer INF- Verhandlungen zweckentfremdet.
({1})
Sie fühlen sich insoweit gegenüber unserer Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung in der Defensive und wollen sich rechtfertigen.
({2})
Viel besser wäre es, Sie würden auf Washington einwirken, um die Position der Amerikaner fortschrittlicher zu gestalten, damit endlich in Genf eine Einigung möglich wird. Ihre Rechtfertigung ist kein Ersatz für das fehlende Einwirken auf Washington.
({3})
Als ich mich auf diese Debatte vorbereitete, habe ich die Antworten der Bundesregierung auf diese Anfragen gelesen. Die Antworten waren genauso dünn wie das, was der Außenminister hier im Plenum zu den Fragen konkret gesagt hat.
({4})
Als ich dankenswerterweise, Herr Außenminister, Ihre Rede eine Stunde vorab in die Hand bekam und sie las, habe ich gedacht, Sie hätten das Datum verwechselt. Ich dachte, dies sei eine Rede für den 21. November 1983.
({5})
Als ich dann aber noch einmal auf das Deckblatt sah, stellte ich fest, daß dort tatsächlich „13. Oktober" stand.
({6})
Als ich dann die dpa-Tickermeldung von 15.38 Uhr las, wurde mir plötzlich klar, was dieses Theater sollte. Herr Genscher hat nicht auf die Anfrage der GRÜNEN reagiert, sondern hat über den Deutschen Bundestag hinweggeredet und hat vor dem Treffen mit Gromyko eine Botschaft des guten Willens an die Sowjetunion gesandt.
({7}) Zwei Tage vor dem Treffen
- so heißt es in dieser dpa-Meldung mit seinem sowjetischen Amtskollegen Gromyko in Wien hat sich Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit einer, wie er sagt, Botschaft des guten Willens an die Sowjetunion gewandt. Im Deutschen Bundestag unterbreitete er der UdSSR am Donnerstag ein umfassendes Angebot zur Zusammenarbeit in allen Bereichen.
Ich würde Ihnen, Herr Außenminister, vorschlagen,
diese Angebote an den Verhandlungstischen zu machen und hier im Deutschen Bundestag eine Regie1904
rungserklärung dazu abzugeben; dann können wir darüber debattieren.
({8})
- Ich weiß, daß Ihnen das unangenehm ist,
({9})
daß diese Regierung wieder einmal ihre Handlungsunfähigkeit bewiesen hat.
({10})
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt zur Sache kommen,
({11})
nämlich zu den Anfragen. Dazu habe ich in der Einleitung gesagt: Die Antworten beweisen, daß die Anfragen der Regierung unbequem sein müssen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg - die vorhandenen Giftgasbestände wurden damals von den Alliierten mit deutscher Hilfe beiseite geschafft; ich sage ausdrücklich: beiseite geschafft - wurde über lange Zeit kaum gefragt, wofür chemische Kampfstoffe benötigt werden, wo sie lagern, welche Mengen es davon gibt, für welche Zwecke sie benötigt werden. Vielleicht hat die Angst vor der Zerstörungskraft der nuklearen Waffen die Menschen so beschäftigt, daß sie die großen Gefahren, die ihnen beim Einsatz von chemischen Massenvernichtungswaffen drohen, verdrängt haben. Verdrängungseffekte bezüglich der Auswirkungen von chemischen Kampfstoffen haben wahrscheinlich auch bei der Beantwortung der Großen Anfrage durch die Bundesregierung eine Rolle gespielt. Der Stolzenberg-Skandal in Hamburg im September 1978, bei dem etwa 70 t chemischer Kampfstoffe, darunter auch der Nervenkampfstoff Tabun, nur fünf Minuten vom Hamburger Volksparkstadion entfernt gefunden wurden, hat wahrscheinlich zur Sensibilisierung großer Bevölkerungsteile beigetragen.
({12})
- Das waren Giftgase, Herr Kollege.
({13})
- Das ist nicht meine Anfrage; es ist die Anfrage der GRÜNEN.
({14})
Wir wissen, daß wir über die auf unserem Territorium lagernden C-Waffenbestände keine eigene Verfügungsgewalt besitzen.
Vor wenigen Wochen erreichte uns die Nachricht aus Washington, der US-Senat habe mit großer Mehrheit 144,6 Millionen US-Dollar für die Nervengasproduktion bewilligt. Das wachsende Interesse für die Gefährdung durch chemische Rüstung fällt im Zusammenhang mit diesen Beschlüssen in eine Periode weltpolitischer Spannungen. Im Ost-WestVerhältnis verschärft sich der Konflikt, und die Bedingungen für kooperative Politik werden immer schlechter. Seit Mai 1981 hat sich die Diskussion über die Lagerung amerikanischer chemischer Kampfstoffe in der Bundesrepublik Deutschland zugespitzt. Zu diesem Zeitpunkt fiel auch die Entscheidung des US-Kongresses, der US-Regierung Mittel für die Ausrüstung einer Fabrik zur Herstellung neuer chemischer Munition zu bewilligen.
In der Bundesrepublik löste diese Entscheidung Besorgnis aus, weil vermutet wurde, daß die binären Waffen hier gelagert werden sollten. Zwar erklärte die amerikanische Regierung am 8. Februar 1982: „Sollte jemals festgelegt werden, daß eine Stationierung außerhalb der USA wünschenswert ist, dann wird es vor einer Entscheidung eine umfassende Konsultation mit den betreffenden Nationen geben." Aber diese Erklärung wird in der deutschen Öffentlichkeit als ungenügend empfunden. Welchen Sinn hat die Produktion dieser Kampfstoffe, wenn sie nicht dort stationiert werden, wo sie eine militärische Aufgabe erfüllen, nämlich in der Nähe der Grenze zum Warschauer Pakt?
Die Bundesrepublik ist - seit der einseitigen chemischen Abrüstung Großbritanniens im Jahre 1957 - das einzige NATO-Land außer den USA, in dem heute chemische Kampfstoffe gelagert werden. So liegt der Schluß nahe, daß die Bundesrepublik Deutschland auch das Land sein wird, in dem diese neu zu produzierenden chemischen Waffen stationiert werden sollen.
Die Bundesregierung hat eine ganze Reihe von Gründen angeführt, warum Giftgas zum Bestand der Abschreckung gehören muß. Ihre Argumente sind: Erstens. Chemische Rüstung würde zur Abschreckung eines gegnerischen C-Waffen-Angriffs gebraucht, sie verhinderten einen Gaskrieg.
