Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/12/1986

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Vermögensbildungsgesetzes - Drucksache 10/5981 - zu erweitern. Der Gesetzentwurf liegt auf dem Drucksachenwagen in der Eingangshalle vor. Wird hierzu das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer der Rufsetzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen. Ich rufe dann den soeben aufgesetzten Gesetzentwurf auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer durch Kapitalbeteiligungen ({0}) - Drucksache 10/5981 Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/5981 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, zur Mitberatung an den Finanzausschuß und den Ausschuß für Wirtschaft sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir setzen nunmehr die Aussprache über den Entwurf des Haushaltsgesetzes 1987 und über den Finanzplan des Bundes 1986 bis 1990 - Drucksachen 10/5900 und 10/5901 fort. Ich erteile das Wort der Frau Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den umfangreichsten Haushalt, den dieses Ministerium seit seinem Bestehen zu verwalten hat. Es ist das Zahlenwerk einer erfolgreichen Politik. ({0}) Denn darüber besteht kein Zweifel: Wir schreiben mit diesem Haushalt eine Politik fort, mit der wir ein neues Kapitel in der Geschichte der Politik für die Familien, für die Frauen und die jungen Menschen in unserem Lande aufschlagen. Familienpolitik ist eine Zukunftsfrage in unserer Gesellschaft und daher Zukunftspolitik. ({1}) Wir haben in diesen Tagen viel von der Kultur und der Zukunft unseres Landes, unserer Gesellschaft gesprochen. Ich denke, derjenige, der darin nicht die Familie verankert, muß sich fragen lassen, wie er die Zukunft dieses Landes gestalten will. Die SPD behandelt die Familie in ihren unterschiedlichen Aussagen als Marginalie, so in dem Grundsatzentwurf, dem Irseer-Programm, in dem für alle Zukunftsfragen ein eigenes Kapitel vorgesehen ist, nur die Familie wird auf ein paar Zeilen beschränkt. ({2}) Anders sieht es in Ihren Anträgen aus, die Sie auf Ihrem Nürnberger Parteitag unmittelbar gestellt haben. Ich denke, Familie braucht mehr als eine Legislaturperiode und will erst recht nicht in einer Weise in den Wahlkampf hineingezogen werden, daß sie dann nach kurzer Zeit erfahren muß, daß von ihr nicht mehr die Rede ist. ({3}) Das ist eine Politik, ({4}) die die Familien nicht überzeugen kann. ({5}) Die Familie braucht im Rahmen ihrer langfristigen Verbindlichkeiten, die sie in bezug auf Kinder und die ältere Generation eingeht, für die Zukunft auch langfristige Vorteile und nicht kurzfristige Bezuschussungen. In diesem Sinne ist sie für uns ein Schlüsselbereich, und diesem Schlüsselbereich haben wir in umfangreicher Weise Rechnung getragen. ({6}) - Schlüsselkinder haben Sie geschaffen, ({7}) indem Sie in erster Linie gefragt haben, wie Familie mit Gleichberechtigung zu vereinbaren ist. ({8}) Aber Familie hat einen eigenen Stellenwert. Es ist mißlich und unredlich, wenn wir immer wieder so tun, als ließe sich Familien- und Frauenpolitik gegeneinander ausspielen. Das eine ist eine notwendige und solide Familienpolitik, bei der alle Mitglieder der Familie berücksichtigt werden. ({9}) Das andere ist eine Frauenpolitik, die weder zu Lasten der Familie noch zu Lasten der Frauen gehen darf. Und dafür reichen Einheitsmodelle nicht aus. Das Leben von Familien ist vielfältiger, als daß wir es mit einem Einheitsmodell lösen könnten, wobei wir uns immer mehr den bisherigen Strukturen anpassen und die Familie darauf reduzieren, daß man maximal drei Jahre für sie freigestellt ist, statt einen unterschiedlichen Wechsel zwischen Familie und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Zunächst haben wir mit einer langanhaltenden Benachteiligung der Familie, mit ihrer Rand- und Außenseiterstellung Schluß gemacht, und dies nicht nur indem wir Schluß gemacht haben mit einer sozialen Wohltatenpolitik, sondern Leistungen in der Familie im Steuerrecht anerkennen. Dies ist nicht nur ein Gebot, das uns die Verfassung vorgibt, nämlich wenigstens das Existenzminimum der Familien im Steuerrecht steuerfrei zu lassen, sondern dies ist eine Notwendigkeit, die uns die Familien selbst auferlegen, und in allererster Linie ist es eine Notwendigkeit, die wir den Kindern schulden, ({10}) weil wir in all den Jahren versäumt haben, unsere Gesellschaft von den Belangen der Jüngsten, der Zukunftsträger her zu organisieren, und einseitig gefragt haben, was getan werden muß, damit die Bereiche außerhalb der Familie erstarken, nicht die Familie selbst. Insofern gehört Familienpolitik in einen engen Zusammenhang zur Frauen-, Alten-, Jugend- und Gesundheitspolitik. Als Querschnittspolitik kann sie sich nie darauf beschränken, wirtschaftliche Hilfen für Familien bereitzustellen. Die Umwelt der Familie ist ebenso entscheidend wie das Innere der Familie. Deswegen gehören Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik und Alterssicherungspolitik zur Familienpolitik. Sie ist eine Querschnittsaufgabe. ({11}) Die Leistungsbilanz der Familienpolitik kann sich sehen lassen: beginnend mit dem Erziehungsgeld, das es nun für alle Mütter oder Väter gibt, die sich der Erziehung und Betreuung ihres Kindes im ersten Lebensjahr widmen. Zeiten der Kindererziehung werden erstmals in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt. Eltern mit Kindern zahlen weniger Steuern oder bekommen einen Zuschlag zum Kindergeld. Für junge Menschen über 18 Jahre ohne Ausbildungs- und Arbeitsplatz gibt es wieder Kindergeld. Die Ausbildungsförderung wurde schrittweise verbessert. ({12}) Alleinerziehende können Betreuungsaufwendungen von der Steuer absetzen. Die Mittel für die Bundesstiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" sind erhöht worden und werden weiter um 20 Millionen DM erhöht. ({13}) Ein entsprechendes Gesetz liegt dem Bundestag zur Beschlußfassung vor. Insgesamt gibt es 10 Milliarden DM mehr für unsere Familien. Eine solche Verbesserung gab es seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht. Unsere Familienpolitik ist sozial gerecht, kinderfreundlich, partnerschaftlich und frauenfreundlich. Sie ist sozial, weil die Familien mit dem geringsten Einkommen mehr bekommen, als sie bisher gehabt haben. ({14}) Der Kindergeldzuschlag bis zu 46 DM für jedes Kind bedeutet fast eine Verdoppelung des Kindergeldes für das erste Kind. Die Kindergeldkürzung für Besserverdienende bleibt bestehen. ({15}) Das Erziehungsgeld wird auf Sozialhilfe und auf das Wohngeld nicht angerechnet. Unsere Familienpolitik ist gerecht, weil die Familien mit Kindern weniger Steuern zahlen als diejenigen, die keine Kinder haben. ({16}) Sie ist kinderfreundlich, weil mit der Anerkennung von Erziehungsjahren, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und Kinderfreibeträgen sowie Kindergeld für arbeitslose Jugendliche und für solche, die keinen Ausbildungsplatz haben, die größten Verbesserungen für die Familien durchgesetzt wurden, die es in der Bundesrepublik Deutschland jemals gegeben hat, weil wir damit eine Wertentscheidung getroffen haben, unsere Politik von den Kindern her zu planen. Sie ist partnerschaftlich, weil junge Eltern nun freier entscheiden können, wie sie ihre Aufgaben in Familie und Beruf untereinander aufteilen. Sie ist frauenfreundlich, weil sie alle Frauen gleichbehandelt. Wir haben endlich den Graben zwischen Frauen, die sich den Aufgaben in der Familie widmen, und den Frauen, die außerhalb erwerbstätig sind, zugeschüttet. ({17}) Landfrauen und Frauen Selbständiger stehen heute nicht mehr abseits, sondern sind in unsere Gesetze einbezogen. ({18}) Wenn ich noch einmal von den Landfrauen spreche, dann möchte ich einen engen Zusammenhang herstellen zur Vernachlässigung der ländlichen und dörflichen Kultur. Familien spüren sehr wohl, daß ihnen in der Vergangenheit Wesentliches in ihrem Umfeld weggenommen worden ist. Wir meinten, bildungspolitisch fortschrittlich zu sein, indem wir die Schulen in den Dörfern schlossen, wodurch auch die dörfliche Jugendarbeit, die Kulturarbeit mehr und mehr verschwand, die in enger Vereinigung von Lehrern, Priestern - oder Geistlichen - und den Familien wahrgenommen wurde. ({19}) Notwendig ist, daß wir die ländliche Kultur nicht weiter aushöhlen, sondern sie aufs Land zurücktragen. ({20}) Das ist zugleich auch Politik für die Familien auf dem Lande, die ihre Kinder und sich selbst in eine Heimat, in ein Zuhause eingebunden wissen möchten und damit Mobilität nur in Verbindung mit sozialer Verwurzelung wollen. Zum erstenmal in unserer Sozialpolitik wird mit der Anrechnung der Erziehungsleistung in der Rentenversicherung die Arbeit in der Familie anerkannt. In den Familien wird heute eine Arbeit geleistet, die 68 % der Arbeit entspricht, die zur Erwirtschaftung des Bruttosozialprodukts aufgewendet wird. Diese Vergleichszahl macht deutlich, daß die gesellschaftliche Aufwertung der Familienarbeit längst überfällig ist. Diese Bundesregierung hat den ersten Schritt getan. Ich sage schon heute, daß wir sehr am Anfang dieser Entwicklung stehen, aber an einem Wende- und Scheidepunkt. Mit den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, daß wir die soziale Sicherung der Menschen, die Anerkennung der Leistung nur über die außerhäusliche Erwerbsarbeit regeln, grenzen wir große Gruppen aus, und wir grenzen entscheidend die Frauen aus, die in der Familie ihre Arbeit nicht nur für die Kinder, sondern im Mehrgenerationenverbund leisten und die sich extrem ungerecht behandelt fühlen. ({21}) Zu dieser Aufwertung gehört deswegen notwendigerweise in den nächsten Schritten die Anerkennung der Pflegetätigkeit in der Familie, die für die nächste Legislaturperiode angekündigt ist, aber auch die Lösung der großen Frage: Wie sieht die Alterssicherung derjenigen aus, die sich langjährig auf die Familie, auf Familienangehörige einlassen? Wenn Sie sich genauer mit der Thematik beschäftigen, stellen Sie auch dort fest, daß der höchste Anteil dieser Pflegetätigkeit auf dem Lande erfolgt mit zum Teil gravierenden Problemen in den Familien, wenn wir an die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft denken, wo dringend Entlastungen notwendig sind. Wir gehen nicht davon aus, daß Familienkultur dadurch gefördert werden kann, daß wir Familien allein lassen oder überfordern. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, daß wir nicht einfach sagen, die Familie sei imstande, noch viel mehr zu leisten. Sie soll vielmehr das tun, was sie tun möchte, ohne dafür überfordert oder bestraft zu werden. Ich sage draußen oft: Ich wünsche mir, daß für die Familien der gleiche Grundsatz wie in der sozialen Marktwirtschaft gilt: daß man für Leistung belohnt und nicht bestraft wird. ({22}) Die Sozialdemokraten werfen uns vor, unsere Familienpolitik sei eine Politik für die Reichen, ({23}) sie sei unsozial ({24}) und belaste die Menschen, die wenig verdienen. ({25}) - Gerade Sie müssen mit solchen Angriffen antworten, die Sie die Belange von Familien nicht recht unterzubringen wissen. Wenn es Ihnen wirklich so wichtig gewesen wäre und wenn aus der Einführung des Kindergeldes 1975 eine Besserstellung der Familien erfolgen sollte, dann frage ich mich, warum nie eine Dynamisierung des Kindergelds in regelmäßigen Abständen erfolgte. ({26}) Ich vermag nicht zu erkennen, warum für diesen Familienlastenausgleich nicht gleiche Regelungen wie für die Rentenerhöhungen gegolten haben. Insofern sind die Familien durchgängig zurückgefallen. ({27}) Viele haben recht gehabt, die erklärten: Die Leistungen für die Familien in den 50er und 60er Jahren waren familienfördernder als die in den 70er Jahren. ({28}) Die zweite Frage, die ich stellen muß: Wir haben eine Fülle von Freibeträgen im Steuersystem. Bei kaum einem wird gefragt, wie denn das Entlastungssystem sei, ({29}) auch nicht bei der Kilometerpauschale. Wenn ich die wenigen Fragen hernehme, die überhaupt bei den Freibeträgen unter diesem Gesichtspunkt angegangen werden, muß ich sagen: Ausgerechnet beim Kind - ({30}) - Ich meine, daß Kinder mehr sind als Werbungskosten ({31}) und vor allem anderen im Steuerrecht ihre Berücksichtigung finden sollten. ({32}) Es hat lange gedauert, bis wir das überhaupt begriffen haben, daß wir in der Familienpolitik ohne steuerliche Berücksichtigung eine Einbahnstraße fahren. ({33}) - Wenn Sie sich das anders denken, dann möchte ich sehen, wo die Leistungen liegen. Während Sie mit Ihren neuen Beschlüssen ein einheitliches Kindergeld von 100, 200, 300 DM vorschlagen, gehen unsere Vorstellungen hier erheblich weiter. Denn 100 DM haben wir jetzt - ({34}) -100 DM bekommt schon jetzt praktisch jeder, der ein erstes Kind hat. Und die Ausweitung der familienpolitischen Leistungen in der nächsten Wahlperiode soll zu mehr als 100 DM beim ersten Kind führen und vielleicht nicht ganz 200 DM beim zweiten und zu mehr als 300 DM beim dritten. Ich frage, was es denn anderes als Augenwischerei ist, wenn wir uns hier gegenseitig Zahlen vorwerfen, bei denen ganz deutlich wird, daß unter dem Strich nicht mehr, sondern in manchen Punkten weniger herauskommt. Die entscheidende Frage ist doch, wie wir für die Entlastung der Familie im Bereich der Kinderkosten mehr tun.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Entschuldigen Sie, Herr Westphal; ich möchte meine Redezeit ausnutzen. ({0}) Ich verweise abschließend darauf, daß die Einführung eines einheitlichen Kindergelds nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu mehr Ungerechtigkeit geführt hat ({1}) und daß Sie neben dem Kindergeld ja auch immer Freibeträge, sei es beim Kinderbetreuungsbetrag oder bei den Ausbildungsfreibeträgen, ({2}) vorgesehen und zugelassen haben, ohne es grundsätzlich zu problematisieren. Sie verschweigen in Ihrer Auseinandersetzung mit unserer Familienpolitik auch durchgängig, daß wir beim Kindergeld Einkommensgrenzen gezogen und damit die Entlastung nach oben hin begrenzt und einen einheitlichen Kindergeldzuschlag für diejenigen verankert haben, die den Freibetrag nicht nutzen können. So fällt es mir leicht, gerade mit angesehenen Verfassungsrechtlern wie Böckenförde oder Zeitler darauf aufmerksam zu machen, daß diese die Anerkennung von Familienleistungen im Steuerrecht nicht nur für unverzichtbar, sondern auch für längst überfällig halten. Ich denke, daß diese Urteile, die in der Fachwelt unumstritten sind, auch in Ihrer Fraktion zur Kenntnis genommen und anerkannt werden. ({3}) - Ich beziehe mich auf das, was in Verbindung auch und gerade mit dem Verfassungsgerichtsurteil für unsere zukünftige Politik Grundlage sein muß, ({4}) auch für Ihre, wenn Sie nicht gegen das Verfassungsgerichtsurteil verstoßen wollen. ({5}) Wenn die Familienpolitik, wie Sie sagen, sozialer werden soll, wenn mehr für die Familien getan werden soll, als wir es bisher getan haben, dann möchte ich einmal kritisch zurückfragen: Wo sind Ihre beredten Beispiele? Wenn nicht im Bund, so müßte ich fragen: Wie sieht es in den SPD-regierten Ländern aus? ({6}) Es ist mißlich, zu sagen, dies sei eine Angelegenheit des Bundes, wenn in einer Reihe von CDU-regierten Ländern zu den Leistungen des Bundes Leistungen der Länder hinzukommen. Ich frage mich, wie in Nordrhein-Westfalen eine glaubwürdige Familienpolitik für den Bund angekündigt werden soll, wenn gleichzeitig im vorigen wie auch in diesem Jahre gerade in der Familienpolitik und in der Jugendpolitik massiv eingespart worden ist, ({7}) in der inneren Familienpolitik um 56 Millionen DM und in der Jugendpolitik um 308 Millionen DM. ({8}) Wenn das Modell, das Sie vortragen, wirklich beispielhaft sein möchte, dann brauchen wir auch sichtbare Zeichen, wo es beispielhaft praktiziert wird. Sonst müssen Sie die Bürger fragen lassen: Wo ist denn die Familienpolitik der SPD? ({9}) Sie kritisieren das Erziehungsgeld. Wie kommt es, daß, wenn es so schlecht wäre, 96 % der Anspruchsberechtigten das Erziehungsgeld auch in Anspruch nehmen? Wie kommt es, daß auch Sie inzwischen, wenn auch wieder gespalten nach erwerbstätigen Müttern und nichterwerbstätigen Müttern, für ein Erziehungsgeld eintreten? Wenn ich mir die Nürnberger Anträge ansehe, dann komme ich zu der Vermutung, daß Sie die Familienpolitik der Koalition gar nicht schlecht finden. Sonst würden Sie nicht mehr und mehr von ihr übernehmen und nachziehen. ({10}) So schlecht kann unsere Familienpolitik nicht sein, wenn Sie mehr und mehr Elemente übernehmen. ({11}) Lassen Sie mich einen wichtigen Punkt herausheben, der meines Erachtens zwischen allen Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht streitig sein dürfte, nämlich den Schutz des ungeborenen Lebens. Wir haben in diesen Jahren eine entscheidende Veränderung in den Einstellungen, in der Wahrnehmung des Problems in weiten Teilen der Bevölkerung zu verzeichnen. Die Sensibilität für den uneingeschränkten Schutz des Lebens von Anfang an bis hinein ins hohe Alter wird mit mehr Nachdenklichkeit und Behutsamkeit zur Sprache gebracht, als das vor Jahren der Fall war. Wir haben als Politiker dafür Sorge zu tragen, daß die Zahl der Männer und Frauen, die beispielsweise in einer Notlage einen Abbruch der Schwangerschaft erwägen, weiterhin drastisch zurückgeht. Es kann uns nicht egal sein, daß so viele Frauen in einer Konfliktlage stehen und zur Abtreibung greifen. Ich recherchiere nicht die Motive, kann nicht genau ermessen und maße es mir auch nicht an, wo Verzweiflung und Mißbrauch vorliegen. Aber ich sehe es als unsere Aufgabe an, die Probleme der sozialen Indikation sozial zu überwinden und hier das äußerste zu tun, was auf der Ebene der wirtschaftlichen und sozialen und menschlichen Hilfe möglich ist. ({12}) Wir lösen diese Probleme nicht mit den Mitteln des Strafrechts, ({13}) aber mit unserem engagierten Einsatz für die Menschen. Wenn wir in dieser Woche beschlossen haben, erneut die Stiftungsmittel zu erhöhen, dann möchte ich all diejenigen, die sie heftig bekämpft haben, heute darüber informieren, daß die Nachfrage nach Stiftungsmitteln wächst und wächst, daß der Anteil der Menschen, die sie in Anspruch nehmen, größer ist als die Mittel, die wir zur Verfügung stellen. Wir stellen ein zweites fest: daß die Mittel absolut unzureichend sind in den SPD-regierten Ländern, ({14}) wo die Zunahme der Anträge zwischen 56 und 70 % liegt. Können wir es wirklich verantworten, nur weil Sie meinen, Stiftung gebe keinen Rechtsanspruch, nichts zu tun, Ihren Beitrag zur Minderung der Konfliktlage zu verweigern? ({15}) Ich kann hier nicht einsehen, daß es glaubwürdige Argumente gibt. Wenn Ihnen die Stiftung wegen ihres Rechtscharakters unzureichend erscheint, wenn Sie es für unzumutbar halten, daß jemand um Geld anfragt und bittet, dann schaffen Sie andere Möglichkeiten in den Ländern, ganz gleich, welche Regelung Sie treffen. ({16}) Wie ernst wir dieses Problem nehmen, sehen Sie an folgendem. Da muß ich Sie allerdings doch daran erinnern, daß es in der Geschichte der Sozialhilfe erstmalig in dieser Legislaturperiode passiert ist, daß wir das Erziehungsgeld weder auf die Sozialhilfe noch auf das Wohngeld anrechnen. ({17}) Ich muß Ihnen sagen, wenn dies keine glaubwürdige Politik gerade für ledige Mütter ist, die in einem höheren Maße auf Sozialhilfe angewiesen sind, dann - ({18}) - Das hat nichts mit unserer Politik zu tun; die war vorher schon da. ({19}) Ich muß Sie fragen: Was haben Sie denn in dieser Zeit in diesem Bereich getan, ({20}) um die Konfliktlage zu verringern? Sie haben sich auf das Strafrecht konzentriert und haben dies abgebaut. ({21}) Ich kenne sehr wohl den Antrag und die Aussage, die damals unter anderem auch von Herbert Wehner unterstrichen worden ist. Nur, die haben Sie nicht umgesetzt, ({22}) durch alle Hilfen den Frauen die Konfliktlage zu erleichtern, hier auch konkrete Hilfen zu gewähren. Mir ist keine einzige bekannt. ({23})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Frau Bundesministerin, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage zu?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Ja, bitte schön.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Süßmuth, sollte es Ihnen wirklich entgangen sein, daß infolge der Beschlußfassung von 1976 sowohl die Mittel für Aufklärung im Bereich der Sexualerziehung wie auch der Verhütungsmittel wie auch die Mittel zur Verstärkung von Rechten für Frauen erheblich ausgebaut wurden und auch unsere Gesellschaft auf Kinderfreundlichkeit umgestellt wurde, ({0}) und würden Sie nicht der Meinung sein, daß auch dieses, nachdem Ihre Regierung jetzt so viel gestrichen hat, endlich anerkannt werden müßte? ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Ich möchte dazu antworten, daß Aufklärung denjenigen hilft, die nicht in eine Konfliktlage kommen wollen, ({0}) aber nicht denen hilft, die die Aufklärung vielleicht vom Kopf her erreicht hat, die jedoch trotzdem in diese Lage gekommen sind. Da sind die Hilfen ganz entscheidend. Da hilft mir die Aufklärungsbroschüre nicht und auch nicht die Beratung in einer Einrichtung. ({1}) Ich sage damit nicht, daß eine umfangreiche Aufklärung nicht dringend erforderlich ist und wir einen Umgang mit dem menschlichen Leben brauchen, der verantwortlich ist. ({2})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für die Rednerin.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Minister:in)

Politiker ID: 11002287

