Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/16/1983

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 und 32 auf: 31. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über den Abschluß und die Ergebnisse der KSZE-Folgekonferenz in Madrid sowie über den Stand der Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle 32. a) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Bastian und der Fraktion DIE GRÜNEN NATO-Nachrüstung - Drucksachen 10/53, 10/249 - b) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Bastian und der Fraktion DIE GRÜNEN Pershing II und „Kleine Interkontinentalrakete" - Drucksachen 10/138, 10/250 Interfraktionell ist vereinbart, die Tagesordnungspunkte 31 und 32 in verbundener Beratung zu behandeln und eine Beratungszeit von vier Stunden vorzusehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das Wort wird nicht gewünscht. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung hat der Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich begrüße die Gelegenheit, dem Deutschen Bundestag heute über den Abschluß und die Ergebnisse der KSZE-Nachfolgekonferenz von Madrid und über den Stand der Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle berichten zu können. Die KSZE-Nachfolgekonferenz konnte am vergangenen Freitag erfolgreich abgeschlossen werden. Die Verhandlungen über nukleare Mittelstrekkenwaffen in Genf werden seit dem 6. September fortgesetzt. Am 21. September werden die MBFRVerhandlungen in Wien wieder aufgenommen, und am 20. September beginnt die 38. Generalversammlung der Vereinten Nationen, auf der Abrüstungsfragen eine wichtige Rolle spielen werden. Am 6. Oktober schließlich beginnt die neue Runde amerikanisch-sowjetischer Verhandlungen über die Reduzierung interkontinentalstrategischer Waffen. Noch während diese Verhandlungen laufen, wird ein weiteres Forum der Abrüstungsverhandlungen eröffnet. Am 25. Oktober beginnt die Vorbereitungssitzung für die Konferenz für Abrüstung in Europa, die dann im Januar 1984 in Stockholm förmlich zusammentreten wird. Diese Aufzählung, meine Damen und Herren, zeigt die außerordentliche Dichte der Verhandlungen über Sicherheitsfragen zwischen West und Ost, aber auch weltweit. Wir werden diese wichtigen Instrumente der Friedenssicherung in unser aller Interesse intensiv nutzen. Unser Ziel ist es, das für Sicherheit und Frieden unverzichtbare Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen herzustellen und zu stabilisieren. Wir stehen noch immer im Banne des Entsetzens über den unentschuldbaren Abschuß eines koreanischen Passagierflugzeuges durch eine sowjetische Militärmaschine und der unverständlichen Rechtfertigungsversuche durch die sowjetische Regierung. ({0}) Die Entschlossenheit des Westens - ungeachtet der Belastung der internationalen Lage durch diesen Zwischenfall -, den Abrüstungsdialog fortzusetzen, ist Ausdruck unserer Verantwortung für den Weltfrieden. Sie ist Ausdruck und Beweis unseres aufrichtigen Willens, Abrüstungsverhandlungen ernsthaft und nachdrücklich zu führen. Abrüstung liegt im Interesse aller Menschen: in West und Ost, in Nord und Süd. Rüstungskontrollbemühungen sind kein Geschenk der einen Seite an die andere. Daß Zorn und Empörung westlichen Verhandlungswillen nicht beeinträchtigen, beweist Besonnenheit und Mäßigung. Dieser Wille zur Fortsetzung unserer Friedenspolitik ist unsere Haltung, die Haltung der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist die Haltung unserer Verbündeten in Europa, und sie ist die Haltung unserer Verbündeten in den Vereinigten Staaten. Das ist die Antwort auch auf die in jüngster Zeit wiederholten Beleidigungen der USA, ihrer Soldaten und des amerikanischen Präsidenten, die klar und vernehmbar zurückzuweisen die Aufgabe aller politisch Verantwortlichen in unserem Lande ist. ({1}) Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag den 2. Bericht über den Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis vorgelegt. Dieser Bericht behandelt die seit dem Abschluß des ersten Berichts von Juni 1982 eingetretene Entwicklung im Bereich der Abrüstung und der Rüstungskontrolle bis Mitte Juni 1983. Dabei geht der Bericht von einer Darstellung der Grundlagen unserer Sicherheitspolitik aus, für die Abrüstung und Rüstungskontrolle ebenso wie Verteidigung und Abschreckung integrale Bestandteile darstellen. Der Bericht macht die Vielfalt der Bemühungen und die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts auf möglichst niedrigem Niveau deutlich. Er beschränkt sich dabei nicht auf die Dimension der West-Ost-Beziehungen. Die Bundesregierung warnt davor, die aktuelle sicherheitspolitische Diskussion auf die Probleme zwischen West und Ost oder gar auf das Problem der Mittelstreckensysteme zu verengen. Angesichts der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit aller Regionen, angesichts einer immer stärkeren Aufrüstung in den Staaten der Dritten Welt wollen wir den weltweiten sicherheitspolitischen Dialog verstärken und im Rahmen der Vereinten Nationen und der Genfer Abrüstungskonferenz darauf drängen, daß Frieden und Sicherheit weltweit mit weniger Waffen gewährleistet werden. ({2}) In der letzten Woche haben die Teilnehmerstaaten der KSZE auf der Ebene der Außenminister das Folgetreffen in Madrid nach dreijähriger Dauer abgeschlossen. Die Konferenz war von schweren Belastungen der internationalen Beziehungen begleitet, und sie war durch diese Belastungen wiederholt gefährdet. Sie hat trotz Afghanistan 1980 begonnen. Sie ist Anfang 1982 trotz Polen fortgesetzt und jetzt trotz der Flugzeugtragödie im Fernen Osten mit der Annahme eines Schlußdokuments beendet worden. Wir haben Anlaß zu der Feststellung: Keine dieser Belastungen der Madrider Konferenz hatte ihre Ursache im Verhalten eines westlichen Staates. ({3}) Aus dem Zusammentreffen dieser Ereignisse und Entwicklungen ergibt sich zweierlei: Erstens. In dem Bemühen um wirkliche Entspannung, umfassende Vertrauensbildung und Sicherheit im West-Ost-Verhältnis liegt noch ein weiter Weg vor uns. Wir müssen uns nüchtern darauf einstellen, daß die Sowjetunion - und zwar nicht nur durch ihre Raketenvorrüstung - ihre Sicherheitsinteressen weiterhin zu Lasten anderer Länder definiert. Aber gerade wegen der internationalen Hochrüstung ist Mäßigung bei der Wahrung der eigenen Interessen auf allen Seiten notwendig. Das Prinzip des Gewaltverzichts, zu dem sich alle bekennen, wird in der Praxis gerade von denjenigen nicht befolgt, die es am lautesten propagieren. ({4}) Deshalb wird eine erneute Bekräftigung des Verzichts auf Gewalt nur dann einen Sinn machen, wenn er bestehende Gewalt tatsächlich beendet und neue Gewalt tatsächlich ausschließt. ({5}) Es hat Afghanistan nichts genutzt, daß es keinem Bündnis angehörte und frei von nuklearen Waffen war. ({6}) Es ist deshalb eine Illusion, anzunehmen, der einseitige Verzicht auf Waffen oder der Austritt aus einem Bündnis könne den Frieden sicherer machen und das menschliche Leben besser schützen. ({7}) Wer einseitige Abrüstung fordert, gefährdet unsere Sicherheit. Er verzichtet auch auf die Wirkung des Dialogs, auf die Möglichkeit ernsthaften Verhandeln. Er verzichtet auf die Aussicht, völkerrechtlich verbindliche Absprachen im sicherheitspolitischen Bereich zu erzielen. Unsere Mitgliedschaft im westlichen Bündnis ist mehr als Sicherheitspolitik nur für die Bundesrepublik Deutschland. Sie ist ein Beitrag zur Stabilität in ganz Europa. Eine Bundesrepublik Deutschland, die ihre Verpflichtungen, welche sie im Bündnis übernommen hat, mißachtet, die dann den Weg aus dem Bündnis beschreiten und schließlich auf ihre Neutralisierung hinarbeiten würde, müßte in der Selbstisolierung enden. ({8}) Sie wäre nicht länger ein Faktor der Stabilität in Europa. Sie wäre nicht länger in der Lage, die nationalen Interessen unseres Volkes wahrzunehmen. Sie würde selbst zum Spielball des fortbestehenden West-Ost-Gegensatzes. Sie würde durch ihr Verhalten zusätzliche Rivalität in Europa schaffen. Um es ganz klar und unmißverständlich zu sagen: Wer den Austritt aus der NATO wagen will, der riskiert Sicherheit und Frieden in Europa. ({9}) Angst ist ein schlechter und Leichtgläubigkeit ein gefährlicher Ratgeber. Ohne Bündnis und ohne westliche Verteidigungsbereitschaft gäbe es nicht nur keine Sicherheit, es hätte auch weder die Schlußakte von Helsinki noch die Konferenz von Madrid gegeben. Die feste Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das Atlantische Bündnis und in die Europäische Gemeinschaft, die Freundschaft und Partnerschaft mit den USA, die Entschlossenheit, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, bleiben die Voraussetzungen für eine Politik des Dialogs, der Entspannung und der Zusammenarbeit zwischen West und Ost. Zweitens. Gerade in schwierigen Zeiten ist es notwendig und möglich, den Dialog zwischen West und Ost zu führen und Ausgleich und Verständigung zu suchen. Madrid ist in der konfliktbeladenen Zeit das einzige Forum gewesen, auf dem alle europäischen sowie die beiden nordamerikanischen Staaten in ständigem Gespräch miteinander stehen. Der Faden ist nicht abgerissen. Es wurde ein Netzwerk geschaffen, das trotz aller Unvollkommenheiten und trotz der Rückschläge tragfähig genug war, um auch starken Belastungen standzuhalten. Der KSZE-Prozeß stellt ein Sicherheitsinstrument dar, das in Krisenzeiten ein Abrutschen des West-Ost-Verhältnisses unter eine kritische Schwelle verhüten kann, wenn alle Seiten das wollen. Madrid hat dazu beigetragen, daß Türen offen blieben. Das Folgetreffen war ein Begegnungsort. Das Zustandekommen des Schlußdokuments hat bewiesen, daß es trotz bestehender Spannungen möglich ist, zu substantiellen Vereinbarungen zwischen West und Ost zu kommen. Die Bundesrepublik Deutschland hat einen wichtigen Beitrag zum Erfolg von Madrid leisten können. Sie konnte das, weil sie stets für die Einheit und Solidarität des Westens und gleichzeitig für Verhandlungen, für Verständigung und Mäßigung eingetreten ist. Mit dem Abschließenden Dokument der Konferenz ist ein Ergebnis erreicht worden, das maßgeblich auf westlichen Initiativen beruht und das deutlich von westlichen Wertvorstellungen geprägt ist. Es kommt nun darauf an, den Fortschritt zu sichern, den das Madrider Schlußdokument für das West-Ost-Verhältnis bedeutet, durch die Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki ebenso wie durch die volle und sofortige Anwendung des Madrider Schlußdokuments. Wir werden darauf drängen, daß die in Madrid übernommenen Verpflichtungen nicht tote Buchstaben bleiben. Die Menschen im geteilten Europa müssen das in Madrid Vereinbarte in ihrem täglichen Leben erfahren können. Nur so kann der KSZE-Prozeß glaubwürdig bleiben. Das Madrider Ergebnis enthält Verbesserungen im Verfahren zur Familienzusammenführung, unter anderem die Bestimmung, daß die Entscheidung über Anträge grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten erfolgen soll - wer die jahrelange Belastung von Antragstellern kennt, weiß, was die Einhaltung dieser Zusage bedeuten kann -, daß die Antragsprozeduren bekanntgemacht werden, und schließlich, daß die Gebühren gesenkt werden und daß auch eine erneute Antragstellung möglich ist. Zum ersten Mal konnte eine Zusage des ungehinderten Zugangs zu den diplomatischen und anderen amtlichen Vertretungen erreicht werden. Konkrete Verpflichtungen über die Stellung der Kirchen und die Kontaktmöglichkeiten von Religionsgemeinschaften können deren Arbeitsbedingungen in Mittel- und Osteuropa verbessern. Die Veröffentlichung des Schlußdokuments ist zugesagt. So wird freiheitliches Gedankengut, so werden namentlich die Bekräftigung des Menschenrechtsprinzips und erstmalig im KSZE-Rahmen die Aussagen zur Stellung der Gewerkschaften nach Mittel- und Osteuropa gebracht. Wir werden sorgfältig beobachten, wie diese Beschlüsse in die Praxis der Teilnehmerstaaten Eingang finden. Im Rahmen unseres Dialogs mit den Staaten des Warschauer Pakts wird die Verwirklichung der Beschlüsse von Madrid in Zukunft eine bedeutsame Rolle spielen. Alle Teilnehmerstaaten sind aufgefordert, konstruktiv an dem für Mai 1985 in Ottawa vereinbarten Expertentreffen über Menschenrechte und an dem Expertentreffen über menschliche Kontakte 1986 in Bern mitzuwirken. Dort werden wir auf weitere Fortschritte zur Förderung der Menschenrechte dringen. Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht und Frieden gehören zusammen. Darum habe ich in Madrid namens der Bundesregierung festgestellt: „Wirklichen Fortschritt zu einer dauerhaften Friedensordnung in Europa kann es nur geben, wenn die Rechte des einzelnen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker überall in Europa geachtet werden." Es geht jetzt darum, die positiven Impulse von Madrid zur Leitlinie der internationalen Entwicklung zu machen und damit auch den Schaden, der aus dem Gewaltakt gegen die koreanische Verkehrsmaschine erwachsen ist, zu begrenzen. Diese Schadensbegrenzung ist aber zuallererst eine Verpflichtung und eine Verantwortlichkeit der Sowjetunion. Die sowjetische Führung schuldet der Welt volle Aufklärung und Rechenschaft. ({10}) Wir unterstützen die koreanische Forderung nach Schadensersatz und Bestrafung der Schuldigen. Auf der Tagung der ICAO in Montreal sollten sich alle Staaten, auch die Sowjetunion, in rechtlich verbindlicher Form dazu verpflichten, daß sie unter keinen Umständen in Friedenszeiten militärische Gewalt gegen ein ziviles Passagierflugzeug einsetzen. Eine Zustimmung der Sowjetunion zu dieser Forderung würde nicht nur die internationale Zusammenarbeit stärken, sie gäbe auch ein positives Zeichen für die Fähigkeit, aus schmerzlichen Erfahrungen konstruktive Konsequenzen zu ziehen. Das wäre gleichzeitig ein Erfolg der Politik des Ausgleichs und des Dialogs, von deren Notwendigkeit wir überzeugt sind und an der wir trotz des tragischen Vorfalles festhalten. Unsere Politik, wie sie bei dem Besuch im Juli dieses Jahres in Moskau erläutert wurde, bleibt unverändert. Wir sind entschlossen, die deutsch-sowjetischen Beziehungen, wo immer das möglich ist, voranzubringen. Unser Wunsch nach konstruktiven und stabilen Beziehungen mit der Sowjetunion ist langfristig angelegt. Wir berücksichtigen dabei die Lehren der Geschichte. Beiden Völkern hat die Nachbarschaft auf demselben Kontinent die Not1576 wendigkeit eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens vorgezeichnet. Die geschlossenen Verträge sind ein solides Fundament für die deutsch-sowjetischen Beziehungen. Wir werden, soweit das an uns liegt, uns weiter bemühen, die Verträge mit Leben zu erfüllen. Beide Seiten müssen sich auch bemühen, durch verantwortliche Beiträge zu einer positiven Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses die Rahmenbedingungen für die bilateralen Beziehungen günstig zu beeinflussen. Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen bedürfen, wenn sie zu dauerhaften Ergebnissen führen sollen, der Einbettung in ein Geflecht politischer Gesamtbeziehungen, die vom Willen zu konstruktiver Zusammenarbeit bestimmt werden. Wir nutzen unseren Einfluß im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft, um in diesem Sinne das West-Ost-Verhältnis zu fördern. Doch wir tun das nicht als Einzelgänger zwischen West und Ost, als Wanderer zwischen den Welten, wir tun das als verläßlicher und aktiver Partner im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Dieser klare Standpunkt und Standort hat es uns in den letzten Monaten ermöglicht, zahlreiche offene Gespräche mit den Führungen auch der anderen Warschauer Paktstaaten zu führen und damit den Willen der Bundesregierung zu Dialog und guter Zusammenarbeit mit unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn zu unterstreichen. Diese Kontakte haben bestätigt, daß dieses Interesse ein gegenseitiges ist. Wir nehmen das Interesse unserer Gesprächspartner am Fortgang der Entspannung ernst. Sie und wir wissen: Die West-Ost-Beziehungen dürfen sich nicht auf die Raketenfrage verkürzen. Die gegenseitigen Interessen sind breiter angelegt. Sie reichen weiter in die Zukunft. Jede Verbesserung des Klimas zwischen West und Ost verbessert die Chancen für die laufenden Verhandlungen, besonders über die Mittelstreckenraketen, die uns am meisten berühren. Wir bekennen uns in diesem Bemühen um eine Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses auch zu der besonderen Verantwortung, die wir Deutschen in beiden Staaten in Deutschland tragen. Unsere Politik der Zusammenarbeit ist europäische Friedenspolitik. Beide Staaten können durch die Gestaltung ihres Verhältnisses zueinander, durch die Gewährleistung eines Höchststandards bei der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki und des Dokuments von Madrid dazu beitragen, daß von deutschem Boden Signale der Vertrauensbildung und des Friedens ausgehen. Das ist die geschichtliche Aufgabe, die der Verantwortungsgemeinschaft aller Deutschen in West und Ost gestellt ist. ({11}) Eines der wichtigsten Ergebnisse von Madrid ist die Einberufung einer Konferenz über vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung, die am 17. Januar nächsten Jahres in Stockholm zusammentreten wird. Auch dieses Ergebnis zeigt, daß alle 35 Teilnehmerstaaten ein Interesse daran haben, den Dialog über Sicherheit und Abrüstung in Europa fortzusetzen und zu intensivieren. Wir erwarten, daß sich dieses Interesse auch in anderen West-Ost-Verhandlungen niederschlägt und insbesondere positiven Einfluß auf die Gespräche in Genf hat. Mit der Einberufung der Europäischen Abrüstungskonferenz beginnt eine neue und bedeutsame Etappe des mit der Schlußakte von Helsinki eingeleiteten Prozesses des Dialogs und der Zusammenarbeit in Europa. Der Rüstungskontrolldialog im konventionellen Bereich wird erstmals auf ganz Europa ausgeweitet. Die Europäische Abrüstungskonferenz ist damit die notwendige und sinnvolle Ergänzung der auf Mitteleuropa begrenzten MBFRVerhandlungen in Wien. Diese Europäische Abrüstungskonferenz schafft neue rüstungskontrollpolitische Rahmenbedingungen, die es zu nutzen gilt. Friedenssicherung in Europa erfordert auch, daß die Gefahren der militärischen und politischen Destabilisierung eingedämmt werden, und zwar die Gefahren, die von dem bestehenden Ungleichgewicht der konventionellen Streitkräfte in Europa ausgehen. Es kann nicht oft genug die Warnung vor einer Unterschätzung auch der Gefahren eines konventionellen, eines ohne Atomwaffen geführten Krieges wiederholt werden. ({12}) Ein solcher Krieg wäre angesichts der technischen Entwicklung tausendmal schrecklicher als es der Zweite Weltkrieg war. Wird die Europäische Abrüstungskonferenz zu einem Erfolg, so eröffnen sich neue Perspektiven für die konventionelle und für die nukleare Abrüstung. Neben der Europäischen Abrüstungskonferenz werden die Wiener Verhandlungen vom Bündnis aktiv weitergeführt. Sie haben auf ein enges Gebiet bezogene, aber wesentliche Aufgaben. Nach Einschätzung der Bundesregierung ist in Wien gerade jetzt Spielraum für eine Bewegung in den Verhandlungen gegeben. Die Sachprobleme sind hinreichend definiert. Fortschritte sind möglich, wenn die östliche Seite in den offenen Kernfragen, insbesondere dem Fragenkomplex Streitkräftedaten und Nachprüfbarkeit von Reduzierungsvereinbarungen, ernsthaft verhandlungsbereit ist. Wir sind dazu bereit. Vor diesem Hintergrund wird es die Aufgabe der jetzt vereinbarten ersten Konferenzphase der Abrüstungskonferenz sein, vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu vereinbaren, die militärisch bedeutsam, politisch verbindlich, angemessen nachprüfbar und in ganz Europa anwendbar sein werden. Diese Maßnahmen sollen ein höheres Maß an militärischer Transparenz und Berechenbarkeit schaffen. Sie sollen insbesondere die Gefahr von Überraschungsangriffen vermindern. Ein Ergebnis der ersten Konferenzphase wäre damit in sich ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der militärischen Lage in Europa. Die so zu erzielende größere militärische Berechenbarkeit kann übertriebene Bedrohungsängste abbauen und dazu beitragen, ein rational begründetes Klima gemeinsamen Vertrauens zu schaffen, das unabdingBundesminister Genscher bare Voraussetzung für konkrete Abrüstungsschritte ist. Es ist unser Ziel, bei der europäischen Abrüstungskonferenz die Gefahren rücksichtsloser Gewaltanwendung durch einen vereinbarten Kodex für den Umgang mit militärischer Macht aufzufangen, es ist unser Ziel, Regeln für mehr Transparenz und Berechenbarkeit im militärischen Bereich zu schaffen, und es ist unser Ziel, den Verzicht auf Gewalt und Androhung von Gewalt als Mittel der Politik nachprüfbar und damit überhaupt erst glaubhaft zu machen. ({13}) Die Verhandlung vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen für Europa wird damit Gelegenheit geben, einen Beitrag zur Konkretisierung des bestehenden völkerrechtlichen Gewaltverbots in der Praxis der Beziehungen aller Teilnehmerstaaten untereinander zu leisten. Hier wird deutlich, daß die politische Bedeutung der europäischen Abrüstungskonferenz über den engeren Bereich der Rüstungskontrolle hinausgeht. Wir sehen sie als wichtigen Schritt in Richtung auf eine auf Zusammenarbeit und Vertrauen gegründete Sicherheitsordnung für ganz Europa. Es ist ein ernsthafter Versuch, auch im Sicherheitsbereich ein beiderseitiges Interesse an Stabilität und an einem zivilisierten Verhältnis herauszuarbeiten und zu kodifizieren. Neben der Festigkeit bei der Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit muß der Wille zum Dialog und zur rüstungskontrollpolitischen Zusammenarbeit auf allen Ebenen erhalten bleiben. Als Teil dieses politischen Gesamtkonzepts, das auf Verständigung, Zusammenarbeit und Abrüstung auf der Grundlage ausgewogener Verhandlungsergebnisse ausgerichtet ist, sind auch die Mittelstreckenverhandlungen in Genf zu sehen. Die sechste Verhandlungsrunde über Mittelstreckenwaffen in Genf hat am 6. September 1983 begonnen. Es besteht nach westlicher Einschätzung, aber auch nach erklärter Auffassung der sowjetischen Führung die Chance, noch in diesem Jahr zu einer Einigung über die Begrenzung und Reduzierung landgestützter Mittelstreckenflugkörper zu kommen. Für die westliche Verhandlungsposition gilt: Erstens. Wir halten ein Verhandlungsergebnis, durch das alle sowjetischen landgestützten Mittelstrekkenraketen beseitigt werden, so daß deshalb auch keine landgestützten amerikanischen Mittelstrekkenraketen aufgestellt werden müssen, unverändert für das beste Ergebnis. ({14}) Zweitens. Der Westen ist bereit, jedem anderen Ergebnis zuzustimmen, das unter Berücksichtigung der Grundsätze von Gleichheit und Parität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die Zahl der schon stationierten sowjetischen Raketen vermindert und damit dem Westen die Möglichkeit gibt, seine Nachrüstung auf den entsprechenden Umfang zu vermindern. Diese Verminderung würde sich auf die Marschflugkörper und die Pershing II beziehen. Wir wollen, daß möglichst viele sowjetische Raketen abgebaut und beseitigt werden, damit möglichst wenig amerikanische Raketen hier bei uns stationiert werden müssen. ({15}) Je weniger Raketen auf beiden Seiten, um so besser, das ist der Sinn unserer Forderung, Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen zu stabilisieren. Hier wie überall gilt für uns: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. Wer vom Westen mit mahnenden Worten mehr Flexibilität verlangt, soll lieber erkennen: Es gibt nichts Flexibleres als den Verzicht auf Raketen auf beiden Seiten. ({16}) Aber auch einen halben Schritt in die richtige Richtung zu tun ist der Sinn des westlichen Vorschlages für ein Zwischenergebnis, den Präsident Reagan am 30. März dieses Jahres bekanntgegeben hat. Botschafter Nitze hat diesen Vorschlag am Verhandlungstisch im einzelnen erläutert. Er hat einen Vertragsentwurf vorgelegt und der sowjetischen Seite verschiedene Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen, aber mit dem klaren Ziel - ich wiederhole es noch einmal -: Je weniger Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten, desto besser. Diese Position ist flexibel und kompromißfähig. Leider hat die sowjetische Seite bisher keine Bereitschaft gezeigt, diesen Weg mit uns zu gehen. Der westliche Vorschlag für ein Zwischenergebnis ist wie der von uns vorgeschlagene und nach wie vor gewollte gänzliche Verzicht auf sowjetische und amerikanische landgestützte Mittelstreckenraketen und wie übrigens auch der Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 das Ergebnis intensiver Konsultationen im Bündnis. Die europäischen Bündnispartner sitzen zwar nicht am Verhandlungstisch, sie begleiten aber die Verhandlungen und leisten ihren Beitrag zur Entwicklung der westlichen Verhandlungsposition. Das gilt auch für die laufenden Erörterungen über neue westliche Initiativen, die im Rahmen des Konzepts des NATO-Doppelbeschlusses die Vorschläge für ein Zwischenabkommen weiter vertiefen und konkretisieren sollen, um Fortschritte bei den Verhandlungen zu erreichen. Drittens. Wir halten es für notwendig, daß getroffene Vereinbarungen auch verläßlich nachgeprüft werden können. ({17}) Wer nichts zu verbergen hat, kann dieser Forderung zustimmen. ({18}) Wer sie ablehnt, setzt sich dem Verdacht aus, daß er etwas verbergen will. ({19}) Wir bedauern, daß die Sowjetunion auf den amerikanischen Vorschlag bisher nicht eingegangen ist, der das Ziel verfolgt, diese wichtige Frage der Nachprüfbarkeit getroffener Vereinbarungen parallel zu den Verhandlungen über Reduzierungsmaßnahmen zu klären, damit eine Verzögerung des Ver1578 handlungsabschlusses durch diese Frage vermieden werden kann. Viertens. Die Bündnispartner sind bereit, alle sowjetischen Vorschläge ernsthaft darauf zu prüfen, ob sie geeignet sind, zu wirklicher und nicht nur zu einseitiger Abrüstung zu kommen. Wirksam werden können Vorschläge nur, wenn sie am Verhandlungstisch in Genf gemacht werden. Dies gilt auch für die positiven Elemente in der jüngsten Erklärung von Generalsekretär Andropow und in anderen Stellungnahmen. Ein Ergebnis der Verhandlungen hängt jetzt vom Verhalten der Sowjetunion ab. Sie hat den Schlüssel für den Erfolg der Verhandlungen in der Hand. Wer der eigenen Regierung, wer dem westlichen Bündnis mangelnde Flexibilität vorwirft, muß sagen, in welcher Richtung er Flexibilität haben möchte. ({20}) Einseitiger Verzicht oder Hinnahme sowjetischer Überlegenheit, z. B. durch Berücksichtigung der französischen und britischen Systeme im Rahmen der Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen, das wäre nicht Flexibilität im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses, das wäre Aussteigen aus diesem Beschluß und damit Gefährdung unserer Sicherheit. ({21}) Es ist doch vor allem die sowjetische Forderung nach Anrechnung britischer und französischer Systeme, ({22}) durch die die Verhandlungen derzeit blockiert werden. Die Bundesregierung wiederholt ihren Appell an die Sowjetunion, diese Forderungen aufzugeben und damit den Weg für eine Einigung freizumachen. Diese Systeme gehören nicht in den Zusammenhang der Mittelstreckenraketen-Verhandlungen. Dies wurde von sowjetischer Seite noch 1980 in Moskau gegenüber der Bundesregierung bestätigt. Das sowjetische Verlangen nach Anrechnung dieser Systeme bei diesen Verhandlungen berührt die Interessen des Westens in seiner Gesamtheit, aber auch deutsche und europäische Interessen. Ich erinnere an die eindrucksvollen Ausführungen, die Präsident Mitterrand am 20. Januar 1983 vor diesem Hohen Hause gemacht hat. Die Sowjetunion unternimmt in dieser Phase der Verhandlungen mit der Forderung nach Berücksichtigung der britischen und französischen Systeme den Versuch, sich ihre Monopolstellung bei den Mittelstreckenraketen vertraglich bestätigen zu lassen. Je schneller die Sowjetunion diesen Versuch fallenläßt, um so früher wird ein konkretes Verhandlungsergebnis möglich sein, das den Interessen beider Seiten Rechnung trägt. In den bisherigen Verhandlungen wurde die anstehende Materie gründlich aufbereitet. Die zu lösenden Probleme sind identifiziert, ihre Zahl ist begrenzt. Das Bündnis will ein Verhandlungsergebnis noch in diesem Jahr. Ich muß dazu mit aller Klarheit feststellen: die Chance der Einigung würde vertan werden, sollte die Sowjetunion dem Irrtum erliegen, der Westen habe nur den einen Teil des Doppelbeschlusses ernst gemeint und nicht auch die Entschlossenheit zur Nachrüstung bei Ausbleiben eines konkreten Verhandlungsergebnisses. ({23}) Meine Damen und Herren, hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland muß jedem, der politische Verantwortung trägt, bewußt sein: Wer diese Entschlossenheit des Westens, beide Teile des Doppelbeschlusses gleich ernst zu nehmen, in Zweifel zieht, gefährdet einen möglichen Erfolg der Verhandlungen. ({24}) Er mindert das Interesse der Sowjetunion an einem konkreten Verhandlungsergebnis. Der auch in der Bundesrepublik Deutschland geforderte Aufschub des Stationierungsbeginns für den Fall des Ausbleibens eines Verhandlungsergebnisses schwächt die westliche Verhandlungsposition. Er schadet unseren Bemühungen um einen baldigen Abschluß einer Vereinbarung. Eine solche Forderung nährt die Erwartung der Sowjetunion, die Stationierung auch ohne Zugeständnisse am Verhandlungstisch verhindern zu können. ({25}) Meine Damen und Herren, wer aber sogar jede westliche Nachrüstung bedingungslos ablehnt, der zerstört die Möglichkeit, die auf uns gerichtete Bedrohung mit sowjetischen Mittelstreckenraketen abzubauen. ({26}) Er handelt gegen die legitimen Sicherheitsinteressen unseres Volkes. Heute gilt unverändert, was am 3. Dezember 1981 im Deutschen Bundestag für die Bundesregierung gesagt wurde - ich zitiere -: Wenn jedoch Ende 1983 konkrete Ergebnisse nicht vorliegen sollten - so habe ich deutlich zum Ausdruck gebracht -, würde die Bundesregierung, würde jede Bundesregierung die im eigenen deutschen Sicherheitsinteresse und die im gemeinsamen Sicherheitsinteresse des Bündnisses eingegangenen Verpflichtungen aus dem Doppelbeschluß einhalten. ({27}) Das heißt: die Stationierung würde in dem geplanten Umfang erfolgen. Das erklärte der damalige Bundeskanzler. Die Bundesregierung von heute steht zu dieser Auffassung und zu dieser Entscheidung. ({28}) Ich stelle fest: Die Entscheidung über die Stationierung wie über den Verhandlungsvorschlag ist 1979 mit dem Doppelbeschluß gefallen. Nur ein konkretes Verhandlungsergebnis kann die Nachrüstung ganz oder teilweise überflüssig machen. Und wir wollen ein solches Verhandlungsergebnis noch in diesem Jahr. Kommt es nicht zu diesem von uns gewünschten Ergebnis, bleibt es bei dem Bündnisbeschluß vom Dezember 1979, wonach die Stationierung Ende 1983 beginnen soll. Dabei würde für jeden neuen atomaren Sprengkopf ein vorhandener beseitigt. Das Bündnis prüft außerdem die Möglichkeit, nach dem im Jahre 1980 vorgenommenen Abzug von 1 000 atomaren Sprengköpfen die Zahl der in Europa stationierten Sprengköpfe weiter drastisch herabzusetzen. Wir sind entschlossen, auch nach einer möglichen Stationierung weiterzuverhandeln, bis es zu einem Ergebnis auf möglichst niedrigem Niveau, also mit möglichst wenig Raketen auf beiden Seiten kommt. Sollte stationiert werden müssen, ist der Westen bereit, die stationierten Waffen wieder zu beseitigen, sobald ein Verhandlungsergebnis das zuläßt. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Die Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sind wesentliche Bestandteile unserer Politik. Die Bundesregierung wird zu diesen Bemühungen nach Kräften beitragen. Das Netz von Verhandlungen war noch nie enger als heute. Vom Abschluß des KSZE-Folgetreffens in Madrid sollen neue Impulse für die laufenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen ausgehen. Wir wollen auf der Grundlage der Beschlüsse den Prozeß echter Entspannung und Vertrauensbildung durch praktische Zusammenarbeit der Staaten und Völker und durch Verwirklichung der Menschenrechte fördern. Wir haben die Chance, in dem eingeleiteten Verhandlungsdialog Fortschritte auf dem Weg zu konkreten, nachprüfbaren Vereinbarungen und damit zu mehr Sicherheit und Stabilität mit möglichst wenig Rüstung zu erzielen. Die Bundesregierung ist entschlossen, diese Chance zu nutzen. Unsere Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle werden - das muß jeder vor sich selbst verantworten - um so erfolgreicher sein, je eindeutiger die Unterstützung dieser Politik ist, die j a einmal die Politik des ganzen Deutschen Bundestages war. ({29}) Jedes Mitglied des Deutschen Bundestages steht dabei in seiner ganz persönlichen Verantwortung für unser deutsches Volk. Wir werden nach dieser Verantwortung handeln. - Ich danke Ihnen. ({30})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, wird das Wort zur Begründung der Großen Anfrage gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den erfolgreichen Abschluß des Madrider Treffens. Das Konferenzdokument unterstreicht in eindrucksvoller Weise die Notwendigkeit, die Entspannungspolitik in Europa fortzuführen, und es bekräftigt den Grundsatz des Gewaltverzichts als Kernelement der Entspannungspolitik. ({0}) In Madrid sind auch im Vergleich zum Belgrader Folgetreffen erhebliche Fortschritte erzielt worden. Das gilt für alle drei Körbe. Der Herr Bundesaußenminister hat den Inhalt des Dokuments einschließlich der zahlreichen weiterführenden Schritte, die vereinbart worden sind, dargestellt. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Wir Sozialdemokraten haben bei Übernahme der Oppositionsaufgabe der neuen Bundesregierung zugesichert, daß wir sie überall da unterstützen werden, wo sie die unter sozialdemokratischer Führung eingeleitete Entspannungspolitik fortsetzt. Das galt für die Madrider Konferenz. Es wird ebenso für den weiteren KSZE-Prozeß gelten. Die deutsche Politik hat am erfolgreichen Abschluß der Madrider Konferenz großen Anteil. Dazu möchten wir der Bundesregierung, besonders dem Bundesaußenminister, ebenso gratulieren wie unserer Verhandlungsdelegation und deren Leiter. ({1}) Unser herzlicher Dank gilt auch den neutralen und nicht paktgebundenen Staaten, insbesondere der Regierung des Gastgeberlandes Spanien, an der Spitze dem spanischen Regierungschef, unserem Freund Felipe González, ({2}) der mit seinen Vermittlungsbemühungen ein gutes Ende der Konferenz sichergestellt hat. Der außenpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Graf Huyn, teilt die positive Bewertung des Madrider Abschlusses durch Bundesregierung und sozialdemokratische Opposition offenbar nicht. Er hat vor „Illusionen über angeblich Erreichtes" gewarnt und erklärt, daß „trotz allen Geredes über Entspannung keine Fortschritte gemacht worden" seien. Nun wird niemand übersehen wollen, daß die praktische Wirksamkeit des KSZE-Prozesses nach wie vor begrenzt ist. Darüber sollte aber auf der anderen Seite niemand übersehen, daß mit diesem Prozeß eine tiefe Bewußtseinsänderung verbunden ist, die man in den osteuropäischen Ländern heute mit Händen greifen kann. ({3}) Hartnäckigkeit und Geduld sind Voraussetzung für den Erfolg auch der weiteren Arbeit. Wir Sozialdemokraten verbuchen es übrigens als einen unserer großen Erfolge, die Mehrheit der Dr. Ehmke ({4}) Unionsparteien von der Richtigkeit, ja von der Notwendigkeit dieses Weges überzeugt zu haben. ({5}) Sie haben 1975 die Schlußakte abgelehnt. In Ihrem entsprechenden Antrag hieß es damals u. a. - ich darf mit freundlicher Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren, so damals Originalton CDU/CSU -: Die Ergebnisse der KSZE drohen zu Instrumenten zur Durchsetzung langfristiger sowjetischer Ziele, insbesondere in ganz Deutschland zu werden, die elementaren Interessen des Westens in Europa zuwiderlaufen. Der Kollege Strauß hatte die KSZE, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte, schlicht als „Kreml-Projekt" abgetan. Und Kollege Kohl, der sich jetzt als Bundeskanzler mit uns über den KSZE-Erfolg in Madrid freut, beurteilte das Ergebnis von Helsinki im Jahre 1976 mit folgenden Worten: Am wenigsten brachte die KSZE den Deutschen. Das Klima zwischen den beiden deutschen Staaten wird immer frostiger. Die DDR gebärdet sich so, als hätte sie die Schlußakte von Helsinki nicht unterschrieben. ({6}) In Helsinki hat der Westen nur gegeben, der Osten nur genommen. ({7}) Der Herr Bundeskanzler wird mir sicher darin zustimmen, daß seine damaligen Worte heute ({8}) gerade angesichts der von uns begrüßten Fortsetzung unserer Deutschlandpolitik durch diese Regierung - besonders überholt wirken. ({9}) Ich bin auch ganz sicher, daß der Staatsminister im Auswärtigen Amt, unser verehrter Kollege Alois Mertes, heute glücklich wäre, wenn er im Zusammenhang mit den Madrider Verhandlungen nicht noch im Februar 1982 das Wort von einem „SuperJalta" gebraucht hätte. ({10}) Noch besser wäre es gewesen, er hätte es gar nicht bedacht. Gegenüber allen solchen Befürchtungen können wir heute gemeinsam feststellen - der Bundesaußenminister hat das übrigens eben getan -, daß das in Madrid Erreichte in hohem Maß die Handschrift des Westens trägt. Wir Sozialdemokraten freuen uns über diesen Lernprozeß in den Unionsparteien. Wir verbinden damit allerdings eine Bitte. Wir sind der Meinung: So wie die Dinge nun gelaufen sind, sollten Sie doch eigentlich nicht mehr ständig der Versuchung erliegen, uns darüber zu belehren, was -

