Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich folgende amtliche Mitteilungen zur Verlesung bringen: Der Abgeordnete Heyenn hat sein Amt als Schriftführer niedergelegt. Ich danke ihm für die gute Zusammenarbeit.
Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger für das Amt des Schriftführers den Abgeordneten Hiller ({0}) vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete Hiller zum neuen Schriftführer gewählt.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache über den Entwurf des Haushaltsgesetzes 1987 und den Finanzplan des Bundes 1986 bis 1990 - Drucksachen 10/5900 und 10/5901 - fort.
Die Aussprache soll heute etwa gegen 19 Uhr beendet werden. Eine Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesregierung und Bundestag stehen vor dem Abschluß einer Legislaturperiode, die zu den erfolgreichsten der Nachkriegsgeschichte gehört.
({0})
Das Deutsche Volk lebt in Frieden und westlich der Teilungsgrenze zugleich in gesicherter Freiheit.
({1})
Das verdanken wir vor allem der Atlantischen Allianz, zu deren Festigung diese Bundesregierung entscheidend beigetragen hat.
({2})
Die deutsche Wirtschaft hat ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit beträchtlich erhöhen können. Totale Geldwertstabilität, steigende Realeinkommen und verbesserte Sozialleistungen, die ich nachher im einzelnen aufzählen werde,
({3})
haben zu einem Wohlstand geführt wie nie zuvor in der Geschichte. Wir haben dazu durch unsere Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die Weichen gestellt, meine Damen und Herren.
({4}) Aber es gibt auch Defizite.
({5})
Sie liegen nicht, wie Sie vermuten, im materiellen Bereich.
({6})
Besorgniserregend, meine Damen und Herren, ist mangelnder Respekt vor dem Leben, insbesondere vor dem ungeborenen Leben.
({7})
Wir haben die Rahmenbedingungen für Kinder, Mütter und Familien verbessert und werden es weiter tun.
({8})
In keiner Aufgabe können wir Christlich-Sozialen und Christlichen Demokraten uns eher wiederfinden als in dieser.
({9})
Aber meine Damen und Herren, das reicht nicht.
({10})
Notwendig ist vor allem bei Ihnen - aber nicht nur bei Ihnen - ein Bewußtseinswandel,
({11})
der die Verantwortung für das Leben und die Freude an Kindern wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückt.
({12})
Ich habe den Eindruck, daß dieser Bewußtseins-wandel in der jungen Generation bereits begonnen hat.
Ein zweites Defizit, das beklagenswert ist, sind Geschichtslosigkeit und daraus erwachsende Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Nation.
({13})
Meine Damen und Herren, ohne einen elementaren Patriotismus, wie er für andere Völker selbstverständlich ist, wird auch unser Volk nicht überleben können.
({14})
Wer die Vergangenheitsbewältigung, die gewiß notwendig war, dazu mißbraucht, unser Volk zukunftsunfähig zu machen, dem muß widersprochen werden.
({15})
Die deutsche Nation wurde nicht 1933 gegründet, und sie wurde auch nicht 1945 beerdigt. Unsere Gründungsväter sind nicht Himmler und Hitler, sondern, wenn wir das Gesamtbild unserer Geschichte ins Auge fassen, sind es Karl der Große und Otto der Große, die in Aachen und Magdeburg ihre letzte Ruhe gefunden haben.
({16})
Niemand sollte sich in Ost und West einbilden, daß Aachen und Magdeburg, daß die Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze auf Dauer gespalten werden könnten, meine Damen und Herren. Wir halten fest an der Einheit der Nation und am Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes.
({17})
Besorgt machen uns schließlich terroristische und Demonstrationsgewalttaten, die auf Menschenleben keinerlei Rücksicht nehmen und sich voller Haß gegen unseren demokratischen Staat richten. Gerade wir, die Union, haben davor seit Jahren gewarnt, ohne für unsere Vorschläge bei den anderen demokratischen Parteien das notwendige Verständnis zu finden.
({18})
Wir sagen das ohne jede Rechthaberei. Wir möchten nur darum bitten, im Lichte der gemachten Erfahrungen unsere Vorschläge noch einmal zu überprüfen.
Anderer Natur, aber von nicht geringerer Bedeutung ist unsere Besorgnis über die innere Entwicklung der SPD.
({19})
Ich bin sicher, daß die Verwirklichung des Programms, das Sie in Nürnberg beschlossen haben, die Arbeitsplätze in unserem Lande ebenso wie die Sicherheit der Republik gefährden würde.
({20})
Es gibt bedeutende Sozialdemokraten, die nicht in dieser Fraktion sitzen,
({21})
die aber - auch das ist bemerkenswert - diese Sorge mit uns teilen.
({22})
Meine Damen und Herren, ehe wir uns diesen und anderen Fragen sicherlich kontrovers zuwenden, empfiehlt es sich, zunächst Unbestreitbares, nämlich die Ergebnisse der deutschen Politik in den drei Nachkriegsperioden, miteinander zu vergleichen. Es handelt sich um statistische Daten, die daher unbestreitbar sind.
Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, Herr Kollege Brandt, übernahm 1969 nach 20 Jahren unionsgeführter Bundesregierungen folgendes Erbe:
({23})
Nur 200 000 Menschen, 0,8 %, waren als Erwerbslose gemeldet. Das war, wenn es das überhaupt geben sollte, extreme Vollbeschäftigung. Die Geldentwertungsrate betrug 1969 2 %. Das war nach internationalen Maßstäben Geldwertstabilität. Das reale Wirtschaftswachstum betrug 1969 real 7,5%.
({24}) Auch das war international Spitze.
({25})
Die öffentlichen Haushalte hatten 1969 kein Defizit, sondern einen Überschuß von 2,5 Milliarden DM. Der finanzielle Handlungsspielraum des Staates war nicht wie jetzt durch Zinslasten beeinträchtigt.
({26})
Die Investitionsquote der Volkswirtschaft betrug 1969 26,1 %. Das war zukunftssichernd.
({27})
Meine Damen und Herren, in diesen ersten 20 Jahren der Republik hat es wie nachher nicht nur Aufschwünge, sondern auch Belastungen gegeben. Wir sind damals glanzvoll damit fertiggeworden.
({28})
Die Bundesrepublik Deutschland war 1969 ein Vorbild für die Welt.
({29})
Als Sie, meine Damen und Herren von der SPD, 1982 nach dreizehn Jahren - ich muß schon sagen: endlich - abtraten, hatten Sie Deutschland verändert, wenn auch nicht so, wie Sie es versprochen hatten. Aus Vollbeschäftigung war Massenarbeitslosigkeit geworden.
({30})
In den letzten beiden Jahren der Regierung Schmidt hatte sie sich um 106 % verdoppelt. Das war eine negative Spitzenstellung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
({31})
- Es ist unangenehm, das zu hören.
({32})
- Intelligente Zwischenrufe gehören zum parlamentarischen Leben, aber nicht ein Gegrummle wie bei den alten Germanen, die in ihre Schilde dröhnen.
({33})
-- Wenn es Damen tun, ist es nicht schöner.
({34})
- Sie wollen die Wahrheit nicht hören. Ich zähle nur statistische Ergebnisse auf, die unbestreitbar sind.
({35})
- So ist es.
Die Geldentwertungsrate betrug 1982 5,3 %. Sie hatte sich unter sozialdemokratischer Führung fast verdreifacht. Leidtragende waren vor allem die Rentner und Arbeitnehmer mit niedrigen Einkommen, deren Einnahmen real rückläufig waren. Die öffentlichen Haushalte erwirtschafteten 1982 keine Überschüsse mehr, sondern erschreckende Defizite. Die Sozialversicherungssysteme standen vor dem Zusammenbruch. Das Wirtschaftswachstum des Jahres 1969, plus 7,5%, hatte sich in ein sogenanntes Minuswachstum verwandelt. Es ging wirtschaftlich bergab.
({36})
Die zukunftssichernde Investitionsquote der Volkswirtschaft war auf 20 % abgesunken.
({37})
Meine Damen und Herren, dreizehn Jahre sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen haben ausgereicht, um alle Pluspunkte unseres Landes in Minuspunkte zu verwandeln.
({38})
Als Regierungspartei waren Sie 1982 restlos gescheitert.
({39})
Die Regierung Kohl hat seit 1982 an die großen Erfolge der unionsgeführten Bundesregierungen aus der Zeit von 1949 bis 1969 anknüpfen können. Ich nenne sieben große Errungenschaften unserer Politik, die auch von der Statistik belegt werden:
Erstens. Wir sind wieder Weltmeister in Geldwertstabilität. Das Preisniveau ist stabil. In manchen Bereichen sinken die Preise.
({40})
Um einen wichtigen Bereich herauszugreifen: Die von Herrn Jahn von der SPD im Bundestag vorausgesagte Mietenexplosion hat bei unserer Politik natürlich nicht stattgefunden. Im freifinanzierten Wohnungsbau ist der Mietenanstieg von 4,4 % im Jahre 1982 auf jetzt 1,6 % gesunken, meine Damen und Herren. Ihre Voraussagen sind fast immer falsch.
({41})
Auch auf dem Arbeitsmarkt hatten wir Erfolg. Wir konnten die Gesamtzahl der Arbeitsplätze erheblich erhöhen. Wir konnten also nicht nur die Verluste in schrumpfenden Branchen ausgleichen, sondern haben in 1985 und 1986 die Gesamtzahl um mehr als eine halbe Million erhöht. Die Kurzarbeit ist so gut wie beseitigt. Erfreulich ist besonders, daß die Arbeitslosigkeit der unter Zwanzigjährigen gegenüber dem Vorjahr um 12% gesunken ist. Das ist noch nicht Vollbeschäftigung, die Sie, meine Damen und Herren der SPD, verloren hatten.
Ich möchte jetzt den statistischen und daher unbestreitbaren Tatsachenaufzählungen einige Überlegungen anschließen, was getan werden muß, um die von Ihnen verlorene Vollbeschäftigung wiederzugewinnen.
Es gilt, erstens die Investitionslücke aus den 70er Jahren und dem Anfang der 80er Jahre, die wir eingeengt haben, vollends zu schließen. Dazu tragen neuerdings erfreulicherweise auch ausländische Investitionen bei. Ich nehme an, daß Sie das nicht als Ausverkauf der Volkswirtschaft bezeichnen, so ähnlich wie gestern die Privatisierung. Eigenartige Vorstellungen bei Ihnen!
Im ersten Halbjahr 1986 haben sich die ausländischen Direktinvestitionen gegenüber der Vorjahreszeit um 87,5 % auf 3,3 Milliarden DM erhöht. Und, meine Damen und Herren, wenn sie bei der Wahl erst verloren und wir gewonnen haben, dann wird es einen Push nach oben geben, weil die Leute dann Vertrauen haben.
({42})
Was für die Investitionslücke gilt, gilt in gleicher Weise für die Entwicklungslücke in den Bereichen, in denen Sie den technischen Fortschritt politisch
blockiert haben, z. B. in der Kommunikationstechnik.
Meine Damen und Herren, um der Arbeitsplätze willen müssen wir Sie auch daran hindern, sich die Kernenergiewirtschaft als nächstes Opfer auszusuchen.
({43})
Sie haben in Nürnberg nicht nur beschlossen, sie hier zu beseitigen, Sie haben sogar beschlossen, daß keine Kernkraftwerke aus Deutschland mehr exportiert werden dürfen.
({44})
Das ist vor 50 Jahren eine Arbeitnehmerpartei gewesen, meine Damen und Herren.
({45})
Sie treffen damit einen Wirtschaftszweig, in dem wir Weltspitze sind, vor allem was die Sicherheit angeht. Sie sollten schon um der Sicherheit willen unseren Export fördern; denn so sichere Kernkraftwerke, wie wir sie liefern können, werden im Ausland nicht gebaut.
({46})
Mit der Kernenergiewirtschaft würden Sie alle stromintensiven Bereiche der Volkswirtschaft treffen.
({47})
Wir bedauern sehr, daß die Einwendungen der betroffenen Betriebsräte und einsichtiger Gewerkschaftsführer auf Ihrem Parteitag ungehört geblieben sind.
({48})
Meine Damen und Herren, Entwicklungslücke und Investitionslücke vollends schließen, das war der erste Punkt.