Zweitens. Das sowjetische C-Waffen-Potential stellt eine Bedrohung des Westens dar. Die sowjetische Militärdoktrin sehe die Anwendung dieser Potentiale ausdrücklich vor; 60 000 sowjetische Soldaten würden darauf in speziellen Einheiten vorbereitet.
Drittens. Auf chemische Abschreckung könne solange nicht verzichtet werden, wie es hierzu keine Alternative gibt. Die einzige Alternative sei ein vollständiges und verifizierbares Verbotsabkommen über die Produktion und Lagerung von C-Waffen; daran werde im Genfer Abrüstungsausschuß zwar gearbeitet, bisher aber - trotz Ihrer positiven Darstellung, Herr Außenminister - ohne Ergebnis.
Viertens. Die Erfahrungen aus den Rüstungskontrollgesprächen zeigen, daß die Sowjetunion nur dann ernsthaft verhandelt, wenn die NATO ein entsprechendes Gegengewicht hat; bislang sei die NATO im Vergleich zur UdSSR aber bei den chemischen Waffen zu schwach; deswegen habe es zu keiner Einigung kommen können. Der NATO-Oberbefehlshaber Rogers sprach in diesem Zusammenhang im Oktober 1982 davon, daß C-Waffen als Faustpfand für die Verhandlungen mit dem Ostblock weiterhin erforderlich seien. Die Produktion neuer C-Waffen sei Trumpfkarte für das Ziel, die Verschrottung aller chemischen Kampfstoffe zu erreichen.
Die hier zusammengefaßten Argumentationen entsprechen in weiten Teilen dem Denkmuster der Reagan-Administration, die auch in anderen Bereichen zur Legitimation von Rüstung gebraucht wird.
({15})
Es wird eine Lücke in der Weltraumrüstung oder beim Wurfgewicht von interkontinentalen Raketen ausgemacht. Dann wird behauptet, der Gegner habe hierdurch einen militärisch nutzbaren Vorteil erlangt. Schließlich wird die Forderung erhoben, die Abschreckung durch zusätzliche Kriegsführungsfähigkeit glaubwürdiger zu machen.
Der Trend, Massenvernichtungsmittel benutzbar zu machen, sie so zu entwickeln, daß sie risikofrei zum Gefechtsfeld transportiert werden können, unterminiert das Konzept der Kriegsverhütung.
Es scheint, als hätten die Befürworter der C-Waffen die Tatsache aus dem Blick verloren, daß Nervengase nicht irgendwelche beliebigen Waffen sind, sondern daß ihr Einsatz unabsehbare Folgen für die Menschen und die Natur nach sich zieht. Nicht nur aus moralischen, sondern gerade auch aus sicherheitspolitischen Gründen ist entscheidend, welche spezifischen Wirkungen unterschiedliche Rüstungssysteme für das Überleben haben.
Wenn in den Begründungen und Rechtfertigungen der vorgesehenen Programme von den Folgen die Rede ist, dann immer nur in bezug auf die Kampfkraft und die Operationsfähigkeit von militärischen Einheiten. Die Folgen für die Zivilbevölkerung, für die Tiere und Pflanzen bleiben außer Betracht. Es ist diese Lücke im militärisch-strategischen Denken, die als wirkliche Bedrohung empfunden werden muß. Fest steht, daß die Überlebenschancen von Soldaten in einem chemischen Krieg weit höher wären als die der Zivilbevölkerung. Nach Auskunft der Bundesregierung vom 4. März 1982 würde die Zahl der Toten bei Soldaten und Zivilbevölkerung im Verhältnis 1 : 20 zum Nachteil der Zivilbevölkerung zueinander stehen.
Der Einsatz von C-Waffen war nach Auffassung der alten Bundesregierung nur als Repressalie im Falle eines C-Waffen-Angriffs durch den Warschauer Pakt denkbar. Sie hat daraus eine Schlußfolgerung gezogen. Sie lautet: „daß im dicht besiedelten Mitteleuropa ein den Regeln des Völkerrechts entsprechender Einsatz nur in Ausnahmefällen möglich ist. Damit ist aus militärisch-operativer Sicht der Wert als Repressalie in der Bundesrepublik Deutschland als sehr gering einzuschätzen."
Der Hinweis auf die Ausnahmefälle läßt sich wohl so interpretieren, daß die Bundesregierung damals und heute nicht wußte, welchen Nutzen diese Waffen stiften können, aber daß sie gegenüber den USA und der NATO den Abzug dieser Waffen bisher nicht durchsetzen konnte.
In jedem Fall ist es wichtig festzustellen, daß die amerikanischen Vorstellungen von der Anwendbarkeit chemischer Waffen aus militärischer Sicht fragwürdig sind und von der früheren Bundesregierung nicht geteilt wurden. Mit anderen Worten, mit meinen Worten: Chemische Waffen werden nicht gebraucht, sie sind überflüssig. Deshalb sollte man sie vom Boden der Bundesrepublik Deutschland abziehen.
({16})
Es ist angesichts der vermuteten Menge von C- Waffen abwegig, von Unterlegenheit oder Überlegenheit zu sprechen. Bereits wenige Gramm Giftgas reichen aus, um das Leben in ganzen Landstrichen auszulöschen.
({17})
Kräftevergleiche in Größenordnungen von Tonnen sind deswegen nirgends so sinnlos wie bei den chemischen Waffen. Wieviel chemische Munition auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland lagert, weiß nach der Beantwortung der Großen Anfrage durch die Bundesregierung bis heute immer noch niemand.
({18})
Offiziell ist lediglich zu erfahren, daß die USA einen geringen Teil eines begrenzten Potentials ihrer C-
Waffen-Bestände hier stationiert haben, das seit 1969 nicht erneuert wurde. Die Sicherheitsvorkehrungen liegen in amerikanischer Verantwortung. Herr Genscher, ich fordere Sie auf, hier zu erklären, welche Möglichkeiten die Bundesregierung und damit die Behörden der Bundesrepublik Deutschland haben, in den C-Waffen-Depots zu kontrollieren, ob deutsche Sicherheitsstandards überhaupt angewendet werden.