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Dr. Ehmke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mertes, darf ich dies gerade zu Ende bringen. - Ich bin der Meinung, daß die Kollegen von der Union aufhören sollten, die deutschen Sozialdemokraten ständig über die Notwendigkeiten deutscher Außenpolitik zu belehren. ({0}) - Oder, Jonny Klein, wenn ich das etwas salopper formulieren darf: Die glückliche Tatsache, daß Sie nun endlich die Kurve gekriegt haben, heißt ja noch nicht, daß Sie sich jetzt gleich als Bahnmeister aufspielen müssen. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Dr. Mertes.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ehmke, teilen Sie die Auffassung der Staaten des Atlantischen Bündnisses, daß bei der KSZE das grundlegende Problem besteht, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten hinsichtlich der Anwendung der Schlußakte eine andere Zielvorstellung haben als der Westen und daß dieser Gegensatz der Zielvorstellungen auch in Madrid jahrelang zum Ausdruck gekommen ist? Und halten Sie es für richtig, daß man in einer Kurzfassung sagen kann: Das KSZE-Konzept der Sowjetunion ist die Bestätigung von Jalta, und das Konzept des Westens ist die Überwindung von Jalta?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin der Meinung, daß dieser Prozeß überhaupt nicht mit dem Namen Jalta in Verbindung gebracht werden sollte. ({0}) Und ich bin der Meinung, daß man bei den bestehenden Meinungsverschiedenheiten, die ich wie Sie sehe, die Durchsetzung des eigenen Standpunkts nicht fördert, wenn man solche Horrorbilder gebraucht, Herr Kollege. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Bitte schön.

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ehmke, erinnern Sie sich daran, daß Bundeskanzler Schmidt kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen Anfang 1982 gesagt hat, man müsse doch die machtpolitischen Ergebnisse von Jalta sehen, und daß ich ihm erwidert habe, es komme auf die Überwindung der seit Jalta eingetretenen menschenrechtswidrigen Verhältnisse an? Haben Sie nicht bemerkt, daß ich mich bei der Verwendung des Wortes „Jalta" auf den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt bezogen habe?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mertes, ich komme noch auf das Verhalten einer Großmacht zurück, die keinen Fehler zugeben kann. Sie sollten der Großmacht in dieser Untugend nicht nacheifern. Das Wort, das Sie gebraucht haben, war unglücklich. ({0}) Ich halte es im übrigen für bemerkenswert, daß der KSZE-Prozeß sich gegenüber der sich so drastisch verschlechternden Atmosphäre zwischen den Großmächten als lebens- und widerstandsfähig erwiesen hat. Offensichtlich ist der KSZE-Prozeß eben doch kein bloßes Schönwetter-Unternehmen. Jedenfalls hat er in Madrid in einer sehr düsteren Periode einen Lichtblick gegeben. Der Abschuß der südkoreanischen Verkehrsmaschine durch die sowjetische Luftwaffe zeigt gleichzeitig, wie schmal der Grat von Sicherheit ist, auf dem wir uns bewegen. Trotz der vielen Unklarheiten und Ungereimtheiten im Verhalten der südkoreanischen Maschine ist der Abschuß unentschuldbar. Da sind wir der gleichen Meinung wie die Bundesregierung. Wir mißbilligen auch das Verhalten der Sowjetunion nach dem Abschuß. Die Unfähigkeit des Regimes, einen Fehler einzugestehen, ist sicher kein Zeichen politischer Stärke. ({1}) Auch wir erwarten, daß sich die Sowjetunion endlich ohne Ausflüchte zu ihrer Verantwortung bekennt, daß sie eine angemessene Entschuldigung gegenüber den Opfern findet und daß sie Schadenersatz für die Hinterbliebenen übernimmt. ({2}) Wir sind dankbar dafür - das möchte ich hier noch einmal zum Ausdruck bringen -, daß der amerikanische Präsident und die Bundesregierung bei klarer Verurteilung des sowjetischen Verhaltens maßvoll reagiert haben. Damit ist nicht nur Augenmaß, Herr Bundesaußenminister, sondern auch die Einsicht deutlich geworden, daß, gerade um solche schrecklichen Zwischenfälle in Zukunft nach Möglichkeit auszuschließen, der Prozeß der Entspannung energisch weitergeführt werden muß - wie es in Madrid geschehen ist. Wir teilen auch die Meinung des Bundesaußenministers, daß sicherheitspolitisch das wichtigste Ergebnis von Madrid neben der Bestätigung der Entspannungspolitik und des Gewaltverzichts die Vereinbarung einer Konferenz über Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa ist. Der Herr Bundesaußenminister hat die Ziele dieser Konferenz dargelegt und hat angekündigt, daß sich die Bundesregierung mit einem aktiven Beitrag daran beteiligen wird. Herr Bundesaußenminister, gestatten Sie mir dazu ein kritisches Wort. Die Tatsache, daß die Bundesregierung die Notwendigkeit vertrauensbildender Maßnahmen bejaht, wird bedeutungslos bleiben, wenn sie nicht auch Vorschläge anderer auf diesem Gebiet aufgreift und diskutiert. Wir würden es z. B. begrüßen, wenn der Abzug taktischer Nuklearwaffen der NATO aus Europa als vertrauensbildende Maßnahme beschleunigt würde, statt nur als flankierende Maßnahme zu einer etwaigen Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme behandelt zu werden. ({3}) Oder, um ein weiteres Beispiel zu geben: Hinsichtlich des vom Warschauer Pakt vorgeschlagenen Gewaltverzichtsvertrages zwischen den Blökken hat sich die Bundesregierung nur zu einem recht gequälten „nein" durchringen können. Und dies, obwohl wir doch selbst vorher - es war noch die alte Regierung - gefordert haben, der sowjetische Außenminister solle seine Erklärung auf der 2. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen über den Nicht-Ersteinsatz von Nuklearwaffen bitte auf konventionelle Waffen ausdehnen. Die Anregung amerikanischer Experten, auch die NATO möge hinsichtlich des Einsatzes von Nuklearwaffen eine „no first use"-Erklärung abgeben, hat die Bundesregierung ebensowenig diskutiert wie die Vorschläge der Palme-Kommission. Herr Bundesaußenminister, schon in den Wiener MBFR-Verhandlungen sind die Bundesregierung und Ihr Amt nicht immer gerade ein die Dinge bewegender Faktor gewesen. Nur wenn das in Stockholm besser wird, wird die Bundesregierung auf die volle Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition rechnen können. ({4}) Im Gegensatz zu der wachsenden Übernahme der unter sozialdemokratischer Führung eingeleiteten KSZE- und Deutschlandpolitik durch die jetzige Bundesregierung werden die Fragen der nuklearen Mittelstreckenwaffen und der Genfer Verhandlungen über sie zwischen uns zunehmend kontrovers. Ich werde daher heute noch einmal unsere Position und die Gründe für unsere Kritik an der Bundesregierung darlegen. Trotz der teilweise unflätigen Beschimpfung der deutschen Sozialdemokraten durch Mitglieder der Rechtskoalition ({5}) - der Herr Bundeskanzler sind dabei auf ein besonders niedriges Niveau heruntergekommen ({6}) werde ich das in einem Ton tun, der eine Diskussion ermöglicht. Wir erwarten allerdings auch, daß wir von der Bundesregierung, insbesondere vom Bundeskanzler, auf unsere Fragen endlich einmal konkrete Antworten zu hören bekommen ({7}) und nicht nur Spruchweisheiten oder Diffamierungen. ({8}) Ich beginne mit der Antwort der Bundesregierung auf die Großen Anfragen der kleinsten Frak1582 Dr. Ehmke ({9}) tion dieses Hauses zu den Themen „NATO-Rüstung" und „Pershing II". ({10}) Ich begrüße es, daß sich die Bundesregierung in ihrer Antwort noch einmal zu der 1967 im Harmel-Bericht niedergelegten gemeinsamen Politik der NATO-Partner bekannt hat. Ich muß es bedauern, Herr Bundesminister der Verteidigung, daß die Bundesregierung die Gelegenheit dieser Großen Anfragen, ihrerseits vertrauensbildend zu wirken, im wesentlichen ungenutzt gelassen hat. Die teilweise oberflächlichen oder gar schnippischen Antworten auf diese ernsten Fragen sind nicht geeignet, Sorgen und Mißtrauen auszuräumen. ({11}) Das gilt insbesondere für die Sorge, die Stationierung neuer Mittelstreckensysteme könnte zu einer Destabilisierung der Abschreckung und damit zu einer Kriseninstabilität beitragen. Verehrte Kollegen von der Union, wir sind uns doch alle darin einig, daß die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen - das gleiche würde übrigens für die Stationierung von sowjetischen Nuklearraketen kürzerer Reichweite gelten - erheblich zur Destabilisierung der Verhältnisse beigetragen hat. ({12}) Diese Stationierung war nicht eine vertrauensbildende, sondern eine mißtrauensbildende Maßnahme. ({13}) Wenn wir uns darin einig sind, sollten wir uns aber auch doch darin einig sein, daß wir genauso fragen müssen, ob das gleiche nicht auch für die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern gilt. ({14}) - Verehrter Herr Kollege Dregger, wir werden nicht dadurch glaubwürdiger und die Regierung wird nicht dadurch glaubwürdiger, daß sie diesen berechtigten Fragen in der einen oder anderen Form ausweicht, statt sie zu beantworten. ({15}) Mein Kollege Scheer wird darauf noch im einzelnen zurückkommen. Ich möchte, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, aus dem sicherheitspolitischen Papier der SPD-Bundestagsfraktion vom 1. Juni dieses Jahres zitieren: Die sowjetische Führung muß wissen, daß wir die SS-20-Raketen als militärische und politische Bedrohung ansehen, die nicht hingenommen werden kann. ({16}) Insoweit besteht in diesem Hause sicher weitgehende Übereinstimmung. Wir stimmen sicher auch darin überein, daß eine Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckensysteme umgekehrt die Bedrohung der Sowjetunion vergrößern würde. Damit ist aber noch nicht die entscheidende Frage beantwortet, ob eine solche Stationierung zusätzliche Sicherheit für uns und für ganz Europa schaffen würde. ({17}) Die Zweifel daran werden immer lauter. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort - das muß ich leider sagen - nocht nicht einmal einen ernsthaften Versuch gemacht, sie auszuräumen. ({18}) Auf der anderen Seite ist unbestreibar, daß eine Verhandlungslösung, die die nuklearen Mittelstrekkensysteme in Europa auf Null oder doch wenigstens unter Kontrolle bringen würde, die Sicherheit in Europa wesentlich erhöhen würde. Es ist daher unverändert die Überzeugung von uns Sozialdemokraten, daß einer Verhandlungslösung in Genf der eindeutige Vorrang gegeben werden muß. ({19}) Ohne daß vorher alle Möglichkeiten einer Verhandlungslösung ausgelotet worden sind, dürfen nach unserer Überzeugung Gegenmaßnahmen nicht ergriffen werden. Wie steht es denn nun heute um die Genfer Verhandlungen und um das Ausloten von Lösungsmöglichkeiten? Die schlichte Wahrheit ist: Es steht in Genf - allen gelegentlichen gegenteiligen Andeutungen der Bundesregierung zum Trotz - schlecht. Nichts könnte das besser belegen als der Umstand, ({20}) daß man in der Bundesregierung nahestehenden Medien in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit von einer Politik der „Schadensbegrenzung" spricht. Man geht also in Wirklichkeit nicht nur von einem Scheitern der Genfer Verhandlungen aus, sondern auch - durchaus zu Recht - davon, daß ein solches Scheitern der Bundesrepublik Schaden zufügen muß. Die Bundesregierung beschränkt ihre Politik dem gegenüber auf den Versuch, diesen Schaden nach Möglichkeit, z. B. durch die von mir geschilderte aktive KSZE- und Deutschlandpolitik, zu begrenzen. Herr Bundesaußenminister, steckt aber in diesem Wort „Schadensbegrenzung" nicht ein verhandlungspolitischer Offenbarungseid Ihrer Regierung? ({21})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Ehmke, erlauben Sie eine Frage des Abgeordneten Genscher?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sicher.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Abgeordneter Genscher, bitte schön.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ist Ihnen nicht bewußt, daß ich wiederholt der Auffassung entgegengetreten bin, daß der KSZE-Prozeß und unsere anderen Bemühungen um Stabilisierung des WestOst-Verhältnisses das Ziel der Schadensbegrenzung haben, und ist Ihnen nicht bewußt, daß sie vielmehr das Ziel haben, die Voraussetzungen für einen Verhandlungserfolg in Genf zu verbessern?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesaußenminister, ich habe auch nicht von Ihnen gesprochen, sondern von der bemerkenswerten Tatsache, daß insbesondere die von uns begrüßte deutschlandpolitische Aktivität dieser Regierung in der konservativen Presse seit Wochen unter dem Gesichtspunkt der „Schadensbegrenzung" behandelt wird. ({0}) Wenn Sie sagen, dies soll nicht der Fall sein - in Ordnung. Aber ich komme gleich noch zu dem, was die Regierung tun müßte, um den Schaden zu vermeiden. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Genscher? - Herr Abgeordneter Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ehmke, finden Sie nicht, daß unsere Diskussion dann sachlicher sein könnte, ({0}) wenn wir uns nur das zurechnen, was wir jeweils gesagt haben, und nicht das, was andere sagen, von denen man meint, sie könnten jemandem nahestehen? ({1})