Aber dies ist keine Antwort auf Konfliktlagen. Wenn Sie von kinderfreundlicher Gesellschaft sprechen, dann bestreite ich nicht, daß Sie das Modell Tagesmütter erprobt haben. Aber in all den Jahren - das ist unsere gemeinsame Anfrage - ist der Anteil der familienergänzenden Hilfen gerade für diese Personengruppe nicht erhöht worden. Wir liegen noch immer unter 1 %, wenn es um familienergänzende Betreuung geht. Für diese Mütter sind Hilfen dringend erforderlich. Auch dies muß in den nächsten Jahren massiv in Angriff genommen werden. ({0}) Wichtig ist, daß die Mütter und Väter einerseits selbst Zeit haben - das wollen sie - für die Zuwendung zum Kind und das Zusammenleben mit dem Kind. Aber in vielen Fällen gibt es keine andere Lösung sowohl zum Wohl der Mutter wie auch des Kindes, als die, daß wir auch über die familienergänzenden Hilfen das Zusammenleben mit dem Kind ermöglichen. Beides gehört für mich eng zusammen. ({1}) - Ich bin froh, daß wir da eine Gemeinsamkeit haben. ({2}) - Ich spreche nicht nur, ich handle auch, und das ist für mich entscheidend. ({3}) Wir haben 1982/1983 sparen müssen, ({4}) aber wenn Sie sich das Sozialbudget anschauen und wenn Sie sich die Kurve in der Familienpolitik anschauen, dann registrieren Sie einen Zuwachs, der weit über die Leistungen in der Zeit hinausgeht, bevor Sie familienpolitische Einsparungen vorgenommen haben. ({5}) - Das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche haben nicht wir gestrichen, sondern Sie. ({6}) Ich frage mich, was daran sozial ist. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang in Verbindung mit dem Schutz menschlichen Lebens noch einmal auf eines zurückkommen. Ich wünsche mir ein gemeinsames Engagement nicht nur in der Frage dessen, was wir verkürzt § 218 nennen. Ich bin der Auffassung, daß wir angesichts der Gentechnik an einem Scheideweg stehen und daß wir hier nicht zwischen Wissenschaft und Forschung einerseits und einem Schutz des ungeborenen Lebens andererseits unterscheiden sollten. Dies ist unteilbar. ({7}) Ich glaube, daß es an der Zeit ist, uns schützend vor Art. 1 des Grundgesetzes zu stellen. Ich habe große Sorgen, wenn wir alles allein der Wissenschaft, den Juristen, den Philosophen und - wie ich dem letzten Tübinger Kongreß entnehme - auch den Moraltheologen überlassen. Wenn wir dahin kommen, daß wissenschaftlich nicht mehr begründbar ist, was die Würde des Menschen ist, dann ist das der Ausverkauf einer Gesellschaft. ({8}) Dann frage ich lieber die einfachen Menschen, die mir sehr viel schlichter und plastischer sagen können, wo sie ihre Menschenwürde verletzt sehen. Offenbar ist uns der gesunde Menschenverstand in diesem Bereich ein Stück abhandengekommen, wenn wir hochtheoretisch über Würde des Menschen diskutieren. Wenn wir hier der Genmanipulation am Menschen rechtzeitig vorbeugen, dann entsprechen wir unserer Verantwortung für die Zukunft. Ich sage in diesem Raum, daß mir immer mehr Behinderte mit der Frage begegnen: Haben wir noch ein Lebensrecht, wenn demnächst durch entsprechende Genmanipulation Behinderungen verhinderbar wären? Aus Israel zurückkommend, muß ich Ihnen sagen: Auch die Überlebenden des Holocaust, diejenigen, die in Israel Erfahrungen mit der Mengele-Forschung gemacht haben, sagen mir um so intensiver und machen mich mitverantwortlich für das Problem: keine Experimente an Menschen und an menschlicher Genmasse! ({9}) Das, was für den Umgang mit dem ungeborenen, mit dem behinderten Leben gilt, gilt insbesondere auch für den Umgang mit älteren Menschen. Hier haben wir vielleicht in den letzten Jahren - nach meiner Auffassung durch die älteren Menschen selbst - am meisten hinzugelernt. Glauben wir nicht, daß wir ihnen in irgendeiner Weise mit Betreuung und Bevormundung begegnen können! Sie haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis in das hohe Alter. Das bedeutet, daß wir nicht vorzuschreiben haben, wie sie wohnen, wie sie sich betätigen. Es ist längst an der Zeit, daß wir mit den Möglichkeiten voranschreiten, die Erfahrungen der Älteren in den Familien, im Gemeinwesen, im Staat zu nutzen. ({10}) Ich denke, daß die Fortschritte in erster Linie in der Aktivierung der Alten selbst liegen, daß wir aber noch Erhebliches im Bereich der Absicherung des Pflegerisikos im Alter zu leisten haben. ({11}) Die Jüngeren können sich früh versichern; für die Älteren haben wir, Bund, Land und Gemeinden, dafür einzutreten, daß sowohl durch Leistungen der Sozialstationen wie auch für diejenigen Fälle, die der Heimpflege bedürfen, Sicherheit gegeben ist. Dies sehe ich als eine ganz wichtige Aufgabe in der nächsten Legislaturperiode an. Wir haben den Anfang gemacht. Dazu gehört auch die Entlastung der Pflegenden, von denen heute eine große, eine wachsende Zahl unter Überforderung leidet. Wir nehmen sie meistens nicht wahr. Die Bereitschaft, Pflege zu erbringen, ist groß; aber dies kann uns nicht berechtigen, die Pflegenden zu überfordern und sie zu den Pflegebedürftigen von morgen zu machen. Ich möchte in einem weiteren Teil etwas zur neuen Partnerschaft in dieser Legislaturperiode sagen. Ich denke, daß die Gleichberechtigung ein langer Weg ist, auch ein mühsamer Weg, weil wir uns in der Regel rasch zufriedengeben, wenn formal die Gleichberechtigung hergestellt ist. Ich habe die fehlende Gleichberechtigung im ersten Teil am Beispiel der Familienpolitik dargestellt und aufgezeigt, wie wir sie schrittweise abzubauen suchen. Da liegt noch ein großes Kapitel vor uns. Aber die Frage der Gleichberechtigung stellt sich in Ausbildung, im Beruf - ({12}) - Das sage ich uns allen, auch Ihnen; denn wenn Sie das Problem gelöst hätten, hätten wir es ja heute nicht weiter zu bearbeiten. ({13}) Wenn uns gesagt wird, unsere Politik verfolge nichts anderes, als die Frauen wieder ins Haus zurückzubringen, sie auf die alten Rollen festzulegen, dann muß ich Sie fragen - ({14}) - Herr Blüm sagt nichts anderes als ich; ich werde es Ihnen gleich wiederholen. ({15}) Wenn Sie uns dies vorwerfen, muß ich Sie fragen: Warum sind dann so große Anstrengungen unternommen worden, nicht allein Erziehungsgeld zu zahlen, sondern auch den Erziehungsurlaub mit dem Erziehungsgeld zu koppeln? Glauben Sie, daß wir so verschlossen durch die Gegenwart liefen und nicht sähen, daß sich Lebenspläne von Männern und Frauen verändert haben und daß die Frage nach der Zukunft, der weiteren Perspektive eine ganz entscheidende ist? Das gilt auch für die Frage, was nach der Unterbrechung folgt, ob ich wieder zurück in den Beruf kann. Dies gilt nicht nur für die jüngeren Frauen, sondern auch für die Frauen, die langjährig in der Familie tätig waren. Über das Arbeitsförderungsgesetz haben wir ebenfalls neue Schritte eingeleitet, um deren Rückgliederung zu erleichtern. Dies reicht nicht aus, aber ich halte es für entscheidend, daß Unterbrechung und Wechsel möglich sind und daß wir uns nicht auf ein Einheitsmodell mit einer einmaligen dreijährigen Unterbrechung festlegen. Größere Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfordert für Frauen und Männer ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Das macht die Politik komplizierter, aber auch menschennäher und menschengerechter. Dazu gehört eine stärkere Ausrichtung in der Arbeitswelt auf die Familie. Dazu gehört in der Politik, die Gesetze nicht nur nach den Lebensläufen von Männern auszurichten, sondern darauf zu achten, daß in gleicher Weise die Lebensläufe von Frauen einbezogen werden. ({16}) Wir sind bisher offenbar davon ausgegangen, daß man nach der Ausbildung in den Beruf eintritt und mit dem Rentenalter aus ihm herausgeht. - Wenn Sie entsetzt sind, dann muß ich Ihnen sagen - ({17}) - Die sind gar nicht entsetzt. ({18}) - Manchmal ist Nachdenklichkeit besser als spontaner Applaus. ({19}) - Sie ahnen gar nicht, wie schnell Frauen neue Dinge kennenlernen, auch Fraktionen. ({20}) - Den werden wir schon haben. Ich mache dies noch einmal deutlich, um uns zu vergegenwärtigen, daß wir sowohl im Arbeitsförderungsgesetz als auch in der Rentenpolitik neue Wege einzuschlagen haben, wenn wir nicht fortfahren wollen, Familien- und Frauenpolitik als Sonderbereich zu sehen, der in allen anderen Bereichen nicht verankert ist. Deswegen sollten Sie bei der Kritik am Beschäftigungsförderungsgesetz zunächst einmal fragen, für wen es mehr Zugänge schafft. Wir alle sind uns einig, daß wir dies nicht als Antifrauengesetz wollen. Es wäre aber vorschnell zu sagen, es gehe einseitig zu Lasten der Frauen; dies können Sie nicht einmal belegen. ({21}) Darüber können wir uns intensiv auseinandersetzen. Das tue ich auch seit geraumer Zeit; wir werden die Daten austauschen. ({22}) - Ich drücke mich vor überhaupt nichts, auch nicht vor dem Beschäftigungsförderungsgesetz. ({23}) Was uns unterscheidet, ist, daß Sie die Probleme durch einheitliche Regelungen für alle lösen wollen und nach wie vor nicht bedenken, daß die Lebenssituationen von Menschen und Familien so vielfältig und unterschiedlich sind, daß die Politik nur bedingt angemessene Regelungen finden kann. Darauf sollten wir wenigstens ein paar Gedanken mehr verwenden. ({24}) Für die Lebensqualität ist es entscheidend - ich bringe das nicht unter dem plakativen Ausdruck „Wahlfreiheit", aber was darin liegt, ist das Richtige -, daß mehr Handlungsspielräume und Entscheidungsspielräume für Individuen bleiben, wie sie ihr Leben planen, und daß wir jene Zwänge zurücknehmen, die nicht notwendig sind, wo es uns auch nicht ansteht, Menschen zu sagen, wie sie zu leben haben. ({25}) Ich weiß, daß in der Frauenpolitik noch viel zu tun bleibt. Wir haben die Frauenförderpläne auf den Weg gebracht, wir haben uns bemüht, erstmalig eine Frauenhausfinanzierung zu vereinbaren, und wir sind dabei, die Tarifpartner aufzufordern, in den Tarifabschlüssen verstärkt die Belange von Frauen zu berücksichtigen, die bisher nicht vorkommen. ({26}) Es ist notwendig, daß wir im Bereich der familienergänzenden Betreuung im ersten Schritt die Öffnungszeiten abändern, um nicht Teilzeitarbeitsplätze zu vermehren und sie nicht wahrnehmen zu können, weil nicht einmal die Öffnungszeiten abgestimmt sind. Ich denke, daß wir noch eine Menge zu tun haben, um Frauen angemessen in Führungspositionen und in der Politik zu beteiligen. Dies ist vielleicht der mühsamste Weg, aber - ich sage dies auch in die Öffentlichkeit hinein - was wäre denn aus den Belangen von Kindern und Jugendlichen geworden, wenn wir Frauen ohne Rücksicht auf die Kinder in den Positionen wären, die uns von unserer Qualifikation her zustehen? ({27}) - Warten Sie es ab. ({28}) Ich bin der Meinung, daß in der jungen Generation und in der Generation der Großväter die günstigsten Voraussetzungen gegeben sind, um nicht nur ein Umdenken, sondern auch ein anderes Handeln auf den Weg zu bringen. Ich bin allerdings auch der Meinung, daß wir dies nur schaffen, wenn wir gleichzeitig Bewußtsein und Strukturen verändern. Solange wir die alten Zwänge auch in der Arbeitswelt beibehalten, sehe ich nicht, daß Männer mehr Väter werden. Daß ihnen dabei Maßgebliches entgeht, können wir ihnen gar nicht oft genug sagen. Das ist ein Verlust an menschlicher Qualität. ({29}) Um die Frauenpolitik erfolgreich weiterzuführen, ist in dieser Legislaturperiode entschieden worden, daß dies über ein Frauenministerium, über ein Ressort erfolgen soll. Ich denke: Dies ist der beste und geeignetste Weg, denn bei allen bisher gefundenen Lösungen kommen wir immer wieder zu demselben Dilemma: Wo können denn die so Beauftragten tatsächlich für die Frauen wirksam tätig werden? Mit der mir übertragenen Zuständigkeit, die in den nächsten Monaten faktisch und in der nächsten Legislaturperiode rechtsförmlich festgelegt wird, werde ich diese Politik mit Leben ausfüllen. ({30}) Ich glaube, uns Frauen wird es an Phantasie nicht fehlen. Wir werden schon hinreichend lästig werden. ({31}) Ich gehe davon aus, daß keiner meiner Kabinettskollegen, daß kein Parlamentarier sich nachweisen lassen möchte, daß er nicht mit an der Spitze der Bewegung steht, wenn es um mehr Gleichberechtigung geht. ({32}) Ich komme zum Abschluß, denn ich sehe, daß ich meine Zeit schon überzogen habe. Ich denke, daß es in der Familien- und Frauenpolitik nicht angeht, nicht gleichzeitig intensiv Kinder- und Jugendpolitik zu betreiben. In dieser Legislaturperiode haben wir vielleicht die schwierigste Phase in der Jugendpolitik hinter uns gebracht, und bei aller Kritik, die Sie anbringen mögen: Es ist eine sehr positive Bilanz, so viele junge Menschen in Ausbildungsplätze hineingebracht zu haben ({33}) und gleichzeitig über Benachteiligtenprogramme einem hohen Anteil der Jugendlichen, die schwer in Ausbildungsplätze zu vermitteln sind, eine Perspektive zu geben. Mir ist es heute aus der Erfahrung mit Jugendlichen in diesen Bereichen ein Anliegen, zwei Dinge ganz massiv überzubringen. Wir unterschätzen die zu entwickelnden Fähigkeiten der Schüler mit und ohne Hauptschulabschluß. Bei entsprechender Förderung, so kann ich Ihnen nur sagen, sind sie zu mehr befähigt, als wir ihnen zunächst zuschreiben. ({34}) Deswegen fördern wir weiterhin diese Benachteiligtenprogramme. Es ist mir ebenfalls ein Anliegen, daß wir bei allen Ansprüchen, die wir an lebenslange und qualifizierte Bildung stellen, nicht länger dem Trugschluß erliegen, daß die beste Bildung eine theoretische sei. Wir brauchen mehr Praxis und anschauliche Bildung. Dann haben wir auch weniger Benachteiligte. ({35}) Aber wir brauchen auch eine Jugendpolitik, die wir nicht nur einseitig auf die Ausbildungs- und Beschäftigungsfrage ausrichten. Wenn wir nicht gleichzeitig der Jugend eine Antwort geben: Wofür lebt ihr, wofür setzt ihr euch ein? greifen wir zu kurz. Das soziale Engagement der Jugend ist vorhanden. Wir müssen dafür entsprechende Anregungen geben und auch Angebote machen. Deswegen trifft es nicht zu: einfach Sparpolitik. Der Bundesjugendplan ist nicht nur auf dem bisherigen Niveau verblieben, sondern die Mittel sind aufgestockt worden. ({36}) Dies gilt für die Leistungen der organisierten Jugend wie für die Förderung der Selbsthilfe, für die wir im nächsten Haushalt erstmalig einen eigenen Titel eingeführt haben. Dies gilt aber auch für neue Bereiche, die mitunter skeptisch bewertet werden: für den Schwerpunkt Mädchenförderung, für den internationalen Jugendaustausch, den wir manchmal zu kurz bewerten, der aber für das Friedenswerk und für die internationale Verständigung einen ganz entscheidenden Stellenwert hat. Wir haben das Jugendhilferecht in dieser Legislaturperiode noch nicht reformiert. Das ist mein Kummer. ({37}) Aber ich gehe davon aus, daß wir zu Beginn der nächsten Legislaturperiode - und ich betone: zu Beginn - gerade diesen Bereich zuerst in Angriff nehmen werden, damit es nicht noch einmal dazu kommt, wie in der bisherigen Geschichte der Jugendhilfe, daß im letzten Augenblick von Legislaturperioden auch noch der Jugendhilfe gedacht wird und das dann meistens entweder zu kläglichen Novellierungen oder zu Nichtreformen führt. ({38}) Die Jugend erwartet nicht, daß wir alles für sie tun, sondern sie will selbst tätig werden. Sie braucht Forderung und Förderung. Sie braucht Herausforderungen. ({39}) Ich möchte hier noch einmal betonen, daß vielleicht wir als mittlere Generation die gegenwärtige Situation mit mehr Wehklagen begleiten als die junge Generation selbst. ({40}) Sie zeigt, daß sie zu Kreativität, Improvisation und Anstrengungen im Bereich der Bewältigung neuer Probleme imstande ist. Dies zeigt sie nicht nur im Bereich des technischen Lernens, sondern auch ihres sozialen Engagements. Wenn wir uns dies vor Augen führen, dann ist eben auch für den Politiker die Frage zu stellen: Woran nimmt er sich ein Beispiel? Vielleicht ist es gerade die junge Generation, die sich anbietet, uns Beispiel zu geben, so daß wir nicht einseitig nur von den Älteren, sondern auch von den Jüngeren für die Politik lernen. Ich glaube, daß wir dazu in dieser Legislaturperiode einen entscheidenden Beitrag geleistet haben. Danke. ({41})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt ({0}).

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Ministerin, Sie haben hier auf Ihre Ausführungen und Ihre Worte zum Bereich der Gentechnologie hin zu Recht den Beifall des ganzen Hauses bekommen. Ich kann deshalb nur annehmen, daß es sich um ein schlimmes Versehen handelt und um etwas, was Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist, wenn Sie die Schirmherrschaft eines Kongresses übernommen haben, der sich mit Augenkrankheiten bei Kindern befaßt, bei dem Ihr Name auf einem Fragebogen ausgedruckt ist, der Fragen wie diese enthält - er enthält noch schlimmere dieser Sorte -: Sollte sich die gentechnologische Forschung auf die vorgeburtliche Diagnostik erstrecken mit dem Ziel, die Geburt RP-kranker Kinder durch Schwangerschaftsabbruch zu verhindern? ({0}) Sie sind auf diesem Fragebogen als Schirmherrin ausgedruckt. Es wäre schön, wenn Sie hier zur Klarstellung beitragen würden. ({1}) Frau Ministerin, Sie haben des weiteren beklagt, die SPD würde die unterschiedlichen Lebensläufe von Menschen nicht ausreichend berücksichtigen. Als eine Frau, die drei Kinder hat, die ihr ganzes Leben lang berufstätig war, die gesehen hat, welche Schwierigkeiten es macht, dies miteinander zu vereinbaren, als eine Frau, die selber einen Hausmann zu Hause hatte und gesehen hat, was es für ihn bedeutet hat, als eine Frau, die Großmutter ist und zwei Enkelkinder hat und deren Tochter nicht erwerbstätig ist, komme ich mir dabei immer ein ganz klein bißchen komisch vor. Ich weiß, wir wissen, welche unterschiedlichen Lebensverläufe es gibt und welch unterschiedliche Angebote Politik zu machen hat. Deshalb geht dieser Vorwurf genauso ins Leere wie der Vorwurf, den Sie uns in bezug auf unser Grundsatzprogramm gemacht haben. Sie selber haben in Ihrer weitgehend philosophischen und leider viel zu wenig konkreten Rede gesagt, ({2}) Familienpolitik könne eben nicht losgelöst betrachtet werden. ({3}) - Ja, sie war ja in vielen Passagen gut, Herr Sauer, nur: Wir vermissen die konkreten Umsetzungen. ({4}) Wenn Sie hier selber sagen, daß Familienpolitik eben nicht losgelöst betrachtet werden könne: Sie finden in unserem gesamten Programmentwurf - von der Umweltpolitik über die Arbeitsmarktpolitik, über die Jugendpolitik, über die Frauenpolitik - durchgängig Bereiche, die die Familie betreffen, eben weil Familienpolitik nicht losgelöst von anderen Politikbereichen gesehen werden kann. ({5}) Deshalb geht auch dieser Vorwurf, wie gesagt, ins Leere. Aber ich möchte gern vom Philosophischen zum Konkreten kommen; ich habe auch nicht ganz so viel Zeit wie Sie. Wir haben von Ihnen gerade eine Bilanz gehört, die in meinen Augen doch sehr durch die rosarote Brille gesehen wurde und die sich - ich sage es noch einmal - konkret im Haushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung nicht niederschlägt. ({6}) Ich werde hier nicht ein weiteres Mal die positive Bilanz unserer Regierungszeit aufmachen. - Übrigens, falls Sie den Fragebogen suchen sollten: Ich habe ihn hier; vielleicht kann er durch einen der Saaldiener einmal herübergereicht werden.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Hier werden keine Drucksachen verteilt. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Ich wiederhole: Ich werde nicht ein weiteres Mal die positive Bilanz unserer Regierungszeit aufmachen - angefangen von den laufenden Erhöhungen des Kindergeldes über BAföG bis zum Mutterschaftsurlaubsgeld -; denn ich weiß: Auch bei uns sind sehr viele Wünsche offengeblieben. Aber die Zahlen zeigen es: Im Jahre 1986 wird für die Familien anteilig nicht mehr, sondern weniger ausgegeben, und das wird nach der Finanzplanung bis 1990 so bleiben. Ich sage das nicht mit Häme, sondern mit Bedauern, denn in erster Linie sind die Leidtragenden nicht die Ministerin oder wir Politiker, sondern die Frauen, die Familien und die Kinder. Erster Punkt: der Familienlastenausgleich, auf den Sie so stolz sind. Die Mütter und Familien haben die radikalen Kürzungen bemerkt. Beim Mutterschaftsurlaubsgeld hatte das die fatale Folge eines drastischen Rückgangs der Inanspruchnahme - einer fatalen Folge für die damaligen jungen Mütter und ihre Kinder. Sie haben die Kürzungen mit dem BAföG mit Leistungen für Frauen in der Arbeitsförderung, mit der einkommensabhängigen Reduzierung des Kindergeldes, mit der Kappung des Ausbildungsfreibetrages usw. usw. fortgesetzt. ({0}) Frau Schmidt ({1}) Es handelt sich bei alldem um Leistungen für Familien, für Frauen, für die Jugend und die Kinder. ({2}) Sie haben nun im letzten Jahr vor den Wahlen versucht, einen Teil dieser Kürzungen wieder rückgängig zu machen, andere bestehenlassen und die absolute Summe für den Familienlastenausgleich erhöht. Nur: Trotzdem wird 1986 für die Familie weniger aufgewendet als 1981. ({3}) Dies wird sich bis 1989, einschließlich, lieber Herr Rossmanith, fortsetzen, und dies ist nicht die Meinung von der Renate Schmidt, sondern das ist ein Zitat aus der „Katholischen Stimme der Familie", von einem Verfasser, der Mitglied Ihrer Partei ist. Dies ist die Meinung der Liga für das Kind. Das sind nicht Meinungen von Sozialdemokraten, sondern dies wird uns von den Wohlfahrtverbänden bestätigt. ({4}) Es kommt ein zweites hinzu: Heute werden andere Familien als 1981 stärker entlastet. Entlastet werden nämlich die sehr gut Verdienenden, während die Durchschnittsverdiener von dem Segen nichts merken. ({5}) Um es plastisch auszudrücken, liebe Kollegen: Dem Schichtarbeiter im Rangierdienst, der alleinerziehenden Mutter wurde für ihre Kinder das BAföG gestrichen, um der Frau des Generaldirektors sechs Monate Erziehungsgeld zahlen und deren Nettoeinkommen kräftig erhöhen zu können. ({6}) Nun versuchen wir, uns immer gegenseitig mit mehr oder weniger gelungenen Zahlenbeispielen zu überzeugen, gestern z. B. Herr Blüm. Ich will dieser Versuchung heute widerstehen und nur aus den Gesprächen mit den Bürgern berichten. Die Erwähnung der Steuerreform hat Anfang des Jahres, als die Leute schon ihre Lohnabrechnung hatten, ungläubiges Staunen erweckt, vor allem wenn man fragte, wieviel sie denn netto mehr herausbekommen haben. Nicht selten war die Antwort: „Mehr? Weniger habe ich herausbekommen." Das Schlimme ist, dies trifft auch für Familienväter und -mütter zu. ({7}) Woran liegt das? Einmal daran, daß der Durchschnittsverdiener kaum von der Steuerentlastung profitierte, daß Sozialversicherungsbeiträge gestiegen sind und die meisten Angestellten, Arbeiter und Beamten die steuerlichen Kinderfreibeträge im Monat nicht ausnutzen können. Die müssen sich dann das Zusatzkindergeld am Jahresende über den Lohnsteuerjahresausgleich holen. Sie bekommen es aber nur dann, wenn sie einen solchen machen. Ansonsten haben sie auch von diesem Segen wieder nichts; denn im Gegensatz zur Ministerin, zum Spitzenverdiener, der jeden Monat den Nutzen von dem Kinderfreibetrag auf dem Konto hat, haben der Postbeamte und die Verkäuferin das Nachsehen. ({8}) Über die Kompliziertheit des Verfahrens, über die unterschiedlichen Einkommensbegriffe, über die Undurchschaubarkeit für den Bürger, über die Tatsache, daß auch ein während des Jahres arbeitslos Werdender, der das monatliche Zusatzkindergeld dringend braucht, das nicht erhält, ärgern sich die Menschen zunehmend. Sie haben das, Frau Süssmuth, auch in Ihrer Zeit als Vizepräsidentin des katholischen Familienbundes erkannt, der allerdings vor Ihrem Amtsantritt sagte: „Wenn man ab 1. Januar 1986 ein einheitliches Kindergeld zahlte, dies gegenüber heute wesentlich erhöhte, dann könnte man die Kosten der Bürokratisierung streichen und als weiteren Erhöhungsbetrag des Kindergeldes mit an die Eltern auszahlen." ({9}) Der Durchbruch eines solchen Maßes an Vernunft sollte möglich sein. ({10}) Das wäre schön, wenn Sie bei dieser Meinung geblieben wären. Heute heißt es von Ihnen leider im CDU-Bürokratendeutsch: „Wir haben uns aus wohl-überlegten Gründen für das duale System, bestehend aus Kindergeld und steuerlichen Kinderfreibeträgen, entschieden." Damit bleibt es dabei, daß Mütter und Väter in einem bürokratischen und ungerechten Verfahren eine Kombination aus Steuerfreibeträgen, Kindergeld, Zusatzkindergeld, Einkommenskürzungen bei dem Kindergeld erhalten. Wir werden diese Entscheidung nach dem 25. Januar nächsten Jahres rückgängig machen. Wir werden wieder ein einheitliches Kindergeld einführen. ({11}) - Ich sage Ihnen, wir wollen nicht weniger, sondern wir wollen mehr. Wir wollen 100 DM für das erste, 200 DM für das zweite, 300 DM für das dritte Kind und alle weiteren, ({12}) und dieses Geld wird den Familien jeden Monat zur Verfügung stehen. Wenn Sie hier mehr ankündigen, möchte ich eine einzige Mark in diesem Haushaltsplan dazu finden dürfen. Dann könnten wir uns über ihn mehr unterhalten. ({13}) Für uns gilt nämlich nach wie vor: Das Kind des Facharbeiters, der Textilarbeiterin darf dem Staat Frau Schmidt ({14}) nicht weniger wert sein als das Kind des Spitzenverdieners. ({15}) Dies war in