Ich will zum Schluß kommen; denn ich habe hier keine unbegrenzte Redezeit wie der Bundesaußenminister. Meiner Meinung nach ist es wichtig, daß mit den konservativen Illusionen aufgeräumt wird, daß in der Rüstung noch ein Vorteil errungen werden kann, der nicht zu kurze Zeit danach auch dem Gegner zuwächst. Das entspannungspolitische Konzept für die Zukunft muß Sicherheitspartnerschaft heißen, und diese Sicherheitspartnerschaft eröffnet eine Perspektive, die endlich wieder politisches Denken dem militärischen Handeln überordnet.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den Bundeskanzler durch ihren Vorsitzenden aufgefordert, Stellung zu den chemischen Waffen zu beziehen. Der Herr Bundeskanzler hat dies mit einem polemischen Brief beantwortet. Herr Genscher, Sie haben die Gelegenheit nicht genutzt, hier klarzustellen, welche Position die Bundesregierung zu chemischen Waffen hat. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Huyn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jungmann, ich verstehe eines wirklich nicht.
({0})
- Nein, Herr Bastian, ich verstehe bei Herrn Jungmann einiges nicht und bei Ihnen sowieso nicht;
aber damit will ich mich hier in einer beschränkten Redezeit nicht auseinandersetzen. Bei Herrn Jungmann verstehe ich vor allem nicht, daß er dem Bundesaußenminister hier vorwirft, wie er hier in dieser Debatte gesprochen hat.
({1})
Herr Jungmann, Sie hätten lieber zuhören sollen, wie hier der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland
({2})
darlegt, wie nicht nur auf dem Gebiet der chemischen Waffen - das hat er ausführlich dargestellt -, sondern auch auf dem Gebiet der anderen Abrüstungsverhandlungen die Politik des Bündnisses zur Sicherung von Frieden und Freiheit durchgesetzt werden soll.
({3}) Das ist die Frage, um die es hier heute geht.
({4})
Ich bin dankbar, daß sich der Bundesaußenminister nicht nur auf diese Frage der chemischen Waffen beschränkt hat, sondern daß er den Gesamtzusammenhang umfassend dargelegt hat. Aber Sie, meine Herren, benutzen das natürlich am liebsten zur Polemik auf der Straße, statt sich hier in diesem Haus ernsthaft damit auseinanderzusetzen, wie es Ihre Pflicht wäre.
({5})
Im übrigen hat der Bundesminister des Auswärtigen in der sehr umfassenden Antwort auf die drei verbundenen Großen Anfragen, die hier zur Debatte stehen, alle Fragen voll beantwortet. Ich möchte auf einige dieser Fragen eingehen, die der Bundesminister hier angesprochen hat. Er hat z. B. dankenswerterweise den Harmel-Bericht zitiert,
({6})
und darin steht - ich zitiere -:
Eine endgütige und stabile Regelung in Europa ist nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist deswegen wichtig, weil Sie hier immer wieder den Fehler machen, die Phänomene der Spannung und die Folgerungen der Spannung, aber nicht ihre Ursachen anzugehen. Sie gehen hier isoliert vor gegen chemische Waffen, Sie gehen isoliert vor gegen nukleare Waffen. Aber das sind doch nicht die
Spannungsursachen. Die Spannungsursache ist der politische Wille, der dahintersteht, nicht die Raketen oder die chemischen Waffen. Die Ursache der Spannung ist die offensive sowjetische Politik. Wenn hier im Hause vorhin von einem Skandal gesprochen wurde, dann kann es nur einer sein, nämlich der, daß hier einseitig unser amerikanischer Verbündeter von Ihnen auf der Linken angeprangert wird, während die Ursachen der Spannung in der offensiven, expansiven Hochrüstungspolitik der Sowjetunion liegen.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD und gerade Sie, Herr Jungmann, sollten zu diesen Fragen deutlicher Stellung nehmen. Denn Sie sind es, die sich auf diesem Gebiet aus der Verantwortung einer Politik stehlen, die Sie selber lange genug mitgestaltet und die wir mit unterstützt haben, auch von der Opposition aus.
Ich denke an das, was heute von dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt, von Professor Karl Kaiser, von Professor Gesine Schwan - etwa gestern - zu Ihrer Politik, zu Ihrer Haltung gesagt wird. Frau Schwan sagte - ich zitiere wörtlich -, daß die SPD-Parteiführung mit ihrer gegenwärtigen Taktiererei über die Aussagen der Sozialdemokratie zum NATO-Doppelbeschluß die Grundlagen sozialdemokratischer Friedenspolitik verrät.
({8})
Meine Damen und Herren, danach sind Sie es, die die Erfolge einer Abrüstungspolitik mit wirklicher Beseitigung der Spannungen verhindern.
({9})
Sie sind es, die immer neue Forderungen nachgeschoben haben. Erst haben Sie Seestationierung gefordert. Dann haben Sie Verbindung von INF und START gefordert. Dann haben Sie gefordert, die Freeze-Resolution zu unterstützen. Dann haben Sie die Einbeziehung britischer und französischer Systeme gefordert. Meine Damen und Herren, dies alles verhindert nur, daß die Sowjetunion zu wirklichen Verhandlungen bereit ist. Sie wären heute nicht mehr regierungsfähig, ja, Sie sind nicht einmal oppositionsfähig.
({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jungmann? - Herr Abgeordneter Jungmann, die Zwischenfrage wird nicht gestattet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Haltung der CDU/CSU-Fraktion zur Frage der chemischen Waffen ist eindeutig. Wir haben sie hier öfters dargelegt. Wir wollen eine weltweite Null-Lösung auf dem Gebiet der chemischen Waffen. Ich habe vor zwei Jahren von dieser Stelle aus den Antrag unserer Fraktion begründet. Die Ursache der Spannung ist auch auf dem Gebiet
der chemischen Waffen wie bei dem Gebiet der nuklearen Waffen die sowjetische Hochrüstung.
({0})
Der Warschauer Pakt unterhält in Europa 100 000 Mann, für offensive chemische Kampfführung ausgerüstet, denen 350 000 t chemischer Kampfstoffe zur Verfügung stehen, und mehr als 70 Übungsplätze für chemische Kampfführung.
Demgegenüber bietet die NATO weniger als 5 000 Mann mit knapp 40 000 t Kampfstoff auf.
({1})
Das heißt, das Übergewicht des Warschauer Pakts auf diesem Gebiet beträgt 20 : 1 bei den Truppen und 8 : 1 beim Kampfstoff.