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesaußenminister, ich werde, wie ich Ihnen schon gesagt habe, gleich noch zu dem kommen, was man Ihnen direkt zurechnen kann. Nur bin ich der Meinung, der Umstand, daß das Wort „Schadensbegrenzung" aufkommt, liegt im Verhalten der Bundesregierung selbst begründet, und das möchte ich Ihnen nun darlegen. Der Doppelbeschluß ist seinerzeit als ein Schritt zur Rüstungskontrolle konzipiert worden. Er ist seinerzeit von vielen Seiten sogar als ein kühner Schritt auf diesem Gebiet gelobt worden. Zum ersten Mal wurden Waffen zur Verhandlung gestellt, die noch nicht fertig entwickelt waren. In der Reagan-Administration - auch das gehört zu einem Gesamtbild, Herr Bundesaußenminister - hat es allerdings von Beginn an auch Leute gegeben, die im Doppelbeschluß nur einen - mit dem Feigenblatt eines Verhandlungsangebots verzierten - Aufrüstungsbeschluß gesehen haben. ({0}) Die gleichen Leute haben in den letzten Jahren viel getan, den Doppelbeschluß aus dem Rahmen der im Harmel-Bericht vereinbarten NATO-Politik der Sicherheit und Entspannung herauszulösen und ihn in den Rahmen einer Politik der verbalen Aggressivität und des Wettrüstens zu stellen. ({1}) Diese Leute in Washington haben damit mehr zur Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Europa und der Administration in Washington beigetragen, als die sowjetische Propaganda allein es je vermocht hätte. ({2}) Gerade weil ich diese Herren ja gut kenne und oft mit ihnen diskutiere, muß ich sagen: Man kann nur erstaunt darüber sein, daß jemand, der sich so verhalten hat, sich jetzt darüber wundert, wie sich die Zweifel an der und der Widerstand gegen die Raketenstationierung in Europa verstärken. ({3}) Der Doppelbeschluß der NATO ging im Dezember 1979 davon aus, daß der SALT-II-Vertrag in Kraft treten würde und daß auf dessen Basis in einer SALT-III-Runde auch für die Mittelstreckensysteme Rüstungskontrolle vereinbart werden würde. In Wirklichkeit aber hat der amerikanische Senat das SALT-II-Abkommen nicht ratifiziert. ({4}) Zwei von den vier zur Verfügung stehenden Jahren sind für die Verhandlungen verlorengegangen, da sie dafür gebraucht wurden, zunächst die Sowjetunion und dann die Reagan-Administration überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen. Dieser Verhandlungstisch war und ist - im Widerspruch zum Doppelbeschluß - kein allgemeiner Rüstungskontrolltisch, sondern ein Spezialtisch für eurostrategische Systeme. Auch als die Verhandlungen über strategische Waffen unter der neuen Bezeichnung „START" später wieder aufgenommen worden sind, hat man die beiden Verhandlungsebenen nicht verbunden. ({5}) Das erschwert nicht nur in unerträglicher Weise eine Einigung über die Berücksichtigung der britischen und der französischen Nuklearwaffen, sondern es hat auch - Herr Bundesaußenminister, das haben Sie eben nicht vorgetragen; darum muß ich das nachtragen - unter dem Schlagwort von einer sogenannten Zwischenlösung zu einer Verhandlungsposition des Westens geführt, die - im direkten Gegensatz zum Doppelbeschluß - eine tatsächliche numerische Gleichheit im Bereich euro-strategischer Systeme fordert. Herr Bundesaußenminister, eine solche Position hat die seinerzeitige Bundesregierung, in der Sie auch Bundesaußenminister waren, wegen der Gefahr einer Abkoppelung der Vereinigten Staaten von der Sicherheit Europas Dr. Ehmke ({6}) ausdrücklich abgelehnt. Darum fordern wir Sozialdemokraten seit langem - leider ohne bei Ihnen Unterstützung zu finden - eine Verbindung der beiden Verhandlungsebenen. Dafür hat sich kürzlich auch, und zwar mit einer Zweidrittelmehrheit, das amerikanische Repräsentantenhaus ausgesprochen. Auch alle Bemühungen der Bundesregierung müßten doch, um die eingetretene Fehlentwicklung rückgängig zu machen, darauf gerichtet sein, sowohl die sowjetische Führung als auch die Reagan-Administration zu Verhandlungspositionen zu bewegen, die ein Verhandlungsergebnis ermöglichen. Die Sowjetunion hat sich - da stimme ich mit dem Bundesaußenminister überein -, zuletzt durch den bekannten Vorschlag von Generalsekretär Andropow, in einigen Punkten nicht unwesentlich, aber noch keineswegs ausreichend bewegt. Jedoch scheint sich ihre Haltung unter dem Eindruck des amerikanischen Verhaltens jetzt wieder zu versteifen. Die amerikanische Seite beharrt bisher in den INF- wie in den START-Verhandlungen auf einer Position, die nicht nur nach unserem Urteil, sondern auch nach dem Urteil maßgebender amerikanischer Senatoren keine Aussicht auf Erfolg bietet oder, wie die Amerikaner sagen, nicht „negotiable" ist. ({7}) - Das ist nicht „unglaublich". Sie müssen sich einmal damit beschäftigen, was im amerikanischen Kongreß über diese Fragen gesagt wird. ({8}) Ich empfehle Ihnen auch, nicht nur mit demokratischen, sondern auch mit republikanischen Kollegen im Senat zu diskutieren, die der Meinung sind, daß die Position der amerikanischen Administration in beiden Verhandlungen nicht zu halten ist. ({9}) Das wäre sehr viel besser, als hier solche sinnlosen Zwischenrufe zu machen. ({10}) Leider hat die Bundesregierung im Vergleich zu ihrer Vorgängerin in Washington schon darum geringeres Gewicht, weil Helmut Kohl nicht über das internationale Gewicht und Ansehen verfügt, das Helmut Schmidt besaß und besitzt. ({11}) - Ihre Zurufe sind eine unbewußte Zustimmung zu dem, was ich sage. ({12}) Außerdem fehlt Herrn Kohl die Durchsetzungskraft seines Vorgängers. ({13}) Schließlich und vor allem aber hat sich Herr Kohl durch seine Treueschwüre gegenüber Präsident Reagan vor, während und nach dem Bundestagswahlkampf j a selbst die Hände gebunden. Damit bestreite ich nicht, daß die Bundesregierung nicht in einigen Punkten auf eine Fortentwicklung der amerikanischen Verhandlungsposition einwirkt. Einer dieser Punkte ist sogar von erheblicher politischer Bedeutung: die Frage regionaler Obergrenzen innerhalb eines globalen Rahmens für nukleare Mittelstreckensysteme. Die Bundesregierung versucht insoweit, dem - von ihr in Williamsburg aber zugelassenen - Eindruck entgegenzutreten, auch die Frage nuklearer Mittelstreckensysteme im Fernen Osten könne im Rahmen der eurostrategischen Verhandlungen gelöst werden. Ob die Bundesregierung insoweit Erfolg haben wird, scheint mir offen zu sein, insbesondere nach dem, was wir dazu gestern aus Washington gehört haben - abgesehen davon, daß die Vereinigten Staaten sich in Genf nach dem Abschuß des südkoreanischen Flugzeugs im Augenblick mit eigenen neuen Vorschlägen aus verständlichen Gründen zunächst einmal zurückgehalten haben. Der Herr Bundesaußenminister hat unschuldig gefragt, in welche Richtung denn die Flexibilität gehen solle. Sie haben von uns viele beschriebene Seiten zu dieser Frage. Wichtig, Herr Kollege Genscher, ist, daß die Bundesregierung in den zwei für die Verhandlungen entscheidenden Punkten - Stationierung von Pershing II auf deutschem Boden, nur auf deutschem Boden und Berücksichtigung der britischen und der französischen Nuklearsysteme - überhaupt nicht auf die amerikanische Administration einwirkt, sondern nur in der Öffentlichkeit gelegentlich so tut, als ob sie es täte. So bekräftigt die Rechtskoalition sowohl in öffentlichen Erklärungen als auch in der Antwort der Bundesregierung auf die hier behandelten Großen Anfragen die amerikanische Position, daß selbst bei einer Zwischenlösung auf niedrigem Niveau auf die Pershing-II-Raketen oder, wie Sie sagen, auf den „Waffenmix" nicht verzichtet werden könne. ({14}) Für den Hausgebrauch, für die öffentliche Meinung in der Bundesrepubik aber haben in Interviews und Hintergrundgesprächen der Verteidigungsminister, der Außenminister - dieser pikanterweise während eines Aufenthalts im Ostblock - und sogar der Bundeskanzler selbst eine gewisse Vorliebe für die sogenannte Waldspaziergang-Lösung durchscheinen lassen, die sich gerade durch den Verzicht auf die Pershing-II-Stationierung auszeichnet. Den Kollegen Dregger hat das derart beunruhigt, daß er nun seinerseits verkündet hat, wir Deutschen dürften keineswegs jedem Kompromiß zustimmen, den die Amerikaner in Genf vielleicht erDr. Ehmke ({15}) I reichen könnten; wenn ich Sie recht verstehe, Herr Kollege Dregger, schon gar nicht einem Verzicht auf Pershing II. Diese Position muß als politisch abstrus erscheinen. ({16}) Aber das ist nicht das Entscheidende: Viel wichtiger ist - ich habe da frische Eindrücke, Herr Bundesaußenminister -, daß die Administration in Washington durch diese „Doppelstrategie" der Rechtskoalition in Wirklichkeit überhaupt nicht beeinflußt, sondern bestenfalls verärgert und dadurch in ihrer Entschlossenheit bestärkt wird, die Raketen hier aufzustellen, wie groß auch immer die Bauchschmerzen der Bundesregierung sein mögen. ({17}) Ähnlich unklar ist die Haltung der Bundesregierung in der Frage der Berücksichtigung der britischen und der französischen Nuklearraketen. Auch hier unterstützt die Bundesregierung nach außen heroisch die amerikanische Position, daß eine solche Berücksichtigung überhaupt nicht in Frage käme. Nun wollen wir hier einmal Klartext reden: Daß die Amerikaner das nicht wollen, entspringt nicht einer übertriebenen Ehrfurcht vor der britischen und der französischen Souveränität - obwohl das auch ein Gesichtspunkt ist -, sondern der Überzeugung, daß sie sich als Großmacht auf keinen Fall in eine Position begeben könnten, weniger zu haben als die andere Großmacht, wieviel auch immer die Briten und die Franzosen haben mögen. ({18}) Nur: Das ist eine Position, die das Bündnis auf die Dauer nicht durchstehen kann. ({19}) Das ist eine Frage der Einheit der NATO. ({20}) Oder ist es nicht mehr wahr, daß die Briten und die Franzosen im NATO-Vertrag und im WEU-Vertrag ein Bündnisverpflichtung für den Fall eines Angriffs auf die Bundesrepublik unterschrieben haben? Wenn es aber wahr ist, dann hören Sie auf, im Innern ({21}) die NATO als Einheit zu behandeln, aber nach außen, wenn es so paßt, so zu tun, als ob sie keine sei. ({22})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Ehmke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes [Gerolstein]?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Die Amerikaner wissen dabei inzwischen längst - ich will jetzt nicht aus meinen Gesprächen zitieren -, daß diese Position auf die Dauer nicht durchzuhalten ist. Nicht nur in der Studie des amerikanischen Kongresses, auch in der Weltöffentlichkeit wächst das Bewußtsein dafür. ({0}) - Jonny Klein, warum Ihnen nichts anderes einfällt, als in den Slang des „Deutschlandmagazins" zu verfallen, wenn ich hier eine Position kritisiere, die dem Westen schadet, das verstehe ich bei unserem sonst so guten Verhältnis wirklich nicht! ({1}) - Lieber Kollege Klein, hören Sie bitte einmal ein Argument. ({2}) Ich bin der Meinung: Wenn man glaubwürdig sein will, dann kann man nicht gut ({3}) den Sowjets in den START-Verhandlungen die Abrüstung auf je 5 000 Nuklearsprengköpfe vorschlagen - 5 000 hier und 5 000 da -, und sie dann gleichzeitig auffordern, die etwa 1 200 Sprengköpfe, über die die Briten und die Franzosen bis zum Jahre 1990 verfügen wollen, doch freundlicherweise einfach zu übersehen. ({4}) Herr Kollege Klein, ich sage Ihnen: Wenn die Sowjetunion ihrerseits ein solch unglaubliches Ansinnen an den Westen stellen würde, dann würden wir gemeinsam schreien und sagen: Die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. ({5}) Ich für meine Person werde nie eine Position vertreten, die ich so scharf zurückweisen würde, wenn die andere Seite sie vertreten würde. ({6}) Aus diesem Grunde, Herr Kollege Klein, hat jetzt auch das holländische Parlament - übrigens mit den Stimmen Ihrer dort offenbar weit aufgeschlosseneren christdemokratischen Kollegen - eine Berücksichtigung der britischen und der französischen Systeme gefordert. Der christdemokratische Außenminister Hollands hat sich dem angeschlossen. Es hat mich daher, ehrlich gesagt, auch nicht überrascht, daß es nun für den Hausgebrauch in der Bundesrepublik auch entsprechende Andeutungen aus den Reihen der Rechtskoalition gibt. So hat der Kollege Rühe in teilweiser Übereinstimmung mit sozialdemokratischen Vorschlägen - ich bitte, ihn deswegen nicht gleich zu steinigen - neulich eine entsprechende Absichtserklärung des Westens vorgeschlagen. ({7}) Dr. Ehmke ({8}) Was mir aber viel bemerkenswerter zu sein scheint. - Herr Kollege Genscher da kann ich Ihnen nun, wie ich Ihnen schon gesagt habe, klare Worte nicht ersparen -, ist, daß inzwischen der Herr Bundesaußenminister offensichtlich seine Position geändert hat; ({9}) - Herr Kollege Klein, ich habe Sie doch schon einmal gebeten, in solche ernsten Dinge, über die ich mich mit dem Außenminister sachlich auseinandersetze, nicht diesen „Deutschlandmagazin"-Ton hineinzubringen. ({10}) Sie haben es noch nicht gemerkt, sehe ich, Herr Klein. Ich darf deshalb etwas Unions-Hilfe leisten. Der Herr Bundesaußenminister hat seine Position in der Frage der Drittstaatensysteme geändert. Er hat das übrigens eben auch vorgetragen. Sie haben offenbar nur nicht richtig zugehört. Der Bundesaußenminister ist nach dem, was er heute als Regierungserklärung vorgetragen hat, nunmehr für eine Berücksichtigung der britischen und der französischen Systeme - im Gegensatz zur amerikanischen Position. Er sagt nur - das ist aber eine zweite Frage -, er wolle sie nicht im Rahmen der INF-Verhandlungen berücksichtigen. ({11}) - Nichts okay. Herr Klein, wenn Sie okay sagen, wissen Sie nicht, worum es geht. Die bisherige Position war: Sie werden in den Gesamtverhandlungen der Amerikaner nicht berücksichtigt. Ich begrüße diesen Fortschritt in der Position des Außenministers. Ich hoffe, daß er sie auch in Washington mit Nachdruck vertritt. ({12}) Ich muß allerdings sagen, Herr Kollege Genscher: Sie haben um das überzubringen, erstaunliche publizistische Verrenkungen gemacht. Aus der simplen Tatsachenfeststellung des sowjetischen Außenministers, die britischen und die französischen Nuklearraketen hätten ein „doppeltes Gesicht", nämlich ein strategisches und ein euro-strategisches, hat Herr Kollege Genscher kühn gefolgert, die Sowjets könnten sich mit einer Berücksichtigung der Drittstaatensysteme außerhalb der INF-Verhandlungen zufriedengeben. Früher habe sich der sowjetische Außenminister nämlich immer darauf berufen, daß es sich um strategische Systeme handele. Herr Kollege Genscher, ich halte es für eine seltsame Logik, aus einer Hinzufügung des euro-strategischen Aspekts dieser Waffen ausgerechnet einen Verzicht auf die Forderung ableiten zu wollen, sie in den euro-strategischen Verhandlungen zu berücksichtigen oder jedenfalls sie auch dort zu berücksichtigen. Aber auch die äußeren Umstände Ihrer Erklärung, Herr Genscher, scheinen mir zu zeigen, daß diese eher innenpolitisch-taktisch als außenpolitisch-sachlich verstanden werden mußte. Mit dieser Ansicht befinde ich mich nicht nur in Übereinstimmung mit Stimmen aus der französischen Hauptstadt, sondern auch mit dem Bonner Korrespondenten der „New York Times". Dieser hat, Herr Kollege Genscher, mit schonungsloser Offenheit die taktische Natur Ihrer Äußerung dargelegt und hat sie dann dahin gehend kommentiert, daß das generell für die Genfer Verhandlungen gelte: daß sich nämlich die Bundesregierung nur in Äußerungen gegenüber der deutschen Öffentlichkeit optimistisch gebe, in Wirklichkeit aber in bezug auf die Verhandlungen in Genf tief pessimistisch sei. ({13}) - Gleich. Ich will diesen Vorgang abschließen, damit Herr Genscher alles abdecken kann. Einen Satz noch, Herr Genscher. ({14}) Inzwischen hat die sowjetische Seite die Äußerung von Herrn Genscher offiziell als Wunschdenken zurückgewiesen. ({15}) Ich weiß nicht, Herr Kollege Genscher, was Sie sich von Ihrem Schachzug versprochen haben. Ich bezweifle, daß er dem Ansehen des deutschen Außenministers in der Welt gedient hat. ({16}) Ich habe natürlich Ihre Könnerschaft bewundert, als ich heute auf Seite 2 des „General-Anzeigers" die Mitteilung von dem Auswärtigen Amt „nahestehenden Kreisen" gelesen habe, daß sich die Sowjetunion in dieser Frage tatsächlich bewegen wolle. Niemand würde sich darüber mehr freuen als die deutschen Sozialdemokraten, die eine solche Art der Behandlung der britischen und der französischen Systeme seit langem vorgeschlagen haben und von Ihnen dafür der Untreue gegenüber der NATO geziehen worden sind. Aber ich halte noch einmal fest: Ob die Sowjetunion ihre Position ändert, bleibt noch abzuwarten. ich begrüße es, daß Sie Ihre Position geändert haben.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ehmke, ungeachtet der Tatsache, daß Sie noch einmal in den Fehler verfallen sind, Dinge zuzurechnen, die jemand nicht gesagt hat, komme ich auf Ihre Feststellung zurück, ich hätte durch eine Ablehnung der Einbeziehung der britischen und französischen Systeme in die Mittelstreckenverhandlungen eine Änderung der Position, abweichend von den Verbündeten, vorgenommen: ({0}) Stimmen Sie nicht mit mir überein, daß es richtig ist zu sagen, eine Berücksichtigung dieser Systeme hat in den Verhandlungen über Mittelstreckenraketen keinen Platz? Das ist nicht nur meine Position, nicht nur die Position der Bundesregierung, ({1}) sondern das ist Inhalt der Erklärung von Williamsburg, wo sich alle unsere wichtigen Verbündeten in gleicher Weise geäußert haben.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Genscher, da Sie so begeistert waren von der Äußerung des sowjetischen Außenministers, diese Waffen hätten ein Doppelgesicht, ({0}) würde ich mir die Aussage, die Sie gerade gemacht haben, für das Endergebnis noch einmal überlegen. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Genscher?

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit sind die Ungereimtheiten im Verhalten der Bundesregierung aber noch nicht erschöpft. ({0}) Im Juni haben wir uns hier trotz im einzelnen unterschiedlich lautender Anträge darauf verständigt, daß eine etwaige Stationierung von Pershing-IIRaketen auf dem Boden der Bundesrepublik nicht beginnen dürfe, bevor nicht der Deutsche Bundestag über die Frage der Stationierung diskutiert und abgestimmt haben würde. Als Stichtag haben Sie in Ihrem Antrag den 15. November genannt. Inzwischen steht aber fest, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister und Herr Kollege Dregger, daß die Unterhändler in Genf für die laufende Verhandlungsrunde kein Ende vereinbart haben - in Abweichung von der bisherigen Praxis. Diese Verhandlungsrunde in Genf ist zeitlich offen. Ich frage mich, Herr Bundeskanzler, was werden Sie tun, wenn über den 15. November hinaus in Genf verhandelt werden sollte. Werden Sie dann konsequenterweise den Stationierungsstichtag ebenfalls hinausschieben? ({1}) Oder werden Sie die Zustimmung des Bundestages zum Beginn der Pershing-Stationierung zu einem Zeitpunkt suchen, zu dem die Verhandlungen noch gar nicht beendet sind? Ihr Zuruf bestätigt mich in meiner Vermutung, daß Sie tatsächlich die zweite Möglichkeit wählen werden. Die Bundesregierung teilt offensichtlich die in Washington inzwischen herrschend gewordene Meinung, daß in Genf überhaupt erst nach einem Beginn der Stationierung mit Aussicht auf Erfolg verhandelt werden könnte. Ich bin mit meinen Freunden der Ansicht, daß sich diese Auffassung, die übrigens auch im direkten Gegensatz zum NATO-Doppelbeschluß steht, ({2}) durch eine brillante Unkenntnis der Psyche der russischen Großmacht auszeichnet. Ein Beginn der Stationierung vor Abschluß der Verhandlungen würde nach meinem Urteil, wenn nicht zu deren Abbruch, so doch zu deren Unterbrechung von seiten der Sowjetunion führen. Die Sowjetunion würde dann die inzwischen vorbereitete Stationierung modernisierter Nuklearraketen kürzerer Reichweite in osteuropäischen Staaten durchführen. ({3}) Das würde nicht nur im Westen Forderungen nach weiterer Nachrüstung auslösen. Die Forderung, die deutschen Pershing I a nun durch Pershing I b zu ersetzen, liegt j a bereits auf dem Tisch. ({4}) Das Scheitern der Verhandlungen würde sich auch negativ auf alle anderen Rüstungskontrollverhandlungen auswirken, so jedenfalls die sowjetische Ankündigung. Es würde natürlich auch nicht das Verhältnis zwischen den Großmächten verbessern. ({5}) Daß sich in einer solchen Atmosphäre im nächsten Frühjahr Präsident Reagan und Generalsekretär Andropow zu einem Friedensgespräch treffen könnten, können nur diejenigen glauben, die es unbedingt glauben wollen. ({6}) Nein, meine Damen und Herren, bei einem Scheitern der Verhandlungen in Genf werden wir vor einem Scherbenhaufen stehen, wenn auch nicht - da stimme ich Ihnen zu, Herr Genscher - vor dem Ende der Geschichte. Darum wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, so lange es überhaupt nur geht, weiter auf beide Großmächte einzuwirken suchen, in Genf doch noch zu einem Ergebnis zu kommen. ({7}) In welche Richtung wir flexibel sein wollen, Herr Außenminister, habe ich mit großer Deutlichkeit noch einmal gesagt. Dabei habe ich aber nur wiederholt, was Kollege Vogel am 2. September an Vorschlägen vorgelegt und im einzelnen begründet hat. ({8}) Auf Grund dieser Auffassung halte ich übrigens - ich habe den Zwischenruf „Baden-württembergischer Parteitag" gehört - den teilweise in unflätiger Form kritisierten Beschluß der baden-württembergischen Sozialdemokraten politisch nicht für richtig. Ich mache keinen Hehl aus dieser Meinung. Dr. Ehmke ({9}) Er hat die Genfer Verhandlungen scheinbar aufgegeben, ({10}) bevor die entscheidende Runde wirklich begonnen hat. Ich verstehe durchaus, daß die Neigung zu einem grundsätzlichen Nein in dem Maße wachsen muß, in dem das Scheitern der Verhandlungen wahrscheinlicher wird. Und leider muß ich die Skepsis meiner Freunde in Baden-Württemberg teilen. Mit Jochen Vogel bin ich dennoch in Übereinstimmung mit den Beschlüssen unseres Wahlparteitags und mit der sicherheitspolitischen Handreichung der Bundestagsfraktion vom 1. Juni fest entschlossen, nicht vorzeitig aufzugeben. ({11}) Daß die SPD zur Stationierung nein sagen würde, wenn sich in Genf nichts ändert, haben Jochen Vogel und ich oft genug gesagt. Ich füge dem heute die Voraussage hinzu, daß sie es dann mit sehr großer Mehrheit tun wird. ({12}) Dieser Meinungsunterschied hindert mich nun allerdings in keiner Weise, den Diffamierungen entgegenzutreten, mit denen meine Freunde aus Ihren Reihen verunglimpft worden sind. Das war nicht nur Herr Strauß, der auf so etwas gebucht ist. ({13}) - Vertreten Sie ihn darin nicht, Herr Klein. - Wer sich wie Sie auch in Sachen der Genfer Verhandlungen als eine Tu-nix-Regierung mit publizistischem Feigenblatt darstellt, der sollte sich meines Erachtens besser fragen, was er selbst dazu beigetragen hat, daß die Zweifel an der Sicherheitspolitik des Bündnisses in unserem Lande wachsen. Weder sind Sie den zum Teil unglaublichen Äußerungen aus Washington entgegengetreten, noch haben Sie bis heute die Diskussion über die theologischen und moralischen, die politischen und militärischen Argumente gegen die Raketen-Stationierung und gegen die Abschreckungsdoktrin wirklich aufgenommen. Wir dagegen haben uns ihnen eingehend gestellt ({14}) und das Zwischenergebnis unserer Überlegungen vorgelegt. ({15}) Wir machen Ihnen den Vorwurf, daß Sie in dieser schwierigen Frage unser Volk durch die Diffamierung Andersdenkender spalten, ({16}) statt die unterschiedlichen Kräfte, gerade weil die Fragen so schwierig sind, zusammenzuhalten. Das Ganze nennen Sie dann „geistig-politische Führung". Sie wissen doch auch, daß eine Zweidrittelmehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger, auch eine Mehrheit der Unionswähler, die Stationierung der amerikanischen Raketen unter den gegebenen Umständen ablehnt. Wollen Sie eigentlich auch diese große Mehrheit unseres Volkes diffamieren? ({17}) Wollen Sie auch die Kirchen diffamieren, die sich aus ihrer Verantwortung heraus jetzt gegen den Wahnsinn des Rüstungswettlaufs wenden? Wollen Sie eigentlich auch Ihre christdemokratischen Freunde in Holland diffamieren, die die Dinge ähnlich wie wir sehen? ({18}) Sagen Sie mir einmal, was eigentlich die Sozialdemokraten, die Sie so unflätig beschimpfen, von einem Christdemokraten wie Franz Alt oder von anderen Christdemokraten unterscheidet, die aus den gleichen Gründen nein zur Stationierung sagen und sich jetzt in Ihrer Partei zu einer Friedensinitiative zusammengefunden haben! ({19}) Wollen Sie eigentlich auch die amerikanischen Senatoren und Abgeordneten diffamieren, die zusammen mit Millionen amerikanischer Bürgerinnen und Bürger dafür eintreten, daß endlich die Nuklearwaffen in der ganzen Welt auf dem gegebenen Stand eingefroren werden? ({20}) Verehrte Kollegen von der CDU, es ist traurig, aber wahr: Sie haben auch in dieser Frage, bei der Ihnen ja, wie Ihre Zwischenrufe zeigen, gar nicht wohl in Ihrer Haut ist, was ich verstehe und was für Sie spricht, ({21}) erst politisches Handeln durch Public Relations ersetzt, Broschüren statt Politik, und jetzt sind Sie dabei, in altgewohnter Weise die Public Relations durch Diffamierung anzureichern. ({22}) Dr. Ehmke ({23}) Sie laden damit eine große Verantwortung auf sich. Ein Scheitern der Verhandlungen würde unserem Volk großen Schaden zufügen. Das westliche Bündnis würde dann zugleich um ein paar Raketen „reicher" und um die politische Unterstützung vieler Bürger, vor allem junger wehrpflichtiger Bürger, ärmer sein. Das Bündnis würde nach einem Beginn der Stationierung und einem Scheitern der Verhandlungen nicht stärker, sondern schwächer dastehen. Das hat ein so guter Atlantiker wie unser norwegische Kollege Johan Holst erst vor kurzem im „Europa-Archiv" so überzeugend dargelegt, daß ich auf diesen Artikel verweisen kann. Wir Sozialdemokraten fordern Sie daher noch einmal auf, ja, wir bitten Sie, mit uns darauf zu drängen, daß beide Großmächte, vor allem auch die Vereinigten Staaten als Vormacht unseres Bündnisses - ({24}) - Ja, wir drücken auf beide Seiten. Aber wir müssen natürlich besonders kritisch sein, wenn wir meinen, daß die Position, die von unserer Seite eingenommen wird, nicht ausreicht. ({25}) - Sie haben recht verstanden: vor allem auch die Vereinigten Staaten als Vormacht unseres Bündnisses. Es geht darum, daß beide Großmächte noch für die jetzt laufende, entscheidende Verhandlungsrunde Vorschläge vorlegen, die tatsächlich einen Durchbruch in der Sache ermöglichen. Ich bin sicher, unsere Kinder und Enkelkinder würden es ihnen danken. ({26})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Kollege Dr. Marx.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß selbst diese Rede, die ein Musterbeispiel für Demagogik und Verwirrung war, ({0}) dem Herrn Kollegen Ehmke es nicht ermöglicht hat, die in viele Gruppen gespaltene Sozialdemokratische Partei zumindest für eine Stunde hinter seinen Parolen zu vereinigen. ({1}) Herr Kollege Ehmke, ich muß es leider sagen: es war eine Fülle von Ungereimtheiten, die Sie vorgetragen haben. Ich habe mich beim Zuhören gefragt: was hat er eigentlich zu den gleichen Problemen früher gesagt, als sein von ihm soeben so besonders herausgehobener damaliger Kanzler Helmut Schmidt der Garant dafür war, daß der Doppelbeschluß so formuliert worden ist, wie es geschah, und der bis in die letzten Tage hinein in den Sitzungen der Fraktion der SPD nach wie vor gegen eine wachsende Mehrheit diese seine Überlegungen vorgetragen hat. Der Kollege Ehmke hat auch gesagt, wir, die Union, hätten uns, wenn ich das recht verstanden habe, bisher der Diskussion um die eigentlichen politischen und moralischen Probleme entzogen. Jeden Tag sind viele von uns - und nicht nur aus der Bundestagsfraktion - unterwegs, um uns mit diesem Thema zu beschäftigen. Wir werden am Ende dieses Monats beginnen, in einer breiten und umfassenden Darlegung gegenüber unserer Öffentlichkeit und gegenüber denjenigen, die begonnen haben, Parolen von Ihnen, Herr Ehmke, unverstandene Parolen oft, aufzunehmen, unsere Überzeugung, unsere Pflicht und den hohen Ernst, den wir dabei haben, darzustellen. Nämlich: daß wir für die Sicherheit, für die Freiheit, für unser eigenes Land weiter arbeiten und daß wir die Beschlüsse, die hier von der früheren Bundesregierung gefaßt worden sind, unsererseits ernst nehmen und durchsetzen. ({2}) Herr Ehmke hat gesagt, der Verteidigungsminister habe die beiden vorliegenden Großen Anfragen der GRÜNEN schlecht beantwortet. Unsere Antwort ist eine andere. Der Verteidigungsminister hat sehr konkret und, man kann sagen, bis in jede Einzelheit hinein die Unterstellungen, die in dieser Großen Anfrage enthalten sind, und die zahlreichen Formeln des Mißtrauens zurückgewiesen. Wir jedenfalls, die CDU/CSU, sind mit den Antworten und den damit gegebenen Klarheiten zufrieden. ({3}) Wir sind damit zufrieden, und Herr Kollege Wörner wird nachher in seinem Beitrag auf dieses Thema, Herr Kollege Wolfram, noch einmal mit allem Nachdruck eingehen. Ich möchte, meine Damen und Herren, einige kurze Bemerkungen zu der Regierungserklärung machen, die der Außenminister heute morgen vorgetragen hat. Herr Genscher, von Ihnen ist gesagt worden, man habe jetzt in einer sehr langen und sehr wortreichen, von vielen äußeren Umständen oft gestörten Verhandlung in Madrid ein „Netzwerk" geschaffen, von dem Sie meinen, daß es trotz aller Unvollkommenheiten und trotz dieser Rückschläge tragfähig genug sein werde und - Sie haben auch auf Helsinki hingewiesen - tragfähig gewesen sei, um starken Belastungen standzuhalten. Meine Damen und Herren, ich stehe nicht an, zu sagen, daß wir bei der Lektüre der Madrider Verabredungen unsere Hoffnung damit verbinden, daß zumindest ein Teil von dem, was auch die Staaten in Osteuropa unterschrieben haben, von ihnen selber verwirklicht werden wird: denn Worte sind wohlfeil. Wir haben doch in den letzten Monaten und Jahren erlebt, daß viele hehre Verabredungen und schöne Formulierungen, auch jene, die man in Helsinki oder anschließend in Belgrad gefunden hat, von der sowjetisch geführten Seite eben nicht eingehalten worden sind. ({4}) Herr Genscher hat gesagt, die Verabredungen von Madrid atmeteten die westlichen Wertvorstellungen. Dies ist richtig. Ich finde nirgendwo in dem Abschlußdokument einen Satz, bei dem wir sagen könnten, seine Verwirklichung sei für uns schwierig. Dies alles ist unsere Politik. Dies alles war, auch was in Helsinki postuliert wurde, unsere Politik. Aber unsere Skepsis gegenüber dem, was die andere Seite daraus macht und wie sie das von ihr feierlich Unterschriebene anwendet, bleibt gerade nach den Erfahrungen der letzten Tage und Wochen besonders groß. Es ist wichtig, meine Damen und Herren, daß sich der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren öfter als dies in den 70ern der Fall war, mit den vitalen Problemfeldern der Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt hat und daß wir dies auch heute und in den nächsten Wochen öfter tun werden. Ich will daran erinnern, daß wir seit dem Doppelbeschluß allein in diesem Hause 30mal über die mit ihm verbundenen Fragen diskutiert haben. Ich sage das deshalb mit Nachdruck, weil in der Öffentlichkeit immer wieder absichtsvoll der Eindruck zu erwekken versucht wird, wir würden hier in diesem Hause nicht die notwendigen und präzisen Diskussionen führen. ({5}) Mir kommt es darauf an, meine Damen und Herren, der massiven Desinformation, die in den letzten Monaten von den GRÜNEN, aber auch von einer wachsenden Gruppe aus der SPD, in der Öffentlichkeit über die Grundfragen unserer Sicherheitspolitik betrieben worden ist, durch eine offene und eindeutige Darstellung der wahren Sachverhalte entgegenzuwirken; denn es ist doch das eigentlich Negativfaszinierende an vielen Reden, Transparenten und Flugblättern, die wir heutzutage hören und lesen, daß die Dinge einfach auf den Kopf gestellt werden, daß man Ursache und Wirkung miteinander verwechselt, daß aus Schwarz Weiß gemacht wird. ({6}) Besonders schlimm ist, daß jener Verbündete - das hat jetzt leider auch Kollege Ehmke getan -, dessen Hilfe und Schutz wir so dringend brauchen, zum Störenfried, zur bedrohlichen Macht umgefälscht wird. Man muß, wenn man da zuhört, sagen: In der Tat, Orwell ist nicht mehr fern. ({7}) Der Sachverhalt, um den es geht, ist einfach. Er entspricht einer inneren Logik der geschichtlichen Abläufe und der politischen Notwendigkeit. Und noch vor Jahresfrist, meine Damen und Herren, hat sich zumindest der größere Teil der Sozialdemokraten mit dieser inneren Logik noch positiv befaßt. Heute aber laufen immer mehr Kollegen der SPD - das hat in erschreckender Deutlichkeit, ich sage das noch einmal, der für mich in seinen Ergebnissen verblüffende und erschütternde Parteitag der SPD in Baden-Württemberg gezeigt - vor der von Ihnen selbst aufgepflanzten Fahne einer verteidigungsfähigen Demokratie davon. ({8}) Sie verleugnen heute hier, was vor Jahresfrist noch Ihre eigene erklärte Politik war. ({9}) Es ist schon grotesk, daß die von Ihnen und Ihrem damaligen Kanzler eingeleitete und wohlbegründete Politik des Doppelbeschlusses heute von uns, der Union, gegen Sie, die Erfinder dieses Beschlusse, verteidigt werden muß. ({10}) Es gibt neuerdings einige Meldungen darüber, daß eine Gruppe in der Sozialdemokratischen Partei unter der Führung von Helmut Schmidt durchhalten und zu dem stehen wolle, was die Sozialdemokraten dem eigenen Volk und unseren Verbündeten zugesagt haben und ihnen schulden. Es ist unsere Hoffnung, daß diese Gruppe sich durchsetzen wird, denn die SPD, eine große Partei mit zur Zeit schwankender Führung, ({11}) muß sich aufraffen, ihrer Tradition eingedenk bleiben und gegen jene Kräfte in ihren Reihen ankämpfen, die einen tumben Antiamerikanismus pflegen, die immer mehr Schlagseite zum Neutralismus zeigen ({12}) und die sogar beginnen, das Sicherheitsbündnis der atlantischen Gemeinschaft in Frage zu stellen und sich selbst in eine unheilvolle Isolierung zu manövrieren. Jeder von uns, der in diesen Monaten bei zahlreichen Veranstaltungen diskutiert, wird - das ist kein gutes Zeichen für die politische Bildung hierzulande - oft purem Unverständnis für die westliche Entscheidung begegnen, dann, wenn die Genfer Abrüstungsverhandlungen zwischen Sowjets und Amerikanern kein befriedigendes Ergebnis erbracht haben sollten, eben neue Waffen hier zu stationieren. Ich füge hinzu: Oft wissen die lautesten Redner, die antiamerikanischen Schaum vor dem Mund haben, gar nicht, daß diese Stationierung nicht dem Machttrieb des Herrn Reagan, sondern dem Wunsch der sich bedroht fühlenden Europäer entspricht. ({13}) Neben Unwissenheit in den fundamentalsten Bereichen gibt es - auch in diesem Hause - viel Ignoranz, Weghören und Wegsehen. Es gibt viel Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit. ({14}) Viele junge Menschen, die in einer Welt ohne einschneidende äußere Spannungen aufgewachsen sind und die auch nicht erlebt haben, wie sowjetische Panzer den sogenannten Sozialismus mit menschlichem Angesicht in Prag brutal niederrollten, weigern sich zu verstehen, was heute etwa in Polen oder in Afghanistan oder in den Köpfen der führenden Sowjets vor sich geht. ({15}) Sie sind sehr sensibel für manche Torheit und Ungerechtigkeit, die - zugegeben - auch hier im Westen produziert wird, aber sie sind geneigt, permanente Verletzungen der Menschenrechte, Terror, Überfälle auf andere Länder als Verkehrsunfälle abzutun. ({16}) - Ich würde sagen, Herr Reents, dafür sind nahezu Sie alle jeden Tag lebendige und abschreckende Zeugen. ({17}) - Herr Kollege Berger, ich habe vorhin über die Anfrage eine Bemerkung gemacht und gesagt, sie sei voller Diffamierungen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Marx, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Löffler?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Herr Kollege Löffler.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Löffler!