diesem Haus einmal Konsens und ist mitnichten eine alte Leier. Ihr Familienlastenausgleichskonzept krankt aber noch an einem wesentlichen Punkt: Sie konzentrieren die verfügbaren Mittel vor allen Dingen auf die Familien mit kleinen Kindern. Familien brauchen aber, wie Sie sehr richtig gesagt haben, langfristige Konzepte. Von der Ankündigung dieser Bundesregierung nach dem BAföG-Kahlschlag, die Situation der Familie mit Kindern in Ausbildung ausreichend zu berücksichtigen, blieb nicht viel mehr übrig als heiße Luft. Deshalb werden wir diese unsozialen Kürzungen nach dem 25. Januar nächsten Jahres rückgängig machen und das Schüler-BAföG wiederherstellen, ({16}) weil es nämlich für uns keine Lösung ist, bei gering-verdienenden Familien mit älteren Kindern zu sparen, um der Zahnarztgattin mit einem Neugeborenen sechs Monate lang 600 DM Erziehungsgeld zu geben. ({17}) Meine sehr verehrten Herren und Damen, 1,4 Millionen Kinder leben in Familien, deren Eltern Sozialhilfeempfänger sind oder Arbeitslosengeld und -hilfe erhalten. ({18}) Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren, die Sozialhilfeempfänger sind, ist sprunghaft gestiegen. Sie wäre noch viel größer, wenn nicht in vielen Fällen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben und nicht mehr bei ihren Eltern leben, das elterliche Einkommen herangezogen würde. Ich meine - und dies ist mir sehr ernst -, daß die Erfahrungen, die diese Kinder und Jugendlichen machen, die Ängste, die sie ausstehen, und die Scham, die sie in einer Gesellschaft miterleben, die die oberen zwei Drittel hätschelt und päppelt und die Unteren ausgrenzt, ({19}) die Scham, nicht zur Geburtstagsfeier des Klassenkameraden gehen zu können, nicht am Wandertag oder an der Klassenfahrt teilnehmen zu können, weil die Kosten zu hoch sind ({20}) - mitten in dieser Gesellschaft mit Kindern, die Freunde haben, die davon betroffen sind -, ({21}) im Alter von 23 und 24 Jahren voll von den Eltern abhängig zu sein, die sich endlich wieder selbst etwas leisten wollen, für die Bereitschaft, selbst eine Familie zu gründen und Kinder haben zu wollen, entscheidender sind als all unsere Diskussionen über Kindergeld und Steuern. Deshalb meine ich, daß die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit das beste familienpolitische Programm ist, das es gibt. ({22}) Aber davon haben wir von Ihnen heute nur sehr wenig gehört. Deshalb werden wir auch mit unseren Vorstellungen von einer sozialen Grundsicherung u. a. dafür sorgen, daß junge Menschen nach ihrer Ausbildung wieder einen ausreichend hohen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben und nicht auf Sozialhilfe und damit auf ihre Eltern angewiesen sind. Sie, Frau Süssmuth, loben heute hier das Erziehungsgeld und sagen uns, wir seien auf diesen Zug aufgesprungen. Sie haben unser Elternurlaubskonzept offensichtlich nicht ausreichend gelesen. ({23}) Sonst wüßten Sie, daß es hier gravierende Unterschiede gibt. Aber ich will nicht verkennen, daß es selbstverständlich ein Vorteil ist, statt bisher vier Monate lang 510 DM - Sie haben den Betrag auf 510 DM gekürzt - zehn Monate lang 600 DM zu bekommen. Nur, Ihre Wünsche, daß dies zur Wahlfreiheit von Mann und Frau und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie wesentlich beitragen möge, werden sich, glaube ich, nicht erfüllen. Daß nämlich die Männer davon nicht so ganz arg viel halten, zeigen die von Ihnen veröffentlichten Zahlen: Gerade 3 000 Männer haben bei insgesamt 200 000 Fällen das Erziehungsgeld beantragt. Das sind gerade 1,5 %. ({24}) Und so wird es bei der Anlage des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs auch dabei bleiben: Arbeit und Verantwortung für Familie und Haushalt bleiben bei den Frauen. Damit bleibt auch bei ihnen allein die Notwendigkeit, die Erwerbstätigkeit zu unterbrechen. Damit wird die ungleiche ökonomische Situation von Mann und Frau weiter festgeschrieben, und Wahlfreiheit bleibt eine Floskel. Frauen - sagt ein Gutachten des Bundesarbeitsministers Blüm; ich finde es übrigens sehr positiv, wieviel nützliche Gutachten diese Regierung in Auftrag gibt werden dann wieder größere Familien haben wollen, wenn dies mit ihrem Beruf zu vereinbaFrau Schmidt ({25}) ren ist. Sie wollen nicht herausgeschubst werden aus einem wichtigen Lebensbereich, um sich dann mühsam oder nie wieder eingliedern zu lassen, sondern in ihrer Mehrheit mit dem Mann gemeinsam Verantwortung und Arbeit für Kinder, die materielle Existenzsicherung der Familie und die Arbeit im Haushalt teilen. Wenn wir von Wahlfreiheit reden, dann müssen wir derartige Möglichkeiten schaffen, ohne selbstverständlich Frauen und Männer zu bevormunden. Auf derartige Lebensvorstellungen gibt Ihr Erziehungsgeld keine Antwort. Deshalb ist unser Ziel die Wiederherstellung des Mutterschaftsurlaubs, ein Elternurlaubsgeld für alle Eltern, das mittelfristig Lohnersatzfunktion haben muß, damit auch Männer den Elternurlaub wahrnehmen. Wir wollen ebenfalls den Elternurlaub schrittweise auf drei Jahre verlängern, selbstverständlich mit vollem Kündigungsschutz. Aber wir haben gehört, Frau Ministerin: Es wird alles besser. Frau Ministerin Süssmuth darf sich Frauenministerin nennen und hat weitreichende Kompetenzen vom Bundeskanzler erhalten. Hat sie? Originalton Ministerin Süssmuth in der neuen „Frauenbroschüre": Im Juni 1986 bekam das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit die federführende Zuständigkeit für Frauenfragen einschließlich Gesetzgebungskompetenz. ({26}) Originalton Regierungssprecher Ost vor wenigen Tagen: Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth, CDU, die seit der Kabinettsumbildung Anfang Juni auch den Titel „Bundesminister für Frauen" trägt, wird entgegen früheren Ankündigungen vorerst keine neuen Kompetenzen für diesen Bereich erhalten. Der Zuschnitt des Frauenressorts werde erst nach der Bundestagswahl endgültig festgelegt, sagte Regierungssprecher Friedhelm Ost am Montag vor der Presse in Bonn. Die derzeit notwendige Zusammenarbeit werde zwischen den beteiligten Ministerien direkt geregelt. Ministerin Süssmuth strebt die Federführung bei allen Gesetzentwürfen an, die Frauen besonders betreffen. Bei ihrer Ernennung zur Frauenministerin hatte es zunächst geheißen, Bundeskanzler Helmut Kohl werde ihre Zuständigkeiten im Einvernehmen mit dem Kabinett nach der Sommerpause erweitern. - Zitat Ende. In der Zwischenzeit ist von den angeblich so dringend benötigten 13 bewilligten Stellen keine einzige in ihrem Ministerium besetzt. Glauben Sie eigentlich, Frau Ministerin, Herr Wallmann hätte sich so billig abspeisen lassen? Er hätte den Titel ohne geklärte Kompetenzen, ohne Personal angenommen? Ich weiß nur, ich hätte das nicht getan. ({27}) Ich erwarte nämlich von einer Frau in Ihrer Position, die erkennt, daß die Männer sie brauchen, um Wahlen zu gewinnen, daß sie ihre Macht für die Durchsetzung von Fraueninteressen einsetzt und sich nicht mit Brosamen abspeisen läßt. ({28}) All das, Frau Ministerin, paßt leider nahtlos in die Ankündigungspolitik dieser Regierung. Da wird von Ihnen vor dem Kongreß der Gewerkschaft Textil und Bekleidung öffentlich angekündigt - immer wie es den jeweiligen Zuhörerinnen gefällt -, wenn sich das Beschäftigungsförderungsgesetz als Benachteiligung von Frauen erweisen sollte, müsse man auch den Mut haben, es zu ändern. Wenig später stellen Sie fest, daß es keine Benachteiligungen gebe. Heute sagen Sie wieder, daß es vielleicht doch Benachteiligungen gebe. Ich sage Ihnen, die Frauen können nicht abwarten, bis Sie drei, vier oder fünf Jahre lang geprüft haben, ob es Benachteiligungen gibt, sondern sie erwarten schnelle Reaktionen, und sie erwarten, daß Sie gleich etwas tun und dieses Gesetz rückgängig machen. ({29}) Es werden zusätzliche Entlastungen für die Familien angekündigt, ohne daß sich eine müde Mark im Haushalt wiederfindet. Es wird die Verlängerung des Erziehungsurlaubs angekündigt, ohne daß ersichtlich wäre, wo sich das im Haushalt niederschlägt. Sie haben heute eine Reihe guter Sätze zu § 218 gesagt. Es gab Beifall teilweise auch in meiner Fraktion. ({30}) Sie haben einiges gesagt, zu dem auch in Ihrer Fraktion nur die Männer geklatscht haben und die Frauen nicht. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie dem Gerede über die Änderung des § 218 endlich ein Ende machen, ({31}) daß Sie mit uns gemeinsam selbstverständlich für Hilfen sorgen und daß Sie sich von der Vorstellung verabschieden, man könne den Frauen, die durch Ihre Sozialpolitik in bittere Situationen gekommen sind, auf Dauer mit einer Stiftung helfen. ({32}) Ich meine, wir müssen gemeinsam nach anderen Lösungen suchen. Zur Jugend haben wir wenig von Ihnen gehört. Zum Zivildienst und seiner Verlängerung und der Bitterkeit, die sich bei den jungen Männern darüber ausbreitet, haben wir überhaupt nichts gehört. Auch zur Gesundheitspolitik haben wir in Ihrer Rede nichts gehört, und Sie hatten dafür wahrhaftig viel Zeit. Aber es scheint in Ihrem Haus in diesem Punkt nicht erst seit der Katastrophe von Tschernobyl Konfusion zu bestehen. Ob es nun darum geht zu erfahren, wie Ihr Konzept zur Bekämpfung von AIDS aussieht und wieviel Mittel dafür zur Verfügung stehen, oder ob es nur um die simple Antwort auf die Frage meiner Kollegin Anke Frau Schmidt ({33}) Martiny geht, wie es mit der Haltbarkeit von Wein in Kartons aussieht - für diese Antwort brauchen Sie jetzt annähernd zwei Jahre -, an vielen Stellen scheint das Ministerium überfordert, genauso überfordert, wie für die Zukunft tatsächlich Signale zu setzen. Sie, Frau Ministerin, sind mit vielen Vorschußlorbeeren angetreten. Aber bereits im April kommentierte der Hessische Rundfunk nach Ihrem erfolglosen Einsatz für die Trümmerfrauen ({34}) - ja, der Hessische Rundfunk; die Kommentatoren sind unabhängig -: Vor dem Wahltag werden die Frauen genau hinsehen müssen, ob Frau Süssmuth ihre aus langer Forschungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse wenigstens ansatzweise in politische Taten umsetzen oder ob sie der CDU nur als schmückendes Beiwerk dienen darf. Ich glaube, dem ist nach der heutigen Rede nichts hinzuzufügen. ({35})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! - Ich glaube, ich warte am besten, bis die Kollegen der SPD, die den Saal verlassen wollen, dies auch getan haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Haushalt für jedes Jahr setzt die finanziellen Daten und damit auch die Politik für das kommende Jahr fest. Er ist sozusagen eine Bilanzvorschau für das nächste Jahr. Heute stehen wir bei diesem Haushalt aber auch am Ende einer Legislaturperiode. Es ist dies das Ende der ersten vollen Legislaturperiode dieser neuen Regierung. Deswegen wird dieser Haushalt auch als ein Ausblick auf die nächste Legislaturperiode und als eine Bilanz dieser neuen Regierung gesehen. Es ist Zeit für eine Betrachtung über das rein Finanzielle hinaus. Diese Regierung hat Versprechen abgegeben, und diese Versprechen sind eingehalten worden. Diese Regierung hat ihre Hausaufgaben gemacht. Der Anstieg der Verschuldung ist gebremst, die Inflation ist beseitigt, die Wirtschaft wächst wieder, die Renten sind sicherer, es gab keine Änderung in der Außenpolitik, keine Änderung in der Sicherheitspolitik, keine Änderung der Innen- und Rechtspolitik. Weil dies so ist, meine Damen und Herren, versucht die SPD, im Bereich der Sozialpolitik und der Familienpolitik Kritik zu üben, weil sie hofft, damit von den Erfolgen dieser Regierung ablenken zu können. Die Regierung hat ihre Versprechen gehalten. Die FDP hat das gehalten, was sie anläßlich der Wende gesagt hat. Ja, die FDP hat dabei sogar ihre eigene Existenz aufs Spiel gesetzt, weil es für uns wichtiger war, das zu tun, was notwendig ist, das, was notwendig war, populär zu machen, anstatt aus Angst das Populäre zu tun. ({0}) Der Parteitag der SPD und auch der Debattenablauf hier zeigen, daß die SPD mit einer Doppelstrategie antritt. Das erste sind Versprechungen, die nicht einzuhalten sind; das zweite ist der Versuch, durch Schüren von Neid die Bevölkerung blind zu machen für die Fakten der Erfolge dieser Regierung. Das wird der SPD aber nicht gelingen. Die Fakten sind stärker. Sie sprechen für uns und gegen die Opposition. Die Erfahrung der Bürger ist stärker als Propaganda. So werden ab 1986 ca. 10 Milliarden DM mehr für die Unterstützung der Familien ausgegeben. Der Familienlastenausgleich wird also um 10 Milliarden DM verbessert. Es sind dies im einzelnen: Einführung eines Kindergeldzuschlags 650 Millionen DM, Kindergeld für Arbeitslose bis zu 21 Jahren 100 Millionen DM, Erhöhung der Kinderfreibeträge 4,8 Milliarden DM, Anhebung der Ausbildungsfreibeträge 300 Millionen DM, steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten für erwerbstätige Alleinerziehende 160 Millionen DM, Erhöhung des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehende mit mindestens einem Kind 50 Millionen DM, verstärkte steuerliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen 100 Millionen DM, Erziehungsgeld einschließlich der nächsten Stufe bis 1989 2,8 Milliarden DM, Stiftung „Mutter und Kind" 60 Millionen DM, Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung 1,1 Milliarden DM, dies einschließlich der Endstufe bis 1989. ({1}) Es ist notwendig, das alles hier nochmals aufzuzählen, weil es den Behauptungen der SPD vom Sozialabbau eindeutig widerspricht. ({2}) Sie wissen, daß ich in einem Fall dem Familienlastenausgleich und den Verbesserungen der Bundesregierung nicht zugestimmt und auch hier im Plenum dagegen gesprochen habe, damals auch unter dem Beifall der SPD. Aber ich betone, daß ich keine Gemeinsamkeit mit den Argumenten der SPD habe, die sie uns hier und in der Öffentlichkeit auf den Tisch legt. Der Familienlastenausgleich ist spürbar finanziell verbessert worden. Meine Kritik richtete sich einzig und allein gegen die überzogene Bürokratie und die Kompliziertheit der Gesetze. Das nutzt die SPD in der Argumentation aus. So können wir heute feststellen, daß sich die SPD aus diesen Gesetzen zum Familienlastenausgleich nur die Hälfte herauspickt und beleuchtet. Das gibt Eimer ({3}) aber nur die halbe Wahrheit. Die halbe Wahrheit jedoch ist eine Unwahrheit. ({4}) So spricht die SPD davon, daß die Freibeträge die Höherverdienenden bevorzugen, und verschweigt, daß es beim Kindergeld und andere Sozialleistungen neu eingeführte Einkommensgrenzen gibt und daß es einen Grundsockel bei den Freibeträgen gibt, der gerade den Beziehern kleiner Einkommen zugute kommt. ({5}) Man muß aber alles zusammen sehen. Dann stimmt das Schlagwort von der Umverteilung von unten nach oben einfach nicht mehr. Die Kritik der SPD ist so nicht berechtigt. Das Gesamtergebnis ist nicht unsozial, aber nach meiner Meinung bürokratisch. Und das war meine Kritik, zu der ich noch heute stehe. Damit wende ich mich an meinen Koalitionspartner. Wir müssen in der nächsten Wahlperiode eine neue Sozialpolitik konzipieren, die unbürokratischer, durchsichtiger für den Bürger und damit letztlich auch sozialer ist. Ich weiß, es gibt auch in der CDU/CSU Kollegen, die sich damit beschäftigen und darüber nachdenken. Ich bin davon überzeugt, daß es uns unter diesem Blickwinkel gelingen wird, in der nächsten Wahlperiode einen neuen Ansatz zu finden. Wir müssen in der Sozial- und der Familienpolitik die Gesetze aber auch so umgestalten, daß gutgemeinte Ansätze nicht das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt war. Viele Schutzgesetze wirken sich heute zum Nachteil der zu Schützenden aus. Meine Kollegin Adam-Schwaetzer hat aus dem Bereich Frauenpolitik zwei sehr deutliche Beispiele erwähnt. Das gleiche gilt für Behinderte und für junge Männer, die noch nicht bei der Bundeswehr waren. Sie werden bei Einstellungen benachteiligt. Wir dürfen den Schutz nicht einfach abbauen, sondern müssen ihn anders organisieren. Sozialer Schutz darf in der Konkurrenz des Marktes nicht sozial schwache Arbeitnehmer und sozial handelnde Unternehmer benachteiligen. Wenn Sozialleistungen, die vom Betrieb gezahlt werden müssen, nicht arbeitsrechtlich wie heute, sondern versicherungsrechtlich gezahlt werden, werden vor allem Frauen davon profitieren. Damit werden wir dem Ziel gleichen Lohns für gleiche Arbeit für Männer und Frauen ein ganzes Stück näherkommen. Der Frauenkongreß der FDP in Erlangen hat das z. B. für die Mutterschaftsgeldregelung gefordert. In der Nachbarstadt Nürnberg hatte die SPD einen ähnlichen Ansatz in ihrem Programmentwurf. Ich wollte sie eigentlich heute schon dafür loben. Aber in den Beschlüssen von Nürnberg habe ich diesen Ansatz vergeblich gesucht. Ich hätte diese Umgestaltung der Sozialgesetzgebung gern gemeinsam mit allen Parteien hier im Hause gemacht. So wird es wohl dieser Koalition allein überlassen bleiben, diese Aufgabe zu erfüllen. Ich bin überzeugt, wir können gemeinsam zu einer guten Lösung kommen. Wir stehen vor wichtigen Wahlen. Vor Wahlen kommen Parteien und vor allem Sozialpolitiker immer in die Versuchung, neue Sozialleistungen und mehr zu versprechen, als anschließend zu halten ist. Die Freien Demokraten werden sich daran nicht beteiligen. Wichtiger, als neue Sozialleistungen zu versprechen, ist es, alte Sozialleistungen solide zu finanzieren. ({6}) Wir sind der Meinung, man muß auch vor der Wahl den Mut haben, auf Versprechungen zu verzichten, wenn sie nicht solide finanzierbar sind. Wir wollen nicht zu Weihnachten Wahlgeschenke verteilen, nicht jetzt schnell noch den Weihnachtsmann spielen und nach dem 25. Januar in einer anderen Verkleidung als Gerichtsvollzieher die Gesetze pfänden. ({7}) Wir sind gegen Wohltaten auf Pump, auch vor Wahlen. ({8}) Meine Damen und Herren, auch die FDP würde gerne ein zweites Erziehungsjahr einführen, weil es eine vernünftige Sache ist. Aber ich halte es für wichtiger, bei dem finanziellen Spielraum die Übergangsregelung für die Erziehungszeiten in der Rentenversicherung für die sogenannten Trümmerfrauen zu beschleunigen. Und noch wichtiger ist es nach Meinung der FDP, nichts zu verfrühstücken, was wir später in einer Steuerreform brauchen. Diese Steuerreform, die wir wollen und zu der sich auch unser Koalitionspartner bekennt, ist ein wichtiges Element der Familienpolitik. Wie sieht es heute aus? Da gibt es Bürger mit weniger Einkommen als das Existenzminimum. Vor allem sind dies Familien mit Kindern. Das heißt also, sie bekommen weniger als die Höhe des Sozialhilfesatzes. Dieser Personenkreis zahlt noch Steuern. Damit wird das verfügbare Nettoeinkommen noch niedriger. Der gleiche Mensch hat Anspruch auf Sozialhilfe, die einen großen Verwaltungsaufwand verursacht. Was der Staat mit der einen Hand gibt, nimmt er mit der anderen. Wir wollen eine Steuerreform für die Familie, in der das Existenzminimum steuerfrei ist. ({9}) Damit können wir nicht nur Bürokratie abbauen, nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit für Familien mit geringem Einkommen erreichen, wir bekommen auch mehr Menschenwürde dadurch, daß der Bürger sein eigenes Geld behalten darf und es nicht auf dem Umweg über Steuern vom Staat als scheinbare Wohltat zurückbekommt. Aber über all dieses Materielle hinaus gibt diese Regierung der Familie insgesamt einen höheren Stellenwert. Ich glaube, ich darf hier auf Nennung von Einzelheiten verzichten; Frau Minister Süssmuth hat dies alles sehr sorgfältig ausformuliert. Meine Damen und Herren, andere Vorstellungen hat diese Regierung auch zur Jugendpolitik. Sie Eimer ({10}) gibt ihr ein neues Gewicht. Noch vor wenigen Jahren sprach man allgemein von der No-future-Mentalität der Jugend. Das hat sich geändert. Eine „Stern"-Umfrage vom Juni dieses Jahres stellt fest, daß von einer Null-Bock-Generation nicht gesprochen werden kann. Die Jugendlichen stehen Staat und gesellschaftlichen Institutionen positiv gegenüber. Jugendliche sind leistungsbereit. Rund 80 % der 16jährigen haben sich einen sicheren Arbeitsplatz und ein gutes Einkommen zum Ziel gesetzt. ({11}) Eine gute Berufsausbildung wird für wichtig gehalten. Es gibt keine Scheu vor neuen Techniken. Zukunftsangst bestimmt nicht mehr generell die Jugendlichen. Über 40% der Jugendlichen haben keine besonderen Ängste oder Sorgen. Gerade ein knappes Fünftel ängstigt sich vor Rüstung und Krieg und 12 % vor der Kernenergie. Ebenfalls 12 % sorgen sich um ihren beruflichen Werdegang. Wer die Angst vor der Zukunft überwinden will, kann dies aber nur tun, wenn er weiß, daß er seine Zukunft selbst gestalten kann und wenn er dazu bereit ist. Viel zu lange wurde der jungen Generation von bestimmten Intellektuellen eingeredet, man müsse ergeben das Eintreffen von düsteren Prophezeiungen erwarten. ({12}) Ein neues No-future-Denken wäre die zwangsläufige Folge davon. Wir setzen dagegen: ({13}) Es gibt kein blindes Wüten des Schicksals. Es gibt kein ehernes Gesetz der Geschichte, wie es Karl Marx gepredigt hat und wie es uns seine Nachfolger einreden wollen. ({14}) - Was Sie so unter Widerstand verstehen! - Wer das tut, der redet der Jugend Untätigkeit ein. Er stiehlt der Jugend das kostbarste, was sie besitzt: Er klaut ihr die Zukunft. ({15}) Meine Damen und Herren, wir haben etwas gegen Philosophien, die junge Menschen durch solche Gedanken zu ergebenen Untertanen einer herrschsüchtigen Ideologie deformiert. ({16}) Wir brauchen das Gegenteil. ({17}) Wir brauchen eine Jugend, die weiß, daß sie die Zukunft selbst gestalten kann, so wie wir dies getan haben, so wie dies auch Generationen vor uns getan haben. ({18}) Wir predigen den Mut zur Zukunft. Ich muß an dieser Stelle unserer Jugendorganisation, den Jungen Liberalen, für die Themen der letzten Kongresse danken. Sie strotzten vor Selbstbewußtsein und Zukunftsoptimismus. „Die Zukunft gestalten statt Krisen verwalten", „Mut zur Zukunft", „Der Eigeninitiative eine Chance" - das waren die Überschriften der politischen Arbeit einer Jugend mit neuem Geist. Wer der Jugend die Zukunft wieder öffnen will, muß ihr aber auch den Mut geben, es zu schaffen, ihr die Angst vor der eigenen Leistung nehmen, darf Leistung nicht diffamieren. Wer die Zukunft gestalten will, ist zur Leistung bereit. Wer nicht dazu bereit ist, hat Angst vor der Zukunft und wird nicht in der Lage sein, die Zukunft zu bewältigen. ({19}) Minister Blüm hat in seiner Rede deutlich gemacht, daß in der Koalition hier gleiche Vorstellungen bestehen. Die Wand der Angst vor der Zukunft ist überwunden. Die Jugend zeichnet sich durch Leistungsbereitschaft, Offenheit und Optimismus aus.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Norbert Mann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001417, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Eimer, da Sie auf den Minister Blüm Bezug nehmen, möchte ich Sie doch einmal fragen, ob nicht zum Mut zur Zukunft auch gehört, Fehlentscheidungen der Vergangenheit als solche anzuerkennen und eine Wende da einzuleiten, wo Fehlentscheidungen stattfinden, und gehört nicht zum Mut zur Zukunft auch nicht nur ein Bekenntnis zur Ellbogengesellschaft, das Sie hier ablegen, sondern der Wille zu einer solidarischen Gesellschaft, die die Zukunftsprobleme, die ökologischen Probleme wirklich anpackt, statt sie auszusitzen, wie es diese Regierung tut?