Zweitens. Um die Vollbeschäftigung zurückzugewinnen, müssen wir ferner die beiden Tarifsenkungen 1986 und 1988 durch eine grundlegende Steuerreform ergänzen. Der Bundesfinanzminister hat dazu seine Gedanken gestern vorgetragen. Es geht um Steuerentlastungen und Steuervereinfachungen. Unsere Steuer- und Abgabenlast ist hoch, sie ist zu hoch, was an den Insolvenzen in manchen Wirtschaftsbereichen festzustellen ist, die Sie gestern beklagt haben, ohne daraus die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
({49})
Meine Damen und Herren, die von sozialdemokratischen Bundesregierungen hinterlassene Zinslast, die uns in diesem Jahr mehr kostet, als wir an neuen Schulden überhaupt aufnehmen, hat uns daran gehindert, diese Aufgabe der grundlegenden
Steuerreform schon in dieser Legislaturperiode in Angriff zu nehmen.
({50})
Aber wir haben mit der FDP zusammen die Fundamente dafür gelegt.
({51})
Das dritte: Wir werden den technischen Fortschritt nicht bremsen wie Sie, sondern fördern und gleichzeitig dafür sorgen, daß er dem Wohle des Ganzen dient.
({52})
Meine Damen und Herren, schon jetzt läge die Arbeitslosenzahl unter 1,5 Millionen - das ist keine Entschuldigung, sondern eine Tatbestandsbeschreibung -, wenn dem nicht zwei Struktureffekte entgegengewirkt hätten: zum einen die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge - Gott sei Dank sind sie geburtenstark -, die aber im Arbeitsleben zahlenmäßig relativ schwache Jahrgänge abzulösen haben, zum anderen die Rückmeldung vieler, insbesondere Frauen, die schon resigniert hatten, sich jetzt aber dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stellen.
({53})
- Alle.
Ich nannte Geldwertstabilität, steigende Realeinkommen, zunehmende Beschäftigung. Viertens kommt hinzu: Wir haben die Lage der sozial Schwachen in wichtigen Bereichen verbessert.
({54})
Wir haben die Sozialhilfe 1985 und 1986 um durchschnittlich 10,5 % erhöht.
({55})
Unter Berücksichtigung totaler Geldwertstabilität ist das nicht wenig, meine Damen und Herren.
({56})
Wir haben das Wohngeld um 30 % erhöht, obwohl die Mieten nicht steigen, jedenfalls was die Zuwachsraten angeht, sondern rückläufig sind. Wir haben die 1986 in Kraft getretene erste Stufe der Steuerentlastung auf Familien und Alleinstehende mit Kindern konzentriert, also auch hier dem sozialen Aspekt den Vorzug gegeben.
Wir haben die Rentenversicherung wieder leistungsfähig gemacht. Die Renten steigen 1987 um effektiv 3 %.
({57})
- Das ist alles mitberechnet.
({58})
- Die Rentner zahlen ja nicht die Beiträge.
Die Sozialleistungen des Staates und der Versicherungsträger sind zwar umstrukturiert, in Teilbereichen, vor allen in den Zuwachsraten, gekürzt, in anderen Bereichen aber beträchtlich erhöht worden. Insgesamt sind die Sozialleistungen seit 1982 um 80 Milliarden DM auf nunmehr 604 Milliarden DM gestiegen. Schwätzen Sie nicht länger vom Sozialabbau, meine Damen und Herren; daß das die Unwahrheit ist, wissen Sie.
({59})
Wenn Sie das als Sozialabbau bezeichnen, was wir tun mußten, dann haben Sie bereits unter Führung des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt damit begonnen. Und Ihr Kanzlerkandidat Rau hat in Nordrhein-Westfalen geradezu Spitzenleistungen im Sozialabbau vollbracht.
({60})
Wir haben nicht nur konsolidiert, wir haben auch reformiert.
({61})
Mit unserer Reform für Mütter, Kinder und Familien haben wir ein neues Blatt in der Sozialgeschichte unseres Volkes aufgeschlagen.
({62})
Eine besondere Kraftanstrengung war es, Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung nicht nur für künftige Rentenfälle, sondern in einem zweiten Schritt zusätzlich auch rückwirkend zu beschließen.
({63})
Wir haben das getan, meine Damen und Herren, nicht Sie. Es ist das Verdienst der FDP und der CDU/CSU, daß dieser Beschluß gefaßt wurde. Sie haben sich um die Trümmerfrauen erst gekümmert, als Sie aus der Regierungsverantwortung ausgeschieden waren.
({64})
Wir haben mit unserem Beschluß einen Teil der Dankesschuld abgestattet, die wir unseren Müttern und Großmüttern, die wir diesen Frauen der Kriegs- und Aufbaugeneration schon seit langem geschuldet haben. Wir sind glücklich, daß unsere gestiegene Finanz- und Wirtschaftskraft es ermöglicht hat, das einzuführen, meine Damen und Herren. Dafür sollten Sie dankbar sein und nicht herummäkeln.
({65})
Wir können auf weitere große Leistungen hinweisen: Auf unsere Vorreiterrolle im Umweltschutz in Europa, auf die drastische Verringerung der Luftschadstoffe, auf die Einführung bleifreien Benzins und des schadstoffarmen Autos und auf unsere außerordentlichen Hilfen für den Bergbau. Der Bundeshaushalt sieht dort eine Anhebung um 700 Millionen DM auf 2,1 Milliarden DM vor; der Bundesfinanzminister hat gestern darauf hingewiesen, daß dies auf Grund des Hüttenvertrages nicht reicht, sondern weiter aufgestockt werden muß.
Auch im Bereich der Landwirtschaft geschieht etwas. Der Agraretat steigt um 13,9%, während der Gesamtetat um 2,9% ansteigt. Damit ist die wirtschaftliche Lage unserer Bauern zwar immer noch nicht in Ordnung,
({66})
aber daran wird sichtbar, daß wir in nationaler Verantwortung jedenfalls das getan haben, was möglich ist. Das andere ist eine Frage der europäischen Agrarpolitik.
({67})
Siebtens. Was diesen Leistungen ihren besonderen Rang gibt, ist die Tatsache,
({68})
daß wir dabei unseren Konsolidierungskurs durchgehalten haben. Die Steigerung der Gesamtausgaben - ich sagte es schon - bleibt mit 2,9 % auch im kommenden Jahr unter dem Wachstum des Sozialprodukts. Ohne diese Ausgabendisziplin wäre es nicht möglich gewesen, einen langandauernden wirtschaftlichen Aufschwung einzuleiten, und es wäre auch nicht möglich gewesen, totale Geldwertstabilität zu erreichen, die Spitzenstellung in der Welt zu bekommen. Es gibt für Rentner und Arbeitnehmer mit geringeren Einkommen nichts Sozialeres als stabiles Geld.
({69})
Die von mir vorgetragenen Tatsachen, Ergebnisse der Politik, geben meines Erachtens zu zweierlei Anlaß, erstens dazu, Bundeskanzler Helmut Kohl und seiner Regierung für ihre außerordentlichen Leistungen den Dank und die Anerkennung des Deutschen Bundestages auszusprechen.
({70})
Die Wirtschaftsfachleute des Auslands und die Sozialpolitiker des Auslands haben ihre Bewunderung schon längst zum Ausdruck gebracht. Meine Damen und Herren, wenn Sie als Opposition glauben, das nicht tun zu können, dann ist das Ihre Sache. Ich jedenfalls bin überzeugt, daß die große Mehrheit des deutschen Volkes diese Leistungen zu würdigen weiß.
({71})
Die Deutschen schauen wieder mit Optimismus in die Zukunft, ganz anders als bei Ihnen.
({72})
Meine Damen und Herren, es besteht aber auch Anlaß, zu fragen, woran es letztlich liegt, daß die SPD in 13 Regierungsjahren schließlich restlos gescheitert ist
({73})
- die Zahlen habe ich vorgetragen -, während die Union sowohl in der Periode von 1949 bis 1969 mit ihren Koalitionspartnern und jetzt wieder ab 1982 große Erfolge vorweisen kann.
({74})
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß das von der Annahme oder Verweigerung von zwei Kardinalentscheidungen abhängt, die wir zusammen mit der FDP 1949 gegen die SPD getroffen haben. Die erste war die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft. Die drastische Verminderung des Staatseinflusses, die Unabhängigkeit der Notenbank - an der wir festhalten sollten -, die Öffnung der Grenzen setzte Kräfte und Initiativen frei, die unser Land in kurzer Zeit zur zweiten Welthandels- und zur dritten Industrienation gemacht haben.
Die zweite Kardinalentscheidung, die auch wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch von großer Bedeutung war - sie war nicht nur wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch von großer Bedeutung, aber auch -, war die Entscheidung für die westliche Allianz. Nur im Schutz der Allianz, nur im Genuß der dadurch erreichten außen- und sicherheitspolitischen Stabilität konnte unser Land trotz seiner exponierten Lage mitten in Europa, an der Grenze von Ost und West zu einem der begehrtesten Industriestandorte der Erde werden.
Diese beiden Kardinalentscheidungen - für die Soziale Marktwirtschaft und für die westliche Allianz - gehören meines Erachtens zur Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland. Sie ergeben sich zwingend aus der Lage, wie sie 1945 geschaffen wurde. Herbert Wehner hat diese Grundsatzentscheidungen in seiner berühmten Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 für die SPD weitgehend übernommen. Das bahnte der SPD schließlich den Weg in die Regierungsverantwortung. Aber schon während ihrer Regierungszeit - von heute ganz zu schweigen - wurden diese Grundsätze ständig verletzt. Viele führende Sozialdemokraten haben die Früchte der Sozialen Marktwirtschaft genossen, aber sie haben nie begriffen, auf welchen Voraussetzungen sie beruhen.
({75})
Für Helmut Schmidt trifft das gewiß nicht zu. Aber auch er hat - teilweise unter dem Druck seiner Partei; das gilt insbesondere für die letzten Regierungsjahre - diese Grundsätze durch eine überzogene Neuverschuldung verletzt - seine Mahnungen an die Fraktion blieben ja unerhört -,
({76})
die auf dem Arbeitsmarkt völlig wirkungslos geblieben ist.
({77})
Für die Außen- und Sicherheitspolitik, meine Damen und Herren, gilt das in anderer Weise auch. Helmut Schmidt und an seiner Seite so ausgezeichnete Sozialdemokraten wie Georg Leber hielten zwar bis zum Schluß ihrer Regierungszeit an der westlichen Allianz fest. Helmut Schmidt hat sogar das Verdienst, als erster in der westlichen Allianz gegen das Raketenmonopol der Sowjetunion im Mittelstreckenbereich Stellung genommen zu haben. Aber Schmidt, Leber und andere mußten das bezahlen mit zunehmender Isolierung in ihrer eigenen Partei.
({78})
Die von Willy Brandt nach der Hessenwahl 1982 begonnene Suche nach der neuen Mehrheit links von der CDU hat die SPD verwandelt.
({79})
Die SPD, Herr Vogel - dazu tragen Sie wesentlich bei - steht heute den GRÜNEN näher als der FDP oder der CDU/CSU.
({80})
Und das Schlimmste ist, daß sich die SPD ausgerechnet in der Sicherheitspolitik von den GRÜNEN allenfalls noch verbal unterscheidet, aber nicht in der Substanz.
({81})
Auch Ihr Kanzlerkandidat, der natürlich wieder nicht da ist - ich nehme an, daß er im Fernsehen hört und lernt -,
(Dr. Bötsch ({82})
hat auf dem Parteitag in Nürnberg Positionen vertreten, die nur mit den GRÜNEN, aber nicht mit der FDP und der CDU/CSU verwirklicht werden können.
({83})
Meine Damen und Herren, was SPD und GRÜNE in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik und beide von der CDU/CSU und FDP grundlegend und unüberbrückbar unterscheidet, sind drei Punkte.
Erstens. SPD und GRÜNE wollen beide mehr Staat:
({84})
staatliche Programme zur Beschäftigung, zur Lebensqualität, zur Infrastruktur, zu Arbeit und Umwelt, zur Ausweitung der sozialen und kulturellen Dienstleistungen, Eingliederungsprogramme, AusDr. Dregger
bildungsprogramme, Frauenförderungsprogramme, Langzeitprogramme, Aktionsprogramme.
({85})
- „Aufhören" sagen Sie selbst. Nun hören Sie mal endlich auf mit Ihren Programmen!
({86})
Es liest sich wie die Wunschliste eines Kindes zu Weihnachten, und die Finanzierung überläßt man daher auch den Weihnachtsmännern, meine Damen und Herren.