Lothar Löffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Marx, glauben Sie, daß Ihre agitatorische und völlig überzogene Argumentation mehr Zugang zu den Köpfen der jungen Menschen finden wird als unsere abgewogene und vorsichtige Haltung? ({0})

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist schon ein dialektisches Kunststück, das, was uns die SPD heute jeden Tag an zehn verschiedenen Meinungen vorführt, als abgewogen zu bezeichnen. ({0}) Es ist eine gewagte Hoffnung, zu glauben, daß junge Leute bei den Irrtümern und Wirrnissen der sozialdemokratischen Politik heute es verstehen, wenn von einer abgewogenen Haltung der Sozialdemokraten gesprochen wird. Herr Kollege Löffler, das volle Gegenteil ist der Fall. ({1}) Es ist in der Tat für viele schwer, daran zu glauben, daß nach dem Abschluß von Gewaltverzichtserklärungen mit den Oststaaten und mitten in der Zeit der Entspannung die Sowjetunion, statt abzurüsten, eine gewaltige, umfassende Aufrüstung betreiben würde und daß sie neben den Massen von Panzern und Artillerie - das muß man ja auch einmal sagen, weil man den Eindruck hat, das gebe es gar nicht -, von Flugzeugen und Schiffen aller Art und modernster Fähigkeiten neue Raketen, mobile, die mehr als 5 000 km weit reichen und jede mit drei vernichtenden Raketenladungen versehen, aufstellen würde, Raketen, gegen die es im Westen nichts Vergleichbares und keine Abwehr gibt, Raketen, die in keine der damaligen Abrüstungsverhandlungen paßten und die daher der frühere Bundeskanzler Grauzonenwaffen genannt hat. ({2}) Diese exorbitante, ja ich sage: diese wahnsinnige Aufrüstung hat die sowjetische politische und militärische Führung organisiert, im übrigen - ganz im Gegensatz zu uns, wo ja alle Diskussionen sehr offen laufen - im geheimen, und sie hat sie keineswegs zu ihrer eigenen Verteidigung organisiert. Ihr schien die Zeit der Entspannung hierfür günstig, wohlgeeignet, den gutgläubigen Westen zu leimen. Jetzt, so sagen sie sich, haben wir den entscheidenden Vorteil. Jetzt können wir den Durchbruch erringen. Und jetzt kann militärische Quantität in politische Qualität umschlagen. ({3}) Es wird - ich möchte das doch noch einmal festhalten - in unseren Geschichtsbüchern zu den entscheidenden Verdiensten des früheren Bundeskanzlers Schmidt gehören, daß er der erste war, der im Oktober 1977 Alarm schlug, als er die Hochrüstung im Osten feststellte und erkennen mußte, mit welcher Dynamik die sowjetische Rüstungswirtschaft erst langsam, dann immer schneller, dann Woche für Woche, ja jeden fünften Tag Raketen, Raketenwerfer und die zuständigen elektronischen Apparaturen installierte. ({4}) Als Herr Schmidt Auf diese Entwicklung aufmerksam machte, waren - ich möchte das gern in aller Gedächtnis bringen - damals, im Oktober 1977, zehn dieser SS-20-Raketen aufgestellt. Als dann der Nachrüstungsbeschluß gefaßt war - auf Wunsch der Europäer -, waren es 140. Und dann, obwohl Breschnew verkündete, man werde nicht weiter stationieren - eine Mitteilung, die ja nicht der Wahrheit entsprach -, sind es 351 mit sage und schreibe 1 053 Sprengköpfen geworden. Und ständig werden ja weitere gebaut. Gerade laufen Meldungen über neue Abschußrampen in Zentralasien und über Testflüge anderer, neuer sowjetischer Raketen ein, darunter jene, die jetzt stationiert werden und von denen Sie, Herr Kollege Ehmke, vorhin ziemlich unscharf sagten, sie würden künftig erst aufgestellt. Sie wissen, denke ich, daß sie gegenwärtig bereits aufgestellt werden. Mir scheint, als wolle die politische Führung in Moskau wiederum vollendete Tatsachen schaffen. Was mich dabei aber hinsichtlich der Grünen Fragesteller besonders interessiert, ist, daß sie gegen diese sowjetische Raketengigantomanie nur sehr zaghaft, wenn überhaupt, ihre Stimme erheben ({5}) und daß sie uns immer noch unser Recht und unsere Pflicht abstreiten wollen, daß wir unsere Freiheit gegen solche Drohungen und Einschüchterungen bewahren. ({6}) Seit die NATO 1979 ihren Beschluß zur Modernisierung amerikanischer atomarer Waffen in Europa gefaßt hat, ist durch eine massive Kampagne versucht worden, Ursache und Wirkung in den Hirnen der Menschen umzukehren und so zu tun, als müsse man sich vor einer westlichen Nachrüstung hüten, nicht aber vor der ganz realen und konkreten Bedrohung durch jene Macht, die ihr Territorium zum Allerheiligsten erklärt, es aber für keiner Diskussion wert hält, daß sie selbst einen Wald von Raketen und zahllose Flugzeuggeschwader gegen den Westen aufgestellt hat. ({7}) Wir dürfen nicht vergessen, daß die Macht, die immer noch weiter rüstet, dieselbe ist, die gegenwärtig in Genf verhandelt, allerdings - das hat am Mittwoch die letzte Moskauer Pressekonferenz gezeigt - in einer äußerst harten, aber auch zynischen Weise verhandelt, die Macht, die nun offen einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiß, der dann auch weiterentwickelt werden könnte, abzulehnen scheint. Meine Damen und Herren, es ist wirklich ein Phänomen, daß gerade jene unserer sozialdemokratischen Kollegen, die sich zu diesem Thema so oft äußern, offenkundig bereits Wirkungen der sowjetischen Einschüchterungspolitik zeigen. ({8}) Denn daran kann es keinen Zweifel geben: Diejenigen, die mitten in der Entspannungszeit ihr Waffenarsenal, statt es zu verkleinern, so umfassend ausbauen, beabsichtigen, diese Raketen, als durchaus politische Waffen, propagandistisch, am Verhandlungstisch und gegenüber jenen Menschen zur Wirkung zu bringen, die sie ängstigen und lähmen und denen sie auch die dumme Parole „lieber rot als tot" beibringen möchten. ({9}) - Meine Damen und Herren, ich habe vor kurzem an einer Diskussion teilgenommen, in der ein Teilnehmer dieses Thema etwas variiert hat. Er hat gesagt: „lieber Kreml als Krematorium". Das ist eine andere Form von „lieber rot als tot". Sagen Sie doch nicht, daß das ein Thema der 50er Jahre ist! Das gibt es doch heute konkret, jeden Abend in hundert Sälen, Ihr Thema, das Sie in die Köpfe vor allem der jungen Leute gebracht haben! ({10}) Meine Damen und Herren, ich möchte gern - auch namens der Union - mit aller Klarheit unterstreichen, daß kein vernünftiger Mensch im Westen, kein Verantwortlicher in Bonn, kein Präsident, kein Kanzler an Aggression oder an Krieg denkt. Wir sind einer offenen, freiheitlichen, den Frieden wahrenden und ihn sorgsam pflegenden Politik verpflichtet. Ich möchte hinzufügen, daß die Vereinigten Staaten, als sie über ein atomares Monopol verfügten, dieses Monopol ja in keiner Weise genutzt haben, etwa um ihren Willen der Sowjetunion aufzudrängen oder dafür zu sorgen, daß die Sowjetunion die von ihr geplante Rüstung nicht durchführen kann. ({11}) - Herr Kollege Reents, die Amerikaner haben dies, was ich eben dargestellt habe, nie getan. Der damalige amerikanische Präsident Eisenhower hat z. B. den „offenen Himmel" für jedermann propagiert, damit jeder überall und zu jeder Zeit alles sehen kann. Dies ist ebenso abgelehnt worden wie der sehr frühe amerikanische Vorschlag, daß die Amerikaner ihre atomaren Raketen, als sie sie noch allein hatten, ({12}) den Vereinten Nationen zur Kontrolle unterstellen. Meine Damen und Herren, die USA führen ein Bündnis an, dem wir mit unserer voll integrierten Bundeswehr angehören, ein Bündnis, das ausschließlich zur gemeinsamen Verteidigung geschaffen worden ist. Alles, was über NATO-Kriegsvorbereitungen behauptet wird, ist falsch. Wir haben keine revolutionäre Ideologie, wir träumen nicht von imperialer Herrlichkeit, bei uns wird niemand zum Angriff ausgebildet. In keiner Dienstvorschrift, in keinem strategischen Konzept ist der Angriff auf andere Staaten vorgesehen. ({13}) Es gibt keine einzige Übung der NATO, in der Grenzen nach Osten überschritten würden. Frieden und Gewaltverzicht, das ist - ich will das noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen - seit den ersten Tagen der ersten Regierung Adenauer das entscheidende Wort unserer Politik, und es ist es bis heute geblieben! ({14}) Diesem Frieden und diesem Gewaltverzicht bleiben wir auch in Zukunft streng verpflichtet. Meine Damen und Herren, ich nenne es Verleumdung, wenn behauptet wird, die Nachrüstung diene einem Angriff. Die Politfunktionäre im Kreml wissen, daß dies nicht der Fall ist. Sie sind Realisten, und sie sind - unserer Einschätzung nach - vorsichtig genug, um gegenwärtig ihre Waffen nicht in einem großen Krieg einzusetzen. Sie wissen - und daß dies so bleibt, ist der Sinn der Nachrüstung, wenn sie notwendig sein sollte -, daß der Westen verteidigungsfähig und verteidigungswillig bleibt. Daher hat der Frieden in Europa gehalten, und daDr. Marx her wird es auch keinen Krieg geben. Dort allerdings, wo das Kriegsrisiko gering erscheint wie in Afghanistan, dort zeigt sich das imperialistische Gesicht. Und ich sage: Wehe dem, der nicht bereit und fähig ist, sich gegen jede Art von Angriff zur Wehr zu setzen! Ich sage: jede Art, weil es mein Eindruck ist, daß sich unser Denken und Überlegen in der letzten Zeit zu sehr auf atomare Fragen konzentriert hat. Ich folge dem Außenminister, der vorhin mit Recht darauf hingewiesen hat, wie wichtig es ist, daß wir auch die konventionelle Kompenente ins Auge fassen. Ich habe auch keinen Geschmack für die Propagandaformel: „Kein atomarer Erstschlag!" Das kann mich nicht beruhigen. Unsere Meinung heißt: Kein Erstschlag, weder mit atomaren noch mit konventionellen Mitteln. ({15}) Meine Damen und Herren, Kanzler Helmut Kohl hat in seiner Regierungserklärung mit allem Nachdruck den Willen seiner Regierung unterstrichen - ich denke, das ist unser aller Wille -: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen". Dieser Satz ist der Leitsatz all unserer Anstrengungen bei Abrüstung und Rüstungskontrolle. Er drückt genau aus, was wir anstreben, nämlich internationale Regelungen, die allerdings bei diesem Gegner kontrollierbar sein müssen. Wir wollen eine Schrumpfung der Waffenmenge, eine Minderung ihrer Vernichtungskapazität, eine kontinuierliche Verkleinerung aller Arsenale. Wir wollen, daß dies festgeschrieben wird und für beide Seiten dann bündig bleibt. ({16}) Wir wollen keine Abrüstungsverhandlungen, die am Ende nur, wie das lange Zeit der Fall war, weitere Aufrüstung bedeuten. Wir wollen endlich eine wirkliche Abrüstung, eine Reduktion, eine Minderung. Wir wollen eben „immer weniger Waffen". ({17}) Niemand, meine Damen und Herren, von uns ist in Raketen verliebt. Niemand hätte eine westliche Nachrüstung gewollt, wenn nicht die wohlberechnete Machtpolitik der Sowjets uns zur Selbstverteidigung zwingen würde. Wir wollen politische, frei ausgehandelte Lösungen vorhandener Streitfragen. Wir wollen Balance, wir wollen das gestörte Gleichgewicht zwischen Ost und West wieder hergestellt wissen. Wir wollen nicht sowjetisches Übergewicht, und wir sagen noch einmal deutlich, daß wir sowjetisches Übergewicht nicht unterschreiben werden. ({18}) Meine Damen und Herren, wir haben sogar - ich darf das einmal so sagen - den schönen Traum eines ersten, eines umfassenden Schritts der Abrüstung von landstationierten Mittelstreckenraketen auf Null geträumt. Allerdings haben wir immer, von Anfang an, gesagt, Null bedeutet für uns Null auf beiden Seiten. ({19}) Wir glauben noch immer daran, daß es möglich sein könnte, dieses Ziel zu erreichen, und wenn nicht auf einmal, dann in Stufen. Je mehr die Sowjets abbauen, ({20}) desto eher sind wir in der Lage, weniger nach Europa zu bringen. Wer aber jetzt, meine Damen und Herren, ausgerechnet jetzt, wo jedermann trotz des sowjetischen Neins bei der Mittwochs-Pressekonferenz hofft, daß in der Schlußphase der Genfer Verhandlungen doch noch ein passables Ergebnis möglich wäre, wer jetzt ausgerechnet auf die Bereitschaft zur Nachrüstung im Westen verzichtet, der spielt der anderen Seite direkt in die Hände, der ermuntert sie, ihre ablehnende Härte beizubehalten und nicht die nötigen Konzessionen zu machen. Er verhindert in der Tat - meine Damen und Herren, ich wende mich noch einmal an die Linke - die Abrüstung, und er erreicht am Ende - Hegel hätte das die List der Geschichte genannt - das, was Sie nicht wollen, nämlich die Stationierung. Herr Präsident, ich hätte gerne noch eine Minute. Meine Damen und Herren, ich möchte am Schluß von den vielen Problemfeldern eines herausgreifen, nämlich das der chemischen Waffen. Wir sehen mit wachsender Sorge, daß die Sowjetunion in den letzten Jahren ihren Vorrat an modernen chemischen Kampfstoffen - ich sage: absolut unverantwortlich - vergrößert hat und daß sie dieses Teufelszeug sogar in Afghanistan anwendet. Es ist keine vertrauensbildende Maßnahme, wenn bereits 100 000 Spezialisten der Sowjetarmee in der Anwendung von Giftgas ausgebildet werden und wenn bei den Manövern des Warschauer Pakts die Panzerfahrer lernen, beim Angriff vorher verseuchtes Gelände zu durchqueren. Daß sich die Vereinigten Staaten, meine Damen und Herren, die seit 1969 - auch das will ich festhalten - keine einzige chemische Waffe gebaut haben, nun anschicken, der sowjetischen Übermacht auf diesem Gebiet wenige eigene Mittel entgegenzustellen, ist angesichts der sowjetischen Rüstung zwar verständlich, kann uns aber keinesfalls beruhigen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege, bitte, kommen Sie zum Ende.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie mir erlauben, noch eine halbe Minute.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Wir waren mit den Minuten schon sehr großzügig, Herr Kollege.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bei meinem letzten Satz, Herr Präsident. - Ich will die Bundesregierung daher ermuntern und ermutigen, ihren Kurs, den sie bei der speziellen Genfer Verhandlung zur weltweiten Beseitigung, zur Vernichtung aller vorhandenen Bestände und Produktionsstätten, zum Verbot von Entwicklung, Lagerung und Weitergabe chemischer Waffen eingeschlagen hat, fortzusetzen. Allerdings muß dabei am Ende auch herauskommen, daß die Sowjetunion bereit ist, auch auf ihrem Boden internationale Kontrolle zuzulassen. ({0}) Dies ist unsere Auffassung. Wir hoffen, daß sie in den Genfer Verhandlungen bestätigt wird, so daß wir einen wichtigen Fortschritt machen, der uns ermuntern kann, andere Fortschritte ebenfalls ins Auge zu fassen. - Ich bedanke mich. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Der nächste Redner ist der Abgeordnete Bastian. ({0})

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ermordung von 269 wehr- und ahnungslosen Flugpassagieren durch einen sowjetischen Jagdflieger war ein durch nichts zu entschuldigendes Verbrechen. ({0}) Aber sie war kein Schlag gegen die Bewegung der vielen Millionen Menschen, die in aller Welt Rüstungsverzicht und Abrüstung als Voraussetzung für mehr Vertrauen zwischen den Völkern fordern. ({1}) - Im Gegenteil! Gerade dieser Akt gnadenloser Barbarei beweist, wie berechtigt und notwendig die Forderung dieser Millionen ist. Und er zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, wie schnell ein Soldat, der sich als Beschützer seines Vaterlandes fühlt, zum Mörder werden kann, wenn er Befehlen blind folgt, deren tiefere Ursache nicht unberücksichtigt bleiben darf, soll der Tod dieser 269 nicht ohne Sinn gewesen sein. ({2}) - Ich weiß, daß es bei uns auch möglich wäre - unter bestimmten Umständen. Die Entrüstung greift viel zu kurz, wenn sie sich nur gegen Tat und Täter richtet, aber nicht zugleich auch den düsteren Hintergrund erfaßt, vor dem solche Untaten überhaupt erst möglich werden. ({3}) Die Düsternis dieses Hintergrundes haben jedoch alle zu verantworten, ({4}) die Bedrohungsängste schüren, militärische Überlegenheit anstreben und mit provozierenden Rüstungsschritten ein Klima des Mißtrauens und der gegenseitigen Belauerung erzeugen, in dem jeder dem anderen das Schlimmste zutraut, für das eigene Handeln jedoch die edelsten Motive in Anspruch nimmt. ({5}) Nicht nur die Rüstung der Sowjetunion ist überzogen und beunruhigt Völker, die in ihrem Schatten leben müssen, sondern auch die Rüstung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten ist alles andere als harmlos. In Verbindung mit neuen strategischen Vorstellungen von der Führbarkeit eines nuklearen Krieges, mit einem neuen amerikanischen Konzept für die offensive Land- und Luftschlacht, wie es im Airland-Battle-Papier konkretisiert und in der Führungsvorschrift „Field Manual 100-5" zur verbindlichen Handlungsanweisung für die amerikanischen Streitkräfte erklärt worden ist, vor allem aber mit den dazu passenden, treffgenauen und nur für Europa bestimmten Nuklearwaffen wird gerade die westliche Rüstung zur unmittelbaren Gefahr für unser Land, ja für den gesamten Kontinent. ({6}) Zu Recht setzt unsere Kritik an der weltweiten Fehlentwicklung darum zunächst bei eben diesem Rüstungsschritt an, was freilich nicht bedeutet, daß wir die auf uns gerichteten Waffen des Warschauer Pakts übersehen würden, Herr Kollege Marx, ({7}) wie uns das oft wider besseres Wissen unterstellt wird und wie Sie es eben auch wieder getan haben. ({8}) Wie sehen sehr gut, was drüben geschieht, und verfolgen es mit nicht geringer Sorge. Doch halten wir es für wenig nützlich, auf Übertreibungen drüben mit Übertreibungen hier zu antworten, und weisen den Versuch zurück, Rüstungsschritte der Sowjetunion, wie unverständlich und unnötig sie auch sein mögen, als Legitimation für ein völlig neuartiges, destabilisierend wirkendes Aufrüstungsprogramm der NATO zu mißbrauchen. ({9}) Genau das geschieht nämlich, wenn man sagt, auf die sowjetischen SS-20-Raketen müsse der Westen mit Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Europa antworten, obwohl noch nie widerlegt worden ist und auch nicht widerlegt werden kann, daß die nukleare Gesamtbilanz auch heute ein deutliches Übergewicht der drei westlichen Nuklearmächte USA, England und Frankreich aufweist, ({10}) ein Übergewicht, das sich in den nächsten Jahren schon wegen der nuklearen Aufrüstung in diesen drei Ländern - ganz ohne Pershing-II-Systeme und Marschflugkörper - noch beträchtlich vergrößern wird, wie jedermann nachlesen kann, wenn er es nachlesen will. ({11}) Zu Recht wenden wir uns mit unserer Kritik in erster Linie auch an die eigene Regierung, weil sie - wenn auch als Erbe der Regierung Helmut Schmidts - die Hauptverantwortung für die sogenannte Nachrüstung trägt, weil die Waffen dieses Aufrüstungsprogramms vor allem in unserem Land in Stellung gebracht werden sollen und weil die Bundesregierung einen wirksamen Beitrag zur Gefahrenabwendung leisten kann, wenn sie sich jeder Stationierung neuer Nuklearwaffen in unserem Land verweigert, wie das die weit überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung wünscht. ({12}) Mit den Großen Anfragen zur Nachrüstung und zu der nur für unser Land bestimmten Pershing-IIRakete vom 11. Mai und vom 10. Juni dieses Jahres haben die GRÜNEN im Bundestag deshalb vor allem folgendes deutlich machen wollen: Bei der vorgesehenen Stationierung von 108 Pershing-II-Raketen allein in unserem Land und von 464 Marschflugkörpern bei uns sowie in England, Holland, Belgien und Italien handelt es sich nicht um eine Nachrüstung, sondern einzig und allein um den Aufbau eines weitreichenden amerikanischen Nuklearpotentials von strategischer Bedeutung, mit dem eine amerikanische Fähigkeit zur nuklearen Offensive vom europäischen Territorium aus begründet werden soll. ({13}) - Sie begreifen die Zusammenhänge nicht, wenn Sie das behaupten. ({14}) Dieses Vorhaben steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den neu entwickelten amerikanischen Kriegsführungsvorstellungen, die das Konzept der Enthauptung der Sowjetunion durch schlagartiges Zerstören ihrer wichtigsten politischen und militärischen Führungszentren ({15}) sowie die Erwartung einschließen, einen darauf abgestellten Nuklearkrieg auf Europa beschränken zu können. Darüber hinaus müssen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper in Europa auch im Zusammenhang mit dem Airland-Battle-Konzept der Vereinigten Staaten gesehen werden, das schon 1981 von dem amerikanischen Training and Doctrin Command - TRADOC - entwickelt worden ist und seinen Niederschlag in der für die US-Streitkräfte erlassenen Führungsvorschrift „Field Manual 100-5" vom 20. August 1982 gefunden hat.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Bastian, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Werner?