({2})
Diese Zahlen belegen nüchtern, wie die Lage ist. Für die sowjetischen Streitkräfte gelten immer noch die Dienstvorschriften, in denen es wörtlich heißt:
Der überraschende und massive Einsatz von C- Waffen ist ein Mittel zum Erreichen militärischer Ziele. Der Einsatz von Chemiewaffen soll dem Feind Massenverluste an Menschen bringen und die Handlungen der Truppen und die Tätigkeit im Hinterland erschweren.
Und weiter:
Der Einsatz von Kern- und Chemiewaffen ist an sich von höchsten politischen Stellen zu entscheiden. Doch kann dies für einzelne Aufgaben auch auf Beschluß der Divisionskommandeure geschehen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Herr Jungmann hier erklärt oder unterstellt, die chemischen Kampfstoffe der Vereinigten Staaten hätten eine militärische Aufgabe in Deutschland, so ist dies schlicht falsch. Den Streitkräften der Vereinigten Staaten dient der Einsatz von chemischen Waffen ausschließlich zur Vergeltung, d. h., sie sind zur Abschreckung gelagert.
({4})
Die Bundeswehr spricht überhaupt nur von Schutz vor solchen Waffen. Die Vorräte, die die Vereinigten Staaten hier gelagert haben, stammen im übrigen noch aus der Zeit des Korea-Krieges, die Geschütze und Raketen sind veraltet, und 90 % der Vorräte lagern in den USA.
({5})
Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der Riesenunterschied zwischen westlichen und östlichen Haltungen zu diesen Waffen.
Der Einsatz von C-Waffen durch den Osten ist leider nicht nur eine furchtbare Möglichkeit, sondern leider auch brutale Wirklichkeit. Die Vereinten Nationen haben im Dezember 1982 die Aussagen zahlreicher Zeugen zu Protokoll genommen, die sich als Opfer chemischer Kriegsführung durch den Osten betrachten. Immer wieder muß die Presse der freien Welt über Beispiele von C-Waffen-Einsatz in Südostasien und Afghanistan berichten.
({6})
Vor wenigen Wochen erst haben die Vereinigten Staaten dem Generalsekretär der Vereinten Nationen hierfür eine umfangreiche Liste neuer Beweise vorgelegt
({7})
- Frau Präsidentin, ich möchte keine Zwischenfrage mehr zulassen -, die auf Berichten von Opfern und Zeugen chemischer Kriegsführung in Laos, Kambodscha und Afghanistan beruhen.
({8})
Die Sowjetunion bezeichnet sie als üble amerikanische Propaganda. Die Glaubwürdigkeit solcher Dementis, meine Damen und Herren - ich habe die auch gelesen -,
({9})
steht allerdings auf schwachen Beinen. Der Expertengruppe, die von den Vereinten Nationen beauftragt ist, die Klagen zu untersuchen, ist der Zutritt zu den Territorien der betreffenden Länder, nämlich Vietnam, Laos und Kambodscha, von diesen verwehrt worden. Meine Damen und Herren, wer hier etwas zu verbergen hat, ergibt sich schon aus dieser Haltung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Konrad Adenauer hat sich bereits am 23. Oktober 1954 für die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, auf die Herstellung von A-, B- und C-Waffen zu verzichten. Wir haben uns in der Bundesrepublik einer internationalen Kontrolle freiwillig unterworfen und sehr gute Erfahrungen mit dieser Kontrolle gemacht. Ich kann nur noch einmal danken, daß die Bundesregierung hier in Bonn einen Workshop für die Abrüstungsgruppe der Vereinten Nationen veranstaltet hat, um diese Kontrollmöglichkeiten bekannt zu machen. Leider haben alle Staaten des Warschauer Paktes, bis auf Rumänien, nicht teilgenommen. Viele andere - auch der Dritten Welt - haben teilgenommen. Wir haben eine internationale Kontrolle, die funktioniert, die ein Beispiel für eine wirksame Kontrolle zwischen Ost und West sein könnte, die die Möglichkeit eröffnet, eine wirkliche, kontrollierte Null-Lösung hinsichtlich chemischer Waffen zu erreichen, wie wir alle sie, wie ich meine, in diesem Hause wollen. Aber nur kontrol1908
lierte Abrüstung, meine Damen und Herren, ist sinnvoll, wirksam und friedenssichernd.
({10})
Aber dies genau will die Sowjetunion nicht, dem hat sie sich bisher verweigert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, 1969 haben die Vereinigten Staaten von Amerika einseitig und freiwillig auf eine weitere Produktion chemischer Waffen verzichtet. 14 Jahre lang hätte die Sowjetunion Zeit gehabt, diesem Beispiel zu folgen.
({11})
Sie hat es leider nicht getan, sondern sie hat - im Gegenteil - nicht nur auf dem Gebiet der nuklearen Waffen, nicht nur auf dem Gebiet der konventionellen Waffen, sondern auch auf dem Gebiet der chemischen Waffen aufgerüstet - und nicht nur sie. Auch die Machthaber in Ost-Berlin haben chemische Waffen produziert. Ich kann Sie nur einladen, die Aussagen von Professor Dr. Frucht zu lesen, der deswegen aus Mitteldeutschland hier in den Westen gekommen ist.
Solange Moskau nicht einer kontrollierten Abrüstung zustimmt, müssen die Vereinigten Staaten im Interesse des Friedens und im Interesse der Sicherung unserer Freiheit sich auch auf dem Gebiet chemischer Waffen die Möglichkeit einer glaubwürdigen Abschreckung erhalten. Aber unser Ziel im Westen wird es weiterhin sein, auch auf dem Gebiet der chemischen Waffen eine Null-Lösung zu erreichen. - Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Form der Antwort der Bundesregierung ist hier schon kritisiert worden, und als Parlamentarier kann ich dieser Kritik nicht voll widersprechen,
({0})
enthält diese Antwort doch allein 74 Querverweise, größtenteils auf zurückliegende parlamentarische Anfragen.
({1})
Aber Ihre Kritik, Herr Kollege Jungmann, ging eindeutig zu weit und daneben. Die FDP jedenfalls unterstützt jede Botschaft des guten Willens an die Sowjetunion.
({2})
- Herr Kollege Jungmann, nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, daß die C-Waffen-Politik dieser Regierung die gleiche ist, die auch wir einmal in einer gemeinsamen Regierung getragen haben.