({87})
Das zweite, meine Damen und Herren, was GRÜNE und SPD von uns, FDP, CDU/CSU, unterscheidet, ist: Wer mehr Staat will, muß auch mehr Steuern und Abgaben wollen. So ist es denn auch
({88})
nicht nur bei den GRÜNEN, sondern auch bei der SPD:
({89})
Sie erörtern die Anhebung der Mineralölsteuer, neue Steuern auf Energieeinfuhren, eine Gewerbesteuer für die freien Berufe, eine Ergänzungsabgabe, Schadstoffabgaben, Abwasserabgaben, und das ist noch nicht alles.
({90})
Die Staatskasse soll klingeln, der Bürger soll zahlen, soweit er sich nicht durch Schwarzarbeit der Steuer entziehen kann. Das ist Ihr Rezept.
({91})
Während Sie sich darauf vorbereiten, die Belastbarkeit der Wirtschaft ein zweites Mal zu testen,
({92})
verringern unsere Hauptwettbewerber auf den internationalen Märkten ihre Steuerlast. Vom Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer will ich gar nicht sprechen, ich spreche nur von dem Körperschaftsteuersatz. In den USA soll der Körperschaftsteuersatz 34 % betragen, während er bei uns 56 % beträgt, und darauf wollen Sie noch draufsatteln, meine Damen und Herren! Ist das noch zu fassen? Glauben Sie denn, daß eine rot-grüne Regierung, die ohnehin kein Vertrauen bei der Wirtschaft haben wird, durch Steuer- und Abgabenerhöhungen auch noch zu Investitionen in der Bundesrepublik Deutschland animieren kann?
({93})
Was Sie tun, ist absolut unvernünftig, ist schädlich für die deutschen Arbeitnehmer, für Staat und Wirtschaft.
Das dritte: Sie wollen nicht nur mehr Staat -
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Spöri?
Ja.
Herr Kollege Dregger, ist Ihnen bekannt, daß die Abgabenquote noch nie so hoch war wie unter Ihrer Regierung, nämlich 43%?
Mir ist bekannt, daß unsere Bemühungen, die Abgabenquote zu senken, in der zweiten Legislaturperiode durch unsere große Steuer- und Finanzreform
({0})
- nein, das habe ich doch eben angekündigt - und durch die Bemühungen, die Beiträge zur Krankenversicherung in den Griff zu bekommen, ihre Haupterfolge haben wird. So schnell kann man das nicht alles beseitigen, was Sie an Unheil hinterlassen haben.
({1})
Das dritte, meine Damen und Herren: Sie wollen nicht nur mehr Staat, mehr Steuern und Abgaben, Sie wollen auch mehr Schulden. Da die Steuer- und Abgabenschraube immer unwirksamer wird, je mehr man sie überdreht, bliebe das Ingangsetzen der Schuldenrakete Ihr einziger Ausweg. Sie schließen ihn in Ihrem Programm auch keineswegs aus.
Es ist ja bemerkenswert, daß in Ihrem Wahlprogramm wie in der Grundsatzrede Ihres Kanzlerkandidaten in Nürnberg das Wort „Staatsverschuldung" überhaupt nicht vorkommt, und genausowenig kommt in Ihrem Programm und dieser Rede von Herrn Rau das Ziel „Geldwertstabilität" vor. Das interessiert Sie gar nicht. Kosten und Schulden und Inflation, das führen Sie herbei, nicht wahr; die Ideologie stimmt.
({2})
Meine Damen und Herren, weit wirklichkeitsblinder und gefährlicher noch als Ihr wirtschafts- und finanzpolitisches Programm ist das, was Sie in Nürnberg zur Sicherheitspolitik beschlossen haben.
({3})
Meine Damen und Herren, bei dem zweiten geht es um unsere nationale, unsere freiheitliche, unsere demokratische Existenz. Sie wollen einseitig auf die atomare Komponente bei der Abschreckung eines konventionellen Angriffs auf Deutschland verzichten, ohne das durch Stärkung der konventionellen Abwehr ausgleichen zu wollen. Sie wollen bei westlichem Totalverzicht der Sowjetunion im Mittelstreckenbereich ein Monopol einräumen. Die schöne Hegemonialwaffe der Sowjetunion SS-20 soll uns erhalten bleiben: 140 SS-20 mit 420 Sprengköpfen. Sie fürchten sich offenbar davor überhaupt nicht. Sie fürchten sich nur vor den eigenen Waffen, nicht vor den Waffen, die auf uns gerichtet sind.
Meine Damen und Herren, damit würde das herbeigeführt, was die Initiative des Bundeskanzlers Helmut Schmidt und die Standfestigkeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, unterstützt von der CDU/ CSU und der FDP - übrigens auch von unseren ausländischen Verbündeten; ich erinnere an die Rede von Staatspräsident Mitterrand und von Präsident Reagan hier im Hause -, verhindert haben. Das wollen Sie jetzt der Sowjetunion kostenlos auf den Tisch legen.
Meine Damen und Herren, Sie wollen das Unterstützungsabkommen für amerikanische Verstärkungskräfte, die uns im Notfall helfen sollen, kündigen. Starke Kräfte in der SPD wollen den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa bis auf einen symbolischen Rest.
({4})
Sie wollen bei alledem auch noch die Bundeswehr schwächen. Sie wollen sie verkleinern, größere Teile kadern, die Wehrpflichtverlängerung rückgängig machen
({5})
und ihr Haushaltsmittel entziehen. Die GRÜNEN sind begeistert. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sind inzwischen fast wie die GRÜNEN geworden, gerade in der Sicherheitspolitik.
({6})
Ihr insbesondere in der Sicherheitspolitik wenig sachkundiger Kanzlerkandidat hat auf einer sicherheitspolitischen Tagung vor Offizieren der Bundeswehr erklärt,
({7})
die NATO müsse sich - ich zitiere - „vom selbstauferlegten Zwang befreien, den Einsatz nuklearer Waffen als Kern der Abschreckung zu verstehen". Weiter: Die NATO müsse nach einer neuen, glaubwürdigen Strategie der Kriegsverhütung suchen. Und jetzt ein wörtliches Zitat: Wer an der jetzigen Strategie der NATO festhalte, nehme in Kauf, das zu vernichten, was wir alle verteidigen wollten.
({8})
Meine Damen und Herren, das sind Aussagen, die töricht und beleidigend zugleich sind.
({9})
Die NATO-Strategie war immer und ist auch heute keine Kriegsführungsstrategie, sondern eine Kriegsverhütungsstrategie,
({10})
und zwar eine recht erfolgreiche. Wir haben die längste Friedensperiode in der europäischen Geschichte, Gott sei Dank. Da der Zweck der NATOStrategie nicht Kriegsführung, sondern Kriegsverhütung ist, nehmen wir auch keineswegs in Kauf, durch diese Strategie das zu vernichten, was wir schützen wollen.
Im übrigen: Die NATO kann nur in dem Umfang die atomare Schwelle anheben, also sich von ihr unabhängiger machen, wie sie ihre konventionelle Abwehrkraft verstärkt. Ihre SPD-Devise, die auch Rau übernommen hat, statt atomarer Waffen weniger konventionelle Waffen, ist doch sicherheitspolitischer Blödsinn, meine Damen und Herren; das kann man doch wirklich nicht anders bezeichnen.
({11})
Mir steht kein anderer parlamentarischer Ausdruck zur Verfügung.
({12})
Die einzige Gefahr für den Frieden ist eine Politik, wie Sie sie empfehlen; denn die würde es der Sowjetunion erlauben, ohne eignes Existenzrisiko die Teilungsgrenze nach Westen zu überschreiten. Schon die Möglichkeit dazu würde uns auch ohne Krieg dem politischen Willen der Sowjetunion unterwerfen.
({13})
Vor den Folgen Ihrer selbstmörderischen Beschlüsse, muß ich schon sagen, sind Sie rechtzeitig gewarnt worden, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich nenne auf diesem Felde - zum Teil sind die wohl inzwischen ausgeschlossen oder aus der Partei hinausgedrängt, aber es sind sachkompetente Leute - die Namen der Professoren Karl Kaiser, Gesine Schwan, Hartmund Jäckel, Martin Kriele und Manfred Wilke. Dieser schreibt:
Schon der Kölner Parteitag bedeutet die völlige Abwendung der SPD von der Grundlinie sozialdemokratischer Friedens- und Sicherheitspolitik, wie sie seit der denkwürdigen Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30.6. 1960 gegolten hat.
Er wirft seiner Parteiführung vor, sich geopolitisch an den russischen Großmachtinteressen zu orientieren und dadurch zur russischen Partei in Deutschland zu werden.
({14})
Meine Damen und Herren, in Nürnberg war häufig von der Selbstbehauptung Europas die Rede. Aber vor wem denn? Wenn Sie diese Selbstbehauptung nicht auf das sowjetische Imperium beziehen, dessen Grenze mitten durch Deutschland verläuft und unsere Landsleute jenseits der Grenze einsperrt und das uns mit einer ungeheuren Rüstung bedroht, wenn Sie diese Selbstbehauptung Europas auf unseren wichtigsten Verbündeten, die Vereinigten Staaten von Amerika beziehen, dann muß ich sagen: Das ist doch der Höhepunkt der Perversion des Denkens, die Egon Bahr erfunden hat; anders kann man das doch wirklich nicht sagen.
({15})
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, sich einmal vom jetzt scheidenden Generalinspekteur der Bundeswehr, der, glaube ich, von allen Fraktionen anerkannt ist, über seine Bedrohungsanalyse unterrichten zu lassen. Er hat es dem Kabinett vorgetragen. Er war sehr zurückhaltend in seinem Urteil und hat nichts aufgenommen, was nicht
absolut gesichert ist, also keine Vermutungen. Ich muß sagen, diese Bedrohungsanalyse ist erschrekkend. Wer die sowjetische Hochrüstung, die unter Entspannungsschalmaien ihren Fortgang nimmt, kennt, wer sich mit ihrer Militärdoktrin und ihrer ideologisch-politischen Zielsetzung befaßt hat, der weiß, daß es für die sicherheitspolitischen Beschlüsse der SPD in der Realität Deutschlands und Europas leider keinerlei Grundlage gibt.
({16})
Meine Damen und Herren, Sie täuschen mit diesen Beschlüssen unser Volk, Sie beschädigen die Allianz und gefährden unsere Sicherheit.
({17})
Die Mitgliederzeitung der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie schrieb kürzlich - ein Zitat -:
Der einstmals Sozialdemokraten ehrende Kampfbegriff „Antikommunist" ist inzwischen zu einem allseits akzpetierten Schimpfwort umgedeutet worden. Dieser sprachliche Umerziehungsprozeß ist die eigentliche strategische Meisterleistung der deutschen Kommunisten und wiegt weit mehr als Mitgliederzahlen oder Wahlprogramme der DKP.
({18})
So schreibt die Mitgliederzeitung der IG Bergbau und Energie.
Meine Damen und Herren, in Wahrheit ist diese strategische Meisterleistung weniger den deutschen Kommunisten zuzuschreiben, sondern der Führung der SPD von Brandt bis Lafontaine. Die haben das zustande gebracht.
({19})
Gesine Schwan, die einmal Ihrer Grundsatzkommission angehört hat, kritisiert - wie ich finde: mit Recht -, der neue deutschland-, außen- und sicherheitspolitische Kurs der SPD führe - jetzt wörtlich - „geradewegs dahin, die im Zeichen der Freiheit angetretene deutsche Sozialdemokratie zu einem der wirksamsten Instrumente sowjetischer Hegemonialpolitik zu machen".
({20})
Zu unserem Verhältnis zur Sowjetunion möchte ich bemerken: Man muß sie nicht entweder lieben oder hassen. Ich liebe sie nicht, aber ich hasse sie auch nicht; ich hasse niemanden. Man muß vor der Sowjetunion auf der Hut sein und mit ihr auf den Feldern zusammenarbeiten, wo die beiderseitigen Interessen es ermöglichen.
Das gilt übrigens nicht nur für das „europäische Haus", von dem Herr Gorbatschow gern redet. Das muß gelten für den ganzen eurasischen Kontinent, dessen Halbinsel Europa ist. Zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil der Sowjetunion gibt es weder eine Grenze noch einen Ozean.