Gert Bastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000103, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, bei der geringen Redezeit, die die GRÜNEN haben und die schon einer Behinderung unserer parlamentarischen Arbeit gleichkommt, kann ich leider nicht auch noch Zwischenfragen zulassen. ({0}) Ich spreche hier von einem Konzept, das nichts mit dem abgemagerten und für die NATO passend gemachten Airland-Battle-2000-Konzept zu tun hat, dessen Vorwort der Inspekteur des Heeres unterschrieben hat. Ich spreche von dem Originaldokument aus dem Jahr 1981, das die volle Absichtserklärung enthält und das den Hintergrund für die inzwischen erlassene Führungsvorschrift der Vereinigten Staaten bildet. Konzept und Vorschrift basieren auf der Vorstellung vom kriegsentscheidenden Angriff im Konfliktfall ({1}) - Herr Kollege Marx, ich würde Sie bitten, das einmal zur Kenntnis zu nehmen -, und zwar von einem kriegsentscheidenden Angriff über die eigenen Landesgrenzen hinweg ins Territorium des Kriegsgegners, ({2}) von der angriffsweisen Eröffnung neuer Fronten in Europa, ganz gleich, wo in der Welt ein Konflikt der Supermächte zur militärischen Konfrontation führt, ({3}) und vom frühzeitigen Einsatz nuklearer und chemischer Waffen zur Unterstützung dieser eigenen Angriffe. ({4}) - Sie können es nachlesen; ich glaube, Sie haben es bis heute nicht getan, ({5}) und wie ich Sie einschätze, werden Sie es auch in Zukunft nicht tun, weil Sie ja lieber an Ihren Vorstellungen festhalten, als eindeutige Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. ({6}) Damit markieren Konzept und Vorschrift unzweifelhaft die Ablösung der bisher gültigen Vorneverteidigung in Mitteleuropa durch eine Vorwärtsstrategie, die mit dem Grundgedanken eines Verteidigungsbündnisses unvereinbar ist. ({7}) Es war gut und notwendig, daß der Verteidigungsminister am 7. September 1983 im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages dieses Konzept als für Europa ungeeignet und für die Bundesrepublik unannehmbar zurückgewiesen hat. ({8}) - Richtig, also gibt es dieses Konzept ja anscheinend doch, sonst hätte er es ja nicht zurückweisen brauchen. ({9}) - Ich habe mir nicht widersprochen, aber Sie können dem Gedankengang offensichtlich nicht folgen. Ich gebe Ihnen gern eine private Unterrichtsstunde, aber nicht jetzt in den 20 Minuten, die ich hier sprechen kann. ({10}) Ich glaube dieser Zurückweisung durch den Bundesverteidigungsminister, doch glaube ich nicht, daß ein deutscher Minister, daß eine deutsche Bundesregierung - allein oder im Verein mit anderen westeuropäischen Regierungen - die Möglichkeit hat, die Vereinigten Staaten im Konfliktfall daran zu hindern, mit ihren Streitkräften auch in Mitteleuropa nach diesem Konzept zu handeln und damit auch den anderen NATO-Truppen auf unserem Boden eben jene Art der Operationsführung aufzunötigen, die vom Verteidigungsminister zu Recht als offensiv und unannehmbar abgelehnt worden ist. Ebensowenig glaube ich, daß die Sowjetunion, die das neue amerikanische Konzept natürlich auch kennt und bewertet, von einer solchen Möglichkeit einer deutschen Bundesregierung zu überzeugen sein wird. Auch die Verwundbarkeit der neuen Systeme nach erfolgter Stationierung in Europa, vor allem der nur für die Bundesrepublik vorgesehenen Pershing-II-Raketen, wird natürlich nicht nur hier, sondern auch in der Sowjetunion in ihrer destabilisierenden Wirkung richtig eingeschätzt. Sie bedeutet doch, daß diese neuen Waffen über die für ein Vergeltungspotential wichtigste Eigenschaft, nämlich über eine unbezweifelbare Überlebensfähigkeit, die sie in die Lage versetzt, auch einen Überraschungsangriff zu überstehen, nicht verfügen. Sie sind damit weder zur Abschreckung durch eine wirksame Vergeltungsdrohung noch zur Verteidigung - was immer man bei Nuklearwaffen darunter verstehen mag -, sondern allein zum Angriff geeignet, der noch dazu im Krisenfall so frühzeitig erfolgen muß, daß dem Angegriffenen keine Chance bleibt, der Attacke zuvorzukommen. ({11}) Da schließlich auch die technischen Eigenschaften der Pershing-II-Raketen eine wesentlich größere Reichweite erwarten lassen, als sie von den USA mit 1 800 km derzeit angegeben wird, muß angenommen werden, daß die ja ebenfalls vom ungünstigten Fall ausgehenden Sowjets die Gefährlichkeit dieser Waffensysteme, die aus unserem Land auf sie gerichtet sind, eher über- als unterschätzen werden, was die destabilisierende Wirkung dieser Stationierung noch verstärken muß. ({12}) In den Antworten, die wir auf unsere Großen Anfragen von der Bundesregierung erhalten haben, wird das freilich nicht deutlich. Diese Antworten, die Kollege Ehmke ja schon zutreffend qualifiziert hat, ({13}) sind insgesamt unbefriedigend, weil teils unzutreffend, teils ausweichend, teils unvollständig, sofern mit ihnen nicht überhaupt der untaugliche Versuch unternommen wird, unsere Argumente bewußt falsch zu interpretieren. ({14}) Diese Antworten bestärken uns daher eher in der Überzeugung, mit unseren Bedenken und Meinungen auf dem richtigen Weg zu sein. ({15}) Dieser Weg ist nicht von Angst und Panik diktiert, wie der Herr Außenminister das wohl meint, wenn er sagt, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Dieses Wort fällt allerdings auf jene zurück, die mehr Rüstung fordern; denn wenn nicht Aggressivität der Grund für diese Forderung sein soll, dann kann sie j a nur auf irrationaler Angst vor einer angeblich übermächtigen Sowjetunion beruhen. ({16}) Wir teilen diese Angst nicht, sondern fordern Rüstungsverzicht und Abrüstung aus Vernunft und Einsicht; ({17}) denn Unsicherheit, Unberechenbarkeit und totale Abhängigkeit der Bundesrepublik vom Handeln der westlichen Supermacht - nicht ein erhofftes Mehr an Sicherheit - werden die Folgen einer Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen bei uns und unseren Nachbarn sein. Sie, Herr Bundeskanzler, haben die einzigartige Chance, das zu verhindern, indem Sie sich weigern, unser Land als Abschußrampe für amerikanische Mittelstreckenwaffen zur Verfügung zu stellen. Sie können sich dabei auf die überwältigende Mehrheit der Deutschen stützen. Handeln Sie nicht an ihrem Willen vorbei! Nehmen Sie die Warnungen ernst, die von so vielen Organisationen und bedeutenden Personen im Westen ausgesprochen werden! Soeben hat sich der frühere amerikanische Verteidigungsminister McNamara abermals gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa ausgesprochen und erklärt, daß dafür kein Bedarf bestehe. ({18}) Ist er ein Ignorant, Herr Kollege Marx, ({19}) der nicht weiß, wovon er redet, oder ein Agent Moskaus, der Europa dem Sowjetkommunismus ausliefern will? ({20}) Und ist der Chef der österreichischen Streitkräfte, General Bernadiner, der ein paar Tage vorher die Nachrüstung als militärisch sinnlos bezeichnet hat, ebenfalls ein Feind unserer Freiheit oder nicht doch eher ein besorgter Europäer, der weiß, daß eine nukleare Katastrophe in Mitteleuropa an der bayerisch-österreichischen Grenze nicht haltmacht, der sich deshalb berechtigt, ja verpflichtet fühlt, vor eiBastian ner Entwicklung zu warnen, die nur ins Verhängnis führen kann? Er spricht diese Warnung als der ranghöchste Soldat eines Landes mit großer militärischer Tradition aus, wohl wissend, was er bewertet und wie er es zu bewerten hat. Und sind die Mitglieder Ihrer eigenen Partei, Herr Bundeskanzler, die sich in der neu gegründeten Initiative „Christliche Demokraten für Schritte zur Abrüstung" für den Stationierungsverzicht „ohne jedes Wenn und Aber" - wie sie es selbst sagen - ausgesprochen haben, nur subversive Elemente, die Ihre Partei unterwandert haben? Oder die 75 % Bundesbürger, die nach einer Umfrage des j a nicht gerade regierungsfeindlichen Zweiten Deutschen Fernsehens die Stationierung von Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern in unserem Land ganz unabhängig vom Ergebnis der Genfer Verhandlungen ablehnen: 40 Millionen Kommunisten in der Bundesrepublik? ({21}) Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Sie wissen das so gut wie ich. ({22}) Sie ließe sich auch auf die grundsätzlichen Bedenken der christlichen Religionsgemeinschaften gegen die Abschreckungsphilosophie und die nukleare Einsatzdrohung ausdehnen. Doch möchte ich darauf verzichten und Sie nur noch einmal mit aller Dringlichkeit auffordern, bitten, ja beschwören: Nehmen Sie diese Meinungen und Warnungen ernst! Schreiten Sie nicht fort auf dem von Ihrem Vorgänger eingeschlagenen Weg. Kehren Sie um, bevor nicht wieder Gutzumachendes geschieht! Gehen Sie als ein Kanzler der Weishait, der Vernunft und des Ausgleichs in die Geschichte ein, der Deutschland vor Schaden bewahrt hat, ({23}) und nicht als einer, der alles, was wir lieben und erhalten sehen wollen, der Gefahr der endgültigen Zerstörung ausgeliefert hat! ({24})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei zunächst einmal auf die Regierungserklärung des Herrn Außenministers eingehen und würdigen, daß er wiederum ein umfassendes Konzept unserer Friedenspolitik, unserer Entspannungspolitik und unserer Sicherheitspolitik hier vorgelegt hat, ({0}) das ungebrochen - meine Damen und Herren, mir werden Sie das wohl abnehmen - die Friedenspolitik, die Sicherheitspolitik und die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition - ich nenne es in diesem Dreiklang - fortsetzt; ungebrochen! Ich glaube, in diesem Punkt, sehr geehrter Herr Kollege Ehmke, hat sich wohl nicht die FDP, sondern eher die SPD von den damaligen Grundsätzen entfernt. ({1}) Ich muß hier wirklich sagen - ich darf das wohl auch sagen -, sehr geehrte Kollegen von der SPD, daß sich bei mir nun auch die Zweifel verdichten, ob diese Koalition durchzuhalten gewesen wäre, wenn wir diese schwierige Phase gemeinsam hätten durchstehen müssen; ({2}) denn daß die letzten Entscheidungen vor dem Abschluß der Genfer Verhandlungen eine schwierige Phase sind, darüber müssen wir uns doch wohl alle klar sein. Ein kleiner Schlenker, Herr Ehmke, weil Sie auch immer so gern Schlenker austeilen: Wenn Sie hier so genüßlich den sicherlich nicht leichten Prozeß glossieren, wie sich die Kollegen von der CDU und vor allem von der CSU in die Entspannungspolitik und in die KSZE-Politik eingefädelt haben, so frage ich, wie schwer es Ihnen eines Tages fallen müßte, sich dann wieder in eine ausgewogene Bündnispolitik und Sicherheitspolitik einzufädeln, wenn Sie den Weg, den Baden-Württemberg jetzt eingeschlagen hat, wirklich zur Politik der SPD machten. ({3}) Meine Damen und Herren, zurück zum Anlaß dieser Debatte. Man mag es als eine Zufall empfinden, daß die Großen Anfragen, die hier zunächst einmal der Anlaß der Debatte waren, mit dem Abschluß der zweiten KSZE-Nachfolgekonferenz zusammenfielen. ({4}) - Das meine ich auch, Herr Kollege Schily. Wir wollen jedenfalls diesen Zufall oder Nicht-Zufall dazu nutzen, um hier noch einmal ganz deutlich zu machen, daß es für die Liberalen zwei gleichgewichtige Aspekte für die konstruktive Sicherheits- und Friedenspolitik gibt. Ich wiederhole, was Herr Bundesaußenminister Genscher gesagt hat: Ohne das Bündnis und ohne die westliche Verteidigungsbereitschaft wären die Schlußakte von Helsinki und auch die Konferenz von Madrid gar nicht möglich gewesen. Er hat wörtlich gesagt: Die feste Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in das Altantische Bündnis und in die Europäische Gemeinschaft, die Freundschaft und Partnerschaft mit den USA, die Entschlossenheit, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, bleiben die Voraussetzungen für eine Politik des Dialogs, der Entspannung und der Zusammenarbeit zwischen West und Ost. Ich unterstreiche auch hier noch einmal die Bedeutung des sogenannten Harmel-Berichts, weil dort ja die Gleichgewichtigkeit dieser beiden Aspekte sehr dauerhaft festgelegt wurde. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer hätte gedacht, wer hätte zu hoffen gewagt, daß diese unter so schlechten Auspizien vor drei Jahren begonnene zweite Nachfolgekonferenz nun ein Schlußdokument vorlegt, das mir, die ich sehr viel mit der Schlußakte von Helsinki zu tun hatte, doch um einiges präziser und auch weiterführend zu sein scheint als das ursprüngliche Dokument! ({6}) Diese Dokument ist es wert, gewürdigt und auch einmal in den Mittelpunkt dieser Diskussion gestellt zu werden. Ich habe es sehr bedauert, Herr Kollege Bastian, daß Ihre Fraktion offenbar noch gar nicht erkannt hat, welche Chancen gerade für Sie, die Sie sich in besonderer Weise der Friedenssicherung verbunden fühlen, dieser Aspekt hat. ({7}) - Sie natürlich, das ist doch klar. Ich spreche jetzt meinen Vorredner an, bei dem ich wieder ein bißchen das Gefühl gehabt habe, in aller Liebenswürdigkeit gesagt, man sollte die Friedenssicherung nicht nur Generälen, auch nicht pensionierten, überlassen, ({8}) weil das ein bißchen einseitig ausfällt. Ich sage das jetzt außerhalb meiner Stichworte. ({9}) - Herr Schily, ich wollte nur darum bitten, daß dieser KSZE-Prozeß auch Bestandteil Ihrer Überlegungen wird, wie man unter diesem Aspekt konstruktive Friedenspolitik weiterentwickeln kann - ich komme darauf noch zurück -; denn die Ansätze dazu sind da, sie werden nur leider in der Öffentlichkeit viel zu gering geachtet und nicht in die praktische Politik transportiert. Das will ich hier mit meinem Beitrag versuchen. ({10}) Ihr Zwischenruf hat mich von meiner Bemerkung abgebracht. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe natürlich, daß auf die Formel, „Frieden sichern, Frieden schaffen ohne Waffen", nun die Parole entstanden ist: „Frieden schaffen mit weniger Waffen." Aber ich glaube, daß das doch etwas verkürzt, worum es geht. Gottlob haben wir in Europa seit über 40 Jahren Frieden. Ich meine, die allererste Voraussetzung für weitere Friedenssicherung ist das Vertrauen. Solange wir das Vertrauen nicht geschaffen haben, wird auch kein Frieden mit weniger Waffen oder, wie wir alle hoffen, am Schluß ohne Waffen möglich sein. Darum meine ich, daß Frieden zunächst einmal durch mehr Vertrauen gesichert werden muß. Das ist es ja, was in dem Prozeß von Helsinki angelegt ist, was nicht zu unserer vollen Befriedigung weitergeführt worden ist, aber was nun doch wirklich einen ganz wesentlichen Schritt weitergekommen ist. Daß diese Konferenz in einer Zeit außerordentlicher außenpolitischer Spannungen, in der-Zeit des Ausnahmezustandes in Polen, durchgehalten werden konnte, ist doch ein Zeichen dafür, daß hier Friedensfähigkeit durch Vertrauensbildung möglich gewesen ist. Dieses positive Ergebnis muß hier gewürdigt werden, und dafür darf ich allen, vom Außenminister über den Botschafter bis zum letzten Mitarbeiter, nicht nur im Namen der Fraktion, sondern, wie ich glaube, in Ihrer aller Namen, ein ganz herzliches Dankeschön sagen. ({11})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Beck-Oberdorf?

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Hamm-Brücher, da Sie davon sprechen, daß Vertrauen schaffen die wichtigste Grundlage sei, frage ich Sie: Halten Sie es dann nicht für folgerichtig, als allererstes von jeglicher Abschreckungstheorie Abstand zu nehmen? ({0})

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich bin immer für diese Gleichgewichtigkeit unserer Sicherheitspolitik. Bisher war die Theorie des Gleichgewichts und der Abschreckung durchaus ein Mittel, mit dem wir den Frieden in Europa länger als in Jahrhunderten gesichert haben. Ich bin wie Sie der Meinung, daß diese Schraube der Abschreckung auf keinen Fall weitergedreht werden darf und daß man alternative Konzepte finden muß. Darum finde ich den offenen Dialog mit Ihnen so wichtig. Man sollte nicht immer wieder dasselbe sagen, sondern versuchen, etwas darüber hinauszukommen. Abschreckung hat ihre Aufgabe erfüllt, sie hat den Frieden gesichert; aber im Zuge der immer schrecklicheren Waffen, der Zerstörungspotentiale müssen wir Alternativen finden, und dieses Konzept drückt sich in der verkürzten Formel aus: „Frieden schaffen mit weniger Waffen". ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist ein großer Irrtum der sogenannten Realisten, daß Frieden allein durch militärisches Gleichgewicht gesichert werden kann. Ich glaube nicht einmal, daß das allein durch Abrüstung geschehen kann. Ich möchte es so sagen: Die Voraussetzung für Frieden in Europa und in der Welt sind zu allererst und vor allem friedliche Beziehungen, ({1}) und zwar friedliche Beziehungen nicht nur bilateral, ({2}) sondern friedliche Beziehungen, um die man sich seit drei Jahren zwischen 35 Staaten in Europa beFrau Dr. Hamm-Brücher müht hat. Die Vertrauensbildung, die damit verbunden ist - auch das darf ich einmal aus meiner Tätigkeit sagen -, ist überhaupt nicht zu unterschätzen. Ich möchte für meine Fraktion die Ergebnisse von Madrid gerade im Kontext mit der Diskussion um die letzte Phase in den Genfer Verhandlungen noch einmal unter den eben genannten Aspekten würdigen. Der erste Aspekt, auf den niemand zunächst zu hoffen wagte, ist, daß man im Gespräch bleibt. Man hat feste Termine für wichtige Konferenzen, Symposien, Veranstaltungen aller Art festgelegt. Man hat Expertentreffen terminiert, die unser aller große Hoffnungen auslösen dürfen: über menschliche Kontakte, über menschliche Erleichterungen, über wissenschafltiche und kulturelle Zusammenarbeit, über die Verbesserung der Möglichkeiten bei den menschlichen Erleichterungen. Selbst wenn Sie mit Recht sagen, das stehe alles nur auf dem Papier, dann sage ich man muß in jedem Punkt und in jedem Falle immer wieder darum ringen, und wir haben hier doch einen Ansatz zur Berufung, wenn es nicht funktioniert. Es kommt dann nur darauf an, von diesen Möglichkeiten nachdrücklich Gebrauch zu machen. Man bleibt im Gespräch. Eine dritte Nachfolgekonferenz ist terminiert. Wer hätte denn das alles noch vor wenigen Monaten zu hoffen gewagt? Zweiter Punkt. Die Kontakte zwischen Menschen in Ost und West können verstärkt werden. Sie reißen nicht ab. Sie können vertieft werden. Was über Wirtschaft und Handel in diesem Papier steht, ist doch auch ein wichtiger Schritt über Helsinki hinaus. Die wissenschaftlichen Beziehungen haben sich gar nicht so schlecht entwickelt, und sie erfahren einen neuen Impuls. Der Jugendaustausch, die Städtepartnerschaft, die Informationsmöglichkeit, die Pressefreiheit, das ist alles substantieller als im ursprünglichen Dokument. Dieser Prozeß und seine Möglichkeiten - das ist mein dritter Punkt - bedeuten ungeheuer viel gerade für die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten. Bitte, unterschätzen Sie nicht, wieviel Hoffnungen sich gerade für kleine Staaten - wir kennen sie alle - mit Möglichkeiten von Kulturaustausch, von Wissenschaftsaustausch, von Büchern und Filmen an diese kleine, dünne Nabelschnur mit dem westlichen Europa knüpfen. Wenn es auch sonst nichts bringen würde, dieser Aspekt der Schlußakte von Helsinki allein ist es wert, an diesem Prozeß festzuhalten, wenn er auch manchmal noch so mühsam ist. ({3}) Die wichtige Rolle, die die neutralen und ungebundenen Staaten in dieser mühsamen Konferenz gespielt, und was sie geleistet haben, soll hier auch einmal von den Liberalen voll anerkannt werden. Denn kleine Staaten, die teilnehmen können, die gehört werden können, die ganz wichtige Weichenstellungen auf dieser Konferenz initiiert haben, die sind im europäischen Konzert heute wichtiger denn je. Die positive Zusammenarbeit, die j a nicht so häufig ist, wie wir es uns wünschen, innerhalb der EPZ, also der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und, innerhalb der 21 Europaratsstaaten, mit den Neutralen und Ungebundenen, diese Erfahrung könnte vielleicht auch wieder eine Ermutigung in der Europäischen Gemeinschaft sein, daß es eben doch besser geht, als man es manchmal in der letzten Zeit erlebt hat. Meine Damen und Herren, eines bewegt mich als Europäerin bei diesen Kontakten immer wieder - und ich hatte die Ehre, für die Bundesrepublik das große Wissenschaftsforum, das auf Anregung des damaligen Außenministers Scheel in Hamburg stattgefunden hat, zu eröffnen und zu begleiten -: Unser aller europäisches Bewußtsein muß eben weiter reichen als die Europäische Gemeinschaft oder der Europarat; unser europäisches Bewußtsein muß Ost und West verbinden. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist gerade in osteuropäischen Ländern oft viel stärker, als das bei uns der Fall ist. ({4}) Wenn hier von der tiefen Bewußtseinsänderung gesprochen wurde, meine Damen und Herren, kann ich das nur unterstreichen. Der KSZE-Prozeß hat seine Spuren vor allem in osteuropäischen Ländern hinterlassen. Wenn die Dokumente, wie wir hoffen, Herr Außenminister, bei uns überall voll veröffentlicht werden, damit sie auch wie vereinbart in allen osteuropäischen Ländern veröffentlicht werden, dann wird die Flamme der Hoffnung - manchmal fast am Erlöschen -, auf mehr Freiheit, auf mehr Grundrechte für die Menschen auch in Osteuropa nicht untergehen. ({5}) Eine weitere Bemerkung zu den menschlichen Erleichterungen. Gerade wenn man über viele Jahre hinweg tagtäglich die Sorgen, die Nöte erfahren und die Hilferufe auf den Schreibtisch bekommen hat, kann man sagen, daß wir im Bereich der Familienzusammenführung doch wenigstens einige konkrete Ansatzpunkte haben. Anträge können wiederholt werden. Die Kosten für solche Anträge sollen angemessen sein. Es dürfen den Antragstellern keine Benachteiligungen erwachsen. Da gibt es eine immer wachsende Zahl von Ehewünschen zwischen Osteuropäern und Westeuropäern, die manchmal Jahre warten müssen, bis sie die ersehnte Heiratsgenehmigung erhalten. All das soll nun beschleunigt werden. Es kommt auf uns an, auf unsere Diplomaten, die sich mit etwas Nachdruck dafür einsetzen müssen, daß gerade in diesem Bereich menschlicher Erleichterungen Fortschritte realisiert werden. Reisemöglichkeiten, Gewerkschaftsfreiheit, Religionsfreiheit, dazu stehen in diesem Dokument, meine Damen und Herren, doch sehr beachtliche Sätze. Ich empfehle hier die Dokumentation einer einflußreichen Tageszeitung, hinter der diesmal wirklich ein kluger Kopf steckt. Diese Dokumenta1600 tion enthält alles, und man sollte sie wirklich in sein Diskussionsgepäck mit hineinnehmen. Meine Damen und Herren, wir müssen das alles hinaustransportieren. Wir dürfen das nicht den Diplomaten, Beamten und Funktionären überlassen. Je mehr wir selber an diesem Prozeß der Vertrauensbildung teilnehmen, um so erfolgreicher wird er sein. Wir wurden oft gescholten, daß Entspannung eine Utopie sei. Ich glaube, daß sie eine wichtige Vision ist, für die wir Schritt für Schritt weiter voranschreiten müssen; denn dann wird unsere Friedens- und Sicherheitspolitik wirklich glaubwürdig. ({6}) Meine Damen und Herren, unsere Politik hat zwei Dimensionen. Ich glaube, wir Liberalen sind die einzigen, die sie gleich gewichten. Wir wollen mit dem Entspannungsprozeß über die Schlußakte von Helsinki und das Dokument von Madrid die eine Dimension ausbauen und auf der anderen Seite über die Genfer Verhandlungen, über die Zuverlässigkeit im Bündnis den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen. ({7}) Beide Dimensionen in ihrer ganzen Bedeutung wollte ich hier, meine Damen und Herren, für die FDP noch einmal darstellen. Ich hoffe, daß die Bürger in unserem Lande etwas weniger Angst haben, wenn sie wissen, daß dieser Prozeß weitergeht, daß er auch in schwierigen Zeiten weitergeht, daß der Dialog zwischen Ost und West auch nach dem Abschluß der Genfer Verhandlungen nicht unterbrochen werden wird, sondern die Welt sich weiter dreht und hoffentlich auch friedlicher wird. - Vielen Dank. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Bastian hat - wie ich finde: anerkennenswerterweise - den Abschuß der koreanischen Verkehrsmaschine durch die Sowjetunion als ein Verbrechen gebrandmarkt. Er hat allerdings in Verbindung damit zwei Feststellungen getroffen, die ich nicht unwidersprochen lassen darf. Einmal, Herr Kollege Bastian, haben Sie die Feststellung angeknüpft, wir alle seien letztlich daran schuld. Ich sage Ihnen: Sie sollten davon ablassen, die Verantwortlichkeiten zu verwischen. An diesem Abschuß ist ausschließlich die sowjetische Führung schuld. ({0}) Ich möchte einmal die Frage stellen, was Sie oder irgendein anderer von den GRÜNEN hier von diesem Pult aus gesagt hätten und was draußen, etwa vor den amerikanischen Konsulaten, los gewesen wäre, wenn sich die Amerikaner so etwas geleistet hätten. ({1}) Dann haben Sie ein Zweites gesagt, was auch nicht unwidersprochen bleiben darf, nämlich so etwas sei auch bei uns möglich. ({2}) Herr Bastian, ich kann Ihnen nur sagen, so etwas ist bei uns nicht möglich, und zwar schon weil ein solcher Befehl, eine zivile Maschine abzuschießen, nicht gegeben würde. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Ich möchte Ihnen gerne ein bißchen mehr Blick freimachen. Die Damen und Herren, die dort in der Mitte ihre Geschäfte verrichten ({0}) - ihre Geschäfte der parlamentarischen Arbeitsvorbereitung -, werden gebeten, dies im Sitzen zu tun.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ich habe diesen Vorgang aufgegriffen, weil er mir symptomatisch zu sein scheint für die Art und Weise, wie Sie die Frage des Friedens und der Friedenssicherung angehen. Sie weichen der entscheidenden Frage aus, woher die eigentliche Gefahr für den Frieden rührt. ({0}) Daher sind Ihre Antworten nicht geeignet, den Frieden zu sichern. Sie erwecken den Anschein, als ob es die Waffen wären, die die eigentliche Gefahr für den Frieden darstellen. Nun wissen wir alle, daß Waffen Spannungen erhöhen können. Aber nicht die Waffen als solche sind es, die die Gefahr für den Frieden bedeuten; es sind die Mächte, die hinter den Waffen stehen. Es sind die brutalen, menschenverachtenden Diktaturen, die nicht wie wir auf die Gewalt verzichtet haben, sondern sich nicht scheuen, zum Zwecke ihrer Politik Waffen einzusetzen. Das ist die eine Ursache der Friedensgefährdung in unserer Zeit. ({1}) Sie haben auch die andere Frage weder angeschnitten noch beantwortet, ob die Gefahr von uns oder von der Sowjetunion und ihrer Überrüstung ausgeht. Ich kann nur sagen: Die sowjetischen Führer wissen selbst, daß ihnen von uns keine Gefahr droht. Wir greifen nicht an. Wir werden unsere Waffen niemals als erste einsetzen. Das ist der Sowjetunion - wie Sie ganz genau wissen - ebenfalls bekannt. ({2}) - Ich komme auf diese Frage zurück, Herr Schily. Ich habe die Absicht, mich mit diesen entscheidenden Fragen, die unser Volk bewegen, auseinanderzusetzen - und ich hoffe: deutlich genug und sachlich genug. Darum werden wir nicht zulassen - das habe ich Ihnen bereits einmal von dieser Stelle aus gesagt und ich wiederhole es; wir werden das draußen in der Diskussion mit unserem Volk auch sagen -, daß Sie vom Frieden reden und zwei ganz entscheidenden Fragen ausweichen. Einmal weichen Sie der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Frieden und Menschenrechten aus. ({3}) Es gibt keinen Frieden auf Dauer ohne die Verwirklichung der Menschenrechte. ({4}) - Ich weiß nicht, warum Sie sich so aufregen. ({5}) - Wenn Sie sich aufregen, wiederhole ich die Feststellung, da ich sie für richtig halte: Wer Mauern baut und Menschen an der Begegnung hindert, der kann nicht für sich in Anspruch nehmen, daß er Frieden schafft. ({6}) Und das zweite: Wir werden auch nicht zulassen, daß Sie fortlaufend den Unterschied zwischen Angreifer und Verteidiger verwischen. Das geschieht zum Teil bewußt; das geschieht zum Teil unbewußt. Und deswegen werden Sie nicht die richtigen Antworten auf die Frage nach der besten Friedenssicherung finden. Das ist der eigentlich tiefste Grund. ({7}) - Herr Schily, ich hätte Ihnen gern Ihre Zwischenfrage beantwortet. Wenn Sie dazu übergehen, grundsätzlich Zwischenfragen abzulehnen, müssen wir Sie in dieser Form erziehen, indem ich so lange Zwischenfragen von Seiten der GRÜNEN nicht beantworte, wie Sie ebenfalls keine Zwischenfragen zulassen, meine Damen und Herren. ({8}) Die Frage ist doch: Was wollen wir? Wir Deutschen wollen nichts anderes als das, was wir jedem anderen Volk der Erde zugestehen. Wir wollen für unser Volk, für die Bürger draußen in unserem Land ({9}) nur das Recht, sich keiner Drohung, keiner Gewalt ausgesetzt zu sehen, friedlich und frei zu sein, in Ruhe das Leben leben zu können, die Jungen wie die Alten, den eigenen Weg selbst bestimmen zu können. ({10}) Weil wir dieses Recht jeder anderen Nation, jedem anderen Staat dieser Welt einräumen, darum können wir auch und gerade von der Sowjetunion erwarten, daß sie uns das gleiche Maß an Sicherheit zugesteht, das sie für ihre eigenen Bürger in Anspruch nimmt. ({11}) Um nicht mehr und um nicht weniger verhandeln wir in Genf. ({12}) Wir streben doch nicht nach Überlegenheit. ({13}) Und daher können und müssen wir erwarten, daß auch die Sowjetunion ihre Versuche aufgibt, Überlegenheit in Europa weiter auszubauen. ({14}) Wir bedrohen die Sowjetunion nicht. Und darum können wir erwarten, daß die Sowjetunion auch uns nicht bedroht. ({15}) Wir hassen niemanden. Wir greifen niemanden an. Und daher können und müssen wir erwarten, daß die Sowjets uns gegenüber auf die Anhäufung von Angriffswaffen verzichten. Das ist die Frage, um die wir mit den Sowjets ringen. ({16}) - Das, und nur das, verlangen wir. Ist es denn zuviel verlangt, ({17}) wenn wir den Abbau der SS 20, also jener atomaren Mittelstreckenwaffe verlangen, die die UdSSR ohne jeden Grund auf uns gerichtet hat und die sie mit Sicherheit nicht zu ihrer Verteidigung braucht, zumal da wir keine solchen Waffen haben? Ist das denn zuviel verlangt, da diese Waffen doch nur Sinn machen, wenn man sie zur Bedrohung oder gar zum Krieg einsetzt? Denn der Aufbau der SS 20 - das wissen Sie ganz genau, und das zeigen ja schon Ihre Anfragen - ist eben nicht, wie gemeinhin behauptet wird - Herr Bastian hat das heute Gott sei Dank nicht getan -, die Modernisierung und nur die Modernisierung des alten Mittelstreckenpotentials der Sowjetunion. Es ist eine Vervielfachung schon in der Zahl der Sprengköpfe. Es ist eine neue Qualität der Bedrohung. Diese Raketen sind beweglich, also schwer bekämpfbar oder überhaupt nicht bekämpfbar. Sie haben drei Sprengköpfe unabhängig voneinander steuerbar. Sie sind nachladbar. Und sehen Sie, darum haben alle jene nicht recht, die sagen: Ihr habt doch schon so lange damit gelebt; nun könnt ihr doch auch weiter damit leben; es hat sich doch gar nichts geändert. Es hat sich etwas Fundamentales durch den Aufbau dieser Raketen verändert. Die Sowjetunion hat im strategisch-interkontinentalen Bereich das Gleichgewicht mit den Amerikanern erreicht. Und mit der SS 20 unterläuft sie dieses Gleichgewicht. Das ist doch der Sinn dieser Waffe. Sie schafft sich eine neue gefährliche Möglichkeit, die sie vorher nicht hatte, nämlich die eines atomaren Erstschlags gegenüber Europa, ohne - und das ist das Wichtige - daß sie ihre Interkontinentalwaffen überhaupt antasten muß und ohne daß sie das Risiko eines Vergeltungsschlags gegen ihr eigenes Territorium fürchten muß. Und schauen Sie, Herr Bastian - das möchte ich Ihnen doch in aller, ich hoffe, noch Sachlichkeit sagen-: Sie sollten sich nicht ausschließlich mit Stimmen einzelner amerikanischer Wissenschaftler, von denen Sie wissen, daß ich sie genauso ablehne wie Sie, beschäftigen, und Sie sollten nicht die Behauptung aufstellen, die Amerikaner suchten sich eine Erstschlagsfähigkeit anzudienen. Beschäftigen Sie sich doch einmal mit der sowjetischen Erstschlagsfähigkeit, mit einer Fähigkeit, die sich die Sowjetunion bereits zugelegt hat, statt immer von dem zu reden, was es noch nicht gibt! ({18}) Mit diesen neuen Waffen koppelt die Sowjetunion Europa vom atomaren Schutz der Amerikaner ab, und das ist ein Risiko, das wir nicht tragen können. Ich sage jetzt an die Adresse unserer sozialdemokratischen Kollegen - hoffentlich noch ohne Widerspruch -: Das ist doch auch der Grund gewesen und bis zum heutigen Tage der Grund geblieben, ({19}) aus dem der frühere Bundeskanzler Schmidt den Doppelbeschluß mit ins Leben gerufen hat. Es gibt doch hier niemanden, der diesem Mann und der vorangegangenen Regierung unterstellen würde - wir jedenfalls tun das nicht -, Kriegstreiber gewesen zu sein. ({20})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ich habe bereits gesagt, daß ich so lange keine Zwischenfragen der GRÜNEN beantworten werde, wie die GRÜNEN selbst die Beantwortung von Zwischenfragen ablehnen. ({0}) Das ist eine klare Aussage. Herr Präsident, daran halte ich fest. ({1}) - Herr Schily, Sie können mich hier nicht aus dem Konzept bringen. Das wissen Sie doch. ({2}) Ich komme auf das zurück, was der damalige Bundeskanzler Schmidt angesichts dieser neu aufgebauten Bedrohung gesagt hat, nämlich: Mir hat dies damals tiefe Besorgnis eingeflößt. ({3}) Ich habe fast ein Jahr lang versucht, dem Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Brzezinski, klarzumachen, daß man die SS 20 nicht so stehenlassen dürfte, weil sie eine schwere Bedrohung darstellen. Ich habe versucht, den Amerikanern zu sagen, die Bedrohung sei nicht so sehr militärisch, die Bedrohung sei vielmehr ein Potential für politische Pressionen auf Deutschland. ({4}) Das gilt noch heute. Diese Auffassung teilen wir. Die entscheidende Frage, vor der wir stehen, ist die Frage, wie wir mit dieser Bedrohung fertig werden können, wie wir sie aus der Welt schaffen können. Da heißt unsere erste Antwort: am liebsten, indem wir die Sowjets dazu veranlassen, ihre SS 20 zu zerstören; dann brauchen wir die anderen, die neuen amerikanischen Waffen nicht. Ich habe das in der Öffentlichkeit gesagt, und ich wiederhole es vor den Augen und den Ohren der Mitglieder dieses Parlaments: Ich rutsche auf den Knien von meinem Wahlkreis aus nach Bonn, wenn es uns gelingt, unser Ziel zu verwirklichen, die Mittelstreckenwaffen schlechthin aus dieser Welt zu verbannen. Sorgen Sie doch dafür, daß die Sowjets mitmachen! Wir sind dazu bereit. ({5}) - Gleich, Herr Kollege. ({6}) - Ich werde diese Zwischenfrage nicht nur zulassen, sondern auch beantworten; ich möchte nur, Herr Kollege, den Gedanken zu Ende führen. Eines steht fest: Wir können um des Friedens willen und können um unserer Freiheit willen nicht mit dieser Bedrohung leben. Das war und das bleibt der Sinn des Doppelbeschlusses. Dessen Sinn ist nichts anderes, als die Möglichkeit auszuschalten, daß man uns unsere Freiheit nehmen kann oder daß man unsere Menschen mit diesen schrecklichen Waffen beschießen kann oder daß man uns in die Gefahr bringt, politischen Drohungen hilflos nachgeben zu müssen. Entschuldigung, Herr Kollege; bitte sehr!