({3})
Die FDP begrüßt das intensive Bemühen der Bundesregierung, zu einem weltweiten, überprüfbaren C-Waffen-Verbot zu kommen, das auch die Vernichtung der vorhandenen Bestände und Produktionsanlagen einschließt, wie es soeben durch Bundesaußenminister Genscher nochmals eindeutig klargestellt wurde.
Kernpunkt eines solchen Abkommens ist aber die Überprüfbarkeit. Denn auch mit den genauesten Satellitenkameras kann nicht festgestellt werden, ob in einer Fabrik Pflanzenschutzmittel oder chemische Kampfstoffe hergestellt werden. Die Bundesregierung hat vorgeführt, daß die Verifikation der Einhaltung von Produktionsverboten für C- Waffen ohne Industriespionage möglich ist.
({4})
Sie haben es erwähnt, Herr Kollege Graf Huyn. Es ist bedauerlich, daß die Sowjetunion dennoch weiterhin Vor-Ort-Inspektionen und damit den Abschluß eines wirksamen C-Waffen-Abkommens blockiert. Wir appellieren daher an die Sowjetunion, ihre übertriebenen Sicherheits- und Geheimhaltungsbedürfnisse abzubauen und in der Überprüfungsfrage endlich einzulenken.
Obwohl die USA 1969 einseitig die Produktion von C-Waffen eingestellt hatten, hat die Sowjetunion in dieser Zeit ihre Fähigkeit zur chemischen Kriegsführung ständig verbessert. Sie hat das US- Moratorium nicht mit Entgegenkommen beantwortet und damit auch eine große Chance vertan. Diese sowjetische Politik ist auch ein wesentlicher Grund dafür, daß in den USA nun ein Verteidigungshaushalt verabschiedet worden ist, in dem Mittel für die Wiederaufnahme der Produktion neuer chemischer Waffen vorgesehen sind.
Aber die Aufnahme der Produktion binärer C- Waffen in den USA heißt nicht, daß diese Waffen auch bei uns stationiert werden. Es gibt keinen Automatismus zwischen einer amerikanischen Produktionsentscheidung und der Modernisierung der in der Bundesrepublik lagernden chemischen Waffen.
({5})
Ich begrüße daher die Klarstellung der Bundesregierung, daß auch die Stationierung nichtkonventioneller Waffen nur im Einvernehmen mit ihr festgelegt wird. Automatismus, Herr Kollege Jungmann, kann und darf es nicht geben. Vielmehr sollte mit einer solchen Frage gegebenenfalls auch der Deutsche Bundestag befaßt werden.
Bevor ich auf die Frage eingehe, ob die NATO in Europa überhaupt chemische Waffen braucht, um den Frieden zu sichern, und den potentiellen Angreifer vom Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken, ein Wort noch zu der hier bereits erwähnten Repressalie. Ich begrüße es ausdrücklich,
daß die Bundesregierung durch die Antwort von Staatsminister Möllemann auf meine Anfrage vom Juli, die ja integraler Bestandteil der vorliegenden Antwort ist, die Position bekräftigt hat, daß eine chemische Antwort überhaupt nur unter den eingeschränkten Bedingungen der Repressalie in Frage kommt. Damit tritt die Bundesregierung allen Unterstellungen entgegen, daß chemische Waffen eine eigenständige Option im Rahmen unserer Strategie, praktisch eine vierte Sprosse auf der Eskalationsleiter, sein könnten.
({6})
- Herr Kollege, wir debattieren heute die Großen Anfragen unserer Kollegen, und da haben wir es nicht nötig, alles mögliche andere noch mit einzubeziehen.
Ein Wort noch zur, politischen Bewertung einer chemischen Antwort: Es ist Aufgabe der NATO, überhaupt von einem Angriff abzuschrecken. Im Falle des Versagens der Abschreckung muß es Aufgabe sein, die Schäden für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Darüber sind wir uns doch einig. Ich habe aber Zweifel, ob chemische Waffen diesen Aufgaben in Europa gerecht werden können.
({7})
Wegen der modernen Abwehrmaßnahmen wäre eine chemische Antwort von minimalem militärischen Nutzen gegen einen darauf gefaßten Gegner. Opfer wäre die eigene Zivilbevölkerung, während die defensiv ausgerüsteten Truppen des Angreifers relativ ungeschoren davonkämen.
({8})
Diese Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der europäischen Bevölkerung sind in der amerikanischen C-Waffen-Debatte immer wieder ausgeführt worden. In der amerikanischen Diskussion ist darüber hinaus festgestellt worden, daß vielmehr durch eine umfassende Defensivausrüstung unserer Truppen
({9})
eine wesentlich bessere Abschreckungswirkung zu erzielen wäre.
({10})
Damit würde ein C-Waffen-Angriff von vornherein militärisch ins Leere laufen.
({11})
Meine Damen und Herren, eine C-Waffen-Option birgt die Gefahr in sich, daß die Sowjetunion sie mißverstehen und annehmen könnte, die NATO sei bereit, eine Herausforderung auf der chemischen Ebene anzunehmen, um eine Eskalation auf der nuklearen Ebene zu vermeiden.
({12})
Lassen Sie mich zusammenfassen. Meiner Meinung nach kann die Bundesregierung ihre bisher bereits beispielhafte Vorreiterrolle in der C-WaffenPolitik noch weiter ausbauen.
({13})
Die Sicherheitslage der NATO in Europa läßt einen Verzicht auf chemische Waffen zu, wenn wir uns entschließen, unsere Truppen mit einer wirksamen Defensivausrüstung auszustatten. Durch einen im Bündnis zu vereinbarenden Abzug der in der Bundesrepublik lagernden chemischen Waffen könnten die gemeinsamen westlichen Anstrengungen um ein kontrollierbares C-Waffen-Abkommen erleichtert werden.
Der Bundesfachausschuß meiner Partei hat jüngst beschlossen, wie ein solcher Verzicht im Sinne der Vertrauensbildung und der Entschärfung der sicherheitspolitischen Lage hier an der Nahtstelle zwischen den Blöcken umgesetzt werden könnte.
({14})
Er hat dazu vorgeschlagen, als ersten Schritt alle chemischen Waffen vom Gebiet beider deutscher Staaten zu entfernen. Konsequenterweise hat er sich gegen jegliche Modernisierung chemischer Waffen auf deutschem Boden ausgesprochen.
({15})
Hier kann die Idee einer gemeinsamen deutschdeutschen Abrüstungsinitiative wiederbelebt werden.