({21})
Es kann daher nicht zugelassen werden, daß weitreichende und mobile Waffensysteme, die im asiatischen Teil der Sowjetunion stationiert sind, bei Rüstungsabkommen über Europa außer Betracht bleiben.
({22})
Meine Damen und Herren, die deutschsowjetischen Beziehungen dürfen nicht auf Rüstung und Rüstungskontrolle eingeengt werden. Im Bereich von Wirtschaft und Technik ergeben sich für unsere Zusammenarbeit großartige Perspektiven. Die Sowjetunion - das wurde uns Parlamentariern unter Führung von Philipp Jenninger in Moskau erklärt - sieht in der Bundesrepublik Deutschland ihren solidesten Wirtschaftspartner. Sie hat erklärt, sie erwarte, daß die Deutschen bei ihrem großen Ziel, das der Generalsekretär verkündet hat, nämlich die Produktivität der sowjetischen Wirtschaft zu erhöhen, ihren Beitrag leisten würden.
Dazu sind wir selbstverständlich bereit, meine Damen und Herren. Aber über diese Zusammenarbeit können und dürfen wir nicht einen Augenblick vergessen, daß die Sowjetunion nicht nur Partner, sondern auch Bedrohung für uns ist. Ihre geographische Nähe können wir nur aushalten, solange die Bundeswehr und die Atlantische Allianz intakt sind.
({23})
Herr Vogel und andere Sozialdemokraten vergessen oder verkennen das offenbar. Sie diffamieren unsere Anstrengungen, das Bündnis mit unseren Hauptverbündeten, unserem eigentlichen Sicherheitspartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, intakt zu halten, als - ich zitiere - „vorauseilenden Gehorsam".
Meine Damen und Herren, wer das sagt, hat keine Ahnung von der geopolitischen Lage unseres Landes und von den Kräften, die wir auszubalancieren haben. Wenn man die Nürnberger Sicherheitsbeschlüsse der SPD in der Sprache des Kollegen Vogel bewerten würde, dann müßte man sagen, daß ihnen nicht vorauseilender Gehorsam, sondern eine vorauseilende Kapitulation vor der Weltmacht Sowjetunion zugrunde liegt.
({24}) Das ist Ihre Sprache.
Meine Damen und Herren, die Bedeutung der kommenden Bundestagwahlen liegt in dem grundsätzlichen Kurswechsel der SPD - der NachSchmidt-SPD, muß man sagen -: weg von der Mitte, hin zu den grünen Aussteigern.
({25})
Der 1960 durch die Rede Herbert Wehners hergestellte Konsens der demokratischen Parteien in der Bündnis-, Außen- und Sicherheitspolitik und auch in den Grundfragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist von der SPD in Nürnberg aufgekündigt worden.
Wie 1949 stehen die deutschen Wähler 1987 vor der Frage, ob sie an den 1949 getroffenen Kardinalentscheidungen, die 1960 von Herbert Wehner für die SPD übernommen worden sind - und das heißt
nach meiner Überzeugung: an der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland - festhalten wollen oder nicht. 1987 geht es wieder um die Frage: westliche Allianz - und das heißt: Sicherheit - oder neutralistisches Hin und Her, und das heißt: Gefahr und Unsicherheit.
Herr Abgeordneter Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Scheer?
Jetzt nicht mehr; ich komme zum Schluß.
Die zweite Alternative lautet: soziale Marktwirtschaft - und das heißt: eine solide Aufwärtsentwicklung für alle oder Schulden, Inflation und Arbeitslosigkeit, wie sie vor 1982 in beträchtlichem Umfange herbeigeführt worden waren.
({0})
Meine Damen und Herren, vor der Dramatik dieser Entscheidung treten alle anderen Gesichtspunkte in den Hintergrund!
({1})
Wir werden den Wählern klarmachen, daß sie 1987 vor einer politischen Richtungsentscheidung stehen,
({2})
von der ihr eigenes Schicksal und das Schicksal der deutschen Nation abhängen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ganz wenige der Kolleginnen und Kollegen von heute haben schon dem zweiten oder gar dem ersten Bundestage angehört, und diesen fühle ich mich heute ganz besonders verbunden.
Das Haushaltsgesetz, historisch das Geburtsrecht des Parlaments, hat mir in all der langen Zeit seit damals immer als ein parlamentarischer Höhepunkt gegolten, und ich freue mich, daß meine letzte Rede in einer Haushaltsdebatte stattfinden kann. Für mich ist das auch eine Gelegenheit, dem Bundestage, dem Parlament als dem Ausdruck erkämpfter Freiheitsrechte, meinen Respekt zu bezeugen.
Nun gibt ja nach guter alter Sitte die Haushaltsdebatte Gelegenheit, mit der Politik der Regierung, mit der Politik des Bundeskanzlers, insgesamt ins Gericht zu gehen. Und da dies der letzte Haushalt ist, den diese Regierung einbringt,
({0})
muß sie sich natürlich an dem messen lassen und
selber an dem messen, was sie sich anfangs ihrer
Regierungszeit, nämlich im Herbst 1982 oder im Frühjahr 1983, vorgenommen hat.
({1})
Herr Bundeskanzler, man muß sich solchen Debatten immer stellen; sie sind selten bequem, aber sie können auch nützlich sein, wenn sie einen Fehler vermeiden helfen, einen Fehler, den Oscar Wilde so beschrieben hat: Politiker werden nach ihrer Standfestigkeit beurteilt,
({2})
leider beharren sie deshalb auf ihren Irrtümern - Herr Dregger.
({3})
Herr Bundeskanzler, Sie haben am 13. Oktober 1982 im Plenum erklärt, Ihre Regierung sei notwendig geworden, weil die bisherige Regierung unfähig gewesen sei, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
({4})
Ein paar Monate später, im Jahre 1983, haben Sie das wiederholt und haben gesagt, Aufgabe Nr. 1 sei die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, und hier gehe es vor allem um ein Gebot der Mitmenschlichkeit. Tatsächlich ist aber nun ein neuer Rekord an Arbeitslosigkeit eingetreten. Es waren im Jahre 1982 im Durchschnitt 1,8 Millionen Menschen. Im letzten Jahr waren es dann 2,3 Millionen.
({5})
Jetzt, 1986, sind es beinahe genauso viele. Und es wären noch mehr, wenn nicht durch eine Reihe. von Maßnahmen wie z. B. die 58er Regelung viele aus der Arbeitslosigkeit in andere Kategorien abgedrängt worden wären.
({6})
Wir können Ihren gedruckten Zahlen entnehmen, daß Sie selbst für das Jahr 1990 bei Fortsetzung Ihrer Politik immer noch mit knapp 2 Millionen Arbeitslosen rechnen. Das ist nun lange hin. Wir sind im Jahr 1986. Auch nach weiteren vier Jahren Ihrer Politik rechnen Sie mit knapp 2 Millionen Arbeitslosen - und dies trotz der Tatsache, daß in der ganzen industriellen Welt gegenwärtig ein relativ hohes Wirtschaftswachstum Gott sei Dank wieder stattfindet.
({7})
Sie können diese Entwicklung der Arbeitslosigkeitsziffern, die Sie selbst vorhersagen, nun wirklich nicht mehr, Herr Dregger, als Folge der angeblichen Erblast wegerklären.
({8})
Denn Sie haben sie, wenngleich unwillentlich, trotz Ihrer guten Absichten selbst herbeigeführt.
({9})
Schmidt ({10})
Am 13. Oktober des Jahres 1982 hat der Bundeskanzler auch erklärt: Wir wollen die privaten und öffentlichen Investitionen fördern. Nein: „anregen" haben Sie gesagt. Tatsächlich sind aber nun in vier Jahren die Investitionen der ganzen Volkswirtschaft, die öffentlichen und die privaten zusammen, Herr Stoltenberg, gemessen am Sozialprodukt, in Ihrer Regierungszeit keineswegs gestiegen, sondern vielmehr gesunken.
Und Sie haben in derselben Regierungserklärung vor vier Jahren gesagt: Wir wollen die Konkurswelle brechen. Sehr gut! Tatsächlich liegen heute Konkurse und Insolvenzen deutlich höher als in jenem schlimmsten Jahr der damaligen Weltwirtschaftskrise.
Vielleicht in dem Zusammenhang einige Worte an den Kollegen Dregger zur Aufklärung über die Sachverhalte, über die er gesprochen hat.
({11})
Wie eigentlich sah denn die Lage 1982 aus, von der Sie so genüßlich immer als „Erblast" sprechen, Herr Kollege Dregger?
({12})
In der zweiten Ölpreisexplosion, die die ganze Welt 1979, 1980 betraf, haben wir in der Spitze der 01-preise pro Faß 35 Dollar bezahlt. Gut zehn Jahre vorher, zu dem Zeitpunkt, als der letzte christdemokratische Bundeskanzler, Kiesinger, abtrat, waren es anderthalb oder maximal zwei Dollar gewesen. Und nun, 1980, 1981, 35 Dollar pro Faß. Da wir in Deutschland kein eigenes Öl und kein eigenes Erdgas haben, hatten wir gar keine Wahl: Wir mußten diese Preise bezahlen.
({13})
Infolgedessen fehlte das Geld für viele andere Ausgaben der Konsumenten, der Unternehmungen, auch des Staates. Es trat infolgedessen nicht nur ein immenser Kaufkraftausfall ein, sondern auch eine drastische Verschlechterung unserer Zahlungsbilanz, genauer gesagt: der Leistungsbilanz.
Aber schon 1982 hatten wir das Loch in der Leistungsbilanz wieder überwunden. Und Sie haben einen vertretbaren Überschuß in der Leistungsbilanz 1982 vorgefunden. Die meisten anderen europäischen Staaten haben zur Überwindung ihrer aus den gleichen Gründen eingetretenen Zahlungsbilanzdefizite ein wenig länger gebraucht. Natürlich, Holland und England waren nicht betroffen; die hatten eigenes Gas, eigenes Erdöl. Die anderen Länder haben sich in der binnenwirtschaftlichen Gestaltung ähnlich verhalten, wie wir und wie wir uns schon einmal nach dem ersten Ölpreisschock von 1973, 1974 verhalten hatten, nämlich so, daß wir den Kaufkraftausfall wenigstens zum Teil durch vermehrte Ausgaben des Staates ersetzt haben, die durch Kreditaufnahme finanziert wurden. Genauso haben es alle anderen nicht Ö1 produzierenden Staaten Europas gemacht. Aber wir konnten 1982 immerhin mit der Normalisierung des Haushalts beginnen, und Sie haben das dann fortgesetzt. Einige Einschränkungen von Subventionen, von denen Herr Stoltenberg gestern sprach, Sparprämie z. B., wobei er es sich als Verdienst anrechnete, daß sie verringert worden seien, gehen doch auf unsere Beschlüsse von 1982 zurück.
({14})
Sie haben diese Konsolidierung dann fortgesetzt. Ich will das überhaupt nicht bekritteln. Aber Japan z. B., in derselben Lage wie wir - ohne 01 und ohne Gas -, hat die Haushaltskonsolidierung erst zwei Jahre später begonnen, Frankreich hat seinen Haushalt überhaupt nicht konsolidiert, und aus jeweils anderen Gründen haben das auch Italien, England und Kanada nicht getan, sie haben ihre Haushaltsdefizite nicht wieder heruntergefahren. Und die Vereinigten Staaten von Amerika haben sogar das Gegenteil getan; sie haben fabelhaft die Steuern gesenkt und das Defizit in einem Maße aufgebläht, wie John Maynard Keynes sich das nie vorgestellt haben würde.
Es waren zwei wichtige Ergebnisse unserer Haushaltspolitik, daß wir auch im ganzen Jahre 1982, dessen letzte drei Monate in Ihre Verantwortung fallen, Herr Dregger, die geringsten Inflationsraten und die niedrigsten Arbeitslosenzahlen hatten.
({15})
- Wenn Sie dazwischenrufen, das stimme nicht, Herr Dregger, will ich Ihnen einräumen, daß ich das Großherzogtum Luxemburg in meine Berechnungen nicht einbezogen habe. Dort war die Arbeitslosigkeit geringer; das ist wahr.
({16})
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, damals die Regierung hätten übernehmen müssen in, sagen wir, London, Paris oder in Rom, so würde vermutlich Herrn Dreggers Beschuldigung der jeweiligen Amtsvorgänger noch sehr viel drastischer aussehen. Es war sehr einleuchtend, Herr Dregger - das muß man wirklich zugeben -, was Sie gesagt haben. Wir waren alle hingerissen.