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort zu einer Zwischenfrage hat der Abgeordnete Jansen.

Prof. Günther Jansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, was haben Sie denn, wenn Sie schon für die Abschaffung der Mittelstreckenwaffen auf Knien nach Bonn rutschen würden, dagegen, wenn das Angebot der Sowjetunion akzeptiert wird, ihre Mittelstreckenwaffen auf die Zahl zu reduzieren, die dem Potential der französischen und der englischen Waffen entspricht, und wenn wir dann in eine neue Verhandlungsrunde eintreten, um die Zahl der europäischen Mittelstreckenwaffen, derjenigen Frankreichs, derjenigen Englands und der restlichen der Sowjetunion, auf Null herunterzuverhandeln? Das wäre doch ein großer Schritt! ({0})

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ich bin sehr dankbar für diese Frage. Ich darf sie wie folgt beantworten. Das würde erstens darauf hinauslaufen, daß die Sowjetunion 162 Mittelstreckenwaffen - mindestens 162! ({0}) behalten könnte, während die Amerikaner Null hätten. ({1}) Das heißt, das wäre das verbriefte sowjetische nukleare Monopol bei Mittelstreckenwaffen in Europa und damit genau der Fortbestand jener Bedrohung, die wir ausschalten wollen. ({2}) - Ich weiche nicht aus. Herr Schily, hören Sie doch auf. Seien Sie doch endlich einmal ruhig. Herr Schily, Sie müssen auch lernen, daß man erst zuhören muß, wenn man überlegen und dann antworten soll. ({3}) - Pädagogik ist gelegentlich angezeigt, jedenfalls im Umgang mit denen, die sie offensichtlich vorher nicht gelernt haben. ({4}) Herr Kollege, jetzt zu der Frage, warum wir - und nicht nur wir, sondern der gesamte Westen, insbesondere Frankreich und Großbritannien selbst - diese Waffen nicht anrechnen lassen können, jedenfalls nicht in diesem Bereich. Zum einen sind es völlig andere Waffen - wie Sie wissen, zum großen Teil seegestützt -, während sich umgekehrt die Sowjetunion weigert, ihre seegestützten Waffen einzubringen. Dann gibt es einen zentralen Unterschied: Die französischen und die englischen Systeme - das sagen die Franzosen und die Briten mit bemerkenswerter Deutlichkeit - sind nicht zum Schutz anderer bestimmt, es sind letzte nationale Notwehrwaffen. Wir hängen vorn Schutz der Amerikaner ab. Wenn es den Sowjets gelingt, die Amerikaner daran zu hindern, eine entsprechende Gegenwaffe zu etablieren, dann können uns die Sowjets nuklear erpressen. Das wollen wir nicht. ({5}) Darum - ich wiederhole das - konzentrieren sich unsere Bemühungen auf die Abrüstung. Darum haben wir nicht sofort mit der Aufstellung westlicher Gegenwaffen begonnen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weisskirchen beantworten?

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Herr Präsident, ich möchte jetzt einige Gedanken im Zusammenhang vortragen, auf die es mir ankommt, weil diese Zusammenhänge in der Öffentlichkeit immer wieder unterschlagen werden. Jetzt ist die Gelegenheit - wir haben nichts zu verbergen -, wo man vor unserem Volk offenlegen kann, daß wir sechseinhalb Jahre lang zugesehen haben, wie die Sowjets Wochen um Woche eineinhalb Raketen gegen uns in Stellung gebracht haben. ({0}) Sechseinhalb Jahre lang haben wir gewartet. Wir haben keine einzige Gegenwaffe aufgestellt. Wir haben Verhandlungen angeboten, wir haben gebeten, wir haben gebettelt, wir haben gewarnt, wir haben gesagt: Macht doch nicht weiter. ({1}) Dann haben wir nach einigen Jahren den Doppelbeschluß gefaßt. Die Sowjetunion, die sich bis dahin geweigert hatte, an den Verhandlungstisch zu gehen, hat dann plötzlich zugestimmt, über diese Waffen zu verhandeln, dieselbe Sowjetunion, die es vorher abgelehnt hat. Bis vor kurzem hatte sich noch die SPD gerühmt, auch die, die jetzt so hämisch dazwischenrufen, daß sie das erreicht hätte. Ihr eigener Bundeskanzler von früher berühmt sich dessen noch mit einem gewissen Recht bis zum heutigen Tag. Jetzt soll das plötzlich nicht mehr gelten. Das heißt, sechseinhalb Jahre lang haben wir nicht nur nichts getan, wir haben auch ein übriges getan. Wir haben einseitig 1000 nukleare Spreng1604 köpfe im Jahre 1979/1980 aus Europa abgezogen. Es stimmt also nicht, wenn immer wieder gesagt wird, Europa würde immer mehr mit Nuklearwaffen vollgestopft. Das gilt für uns nicht. ({2}) Diese sechseinhalb Jahre waren ein einziger Versuch des Westens, durch Vorleistung Vertrauen zu schaffen. Nur eines haben wir - ich wiederhole das - nicht getan: Gegenwaffen aufgestellt. Jetzt frage ich Sie: Was kann man eigentlich mehr tun als verhandeln? Was kann man mehr tun als vorleisten, als zu zeigen, daß man bereit ist, den Teufelskreis des Wettrüstens zu durchbrechen? Und jetzt die Frage: Wie hat die UdSSR, wie hat die Sowjetunion darauf reagiert? Sie hat völlig ungerührt von unserem Verhalten bis zum heutigen Tag weitergemacht und jede Woche eineinhalb neue Raketen in Stellung gebracht. Während wir uns hier im Deutschen Bundestag unterhalten und während Sie draußen an den falschen Stellen, nämlich bei den Demokratien des Westens, die nicht an der Rüstungsschraube drehen, protestieren, macht die Sowjetunion, während wir hier verhandeln, in diesem Tempo weiter, völlig ungerührt durch unsere Vorleistung, durch unseren Verzicht. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, ich möchte Sie unterbrechen. - Frau Kollegin Blunck, der Herr Bundesminister hat mir mitgeteilt, daß er nicht unterbrochen werden will. Ich nehme an, er wird den Präsidenten unterrichten, wenn er seine Haltung ändert.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ja, aber das gilt unverändert.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Im Augenblick ist dies nicht klar erkennbar, weil er mit den Fraktionen unterschiedlich verfährt.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Zwei Drittel dieser Raketen - das muß unserem Volk gesagt werden - sind jetzt schon auf Europa und auf unsere Städte gerichtet, und die neu aufgebauten werden zum Teil gegen uns in Stellung gebracht. Das kann man doch nicht einfach vom Tisch wischen. Soll das denn alles plötzlich nicht mehr wahr sein? Und jetzt frage ich Sie: Wie in aller Welt wollen Sie die Sowjetunion denn dazu bringen, mit dieser wahnwitzigen Aufrüstung gegen uns aufzuhören? Wie wollen Sie sie dazu bringen, abzurüsten, wenn Sie das einzige Druckmittel aus der Hand geben, wegwerfen, das Sie in der Hand haben: die Bereitschaft, Gegenwaffen zu stationieren, wenn die Sowjets nicht abrüsten? Wenn Sie mir nicht glauben, dann hilft es vielleicht, wenn ich einen etwas unverdächtigeren Zeugen, Herrn Sacharow, zitiere, der in einem Brief, den er vor kurzem veröffentlicht hat, an einen amerikanischen Wissenschaftler schreibt: Die Geschichte der Friedenskampagnen gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa spricht hier Bände. Viele Teilnehmer an dieser Bewegung ignorieren völlig den ursprünglichen Anlaß zum NATO-Doppelbeschluß, nämlich die Verschiebung des strategischen Gleichgewichts zugunsten der Sowjetunion. Sacharow, der Mann, der bis zum heutigen Tag in einer Art inneren Verbannung in der Sowjetunion lebt, schreibt dann: Damit diese Gespräche - er meint die Gespräche in Genf Aussicht auf Erfolg haben, braucht der Westen ein Pfund, mit dem er wuchern kann. Jetzt komme ich zu Ihnen, meine Kollegen von der SPD, bzw. zu einem Teil von Ihnen: Darum ist das, was die SPD jetzt tut, eine schlichte Katastrophe für diejenigen, die an wirklicher Abrüstung interessiert sind. Es ist ein Schlag ins Gesicht derer, die in Genf am Verhandlungstisch sitzen, meine Damen und Herren. ({0}) Kann man sagen: Und was denn? Es ist darüber hinaus - ich sage das mit der gleichen Deutlichkeit - ein Freibrief für die Sowjets zu ungehemmter, weiter einseitiger Aufrüstung. ({1}) Sie tragen, wenn sich das in Ihrer Partei fortsetzt, ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür, wenn es in Genf nicht zu einem Verhandlungserfolg kommt. ({2}) - Ja, glauben Sie vielleicht, daß man in Moskau nicht registriert, was ein Landesverband nach dem anderen bei Ihnen vor einer so entscheidenden Verhandlungsphase beschließt? ({3}) Die müssen sich doch sagen, das geht so weiter. Die müssen sich doch die Chance ausrechnen, den Doppelbeschluß zu kippen, die Nachrüstung zu verhindern. Und dann wollen Sie, daß die Sowjets nachgeben? Sie klagen die Amerikaner an, sie würden nicht ernsthaft verhandeln. Die Amerikaner verhandeln ernsthaft, aber sie können dann nicht mit Aussicht auf Erfolg verhandeln, wenn ihnen von Teilen Ihrer eigenen Partei - möglicherweise bald von der ganzen - in den Rücken gefallen wird, meine Damen und Herren. ({4}) Und dann kommen Sie bitte nicht mit der Behauptung, damit wolle man ein Zeichen setzen und die Sowjets quasi moralisch unter Druck setzen. So arglos können Sie doch nicht sein! So hätten Sie vielleicht vor sechseinhalb Jahren argumentieren und sagen können: Jetzt schaffen wir durch einseitige Maßnahmen Vertrauen. Das ist ja geschehen. Doch nach sechs Jahren, in denen wir einseitig verzichtet und die Sowjets ungeniert weitergerüstet haben, können Sie so nicht mehr argumentieren. Der Verzicht auf die Nachrüstung führt nicht zum Einlenken der Sowjets in Genf, und er führt schon gar nicht zum Stopp des Wettrüstens. Er führt nur - das muß den Menschen draußen gegenüber ausgesprochen werden -, zum sowjetischen Weiterrüsten, zum ungehinderten Fortgang des Wettrüstens. Deswegen bringt ein einseitiger Verzicht auf die Nachrüstung unserem Volk, den Menschen draußen in unserem Lande, die bis zum heutigen Tag in Freiheit leben, nicht mehr Sicherheit, sondern weniger Sicherheit. ({5}) Wenn Sie mir nicht glauben - ich wende mich jetzt wieder an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, vielleicht glauben Sie dem Mann, den Ihr Spitzenkandidat in den letzten Bundestagswahlen als seinen Sicherheitsberater eingesetzt hatte, Carl Friedrich von Weizsäcker. ({6}) Er schreibt: Bei sorgfältiger Abwägung der Gesichtspunkte der Abschreckung durch Eskalationsdrohung, der Ankoppelung bzw. Abkoppelung scheint mir aber in der Tat, daß, falls die Null-NullLösung nicht erreicht wird, die schwer berechenbare Glaubwürdigkeit der Abschreckung bei Anwesenheit westlicher Mittelstreckenraketen um einiges größer wäre als ohne sie. ({7}) Jetzt kommt die entscheidende Passage - Herr Voigt, hören Sie zu -: Ein einseitiger westlicher Verzicht auf solche Waffen wäre daher, isoliert genommen, keine Verminderung der Kriegsgefahr, vielleicht sogar eine Erhöhung. Das schreibt Carl Friedrich von Weizsäcker. ({8}) Ich kann nur sagen, es wäre gut, wenn nicht nur die SPD in Baden-Württemberg, sondern wenn auch die Bundestagsfraktion der SPD dieses Wort von Herrn von Weizsäcker für sich und ihre eigene Politik ernst nehmen würde. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundesminister, darf ich Sie fragen - Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: Also, Herr Präsident, ich habe nun wirklich eine letzte Bitte, auch an Sie, in der gebotenen und schuldigen Höflichkeit.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich habe festgestellt, daß Sie Ihre Haltung nicht geändert haben.

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ich habe mehrfach gesagt, daß ich nicht die Absicht habe, Zwischenfragen zu beantworten. Dies gilt, Herr Präsident, und ich wäre dankbar, wenn ich nicht mehr unterbrochen werde. ({0}) Es ist eindeutig, und das muß heraus, weil das der entscheidende Punkt ist. Ich frage Sie: Was eigentlich muß noch alles nach Afghanistan, was muß nach Polen, was muß nach dem Manövrieren sowjetischer nuklearer Unterseeboote in den Gewässern neutraler Staaten, was muß nach dem Abschuß einer zivilen Verkehrsmaschine durch Abfangjäger der Sowjetunion noch alles passieren, um Ihnen die Augen darüber zu öffnen, daß Sie es im Kreml leider Gottes nicht mit harmlosen, netten Mitbürgern zu tun haben, auf deren Haupt Sie feurige Kohlen häufen könnten, sondern mit Männern, die auf die Macht zählen und die - zu meinem eigenen Leidwesen - nur die Macht respektieren? ({1}) Wer hofft - das hoffen j a einige -, durch Demonstration der eigenen Hilflosigkeit, durch Demonstration der eigenen Wehrlosigkeit die Sowjets etwa dazu veranlassen zu können, daß sie jetzt mit ihrer Weiterrüstung aufhören, ({2}) wer, falls es in Genf nicht zu einer Einigung kommt, die Auffassung vertritt, die Sowjets würden - wenn wir auf die Aufstellung von solchen Raketen verzichteten -, netterweise, durch eine solche Geste gerührt, mit der weiteren Produktion von solchen Waffen aufhören, den frage ich: Warum haben sie dann in den letzten 61/2 Jahren pausenlos weitergemacht, obwohl wir nicht eine aufgestellt haben? ({3}) Nein, die Sowjets reagieren so, wie Diktaturen zu allen Zeiten auf Wehrlosigkeit und Arglosigkeit reagiert haben. ({4}) Sie werten es als Zeichen der Schwäche und setzen erst recht auf Macht und Gewalt. Deswegen sage ich Ihnen: und erzählen Sie mir nicht, daß der einseitige Verzicht auf Gleichgewicht und auf Verteidigung etwa den Frieden bringe. ({5}) Er bringt nichts anderes als die Herrschaft der Gewalt, der Gewalttäter, der nackten und brutalen Macht in dieser Welt. Das wollen wir nicht, und das dürfen wir nicht wollen. ({6}) Eine andere Bemerkung dazu: Wir dämonisieren die Sowjets nicht, ({7}) aber niemand hat das Recht, sie zu unterschätzen oder sie durch Schwäche in Versuchung zu führen, ({8}) nämlich in die Versuchung, von ihrer einzigen Stärke, die sie haben, der militärischen Macht, Gebrauch zu machen. Hier liegt der tiefste historische und politische Fehler der Gutmeinenden in der Friedensbewegung - das ist nach wie vor die Mehrheit - und auch der tiefste - ich betone: historische - Fehler in den Teilen der SPD, die sich der Friedensbewegung inzwischen angeschlossen haben, obwohl es mir auf Grund der handfesten und blutigen Erfahrungen mit dem sowjetischen System bis in die letzten Tage hinein - das muß ich Ihnen ganz offen sagen ({9}) immer schwerer fällt, für diese Arglosigkeit Verständnis zu empfinden. ({10}) Ich sage ebenso offen - ich habe das gewogen -: Es gibt einen Zeitpunkt, in dem Arglosigkeit in Blindheit umschlägt und damit schwere Schuld auf sich lädt. ({11}) Wer der Gewalt einen Freibrief ausstellt, darf sich nicht wundern, wenn Rechtlosigkeit, Unfreiheit und Krieg in dieser Welt auch in Zukunft triumphieren. ({12}) Ich sage Ihnen: Der bloße gute Wille ist keine Entschuldigung dafür. Nach alledem, was uns die Geschichte Europas und unseres eigenen Landes an schauerlichen Beispielen in diesem Jahrhundert geliefert hat, hat keiner mehr das Recht, Diktaturen in ihrer Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu unterschätzen, weil es gegen die historische Erkenntnis verstößt. ({13}) - Im Unterschied zu Ihnen bin ich nicht auf einem Auge blind; ich sage das nach allen Seiten. ({14}) - Der Präsident wird schon wissen, was er zu tun hat. - Es muß schon ganz komisch sein -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sehr wahr, Herr Minister, er weiß, was er tut, und er paßt sehr genau auf, im übrigen auch in Ihrem Interesse. ({0})

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Ja, sehr genau. Ich sage deswegen: Sie können sich nicht nur auf den guten Willen berufen, Sie mißachten historische Erfahrungen, Sie verkennen die Realität, und so guten Willens Sie auch immer sein mögen: Mit Ihrer Politik der Wehrlosigkeit beschwören Sie gerade die Gefahr herauf, ({0}) von der Sie glauben - das nehme ich Ihnen ab -, daß Sie sie verhindern können, nämlich Kriegsgefahr oder die Gefahr, daß wir unsere Freiheit verlieren. Und das wollen wir nicht. ({1}) Damit das nicht mißverständlich ist, sage ich dazu: Wenn ich auf diese historische Lehre hinweise, die wir leidvoll in unserer eigenen Geschichte erfahren haben, dann heißt das nicht, daß ich dafür plädiere, Mißtrauen zur Basis jeden politischen Handelns zu machen. ({2}) Das heißt auch nicht, Diktaturen wie der Sowjetunion die Verhandlungsfähigkeit abzusprechen. Es hat durchaus Sinn, mit solchen Mächten über Friedenssicherung zu verhandeln. Deswegen tun wir es ja auch an vielen, vielen Tischen. Allerdings muß man eben wissen, daß das nur so lange Sinn macht, als man stark genug ist, die eigenen Interessen zu schützen, und daß es nur so lange Sinn macht, als man etwas anzubieten hat. Das ist übrigens ein Verhalten, das jeder von uns in seinem täglichen Leben pausenlos praktiziert. ({3}) Es macht auch Sinn, solchen Mächten gegenüber Vertrauensbildung anzustreben. Auch das tun wir. Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen die KSZE-Konferenz und ihre Ergebnisse dargestellt. Das ist ein Schritt in diese Richtung. Aber eben auch diese Vertrauensbildung trägt ja nur, wenn die Gegenseitigkeit verbürgt ist und wenn man sich nicht alleine vom guten Willen der anderen Seite, d. h. der Diktaturen, abhängig macht. Mit anderen Worten: Es hat nur dann Sinn, wenn die eigene Machtbasis wenigstens stark genug ist, um die Verteidigung der eigenen Freiheit sicherzustellen. Daher sind eine starke Verteidigung und ein geschlossenes Bündnis die unerläßliche Grundlage für den Frieden in unserer Zeit und in unserem Volk. ({4}) Wer mit dem Gedanken spielt, dieses Bündnis zu verlassen, der, sage ich, spielt in des Wortes wahrster Bedeutung mit dem Feuer, ({5}) der muß wissen, daß er das opfert, was uns in den letzten 38 Jahren Frieden und Freiheit erhalten hat, und zwar allen unseren Bürgern. ({6}) Wer das Mißtrauen aus der Welt schaffen will, muß sichere und nachprüfbare Vereinbarungen auf der Basis der Gegenseitigkeit und der Respektierung der Lebensinteressen auch des Partners treffen. Dazu sind wir nicht nur bereit, wir suchen sie mit allen: in Genf, anderswo, an jedem denkbaren Verhandlungstisch. Die Sowjetunion darf sicher sein: Wir wollen sie weder übervorteilen noch in die Ecke drücken noch in die Knie zwingen noch in den zweiten Rang zurückverweisen. Sie soll bleiben, was sie ist: eine gleichberechtigte Supermacht. Nur, ich wiederhole das, was das legitime Interesse jedes Deutschen draußen in unserem Volk ist: Wir wollen unsere eigene Sicherheit so, wie die Sowjetunion diese Sicherheit für sich beansprucht. ({7}) Nun komme ich zu dem, was Sie durch Zwischenrufe ({8}) - ja, laut; Sie merken ja, es stört mich nicht - pausenlos von mir verlangen: daß ich auf Ihre Großen Anfragen eingehe. Zunächst einmal gehe ich davon aus, daß Sie unsere Antworten gelesen haben und damit wissen, was wir Ihnen antworten. Wenn es nicht gelingt, im Verhandlungswege - das hat für uns eindeutigen Vorrang; da gibt es zwischen uns nicht den mindesten Unterschied - die sowjetischen SS-20-Raketen wegzubringen, dann müssen wir wenigstens verhindern, daß sie gegen uns eingesetzt werden - sei es zur Drohung oder sei es gar in einer militärischen Auseinandersetzung. ({9}) Das und nichts anderes wäre, wenn es sein müßte, der Sinn der Nachrüstung. ({10}) Die Sowjetunion muß wissen, daß sie uns nicht mit ihren SS 20 angreifen kann, ohne nicht auch auf ihrem Territorium von Anfang an schwere Schäden in Kauf nehmen zu müssen, also dasselbe Risiko tragen zu müssen. Das ist es ja, was sie mit aller Sicherheit davon abhalten wird, solche Raketen gegen uns einzusetzen. ({11}) Die bei uns zur Stationierung vorgesehenen Waffen sind darum klassische Waffen der Abschreckung. Jetzt komme ich zur Frage des Kollegen Ehmke. So haben Sie es, Herr Ehmke, die von Ihnen getragene Regierung, die diesen Beschluß gefaßt hat, der frühere Bundeskanzler - der, wie ich inzwischen den Eindruck gewonnen habe, zu dieser Überzeugung nach wie vor steht - gesehen, als Sie den Nachrüstungsteil dieses Doppelbeschlusses gefaßt haben. Diese Waffen, wenn sie stationiert werden müßten, neutralisieren die Bedrohung, stabilisieren damit das Gleichgewicht und erhöhen damit unsere Sicherheit. Sie verhindern einen Krieg, sie verhindern den Einsatz dieser schrecklichen, auf uns gerichteten Waffen, sie schaffen mehr Sicherheit und nicht weniger Sicherheit für den Bürger. Wenn es nicht gelingt, in Genf zu einer Vereinbarung zu kommen, ließe ein Verzicht auf die Nachrüstung die Bedrohung ungeschmälert und würde uns zum wehrlosen Objekt sowjetischer Raketendrohung machen. ({12}) Jetzt komme ich zu den Fragen, die wenigstens noch kurz beantwortet werden müssen. Auch wenn Sie es wieder und wieder behaupten: Die Pershing II und die Cruise Missiles dienen nicht einem Angriff auf die Sowjetunion. Die Sowjets wissen das. Ihr Einsatz wäre überhaupt nur denkbar, wenn die Sowjetunion uns angriffe. Darum braucht sich die Sowjetunion nicht bedroht zu fühlen. Im übrigen - das sage ich nicht nur Ihnen, Herr Bastian, sondern all denen, die hier auf dieser Seite sitzen -: Wenn sich die Sowjetunion durch diese Waffen wirklich bedroht fühlen sollte, dann gibt es ein ganz einfaches Mittel, dieser Bedrohung zu entkommen. Sie braucht bloß ihre eigene Vorrüstung, diese schrecklichen SS 20, abzubauen. Ich verbürge mich dafür: Dann kommt nicht eine einzige Waffe der Amerikaner neu hierher. Das ist einwandfrei und klar. ({13}) Sie braucht nur ihre eigenen SS 20 zu zerstören, und wir werden sofort auf jede Nachrüstung verzichten. Dies gilt auch noch nach dem Beginn einer etwaigen Stationierung. Jedes Waffensystem, das wir hier aufstellen, könnte wieder abgebaut werden und würde wieder abgebaut, wenn die Sowjets dasselbe auf ihrer Seite tun. Auch wenn die GRÜNEN immer wieder behaupten - nach dem, was ich in meiner Beantwortung Ihrer Großen Anfrage klargestellt habe, kann ich nur sagen: wider besseres Wissen -, die Pershing sei eine Erstschlagwaffe - sie ist es nicht, und die Sowjets wissen es. ({14}) Die Tatsachen sprechen eine klare Sprache. Sie zeigen den Herrn Mechtersheimer auf allen Ihren Veranstaltungen herum. Herr Mechtersheimer hat das in einer seltenen Eindeutigkeit auch geschrieben. Er ist nicht der einzige. Es stimmt ganz einfach nicht. Diese Waffe reicht noch nicht einmal bis Moskau. Selbst wenn es hier einen Idioten gäbe, der sie zuerst abfeuern wollte, es machte überhaupt keinen Sinn. Wir könnten weder die sowjetischen Führungszentren ausschalten, noch könnten wir einen erheblichen Teil des Interkontinentalwaffenpotentials ausschalten. ({15}) Das ist alles hundertmal nachgewiesen. Nur: Ich habe den Eindruck, die GRÜNEN verfahren nach der Maxime „Verschone mich mit Tatsachen, sie könnten nur meinen Glauben stören". ({16}) Die Pershing II ist im übrigen auch keine Waffe - die Sowjets wissen das; das werde ich Ihnen gleich beweisen -, die eine begrenzte Kriegführung in Europa möglich machte, wie Sie es dauernd den Menschen draußen suggerieren. Sie behaupten ja dauernd, wenn das hierher käme, würde ein begrenzter Krieg möglich. Ich frage Sie: Warum empören Sie sich eigentlich über die westlichen Waffen, die es noch gar nicht gibt, und reden nicht von den begrenzten Kriegführungsmöglichkeiten der Sowjetunion mit der SS 20? Warum haben Sie sich sechseinhalb Jahre nicht aufgeregt und regen sich erst heute auf, da wir damit anfangen, unsere Freiheit verteidigen zu müssen? ({17}) Ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist richtig. Die Pershing II ist eine Waffe, die die Verknüpfung der europäischen Sicherheit mit der strategischen Abschreckung der USA sicherstellt und die damit der Kriegsverhinderung dient. Niemand anders als der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow hat das dankenswerterweise selbst ausgesprochen. Dort heißt es: Ungestraft blieben in diesem Fall auch nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn man in Washington denkt, daß unsere Antwort auf den Einsatz von Raketen vom Typ Pershing II und von Flügelraketen nur gegen Ziele in Westeuropa gerichtet sein wird, so geht man dort zutiefst fehl. Die Vergeltung würde unweigerlich auch die Vereinigten Staaten selbst treffen. Hier haben Sie die Antwort aus sowjetischer Sicht. Was wollen wir? Wenn wir gezwungen werden - wir hoffen, das vermeiden zu können, weil wir an Abrüstung interessiert sind - zu stationieren, würde das den Schutz wiederherstellen, den die Sowjets mit ihrer SS 20 unterlaufen wollen. Nun wird behauptet, die Pershing II verkürze die Warnzeiten für die Sowjetunion so drastisch, daß die Gefahr eines präventiven oder gar automatischen Nuklearkriegs entstehe. Auch diese Auffassung findet in den Tatsachen keine Stütze. ({18}) Richtig ist, daß sich die Warnzeiten für die Sowjetunion auf 12 bis 14 Minuten verkürzen würden. Jetzt sage ich Ihnen dazu einige Tatsachen. Erstens. Wir in Europa leben seit Jahrzehnten mit noch viel kürzeren Warnzeiten gegenüber sowjetischen Raketen. Warum soll den Sowjets nicht zumutbar sein, was sie nun schon seit Jahren unserer eigenen Bevölkerung, den Franzosen, den Briten, den Italienern zumuten? ({19}) Ist denn die Sicherheit eines Deutschen weniger wert als die Sicherheit eines Russen? ({20}) Zweitens. Sie verschweigen, daß beide Supermächte angesichts der nuklear bewaffneten Unterseeboote auch auf strategischem Gebiet bereits heute mit zum Teil noch geringeren Warnzeiten rechnen müssen. Drittens. Sie verschweigen, daß für jede Waffe, die hier neu stationiert werden müßte, eine Waffe abgezogen würde. Sie verschweigen darüber hinaus, daß der Westen beispielsweise seit dem Jahre 1968 insgesamt 9 000 Nuklearwaffen einseitig zerstört hat. Von Ihnen wird immer wieder das Bild einer Welt an die Wand geworfen, die immer mehr und immer mehr Atomwaffen hat. ({21}) Die Wahrheit sieht jedenfalls auf westlicher Seite anders aus. Heute haben wir im Westen - ich sage es noch einmal - 9 000 Nuklearwaffen weniger, und unsere Absicht, die Absicht dieser Regierung, ist es, diese Zahl noch weiter zu vermindern. ({22})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, ich muß Sie einen Moment unterbrechen. Ich muß dem Abgeordneten Ehmke mitteilen, daß der Minister mir gesagt hat, er wolle keine Zwischenfragen zulassen. ({0})