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, den ersten Teil Ihrer Frage kann ich bejahen. Es zeichnet Demokraten aus, daß sie fähig sind, eigene Fehler zu erkennen. ({0}) Diese Regierung hat Fehlentwicklungen beseitigt. Wir stehen zu dem, was wir tun. Wir sind auch bereit, alle unsere Entscheidungen darauf hin zu überprüfen, ob sie sich gut oder schlecht auswirken. ({1}) Aber wir sind nicht der Meinung, daß man die Politik so ideologisch betrachten kann, wie Sie dies tun. Wir sind nicht der Meinung, daß Leistung automatisch Ellbogengesellschaft bedeutet. Sie vergessen, daß die Einführung des Leistungsprinzips gleichzeitig die Ablehnung von anderen Prinzipien der Entlohnung war. Wie war es denn vorher? Vorher wurde nicht nach Leistung entlohnt, vor dem demokratischen Zeitalter, sondern es Eimer ({2}) wurde nach Beziehungen, nach dem Stand der Eltern, nach Geburt und Privilegien beurteilt. ({3}) Das ist alles abgelöst worden durch das Prinzip des Leistungsdenkens, durch das Leistungsprinzip. Die Staaten und die Ideologien, die das Leistungsprinzip ablehnen, kommen zurück auf das Prinzip Beziehungen und Linientreue. ({4}) Meine Damen und Herren, wer Jugend der Politik nicht entfremden will, muß auch andere Kriterien erfüllen. Politik muß wahrhaftig sein, muß moralischen Ansprüchen genügen. Da beginnt die Schwierigkeit. Wir Politiker sind nicht besser, aber auch nicht schlechter als andere Menschen. Ich weigere mich, Politiker in Gute und Böse einzuteilen. Wir tragen alle gute und böse Eigenschaften in uns. Aber ich ärgere mich, wenn manche Politiker ihre Moralität auf dem silbernen Tablett vor sich hertragen und damit werben wollen, sich selbst erhöhen auf Kosten anderer. ({5}) Das Ergebnis solchen Verhaltens ist, daß Politiker alle gleichermaßen schlecht wegkommen. Wer Politik als moralische Aufgabe sieht, darf den politischen Gegner nicht als böse und unmoralisch bezeichnen. Ich denke hier zum Beispiel an ein Wort, das hier gefallen ist: Ungerechtigkeit sei das Prinzip einer Politik. ({6}) Ich muß anderen ebenso sorgfältige Abwägungen zubilligen, wie ich es für mich auch verlange. Nur dann wird die Jugend zur Politik, zur Toleranz, zur Demokratie und zu diesem Staat geführt werden. Mich stören selbsternannte Heilige. ({7}) Meine Damen und Herren, ich denke hier jetzt im Moment vor allem an zwei Reden in dieser Woche. Ich denke an die Rede von Helmut Schmidt und denke an die Rede von Rainer Barzel. Ich glaube, wir sollten diese beiden Reden nachlesen. Ich bin überzeugt, daß sie einen guten Ansatzpunkt auch für eine bessere Jugendpolitik, für einen besseren Stil in diesem Parlament geben. Ich glaube, das würde uns allen sehr guttun. Vielen Dank. ({8})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wagner.

Marita Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002410, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zentral beim Haushalt des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ist die Familienpolitik. So macht zu Wahlkampfzeiten das vielbeschworene neue ZehnMilliarden-Familienpaket die Runde. Familienpolitik als Wahlkampfthema der jetzigen Regierung! Warum? In ihrem Sozialbericht 1986 stellt die Bundesregierung fest: Das Fundament der Gesellschaft ist die Familie. Hier lernen die Menschen Verhaltensweisen, die unsere Gesellschaft prägen sollen: Liebe und Vertrauen, Toleranz und Rücksichtnahme, Opferbereitschaft und Mitverantwortung. Kein Wunder, in gesellschaftlichen Umbruchzeiten und Umorientierung, wie wir sie gegenwärtig nach dem Motto „Leistung muß sich wieder lohnen" erleben, wird der Stellenwert der Familie als Gegenpol hochgehalten. Sie gilt dann als Hort des Vertrauens, der Mitverantwortung, als Verkörperung all der positiven menschlichen Eigenschaften, die wir im alltäglichen Leben im Kampf eines jeden gegen jeden vermissen. Ist die Familie also der Ort des privaten Glücks? Die Zahlen über Gewalt gegen Kinder und Frauen in den Familien sprechen da eine ganz andere Sprache. Besonders mies geht es den Familien, die von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zu leben haben. Das Geld reicht vorn und hinten nicht. Vom ganz privaten Glück kann wohl keine Rede sein. Weiter im Sozialbericht: Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist, die bestehende finanzielle Schlechterstellung von Ehepaaren mit Kindern gegenüber kinderlosen Ehepaaren schrittweise abzubauen. Schön, mehr Gerechtigkeit endlich auch im finanziellen Bereich? Nun gibt es aber bekanntlich nicht nur die Ehepaare mit und ohne Kinder, sondern den wichtigen Unterschied zwischen Besserverdienenden und Einkommensschwachen mit Kindern und den zwischen ehelichen und nicht ehelichen Lebensgemeinschaften. ({0}) Der Hinweis auf das angeblich idyllische Leben von kinderlosen Eheparen dient nur zu oft den Bevölkerungspolitikern als Schuldvorwurf, daß diese Ehepaare auf Kosten der zukünftigen rentenzahlenden Generation leben. Daß die geringere Geburtenrate eng mit einer veränderten Lebensperspektive eines Teils der Frauen und wohl auch der Männer zusammenhängt, interessiert aus bevölkerungspolitischer Sicht nicht. Hierzu stellte Hermann Schubnell, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfamilienministerium fest: Es muß die Auffassung berücksichtigt werden, daß es ethisch nicht erlaubt ist, das Kind als Mittel zum Zweck zu sehen, um Wirtschaftswachstumsideologien zu stützen, gesellschaftliche Machtverhältnisse auszubauen, die staatliche Altersversorgung zu sanieren. Jedes System, das den Menschen als Mittel zum Zweck gebraucht, trägt ideologische Züge und legt bereits das Fundament zu Inhumanität. ({1}) Im übrigen beweifelt er auf der Basis der historischen und der internationalen Entwicklung die Wir17880 kung einer rein monetären Familienleistung auf das generative Verhalten der Frauen. ({2}) Frau Süssmuth macht zu Wahlkampfzeiten genau das Gegenteil. Das statistische Ansteigen der Geburten im ersten Halbjahr 1986 ist für sie durchaus Beleg dafür, daß sie in der Öffentlichkeit die Familienpolitik der Koalition als Erfolg feiert. ({3}) Was die Bundesregierung und Frau Süssmuth tunlichst verschweigen, das ist, daß im Rahmen der neuen Familienpolitik in alten Schläuchen diejenigen mit hohem Erwerbs- und Vermögenseinkommen für ihre Kinder mehr bekommen als diejenigen mit geringem Einkommen und Kindern. Ein plastisches Beispiel: Ein Spitzenverdiener mit einem Steuersatz von 56 % bekommt auf Grund der 1986 eingeführten Kinder- und Ausbildungsfreibeträge für sein Kind eine Steuererleichterung von 1391 DM im Jahr. Ein Durchschnittsverdiener mit einem Steuersatz von 22 % erhält dagegen nur 546 DM. Die Familienpolitik subventioniert zusammen mit der Steuerpolitik die Besserverdienenden, während die Einkommensschwachen im Extremfall leer ausgehen.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marita Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002410, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann leider keine zulassen, ich habe zu wenig Zeit. ({0}) - Nein, das wurde hier immer angerechnet.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Eigentlich würde ich die Frage in diesem Fall nicht anrechnen.

Marita Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002410, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Also gut.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Bitte sehr.

Hermann Kroll-Schlüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001223, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, müssen Sie nicht in den Vergleich auch das Kindergeld einbeziehen, das für Höherverdienende eben niedriger ist als für die unteren und mittleren Einkommensbereiche?

Marita Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002410, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf das Kindergeld komme ich gleich in meiner Rede noch zurück. Ich bin jetzt erst vom Steuersatz ausgegangen; das Kindergeld kommt gleich auch noch. Dazu werde ich noch etwas sagen. Nicht nur werden die Besserverdienenden mehr und die Einkommensschwachen weniger unterstützt, sondern es wird auch die Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften massiv bevorzugt. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was hat die Ehe mit Familie und vor allem mit Kindern zu tun? Wolfgang Zeidler, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dessen Positionen ich nicht alle teile, stellte richtigerweise fest: Verheiratet oder nicht ist Privatsache und braucht die Allgemeinheit wenig zu interessieren. ({0}) Sozial relevant sind die Leistungen für die nachwachsende Generation. ({1}) Dieser Satz ist in Ihren Reihen heiß umstritten. Deshalb wird er jedoch nicht falsch. Kinderfreibeträge, Ausbildungsfreibeträge und insbesondere das Ehegattensplitting zusammengenommen heißt, daß Ihnen der Ehestatus eines Spitzenverdieners und seiner nicht berufstätigen Ehefrau mehr wert ist als der eines Durchschnittsverdieners. Es gibt also erhebliche Unterschiede zwischen den Ehen. Zu diesen gravierenden Unterschieden in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen im Erwerbsleben sagen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, rein gar nichts, sondern setzen genau diese Unterschiede mit Ihrer Familienpolitik fort - und verkaufen sie auch noch als Maßnahme für die Familie schlechthin! ({2}) Vor allem zeigt Ihr hartnäckiges Festhalten am Ehegattensplitting und an den Steuerfreibeträgen, daß Ihnen besonders viel an der Hausfrauenehe von Gutverdienenden mit Spitzeneinkommen liegt. ({3}) Im Vergleich zu den vielfältigen steuerlichen Vergünstigungen für Besserverdienende sind die direkten Zahlungen für die Einkommensschwachen, nämlich 50 Mark für das erste Kind, ein kläglicher Rest. Was bleibt denn für die Alleinerziehenden und Bezieher von unteren Einkommen, vor allem die Frauen? Einkommensschwächere erhalten maximal 46 Mark Kindergeldzuschlag, der jedoch die Steuervergünstigung für die Besserverdienenden keinsfalls kompensiert und zusätzlichen bürokratischen Aufwand gebracht hat. Den Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfängern werden das Kindergeld und die Zuschläge als zusätzliches Einkommen gleich wieder abgezogen, so daß sie unter dem Strich leer ausgehen ({4}) - natürlich stimmt das, Herr Kroll-Schlüter -, und das vor dem Hintergrund, daß allein 20 % aller Einelternfamilien von der Sozialhilfe leben. Für erwerbstätige Alleinerziehende werden zudem die Kinderfreibeträge nur zur Hälfte gewährt; sie sind schließlich nicht verheiratet. Und auch hier gilt wieFrau Wagner der: Je höher das Einkommen, desto größer die Steuerersparnis. ({5}) Alleinerziehende, die von der Sozialhilfe leben, haben von den steuerlichen Vergünstigungen rein gar nichts. Anstatt Wahlkampf mit Ihrer Familienpolitik zu machen, sollten Sie das Kind gleich beim Namen nennen: Familienpolitik für die Besserverdienenden bis Spitzeneinkommensbezieher, in der Regel die Ehemänner, und zu Lasten der nichtehelichen Lebensgemeinschaften; denn eine Schwulenlebensgemeinschaft wird nicht dafür belohnt, daß ein Partner zu Haus bleibt. ({6}) Die Nichtanrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung für die Frauen des Jahrgangs 1921 und früher ist eine klare Diskriminierung der älteren Frauen und Mütter. Hier steht allein die Entlastung der Rentenkasse im Vordergrund Ihrer Überlegungen und die begründete, ja zynische Annahme, daß ein Großteil der älteren Frauen die kläglichen Mehrzahlungen erst gar nicht erleben wird. Nun zum Erziehungsgeld! Es ist ein Gesetz vor allem für gutverdienende Ehemänner. Deren nichterwerbstätige Ehefrauen bekommen in den ersten Monaten noch 600 Mark Erziehungsgeld zum gemeinsamen Haushaltseinkommen dazu. Wer zuzahlt, das sind die erwerbstätigen Frauen. Für sie wurde das Mutterschaftsgeld gekürzt und wurden die Kündigungsbestimmungen aufgeweicht. Ein Lohnersatz ist das Erziehungsgeld allemal nicht. Für alleinerziehende Frauen bringt es überhaupt keine Verbesserung, da sie häufig erwerbstätig sein müssen und somit keinen Anspruch auf Geld und Urlaub haben. Eine Teilzeitbeschäftigung können sich nur besserverdienende Frauen leisten; für den Rest der alleinerziehenden Frauen gilt, daß sie die Kinder ganztags zur Großmutter bringen - selbstverständlich unbezahlt. Auch dieses Gesetz geht grundsätzlich von der Ehe als Idealform des Zusammenlebens aus. Das ist Ihr „Familienpaket", mit dem Sie hausieren gehen. Und diese Familienpolitik wird von den katholischen Kirchenfunktionären gepriesen! Auch sie setzen sich offensichtlich für eine Umverteilung von unten nach oben ein. Grüne Familienpolitik orientiert sich nicht an den Vorstellungen einer Idealfamilienform und deren besonderer Förderungswürdigkeit, schon gar nicht an der Institution „Ehe". Sie hat vielmehr das Ziel, die Lebensbedingungen von Kindern unabhängig vom Ehestatus der Eltern und deren Einkommen zu verbessern. ({7}) Deshalb schlagen wir vor, ehebezogene Leistungen zu streichen und das Steuer- und Sozialrecht perspektivisch nach dem Individualprinzip auszugestalten. Öffentliche Leistungen sollen nur für die Kinder und deren Betreuung bezahlt werden. Sie müssen so bemessen sein, daß sie den Aufwand für die Kinder und den Einkommensausfall der Betreuungsperson ersetzen. Grüne Familienpolitik beschränkt sich nicht auf monetäre Maßnahmen des Kinderlastenausgleichs. Ausreichend Kindergartenplätze müssen vorhanden sein, den Lebensbedürfnissen und -bedingungen der Familien bei Wohnung und Wohnumfeld muß Rechnung getragen werden. Nun zu Ihrer Frauenpolitik, Frau Süssmuth. Ich weiß von den Frauen, daß sich viele eine positive Wendung versprochen haben, als Frau Süssmuth ins Amt berufen wurde. Doch was hat sich in der Bundesrepublik verändert? Schöne Sprüche weiterhin, diesmal aus Frauenmund, ({8}) Solidaritätsbekundungen, die einer Frau abgenommen werden, da sie ja nachempfinden kann. An der Lage der Frau in der Bundesrepublik hat sich nichts geändert, jedenfalls nichts Positives. Genau wie ihr Vorgänger entwickelt Frau Süssmuth Scheinaktivitäten und veranlaßt Untersuchungen. Das ist ganz lieb und nett, doch löst es keine momentanen Probleme, sondern verschiebt sie. Es ist doch sattsam bekannt, daß Frauen die Hauptlast des Sozialabbaus der letzten Jahre zu tragen haben, daß sie, wie eine neuere Untersuchung zeigt, in der Arbeitslosenversicherung schlechter gestellt sind als Männer und daß sie bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche diskriminiert werden. Der Erwerbsbereich ist nach wie vor die Machtdomäne der Männer. Die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung in den Köpfen der Arbeitgeber lebt weiter. Von einer Quotierung der Ausbildungs- und Arbeitsplätze für die Frauen will Frau Süssmuth dennoch nichts wissen. Sie vertraut auf unverbindliche Richtlinien und Empfehlungen. Eine Informationsbroschüre der Bundesregierung legt Zeugnis darüber ab, wie Frauen im Arbeitsleben wahrgenommen werden, welchen Stellenwert sie haben. Es ist müßig, alle Punkte aufzuzählen, die das Presse- und Informationsamt seinen Leserinnen und Lesern zumutet. Deshalb nur ein paar Einzelpunkte: Familie und Arbeit, Lebensrealität der Mehrheit bundesdeutscher Frauen, sind in den Köpfen der Verfasser ungerecht verteilt. In dem 60seitigen Kapitel „Arbeit ist das halbe Leben" kommen Frauen kaum vor, sind bestenfalls Sekretärinnen, Krankenschwestern oder selber krank, während Männer so ziemlich alles können bzw. machen. Erwähnung finden Frauen nur dann, wenn es darum geht, sie wieder einzugliedern, weil sie vorübergehend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, oder wenn es darum geht, daß sie sich zwischen Mutterschaft und Erwerbstätigkeit zu entscheiden haben. Daß die „Politik für Arbeitnehmer", wie die Broschüre heißt, die Arbeitnehmerinnen ausschließt, liegt damit beweiskräftig vor. Wir sind sicher, daß sich die Frauen weigern werden, Partnerinnen einer so unverhüllt frauenfeindlichen Politik zu sein. Nun zum § 218. Den Problemen ungewollter Schwangerschaften steht die Bundesregierung hilflos und konzeptionslos gegenüber. ({9}) Sie versucht, ihnen mit verschärften Kontrollmaßnahmen zu begegnen. Es wird wieder einmal versucht - da stehen die Männer obenan -, den Frauen ein schlechtes Gewissen einzureden, ({10}) als ob es von diesen ehrenwerten Herren noch nie einer geschafft hätte, die unerwünschten Folgen eines Geschlechtsverkehrs beseitigen zu lassen! ({11}) Zu den geschätzten 140 000 abtreibenden Frauen gibt es doch wohl auch die dazugehörige Zahl an Männern. Eine zunehmende Verschärfung der Anwendung des § 218 bereitet den Boden für das Geschäft mit der Abtreibung. Dies ist allen bekannt, und doch wird derzeit wieder versucht, die Frauen zu kriminalisieren, und wird auch von der zuständigen Ministerin von Mißbrauch gesprochen. Die immer wieder angeführte Frau, die wegen eines anstehenden Urlaubs eine Abtreibung vornehmen läßt, ist nun hinlänglich bekannt. Ebenso bekannt sein dürfte, daß diese Frauen schon immer Möglichkeiten hatten abzutreiben. Genau dies ist der Grund für die Liberalisierung des Strafgesetzes gewesen. Sie von der Koalition wollen das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen. Im Fall einer ungewollten Schwangerschaft liegt es allein in der Entscheidungsbefugnis einer jeden Frau, ob sie sich zur Fortsetzung der Schwangerschaft entschließt oder nicht. Es kann durchaus verantwortlicher sein, sich selbst und dem Kind gegenüber, das Kind nicht auszutragen. ({12}) Es gibt die Einstellung, der Schutz des ungeborenen Lebens sei in jedem Fall höher zu bewerten als das Selbstbestimmungsrecht der Frau. ({13}) Hier wird verkannt, daß der § 218 das ungeborene Leben gar nicht schützt und nie geschützt hat. Es steht fest, daß sich unabhängig davon, wie repressiv oder liberal ein Abtreibungsverbot ist, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu keiner Zeit wesentlich verändert hat. ({14}) Kein noch so repressives Strafgesetz kann eine Frau, die sich gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft entschieden hat, zu lebenslanger Mutterschaft zwingen. Einzig und allein die Zahlen von legalen und illegalen Abbrüchen verschieben sich. Ein Schutz des ungeborenen Lebens ist also von einem Strafgesetz nicht zu erwarten. Dies hat auch der Ärztetag in seiner Feststellung zum Ausdruck gebracht, daß eine Verbesserung des Schutzes des ungeborenen Lebens nicht von einer Verschärfung von Gesetzen und Verfahrensregeln erwartet werden kann. ({15}) Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Solange die Strafbarkeit der Abtreibung bleibt, fällt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen den Moralisten zum Opfer. ({16}) Die Abtreibung als eine Frage der moralischen Einstellung und der persönlichen Lebensumstände kann nicht Gegenstand juristischer Verfolgung sein. Folglich muß der § 218 ersatzlos gestrichen werden. ({17}) Ich bin immer wieder erstaunt, wie gerade katholische Funktionäre in höheren Ämtern, ({18}) obendrein Männer, ({19}) ihr ganz privates Glaubensbekenntnis und die ethisch-moralischen Lebensmodelle, die sie für sich daraus ableiten, zum allgemeingültigen Maßstab für alle Menschen machen. Ich kann in der Geschichte wahrlich nichts finden, womit sich die Allgemeingültigkeit dieses Moralanspruchs belegen oder rechtfertigen ließe. ({20}) Im Namen der Kirche wurden Hexen verbrannt und Waffen gesegnet; daran erinnere ich mich. Und sind es nicht dieselben Leute, die das Leben zu schützen vorgeben, die es konsequent vermeiden, Schutzmaßnahmen öffentlich zu propagieren? Mit dem Schutz des Lebens ist es ihnen wohl nicht so ernst. ({21}) Zum Schutz des ungeborenen Lebens ist die Bundesregierung nun auf etwas Einfallsreiches gekommen, auf die Stiftung Mutter und Kind. Durch diesen Bettelfonds wird jedoch lediglich der Druck auf die Frauen vergrößert. Dabei ist doch bekannt, daß in allen Fällen, in denen versucht wurde, durch repressive Maßnahmen die Geburtenzahl zu erhöhen, eine solche Politik gescheitert ist. Daß die Stiftungsgelder so gefragt sind, sagt doch lediglich etwas über die Armut der Frauen aus, denen mit dieser Einmalzahlung ohne Rechtsanspruch überhaupt nicht geholfen ist. Sie, Frau Süssmuth, sagen mit keinem einzigen Satz, wie Sie der Armut alleinerFrau Wagner ziehender Frauen sofort und wirkungsvoll entgegentreten wollen. Aber das kann man wohl von einer CDU-Politikerin genauso wenig erwarten, wie man von ihr Frauenpolitik erwarten kann. ({22})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren j a heute im Rahmen der Einbringung des Haushalts 1987 über den Einzelplan 15, und in diesem Einzelplan 15, der das Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit umfaßt, sind für nächstes Jahr Ausgaben von über 19 Milliarden DM vorgesehen. Dies bedeutet gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg um 4,4%. Es ist mir völlig unverständlich, wie hier jemand wie Sie, Frau Schmidt, behaupten kann, das sei unterdurchschnittlich. Weil wir mit dem Geld, das wir für unsere Bürger zu verwalten haben, sparsam umgehen, beläuft sich nämlich die Steigerungsrate im Bundeshaushalt insgesamt auf nur 2,9 %. In diesem Haushalt spiegelt sich gerade das wider, was wir als Familienpolitik verstehen, als Politik für die Familien. Wir sehen in dieser Politik für die Familien eine Leistung, die den Familien wieder den entsprechenden Rang, die entsprechende Wertschätzung und einen hohen Stellenwert verleiht. Meine Damen und Herren, Sie verneinen das ständig und begeben sich hier dauernd auf eine Schiene, die rückwärts führt. Sie haben das ja auch in Ihren Beschlüssen von Nürnberg niedergelegt, in denen Sie von Regelungen sprechen, die sich auf das Jahr 1974 beziehen. Sie gehen sogar mit Ihrer klassenkämpferischen Art, in der Sie, Frau Schmidt, das vorgetragen haben - was ich Ihnen nachsehe, weil Sie bereits in den Wahlkampf eingestiegen sind -, noch wesentlich weiter zurück. Ich muß dazu sagen: Diese Thesen des 19. Jahrhunderts sind heute, im Jahre 1986, mehr als unangebracht. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, Sie müssen sich deshalb bei diesen Haushaltsberatungen von uns natürlich wieder ins Stammbuch schreiben lassen, daß sich unsere Familienpolitik nicht nur auf Transferleistungen, auf Kindergeld oder steuerliche Freibeträge, bezieht, so wichtig diese Leistungen natürlich auch sind. Seien Sie doch bitte so ehrlich, zu sagen - die Sprecherin der GRÜNEN hat es zumindest mit erwähnt -, daß wir für die Einkommensgruppen, die jetzt aus der Regelung mit dem steuerlichen Freibetrag einen Vorteil nicht erzielen können, eine Leistung von 46 DM pro Kind und pro Monat ins Gesetz hineingeschrieben haben, womit wir bereits für das erste Kind einen Mindestbetrag von 96 DM verankert haben. Eine aktive und diesen Namen auch verdienende Familienpolitik muß für viele Bereiche geöffnet sein und die Schranken auch für viele Bereiche öffnen. Ich möchte hier nur erwähnen: die Steuer- und die Wohnungspolitik, die Städte- und Raumplanung, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Tarifpolitik, Renten- und Sozialpolitik, aber auch Medien-, Schul- und Bildungspolitik. Ich darf noch einen Satz zur gestrigen Debatte sagen. Es war wieder einmal Herrn Kuhlwein vorbehalten, seine in der Zwischenzeit schon abgegriffene These von einem Bildungskahlschlag vorzutragen. Ich darf Ihnen nur in Erinnerung bringen - auch Sie wissen das, nur wider besseres Wissen behaupten Sie ständig etwas anderes -: Bei den Lehrstellen, den Benachteiligtenprogrammen, der Hochschulpolitik sind wir doch wieder auf den richtigen Weg gegangen, auch mit der BAföG-Regelung. ({1}) Gehen Sie doch nach Nordrhein-Westfalen, und sagen Sie doch Ihrem Herrn Rau, er möge wieder eine Schüler-BAföG-Regelung einführen. In Bayern haben wir sie. ({2}) - Ja, bitte, Herr Vogel, sagen Sie es mir doch. Ich sehe ihn hier nicht. ({3}) - Nein, nein, wir sind hier im Deutschen Bundestag, Herr Vogel - das darf ich Ihnen in Erinnerung bringen - und nicht im Landtag von NordrheinWestfalen. ({4}) Wir werden aber nicht ruhen - seien Sie sich dessen sicher -, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern draußen deutlich zu machen, was Sie für eine Politik betreiben wollen, daß für Sie die Familienpolitik eine sehr nachgeordnete Rolle spielt. ({5}) Und ich kann hier nur jedem den sogenannten „Irseer Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der SPD" oder den „Leitantrag Sozialpolitik" auf dem SPD-Parteitag in München, in Nürnberg, Entschuldigung, empfehlen. ({6}) - Nach München läßt man Sie ja gar nicht. Jeder kann sehr leicht erkennen, daß in diesen Papieren die Familienpolitik - Sie bringen das in Ihren Papieren sogar ausdrücklich schwarz auf weiß den Bürgerinnen und Bürgern nahe - auf ein Abstellgleis geschoben werden soll. Sie sehen die Familie doch immer wieder nur im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit von Mutter und Vater. ({7}) Ich glaube, daß wir eine Politik benötigen, die insbesondere Müttern und Vätern die Möglichkeit ein17884 räumt, ihre Fmilien, ihren Lebensinhalt so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Wir bekennen aber auch eindeutig, daß Familienpolitik - und gerade in einer Haushaltsdebatte muß man das immer wieder ansprechen - natürlich auch finanzierbar sein muß. Hier darf ich auch etwas an Ihre Verantwortung appellieren; denn Sie haben in den vergangenen Jahren dieser Legislaturperiode, sei es durch Ihre Fraktion oder über den Bundesrat, eine Flut von Gesetzesinitiativen eingebracht, deren Verabschiedung Kosten von über 47 Milliarden DM nach sich gezogen hätte. Sie haben aber überhaupt nicht erklärt, wie Sie das finanzieren wollten - wahrscheinlich wieder mit einer Verschuldungspolitik, wie wir sie bis 1982 mit einer jährlichen Nettoneuverschuldung von bis zu 50 Milliarden DM hatten, eine Zahl, die für die Steuern von morgen bedeutsam wäre. Da Familienpolitik auch untrennbar mit Jugendpolitik verbunden ist, muß man den jungen Leuten sagen, daß dieser Weg der Politik nur ein Verschieben auf morgen wäre, sprich: Die Steuern von morgen wären hier bereits vorprogrammiert. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß wir eine Politik betreiben - und Frau Minister Süssmuth hat es angesprochen -, die unsere älteren Mitbürger einbezieht, Kranke, Behinderte, die sie nicht in die Resignation, nicht in die Verzweiflung treibt, sondern ihnen wieder einen Weg aufzeigt, weil sie wissen: Wir stehen zu ihnen, wir bringen Lösungen, wir eröffnen Möglichkeiten, damit auch ihnen ihre Ängste genommen werden können. Dazu gehört für mich ganz besonders, daß die Politik zum Schutz des ungeborenen Lebens fortgeführt wird. Deshalb haben wir in der Koalition auch den Beschluß gefaßt, die Mittel für die Bundesstiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" um jährlich 20 Millionen DM zu erhöhen. ({8}) Das ist ein Zeichen christlicher, sozialer und demokratischer Politik. Ich hätte heute gern den Kanzlerkandidaten der SPD gefragt, ({9}) welche konkreten familienpolitischen Vorstellungen er eigentlich verfolgt; denn in seiner Rede auf dem Nürnberger Parteitag hat er die Familie nicht mit einem einzigen Satz erwähnt. ({10}) Klarer Beweis: Die Familie existiert für Herrn Rau nicht, ({11}) schon gar nicht in Fragen der Politik. ({12}) - Herr Vogel, Sie hätten ihm doch wenigstens so etwas in seine Rede reinschreiben können, damit er die Familie wenigstens einmal erwähnt. Er hat es nicht ein einziges Mal getan. ({13}) Ich hätte ihn auch gern weiter gefragt, weshalb er sich als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen nach wie vor weigert, eine Landesstiftung zum Schutz des ungeborenen Lebens einzurichten. Ich glaube nicht - ich komme damit zum Schluß -, ({14}) daß diese Ablehnung nur finanzielle Gründe hat. - Ich bedanke mich für Ihren Beifall. ({15}) Daran sieht man, wie sehr Sie getroffen sind. ({16}) Ich glaube nicht, daß diese Ablehnung nur finanzielle Gründe hat. Hier stellt sich für mich vielmehr auch die grundsätzliche Frage nach der Grundauffassung der SPD zu dieser Problematik. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie sich und nehmen Sie, Herr Rau, sich ein Beispiel am Freistaat Bayern! Hier wurden die Mittel des Bundes nicht nur dankbar aufgenommen, sondern durch eigene Landesmittel noch in übergroßem Maße verstärkt. ({17}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden deshalb dafür Sorge tragen - das wissen auch unsere Bürgerinnen und Bürger in der Republik -, daß in Zukunft nicht wieder auf eine Politik zurückgegriffen werden kann, wie Sie sie lange genug verfolgt haben und nach wie vor verfolgen und in der Opposition sicherlich weiter verfolgen werden, eine Politik, die unsere Jugend verunsichert, unsere Familien auf ein Nebengleis stellt, den Frauen nur vor einer Wahl Versprechungen macht und in der Gesundheitspolitik ohne jede Konzeption ist. ({18})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist an der Zeit, eine Bilanz der Debatte der letzten drei Tage zu ziehen. ({0}) Wahrscheinlich gibt es dabei Punkte, in denen wir übereinstimmen. ({1}) - Das ist die erste Rede, die für so bedeutend gehalten wird, daß sie mit Gongschlägen begleitet wird. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Dr. Vogel, was die Glocken bedeuten, wollen wir erst feststellen.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich gebe Ihnen ein kleines Zeichen, wenn ich wieder einen Gong für angebracht halte. ({0}) Dieses Wasserwerk hat wirklich etwas Intimes und Persönliches, ausgezeichnet! (Heiterkeit -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Auch noch mit Blinkzeichen!) - Na, ob Sie einen Gong kriegen, Herr Bundeskanzler, warten wir erst einmal ab. ({0}) Meine Damen und Herren, wahrscheinlich gibt es in dieser Bilanz der Debatte auch Punkte, in denen wir übereinstimmen, etwa darin, daß die große Rede Helmut Schmidts am vergangenen Mittwoch nicht nur ein Höhepunkt der Haushaltsdebatte, sondern auch eine Rede war, an die man sich noch lange erinnern wird. ({1}) Auch diejenigen, die ihn jahrelang aus der Opposition bekämpft haben, auch diejenigen, die an jenem 1. Oktober 1982 gegen ihn gestimmt haben, und diejenigen, die seine Ansichten nicht in jeder Hinsicht teilen, werden anerkennen: Das war die parlamentarische Abschiedsrede eines Staatsmannes von internationalem Rang. ({2}) Ich spreche sicherlich nicht nur für die deutschen Sozialdemokraten, wenn ich Helmut Schmidt von dieser Stelle aus noch einmal mit dem Respekt danke, den seine Persönlichkeit, seine Pflichterfüllung und seine überragenden Leistungen als Parlamentarier und als Bundeskanzler verdienen. ({3}) Das Ethos des politischen Pragmatismus in moralischer Absicht, zu dem er von dieser Stelle aufgerufen hat - Helmut Schmidt hat es selber nach dem Maß seiner Kräfte verwirklicht. Jeder Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers wird, ob gewollt oder nicht, jetzt und in Zukunft auch an diesem Manne, auch an Helmut Schmidt, gemessen werden. ({4}) Ein Wort der Anerkennung möchte ich auch Herrn Kollegen Barzel widmen. Er hat in fast 30 Parlamentsjahren alle Höhen und Tiefen eines Politikerschicksals durchlebt. Zwischen ihm und uns gab es und gibt es eine Vielzahl von Meinungsunterschieden und Gegensätzen. Das ist auch vorgestern bei seiner Rede deutlich geworden. Daran, daß Kollege Barzel unserem Land auf seine Weise gedient hat, zweifeln wir nicht, und dafür spreche ich ihm auch den Dank der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion aus. ({5}) In der Würdigung dieser beiden Männer sind wir uns offenbar, jedenfalls im Ergebnis, einig. In den meisten anderen Fragen, die hier in den letzten Tagen verhandelt worden sind, stehen sich hingegen Ihre Ansichten, Herr Bundeskanzler, und die Ihrer Koalition und die unseren diametral gegenüber. Wir streben in wichtigen Bereichen auf anderen Wegen anderen Zielen zu als Sie. Unser Ziel ist die solidarische Gesellschaft, in der die Starken für die Schwächeren einstehen. Unser Ziel ist eine Ordnung, in der wir auch morgen menschenwürdig und friedlich leben können, in der das Glück der einen nicht auf dem Unglück der anderen beruht. ({6}) Wir wissen, daß wir dieses Ziel nur durch Reformen, durch Veränderungen und durch Erneuerungen unserer Strukturen erreichen können: Denn das spüren nicht nur wir, das spürt auch unser Volk: Die einfache Fortschreibung des Bestehenden, das schlichte „Weiter so", ergibt keine lebenswerte Zukunft mehr. ({7}) Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind, ob Sie das wollen oder nicht, auf dem Weg zu einer Zweidrittelgesellschaft, zu einer Gesellschaft, in der eine wachsende Minderheit unseres Volkes auf der Strecke bleibt: Die Dauerarbeitslosen, die mehr und mehr die Hoffnung und, was fast noch schlimmer ist, die Selbstachtung verlieren, die jungen Menschen, die keinen Platz in der Gesellschaft finden, die etwas leisten wollen, aber nichts leisten dürfen und die deshalb Ihre Parole „Leistung muß sich wieder lohnen" als Hohn, als persönliche Kränkung empfinden. ({8}) Die berufstätigen Frauen, die wieder zu einer Reservearmee der Wirtschaft geworden sind - denn das meint doch Ihre Forderung nach Flexibilität in Wahrheit - oder die Älteren unserer Mitbürger, die immer früher aus dem Arbeitsleben herausgedrängt und immer mehr über die Zukunft ihrer sozialen Sicherheit im unklaren gelassen werden. ({9}) Und Sie leugnen die großen Herausforderungen. Ihre Antwort ist: Weiter so, ein „Weiter so", das über die Schwächeren kalt hinweggeht, weil Sie glauben, Ihre Mehrheit allein bei den Stärkeren finden zu können. ({10}) Es sei doch alles in Ordnung, sagen Sie; was da und dort noch fehle, sei nur der Optimismus. ({11}) Herr Bundeskanzler, wir sind keine Pessimisten. Wir sind voller Zuversicht. ({12}) Wir sind überzeugt, daß sich nicht nur die Tagesprobleme, sondern auch die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen lassen. Aber dazu müssen diese Herausforderungen den Menschen erst einmal vollständig und ungeschminkt dargestellt und vor Augen geführt werden. ({13}) Und die Hoffnung, die die Politik und die Menschen brauchen, wächst dann aus der Überzeugungskraft der Vorschläge zur Lösung der Probleme, nicht aber aus der Verdrängung der Probleme. ({14}) Das, Herr Bundeskanzler, ist unser Optimismus, ein realistischer Optimismus. ({15}) Aber ich füge hinzu: Es gibt auch einen ruchlosen Optimismus, der dickfellig und mit einem Lächeln, das gelegentlich die Grenze zum Zynismus streift, über alles hinweggeht, was die Menschen umtreibt, auch über ihre Nöte, ihre Sorgen, ihre Fragen nach dem Sinn, nach der ethischen Rechtfertigung dessen, was da eigentlich im Gange ist. ({16}) Sie sagen, Herr Bundeskanzler, es geht doch alles gut. Gewiß: Wir bestreiten gar nicht, daß wichtige wirtschaftliche Daten heute weltweit und auch bei uns günstiger sind als vor vier Jahren, und wir freuen uns darüber. ({17}) Das muß j a auch so sein, wenn die Konjunktur weltweit angezogen hat, wenn die Ölpreise um mehr als die Hälfte gefallen und die Rohstoffpreise um mehr als 30 % gesunken sind. Das macht ja im Jahre 1986 allein bei der Ölrechnung 30 Milliarden DM aus, die unserer Volkswirtschaft zusätzlich zur Verfügung stehen. Selbst Sie behaupten ja nicht, daß diese Entwicklung, der Olpreisverfall oder der Rohstoffpreisverfall, Ihr Verdienst sei. Und die Bundesbank weiß doch was sie sagt, wenn sie durch den Mund ihres Präsidenten gestern sagen ließ, daß die Preissteigerung ohne Olpreisverfall und ohne Dollarkursverfall bei über 2 % liegen würde. ({18}) - Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Erklärungen von Herrn Bundesbankpräsidenten Pöhl, auf die Sie sich sonst so häufig berufen, zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. ({19}) Aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, damit ist doch unsere Feststellung, daß Sie auf entscheidenden Gebieten nicht die günstigsten, sondern die schlechtesten Werte seit 1949 zu verantworten haben, in keinem Punkt widerlegt. Es ist doch so, daß unter Ihrer Verantwortung die Zahl der Haushalte, die von der Sozialhilfe leben müssen, mit deutlich über einer Million den absolut höchsten Stand seit 1949 erreicht hat. ({20}) Es ist doch so, Herr Bundeskanzler, daß noch nie seit Gründung der Bundesrepublik so viele Menschen in Armut gelebt haben. ({21}) Und das sagen Sie: „Weiter so"? ({22}) Es ist doch auch so, daß die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg die Zahl der Arbeitslosen trotz aller statistischen Kunststücke am 31. August auf mehr als 2 120 000 beziffern mußte. Das heißt, daß die amtlich erfaßte Arbeitslosigkeit - und wir sind uns doch einig, daß es auch eine amtlich nicht erfaßte und nicht erfaßbare Arbeitslosigkeit zusätzlich gibt - unverändert auf Rekordhöhe verharrt und im vierten Jahr Ihrer Regierung immer noch um mehrere 100 000 höher liegt als Ende August 1982, also als im ungünstigsten Vergleichsmonat der Regierung Helmut Schmidt. Ebenso ist wahr, daß die Zahl der Erwerbstätigen, also der Arbeitsplätze, im Juni 1986 - und all der Zahlennebel, der da verbreitet wird, scheitert an der amtlichen Statistik - nur um 160 000 höher lag als bei Ihrem Amtsantritt, Herr Bundeskanzler, und das im vierten Jahr des konjunkturellen Aufschwungs. Herr Bundeskanzler, mit allem Ernst: Was geschieht denn eigentlich, wenn wir mit einem solchen Arbeitslosensockel in den nächsten Konjunkturabschwung, der eines Tages kommen wird, hineingehen? Und da sagen Sie: „Weiter so"! ({23}) Übrigens: Die Zunahme der Arbeitsplätze ist doch zu einem großen Teil eine Folge der Arbeitszeitverkürzung, die gegen Ihren persönlichen erbitterten Widerstand durchgesetzt worden ist. ({24}) Herr Blüm gibt das hier ganz verschämt zu, indem er immer vom Vorruhestand redet. Aber warum verschweigen Sie das? Warum finden Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich nicht ein Wort der Anerkennung für die Gewerkschaften, deren Engagement und Verantwortungsbewußtsein, deren praktiDr. Vogel zierte Solidarität, die höhere Löhne hätten herausholen können und darauf verzichtet haben zugunsten der Arbeitszeitverkürzung und der Kolleginnen und Kollegen, die ohne Arbeit waren? ({25}) Warum finden Sie nicht ein Wort der Anerkennung für diese Gewerkschaften? Und ich kann, obwohl die Frage schon oft gestellt worden ist, Ihnen ihre Wiederholung nicht ersparen: Wer war denn in dieser Frage in Wahrheit dumm, absurd und töricht, Herr Bundeskanzler? ({26}) Es ist doch auch wahr und durch die Debatte in keiner Weise widerlegt, daß noch nie so viele Arbeitsplätze als Folge von Konkursen verlorengegangen sind wie in Ihrer Regierungszeit. In den letzten vier Jahren der Regierung Schmidt sind knapp 45 000 Unternehmen zusammengebrochen. Mit welcher Kritik haben Sie, die Sie hier sitzen - und Sie vor allem - diese Konkurszahlen begleitet! In den vier Jahren seit Ihrer Wende waren es 70 000, davon allein im letzten Jahr fast 19 000. Und da ist überall Ihre Parole zu lesen: Weiter so! ({27}) Sie, Herr Kollege Stoltenberg, haben unserem Kollegen Apel am Dienstag vorgeworfen, er verwende unzutreffende Zahlen. Herr Kollege Stoltenberg, ich habe soeben die gleichen Zahlen verwendet. Welche dieser Zahlen sind falsch? Sie sollten nicht die beleidigte Majestät spielen, sondern ganz konkret Roß und Reiter nennen oder schweigen, Herr Kollege Stoltenberg. ({28}) Daß Sie, Herr Kollege Stoltenberg, zu Vorwürfen auch schweigen können, haben Sie ja unter Beweis gestellt, etwa zu dem Vorwurf aus München - Herr Kollege Waigel wird ihn näher erläutern -, daß Leute mit mittlerem Einkommen, etwa Verheiratete - ich zitiere Ihr Beispiel - mit zwei Kindern, nach der von Ihnen verabschiedeten Steueränderung 1988 bis zu einem Bruttojahreseinkommen von 50 000 DM - das ist auch ein Beitrag zur Familiendebatte - keine einzige Mark Steuerentlastung erhalten. Zu diesem Vorwurf schweigen Sie doch auch. Ist dieser Vorwurf unrichtig? Dann sagen Sie es, und wenn er nicht unrichtig ist, dann geben Sie es zu und räumen Sie es ein, genauso wie bei den Vorwürfen des Kollegen Apel. ({29}) Außerdem, meine Damen und Herren von der Union, wollen Sie sich nach vier Jahren eigentlich immer noch mit der sogenannten Erblast herausreden? ({30}) Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Geißler, Herr Blüm haben doch vor Ihrer Wahl - und auch noch 1983 - großspurig die Senkung der Arbeitslosenzahl um 1 Million bis 1985 versprochen. Und weil Sie das immer wieder bestreiten - heute allerdings nicht, aber sonst -, möchte ich denen, die uns jetzt zuschauen, die Überschrift zeigen, in der es heißt: „Geißler" - 1983 -: „In zwei Jahren 1 Million Arbeitslose weniger." Herr Bundeskanzler, wenn Sie im vierten Jahr des Aufschwungs, ({31}) wenn Sie angesichts geradezu explodierender Erträge nicht weniger Unternehmen - allein die deutschen Banken haben in den letzten fünf Jahren ihre Gewinne über 100 % gesteigert -, wenn Sie angesichts der Konjunkturdaten, auf die Sie sich ständig beziehen, wenn Sie jetzt nichts gegen die Arbeitslosigkeit bewirken, wann wollen Sie dann eigentlich überhaupt etwas gegen die Arbeitslosigkeit bewirken? ({32}) Herr Bundeskanzler, es fehlt nicht an Arbeit, es fehlt auch nicht an Arbeitswilligen, es fehlt auch nicht an den finanziellen Mitteln, es fehlt am politischen Willen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in dieser Konjunkturlage zum Thema Nummer eins zu machen. ({33}) Es gibt in Ihren Reihen viel zuviele, die eine hohe Arbeitslosigkeit - die Zitate stelle ich Ihnen gerne zur Verfügung - oder eine angemessene Arbeitslosigkeit für ganz nützlich halten: zur Dämpfung der Begehrlichkeit, wie Sie sagen, oder zur Zähmung der Gewerkschaften, wie Sie das formulieren und ausdrücken. ({34}) - Ich habe noch schönere Zitate von Ihnen, Herr Waigel, warten Sie noch ein bißchen. ({35}) Meine Damen und Herren von der Union, Sie reden viel von der sozialen Gerechtigkeit und von einer Gesellschaft mit einem menschlichen Antlitz, die Sie angeblich verwirklichen wollen, und sagen auch hier: Weiter so! ({36}) - Herr Waigel, fordern Sie mich nicht zu vergleichenden Betrachtungen heraus über menschliche Gesichter oder - um in der Sprache von Herrn Wörner zu bleiben - über die Knackigkeitsgrenze oder die Schwabbeligkeitsgrenze und dergleichen. Da kann man eine ganze Menge Betrachtungen anstellen. ({37}) Die Tatsachen strafen Sie wiederum Lügen. Es ist doch wahr, daß die Abgabenbelastung des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens - das muß man ganz langsam und sorgfältig unseren Menschen immer wieder vor Augen führen - von Ihnen auf die Rekordhöhe von 42,7 % gesteigert worden ist ({38}) und in den vier Jahren der Regierung Kohl/Bangemann im Rekordtempo um 3,4 Prozentpunkte oder fast 10 % zugenommen hat. Noch nie waren die Rentenversicherungsbeiträge so hoch, noch nie sind so hohe Krankenversicherungsbeiträge erhoben worden, noch nie hat ein Finanzminister die Lohnsteuerzahler so geschröpft, wie Sie das tun. ({39}) Im letzten Jahr unserer Regierungsverantwortung zahlte der Durchschnittsverdiener von jeder verdienten Mark 39 Pf an Steuern und Abgaben. Heute, nach vier Jahren, zahlt er fast 43 Pf. Nach Ihren eigenen Planungen soll er 1989 44 Pf von jeder verdienten Mark zahlen. ({40}) Gleichzeitig haben Sie die Steuersubventionen um 50 % gesteigert. Und da werfen Sie uns vor, wir seien die Abgabenerhöhungspartei! Da kann ich nur sagen: Verglichen mit Ihnen sind wir auf diesem Feld die reinsten Waisenknaben. Kehren Sie gefälligst vor der eigenen Tür! ({41}) Sie sollten nicht länger von der Erblast reden; Sie sollten sich allmählich mit dem Problem der Wendelast auseinandersetzen, die Sie den Durchschnittsverdienern aufbürden. ({42}) Selbst diese Abgabensteigerungen, die in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Vierjahreszeitraum ohne Beispiel sind, haben nicht verhindert, daß Sie in den vier Jahren Ihrer Amtszeit über 100 Milliarden DM neuer Schulden aufgenommen und 48 Milliarden DM Bundesbankgewinne verbraucht haben. Das ist die größte Finanzierungslücke und die größte Schuldenaufnahme in einem Fünfjahreszeitraum seit 1949. Mit uns kann man darüber reden, ob dies notwendig war oder nicht. Aber wer solche Schulden macht, soll aufhören, die Vorgängerregierung wegen ihrer Schuldenaufnahmen zu kritisieren! ({43}) - Für so unsolide halte ich noch nicht einmal Sie, daß Sie Zinsen mit aufgenommenen Schulden zahlen, denn dann steht Ihr Konkurs unmittelbar bevor. ({44}) Wo, meine sehr verehrte Damen und Herren von der Koalition, üben Sie sonst soziale Gerechtigkeit? Bei den Trümmerfrauen, denen Sie schlimmes Unrecht zugefügt haben und die Sie jetzt bis zum Jahr 1989 vertrösten, vorausgesetzt, die Frauen erleben die Termine, die Sie da setzen? ({45}) Das ist eine Deadline ganz eigener, nein: einer sehr makabren Art, die in Ihrem Entwurf auftaucht. ({46}) Bei den Töchtern und Söhnen der Arbeitnehmer, denen Sie mit den BAföG-Zuschüssen die Gleichheit