Unsere Hoffnungen richten sich, Herr Bundesaußenminister, auch auf die Konferenz über Abrüstung in Europa. Herr Bundesaußenminister Genscher, ich danke Ihnen auch von dieser Stelle ausdrücklich für Ihren entscheidenden Einsatz für das Zustandekommen der KAE.
({16})
Auch dieses Forum sollte genutzt werden, um sowohl die Vertrauensbildung als auch die tatsächliche Abrüstung im Bereich der chemischen Waffen voranzutreiben.
Meine Damen und Herren, in der heutigen Debatte konnten - da sind wir uns sicher einig - nur einige wesentliche Punkte behandelt werden. Ich würde es begrüßen, wenn wir dieses wichtige Thema zu gegebener Zeit nochmals aufgreifen würden, um es, wie die Kollegen im amerikanischen Kongreß es getan haben, auch hier im Deutschen Bundestag ausführlich zu behandeln.
({17})
Denn dieses Thema ist für uns ebenso wichtig wie für unsere amerikanischen Freunde. - Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Kelly.
Hätte es sich bei der Rede des Außenministers, Herrn Genscher, um einen Schulaufsatz gehandelt, hätte der Lehrer, so wurde vorhin gesagt, wohl „Thema verfehlt" an den Rand geschrieben. Das Thema war Giftgas. In Vietnam hat es seine chemische Taufe erhalten; so die Worte eines amerikanischen Journalisten.
Es hatte immerhin sieben Jahre gedauert, bis die Weltöffentlichkeit zum erstenmal über die Folgen der „Operation Ranch Hand", des Einsatzes von „Agent Orange", informiert worden ist. Mindestens 18 Millionen Gallonen der chemischen Gifte wurden von den USA in Indochina „abgeregnet", aber nicht nur das. Außerdem wurden 300 Pfund des hochgiftigen Dioxin über Südostasien versprüht.
Vielleicht mag sich mancher in der Bundesrepublik damit trösten, daß Gaswolken über Südostasien oder Afghanistan schwerlich bis nach Mitteleuropa ziehen werden. Allerdings wäre er dann nicht auf der Höhe der strategischen Planung beider Großmächte, jedenfalls sicher nicht auf dem Stand des Pentagon. Die USA sind bekanntlich dem Genfer Giftgasprotokoll von 1925 erst in 1975 beigetreten. Wer es nicht genau weiß, soll bitte nachlesen, daß die USA im Jahre 1975 einen Vorbehalt vorgenommen hatten; nur das Ersteinsatzverbot ist durch die USA anerkannt worden, Herr Genscher.
Darüber hinaus hat die BRD als bisher einziger Staat in 1954 auf die Herstellung nicht nur atomarer und biologischer, sondern auch chemischer Waffen vertraglich verzichtet. Im Rahmen der WEU, so die Antwort der Bundesregierung, hat die Bundesrepublik außerdem internationalen Kontrollen dieses Verzichts zugestimmt. Anläßlich der Unterzeichnung des B-Waffen-Übereinkommens von 1972 hat die BRD erklärt, daß sie im Bereich chemischer Waffen solche Kampfstoffe, auf deren Entwicklung sie bereits verzichtet hat, weder entwickeln noch erwerben noch unter eigener Kontrolle lagern wird. Das alles hört sich sehr friedensliebend und grün an, unter anderem auch die Meldung des Verteidigungsministers Manfred Wörner im November 1982, als er bei einem Besuch in Washington erklärte, daß er sich für den Abbau der amerikanischen Giftgasdepots in der Pfalz einsetzen würde, in denen die Nervengase VX und GB gelagert sind. Seine damalige Begründung war, die chemischen Kampfmittel der Amerikaner sei nicht nur total veraltet, ihr Abzug würde auch positive psychologische Auswirkungen auf unsere Bevölkerung haben, d. h. das könne der Bonner Regierung die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles bei einem Scheitern in Genf erleichtern. Vielleicht war es das, was Sie vorher sagen wollten, Herr Genscher.
Im „Publik-Forum" vom 23. September 1983 erklärte wieder Manfred Wörner die Absicht, daß er auf keinen Fall neue chemische Waffen lagern möchte, um die alten zu ersetzen. Das alles wäre auch sehr lobenswert, wenn Manfred Wörner innerhalb des von ihm so gelobten Verteidigungsbündnisses von demokratisch verfaßten Staaten das letzte Wort hätte. Doch gerade das ist das Problem. Herr Wörner hat nicht das letzte Wort, auch nicht Sie, Herr Genscher. In der Frage des Giftgases sind wir nicht sicher, ob die BRD und die USA wie souveräne Staaten miteinander verkehren oder ob Vorrechte der alten Besatzungsmacht die Jahrzehnte überdauert haben.
Unser politisches Endziel ist die sofortige und völlige Entfernung der C-Waffen-Arsenale in der Bundesrepublik und in Europa sowie in der ganzen Welt.
({0})
Ich glaube, man kann nicht oft genug auf den eklatanten Widerspruch hinweisen, daß die Bundesregierung - die alte ebenso wie die neue - einerseits eine breite Auseinandersetzung in dieser Frage gefordert hat, aber andererseits nicht fähig ist, seriös auf die Fragen der Volksvertreter einzugehen, und damit ständig die verfassungsmäßige Kontrollfunktion behindert.
({1})
Der Tenor der regierungsamtlichen Argumentation in diesen Antworten auf unsere Giftgasanfragen hält, bezogen auf Völkerrecht, Herr Genscher, keinerlei Prüfung stand. Die Antworten der Bundesregierung geben keinerlei Auskunft über das, was uns Grundgesetz und Völkerrecht zu der Tatsache sagen, daß eine ausländische Macht Massenvernichtungsmittel wie Giftgas hier lagert. Die Mutmaßungen, ob 2000 oder 4000 t an drei oder vier Orten stationiert werden, gehen auseinander.
Für die GRÜNEN stehen vier Kernfragen zur Debatte, die Sie nicht beantwortet haben, Herr Genscher: die Souveränität der Bundesrepublik, die Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Informationsrecht der vom Volk gewählten Abgeordneten und der Bevölkerung sowie das Fehlen jeder gesetzlichen Regelung für die Lagerung.