({17})
Aber selbst im Falle Italiens oder Frankreichs oder Englands wäre Ihr Wort, Herr Kollege Stoltenberg, abwegig gewesen, der Sie gestern von „unerträglichen Defiziten" gesprochen haben. Unerträglich mag für die Welt das Defizit unseres wichtigsten Verbündeten sein;
({18})
Tatsache ist, daß Sie es trotzdem ertragen, wenngleich nicht ohne Geräusche, Interviews und Pressekonferenzen.
({19})
Schmidt ({20})
- Lieber Herr Dregger, ich will Ihnen ja die Kompetenz für das Überlandkraftwerk nicht bestreiten,
({21})
aber Tatsache ist und bleibt, daß ganz Europa, ganz Nordamerika, daß Brasilien, Mexiko, daß alle Nichtölstaaten der Welt damals durch die OPEC in eine tiefe Krise gestürzt worden waren. Tatsache ist, daß sich die Bundesrepublik Deutschland während dieser Krise im internationalen Vergleich der vier entscheidenden Eckdaten der ökonomischen Politik gut sehen lassen konnte. Das galt für die Inflationsraten, für die Arbeitslosigkeit, für Wachstum und für die Leistungsbilanz oder, wie man damals zu sagen pflegte, für das außenwirtschaftliche Gleichgewicht.
({22})
Inzwischen haben wir - und ich erkenne das gerne an - noch niedrigere und heute sogar negative Inflationsraten. Wir haben auch - und ich erkenne das an - höheres Wachstum, und wir haben aber auch - und das müssen Sie anerkennen - höhere Arbeitslosigkeit. Sie müssen anerkennen: Wir haben weitaus höhere reale Zinsen.
({23})
Sie müssen anerkennen: Wir haben eine niedrigere Investitionsquote und einen ziemlich nutzlosen, enormen Leistungsbilanzüberschuß, letzterer nach dem Motto, gute deutsche Ersparnisse oder Kapitalbildung geben wir für viel bedrucktes ausländisches Papier, genannt Schuldscheine.
Die Gründe für diese Veränderungen in vier Jahren sind die folgenden:
Erstens. Die Ölpreise und infolgedessen die deutschen Ölrechnungen sind gewaltig zusammengeschrumpft, weil das OPEC-Kartell zusammengebrochen ist. Allerdings - in Klammern gesagt -: Es könnte gegenwärtig so scheinen, als ob es sich wieder aufrappelt; seit dem Sommer sind die Ölpreise wieder etwas gestiegen. Der Ölpreisverfall in den letzten drei, dreieinhalb Jahren hat uns allen Kaufkraft zurückgegeben und unsere Preis- und Inflationsraten stark gedämpft.
Zum zweiten: Die Amerikaner haben durch ihr superkeynesianisches Haushaltsdefizit - mehr als 200 Milliarden Dollar jedes Jahr - so viel Kaufkraft künstlich geschaffen, daß sie im eigenen Lande einen ungeheuren Importsog ausgelöst und damit ungewollt die große Lokomotive für den japanischen Export, den europäischen Export, den deutschen Export, für unsere Exportbeschäftigung gespielt haben. Das hat dann auch bei uns - ebenso wie in Japan, ebenso wie in anderen Staaten - zu weitaus größerer Auslastung unserer industriellen Fertigungskapazitäten, zu höherer Produktivität, zu höherem Wachstum geführt. Aber leider haben die Vereinigten Staaten ihre Haushaltsdefizite doch nicht so groß gemacht, daß durch diesen Effekt auch unsere Arbeitslosigkeit gesunken wäre.
Drittens. Sie, Herr Stoltenberg, haben wegen einer etwas zu schnellen Haushaltskonsolidierung heute eine höhere Arbeitslosigkeit.
Viertens. Weil Bundesregierung und Bundesbank nichts dagegen getan haben, daß Investitionskredite in Deutschland heute mit realen langfristigen Zinsen befrachtet sind, wie Deutschland sie in dieser Höhe seit mehr als 30 Jahren nicht gekannt hat, und weil Sie außerdem Ihre eigenen Investitionsausgaben abgesenkt haben, konnte Ihnen die versprochene Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit nicht gelingen. Ihre eigene Investitionsquote mußte natürlich sinken, weil Sie ja die den Verbrauch finanzierenden Subventionen nach oben gefahren hatten.
({24})
Wenn man das eine erhöht, muß sich das andere ermäßigen. Einschließlich der steuerlichen Subventionen hält die gegenwärtige Bundesregierung den deutschen Subventionsrekord.
({25})
Wenn nun Herr Stoltenberg gestern die hohen realen Zinsen als soziale Tat gelobt hat - Sie haben mir liebenswürdigerweise Ihr Manuskript gegeben, so daß ich noch einmal verglichen habe -, so wird dem niemand beipflichten können, der etwa seine Investitionen oder seine Bauvorhaben mit langfristigen Krediten finanzieren muß und der sie infolgedessen in der Hoffnung auf spätere Zinssenkungen noch aufschiebt. Das ist ja einer der Gründe für die niedrige Investitionsquote der Volkswirtschaft. Und wenn Sie gestern mit Befriedigung gemeint haben, die Renditen der Sachinvestitionen lägen noch höher als die realen Zinsen, so stimmt das doch nur für die alten Investitionen, die sich heute bei höherer Auslastung wieder besser rentieren. Es gilt nicht für Investitionen, die etwa heute nachmittag oder morgen vormittag beschlossen werden. Wenn das dafür auch gelten sollte, dann wäre ja jeder Vermögensbesitzer ein Dummkopf, der seine Ersparnisse heute nicht sofort in ein neu zu bauendes Mietshaus steckt und daraus die angeblich hohe Sachrendite zieht.
({26})
- So ist es. Jeder weiß, daß es gar keine Nachfrage danach gibt. Das tun also nur sehr wenige.
Fünftens. Weil nicht nur unser Ölpreis, sondern auch alle Rohstoffpreise, die wir zahlen müssen, soweit sie in Dollar gerechnet werden, zur Zeit des stark abgesunkenen Dollarkurses wegen sehr niedrig sind, haben Sie heute zum Teil negative Inflationsraten. Sie haben allerdings, Herr Stoltenberg
- mit Recht -, Sorgen für das nächste Jahr vorsichtig angedeutet, die ich gut verstehe.
Ich bin also, wie Sie sehen, wegen Ihrer Haushaltskonsolidierung insgesamt skeptisch, was die ökonomischen Auswirkungen angeht. Sie beruht einerseits auf Einsparungen am falschen Ort, und sie beruht andererseits auf der Inanspruchnahme von Bundesbankgewinnen, wie es sie vorher niemals gegeben hatte; sie sind die Folge der hohen Dollarzinsen. Herr Stoltenberg, Sie haben uns früher anSchmidt ({27})
gekreidet, daß wir die Bundesbankgewinne in Anspruch genommen haben. Nun denke ich nicht daran, Retourkutschen zu fahren und Ihnen anzukreiden, daß Sie die Ihnen gesetzlich zustehenden Gewinne in Anspruch nehmen; ich denke nicht im Traum daran. Aber Sie dürfen nicht übersehen, daß die Bundesbank selbstverständlich die an den Bundesfinanzminister ausgezahlten Gewinne bei ihrer Geldpolitik, bei ihrer Zentralbankgeldmenge mitrechnet und mitrechnen muß. Mit anderen Worten: Auf eine ganz neuartige Methode wird der Staatsverbrauch zu Lasten der Allgemeinheit und der Wirtschaft finanziert. - Eine ganz neuartige Methode. Es steht so im Gesetz. Aber ich bitte, sich die ökonomischen Zusammenhänge klarzumachen.
Ich will sehr hoffen, daß die Bundesbank nun endlich ein erstes Signal zur Zinssenkung in unserem Lande setzt.
({28})
Für Herrn Stoltenberg möchte ich noch hinzufügen: Ich für meine Person hätte Sie jedenfalls nicht kritisiert, wenn Ihnen diese 40 Milliarden - genau 38 Milliarden sind es, glaube ich, bisher - Bundesbankgewinne nicht hätten zur Verfügung stehen können und Sie statt dessen den gleichen Betrag auf dem Markt hätten aufnehmen müssen. Ich hätte Sie deswegen nicht kritisiert.
Ich finde, lieber Kollege Stoltenberg, daß meine Freunde Apel und Dr. Spöri gestern einen deutlichen Punktsieg Ihnen gegenüber erzielt haben.
({29})
Aber eines weiß ich genau - ich war auch einmal Finanzminister - aus leidvoller eigener Erfahrung: Der Finanzminister hat so ziemlich das undankbarste Amt in jeder Bundesregierung. Jeder will etwas von ihm, und er soll dann das Ergebnis vor der Öffentlichkeit auch noch vertreten, verteidigen und schönmalen.
({30}) Ich habe große Sympathie
({31})
für Herrn Stoltenberg trotz seiner erzkonservativen Finanzpolitik.
({32})
Aber trotzdem hätten Sie, lieber Herr Stoltenberg, vielleicht auf eine persönliche Bemerkung Hans Apels gestern etwas gelassener antworten sollen; Sie hatten doch mit dem groben Geschütz begonnen. Sie hatten die SPD vor Sozialneid gewarnt und ihr attestiert - und jetzt wörtlich -: Der sozialdemokratische Anspruch zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen sei völlig unbegründet. Wer so austeilt, muß auch einstecken können.
({33})
Nun aber ein Wort zum Kollegen Dregger. Für die Bundesrepublik ist - da scheint mir eine gewisse Übereinstimmung gegeben - das Verhältnis zu ihrem stärksten und gefährlichsten machtpolitischen Nachbarn, zur Sowjetunion, von entscheidender Bedeutung. Die exponierte geostrategische Lage unseres Landes, der Zustand der Teilung Mitteleuropas und Deutschlands, aber auch die besonderen historischen Belastungen des deutsch-sowjetischen Verhältnisses erzwingen geradezu eine aktive deutsche Ostpolitik und Rußlandpolitik.
Diese Ostpolitik, die inzwischen als deutsches Lehnwort in vielen anderen Sprachen Aufnahme gefunden hat, hat ihre Wurzeln in dieser besonderen Lage, übrigens auch Wurzeln in der Geschichte unseres gegenwärtigen Staates. Ich denke z. B. an einen Christdemokraten und an einen Freidemokraten - der erste hieß Sieveking, der andere hieß Plate -, die im Hamburger Rathaus vor mehr als 30 Jahren eine von ihnen damals so genannte Politik der Elbe vertreten haben. Sie dachten an die anderen Staaten, die an der Elbe liegen und die jenseits der Elbe liegen. Das ist über 30 Jahre her.
Später haben bedeutende amerikanische Präsidenten unsere Ostpolitik zum Bestandteil ihrer eigenen Außenpolitik gemacht. Das war in den frühen 70er Jahren; das waren Nixon und Ford. Und die Ostpolitik hatte ihre Grundlage - und hat sie noch - in der Gesamtstrategie des westlichen Bündnisses, wie sie Ende 1967 definiert und mit dem Namen des damaligen belgischen Außenministers Pierre Harmel verknüpft worden ist.
Diese damalige und, wie ich hoffe, zu revitalisierende Gesamtstrategie bedeutete zum einen gemeinsame Verteidigungsbereitschaft und den Willen, den eigenen politischen Entscheidungsfreiraum gegen jeden Versuch politischer oder gar militärischer Nötigung zu sichern, zum anderen aber auf diesem gesicherten Hintergrund den erklärten Willen zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im diplomatischen Verkehr, auch im wirtschaftlichen Bereich, vor allem aber Zusammenarbeit im Bereich einer am militärischen Gleichgewicht orientierten vertraglichen Rüstungsbegrenzungspolitik.
({34})
Dies war die Grundlage der Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel. Diese Politik löste das ein, was ein knappes Jahrzehnt vorher John F. Kennedy in seiner Antrittsrede als Präsident folgendermaßen formuliert hatte: „Wir wollen niemals aus Furcht verhandeln, aber wir wollen uns niemals davor fürchten, zu verhandeln."
({35})
Dieser - wenn Sie so wollen - westliche gesamtstrategische Grundansatz der Ostpolitik muß nach meiner Meinung für eine konstruktive deutsche Friedenspolitik auch in Zukunft verbindlich bleiben.