der Bildungschancen genommen haben? Bei den Frauen insgesamt, deren Rechte und Chancen Sie trotz aller schönen und wohlklingenden Reden, wie wir sie auch heute in diesem Hause gehört haben, nicht mehren, sondern mindern? ({47}) Und der soziale Friede? Herr Bundeskanzler, täuschen Sie sich nicht: Die Wunden, die Sie dem sozialen Frieden mit der Änderung des § 116 AFG ohne Not geschlagen haben, sind noch lange nicht vernarbt. ({48}) Ihre Hoffnung, davon redet niemand mehr, wird trügen. Die Arbeitnehmer sind nicht so vergeßlich, wie Sie es erhoffen. Sie werden Ihnen am 25. Januar 1987 auch dafür die Quittung geben. ({49}) Wir kritisieren nicht nur. ({50}) Wir haben überall, wo wir kritisieren, eigene Konzepte entwickelt. Sie haben diesen Konzepten in der Regel nichts außer Verdächtigungen und Diffamierungen entgegengesetzt. Wo sind eigentlich, meine Damen und Herren von der Koalition, insbesondere von der Union, Ihre Antworten in der Sache? Fällt Ihnen außer schreienden Zurufen, ({51}) außer Verdächtigungen eigentlich gar nichts mehr ein? ({52}) Aber vielleicht, Herr Kollege Waigel, überfordern wir ja gerade Sie. Sie beschimpfen ja einander bei den Kontroversen, die Sie in Ihrer eigenen Partei austragen, genauso. Man braucht nur zu verfolgen, mit welchen Vokabeln führende Repräsentanten der Koalition öffentlich über den Außenminister der gleichen Koalition oder Sie, Herr Waigel, über Herrn Rühe herfallen, wie da der eine den anderen ({53}) einen Falschspieler, einen Buben, einen Spinner oder einen Totengräber nennt ({54}) oder wie der Herr Waigel, der im Moment meint, er habe das Wort - aber er täuscht sich dabei; ({55}) der betroffene Hund bellt, ({56}) der betroffene Waigel lärmt -, ({57}) oder wie der Herr Waigel - es sind ja Ihre beiden Stellvertreter, lieber Kollege Dregger - von einem gewissen Politiker namens Rühe spricht, ihn als instinktlos bezeichnet und seinem Stellvertreterkollegen vorwirft, ({58}) Rühe habe mit seinen törichten Äußerungen zur Bindungswirkung der Ost-Verträge schon genug Verwirrung und Unheil gestiftet. So reden die miteinander, die Vertreter von Herrn Dregger. ({59}) Das ist die geistig-moralische Erneuerung. Das ist die geschlossene Partei des Herrn Kohl, die sich da artikuliert. ({60}) Wenn Sie so miteinander reden, kann man ja kaum erwarten, daß Sie sich mir oder uns gegenüber zivilisierter benehmen, Herr Waigel. Sie sind halt so. ({61}) Wir sagen: Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit - ({62}) - Na also, das ist j a wohl ein peinlicher Vergleich, wenn Sie ausgerechnet den Herrn Waigel mit dem Herbert Wehner vergleichen. Also so was Peinliches! ({63}) - Herr Präsident, kann man den Herrn mal vorübergehend reden lassen? ({64}) Reden lassen! Ich mache ja einen Moment Platz. Dann kann der doch mal hier reden. Die Zuschauer haben ja auch Schwierigkeiten, daß sie das, was hier dauernd von Herrn Waigel gebrüllt wird, mitbekommen. Ich hätte gern, daß er im Originalton seine Ansichten über Herrn Rühe hier noch mal darlegt. ({65}) Der Herr Rühe war klüger als Sie. Der hat gewußt, was kommt. Der ist gar nicht hier erschienen. Der Platz neben Herrn Dregger ist frei. ({66}) Wir sagen: Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit bedarf es einer ähnlich großen Gemeinschaftsanstrengung, wie wir alle sie nach dem Krieg in Zeiten nationaler Armut zur Eingliederung der Flüchtlinge, der Heimatvertriebenen, der Umsiedler und zur Behebung der Wohnungsnot unternommen haben. Kernstück der Gemeinschaftsanstrengung, die wir vorschlagen und fordern, ist unser Projekt „Arbeit und Umwelt", das jährlich 20 Milliarden DM zur Wiederherstellung zerstörter und zum Schutz bedrohter Umwelt verfügbar machen und schon im ersten Jahr mehrere Hunderttausende Arbeitsplätze schaffen könnte. Das wäre ebenso ein Akt der Solidarität wie die weitere Arbeitszeitverkürzung und die Verstärkung der Investitionskraft der Gemeinden durch die Verbesserung ihrer Einnahmen. Wir haben das vorgeschlagen und auf den Tisch des Hauses gelegt. Warum sperren Sie sich gegen diese gemeinschaftliche Anstrengung, die Sie sonst dauernd von Gemeinsamkeit reden? ({67}) Wir sagen: Die schlimmsten sozialen Ungerechtigkeiten müssen beseitigt, die Mitbestimmung muß gesichert und ausgebaut, der soziale Friede muß wieder hergestellt werden. Warum weigern Sie sich? Wenn Sie es wollen, Herr Bundeskanzler, Frau Süssmuth, meine Damen und Herren, kann der Bundestag die sofortige Einbeziehung der älteren Mütter in die Babyjahr-Regelung noch in diesem Monat, in der nächsten Sitzungswoche beschließen. ({68}) Wenn Sie es wollen, kann auch die Sicherung der Montan-Mitbestimmung innerhalb weniger Wochen, noch in diesem Jahr verabschiedet werden. ({69}) Wenn beides nicht geschieht, dann ist das allein Ihre Verantwortung. Die Wählerinnen und Wähler werden dann wissen, daß sie auch hier nur zu ihrem Recht kommen, wenn sie die Mehrheit bei nächster Gelegenheit verändern. ({70}) Wir sagen: Die Kernspaltung kann aus den Gründen, die Kollege Hauff gestern im einzelnen dargelegt hat, als Energiequelle nur noch für eine Übergangszeit hingenommen werden. Wir sagen: Vor allem das sogenannte Restrisiko ist nach den Erfahrungen von Tschernobyl nicht länger zu verantworten. Die jüngsten Ereignisse in Cattenom - ich verweise auch auf den Beschluß des Europäischen Parlaments, der mit Stimmen aus allen Lagern zustande gekommen ist - unterstreichen das. Herr Bundeskanzler - da Herr Zimmermann neben Ihnen sitzt, dann geht die Frage auch an ihn -, eine Technik, bei deren Nutzung es ein Versagen von Mensch und Material schlechterdings nicht geben darf, weil das eine unabsehbare, räumlich und zeitlich nicht begrenzbare Katastrophe zur Folge haben kann, überschreitet das dem Menschen gesetzte Maß und muß deshalb überwunden werden. ({71}) Ich darf hier gleich noch ein Mißverständnis aufgreifen. Die Überwindung einer solchen Technik, Herr Bundeskanzler, ist doch nicht Rückschritt oder spätbürgerlicher Pessimismus, wie Herr Blüm jetzt bei jeder Gelegenheit sagt. Die Anstrengung, eine solche Technik zu überwinden - das hat der Bundespräsident völlig zutreffend formuliert -, ist Fortschritt, ist eine Herausforderung für die Technik. ({72}) Dieser Übergang ist auch in überschaubarer Zeit unter zumutbaren Bedingungen möglich. ({73}) Das bestätigen jetzt sogar die von Ihnen selbst, die von Herrn Bangemann eingeholten Gutachten. Das bestätigt auch Herr Biedenkopf, der das laut und deutlich an interessanter Stelle, nämlich in einem langen Interview in der „taz" ausgeführt hat. ({74}) Ich weiß nicht, ob Sie die auch nicht lesen. Aber das würde ich mir einmal vorlegen lassen, Herr Bundeskanzler. Es ist wirklich vernünftig, was Herr Biedenkopf der „taz" sagt. ({75}) - Nicht immer, mein Herr, nicht immer, nein, nein. ({76}) Aber wenn Sie Biedenkopf dort interviewen, ist das in Ordnung. Da habe ich nichts dagegen. ({77}) Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich über dieses Gutachten geärgert, hat man gehört und gelesen. Warum eigentlich? Warum ärgern Sie sich über ein solches Gutachten? Weil Sie sich jetzt nicht mehr hinter der Behauptung verschanzen können, der Ausstieg sei unmöglich, ({78}) weil Sie jetzt wahrscheinlich nur noch sagen können, daß Sie einen möglichen Ausstieg nicht wollen? Das ist Ihr gutes Recht. Aber sagen müssen Sie es. ({79}) Meine Damen und Herren, Sie sagen auch im Hinblick auf Ihre Kernenergiepolitik: Weiter so! Sie setzen alle staatlichen und kommerziellen Mittel ein, um die Akzeptanz der Kernenergie auch gegen die größten Widerstände zu erzwingen. In wessen Interesse geschieht das eigentlich, Herr Bundeskanzler? Aber auch hier lernen die Wählerinnen und Wähler, daß der Kurs auch auf diesem Gebiet nur zu ändern ist, wenn zuvor die Mehrheiten geändert werden. Das hat die Debatte deutlich gemacht. ({80}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie verteufeln unsere Konzepte. ({81}) Sie verteufeln auch unsere Forderung nach einer sofortigen Beendigung des wahnwitzigen Wettrüstens oder unser Konzept der gemeinsamen Sicherheit, der Sicherheitspartnerschaft, wie Helmut Schmidt das 1982 in seiner großen Rede vor den Vereinten Nationen genannt hat, der Helmut Schmidt, auf den Sie sich uns gegenüber immer wieder zu berufen suchen. Übernehmen Sie doch diesen guten Begriff von Helmut Schmidt: Sicherheitspartnerschaft. Das wäre ein Fortschritt. ({82}) Dabei hat uns, jedenfalls den Nachdenklichen in allen Fraktionen, Tschernobyl gezeigt, daß selbst die Gefahren der zivilen Nutzung der Atomkraft nur gemeinsam und nicht mehr ohne den jeweils anderen, geschweige denn gegeneinander zu überwinden sind. Sie selbst haben doch deswegen auch die internationale Konferenz mit gefordert und zu mehr Gemeinsamkeit und zu mehr Partnerschaft auf diesem Gebiet aufgefordert. Wenn das schon bei der zivilen Nutzung gilt, wieviel mehr muß es bei der Verhinderung der militärischen Nutzung gelten, ({83}) ganz abgesehen davon, daß die Zweifel mehr und mehr wachsen, ob sich überhaupt friedliche und militärische Nutzung - und das sage ich auch an die Adresse der sowjetischen Führung - auf die Dauer so trennen lassen, wie manche meinen, daß sie es tatsächlich könnten. ({84}) Wo die Verteufelung nicht hilft, da wird es mit der Angst versucht, ({85}) früher mit der Russenangst, ({86}) jetzt mit der Fremdenangst. Denn hinter Ihrer Asylkampagne steckt doch das ganz kalte Kalkül mit der Angst der Menschen vor Überfremdung, ({87}) der Angst davor, daß die Deutschen in ihrem eigenen Land keinen Platz mehr finden. Darum, weil Sie glauben, diese Emotionen würden Ihnen nutzen, treiben Sie seit Wochen das schlimme Spiel mit der Grundgesetzänderung, ({88}) von der Sie draußen, Herr Bundeskanzler, und viele Ihrer Mitstreiter andauernd reden, obwohl Sie doch ganz genau wissen, Herr Bundeskanzler, daß Sie dafür nicht einmal alle Stimmen der eigenen Fraktion und der unionsregierten Länder bekommen. Das haben doch auch Herr Diepgen und Herr Biedenkopf, aber auch andere, zuletzt Herr Kronenberg vom Zentralkomitee der Katholiken klipp und klar gesagt. Sie wissen doch auch ganz genau - und das hat doch Herr Fellner Ihnen auch erläutert -, daß Sie durch eine Grundgesetzergänzung gar nichts bewirken, es sei denn, Sie schaffen das Asylgrundrecht als Grundrecht ausdrücklich ab. ({89}) Ihre innenpolitischen Sprecher, der Herr Fellner und der Herr Broll, haben das ja inzwischen auch ganz ungeniert gefordert. Wenn Sie Einwände haben, dann machen Sie das mit Ihrem eigenen Koalitionspartner erst einmal aus; die sagen ja dasselbe. Herr Bundeskanzler, ich stimme meinem Nachnachfolger im Amte, Herrn Justizminister Engelhard, selten zu und habe selten dazu Gelegenheit. Aber wenn er dieses Spiel, das da mit der Grundgesetzänderung getrieben wird, öffentlich auch an Ihre Adresse unredlich nennt, dann hat auch Herr Engelhard recht und dann hat er meine Zustimmung. ({90}) Das ist übrigens in der Geschichte der Bundesrepublik ein relativ seltener Fall, daß der amtierende Justizminister, wenn auch ohne Namensnennung, dem Bundeskanzler erklärt, das, was er tue, sei ein unredliches Spiel. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Justizminister im Kabinett Schmidt oder im Kabinett Brandt sich ähnliches hätte lange leisten können, ({91}) - Das war nicht der Punkt in der Sache; es ist die Tatsache, daß ein Mann hier seelenruhig Justizminister sein kann, der seinem Kanzler sagt: Das ist ein unredliches Spiel. Engelhard sagt das ja nicht einmal schnell, in der Hitze, er sagt es j a langsam, er sagt das j a Wort für Wort, überlegt, kontrolliert, ({92}) das haben wir doch gestern gehört. Das Spiel ist um so schlimmer, Herr Bundeskanzler, als Sie ja gleichzeitig das verfassungsrechtlich und rechtsstaatlich Mögliche - dem j a auch wir in einigen Punkten durchaus unsere Zustimmung geben könnten - zur Verminderung der Zahl der Zuwanderer, die keine Asylgründe haben, nicht tun. Das tun Sie j a nicht. Das verschleppen Sie seit Jahr und Tag. Das tun Sie ja jetzt noch nicht einmal. Wir haben damals die Verfahrensdauer verkürzt, und die Zahl der Zuwanderer ist von 1980 bis 1983 von über 90 000 auf 19 000 heruntergegangen. Sie tun nichts und reden dann draußen zur Aufheizung der Stimmung über Grundgesetzänderung. ({93}) Ich finde es auch bedauerlich, Herr Bundeskanzler, nein, ich finde es irgendwie fast enthüllend, daß Sie draußen das Asylproblem seit Wochen geradezu als eine Schicksalsfrage darstellen, aber vorgestern hier in einer einstündigen Rede an diesem Pult als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht ein einziges Wort zu diesem Thema verlieren, das Sie angeblich so umtreibt. ({94}) Erfreulicherweise haben sich die beiden großen christlichen Kirchen und auch die anderen zu diesen Vorgängen klar und eindeutig ohne Wenn und Aber geäußert, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland genauso wie Kardinal Höffner, wie Weihbischob Wöste, wie Bischof Kamphaus von Limburg und viele andere. Wir danken ihnen dafür. ({95}) Wir hoffen, daß die Parteien, die sich christlich nennen, endlich auf diese Mahnung hören. ({96}) Es sollte Sie, meine Damen und Herren von der Union, und auch Sie, Herr Bundeskanzler - da Sie gerade mit Herrn Genscher sprechen, möchte ich sagen: hören Sie lieber auf Herrn Genscher, was die Frage der Grundgesetzänderung angeht -, ({97}) auch zur Besinnung bringen, daß nicht nur Helmut Schmidt, sondern vorgestern in unüberhörbarer Weise auch Rainer Barzel deutlich vor einer Grundgesetzänderung gewarnt hat. Uns jedenfalls werden Sie mit diesen schlimmen Kampagnen von unserem Weg nicht abbringen. Mit unseren Stimmen - nehmen Sie das zur Kenntnis - wird der Art. 16 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nicht geändert werden. ({98}) Ich sage Ihnen mit großem Ernst: Wir haben nicht vergessen - und Elsbeth Weichmann, die Witwe des großen Hamburger Bürgermeisters, hat uns alle daran erinnert -, daß Hunderttausende deutscher Demokraten die Gewaltherrschaft nur deshalb überlebt haben, daß sie nach 1945 das andere, das bessere Deutschland, das Schmidt und Barzel hier so überzeugend geschildert haben und das wir bejahen, nur deshalb aufbauen konnten, weil andere Völker ihnen jahrelang Asyl gewährt haben. ({99}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit wir uns nicht täuschen: Wir stehen auch sonst zu den Beschlüssen, die wir in Nürnberg mit überwältigender Mehrheit, nein: einmütig gefaßt haben. Wenn Sie uns vorwerfen, wir wollten Strukturen verändern, dann ducken wir uns nicht, dann antworten wir: Ja, wir wollen Strukturen verändern, wo es notwendig ist, um die Grundwerte unserer Ordnung zu bewahren. ({100}) Wir wollen Strukturen da verändern, wo es notwendig ist, um die Grundwerte unserer Ordnung zu bewahren, die Grundrechte der Freiheit, des Friedens, der Solidarität und der Gerechtigkeit. Übrigens an Ihre Adresse, Herr Stoltenberg: Neid ist eine Sünde. Da stimme ich Ihnen zu. Aber das Streben nach Gerechtigkeit ist eine Tugend. Die Bibel sagt, Gerechtigkeit erhöhet ein Volk. ({101}) Wer das Streben nach Gerechtigkeit, Herr Kollege Stoltenberg - und das gilt nun, nachdem das einmal als Thema aufgekommen ist, weil Sie sich darauf berufen haben, dem Christen Stoltenberg -, als Neid diffamiert, hat nichts von der christlichen Botschaft verstanden. ({102}) Meine Damen und Herren, im Deutschen Bundestag und vor der deutschen Öffentlichkeit bekennen wir uns dazu, daß wir Sozialdemokraten eine Partei der Reformen waren und sind. Wir haben in der Vergangenheit Strukturen verändert. Die grundlegenden Veränderungen der letzten 100 Jahre waren sozialdemokratische Forderungen. Sie sind von uns gegen alle Widerstände und Angstkampagnen in Gang gesetzt und durchgesetzt worden: der Acht-Stunden-Tag, die soziale Grundsicherung, die Anfänge der Mitbestimmung, das gleiche und das allgemeine Wahlrecht, das Wahlrecht für die Frauen, die Gleichberechtigung der Frauen und die parlamentarische Demokratie. Ihre politischen Vorfahren standen im letzten Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts bei vielen dieser Auseinandersetzungen auf der anderen Seite, nicht auf der Seite derer, die verändert haben. ({103}) Viele aus dem Lager der Konservativen haben stets Besitzstände, Privilegien und brüchig gewordene Strukturen verteidigt, wo Sozialdemokraten um mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Teilhabe gekämpft haben. ({104}) Das Argument des Neides, meine Damen und Herren, ist dabei von den Konservativen der früheren Generationen ebenso zur Bekämpfung der Sozialdemokraten benutzt worden, wie Sie es heute benutzen. ({105}) Sie selber, die Sie hier sitzen, waren doch auch in den letzten Jahrzehnten immer gegen das, was die Klügeren unter Ihnen inzwischen als Fortschritt - Herr Rühe zum Beispiel - und als Elemente der Friedenssicherung und der Stabilität anerkennen. Sie waren gegen die Ostpolitik, Sie waren gegen den Vertrag mit Polen, Sie waren gegen den Grundlagenvertrag, Sie waren gegen den UNO-Beitritt, Sie waren gegen die Schlußakte von Helsinki, Sie waren gegen den Atomsperrvertrag. Wo wären wir denn, wenn wir diese Strukturen nicht gegen Ihren Widerstand verändert hätten? ({106}) Herr Bundeskanzler, in Ihren Reihen geistert wieder das Wort von den „vaterlandslosen Gesellen". Nehmen Sie ein für allemal zur Kenntnis: Die deutschen Sozialdemokraten lassen sich von niemandem aus der Geschichte unseres Volkes und schon gar nicht aus diesem unserem Staat herausdrängen! ({107}) Wir sind stolz auf unsere Geschichte und auf das, was Sozialdemokraten in 120 Jahren zum Wohle unseres Volkes beigetragen haben. Das Grundgesetz ist auch unser Grundgesetz, der Staat des Grundgesetzes ist auch unser Staat - Ihre Kampagnen laufen ins Leere! ({108}) Unsere Siege waren stets Siege für die Demokratie und die Menschenrechte, ({109}) und unsere Niederlagen waren stets Niederlagen für den Frieden und Niederlagen für die Freiheit. Studieren Sie die deutsche Geschichte! ({110}) Wenn Sie diese Auseinandersetzung wollen, Herr Bundeskanzler - wir sind bereit; denn wir wissen: Die Ursachen der beiden deutschen Katastrophen in diesem Jahrhundert sind nicht bei uns, sie sind in den rechten Traditionen unserer politischen Geschichte zu suchen. ({111}) Leider muß ich dies hinzufügen: Einzelne Elemente dieser unseligen Traditionen finden in Ihren Reihen da und dort schon wieder Fürsprecher. ({112}) Ich sehe Herrn Kollegen Hoppe an und frage ihn, ob das nicht für gewisse Erscheinungen in der Jungen Union in Berlin oder bei denen zutrifft, die mit antisemitischen Redensarten liebäugeln, weil sie sie für populär halten, ({113}) oder bei jenem unsäglichen Herrn Lummer, der wegen seiner rechtsradikalen Kontakte als Senator selbst für Sie nicht mehr tragbar war, den Sie uns aber hier im nächsten Bundestag zumuten wollen. ({114}) Der Haushaltsentwurf, meine Damen und Herren, den Sie vorgelegt haben, ist Ausdruck der Politik, die wir ablehnen; Hans Apel und die anderen Redner unserer Fraktion haben das dargelegt. Sie haben keinen unserer Einwände entkräften können; ({115}) im Gegenteil, jetzt, am Ende dieser Debatte, ist es noch deutlicher geworden als zuvor: Dieser Haushalt ist beschäftigungsfeindlich, weil er nichts zur Verminderung der Arbeitslosigkeit beiträgt und den Anteil der Investitionen sogar noch verringert. Er ist unsozial, weil er keine einzige der Ungerechtigkeiten der letzten Jahre korrigiert, sondern diese Ungerechtigkeiten noch verschärft und den alten Ungerechtigkeiten neue hinzufügt. Der Haushalt ist außerdem nicht solide, weil er schon jetzt erkennbare Mehrausgaben in Milliardenhöhe außer Betracht läßt und den Ausgleich trotzdem nur durch die Veräußerung von Bundesvermögen zustande bringt. ({116}) Die Debatten in dieser Woche und die Auseinandersetzungen um den Haushalt 1987 - das ist von Ihrer Seite genauso gesagt worden wie von unserer - sind ein Teil des Ringens um die Regierungsverantwortung, ein Teil des Ringens um eine neue Politik, die den Bedürfnissen der ganz breiten Mehrheit unseres Volkes entspricht. Diese Mehrheit - täuschen Sie sich nicht! - hat schon begonnen, sich auch als politische Mehrheit zu formieren. ({117}) Seit dem März 1983 sind Sie mit einer Ausnahme bei jeder Landtagswahl schwächer geworden. In der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, haben Sie Ihre absolute Mehrheit, die Sie am 6. März 1983 hatten, schon lange verloren. ({118}) Dieser Prozeß wird weitergehen. Es gibt in unserem Volk Mehrheiten für Frieden und Solidarität, für soziale und ökologische Verantwortung. Es gibt Mehrheiten gegen die Ausgrenzung von Schwachen und von Minderheiten. ({119}) Es gibt Mehrheiten für die Gleichstellung von Frauen und Männern in Beruf, Gesellschaft und Familie. Es gibt Mehrheiten für den entschlossenen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für die ökologische Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Es gibt auch Mehrheiten für eine Änderung des politischen Stils und die Wiederherstellung der politischen Kultur. ({120}) - Ich bedaure sehr, aber vielleicht ist es möglich, daß das Fernsehen von dieser Art der Reaktion einen unmittelbaren Eindruck vermittelt. ({121}) Wir wollen diese Mehrheiten zu einer politischen Mehrheit zusammenführen, die der Wende, dem ebenso oberflächlichen wie selbstgefälligen „Weiter so!" ein Ende macht, eine Mehrheit, die unser Volk vor dem bewahrt, was Sie ihm in einer neuen Legislaturperiode zumuten würden. ({122}) Um diese politische Mehrheit kämpfen wir mit all der Erfahrung, die wir über 120 Jahre erworben haben, mit all dem Engagement, mit all der Zuversicht und all der Disziplin, deren die deutschen Sozialdemokraten fähig sind, wenn sie wissen, daß es ums Ganze geht. Die Nürnberger Tage haben gezeigt: Wir wissen, es geht ums Ganze. Wir sind geschlossen. Wir sind aber auch entschlossen, daß dieser Haushalt für lange Zeit der letzte sein soll, den Sie uns vortragen. Der nächste wird unsere Handschrift tragen. ({123})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoppe.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es mag Kollegen in diesem Haus geben, aber vielleicht auch Zuhörer, Herr Vogel, die sagen werden: Das Beste an dem Auftritt war der Gong. ({0}) Aber ich gehöre nicht zu den Zensurengebern. Deshalb möchte ich zur Sache an uns alle die Mahnung richten, daß angesichts der ungelösten Probleme vielleicht doch etwas mehr Selbstkritik angebracht wäre. ({1}) Nicht Jubelposen und nicht Stimulierung von Neidkomplexen sind gefragt. ({2}) Die Hinwendung zu den Reden von Helmut Schmidt und Barzel wirkt doch wie ein hohles Alibi, wenn anschließend wieder aus dem vollen polemisiert wird. ({3}) Es war Hans-Magnus Enzensberger, der geschrieben hat: Der Haß auf den Wohlstand gehört zu den Lebenslügen der deutschen Intelligenzija. Er ist ihr moralisches Alibi. Meine Damen und Herren, bei nüchterner Betrachtung des vorliegenden haushaltspolitischen Materials, das wir in den letzten Tagen diskutiert haben, bleibt doch wohl trotz aller Polemik und aller unterschiedlichen Auffassungen festzustellen, daß die Eckdaten des jetzt zur Beratung anstehenden Haushalts die Früchte des nunmehr im fünften Jahr durchgehaltenen Kurses restriktiver Finanzpolitik zeigen. ({4}) So ist der vom Bundesfinanzminister vorgelegte Entwurf des Haushalts 1987 ein konjunkturpolitisch passender Maßanzug, allerdings einer - das sage ich selbstkritisch - mit ausgebeulten Taschen, sprich: immer noch hoher Verschuldung, und leider mit ausgefransten Hosen, will sagen: zu hoher Arbeitslosigkeit. So gilt denn auch für diesen Haushalt, daß die sprunghaft angestiegene Neuverschuldung zwar gestoppt, aber die Konsolidierung der Bundesfinanzen noch nicht erreicht ist. Deshalb muß weiterhin klar sein: Konsolidierung bleibt Daueraufgabe. ({5}) Schließlich ist es das ehrgeizige Ziel dieser Koalition, die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen, denn nur ein wirtschaftlich gesunder Staat ist in der Lage, auch seine sozialen Verpflichtungen zu erfüllen. Weitere Steuerentlastungen und eine Verbesserung der Steuerstruktur sind das entscheidende Instrumentarium, um die Wachstumsgrundlagen und die zukünftigen Beschäftigungsmöglichkeiten, die wir brauchen, nachhaltig zu stärken. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist, daß die Staatsausgaben begrenzt bleiben und der bei uns im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Japan immer noch zu hohe Staatsanteil weiter zurückgeführt wird. Dies ist der beste Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland für eine verstärkte internationale wirtschaftspolitische Kooperation, zur nachhaltigen Überwindung der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und für ein dauerhaftes Wachstum der Weltwirtschaft leisten kann. Die Freien Demokraten wollen in dieser Koalition konsequenter Mahner und Verfechter jener auf Stabilität ausgerichteten Haushalts- und Finanzpolitik bleiben, die uns überhaupt erst wieder handlungsfähig gemacht hat. ({6}) Bei der Sanierung der Staatsfinanzen mußte hart zugegriffen werden. Aber es wurden damit auch die ersten Erfolge erreicht: Der Würgegriff der Verschuldung ist gelockert. Aber wer schon wieder aus dem vollen schöpfen will, macht sich selbst etwas vor und leugnet die Realitäten. Wie damals sind wir auch heute wieder anfällig für die Bedienung von Gruppeninteressen. Ich möchte das nicht durchbuchstabieren, aber der en suite geführte Wahlkampf von Niedersachsen über Bayern und Hamburg bis zur Bundestagswahl und dann schon wieder zur Landtagswahl Schleswig-Holstein läßt Subventionen sprießen. Das kann sehr leicht erneut zu einer gruppendynamischen Anspruchsexplosion führen. Ich will deshalb jetzt uns alle warnen. Das Klagelied zum Subventionsabbau will ich nicht erneut singen, aber dieses Thema unserer Finanzpolitik bleibt in der Gegenwart eher peinlich. ({7}) Noch werden neue Kontrastprogramme aufgelegt, und das gilt nicht nur für die Landwirtschaft. Aber der durch die Konsolidierung wieder zurückgewonnene Handlungsspielraum ist auch sinnvoll genutzt worden: 1984 zur Absenkung der Unternehmensbesteuerung und dann mit dem Steuerentlastungsgesetz zur Entlastung der Lohn- und Einkommensteuerzahler mit der Familienkomponente, über die hier so ausführlich diskutiert worden ist. Jetzt gilt es, das Anschlußprogramm der nächsten Legislaturperiode mit seiner Entlastungswirkung für Arbeitnehmer und Unternehmer klar erkennbar werden zu lassen. Denn dadurch schaffen wir Orientierungspunkte für die Tagespolitik und stärken das Vertrauen in die längerfristige Entwicklung. ({8}) Und dabei muß wieder Mode werden, jene als sozial zu bezeichnen, die hart arbeiten, selbst vorsorgen, investieren und Steuern zahlen. Die Selbstverantwortung kommt aber nicht von selbst zustande. Der Staat muß dazu die erforderlichen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen. Nur spektakuläre Reformen großen Stils sind in der Lage, bewußtseinsbildend zu wirken und uns die UnterstütHoppe zung der Wähler, die wir jetzt erhalten, auch zu bewahren. ({9}) Meine Damen und Herren, um die wichtigen vor uns liegenden Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können, sollten wir es - und das sage ich nun im Preußenjahr - mit dem Preußen von Schlieffen halten: „Viel leisten, wenig hervortreten, mehr sein als scheinen." ({10})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Finanzen.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen Schluß dieser mehrtägigen Etatdebatte kann man eines feststellen: Es war eine Diskussion, zum Teil auch eine leidenschaftliche Auseinandersetzung, weit über die wichtigen Fragen der Finanzpolitik hinaus. Es war eine Auseinandersetzung über Grundfragen der Zukunft unseres Volkes, die Bilanz, die noch ungelösten Probleme. Fast der einzige Punkt, in dem ich mit dem Herrn Kollegen Vogel - unter dem Eindruck seiner Rede will ich das sagen - einig bin, ist, daß in einigen bedeutenden Reden die besten Traditionen des Parlamentarismus hier zum Ausdruck kamen, daß sie lebendig und anschaulich wurden. Natürlich denken wir alle dabei an Helmut Schmidt und Rainer Barzel. Aber wer solche stark über den Tag hinaus wirkenden Reden eingangs als Vorbild lobt, Herr Kollege Vogel, sollte in Stil und Inhalt jedenfalls ein Minimum an Übereinstimmung oder Annäherung halten. ({0}) Ich will es mir versagen, auf alle Punkte dieser breiten, ungewöhnlich polemischen, durch viele innere Widersprüche gekennzeichneten Rede einzugehen. ({1}) - Ich will einige Punkte nennen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Kollege Westphal. Ich sage das auch in bezug auf die von Herrn Vogel so gelobte Rede des Kollegen Helmut Schmidt. In ihr ist im Vergleich zu den Ausführungen von Herrn Apel und Herrn Vogel am Schluß ein grundlegender Widerspruch der sozialdemokratischen Konzepte zur Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik angeklungen. Helmut Schmidt hat in seiner Rede - ich habe mir hier eben noch einmal das Protokoll zur Hand genommen - gegen die Bundesregierung, gegen mich persönlich im Blick auf die letzten vier Jahre den Vorwurf der Überkonsolidierung erhoben. Er hat gesagt: Ihr seid mit der Konsolidierung, der Zurückführung der Neuverschuldung, zu schnell vorangegangen, und das hat Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt gebracht. - Und derselbe Herr Vogel, der ihn preist und lobt, fängt die alte Platte von Apel wieder an, wir hätten zu viel Schulden gemacht. Das kann doch wohl nicht ernstgenommen werden als Ausdruck sozialdemokratischer Alternative. ({2}) - Ich habe beide Texte hier vorliegen, den einen wie den anderen. ({3}) Jeder kann das erinnern, nicht nur in diesem Hause, sondern auch diejenigen, die über die Tage hinweg diese Debatte aufmerksam begleiten. Die Frage, welchen Weg wir wählen zwischen den Aufgaben der Finanz- und Haushaltspolitik für die Förderung der Wirtschaft und Beschäftigung einerseits, den Spielräumen für Steuersenkungen und der vertretbaren Nettokreditaufnahme andererseits ist, wie alle Kollegen wissen, eine der zentralen Fragen jeder grundlegenden haushalts- und finanzpolitischen Diskussion und Planung. Nur zu Beginn zu sagen: Ihr seid die großen Schuldenmacher, dann unter großem Beifall Helmut Schmidt zu applaudieren, wenn er sagt: Ihr habt die Nettokreditaufnahme zu schnell zurückgeführt, zu Lasten von Wirtschaft und Beschäftigung, wie wir meinen, und zum Schluß wieder in diesem fabelhaften Manuskript, Herr Vogel, mit der Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, die Ihnen keiner in diesem Hause nachmacht, zu sagen: Du hast da über 100 Milliarden DM Schulden gemacht, das ist ganz schlimm, ({4}) das entspricht nicht den intellektuellen Ansprüchen, die Sie hier gegenüber anderen geltend machen. ({5}) Ich will hier auf einen zweiten Widerspruch hinweisen, der die Debatte durchzogen hat. Der Kollege Apel hat ein großes Wort ausgesprochen; er hat gesagt: Wir werden, wenn wir unsere Pläne, die Programme von Nürnberg und anderes mehr verwirklichen, die Neuverschuldung des Bundes nicht erhöhen. - Aber ich muß bis heute morgen, bis zur Debatte über die Familienpolitik, hier sagen: Die Sprecher der Opposition haben bei fast jedem Einzelplan eine Vielfalt von Forderungen und Versprechungen mit Blick auf die Wahl gemacht, die die Nettokreditaufnahme des Bundes in kürzester Zeit eher verdreifachen als verdoppeln würden. Auch das ist ein Widerspruch, der der Aufklärung, zumindest der Klarstellung und der öffentlichen Kritik bedarf. Herr Kollege Vogel, alles Pathos und alle Polemik führen nicht daran vorbei: Ihre Partei, deren stellvertretender Vorsitzender Sie sind, ist in Kernfragen von der Programmatik und der Politik der SPD in der Zeit von 1960 bis 1982 weggerückt. Das gilt in besonders dramatischer Weise für die Energiepolitik. ({6}) Es gilt für Grundsatzfragen unserer Wirtschaftsverfassung, und es gilt für die schicksalhaften Themen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um nur drei dieser Bereiche zu nennen. ({7}) - Ja, natürlich, daß Sie, meine Damen und Herren der GRÜNEN, das begrüßen, ist klar. - Nur: Dieser neue Kurs der SPD, der Kurs der Annäherung an die GRÜNEN, kostet Sie einen hohen Preis, nämlich das Vertrauen Ihrer Stammwähler und vieler Ihrer eigenen Mitglieder. ({8}) Wir können in der heutigen Presse ausführlich die Berichte über die gestrige Tagung von 27 Betriebsratsvorsitzenden und zahlreichen weiteren Betriebsräten aus der Energiewirtschaft in Brunsbüttel in Schleswig-Holstein verfolgen. Sie sagen, sie hätten ein Mandat von über 200 000 Arbeitnehmern in jenen Bereichen der Energiewirtschaft, die natürlich vor allem der Kernenergie und ihren Zulieferbetrieben verbunden sind. Sie haben auf der gestrigen Pressekonferenz erklärt - fast alle sind Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes; viele von ihnen sind seit Jahrzehnten Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei -: Die Beschlüsse der SPD von Nürnberg zur künftigen Energiepolitik sind wirtschaftlich, sozial und ökologisch unvertretbar. Sie haben sogar in einem Aufruf zum Ausdruck gebracht: Die Sozialdemokratische Partei ist für uns als Arbeitnehmer nicht mehr wählbar, Herr Kollege Vogel. ({9}) Da müssen Sie schon etwas ernsthafter und nachdenklicher über die Folgen dieses opportunistischen Kurswechsels, den Sie gegenüber der Politik der Regierung Schmidt vorgenommen haben, argumentieren. ({10}) Ich will die auch hier geführte Energiedebatte nicht mehr sehr ausführlich aufnehmen. Sie wird ja sicher auch in den kommenden Monaten durch die Regierungserklärung und Beiträge der Opposition eine bedeutende Rolle im Deutschen Bundestag spielen. Aber ich will eines aus meiner Überzeugung, aus einer wirtschaftspolitischen Einsicht heraus sagen: Es ist eine Verharmlosung, zu sagen, der sogenannte kurzfristige Ausstieg aus der Kernenergie bedrohe ausschließlich die Arbeitsplätze jener - es sind nicht, wie neulich in einem Fernsehbericht gesagt wurde, 20 000; es sind nach den Aussagen der Betriebsräte über 200 000 -, die direkt oder - als Zulieferbetriebe - indirekt in diesem Kernbereich des Energiesektors arbeiten. ({11}) Es führt kein Weg daran vorbei, daß ein kurzfristiger Ausstieg zu einer dramatischen Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mit schweren Folgen für Arbeitsplätze in weiten Bereichen des Mittelstandes, der Industrie, mit Investitionsverlagerungen in andere Länder auf unsere Kosten führen würde und daß er die Zukunftsperspektive auch ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch - nicht nur ökologisch; Walter Wallmann hat diesen Punkt zu Recht als den entscheidenden hervorgehoben - verdüstern würde. Was ich - Herr Vogel, auch nach Ihrem Manuskript und Ihren Ausführungen - hier noch einmal sagen muß: Sie beantworten die andere zentrale Frage nicht - die vor allem auch diejenigen stellen, das sind auch viele unserer Mitglieder und Wähler, die Sorgen im Hinblick auf bestimmte Aspekte der Nutzung der Kernenergie haben -, die lautet: Ist es überhaupt möglich, in einem isolierten nationalen Alleingang ein Mehr an Sicherheit zu gewinnen? ({12}) Ich bin, der ich viele Jahre meines politischen Lebens, einmal als Wissenschaftsminister, aber natürlich auch in den großen Kontroversen, die ich in diesem Zusammenhang als Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein durchzukämpfen hatte, auszuhalten hatte, nicht erst seit gestern der Überzeugung: Eine isolierte nationale Lösung in Kernfragen der Energiepolitik kann nicht mehr Sicherheit schaffen. ({13}) Auch in diesem Zusammenhang ist j a das Stichwort Cattenom sehr aufschlußreich. Ich will nicht zu den Kontroversen der letzten Wochen und Monate hier Stellung nehmen; die kann man woanders weiter austragen. Nur macht uns Cattenom doch bewußt, daß auch in Zukunft befreundete und verbündete Länder, wie Frankreich und andere, die uns nicht so nahe stehen, die schwerer ansprechbar sind, in der Tschechoslowakei, in der DDR, in der Sowjetunion, fest entschlossen sind, nach gewissenhafter Prüfung auf den Ausbau der Kernenergie setzen, daß wir dort nicht mit weniger, sondern mit mehr Kernkraftwerken zu rechnen haben. ({14}) Sie können die Frage nicht beantworten, was denn ein Mehr an Sicherheit durch eine isolierte nationale Lösung bewirken soll. ({15}) Deshalb, meine Damen und Herren, bin ich zutiefst davon überzeugt, daß die einzige entscheidende Antwort auf Tschernobyl und die Erschütterungen und Sorgen, Fragen, die Tschernobyl ausgelöst hat, darin liegt, den Weg der Internationalisierung der Sicherheitsfrage zu gehen, ({16}) den der Bundeskanzler mit seiner Initiative eingeleitet hat, eine Initiative - auch das ist hier von Walter Wallmann und anderen kurz berichtet worden -, die erste Wirkung zeigt: die Internationalisierung des Sicherheitsthemas. Jetzt wollen wir einmal 10, 15 Jahre vorausdenken. Die wichtigste Antwort zur längerfristigen Perspektive - dazu möchte ich mich schon deshalb bekennen, weil dies bereits in den 60er Jahren in der Zeit meiner eigenen amtlichen Verantwortung ein Thema war - ist in der Tat, wissenschaftliche Forschung mit allem Nachdruck voranzutreiben, die uns eines Tages, freilich nicht in einer kurzen Zukunft weniger Jahre oder Jahrzehnte, die Chance bietet, wirtschaftliche und umweltfreundliche sichere Quellen zur Energieerzeugung zu gewinnen, die nicht die Probleme der Kernspaltung, die wie wir glauben, beherrschbar vertretbar, aber auch nicht bestreitbar sind, mit sich bringen. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Vogel hat in polemischer Weise einige Grundformeln des SPD-Wahlkampfs hier eingeführt, den „Weg zur Zweidrittelgesellschaft". Ich bin nicht besonders demoskopiegläubig, aber man kann nicht daran vorbeigehen, daß in einer Reihe ernsthafter demoskopischer Veröffentlichungen mehrerer Institute, die subjektive Einschätzung der meisten Bürger der Bundesrepublik Deutschland ein Stück positiver ist als die Szenarien, die mit solchen Vokabeln gezeichnet werden. ({17}) Im Querschnitt ergibt das, was hier an sozialwissenschaftlichen Forschungen vorliegt, etwa folgendes: 50 bis 60 % der Bürger der Bundesrepublik Deutschland sagen, daß es ihnen gutgeht, bis zu 90% der Bürger der Bundesrepublik Deutschland sagen, daß es ihnen gutgeht oder befriedigend, und manche sagen: Teils, teils, es geht mir befriedigend, aber ich habe manche Sorgen und Probleme. Dann bleiben etwa 8 bis 10 %, die sagen, daß es ihnen schlechtgeht. Natürlich muß ihnen unsere besondere Verantwortung gelten, auch wenn sich unter ihnen manche befinden, die die Krise ihres Lebens in ökonomischer oder sozialer Hinsicht zunächst einmal selbst zu vertreten haben. Dennoch soll ihnen die Gesellschaft helfen. Aber ich warne vor dem Weg, jedes private Problem, das auch aus falschen Lebensentscheidungen erwachsen kann, ausschließlich dem Staat und der Gesellschaft aufzubürden. ({18}) Sie sind, meine Damen und Herren, dann mit Ihren weiteren Behauptungen schlicht an der Wahrheit vorbeigegangen. Das ist eine höfliche, parlamentarisch erlaubte Beschreibung dessen, was ich Ihnen vorhalten muß. Wenn Sie uns hier anklagend sagen, es gebe mehr junge Menschen, die den Platz in der Gesellschaft, im Beruf nicht finden, dann will ich Ihnen antworten: Seit dem Regierungswechsel ist die Zahl der Ausbildungsplätze für junge Menschen um mehr als 250 000 angestiegen, und sie liegt jetzt bei über 2 Millionen. Das eine war die Phrase, und das andere ist die Tatsache, Herr Kollege Vogel. ({19}) Und eine Tatsache ist auch, daß der Rückgang bei der Jugendarbeitslosigkeit seit 1984 stärker war als bei der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Sie liegt nach meiner Erinnerung - vielleicht ist die Statistik zwei, drei Monate alt; ich hatte hier kein Archiv; denn ihre Rede wurde mir erst während Ihrer Ausführungen zugänglich ({20}) etwa 10 % niedriger als 1984. Wir müssen weiter vorangehen! Wenn Sie uns Selbstgefälligkeit vorgeworfen haben: Nichts in unserer Debattenführung gibt dazu Anlaß. Wir haben über die Leistungen gesprochen und über die nicht gemeisterten Probleme. Aber diese Entwicklung zeigt, daß wir auf dem richtigen Wege sind, und darauf kommt es an. Wir müssen weiter vorangehen. ({21}) Und eine Irreführung, Herr Kollege Vogel, vor der ich Sie in Ihren weiteren Wahlkampfreden gerne bewahren möchte, ist auch die Behauptung, daß die Trendwende in Wirtschaft und Beschäftigung und zur Preisstabilität erst mit dem Ölpreisverfall eingesetzt habe. ({22}) Wir haben die entscheidenden Verbesserungen vor dem starken Rückgang der Ölpreise erzielt, ({23}) dessen Beginn genau auf Oktober/November vergangenen Jahres anzusetzen ist. Es ist völlig unbestritten, daß der Ölpreisrückgang und die Leitkursentwicklung, also der Dollarverfall, wie Sie gesagt haben, uns konjunkturell und auch mit Blick auf die weitere Förderung der Preisstabilität einen zusätzlichen Push geben. Es ist ein zusätzlicher Push, aber die Kausalität lag in unserer Politik, weil wir wieder Soziale Marktwirtschaft zur Geltung gebracht haben. ({24}) Ich habe hier am Dienstag einiges über die Entwicklung bei den Wechselkursen gesagt. Also, den Teil Stärkung der Deutschen Mark als Ursache für mehr Preisstabilität können wir natürlich auch auf der Haben-Seite - ich nenne hier fairerweise diese Reihenfolge - der Bundesbank und der Bundesregierung buchen. Vertrauensbildung: Wissen Sie, es gibt so viele nüchterne Leute, die versuchen, den Kern der Dinge zu erkennen. Dazu gehören auch die Leute, die eigenes oder fremdes Geld anlegen. Ich spreche nicht von Spekulanten, sondern spreche von den vielen, die als Treuhänder in Versicherungsgesellschaften, Banken und anderen Institutionen anderer Leute Geld anlegen - im In- und Ausland. Da kann man nämlich hinsichtlich des Vertrauens, das die Politik eines Landes besitzt, einmal sozusagen vom Pulverdampf des Wahlkampfes hinüber und herüber abgesehen, sehr interessante Beobachtungen machen: Die Bundesrepublik Deutschland hat vor wenigen Wochen zum ersten Mal seit etwa 25 Jahren - natürlich nur mit Einschaltung angesehener deutscher Banken, die das übernommen haben - wieder eine Staatsanleihe mit 30 Jahren Laufzeit und einem Festzins von 5,6 % plazieren können. Das haben Sie nun in Ihrer ganzen Regierungszeit nicht erlebt, Herr Kollege Vogel. ({25}) Das ist ein Indikator für Vertrauen, wenn dies möglich ist. Ich glaube, auf diesem Wege sollten wir weiter vertrauensbildend vorangehen. ({26}) Herr Kollege Vogel, was mich auch gestört hat - ich habe das hier zwar schon Herrn Apel vorgehalten, aber es hat keine Wirkung auf die Mitarbeiter gehabt -, ({27}) ist, wie Sie mit bestimmten Statistiken falsch umgehen. Da steht auf Seite 13 Ihres Manuskripts als Vorhalt, daß die Zahl der Erwerbstätigen - also der Arbeitsplätze - im Juni 1986 nur um 160 000 höher lag als bei Ihrem Amtsantritt, ... Und dann kommt das pathetische Sich-Hinwenden zum Bundeskanzler: und das im vierten Jahr des konjunkturellen Aufschwungs. ({28}) Die Wahrheit ist, sehr geehrter Herr Vogel - natürlich wissen Sie das auch -, daß eine neue Politik im Bereich der Wirtschaft, des Sozialen und vor allem des Arbeitsmarktes nicht in Wochen und Monaten wirkt. Dazu haben namhafte Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt auch bei anderen Anlässen sehr bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Es ist wahr, es ist in der ernsthaften wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion unbestritten - ({29}) - Nun haben Sie sich über die Zwischenrufe von Herrn Waigel so aufgeregt, daß Sie jetzt wieder in Ihre alten Untugenden zurückfallen, Herr Kollege Vogel. Ich muß das wirklich einmal sagen. ({30}) - Lassen Sie mich mal unabgelenkt durch störende Zwischenrufe meinen Gedankengang fortsetzen. ({31}) - Nein, ich bin ja gerade dabei, Textexegese Ihrer Rede zu betreiben. Das wird Ihnen nicht gut bekommen, sehr geehrter Herr Kollege. Die Wahrheit ist natürlich, daß es bei diesem dramatischen Anstieg des Jahres 1982 - der Bundeskanzler und Kollege Norbert Blüm haben dazu einiges gesagt - nicht möglich war, mit einer neuen Politik in sechs oder zwölf Monaten den Trend grundlegend zu verändern. ({32}) Es hat etwa 24 Monate gedauert, bis die neue Politik auf dem Arbeitsmarkt positiv gewirkt hat. ({33}) Die Statistiken liegen Ihren Mitarbeitern vor. Lassen Sie sie sich einmal vortragen. Wir haben im Herbst 1984 auf dem Arbeitsmarkt die Trendwende erreicht. Jetzt haben wir die Perspektive, daß verglichen mit diesem Tiefpunkt - Folge einer Krise, die sozusagen von uns vorgefunden wurde - Ende dieses Jahres die Zahl der Arbeitsplätze um rund 600 000 zugenommen hat. Das ist natürlich einer der wirklich großen sozialpolitischen Erfolge, auf die wir hinweisen wollen, wenn Sie uns soziale Verantwortung streitig machen. ({34})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Spöri?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ja, selbstverständlich.