Dr. Manfred Wörner (Minister:in)

Politiker ID: 11002547

Herr Präsident, der Herr Abgeordnete Ehmke sitzt, seit ich spreche, hier, und er hat das sicher gehört. ({0}) Schließlich verkennen Sie, daß die ausgeklügelte Natur der Sicherungssysteme in Ost und West mit der vielfältigen Verbindung technischer und menschlicher Kontrollen selbst bei technischen Pannen eine automatische Auslösung eines Nuklearschlages ausschließt. Sie müssen mir schon angesichts dessen, was man draußen der Bevölkerung an Horrorvisionen vorspiegelt, die Möglichkeit geben, die Fakten zu nennen. Es ist nicht der Computer, der einen Atomkrieg auslöst, weder gestern noch morgen, weder vor noch nach Beginn einer etwaigen Stationierung. Ich sage Ihnen: Es ist falsch, wenn im Augenblick versucht wird, in unserem Volk den Eindruck zu erwecken, daß wir dadurch das Ziel sowjetischer Raketen würden, daß wir mit einer etwaigen Stationierung beginnen müßten. Wir sind bereits das Ziel. Die Frage ist nur, was man machen kann, damit diese Raketen wegkommen oder nicht gegen uns eingesetzt werden. Die Gefahr, daß sie eingesetzt werden, ist viel größer, wenn die Sowjets das risikolos tun können, als wenn ihnen für diesen Fall das gleiche Risiko ins Haus steht. Jetzt wieder eine sehr ernste Frage an die Friedensbewegung. Viele aus der Friedensbewegung wollen unserem Volk einreden, Gefahr drohe von der Nachrüstung. Ich frage Sie: Warum sollen reine Verteidigungswaffen in der Hand von Demokraten gefährlicher sein als Angriffswaffen in der Hand von Diktaturen? ({1}) Keiner von uns - damit will ich meinen Schlußgedanken bringen - nimmt die Gefahren unserer Zeit auf die leichte Schulter. Ich hoffe, daß es deutlich geworden ist, daß der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland der letzte ist, der etwa unter die Rüstungsfanatiker zu zählen wäre. Ich kann Ihnen nur eines sagen. Ich habe es schon einmal gesagt; ich werde es so oft wiederholen, bis es durch ist. ({2}) - Sie werden mir schon überlassen müssen, die Redezeit auszuschöpfen, die ich habe. Ich lasse mir von Ihnen und von keinem anderen den Mund verbieten. Wenn man in unserem Volk draußen Unruhe und Kriegspsychose zu züchten versucht, dann darf der Verteidigungsminister dieser Republik sagen, daß unsere Politik den Krieg nicht nur heute, sondern auch in Zukunft verhindern wird, daß wir die Möglichkeit haben, Frieden und Freiheit zu bewahren, wenn wir eine vernünftige Politik machen. ({3}) Solange das nukleare Gleichgewicht anhält, droht uns kein Krieg. ({4}) Wir haben Frieden, und wir werden diesen Frieden behalten, und zwar in Freiheit. ({5}) Es wird Ihnen nicht gelingen, dem Volk darzustellen, daß es nur die Wahl zwischen Leben auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen Seite gebe - das ist ja diese unselige Parole „Lieber rot als tot" -, daß es nur die Alternative gebe: Unterwerfung oder Tod. ({6}) Es gibt eine Politik, die uns Frieden und Freiheit sichert. Es gibt eine Politik, die uns sogar den Ausweg aus dem nuklearen Dilemma eröffnet. Es ist nicht so, daß wir keine Perspektive hätten. Wir haben nicht nur eine Perspektive, wir haben nicht nur eine Vision, ({7}) wir haben eine Politik, von der wir meinen - im übrigen bis vor einiger Zeit noch in Übereinstimmung mit denen, die jetzt davon abgehen -, daß keine Alternative, jedenfalls keine bessere, keine Alternative uns besser den Frieden und die Freiheit sichern könnte. ({8}) Wir wollen diesen teuflichen Kreislauf durchbrechen. Für uns sind nicht Waffen die einzige Hoffnung. Ich sage Ihnen: Es gibt eine Chance, das Wettrüsten zu stoppen. ({9}) - Wissen Sie, die Art und Weise, wie Sie an einem solchen Punkt hier billige Zwischenrufe machen, zeigt mir, daß Sie offensichtlich nicht begriffen haben, wie ernst es uns jedenfalls auf dieser Seite des Hauses mit der Frage der Friedenssicherung ist. ({10}) Ich sage deswegen: Unsere Politik zielt auf eine solche Welt. Sie hat einen fünffachen Inhalt. Einmal die unbeirrbare Festlegung auf den Gewaltverzicht; von uns geht keine Gewalt aus. Zweitens die täglich untermauerte, konkret nachweisbare Bereitschaft beider Seiten, abzurüsten; Gleichgewicht auf niedrigster Ebene, das ist unser Ziel. Niemand in der Welt kann sich darüber einer Täuschung hingeben. Drittens Verläßlichkeit, Berechenbarkeit unserer Politik. Wir halten Linie, auch wenn andere davon abweichen. Viertens das Angebot zum friedlichen Ausgleich und zur Zusammenarbeit auch und gerade mit den Staaten des Ostens. Das haben wir nachgewiesen - sehr zu Ihrer Verblüffung -, das werden wir auch weiterhin nachweisen. Das wissen gerade die Sowjets. Dann allerdings ein fünfter Punkt, der uns hoffentlich nicht unterscheidet: Austausch zwischen den Völkern und schrittweise Verwirklichung der Menschenrechte. ({11}) Das ist die Politik, von der ich noch einmal sage, ({12}) daß sie unserem Volk den Frieden und die Freiheit erhalten soll. - Aber wenn Sie schon hier dazwischenrufen, dann mache ich schon einmal die Bemerkung: Welchen Frieden meinen wir, wenn wir vom Frieden reden? Meine Feststellung ist, daß nicht jeder, der vom Frieden redet, das gleiche meint. ({13}) Wir meinen - und das muß gesagt werden in einer solchen Debatte -, der Friede ist mehr als das bloße Überleben. Er umschließt eine Fülle anderer Werte: Die Freiheit des Denkens, die Freiheit des Glaubens, die Freiheit des Handelns, vor allen Dingen aber die Wahrung der Würde des Menschen, das alles gehört in unseren Augen zum Frieden dazu. ({14}) Der Friede in Unfreiheit, der Friede in Angst und Terror ist nicht der Friede, den wir wollen. ({15}) Wir wollen den Frieden, den unsere Menschen draußen täglich erleben dürfen. ({16}) Deswegen ist der Weg in die Unfreiheit nicht der Weg zum Frieden. Jetzt dürfen Sie auf dieser Seite des Hauses sich noch einmal aufregen: Wer bereit ist oder bereit wäre, sich der Unfreiheit und der Rechtlosigkeit zu unterwerfen, der hat nach meiner Meinung kein Recht, vom Frieden zu reden; denn das wäre für viele der physische und für andere der psychische Tod. ({17}) Freiheit kann nur der bewirken und Freiheit kann nur der sichern, der zu ihrer Verteidigung entschlossen ist. Auch das ist eine Lehre aus der Geschichte. ({18}) Das ist eine Lehre - auch wenn Sie sie nicht gelernt haben -, die weiter gilt. Das ist eine Lehre, die in der Bundeswehr gilt. Auch wenn Sie jetzt wütend dazwischenrufen, das sind alles Dinge, die vor mir sozialdemokratische Verteidigungsminister in einer Zeit gesagt haben, in der Sie noch eine andere Politik betrieben haben. ({19}) Ich könnte Ihnen vorlesen, was mein Kollege Leber gesagt hat, was mein unmittelbarer Vorgänger Apel gesagt hat. Diese Bundeswehr, die Soldaten der Bundeswehr, haben einen einzigen Auftrag: für unser Volk den Frieden in Freiheit zu sichern. Und dabei bleibt es, solange wir die Verantwortung dafür tragen. ({20})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, das Rederecht der Bundesregierung ist unbegrenzt. Sie haben es wahrlich in überdehntem Ausmaß in Anspruch genommen. Aber getretener Brei wird breit, nicht stark. ({0}) Im übrigen haben Sie mit Ihrem Hinweis auf Carl-Friedrich von Weizsäcker ein abschreckendes Beispiel dafür gebracht, wie die Bundesregierung mit Halbwahrheiten objektiv völlige Unwahrheiten verbreitet. ({1}) Wenn Sie sagen, daß Carl-Friedrich von Weizsäcker ein Gegengewicht gegen die sowjetische SS20-Rüstung für erforderlich hält, falls die Sowjetunion ihre SS 20 nicht abbaut, haben Sie recht. Aber wenn Sie unterschlagen, daß derselbe CarlFriedrich von Weizsäcker sagt, daß ein solches Gegengewicht, wenn überhaupt, dann nur seegestützt geschaffen werden sollte, er also eine Landstützung von Pershing II und Cruise Missiles, wie im NATODoppelbeschluß vorgesehen, ablehnt, dann ist das sozusagen der Teil der Wahrheit, der ausgelassen wird. Das ist genau der entscheidende Streitpunkt im Zusammenhang mit der Stationierung, der uns zur Zeit und auch in dieser Debatte trennt. ({2}) Ein befriedigendes Abkommen in Genf ist technisch noch möglich. Aber es wird nur dann noch zu einer solchen Vereinbarung kommen, wenn Ost und West bereit sind, zwischen ihren bisher unvereinbaren Prinzipien einen Kompromiß zu suchen und zu finden. Voigt ({3}) Die Bundesregierung drängt die Sowjetunion zur Änderung ihrer Prinzipien. Aber sie bestärkt die Reagan-Administration in ihrer bisher viel zu starren Haltung. ({4}) Führende Vertreter der Koalitionsparteien wie Alfred Dregger sind sogar starrer als die starrsten Vertreter der Reagan-Administration. ({5}) Auf der Grundlage einer solchen Politik kann kein Kompromiß in Genf erreicht werden. Wer darauf verzichtet, einer solchen Politik zu widersprechen, wer sie vielmehr unterstützt - und sei es auch nur aus Koalitionsopportunismus -, der baut Verhandlungsblockaden auf statt ab. Er trägt dann die Mitverantwortung und auch die Mitschuld dafür, wenn es in den nächsten Wochen und Monaten in Genf nicht zu einem befriedigenden Abkommen kommt. ({6}) Ich sage: Auf der Grundlage der Forderungen, die Alfred Dregger mit Zustimmung der Bundesregierung an die Reagan-Administration gerichtet hat - in der Sache hat Bundesaußenminister Genscher heute nicht anderes gesagt -, kann es in Genf zu keinem Kompromiß kommen. Wenn Bundeskanzler Kohl am 24. August in einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagt, daß er wegen der politischen Bedeutung dieser Waffe selbst dann noch für die Stationierung der Pershing II eintrete, wenn sie militärisch überflüssig und uninteressant geworden sei, dann bedeutet das nichts anderes als den politischen Vorrang für die Rüstung, aber nicht den politischen Vorgang für die Abrüstung. ({7}) Zu einer solchen Politik werden wir Sozialdemokraten gemeinsam nein sagen. Daran kann es keinen Zweifel geben. Wir Sozialdemokraten fordern ebenso wie die Koalitionsparteien die drastische Verringerung des sowjetischen Potentials an SS-20-Raketen. Wir warnen aber vor einer Dramatisierung der Lage, wie Sie sie eben als Bundesverteidigungsminister vorgenommen haben. In Europa gibt es trotz der großen Militärpotentiale des Warschauer Paktes für eine akute militärische Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion gegenwärtig keine Anhaltspunkte. ({8}) Es ist kein Wille zur militärischen Expansion der Sowjetunion gegenüber Westeuropa und umgekehrt auch kein Wille zu solchen Aktionen der NATO gegenüber Osteuropa erkennbar. Auf Grund der auf beiden Seiten zur Zeit bereits vorhandenen militärischen Fähigkeiten wäre ein solcher Versuch auch mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Die dramatisierende Sorge, die Herr Dregger geäußert hat, die Herr Genscher geäußert hat ({9}) und die Herr Wörner geäußert hat, daß die Entscheidung über die Nachrüstung endgültig darüber entscheide, ob die Sowjetunion die Hegemonie über Westeuropa erhält, ist unbegründet. Es ist eine unverantwortliche Kampagne der Angst, wenn Alfred Dregger davon spricht, daß die Stationierung von US-Raketen darüber entscheidet, ob das freie Europa dem politischen Diktat der Sowjetunion ausgeliefert wird. ({10}) Die Sowjetunion kann ihr Militärpotential nicht glaubwürdig und erfolgreich als Mittel für eine politische Erpressung Westeuropas nutzen. Die Christdemokraten versuchen die Entscheidung für diesen Herbst zu verdrehen. Sie tun so, als würde nicht über den Beginn der Stationierung, sondern über die Freiheit der Bundesrepublik entschieden. „Freiheit oder Sozialismus" hieß es früher. Jetzt versuchen die Christdemokraten den Eindruck zu erwecken, als ginge es um die Alternative „Unfreiheit oder Raketen". ({11}) Die wirkliche Alternative - da war auch das, was Bundeskanzler Schmidt angestrebt hat - ist, ob es uns mit dem NATO-Doppelbeschluß gelingt, in Genf in letzter Minute noch die Wechselwirkung von Aktion und Reaktion, von Vor- und Nachrüstung zu unterbrechen, und zwar in einem Bereich, der für uns Europäer in besonderer Weise wichtig ist. Ich werfe der Bundesregierung in bezug auf die Genfer Verhandlungen vor - diese Vorwürfe sind gut begründet, auch wenn es schwere Vorwürfe sind -: erstens eine Schönfärberei der Verhandlungssituation, zweitens eine mangelnde Seriosität beim Verhandlungskonzept, drittens eine Verharmlosung der Folgen einer Stationierung, viertens die Verbreitung von Illusionen über mögliche Verhandlungsergebnisse nach einem Stationierungsbeginn und fünftens eine politische Untätigkeit - das, was Horst Ehmke als Tu-nix-Regierung gekennzeichnet hat -, um noch zu einem befriedigenden Verhandlungskompromiß in Genf zu kommen. ({12}) Mit dem Zitieren von Herrn Gromyko ist Bundesaußenminister Genscher ja auch auf den Bauch gefallen. Das Wichtigste für einen Bundesaußenminister ist doch - das ist sozusagen das A und O -, erst einmal von einer realistischen Lagebeurteilung auszugehen. ({13}) Ein Außenminister, der diesen Grundsatz nicht beachtet, ist kein guter Außenminister, sondern ein schlechter Außenminister. ({14}) Wenn diese Schönfärberei, wie in der „New York Times" zu lesen ist, auch noch innenpolitisch oder Voigt ({15}) wahltaktisch begründet ist, dann ist er ein noch schlechterer Außenminister. ({16}) Damit verliert man Glaubwürdigkeit in Washington und damit auch Einfluß. Dies schadet unseren Interessen. Wenn die Illusion verbreitet wird, als gebe es nach dem Beginn der Stationierung noch die Möglichkeit für ein Verhandlungsergebnis, das dann in der zweiten Runde zum völligen Verzicht auf die Stationierung führt - und auch diese Illusion wird j a verbreitet -, dann ist das nicht nur eine Verbreitung von Illusionen, sondern Augenwischerei. ({17}) Es wiederspräche allen Erfahrungen, wenn nach einem Beginn der Stationierung der Westen faktisch noch bereit wäre, eine Vereinbarung zu unterschreiben, die zum völligen Verzicht führen würde. Es darf ja auch nicht vergessen werden, daß von Anfang an führende Politiker der CDU/CSU gegen einen völligen Verzicht auf die geplante westliche Nachrüstung waren ({18}) und daß diese Politiker der Null-Lösung nur deshalb zugestimmt haben, weil sie von der Ablehnung dieses Vorschlags durch die Sowjetunion überzeugt waren. Weil für ihn die Stationierung der Raketen Vorrang hat, Vorrang vor Verträgen hat, warnt Alfred Dregger die Reagan-Administration vor Konzessionen und fügt hinzu, daß er nicht jeden in Genf ausgehandelten Kompromiß akzeptieren würde. Es ist übrigens von Anfang an offensichtlich gewesen, daß auch die Motive der Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß zwischen CDU/CSU und SPD unterschiedlich, ja gegensätzlich waren. Für uns hat im Gegensatz zur CDU/CSU der Abrüstungsteil des NATO-Doppelbeschlusses immer den politischen Vorrang besessen; für Sie nicht. Darauf beruhen heute zum großen Teil unsere Differenzen. ({19}) Ich sehe heute schon unsere Auseinandersetzungen voraus, wenn Sie Rüstungen einführen und modernisieren wollen und wenn ich dann einen neuen Doppelbeschluß verlange, der diese Rüstung von vorherigen Verhandlungen abhängig machen will; und ich werde für den Vorrang der Rüstungskontrolle auch in Zukunft eintreten und diesen politischen Vorrang fordern, auch mit Zustimmung der SPD fordern. - Das ist übrigens ein Grund, weshalb wir als SPD-Fraktion gegen die Kündigung des NATO-Doppelbeschlusses eintreten. - Ich werde dann Ihre Reaktion sehen. Dann wird sich herausstellen, daß Sie, wenn ich solche rüstungspolitischen Forderungen in Zukunft erhebe und an Sie richte, ({20}) offen sagen, was Sie heute heimlich denken: Nie wieder einen solchen Doppelbeschluß! Sie werden dann fordern: Zuerst Einführung von Rüstungen und dann, wenn überhaupt, anschließend verhandeln. Das ist genau das, was Manfred Wörner vor dem NATO-Doppelbeschluß vertreten hat und was Konservative in den USA offen aussprechen und was Konservative hier heimlich denken. Wir werden dieses Konzept „Erst verhandeln und dann eventuell, aber dann auch nur nach einer Analyse und Bewertung der politischen Rahmenbedingungen und vorheriger Überprüfung der militärischen Erforderlichkeit, stationieren" in Zukunft immer wieder als Forderung erheben. Ich bin gespannt auf Ihre Reaktion dann. ({21}) Über der berechtigten Kritik an der Reagan-Administration vergessen viele den negativen Einfluß deutscher Politiker auf die Genfer Verhandlungen. ({22}) Ich sage ganz offen: Zu dem amerikanischen Chefunterhändler Paul Nitze habe ich persönlich mehr abrüstungspolitisches Vertrauen als zu Alfred Dregger. ({23}) Die Christdemokraten verkehren zur Zeit die von der SPD unterstützte abrüstungspolitische Zielsetzung des NATO-Doppelbeschlusses in ihr Gegenteil und machen daraus einen Fahrplan zur Aufrüstung. ({24}) Alfred Dreggers Forderungen führen zu einer Perversion des Gedankens der Rüstungskontrollpolitik. ({25}) Jetzt muß noch gedrängt werden, damit es in diesem Jahr zu einem Abkommen kommt. Sollte dieses Ergebnis in diesem Jahr nicht zu erreichen sein, so sollte der Westen um eines befriedigenden Ergebnisses willen bereit sein, den Zeitpunkt für den Beginn der Stationierung zu verschieben. Durch seine Bereitschaft, den Beginn der Stationierung zu verschieben, falls es nicht bis zum Herbst dieses Jahres zu einem Abkommen kommt, kann der Westen demonstrativ klarstellen, daß für ihn ein befriedigendes Verhandlungsergebnis politischen Vorrang vor der Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen hat. Indem der deutsche Außenminister Genscher als erster Außenminister der EG einen entsprechenden Vorschlag der griechischen Regierung zurückwies, stellte er für sich demonstrativ das Gegenteil klar. ({26}) Die Handlungsfähigkeit der NATO wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß die NATO in eigener Autonomie entscheidet, sich mehr Zeit für Verhandlungen zu nehmen. 1979 wurde kein Automatismus Voigt ({27}) in Gang gesetzt, der spätere politische Entscheidungen der NATO überflüssig machte. Da die Rüstungskontrollverhandlungen in Genf erst mit erheblichem Zeitverzug begonnen haben, sollte die NATO aus politischen Gründen bereit sein, die 1980 beschlossene Zeitplanung für den technischen Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses zu ändern. Es ist problematisch, daß die START- und die INF-Verhandlungen nicht miteinander verzahnt sind. Dieser - um es so zu sagen - Start-Fehler der INF-Verhandlungen sollte so bald wie möglich behoben werden. Übrigens könnte dadurch auch die Berücksichtigung der Drittstaaten-Systeme erleichtert werden. Hermann Scheer wird dazu im Detail noch etwas ausführen; auch Horst Ehmke hat dazu etwas gesagt. Hier möchte ich aber auch auf die Seriosität - oder, besser gesagt, den Mangel an Seriosität - der Bundesregierung und des Bundesaußenministers Genscher eingehen. ({28}) Horst Ehmke war da etwas zu optimistisch. Bundesaußenminister Genscher war klar und eindeutig in der Zurückweisung der Forderung, daß die britischen und die französischen Systeme bei INF-Verhandlungen berücksichtigt werden sollen. Horst Ehmke hat daraus geschlossen, der Außenminister sei bereit - und habe dies erklärt -, sie bei den START-Verhandlungen zu berücksichtigen. ({29}) Aber wie so häufig ist Bundesaußenminister Genscher in solchen wichtigen Fragen unklar. Man kann das in seine Äußerungen hineininterpretieren. Deshalb verlange ich von der Bundesregierung eine klare und eindeutige Stellungnahme dazu, wo und wie sie diese Systeme, wenn sie nicht für deren Berücksichtigung bei den INF-Verhandlungen ist, sonst berücksichtigen will. ({30}) Wenn sie darauf keine klare Antwort gibt, ist ihre Haltung in bezug auf die britischen und die französischen Systeme unseriös. ({31}) Kriegsverhütung durch Abschreckung enthält viel zu viele Risiken, als daß sie, Herr Bundesaußenminister und auch Herr Verteidigungsminister, zur dauerhaften Sicherung des Friedens ausreichte. ({32}) Insbesondere demokratische Gesellschaften können es nicht auf Dauer für legitim halten, davon auszugehen, die Drohung mit der Vernichtung der Menschheit sei Vorbedingung für eine Erhaltung des Friedens. ({33}) Die Bevölkerung erwartet zu Recht, daß der Größe der Gefahr bei Versagen der Abschreckung das Maß des politischen Bemühens um Frieden und um Überwindung dieser Gefahr entspricht. ({34}) - Ich komme darauf! - Die Doktrin der Abschrekkung kann nur als Konzept des Übergangs zu weniger risikoreichen Strategien der Friedenssicherung akzeptiert werden. Die Doktrin der Abschreckung will den Frieden vorrangig durch das beim potentiellen Gegner erzeugte Gefühl der Angst und Furcht sichern. Die Konzeption der Sicherheitspartnerschaft strebt demgegenüber an, durch Zusammenarbeit ohne Vernachlässigung legitimer Sicherheitsinteressen Sicherheitsprobleme schrittweise gemeinsam zu lösen. Die Abschreckung voreinander soll durch die gemeinsame Sicherheit miteinander ergänzt und schließlich ersetzt werden. ({35}) Aus potentiellen Gegnern potentielle Partner in der Sicherheit werden zu lassen ist das beste alternative Sicherheitskonzept. ({36}) In diesem und im vorigen Jahr haben wir zweier großer Deutscher gedacht. Ich meine Martin Luther und Karl Marx. Ihre Ideen haben Europa und die Welt verändert, aber sie haben auch zu schärfsten theologischen und ideologischen Auseinandersetzungen geführt. Ihre Vorstellungen waren in Bürgerkriegen und in zwischenstaatlichen Kriegen bedeutsam. In diesen Kriegen vermischte sich der Streit um Theologie und Ideologie mit Machtfragen. Der Friedensschluß am Ende des Dreißigjährigen Krieges beendete eine Periode von Religionskriegen, in der auch Großmachtinteressen eine erhebliche Rolle spielten. Unter diesen Kriegen hat Europa schwer gelitten. Deutschland hat sich, genau betrachtet, von diesen Kriegen nie wieder völlig erholt. Der Ost-West-Konflikt als der große Macht- und Systemkonflikt unserer Zeit teilt Europa, spaltet Deutschland und Berlin. Würde dieser Konflikt in Mitteleuropa zu einem neuen Krieg führen, wären all unsere Möglichkeiten, in Zukunft um politische, religiöse und moralische Forderungen friedlich zu streiten, zerstört. Wir brauchen deshalb einen neuen Westfälischen Frieden zwischen Ost und West ohne vorausgegangene Religionskriege. ({37}) Verdächtigen Sie dieses Konzept, diese langfristige Perspektive der Sicherheitspartnerschaft nicht als Anpassung! Das ist es wahrlich nicht. Es ist ein Konzept der Friedensgestaltung in Europa. Der Macht- und Systemwettbewerb zwischen Ost und West wird noch lange bleiben. Es ist aber die Aufgabe von uns allen und von uns Deutschen insbesondere, diesen Konflikt zumindest in Europa so weit wie möglich zu entmilitarisieren, damit dieser Voigt ({38}) Konflikt friedlich ausgetragen und damit gleichzeitig produktiv gewendet werden kann. Dieses friedenspolitische Ziel ist revolutionär, ist aber nicht in einem Akt, sondern nur in einem langen, von Rückschlägen nicht freien Prozeß zu erreichen. Meiner Meinung nach ist dafür die Fortsetzung der Entspannungspolitik - dieser Begriff ist bisher von keinem Vertreter der Koalitionsparteien oder der Regierung in dieser Debatte gefallen - und die Vertiefung und Erweiterung der bisherigen Vertragspolitik durch ein Konzept, das wir Sozialdemokraten als Sicherheitspartnerschaft bezeichnen, für die nächsten Jahre am tragfähigsten. Um diese Auseinandersetzung geht es, um diese Zielsetzung geht es. Dem haben Sie bisher nur traditionelle Konzepte, traditionelle Abschreckung und damit auch nur ein traditionelles Konzept der vorrangig militärischen Sicherung des Friedens entgegenzusetzen. Das ist nicht genug, das ist, auf Dauer gesehen, eher gefährlich. ({39})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kelly.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will zuallererst sagen, daß wir die GRÜNEN, leider auch keine Zwischenfragen zulassen können, wenn wir insgesamt sieben bis acht Minuten haben, um hier antworten zu dürfen. Das sollte Herr Wörner verstehen, der unbegrenzte Redezeit hat. ({0}) Ich möchte bitte Herrn Wörner ganz kurz erklären, daß niemand anders als Paul Warnke, Verhandlungschef bei SALT II, die Pershing II als Erstschlagwaffe bezeichnet hat, auch bei einem Gespräch mit den GRÜNEN, weil diese Waffe die militärischen Nervenzentren im westlichen Teil der Sowjetunion ausschalten kann. Darum geht es, Herr Wörner, um die Enthauptung der Sowjetunion, nicht um die Zerstörung der Interkontinentalraketen. Nummer zwei. Die SS 20 ist in der Lage, große Verwüstungen in ganzen Städten anzurichten. Damit kann man keinen „protracted", begrenzten nuklearen Krieg als Option, wie Herr Weinberger ihn möchte - sogar in seinem Konzept; das können Sie nachlesen -, führen. So einen begrenzten Atomkrieg können Sie mit SS-20-Waffen, die einen weit größeren Schaden anrichten als die Pershing II, die eigentlich nur die Nervenknotenzentren durchbricht, nicht führen. Bitte, Herr Wörner, erinnern Sie sich daran, daß der grundlegende Unterschied in der Wichtigkeit der Potentiale der ist, daß die SS20-Potentiale die Vereinigten Staaten nicht erreichen können. ({1}) Pershing II und Cruise Missiles aber auf die Sowjetunion zielen. - Natürlich, uns auch. Aber Sie vergessen immer, die Waffen auf westlicher Seite aufzuzählen, die auf die Sowjetunion zielen. Die Frage ist eigentlich: Lieber tot oder Massenmörder werden, Herr Wörner? Deswegen ist es auch sehr interessant, daß Sie nicht vom Ersteinsatz von Atomwaffen auf NATO-Seite sprechen, wenn es zu einem konventionellen Übergriff der Sowjetunion kommen sollte. Das ist die Ethik und die Moral, von der wir sprechen, weil wir nirgendwo, in keinem Block einen Ersteinsatz von Atomwaffen dulden. Das abschließende Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens vom 6. September ist ein edles Dokument, dem wir eigentlich in sehr vielem zustimmen können. Doch diese schriftlichen Bekundungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit haben wenig Wirkung, wenn die politische Realität in Europa, die Knautschzone der atomaren Supermächte, aus vielen unauflöslichen blockgebundenen Widersprüchen besteht. Herr Wörner, Sie sprechen viel von dem „Wir" in der NATO. Aber bestand das „Wir" in der Kuba-Krise 1961, als Präsident Kennedy Atomwaffen einsetzen wollte, ohne die NATO-Partner zu konsultieren? Bitte lesen Sie nach, was sein Bruder Robert Kennedy dazu geschrieben hat, wenn Sie über das „Wir" in der NATO sprechen, wo das „Wir" eigentlich kaum noch besteht. ({2}) Alle Vertreter der Teilnehmerstaaten betonten die Bedeutung der Durchführung der Bestimmungen und der Achtung aller Prinzipien der Schlußakte. Doch ich frage mich, wie ernst das zu nehmen ist, wenn innerhalb beider Militärblöcke in den Hinterhöfen beider Supermächte wie auch bei uns in Europa, sei es Türkei oder Nordirland, sei es Polen oder Tschechoslowakei, viele Menschen auf Grund ihrer Überzeugungen im Gefängnis sitzen, viele von ihnen seit Jahren ohne Anklage oder Prozeß. Die Formen der Repression und ihre Folgen sind von Land zu Land, von Block zu Block verschieden. Doch über Menschenrechtsverletzungen im eigenen Lager wird auf beiden Seiten geschwiegen. ({3}) Herr Wörner, Sie sagen, wer Mauern baut, beeinträchtige das friedliche Zusammenleben. Herr Wörner, es gibt eine Mauer, die wir nicht hinnehmen: das ist die zwischen der BRD und der DDR. Aber auch die Mauer zwischen Nord- und Südkorea nehmen wir nicht hin, auch nicht die Mauer, die zwischen Nord- und Südirland gezogen wird. Diese Mauern lassen Sie in Ihrer Rede allerdings aus. Die Teilnehmerstaaten der KSZE-Konferenz verurteilen hoch und heilig den - ich zitiere Terrorismus, einschließlich des Terrorismus in internationalen Beziehungen, da er das Leben unschuldiger Menschen bedroht oder vernichtet oder in anderer Weise Menschenrechte und Grundrechte gefährdet ... Die Teilnehmerstaaten wollen entschiedene Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung ergreifen. Doch sie selber betreiben durch Drohung mit MasFrau Kelly senvernichtungswaffen den atomaren Terrorismus und halten ganze Völker als ihre Geisel. ({4}) Sie verletzen damit ständig das Völkerrecht und verhalten sich kriminell. Und wenn die NATO weiterhin mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen droht, auch bei konventionellen Überfällen, so verhält auch sie sich kriminell. Wenn Sie das nicht begreifen, Herr Wörner, dann lesen Sie bitte einmal bei Albert Einstein, Albert Schweitzer oder Günther Anders nach. Frau Hamm-Brücher sprach über Alternativen zur Abschreckung. Doch, Herr Wörner, wo bleiben denn die Denkanstöße? - Herr Wörner, als Mitglied der Regierung, haben Sie, glaube ich, auch zuzuhören und zur Kenntnis zu nehmen, was die Friedensbewegung hier zu sagen versucht. ({5}) Als Frau Hamm-Brücher über diese Alternativen sprach, bemerkte ich kein Klatschen auf dieser Seite des Hauses. Im übrigen gehe ich davon aus, daß man auf dem bevorstehenden Hearing des Verteidigungsausschusses über Alternativen nur sehr wenig sagen und nur über Alternativen innerhalb der NATO-Doktrin reden wird. - Herr Wörner, ich spreche jetzt wirklich zu Ihnen. - Herr Wörner, ich möchte Sie fragen: Welche vorhandene Waffe rüstet die NATO in diesem Herbst ab, wenn es zu keiner Nachrüstung kommt? Welche vorhandene Waffe auf seiten der NATO rüsten wir ab? Ich spreche nicht von den Waffen auf dem Papier, die Sie bald stationieren wollen, sondern ich frage noch einmal: Welche vorhandene Waffe von den land-, see- und luftgestützten Systemen, die auch die Sowjetunion zur Zeit bedrohen, rüsten wir ab? Denn Sie lassen diese alle außer acht. Ich möchte hier also eine klare Antwort auf die Frage, welche Waffe, die jetzt schon vorhanden ist, wir jetzt abrüsten. ({6}) Sie sprechen zwar immer von den vorhandenen Waffen der anderen Seite, die Sie auf absolut Null reduzieren wollen, aber Sie sagen nicht, welche Poseidon-, Polaris-Raketen, welche landgestützten Systeme der Franzosen und der Briten, welche luft- und seegestützten Systeme wir abrüsten. Ich möchte dazu eine Antwort. ({7}) Sie, Herr Wörner, bezeichnen den Verzicht auf ein neues Waffensystem, den Verzicht auf die Pershing II- und Cruise-Missiles-Systeme, die Sie gar nicht als Erstschlagswaffe einstufen, als Wehrlosigkeit - den Verzicht auf ein Waffensystem! Zugleich betonen Sie, wie groß das Overkill auf beiden Seiten ist, das man nicht „töter als tot" sein kann, doch der Verzicht auf ein Waffensystem ist für Sie Wehrlosigkeit. Ich möchte bitte hierzu eine ethische, moralische Antwort. Denn die Worte „Grundfreiheiten", „Frieden" und „Menschenrechte" kommen in dem Dokument und auch in der Rede von Herrn Genscher am 7. September ständig vor. Doch schwere Schatten liegen über diesen Bekundungen. Auf der einen Seite beunruhigt uns der neueste Amnesty-International-Bericht über die „Einschränkung der Meinungsfreiheit in der DDR" sehr, auf der anderen Seite finde ich es nicht besser, wenn Mitglieder dieser Regierung selbstgefällig auf eine von der Polizei ungestörte, gewaltfreie Blokkade in Mutlangen hinweisen und zugleich ihre Empörung wegen der Verhaftungen von DDR-Bürgern äußern, die vor den Botschaften der Supermächte mit brennenden Kerzen demonstrieren wollten, aber kein Wort darüber verlieren, daß die Polizei in Bitburg fast zur selben Zeit mit Wasserwerfern und Hunden auch bei uns - auch gegenüber Bundestagsabgeordneten, die gewaltfrei reagiert haben - absolut unverhältnismäßig reagiert hat. ({8}) Amerikanische Freunde, die in Bitburg mit uns demonstriert haben, haben den Einsatz von Wasserwerfern und Polizeihunden mit Mississippi 1963 verglichen. - Herr Wörner, vielleicht sollten Sie doch noch zuhören. Denn in drei Tagen werden einige Abgeordnete der GRÜNEN, u. a. auch ich - vielleicht ist das auch sehr subversiv -, zu dem USWar-College in die Vereinigten Staaten reisen. Dort haben sich 180 Atomoffiziere bereit erklärt, mit uns die Sicherheitspolitik der GRÜNEN, wie wir sie sehen, zu diskutieren. Vielleicht sollten Sie, Herr Wörner, die Kasernen öffnen und die GRÜNEN und die Friedensbewegung einladen, auch mit den Offizieren und Soldaten der Bundeswehr zu diskutieren. ({9}) Natürlich wissen wir, daß es unseren Freunden in der DDR sehr schwer gemacht wird, einseitige Abrüstung auch im Osten zu fordern. Doch auch die Berufsverbotspraxis in unserem Lande, ihre zunehmende Anwendung gegen Unterzeichner von Abrüstungsappellen, die Verschärfung des Demonstrationsrechtes, die Diffamierung und Verurteilung der Friedensbewegung seit vier Jahren - an der auch, leider, die SPD lange mitgewirkt hat - sowie die beschriebene Politik von Herrn Zimmermann sind wahrlich keine Vorbilder für Demokratie und menschenwürdige Politik im KSZE-Geiste. ({10}) Wenn die Herren Politiker, ob Herr Reagan, Herr Andropow, Herr Kohl oder Herr Honecker in West und Ost auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit bewahren wollen, dann dürfen sie die Friedensbewegung, die einseitige konkrete Abrüstungsschritte anstrebt, in ihrem eigenen Land nicht länger als von der anderen Seite lanciert diffamieren. ({11}) Wenn ich im Sinne der KSZE-Erklärung hiermit auch Herrn Honecker aufrufe, in der DDR endlich zuzulassen, was er hierzulande bejubelt, dann forderte ich ebenso Herrn Kohl und Kompanie auf, endlich zu begreifen, daß wir mit unserem gewaltfreien Widerstand, mit unserem zivilen Ungehorsam - den Sie, Herr Wörner, in diesem Herbst und diesem Winter und auch im nächsten Jahr erleben werden - in der Tradition von Martin Luther King und Mahatma Gandhi nicht Gewalt anwenden, wie Herr Engelhard meint, sondern endlich das Nein zu Krieg, zu Aufrüstung und Militarisierung auf diesem deutschen und europäischen Boden aussprechen. ({12}) Dieses Nein war weder 1914 noch 1933 noch 1939 zu hören. Auf die Frage, „Wollt ihr den totalen Krieg?", wurde 1943 tausendstimmig „Ja" gebrüllt. ({13}) 40 Jahre später fragt man uns aber nicht einmal „Wollt ihr die totale Aufrüstung und Nach- und Nachrüstung?", sondern man entscheidet über diese Köpfe einfach hinweg. ({14})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete Kelly - Frau Kelly ({0}): Ich frage Sie, ob das Prinzip der Abstimmung neben dem der Wahl - Artikel 20 des Grundgesetzes - als gleichrangig anzusehen ist? Wo bleibt das langentbehrte Instrument, das über eine unverbindliche und deshalb halbherzige Volksbefragung prinzipiell hinausgeht? ({1}) Wo bleibt die politische Diskussion in diesem Haus -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete Kelly, ich muß Sie unterbrechen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich schließe den Satz noch ab. Wo bleibt die politische Diskussion in diesem Haus, mit dieser Regierung, über das nicht verhandelbare, ({0}) nicht abstimmbare Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Herr Wörner, auch im Grundgesetz? Wo bleibt die Diskussion zu der Unvereinbarkeit von Rechtsstaat und Atomstaat? Ich kann dies hier nicht zu Ende führen. Die Zwischenrufe sind höchst höflich. - Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu dem komme, was ich in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen will, möchte ich zwei Vorbemerkungen machen. Die eine bezieht sich auf Frau Kelly, die von der Diffamierung der Friedensbewegung in der Vergangenheit durch die SPD gesprochen hat. Ich will Ihnen hierzu eines sagen. Es war auch nicht immer schön, was aus Teilen der Friedensbewegung und von Ihnen in bezug auf die Friedenspolitik der SPD und ihre Zielsetzung, die sie mit dem NATO-Doppelbeschluß verbunden hat, gesagt worden ist. ({0}) Das war eine Sache, die die friedenspolitische Debatte keineswegs bereichert oder befruchtet hat. Ein zweiter Punkt bezieht sich auf Minister Wörner. Herr Minister, Sie haben eine Sache vergessen, als Sie Herrn von Weizsäcker zitiert haben. Herr Professor von Weizsäcker ist in dem von Ihnen beschriebenen Zusammenhang nicht zitierfähig, wenn Sie nicht gleichzeitig miterwähnen, ({1}) wie intensiv und grundsätzlich er sich für eine Stationierung von Mittelstreckenwaffen auf U-Booten einsetzt, ({2}) weil er - ich wiederhole das noch einmal, es ist ja deswegen nicht falsch - erhebliche grundsätzliche Bedenken gegen die Stationierung solcher Systeme mitten auf dem westeuropäischen Festland hat. Wenn Sie dies vergessen, sollten Sie Herrn von Weizsäcker nicht zitieren. ({3}) Es ist hier in dem Zusammenhang hinzuzufügen, daß Mittelstreckenraketen in Westeuropa, die im NATO-Doppelbeschluß als Instrumente, Verhandlungsdruck zu erzeugen, gedacht waren, natürlich noch lange nicht den einzigen überhaupt denkbaren Weg zur Sicherung von Gleichgewicht darstellen. Wenn Sie dies behaupten, dann täuschen Sie über die tatsächlichen Sachlagen und über die tatsächlichen Möglichkeiten hinweg. ({4}) Deswegen bitte ich darum, daß man die Sache hier etwas weniger dogmatisch betrachtet und tatsächlich auch einmal auf die ganzen Möglichkeiten Bezug nimmt, die es tatsächlich gibt. Ich will die Berücksichtigung der britischen und der französischen Systeme, was wir ja fordern, in den Mittelpunkt stellen. Ich will unsere Forderung noch etwas ausführlicher begründen und verdeutliDr. Scheer chen. Sie stellen diese Forderung immer als eine allein sowjetische Forderung hin, und zwar als Versuch, eine Verhandlungslösung zu torpedieren. Wer sich bei uns für eine Berücksichtigung dieser Nuklearwaffen bei den Verhandlungen einsetzt, der wird von Ihnen leichthin als Erfüllungsgehilfe sowjetischer Politik angeschwärzt. Statt deutsche Interessen innerhalb des Bündnisses zu vertreten und die ernstesten Bemühungen zu unternehmen, um durch die Berücksichtigung dieser Drittstaatensysterne Schneisen für einen Weg hin zu einer Verhandlungslösung zu schlagen, übernehmen Sie die Argumente der britischen und der französischen Regierung, die zwar aus deren Sicht verständlich sind, die aber für unser Land als Mitglied der NATO nicht das letzte Wort bleiben dürfen. Das gilt vor allem, wenn man daran denkt, daß die Zielsetzung des NATO-Doppelbeschlusses eine atomare Rüstungsbegrenzung in und für Europa ist. Sie übersehen dabei wider besseres Wissen, daß die Berücksichtigung der britischen und der französischen Nuklearwaffen vom SPD-Bundesparteitag 1982 mit der Stimme von Helmut Schmidt beschlossen wurde oder schon vom ehemaligen amerikanischen SALT-Chefunterhändler Warnke gefordert wurde, bevor es ähnliche sowjetische Forderungen gab. Bei Ihrer Ablehnung der Einbeziehung dieser Systeme benutzen Sie darüber hinaus bewußt falsche oder fadenscheinige Argumente. Würden Sie sagen, die Einbeziehung in das Verhandlungsspektrum stoße gegenwärtig bei den betroffenen Bündnispartnern auf Schwierigkeiten und bewirke Reibungen im Bündnis, die Sie aus einer gesamtpolitischen Abwägung zur Zeit nicht riskieren wollen, dann würde ich dieses Argument zwar nicht als ausreichend betrachten, aber man könnte es würdigen. Statt dessen aber versteifen Sie sich von sich aus - das ist das Bemerkenswerte! - auf Positionen, die es den britischen und den französischen Bündnispartnern geradezu verbieten müßten, die Berücksichtigung ihrer Nuklearwaffen zu akzeptieren. ({5}) Ich will ein Beispiel für ein falsches Argument nennen. Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher haben im Fernsehen mehrfach lauthals erklärt, die britischen und die französischen Nuklearwaffen seien bei SALT II bereits berücksichtigt, und man könne sie deshalb nicht zweimal zählen. ({6}) - Bei SALT II. - In einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage - übrigens eines Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion - erklärte die Bundesregierung am 15. Juli - deswegen haben Sie sich vermutlich auf eine Zwischenfrage vorbereitet, Herr Kollege Mertes - kleinlaut: Die Bundesregierung kann nicht bestätigen, daß in den SALT-Abkommen britische und französische Nuklearsysteme veranschlagt sind. ({7}) Sie bestätigen also selbst, daß der Bundeskanzler und der Außenminister die Bürger in dieser Frage monatelang getäuscht haben. ({8}) Dies ist unverantwortlich, denn Ihre Falschbehauptungen geistern bis heute in der politischen Landschaft herum und reichen sogar bis hinein in die Pressekommentare.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Dr. Scheer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgordneten Werner?