({36})
In einer Zeit der Spaltung Europas in eine westliche Einflußsphäre und in einen östlichen Machtblock und in einer Zeit des fast nicht mehr gebremsten Wachstums der nuklearen Massenvernich17672
Schmidt ({37})
tungsmittel muß die Rüstungsbegrenzungspolitik in die Kategorie der höchsten Priorität fallen.
({38})
Sie ist ja dringendes deutsches Interesse. Aber sie ist auch dringendes Interesse aller Europäer. Es macht da keinen Unterschied, ob einer in Amsterdam wohnt oder in Budapest, ob in Kopenhagen oder in Sofia, ob in Warschau oder in Rom oder in Paris. Es macht schon gar keinen Unterschied, was die Bedeutung der Rüstungsbegrenzungspolitik angeht,
({39})
ob einer in Bonn lebt oder ob einer in Ost-Berlin lebt.
({40})
Aber wie sieht gegenwärtig die Zwischenbilanz der Rüstungsbegrenzungspolitik aus? Es hat seit 1973 keinen Abrüstungsvertrag zwischen den beiden Weltmächten mehr gegeben. Der später vereinbarte SALT-II-Vertrag ist nicht ratifiziert worden. Er wurde bisher zwar trotzdem weitgehend eingehalten, aber nun läuft er aus. Auf beiden Seiten werden Anstalten gemacht, sein zerbrechliches Gehäuse zu durchlöchern. Der ABM-Vertrag schließlich, der die Systeme von Antiraketen-Raketen sowohl für die Sowjetunion als auch für die Amerikaner begrenzt, wird bestritten. Damit gerät einer der letzten Pfeiler des bisherigen Systems beiderseitiger Rüstungsbegrenzungen in Gefahr oder gar in Verfall.
Anstoß zu diesen Angriffen auf den ABM-Vertrag war die sogenannte Strategische Verteidigungsinitiative - SDI - vom März 1983. Herr Bundeskanzler, die Haltung der Bundesregierung dazu ist mir immer noch nicht klargeworden. Mir ist unklar, ob die Regierung diese SDI-Initiative im deutschen Interesse, im europäischen Interesse für einen Vorteil hält oder nicht. Eines müßte der Bundesregierung klar sein, nämlich: Wenn sich SDI irgendwann in der Zukunft als technisch machbar erweisen und wenn es dann auch tatsächlich verwirklicht werden sollte - was zwei völlig verschiedene Dinge sind -, dann würde die sowjetische Seite mit höchstens ganz kurzer Zeitverzögerung natürlich nachziehen. Das war bisher immer so. Sie bereitet sich längst und tatkräftig darauf vor, allerdings mit sehr viel geringeren Geräuschen, als dies in der anderen Hauptstadt geschieht.
({41})
Es kann nur ein Träumer meinen, man könne die Sowjetunion ökonomisch totrüsten.
({42})
Bei solcher Entwicklung würden also beide bisherigen Weltmächte - China wird ja in ganz kurzer Zeit von uns allen als die dritte große Weltmacht analysiert werden - über ein solches System verfügen, über ein solches ABM- oder SDI-System, und zwar nicht nur eines an einem Ort, sondern viele und an vielen Orten, um möglichst große Teile ihres jeweils eigenen Territoriums abzudecken. Wenn aber einer von den beiden den Eindruck gewinnen sollte, er werde durch die Raketenabwehr des anderen ins Hintertreffen gedrückt, dann hätte er viele Möglichkeiten, den Vorsprung oder den eingebildeten Vorsprung der anderen Seite durch neuerliche Aufrüstung mit noch mehr Angriffsraketen oder mit noch mehr Gefechtsköpfen auf jeder einzelnen Angriffsrakete zu unterlaufen. Hier lauert die Möglichkeit eines neuen Rüstungswettkampfs.
Doch selbst bei optimistischen Annahmen für eine strategische Verteidigung der Territorien der beiden Weltmächte bleibt eines klar, Herr Bundeskanzler: In diesem Jahrhundert kann es technisch keine Verteidigung gegen atomare Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen geben, die von Europa aus auf Europäer gerichtet sind, auch wenn Herr Wörner hin und wieder den Versuch macht, sich selbst das vorzustellen oder einzureden. Und ob es im nächsten Jahrhundert möglich sein wird, daran habe ich große Zweifel. Und ich bin nicht ganz blind, wenn ich von dieser Frage rede.
Selbst ein optimales SDI-System für die beiden Großmächte brächte also keinen Beitrag zur vermehrten Sicherheit in Osteuropa oder in Westeuropa. Im Gegenteil: soweit eine Vermehrung der Sicherheit für die Territorien der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten eintritt, so wäre sie zu bezahlen mit dem Preis verminderter Sicherheit hier in Europa, nicht nur in Deutschland,
({43}) in Osteuropa wie in Westeuropa.
Mir scheint, daß Sie, Herr Bundeskanzler, ähnliche Befürchtungen hegen, und ich verdenke Ihnen nicht, daß Sie sie nicht öffentlich aussprechen. Jedenfalls könnte ich mir so erklären, daß Ihre Regierung hin und wieder öffentlich gesagt hat, ihre SDIVereinbarung mit den Vereinigten Staaten sei nur aus wirtschaftlich-technologischem Interesse geboren - deswegen haben Sie ja auch den Wirtschaftsminister sie aushandeln lassen -, unser Land müsse doch am technologischen Kuchen von SDI teilhaben, auch wenn wir inzwischen ja wissen, daß es nur Kuchenkrümel sind, die da abfallen.
({44})
Aber das ist wirklich ein Nebenpunkt.
Der Hauptpunkt ist: Haben Sie die Vereinbarung, wie Sie haben erklären lassen, aus wirtschaftlichtechnologischem Interesse getroffen, oder haben Sie sie getroffen aus strategischem Interesse, wie der amerikanische Verteidigungsminister Weinberger behauptet? Was ist Ihre Position?
Weinberger unterstreicht die strategische Bedeutung. Sie, Herr Bundeskanzler, spielen die strategische Bedeutung Ihres Abkommens herunter, und dann kriegen Sie Kritik vom CSU-Vorsitzenden Strauß, der den amerikanischen Verteidigungsminister in dieser Frage unterstützt. Das - Sie werden verzeihen - schafft für mich einstweilen überhaupt kein klares Bild.
Schmidt ({45})
Wir Deutschen leben auf diesem europäischen Schauplatz. Wir sitzen auf dem Präsentierteller. Und wenn überhaupt irgend jemand, dann müssen wir ein dringendes Interesse haben an vertraglich vereinbarter gleichgewichtiger Abrüstung auch auf dem Felde, von dem ich hier eben rede. Ich denke, Herr Bundeskanzler, Sie teilen dieses Interesse. Sie würden es vielleicht nur etwas anders formulieren. Wenn wir aber im Grunde einig sind in dem Interesse an gleichgewichtiger, vertraglich vereinbarter Rüstungsbegrenzung, warum wagen Sie es dann nicht, das SDI- oder ABM-Thema, das ganze Rüstungsbegrenzungsthema ganz oben auf die Tagesordnung des Bündnisses zu setzen?
({46})
Sie scheuen sich unseren amerikanischen Freunden gegenüber unsere deutschen Interessen deutlich zu vertreten.
({47})
Statt dessen streiten sich gegenwärtig die Finanzminister der beiden Länder ganz handfest. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Währungspolitik zugleich immer Außenpolitik ist, dann könnte man das an der gegenwärtigen Zuspitzung der benutzten Sprache zwischen den Währungspolitikern der USA einerseits und denen Europas und Japans andererseits lernen. Einen solchen währungspolitischen Interviewkrieg, wie wir ihn gegenwärtig zwischen den Finanzministern erleben, hat es vorher noch nicht gegeben. Es ist übrigens ein ökonomischer Stellungskrieg, es findet keine wirkliche Bewegung statt. Ich nehme mir heraus zu sagen, es ist ein Krieg, in dem beide Gesprächskontrahenten unrecht haben.
({48})
Auf der amerikanischen Seite wird die Drohung offen geäußert, wenn der deutsche Zins nicht heruntergesetzt werde, dann würde man den Dollar ungebremst weiter sinken lassen. - Als ob das gegenwärtig in der Dispositionsgewalt einer Regierung läge, die ihr Defizit nicht einfangen kann! Aber es wäre gut, wenn der Bundeskanzler oder der Finanzminister oder auch der Wirtschaftsminister uns einmal sagen würde, wo sie denn eigentlich den Wechselkurs zwischen Dollar und D-Mark haben wollen, wo sie ihn aus wirtschaftspolitischen, währungspolitischen oder aus außenpolitischen Gründen haben wollen.
({49})
Da gibt es ja die freie Auswahl: Möchten Sie ihn da haben, wo er heute ist, ungefähr bei 2 DM, oder soll er noch niedriger werden, oder soll er wieder steigen; wie hoch soll er steigen?
({50})
Ich will Ihnen sagen, was ich davon halte. Der Dollar/DM-Wechselkurs ist ein Jo-Jo, das man herauf
und herunterspielt, mit vielen Händen dran, nicht zuletzt, weil die übrigen Regierungschefs in den letzten vier Jahren
({51})
und der Bundeskanzler auf vier Weltwirtschaftstreffen keinen Erfolg damit gehabt haben, den Amerikanern die bedrohlichen Folgen für die ganze Welt klarzumachen, die aus der unerhörten Haushaltsdefizitpolitik der USA entstehen mußten und die inzwischen tatsächlich entstanden sind. Der Dollarkurs ist die Konsequenz.
({52})
Nun hören wir heute aus Washington wieder einmal die Forderung, die in Saure-Gurken-Zeiten immer auftaucht - so ähnlich wie das Ungeheuer von Loch Ness in Schottland -, wenn die Vereinigten Staaten in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen: Es ertönt die Aufforderung an Tokio und Bonn: Bitte schön, seid doch die Lokomotive, um den weltpolitischen Wirtschaftszug aus der Stagnation herauszuziehen!
({53})
Solange die Vereinigten Staaten ihr selbstgebackenes Haushaltsdefizit nicht in den Griff bekommen, so lange ist deren Regierung in einer denkbar schlechten Position, um bei anderen Partnern wirtschaftspolitische Vernunft einzuklagen.
(
Sehr gut!)
Insofern wehrt sich die Bundesregierung nach meiner Meinung zu Recht gegen die ihr angetragene Zumutung.
Allerdings - das sage ich nun wegen des Zwischenrufs - ist das Argument, man habe mit der angeblichen Rolle der Lokomotive 1978 schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht, unzutreffend. Wir haben damals nichts getan, was wir nicht aus eigener Einsicht in die eigenen ökonomischen Notwendigkeiten hätten tun wollen. Wir haben dem Verhandlungspartner gegenüber nur lange genug gezögert, um auch etwas dafür zu bekommen, nämlich damals die inneramerikanische Freigabe der Ölpreise. Öl war weltweit knapp, und in Amerika wurde zuviel Öl verbraucht. Das war das psychopolitische Gegengeschäft.
Aber nun abgesehen von diesem Seitenthema, zu dem ich provoziert worden bin: Wichtiger ist die Tatsache - das ist der Punkt, wo ich Ihnen in diesem Streit nicht recht geben kann -, daß die Bundesregierung als Ergebnis sowohl einer verfehlten Haushalts- als auch einer verfehlten Geldpolitik der Bundesbank Leistungsbilanzüberschüsse hat entstehen lassen, welche nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt stören. In diesem Jahr sind es vermutlich 30 Milliarden Dollar; gestern hat Herr Stoltenberg, glaube ich, 25 Milliarden Dollar geschätzt. Das kann man nicht so genau vorhersagen. Es ist jedenfalls ein ungeheurer Überschuß. Das heißt: Dem Überschuß stehen die Defizite der anderen entgegen. Das ist nicht gesund. So denke ich, daß
Schmidt ({0})
sich beide - sowohl die USA als auch die Bundesrepublik - in diesem Streit im Unrecht befinden.
Nun gehören solche Auseinandersetzungen ihrem Wesen nach natürlich zum politischen Alltag zwischen Freunden und Verbündeten, auch innerhalb der Allianz. Sie offen auszutragen, bedeutet wirklich nicht, die Allianz in Frage zu stellen. Wer seine eigenen Interessen offen vertritt, der kann mit dem Freunde zum Kompromiß gelangen. Wer dagegen versteckt taktiert, der kann das Vertrauen und die Freundschaft des Verbündeten verlieren. Er kann seinen Einfluß verlieren. Tatsächlich ist ja wohl seit dem Ende der Regierung Erhard/Mende der deutsche Einfluß in Washington niemals geringer gewesen als gegenwärtig.