Wir berufen uns auf einen wichtigen Kronzeugen, das Bundesverfassungsgericht, dessen ständige Rechtsprechung besagt, daß die Grundrechte Wertentscheidungen darstellen, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung und Rechtsprechung geben. Die in der Bundesrepublik gelagerten 2000 t Nervengas reichen aus, um die ganze Menschheit zu vernichten. Selbst in den allerkleinsten Mengen bewirkt das Gift rasches Altern, Blutkrebs, schwere Mißbildungen. Ein aufgeplatztes Faß Nervengas in Fischbach würde ausreichen, 300 000 Menschen zu töten.
({2})
Die Bundesregierung verstößt, indem sie immer noch die Lagerung von altem Nervengas toleriert, gegen die Verfassung und gegen das Völkerrecht. Gerade die Geheimhaltung der Lagerbestände selbst vor den für Sicherheit und Katastrophenschutz zuständigen Ministerien erhöht die Gefährdung der Bevölkerung. Diese Geheimhaltung in der Bundesrepublik wird sogar strenger befolgt als in den USA selbst. In der Bundesrepublik werden die Behörden von den Amerikanern nicht einmal über Transporte mit Giftgasladungen unterrichtet. Herr Genscher spricht von der Notwendigkeit der verbindlichen internationalen Ortsinspektionen, die
die Sowjetunion verweigere. Aber was für eine Logik ist das, Herr Genscher, wenn die Bundesregierung selber einräumt, daß sie keine eigenen Kontrollen der US-Giftgaslager vornimmt?
({3})
Somit kennt sie nicht das tatsächliche Ausmaß der Gefährdung der eigenen Bevölkerung. In den USA, habe ich erfahren, ist es Pflicht, jede Fahrt mit tödlichen Kampfstoffen 30 Tage vorher dem Kongreß anzukündigen. Warum gibt es hier nicht eine Pflicht, dies dem Deutschen Bundestag anzukündigen?
Während der Verteidigungsminister Wörner das jetzt hier gelagerte Nervengas abbauen möchte, steht schon der nächste amerikanische Militärhaushalt vor der Tür, in dem die Autorisierung der Produktion einer neuen Art von Nervengas zum erstenmal seit 14 Jahren vorgesehen ist. Es sind viele Millionen Dollar, die Präsident Reagan und der US-Senat in dem gesteigerten Rüstungsetat für die Produktion binärer C-Waffen bereitgestellt haben. Selbst Senator Mark Hatfield erklärte:
Es hat wenig Sinn, sie in den USA zu lagern. Potentielles Schlachtfeld ist Europa.
Herr Genscher, das war ein Zitat von Senator Mark Hatfield.
({4})
Die neuen binären C-Waffen, die erst durch Mischung zweier Substanzen unmittelbar vor dem Einsatz ihre giftige Wirkung entfalten, sollen das Unfallrisiko ausschalten. Wir werten dies als Eingeständnis der hohen Gefahr, die von den im Lande gelagerten herkömmlichen Giftgasen wie denen in Fischbach ausgeht - gerade bei der Häufung von Vorfällen mit amokfahrenden Panzern.
Unsere Frage ist die folgende: ob ein Staat, der gegen die Gerüche einer Schweinemästerei Rechtsschutz gewährt, fremde Giftgaslager dulden darf - noch dazu ohne gesetzliche Grundlage, ohne Schutzvorkehrungen, ohne ausreichende Informierung des Bundestages, geschweige denn der Bevölkerung. Was Anrainern von Militärflugplätzen und Atomkraftwerken vom obersten Gericht zugestanden wurde, steht den Nachbarn der Giftgasdepots bislang nicht zu.
Wir sind sehr verärgert über das hartnäckige Schweigen der Bundesregierung über Quantität, Qualität und Lagerung von Giftgas in der Bundesrepublik und die Untätigkeit hinsichtlich des Schutzes der Bevölkerung. In allen Antworten der Bundesregierung, auch auf solche parlamentarischen Anfragen wie die unsere, wurde lediglich mitgeteilt, die Lagerung erfolge in Übereinstimmung mit dem NATO-Truppenstatut und dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte. Die Kontrolle der Regierung durch das Parlament wird zu einem formalistischen Pingpongspiel. Wir fordern eine politische Debatte in diesem Haus mit weit mehr Zeit, in der wir darüber diskutieren können. Wir fordern eine öffentliche Prüfung, ob ausreichender Bevölkerungsschutz gewährleistet wird.
Die Antwort der Bundesregierung sagt nichts über die Ansichten des Führungsstabes der Bundeswehr, der während der sozialliberalen Regierung dieses Ansinnen noch abgelehnt hatte.
Die abschreckende Wirkung eines umfangreichen chemischen Potentials
- hieß es in einer Ministervorlage unter Helmut Schmidt ist zweifelhaft.
Doch der NATO-Oberbefehlshaber Rogers meint - ich zitiere -, daß ein defensiver Schutz nicht ausreiche. Er meint, daß chemische Kampfmittel als viertes Element in die NATO-Triade eingefügt werden müßten, die aus konventionellen, taktisch-nuklearen und interkontinental-strategischen Waffen bestehe.
Die Antwort der Bundesregierung sagt nichts über dieses Freigabeverfahren, daß Atomwaffen nur mit Genehmigung des US-Präsidenten eingesetzt werden dürfen, daß nach Ansicht von Rogers chemische Waffen aber der Befehlsgewalt des NATO-Oberbefehlshabers unterstellt werden sollen. Auch dazu haben Sie nichts gesagt, Herr Genscher.
({5})
Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort, Seite 4:
Solange die C-Waffen-Bedrohung jedoch fortbesteht, hält die Bundesregierung
- und ich schaue Sie immer wieder an, Herr Genscher, aber Sie hören eben nicht zu ({6})
wie ihre Bündnispartner es für unerläßlich, im NATO-Bereich nicht nur die C-Waffen-Abwehrfähigkeit zu verbessern, sondern auch eine im Umfang begrenzte Repressalienkapazität aufrechtzuerhalten.
Dies ist aber unmöglich, Herr Genscher, da unter den Gegebenheiten der Bundesrepublik - vielleicht sollte ich noch einmal betonen, daß ich versuche, Ihnen einige Dinge zu erklären - keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung gemacht werden kann.