Dr. Dieter Spöri (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesfinanzminister, ist Ihnen bekannt, daß unser geschätzter Kollege Geißler am 3. Mai 1983 in der „Bild"-Zeitung versprochen hat, daß die Arbeitslosenzahl in zwei Jahren auf unter 1 Million sinken wird?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Das ist eine zu optimistische Schätzung meines geschätzten Kollegen Geißler gewesen, um das in aller Kürze zu beantworten. ({0}) - Ja gut, wir haben ganze Archive, was Sie anbetrifft, Herr Kollege Vogel. Ich möchte mit Blick auf die Uhr zur Sache zurückkommen. Es mutet auch merkwürdig an, Herr Kollege Vogel, wenn Sie auf Seite 10 Ihres Manuskriptes uns die Konkurswelle vorhalten und auf Seite 13 anklagend über die explodierenden Gewinne so vieler Unternehmen schreiben. Ein bißchen mehr Ordnung im Denken, auch in solchen Grundfragen, ist Ihnen dringend anzuempfehlen. ({1}) Auch hier gilt, daß weite Bereiche der deutschen Wirtschaft, vor allem des deutschen Mittelstandes seit Ausgang der 60er Jahre eine Kapitalauszehrung erlitten haben. Es ist wahr, daß die Konkurswelle noch einige Jahre weiterläuft, wenn auch erfreulicherweise jetzt mit geringen Zuwachsraten. Wenn wir nicht die von Ihnen auch in dieser Debatte wieder heftig kritisierte Verbesserung bei der Unternehmensbesteuerung gemacht hätten - die Sie ablehnen und bekämpfen bis zur degressiven Abschreibung, die der Bauwirtschaft, den Bauarbeitern zugute kommt -, wäre die Konkurswelle noch härter und noch stärker. Dies ist ein Grund dafür, daß wir bei der Steuerreform neben den arbeitenden Menschen auch die Unternehmen des Mittelstandes berücksichtigen wollen, ({2}) damit die Kapitalgrundlagen wieder gefestigt werden und die Arbeitsplätze wieder sicherer werden. Das ist unsere Konsequenz aus solchen Zusammenhängen. ({3}) Herr Kollege Vogel, ich will zu Ihren Ausführungen über die Steuerpolitik aus Zeitgründen nur zwei Anmerkungen machen. Alles, was von Ihnen und Ihren Parteifreunden in dieser Debatte gesagt wurde, führt an einem grundlegenden Sachverhalt nicht vorbei: Ein Nein zur Verringerung der Steuerlast - das steht j a in Ihrem Nürnberger Parteitagsbeschluß - und ein Wahlversprechen zur Entlastung der meisten Steuerzahler - also der unteren und mittleren Einkommensgruppen - sind in sich ein Widerspruch. Sie werden das nicht in einem noch vertretbaren und tragbaren Tarif zur Übereinstimmung bringen können, einmal, weil Ihnen dafür in der nächsten Wahlperiode voraussichtlich eine Mehrheit fehlen wird, aber auch intellektuell nicht. Und ich sage noch einmal, weil es ja zu Ihrem Wahlkampfinstrumentarium gehört, die Senkung von Unternehmensteuern als unsozial zu bezeichnen, wir dürfen die Betriebe, wir dürfen das Investitionskapital nicht stärker belasten. ({4}) Wir müssen es bei der von mir am Dienstag aufgewiesenen Entwicklung der Entlastung belassen und die Belastung wie in den anderen westeuropäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten ein Stück zurückführen, weil sonst die entscheidenden Investitionen für die Zukunftssicherung der Arbeitsplätze von morgen und übermorgen sich außerhalb der Bundesrepublik Deutschland vollziehen. ({5}) Es sind wirtschaftspolitische, es sind arbeitsmarktpolitische Überzeugungen und Einsichten, die uns veranlassen, diese Politik zu verfolgen. Sie sollten nicht davon sprechen, daß das sozusagen eine Politik der Kälte sei, die mit ökonomischen Größenordnungen jongliere und an den Menschen vorbeigehe. Wir sehen in den Wirtschaftsdaten, in den Grundproblemen der Steuerpolitik, in den Entscheidungen der Finanzpolitik die Wirkungen auf die Menschen, und wir fühlen uns als Mitglieder der Regierung unserem Amtseid und damit allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gegenüber verantwortlich und verpflichtet, nicht nur bestimmten Gruppen oder Klassen. Ich will das hier gegenüber unerfreulichen Unterstellungen, die wir heute gehört haben, in aller Eindringlichkeit sagen. ({6}) Meine Damen und Herren, ein zweiter Punkt im Zusammenhang mit der Steuerpolitik ist noch unverständlicher. Sie haben versucht, für einen Satz auf Seite 15 Ihres Manuskripts Herrn Kollegen Waigel in Anspruch zu nehmen. Herr Kollege Waigel hat mit diesem Satz natürlich überhaupt nichts zu tun, einem angeblichen Vorwurf aus München, nämlich daß Leute mit mittlerem Einkommen, etwa Verheiratete mit Kindern, nach der von uns verabschiedeten Steueränderung bis zu einem Bruttojahreseinkommen von 50 000 DM keine einzige Mark Steuerentlastung erhalten haben. Ich glaube, Sie haben hinzugefügt, daß Sie das Jahr 1988 gemeint haben. Aber auch mit dieser Hinzufügung, Herr Kollege Vogel, ist dieser Satz - ich sage das nur für die weiteren Reden bis Januar - falsch. ({7}) - Es ist ein Irrtum. Wissen Sie, mein Kollege und Freund Max Streibl ist viel zu gut informiert, als daß er Autor einer solchen Behauptung sein kann. Die schlichte Wahrheit ist nämlich, daß ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern mit einem Durchschnittseinkommen - es liegt jetzt bei etwa 35 000 DM - bei theoretisch gleichbleibendem Lohn in diesem Jahr fast 1 000 DM weniger Steuern zahlt als im Vorjahr. Das ist nichts, worüber wir pro futuro reden. Das ist geltendes Recht. Das ist in Kraft gesetzt. Herr Spöri, ich habe vorsichtshalber mein Fachreferat befragt. Ich glaube, dies ist auch fachlich abgesichert. ({8}) - Trotzdem gern noch einmal, aber bitte nur noch einmal, die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.

Dr. Dieter Spöri (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Besten Dank, Herr Finanzminister. Wir haben auch unsere Referate bemüht. Herr Finanzminister Stoltenberg, ist Ihnen bekannt, daß genau wegen dieses Nulleffekts bei der Entlastung bei 50 000 DM Jahreseinkommen im Jahre 1988 Herr Streibl eine Erhöhung des Grundfreibetrags für dieses Jahr gefordert hat?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Ja. Ich habe mich hier an dem Text von Herrn Vogel orientiert. Die Frage der künftigen Gestaltung der Steuerpolitik werden wir miteinander diskutieren. Aber erlauben Sie mir, daß ich mich hier auf diesen Satz bezogen habe, wie er vorgetragen wurde und im Manuskript gestanden hat. ({0}) Ich muß leider - das soll auch das letzte sein - in diesem Zusammenhang, sehr geehrter Herr Vogel, eine weitere falsche Darstellung korrigieren. Die SPD-Bundestagsfraktion und Ministerpräsident Rau haben auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg erklärt, die Abgabenbelastung eines Arbeitnehmers mit einem Durchschnittsverdienst sei von 39,3 % im Jahre 1981 auf 42,7 % im Jahre 1985 gestiegen. Das sei die höchste Abgabenbelastung seit 1949. Die Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums sagen, nachdem ich sie gefragt habe - das hat mich nicht sehr überrascht -: Die Zahlenangaben sind falsch. Bei einem verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern beträgt die Durchschnittsbelastung 27,4 % im Jahre 1981 und 28,7 % im Jahre 1985. Beim Ledigen ist der Anstieg der Steuern und Sozialabgaben deutlicher, nämlich von 33,6 % auf 36,2 %. Nur: Wer mit solchen Zahlen arbeitet, Herr Kollege Vogel, muß erstens ihre Richtigkeit pro futuro überprüfen, und zweitens muß er natürlich fairerweise auch erwähnen, daß der Durchschnittsverdienst des Arbeitnehmers von 1981 bis 1985 um 5 400 DM angestiegen ist, also jetzt bei 35 820 DM liegt. ({1}) Solange wir eine Progression haben, die wir ja durchhaltend abmildern wollen, gibt es eine Progressionswirkung. ({2}) - Lassen Sie mich doch mal in Ruhe ausreden, Herr Spöri. Ich habe Ihnen doch wirklich die Gelegenheit zu Fragen gegeben. ({3}) Durch das Steuersenkungsgesetz ist die Lohnsteuerbelastung in 1986 je beschäftigten Arbeitnehmer im Durchschnitt von 18,2 % auf 17,7 % zurückgegangen, und sie geht 1988 weiter zurück. Auch hier war es dringend notwendig, falsche Zahlen, mit großem Pathos vorgetragen, richtigzustellen. Meine Damen und Herren, ich will hier meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß wir eine gute finanzpolitische Bilanz vorlegen können; ({4}) eine gute finanzpolitische Bilanz auch in ihren wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen. Widerlegt ist in dieser Diskussion die Wahlparole der SPD, das Wirtschaftswachstum gehe an der sozialen Situation der meisten oder vieler Menschen vorbei. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer und Rentner steigen. Ende 1986 können 600 000 mehr Menschen, die es wollen, arbeiten als 1984. Preisstabilität zu fördern und niedrige Zinsen zu ermöglichen bleibt auch in Zukunft eine vorrangige ökonomische und soziale Aufgabe. Wir können beanspruchen, daß unsere Politik den Menschen und nicht den Interessen einer privilegierten Minderheit dient. ({5}) Wir nehmen auch weltwirtschaftliche Verantwortung wahr. Ich hebe einen Punkt hervor, in dem ich einen sachlichen Gegensatz zu Helmut Schmidt habe. Wir sagen j a zum Ausbau der europäischen Zusammenarbeit. Ich hebe hervor, daß die europäische Zusammenarbeit durch Bundeskanzler Helmut Kohl erhebliche Impulse erfahren hat: in der EG-Erweiterung um Spanien und Portugal, im inneren Ausbau, in den Grundsatzbeschlüssen zur Herstellung des Binnenmarkts. Aber abweichend von dem Kollegen Helmut Schmidt möchte ich hier betonen: Die konkreten Voraussetzungen für die Schaffung einer europäischen Notenbank sind nicht gegeben. Man muß einmal in die Vergangenheit zurückgehen. Im Jahr 1970 haben die Staats- und Regierungschefs - damals noch Bundeskanzler Willy Brandt für die Bundesrepublik Deutschland - in Den Haag vereinbart, in sechs Jahren die Wirtschafts- und Währungsunion herzustellen. Dies ist in der SechserGemeinschaft ein Projekt geblieben. 1975 hat der damalige luxemburgische Ministerpräsident Pierre Werner den großen Entwurf für eine Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt. Er ist nicht Wirklichkeit geworden. Immer war aber bei diesen Diskussionen und Konzeptionen klar, daß eine Währungsunion nur dann möglich ist, wenn wir auch eine Wirtschaftsunion erhalten. Wir sollten uns nach den Mißerfolgen oder Rückschlägen der 70er Jahre nicht entmutigen lassen. Wir sollten das Thema verstärkter währungs- und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit auf die Tagesordnung setzen. Aber ich halte in Übereinstimmung mit diesen Grundsatzdokumenten und -beschlüssen der 70er Jahre daran fest: Die isolierte Herstellung einer Währungsunion einschließlich einer Notenbank ist unvorstellbar, ja gefährlich, wenn nicht auch in den entscheidenden Bereichen der Wirtschaftspolitik europäische Autorität geschaffen und Konvergenz gesichert ist. ({6}) Ich sage das aus der Sicht eines Landes, das seine stabile Deutsche Mark durch die Leistung, Mühe und Anstrengung unserer Bürger ({7}) über Jahrzehnte geschaffen hat und, gesichert und erneut gefördert durch eine gute Politik in den letzten Jahren, auch erhalten will. Es hat keinen Sinn - und das war ja ein bißchen die Richtung der Überlegungen des Kollegen Helmut Schmidt -, daß wir Stabilität in den Fragen unserer Währung aufs Spiel setzen, wenn wir nicht die Sicherheit haben, daß ein europäischer Verbund diese Stabilität durch Konvergenz erhalten kann. Diese Grundposition wird die Bundesregierung weiter einnehmen. ({8}) Zu den vielen überzogenen Attacken möchte ich in einem letzten Punkt Stellung nehmen. Es sind die massiven Vorhaltungen und Unterstellungen, die wir zum Thema Asylrecht gehört haben. Der Bundeskanzler - ich sage das zu Ihren persönlichen Angriffen gegen ihn - hat in der vorigen Woche in einer stark beachteten Rede unsere Position umfassend dargestellt. Sie sind dem Niveau, dem Anspruch der Aussage dieser Rede, Herr Kollege Vogel, in Ihren Unterstellungen in gar keiner Weise gerecht geworden. Das muß man hier noch einmal hervorheben. ({9}) Wir bekennen uns zum Asylrecht für politisch - ({10}) - Daß Sie mir dies absprechen wollen, empfinde ich als schäbig, Herr Vogel. Ich muß Ihnen das sagen. Das empfinde ich als schäbig. ({11}) Wir bekennen uns zum Asylrecht für politisch, ({12}) religiös und rassisch Verfolgte, zu der Grundentscheidung unserer Verfassungsväter. ({13}) Aber wir sehen mit Sorge auch den wachsenden Mißbrauch, der im Zusammenhang mit dem Asylrecht getrieben wird, und die daraus erwachsenden Konflikte und Spannungen. Niemand sollte sich hier zu sehr erheben. Es besteht nämlich die Gefahr für alle demokratischen Parteien - für Ihre Parteifreunde genauso wie für uns und die von der FDP -, daß wir diese Konflikte vor Ort nicht mehr meistern können. ({14}) - Die ich schüre? Ich empfinde es als eine Unverschämtheit, mir so etwas zu unterstellen. Das empfinde ich als eine geradezu unglaubliche Unterstellung. ({15}) - Wir schüren diese Konflikte nicht. ({16}) Wir stellen uns dieser Diskussion mit den Menschen. ({17}) Ich habe die Sorge, daß in vielen Gemeinden und Städten demokratische Politiker wachsende Schwierigkeiten haben, die Meinung und das Verhalten der Menschen zu prägen und Verständnis für das zu erhalten und zu festigen, was das Asylrecht in seiner konkreten Anwendung bedeutet. ({18}) Deshalb bin ich davon überzeugt - das geht im Grunde schon auf meine Erfahrung als Ministerpräsident in den Jahren 1980/81 zurück -, daß wir eine weitere Ausgestaltung unserer Rechtsordnung brauchen. ({19}) Wir können es nicht stillschweigend hinnehmen, daß bei einem wachsenden Strom von Asylbewerbern nach jahrelangen Verfahren weniger als 20 durch die Gerichte oder Verwaltungen anerkannt werden und daß über 80 % bescheinigt werden muß, daß sie keinen Anspruch auf dieses Grundrecht haben. ({20}) Wir können das in den Konsequenzen, die das vor Ort bedeutet, nicht hinnehmen. - Herr Kollege Vogel, Sie disqualifizieren sich durch Ihre Zwischenrufe. Sie sollten wirklich aufhören, jemand anderen zu kritisieren, der bei Ihnen Zwischenrufe macht. ({21}) Meine Damen und Herren, deshalb hat sich die Koalition entschieden, auch unter Beachtung des Bundesratsentwurfs, den von der Verfassung gegebenen Raum noch wirksamer auszuschöpfen. ({22}) Wir sind uns darin einig - CDU/CSU und FDP -, daß wir dieses Gesetz in dieser Wahlperiode einvernehmlich verabschieden. Es gibt aber Sorgen und Zweifel - ich bekenne mich selbst dazu -, ob die zeitliche Perspektive der kommenden Jahre, der Jahrzehnte ausreichen wird zur sozialen Befriedigung und auch zur Verwirklichung der Garantie für jene, die wirklich politisch und rassisch verfolgt sind und die in Zukunft in Schwierigkeiten kommen, wenn zu viele zu lange hier sind, die keinen Anspruch auf dieses Grundrecht haben. ({23}) Das ist die Fragestellung, die uns bewegt und beschäftigt. Wenn Sie zu anderen Folgerungen kommen, was Ihr gutes Recht ist, dann nehmen Sie doch aber diese Frage und die Motive ernst, ({24}) die nach unserer Überzeugung auch begründet sind. Von dorther kommt die Auffassung, die sich in der CDU und CSU gebildet hat, daß wir in der längerfristigen Perspektive in der Tat eine Ergänzung des Art. 16 des Grundgesetzes um einen Satz erwägen: ({25}) Das Nähere regelt ein Gesetz. ({26}) Über dieses Gesetz kann man jederzeit vor einer Initiative in diesem Punkt mit denen reden - ({27}) - Ich spreche jetzt von den Vorstellungen der Christlich-Demokratischen Union. ({28}) - Machen Sie doch keine dialektischen Tricks! Es ist doch erlaubt, im Rahmen einer Regierung und in einer Koalition zu einem Punkt auch einmal die persönliche Auffassung zum Ausdruck zu bringen. ({29}) - Herr Kollege Vogel, ich muß Ihnen wirklich sagen: Sie steigen ständig weiter herunter. ({30})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11002259

Nein, ich möchte zum Abschluß kommen. ({0}) Meine Damen und Herren, das sind Überlegungen, die im Rahmen der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union in der Tat artikuliert werden, über die wir mit unseren Partnern und mit unseren politischen Kontrahenten reden wollen. ({1}) Aber diese Diskussion wird die konkrete Zusammenarbeit in der Koalition, auch mit unseren Freunden in der FDP, die in diesem letzten Punkt andere Auffassungen vertreten, im Hinblick auf das, was jetzt zu entscheiden ist, in keiner Weise beeinträchtigen. ({2}) Es ist hier viel von Gemeinsamkeit die Rede gewesen. Das möchte ich auch im Hinblick auf die Reden des Mittwoch feststellen. Herr Kollege Vogel hat die Grenzen der Gemeinsamkeit mit einem harten Schnitt erneut aufgezeichnet. Das ist seine Sache. Wir sind nach diesen vier Tagen davon überzeugt, wir haben eine gute Bilanz. Wir übersehen nicht Licht und Schatten. Aber das Licht auf dem Bild wird stärker. Die Schatten gehen zurück. Deswegen sagen wir - weil Sie das so aufgeregt hat, Herr Vogel, will ich damit schließen -: Weiter so! Aufwärts mit Deutschland! ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/5900 und 10/5901 an den Haushaltsausschuß vor. - Ich sehe, das Haus erhebt keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. September 1986, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.