({1})
Ich weiß, daß wir Deutschen in den Vereinigten Staaten überall auf tatkräftige Freunde rechnen können - ich bin in meinem Leben an die 80 oder 100 Mal dort zu Besuch gewesen ({2})
auch und gerade dann, wenn wir unsere Interessen zum Ausdruck bringen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Dankbarkeit auch einige persönliche Freunde nennen, denen unser Land viel verdankt, denen ich selbst viel verdanke. Das ist der verehrungswürdige John McCloy.
({3})
- Ich habe bei der Nennung des Namens McCloy die CDU angeguckt, weil seine segensreiche Amtstätigkeit in diesem Lande in die Amtszeit einer CDU-geführten Regierung fiel. - Und das sind Arthur Burns, Henry Kissinger, Gerald Ford, Cyrus Vance und ebenso der heutige Außenminister George Shultz. Ich habe bei all diesen Männern - sie gehören verschiedenen Parteien in Amerika an
- immer Verständnis dafür vorgefunden, daß aus der Allianz freier Staaten niemals ein Klientensystem oder ein Gefolgschaftsverhältnis werden darf.
({4})
Die Freundschaften zwischen führenden amerikanischen und führenden deutschen Politikern aller Parteien ist zugleich immer auch Ausdruck der Überzeugung, daß die Atlantische Allianz im vitalen Interesse beider Länder liegt.
Wenn aber die Vereinigten Staaten unser stärkster, unser wichtigster Bündnispartner sind, so ist Frankreich unser engster Verbündeter und muß es bleiben.
({5})
Wir Deutschen brauchen das enge Bündnis mit Frankreich, wenn sich ein eigenständiges Europa entwickeln soll, eigenständig - Herr Kollege Dregger, Sie haben vorhin darüber spekuliert - in allen Richtungen. Die beschädigten, aber legitimen Interessen der Deutschen bedürfen der Legitimation durch Frankreich, wenn sie wirksam geltend gemacht werden sollen.
Das gute Verhältnis zu Frankreich hat Bestand gehabt, gleichgültig, welcher parteilichen Herkunft die Regierungschefs an Rhein und Seine gewesen sind, seit Konrad Adenauer, seit Charles de Gaulle. Während der Präsidentschaft von Valéry Giscard d'Estaing ist es darüber hinaus zu einer engen wirtschaftspolitischen, zu einer engen währungspolitischen Zusammenarbeit gekommen; das Europäische Währungssystem gibt davon Zeugnis.
Auch auf dem Felde der Verteidigung waren wir auf dem Wege, Europa zu jenem anderen Pfeiler der Atlantischen Allianz zu entwickeln, von dem Jack Kennedy gesprochen hatte. Es ist schon 23 Jahre her, daß Kennedy das gesagt hat. Leider hat sich dann François Mitterrand in dieser verteidigungspolitischen Hinsicht noch nicht aus dem Schatten de Gaulles lösen können. Er hat den Entschluß zu dem Schritt noch nicht gefunden, die konventionelle Verteidigung Europas auf französischdeutsche Kooperation zu gründen.
({6})
Aber er hat dafür auch nicht die nötige Unterstützung in Bonn gefunden, und natürlich bedürfte es nicht erst am Ende des Weges eines französischen Oberbefehls über die gemeinsamen Truppen.
In einem, wie mir scheint, entscheidenden Punkte hat General de Gaulle Recht gehabt. Ich sehe heute viel klarer als damals 1963, im Jahre in dem der Elysee-Vertrag unterzeichnet wurde, wie sehr de Gaulle damals auf eine enge Entente zwischen Frankreich und Deutschland gebaut hat, als den Kern - ich nehme Ihr Wort auf - der europäischen Selbstbehauptung. Und natürlich hatte de Gaulle damals Frankreich und sich selbst als den führenden Partner vor Augen. Wir in diesem Hause haben das damals so nicht verstanden oder jedenfalls haben wir es so nicht akzeptiert, wir alle nicht. Ich gebe meine Fehleinschätzung aus historischer Rückbetrachtung zu. Und wir alle haben gemeinsam damals den Vertrag durch die Präambel so verwässert, daß de Gaulle seine Hoffnungen und seine Ziele aufgab; und er hat sodann einen anderen Schatten hinterlassen, als er sich ursprünglich als Konzept vorgestellt hatte. Dann sind wir auf Nebengleise gekommen, aber die Nebengleise dürfen nicht für alle Zeiten bedeuten, daß dieser europäische Weg verschlossen bleiben muß. Hier sind politischer Wille und politische Entschlußkraft nötig, sie sind auch möglich.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, in einer Ihrer Regierungserklärungen Konrad Adenauer zitiert, der gesagt hat: Europa, das ist wie ein Baum, der wächst, aber nicht konstruiert werden kann. An dem Wort ist was dran. Und Bäume wachsen auch nicht über Nacht. Man könnte aber mit Rudyard Kipling erwidern: Auch schöne Gärten und also auch schöne Bäume werden nicht dadurch erzielt,
Schmidt ({7})
daß man sich in den Schatten setzt und singt: Wie schön ist dieser Baum!
({8})
Wenn man die Bilanz Ihrer außenpolitischen Absichten zieht, Herr Bundeskanzler, so ist anzuerkennen, daß auf dem Felde der Außenpolitik keine Wende eingetreten ist. Sie werden nicht erwarten, daß ich dies kritisiere, aber Absichten und Ergebnisse decken sich nicht in ausreichendem Maße. Eingetreten ist ein weitgehender Gewichtsverlust der Bundesrepublik, die sich unter Ihrer Regierung von der Einflußnahme auf die westliche Gesamtpolitik vorübergehend verabschiedet hat.
({9})
Was haben Sie eigentlich erwartet, als Sie von vornherein jede Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik der Vereinigten Staaten als verdammenswerten Antiamerikanismus abgelehnt haben,
({10})
danach aber doch selbstverständlich selber auch in Auseinandersetzung mit der westlichen Bündnisvormacht geraten mußten?
Die Bundesrepublik muß Freund und Partner der Vereinigten Staaten sein, aber nicht im römischen Sinne des Wortes ihr Klient.
({11})
Wer sich den Anschein gibt, er habe nichts gegen den Status eines abhängigen Schutzbefohlenen, der darf sich nicht wundern, wenn er tatsächlich so behandelt wird.
({12})
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Zu den Auseinandersetzungen, die ich selbst mit der damaligen Regierung der Vereinigten Staaten gehabt habe, gehörte auch die Frage nach dem Verhältnis zu Polen angesichts der dortigen Verhängung des Kriegsrechts. Ich hatte damals - und viele mit mir - die spontanen millionenfachen Paketsendungen von Deutschen nach Polen mit Nachdruck ermutigt und verteidigt. Ich hielt damals und ich halte weiterhin den Versöhnungswillen des deutschen Volkes gegenüber dem polnischen Volk für tausendfach wichtiger als kurzlebige Gesten oder Drohungen. Wir sind deshalb den Ermahnungen der Vereinigten Staaten von Amerika nicht gefolgt.
({13})
Die Aussöhnung mit dem polnischen Volk: Es gibt wenige politische Ziele, die lohnender und schöner wären.
({14})
Ich möchte Edward Gierek erwähnen. Ich nenne diesen polnischen Kommunisten einen Freund, weil ich von seinem Versöhnungswillen uns Deutschen gegenüber ebenso überzeugt bin wie von meinem eigenen. Es hat mich sehr berührt, daß anläßlich von Herbert Wehners 80. Geburtstag zwei ausländische Regierungschefs Grußbotschaften geschickt hatten. Das eine war der polnische General Jaruzelski und das andere der israelische Sozialdemokrat Shimon Peres. Beide, der kommunistische Pole und der israelische Jude, haben mit ihrem Gruß ihren Willen zum friedlichen und versöhnten Zusammenleben mit den Deutschen deutlich gemacht, indem sie Wehner ihre Anerkennung aussprachen, für den eben diese Aussöhnung immer zu seinen politischen Lebenszielen gehört.
({15})
Man kann bei einem außenpolitischen Resümee nicht alle Völker und Staaten ansprechen. Aber ich möchte doch einigen persönlichen Freunden im Ausland meinen Dank für ihre Zusammenarbeit und ihre Hilfe sagen. Ich denke an James Callaghan, an Bruno Kreisky, an Sandro Pertini, und ich gedenke meiner ermordeten Freunde Olof Palme und Anwar as-Sadat.
({16})
Aber zu Europa ist noch ein Wort notwendig. Ohne Jean Monnet, ohne Schuman, ohne de Gasperi, ohne Adenauer wäre die Euroäische Gemeinschaft nicht entstanden. Sie hat sich entfaltet, aber sie bedarf heute der Initiative auf vielen Gebieten.
Die währungspolitische Zusammenarbeit ist vorangekommen, aber das Europäische Währungssystem muß nun endlich ausgebaut werden.
({17})
Der ECU muß auch in Bonn und in Frankfurt hoffähig werden, und er muß marktfähig gemacht werden.
({18})
Herr Bundeskanzler, jedermann in Europa weiß, daß Ihre Regierung und der Zentralbankrat in Frankfurt die einzigen Stellen in Europa sind, die den Fortschritt dieses Systems, das England bisher leider nicht umfaßt, aus rein nationalegoistischen, kurzsichtigen Motiven behindern.
({19})
Wenn wir einen weltweit anerkannten ECU und wenn wir ein europäisches Zentralbanksystem hätten - an dem Sie leider nicht arbeiten -,
({20})
etwa nach dem Vorbild des alten IMF, wie er bis in
die sechziger Jahre funktioniert hat, dann hätten
wir und dann hätte die ganze Welt ein ausgleichen17676
Schmidt ({21})
des Gegengewicht gegen den wild herumirrenden Dollar-Kurs. Natürlich muß in diesem Zusammenhang auch die restliche Liberalisierung des Geld- und Kapitalmarktverkehrs über die Grenzen Europas in Angriff genommen werden.
Ebenso verlangt der einheitliche Binnenmarkt zähe Anstrengung. Wir können uns, um den Binnenmarkt voranzubringen, ohne großes Risiko sogar erlauben, Vorleistungen anzubieten, z. B. bei öffentlichen Ausschreibungen. Auch Eureka darf ja nun wohl nicht bloß eine Blaupause der Außenministerien bleiben.
Dagegen ist die stark steigende Überproduktion des fälschlich so genannten Gemeinsamen Agrarmarktes - was ist an ihm eigentlich gemeinsam? - nicht mehr zu verantworten. Die Absurditäten der letzten Jahre kann nun niemand mehr auf das beliebte Sammelkonto „Erblast" schreiben.
({22})
Hier muß endlich die ökonomische Vernunft durchgesetzt werden.
({23})
Ebenso empfehle ich, Herr Bundeskanzler, das Feld der Rüstungskooperation in Europa Ihrer Aufmerksamkeit. Es gibt, wie uns General Eisenhower belehrt hat, in jedem großen Land einen industrial military complex, eine Zusammenarbeit zwischen Rüstungsunternehmen und bestimmten Teilen des Militärs - das gibt es auch in Frankreich, das gibt es auch bei uns, das ist unvermeidlich -, und die bringen es fertig, Zusammenarbeit zu hintertreiben. Wenn wir aber doch gemeinsam und erfolgreich den Tornado und den Airbus entwickelt und produziert haben, warum dann nicht auch gemeinsame Hubschrauber für die Streitkräfte, warum nicht einen gemeinsamen Beobachtungssatelliten? Da wird zu lange herumgekaspert von Fachleuten, die keine sind.
(Beifall bei der SPD -
Wir bauen doch den Hubschrauber!)
Ein Wort zu Herrn Dreggers Bemerkungen vorhin. Wenn man einmal zwei Jahrzehnte in der deutschen Frage zurückdenkt, Herr Dregger, dann wird uns deutlich, daß bei uns Deutschen in beiden deutschen Staaten die Einsicht in die Realität und die Einsicht in die einstweilige Dauerhaftigkeit der Teilung sehr viel stärker geworden ist, als sie vor 20 Jahren war. Auf beiden Seiten sind Deutsche heute sehr viel mehr befähigt und willens, die Wirklichkeit der Auffassungen und Interessen ihres jeweiligen deutschen Nachbarn auf der anderen Seite realistisch in Rechnung zu stellen. Die Deutschen in beiden Staaten sind realitätsbewußt geworden. Das ist ihnen nicht zuletzt durch die Ostpolitik möglich gemacht worden, die Sie damals bekämpft haben, Herr Dregger.