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich führe das jetzt zu Ende, weil ich leider nicht mehr viel Zeit habe. Herr Wörner hat viel zu viel Zeit von der gesamten Debatte in Anspruch genommen. ({0}) In Ihrer Ablehnung der Berücksichtigung der Drittstaatensysteme erklären Sie darüber hinaus fortlaufend, diese könnten keine Anwendung finden, weil es sich dabei um strategische und nicht um Mittelstreckenwaffen handle. Aber der Gegensatz von Mittelstreckenwaffen sind Langstreckenwaffen. Der Maßstab ist dabei die Reichweite. Sie setzen unvergleichbare Begriffe nebeneinander. ({1}) - Hören Sie einmal zu. - Von der Reichweite her handelt es sich aber bei dem Drittstaatensystem um Mittelstreckenwaffen und um nichts anderes. ({2}) - Moment. - Wenn diese Mittelstreckenwaffen für Frankreich und Großbritannien strategische Bedeutung haben, dann haben amerikanische Mittelstreckenwaffen in Westeuropa vielleicht nicht für die Vereinigten Staaten, aber sehr wohl für uns selbst natürlich nichts anderes als eine strategische Bedeutung. Mißt man den amerikanischen Mittelstreckenraketen auf unserem Territorium keine strategische Bedeutung zu - wie Sie es tun - dann ist das verräterisch. Sie geben damit nämlich zu, daß diese Waffen aus dem Verbund der strategischen Kernwaffen herausgelöst sein sollen und für Washington lediglich eine operative Bedeutung für eine möglicherweise stattfindende regionale atomare Kriegführung haben können. ({3}) Solche Vermutungen weisen Sie aber ständig zurück. Ich bitte Sie ernsthaft, diesem Gedankengang zu folgen; denn das ist ein Gedankengang, der sich durch Ihre immer wieder vorgetragenen Argumente aufdrängt. ({4}) Im übrigen sage ich dazu: Welcher Bürger soll eigentlich Ihre Begriffsklauberei noch verstehen, wenn er andererseits die Existenz konkreter Waffen sieht und durch Rüstunsbegrenzungsverhandlungen in und für Europa konkrete, sichtbare Waffen begrenzt haben will? ({5}) - Ich beziehe mich auf eine Verhandlungslösung, durch die auch SS 20 reduziert werden. Sie erklären - jetzt kommt ein weiteres Argument; ich bitte Sie, darüber nachzudenken, denn es geht hierbei um unser aller Interesse -, ({6}) die britischen und französischen Waffen seien lediglich eine Ultima ratio, ein allerletztes Mittel der atomaren Verteidigung beider Länder und dürften auch deshalb nicht angerechnet werden. Aber auch dieser Satz ist verräterisch. ({7}) Das heißt dann j a, daß amerikanische Mittelstrekkenwaffen auf deutschem Boden nicht das allerletzte Mittel einer Verteidigung wären, ({8}) sondern auf jeden Fall für einen frühzeitigeren Einsatz vorgesehen würden. Das ist sprachliche Logik und keine Unterstellung. Wie wollen Sie darüber hinaus eigentlich den Widerspruch auflösen, der darin besteht, ({9}) daß einerseits diese Drittstaaten-Atomraketen nur der autonomen Verteidigung unserer Bündnispartner dienen sollen, diese andererseits aber - wenn auch in unterschiedlicher Form - erstens Mitglied der NATO sind, zweitens an der Entstehung des NATO-Doppelbeschlusses unmittelbar beteiligt waren und drittens gleichzeitig erklären, ihr Potential sei - wörtlich - Bestandteil der gemeinsamen westlichen Abschreckung? So in Williamsburg gemeinsam beschlossen. Sie sagen, die Forderung nach Einbeziehung dieser Waffen in das Verhandlungsspektrum spalte die NATO. Ich behaupte: Bleibt diese Frage außen vor, wird die NATO von den Fakten gespalten, ({10}) weil hier mit unterschiedlichen Maßstäben an das Problem herangegangen wird und weil Ihre Argumentation den französischen und britischen Bündnispartnern kein gutes Zeugnis für ihre Bündnistreue ausstellt. Das ist der Punkt, um den es geht. ({11}) Ich hebe das hervor, um auf Ihre Widersprüche aufmerksam zu machen. ({12}) Merken Sie bei Ihrer Feststellung, allein die Vereinigten Staaten übernähmen für uns eine nukleare Abschreckungsgarantie ({13}) - ich bin gleich fertig - nicht, daß Sie damit indirekt Großbritannien und Frankreich für ihren Bündnisbeistand kein gutes Zeugnis ausstellen? ({14}) Sie sagen immer wieder öffentlich, die Zahl der britischen und französischen Nuklearraketen sei so gering, daß man sie - wie Herr Kohl es ausdrückte - vergessen könne. Warum ist dann aber - das ist mein letztes Argument in dem Zusammenhang - das sowjetische Angebot in Ihren Augen völlig unzureichend, die Zahl der sowjetischen Mittelstrekkenwaffen auf die Zahl der britischen und französischen zurückzuschrauben, wenn die Zahl doch so unbedeutend ist? Ich sage nur - und damit schließe ich ab -: Würden Sie auch nur ein bißchen der Energie, die Sie aufwenden, um Lösungsvorschläge zurückzuweisen und Ausreden zu finden, dafür aufwenden, Lösungsvorschläge selbst zu produzieren oder unsere Lösungsvorschläge für Kompromisse zu akzeptieren, dann wären wir ein großes Stück weiter für einen Verhandlungserfolg. Das tun Sie aber nicht. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die fortgeschrittene Zeit verbietet es mir, in der Sache eingehend auf die Punkte zurückzukommen. Ich will deshalb schlagwortartig ein paar Antworten geben. Herr Kollege Scheer, wenn ich mich recht entsinne, war in den Gesprächen, die der damalige Bundeskanzler und der Außenminister mit Herrn Breschnew anläßlich dessen Besuchs 1980 hier gehabt haben, deutlich geworden, daß damals von sowjetischer Seite die englischen und französischen Raketen nicht einbezogen waren. Es mag damals die noch größere Feinfühligkeit der Sowjetunion gegenüber Frankreich eine Rolle gespielt haben. Ob das heute noch so ist, will ich durchaus beiseite lassen. Es ist feststellbar, daß, nachdem die Debatte über diese Fragen bei uns schärfer geworden ist, auch die Forderung von sowjetischer Seite ständig erneuert wurde; denn als ich im Oktober 1981 in Kiew bei einem deutsch-sowjetischen Gespräch über diese Dinge sprach, spielten die englischen und französischen Raketen noch keine Rolle. GeMischnick sprächspartner auf der anderen Seite war Herr Falin.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Scheer?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Könnten Sie bestätigen, daß sich die Positionen möglicherweise deshalb geändert haben, weil es inzwischen britische und französische Zuwachsrüstungen gibt, die bis Ende der 80er Jahre auf eine Größenordnung ansteigen, die über dem gegenwärtigen sowjetischen SS-20-Potential läge? Könnten Sie vielleicht gleichzeitig auch noch mit bestätigen, daß es auch in unserem Interesse liegen könnte, diese Systeme zu berücksichtigen, weil wir eine Kontrolle in Europa überhaupt in der Frage der nuklearen Rüstung haben wollen?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann nicht bestätigen, daß damit ein größeres Potential als mit der SS 20 entstünde. Ich bin gern bereit mit Ihnen einer Meinung zu sein, daß die Einbeziehung aller Raketen in die weiteren Verhandlungen und auch die Ausweitung der bestehenden Vereinbarung über strategische Raketen erfolgen sollte, aber dies eben nicht unter dem Gesichtspunkt, damit die Genfer Verhandlungen zu belasten. Man sollte sie in die europäische Abrüstungskonferenz einführen und damit die Gesamtfragen weiter diskutieren. Dies sähe ich als einen sinnvollen Weg an. ({0}) Ich möchte folgendes hinzufügen, um diese mehrfach gestellte Frage ganz klar zu beantworten. Der Bundesaußenminister hat nach seinem Gespräch mit Gromyko davon gesprochen, daß die Sowjetunion diese englischen und französischen Raketen sowohl als Interkontinentalwaffe als auch als Mittelstreckenwaffe wertet. Dasselbe ist durch den stellvertretenden Außenminister geschehen. Diese Fakten sind unbestreitbar. ({1}) Frau Kollegin Kelly, Sie haben davon gesprochen, daß Herr Weinberger den begrenzbaren Krieg möchte. ({2}) - Möchte! Frau Kollegin Kelly, sind Sie sich im klaren darüber, daß Sie mit dieser Formulierung unterstellen, daß er persönlich den atomaren Krieg will? Dieses weise ich mit aller Härte und Deutlichkeit zurück! ({3}) - Wenn Sie sich ,korrigieren wollen, herzlich gern.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine Zwischenfrage der Abgeordneten Kelly.

Petra Karin Kelly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Mischnick, ich lasse Ihnen das Dokument sehr gern zukommen. Es ist das Dokument über den „protracted nuclear war", in dem Herr Weinberger sagt, wenn es darauf ankommt, den Ersteinsatz von Atomwaffen mit einzubeziehen, so müßte er auch das mit einkalkulieren. Ich frage Sie, ob Sie dieses Dokument kennen, ja oder nein. Wenn nicht, schicke ich es Ihnen gern zu.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie können es mir gern noch einmal zuschicken. Aber den Inhalt kannte ich. Nur: Daraus zu unterstellen, daß er den Erstschlag möchte, das ist doch genau die Weiterentwicklung im negativen Sinn, die ich ablehne. ({0}) Sie haben weiterhin davon gesprochen: Wir sind gegen alle Mauern. - Das sind wir auch. Wir sind in allen Bereichen gegen alle Mauern. Ich würde aber auch Menschenmauern darunter rechnen, die als gewaltfrei gelten, aber andere Menschen an Ihrer Bewegungsfreiheit hindern. Daran sollten Sie bitte auch denken. ({1}) Sie sagten, hier spreche die Friedensbewegung. Wir sind alle Friedensbewegung, weil unsere gesamte Politik auf Frieden abgestellt ist. ({2}) Herr Kollege Voigt, Sie haben davon gesprochen, der Herr Außenminister sei kein guter Außenminister, sondern ein schlechter Außenminister und haben dabei auf die Auseinandersetzungen über die Formulierungen über das Gespräch mit Herrn Gromyko angespielt. Der Herr Kollege Ehmke hat heute früh seinen Dank und seine Anerkennung für die Erfolge bei KSZE ausgesprochen. Es wäre gut, wenn Sie sich auch in dieser Frage einigen, was richtig oder falsch ist. ({3}) Es ist der Vorwurf erhoben worden, von Entspannung werde nicht mehr geredet. Herr Kollege Voigt, Sie müssen überhört haben, was Frau Kollegin Hamm-Brücher hier mehrfach gesagt hat. ({4}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie das, was ich ab und zu sage, auch ab und zu zur Kenntnis nehmen, werden Sie feststellen, daß der Begriff Entspannung bei mir nicht gestrichen ist, sondern daß ich ihn voll weiterverwende. ({5}) Zum Abschluß - meine Zeit ist abgelaufen - werde ich noch eine kurze Bemerkung zum Kollegen Ehmke machen müssen. Herr Kollege Ehmke, Sie haben heute früh ein klassisches Eigentor verursacht, wie man beim Fußball sagen würde. Sie sprachen nämlich von dem hohen Ansehen, das der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt - das ist für mich unbestreitbar - in der Welt hatte und hat. Ich bedaure, daß sich das noch nicht bis in alle Gliederungen der SPD herumgesprochen hat. ({6}) Wenn es sich herumgesprochen hätte, käme man nicht auf die Idee, heute von Ihren Kollegen in Hessen wieder zu verbreiten, man habe vor einem Jahr Verrat an Helmut Schmidt begangen, während die Politik von Helmut Schmidt in Wahrheit hier am laufenden Band verraten wird. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, bevor ich die Debatte schließe, möchte ich gern eine Bemerkung über den Ablauf machen. Erstens. Es gab eine Zeitvereinbarung im Ältestenrat und eine Redezeitvereinbarung zwischen den Geschäftsführern. Zweitens. Der Bundesminister der Verteidigung hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, an keine Redezeit gebunden zu sein. Drittens. Eine Folge davon war, daß wir, um einer Fraktion die Beteiligung an der Debatte nicht zu verwehren, die vereinbarte Zeit nicht einhalten konnten, sondern darüber hinausgingen. Viertens. Es ist versucht worden, bei der Berücksichtigung aller Debattenteilnehmer großzügig zu verfahren. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. September 1983, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.