({7})
Darum ist die Lagerung der C-Waffen völkerrechtswidrig. - Herr Genscher ist auf dem Wege nach draußen. Es wird von seiten der Bundesregierung auch behauptet, daß in der BRD bei den amerikanischen Streitkräften nur ein geringer Teil des amerikanischen C-Waffen-Potentials gelagert wird. Woher weiß dies eigentlich die Regierung, die die Giftgaslager nicht kontrolliert, und wann können wir als Parlamentarier zum erstenmal nach Fischbach reisen? Wann können wir in diesem Deutschen Bundestag die Giftgaslager in Fischbach besichtigen?
({8}) Das fordere ich hiermit.
Auf Seite 5 schreibt die Bundesregierung ferner:
Das Genfer Protokoll von 1925 verbietet die Verwendung chemischer Waffen im Kriege. Die Staatengemeinschaft betrachtet dieses Verbot heute als Gewohnheitsrecht.
Doch der lautlose Tod, Herr Genscher, wird weiterhin bei uns gelagert.
In einem Dokument der amerikanischen Armee wird Klartext geredet: Die Lagerung in Friedenszeiten außerhalb der USA sei nur in Reichweite des potentiellen Schlachtfeldes, sinnvoll. In anderen Dokumenten der amerikanischen Armee wird die Wirkung eines Giftkrieges in Norddeutschland und in Bayern nachgerechnet. Weiß denn die Bundesregierung nicht, daß die wesentliche Grundsatzentscheidung über bestimmte erhebliche Risiken, die den grundrechtlich geschützten Bereich des Bürgers treffen, in einem demokratischen Staat dem Gesetzgeber vorbehalten ist? Nur er kann die Grundsatzentscheidung über die Akzeptanz eines solchen Risikos treffen. Für das Risiko, das mit der Lagerung chemischer Waffen verbunden ist, fehlt eine solche Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers.
Auf Seite 6 der Antwort aber schreibt die Bundesregierung:
Auch in Mitteleuropa würden die Auswirkungen eines C-Waffen-Einsatzes von einer Vielzahl von Bedingungen abhängen. Eine generelle Bewertung ist daher nicht möglich.
Hat sich wohl die Bundesregierung niemals Gedanken gemacht, hat sie sich niemals mit der massenmordenden Wirkung von Giftgas beschäftigt?
Diese Thesen der Bundesregierung sind völlig unsinnig. Hat die Bundesregierung nicht vergessen, daß es schon viele westliche - nicht nur östliche - Länder gab, die B- und C-Waffen zuerst eingesetzt haben? Mussolini setzte schon während der Athiopien-Invasion Tränengasgranaten und Senfgasbomben ein. 1942 wurde über der schottischen Insel Gruinard die erste Milzbrandbombe abgeworfen. Großbritannien setzte in einem seiner letzten Kolonialkriege Ende der 40er Jahre in Malaysia erstmals chemische Waffen ein. Schließlich warf die amerikanische Luftwaffe - nicht nur die sowjetische - Anfang 1952 auf Nord-Korea ihre ersten Bakterien-Bomben: milzbranddurchsetzte Federn, selbst Flöhe und Läuse, die Gelbfieber übertrugen. Wir wissen, daß im Ersten Weltkrieg 100 000 Giftgas-Tote und etwa 1 Million Verletzte die Bilanz waren.
Die souveräne Bundesrepublik läßt sich einerseits zum Ausgangsort einer Angriffswaffe machen, deren Ziel Völkermord ist, und rühmt sich andererseits, diese Teufelswaffe nicht selbst zu produzieren.
({9})
Es ist schlicht menschenverachtend, wenn öffentlich erklärt wird, man wisse wohl, wo das Giftgas gelagert ist - das hat Herr Würzbach, Ihr Staatssekretär, öfters getan -, nach Vereinbarung mit den
Amerikanern aber bestätige oder leugne man angenommene Lagerorte nicht.
Auf Seite 8 der Antwort schreibt die Bundesregierung, daß die Bürger nicht in ihren Grundrechten verletzt sind, und schließt dies aus den ihr regelmäßig zugeleiteten Informationen.
Eine offizielle Propagandaaktion in den Vereinigten Staaten verbreitet nun folgerichtig den Glauben, Herr Genscher, zukünftige Kriege verlangten aggressionshemmende B- und C-Waffen gegen Menschen, um „den Menschen vor den Menschen zu retten". Das ist die Sprache des Pentagons in dem Bericht über Giftgas.
Wir fragen, welche Schritte die Bundesregierung unternehmen wird - Herr Genscher, Sie hatten vorher ausreichend Zeit, das zu beantworten; Sie haben es nicht getan -, um den Abzug der amerikanischen Giftgaskampfstoffvorräte aus der Bundesrepublik nach dem Muster des erfolgreichen Vorgehens der japanischen Regierung im Jahre 1969 zu erzwingen.
({10})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Damit ist Tagesordnungspunkt 7 a bis c erledigt.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 10 des Petitionsausschusses ({0}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 10/428 -
b) Beratung der Sammelübersicht 11 des Petitionsausschusses ({1}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 10/429 Das Wort wird nicht erbeten. Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses über die in den Sammelübersichten 10 und 11 enthaltenen Anträge zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Angenommen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen
Veräußerung des bundeseigenen Geländes an der Schleißheimer Straße in München an die Landeshauptstadt München
- Drucksache 10/422 -Auch hier wird das Wort nicht begehrt. - Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags an den Haushaltsausschuß vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Frau Renger
Ich rufe die Punkte 10 und 11 der Tagesordnung auf:
10. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({2}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Veräußerung des bundeseigenen Geländes der ehemaligen Klosterkaserne in Konstanz
- Drucksachen 10/226, 10/430 Berichterstatter:
Abgeordnete Wieczorek ({3})
Dr. Hackel
Burgmann
11. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({4}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Bundeseigene Restfläche der ehemaligen
Marine-Kaserne Bremerhaven- Lehe;
hier: Veräußerung an die Stadt Bremerhaven
- Drucksachen 10/372, 10/431 Berichterstatter:
Abgeordnete Wieczorek ({5})
Dr. Hackel
Burgmann
Es handelt sich hierbei um Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung von Grundstücken. Der Ausschuß empfiehlt, der Veräußerung zuzustimmen. Wird das Wort dazu gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Ich lasse über beide Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. Wer den Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 10/430 und 10/431 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - So beschlossen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zu bestimmten Beförderungen im Binnenverkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind
- Drucksachen 10/358 Nr. 92, 10/410 Berichterstatter: Abgeordneter Berschkeit
Das Wort wird nicht gewünscht. - Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf der Drucksache 10/410 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Oktober 1983, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.