Zur größeren Realitätsnähe gehört auch, daß die überwältigende Mehrheit der Deutschen in beiden Staaten die Frage der Zusammenführung aller Deutschen in einem gemeinsamen Staat nicht ansieht als eine Möglichkeit der Politik von heute oder morgen; sie wissen oder sie spüren zumindest, daß diese Frage auf der Tagesordnung künftiger Generationen bleiben wird, und möglicherweise muß sie als Jahrhundertaufgabe verstanden werden. Aber gerade deshalb, weil das so ist, bleibt die deutsche Zukunft nicht erkennbar. Diese Nichterkennbarkeit löst bei vielen anderen Europäern immer wieder Besorgnisse aus. Diese Besorgnisse der anderen in Europa mögen absinken, da ja auch die Nachbarn anerkennen müssen, daß sich die Deutschen auf den Boden von Tatsachen gestellt haben. Trotzdem wollen die Besorgnisse nicht verschwinden.
Aber ich denke, es gibt zwei Gründe, die jener Meinung entgegenstehen, welche man in Europa auch hören kann, daß es sich bei der deutschen Teilung doch um einen ganz komfortablen politischen Zustand handele. Der eine ist die Wiederherstellung des geistigen, des seelischen, des kulturellen, des historisch über zehn Jahrhunderte gewachsenen Kontinuums Europa. Das ist eine Aufgabe auch im Interesse der Polen, der Ungarn, der Tschechen, im Interesse aller Deutschen, im Interesse der Finnen, der Skandinavier, der Franzosen, der Italiener.
Zum anderen: Wenn die Teilung Europas schrittweise überwunden, überbrückt oder überwölbt werden kann, so werden ganz natürlich auch die Deutschen auf beiden Seiten unter jenem gemeinsamen Dach leben können, das dann möglicherweise weiterreicht als nur bis an die Grenzen der beiden gegenwärtigen deutschen Territorien.
Auch die Bundesregierung - ich erkenne das an - hat sich auf den Boden der Tatsachen gestellt. Sie hat in der deutsch-deutschen Politik Kontinuität walten lassen. Ich will dabei nicht vergessen, daß es Ihnen, Herr Kohl, sogar gelungen ist, Herrn Strauß zum Vorkämpfer für Kredite an die DDR zu gewinnen, allerdings ohne politische Gegenleistung von drüben. Das hätten wir Sozialdemokraten mal tun sollen; was hätten Sie geschrien!
({0})
Zweimal 1 Milliarde ohne Gegenleistung!
({1})
Wenn es anders ist, tragen Sie es vor, und zeigen Sie uns das Papier.
Wie auch immer: Wir sind auch für solche Möglichkeiten durchaus offen. Wir haben Sie nicht kritisiert, denn wir wissen, daß die Bürger der DDR unter der ihnen auferlegten Selbsteinkapselung ihres eigenen Staates viel mehr leiden als wir hier im Westen.
({2})
Selbst der Staatsratsvorsitzende Honecker leidet wohl daran - und ich habe Verständnis dafür -, daß er sich in fortgeschrittenem Alter gehindert sieht, seine alte Heimat an der Saar zu besuchen. Ich denke, man sollte ihm bei dieser Absicht von Bonn aus nicht durch allzuviel voreilige Geräusche
Schmidt ({3})
das Leben noch schwerer machen, als es auch für ihn ohnehin schon ist.
Mir scheint, daß die europäischen Menschen insgesamt auf dreifache Weise Geborgenheit suchen und Geborgenheit nötig haben. Das ist erstens die Geborgenheit in der Familie, bei den Freunden. Das ist zweitens die landschaftliche Geborgenheit, die Geborgenheit in der Heimat, in der man lebt, in der sozialen, in der seelischen, in der geistigen, auch in der politischen Umwelt.
Es ist drittens - für fast alle Europäer selbstverständlich - die Geborgenheit, die der Nationalstaat mit seiner Identifikationsmöglichkeit bietet. Die Zeit hat manches Unglück und Elend nach dem Kriege geheilt. Aber was wir nicht haben heilen oder wiederherstellen können, das ist dieser dritte Kreis der Geborgenheit, der Nationalstaat, der allen anderen Völkern Europas in Ost und West etwas völlig Selbstverständliches ist.
Dieser Mangel, dieses Trauma machen es für manche in den jüngeren Generationen schwierig, nationale Identität zu finden. Vielleicht ist diese Verletzung mitverantwortlich für die gesteigerte Unruhe, die wir in den nachwachsenden deutschen Generationen stärker erleben als im europäischen Ausland.
Wenn wir denn also nationalstaatliche Geborgenheit nicht wiederherstellen konnten, so können wir doch eines tun: Wir können den Versuch machen, die Teilung auszuhalten. Wir können versuchen, das in der Teilung Machbare tatsächlich zu machen. Dazu gehört, politisch wie persönlich das Gespräch zu suchen. Ich habe mich in meiner Amtszeit fünfmal mit Erich Honecker zu ausführlichen Gesprächen getroffen. Viel häufiger haben wir miteinander telefoniert. Ich hoffe, daß der Bundeskanzler dieses Telefon auch benutzt. Schließlich haben die Gespräche auch dazu geführt, daß wir in Werbellin gemeinsam erklären konnten, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen.
({4})
Wenn wir zugleich auf die eigenen Leistungen oder Erfahrungen der letzten 40 Jahre seit dem Krieg, auf die deutsche Demokratie in 40 Jahren zurückschauen, so denke ich, daß wir gemeinsam mit Stolz feststellen können: Unser Grundgesetz hat sich bewährt.
({5})
Das gilt besonders für die Grundrechte der Artikel 1 bis 20,
({6})
auf deren Texte die Verfasser des Grundgesetzes so große Sorgfalt verwandt haben.
Nun laufen Politiker auf allen Bänken ja leicht Gefahr, sich modischen Zeitströmungen zu unterwerfen, um populär zu sein. Es gibt zwei aktuelle Anlässe für mich, davor zu warnen, die Grundrechte unserer Verfassung aus Opportunitätsgründen aufs Spiel zu setzen.
({7})
Ich spreche erstens vom Asylrecht. Art. 16 sagt in Abs. 2:
Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Wir Deutschen hatten nach 1945 guten Grund, diese beiden Grundrechte in unserer Verfassung aufzunehmen.
({8})
Wie wäre es wohl verfolgten Deutschen wie Eric Warburg, Herbert Weichmann oder Willy Brandt ergangen, wenn sie aus dem selbstgewählten Exil zwangsweise nach Hause in das Dritte Reich zurückgeschickt worden wären?
Sie, Herr Bundeskanzler, haben vor vier Jahren wörtlich gesagt:
Um Verfolgten und Flüchtlingen aus aller Welt gemäß der freiheitlichen Tradition unseres Grundgesetzes Schutz bieten zu können, wird die Bundesregierung alles tun, um den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern.
Ich unterstreiche die Worte „des Asylrechts", nicht irgendeines beliebig geänderten grundgesetzlichen Asylrechts!
({9})
Im Lichte jüngster Äußerungen einiger Kollegen - auch Ihrer Äußerungen, Herr Dregger - wäre es ebenso wichtig, dem Mißbrauch im Umgang mit Verfassungsänderungen zu wehren.
({10})
Ich meine damit, solche Stimmen zum Schweigen zu bringen, welche, statt verwaltungstechnische und verwaltungsrechtliche Schwierigkeiten zu lösen, sie dadurch bewältigen wollen, daß sie zum schwersten Hammer greifen und die Verfassung ändern. Was für ein Umgang mit dem Grundgesetz! Die Verfassung darf doch nicht zum Abbruchunternehmen gemacht werden.
({11})
Sie haben vorhin Johannes Rau apostrophiert,
({12})
der in der vorletzten Woche in Nürnberg dazu gesagt hat - ich zitiere ihn -:
Für mich ist das Recht auf Asyl für Verfolgte unabdingbar. Mit mir kann es eine Aushöhlung dieses Grundgesetzes nicht geben.
Das ist auch meine Position. Mißbräuche müssen verhindert und Asylverfahren müssen verkürzt werden, aber das Asylrecht als Grundrecht darf nicht angetastet werden.
({13})
Schmidt ({14})
Mein zweites Beispiel betrifft das Demonstrationsrecht. Art. 8 des Grundgesetzes bestimmt:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ... friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
({15})
- Ich komme auf das Wort „friedlich". Auch bei der Formulierung dieses Grundrechts hatten leidvolle Erfahrungen der damaligen jüngeren Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt. Sicherlich - ich nehme Ihren Zwischenruf auf - hat das Demonstrationsgrundrecht gerade in allerjüngster Zeit manche dicke Probleme aufgeworfen.
({16})
Bei den Demonstrationen in Brokdorf oder Wackersdorf oder anderswo war es z. B. für die Polizei wirklich nicht immer leicht, zwischen friedlichen Demonstranten und habituell gewalttätigen Chaoten zu unterscheiden.
Dennoch darf am Grundrecht der Demonstrationsfreiheit nichts geändert werden.
({17})
Auch mir macht der Mißbrauch dieses Grundrechts durch Gewalttäter tiefe Sorgen.
({18})
Einige Demonstranten werfen mit Steinen; und das gilt manchen wohlmeinenden Betrachtern dann noch als glimpflich. Andere Demonstranten benutzen Wurfgeschosse und andere Instrumente, die schwere Verletzungen zufügen können. Bei den meisten Zuschauern hört da dann wohl die Toleranz auf. Aber von Wurfgeschossen über Molotowcocktails zu Autobomben ist kein ganz weiter Weg.
({19})
Und nach einhelliger Meinung fällt dies alles eindeutig in den Bereich der strafbaren Handlungen. Ehrlich gesagt: Ich halte von den feinen Unterscheidungen nicht sehr viel. Für mich überschreitet auch Steinewerfen eindeutig die Grenzen des Erlaubten und des Tolerierbaren.
({20})
Wir sind gegen jede Gewalt von Bürgern gegen Bürger.
({21})
Uns haben die Ereignisse von Mogadischu vor neun Jahren einmal sehr drastisch vor Augen geführt, daß auch der Staat vor der Notwendigkeit stehen kann - und das Gesetz zwingt ihn sogar dazu -, Gewalt zu üben. Dies kann und darf immer nur auf dem Boden von Recht und Grundgesetz geschehen. Aber gegen die Bedrohung durch Terrorismus aller Spielarten muß der Staat bereit sein, seine Gewalt gegen Straftäter einzusetzen.
({22})
Mogadischu war übrigens der Höhepunkt einer Krise, in der sich die gewählte politische Führung unseres Landes zu bewähren hatte. Deshalb haben damals alle drei Fraktions- und Parteiführungen und die damalige Bundesregierung eng und auch täglich zusammengearbeitet. Solche Situationen der Bewährung werden immer wieder einmal entstehen, wenn auch hoffentlich nicht in jenem Ausmaß.
Es ist relativ leicht, in normalen Zeiten zu regieren. Die Qualität einer Regierung zeigt sich oft erst in unvorhergesehenen Notsituationen und in Krisen.
Als ich, Herr Bundeskanzler, die deutsche Informationspolitik nach der Katastrophe von Tschernobyl in der Ukraine im Fernsehen und in den Zeitungen miterlebte, da mußte ich mir sagen: Diese Regierung ist mit jener Situation wahrhaftig nicht meisterlich fertiggeworden.
({23})
Die Bundesländer und Städte und Kommunen waren überfordert, Regeln und Empfehlungen für das Publikum auszugeben, wie hoch die Gefährdung für uns nun tatsächlich sei, welche Schutzmaßnahmen erforderlich waren, was man trinken und essen durfte und was lieber nicht. Auf das Publikum wurden Dutzende von einander widersprechenden Informationen losgelassen.
In solcher Lage wird mit Recht aus Bonn Führung erwartet. Aber die Führung fand nicht statt.
({24})
Niemand in Ihrer Regierung hat über Nacht die Vertreter der Bundesländer zu einer Sitzung nach Bonn zusammengerufen, um gemeinsame Richtlinien auszuarbeiten. Ich kritisiere nicht, daß der Bundeskanzler und der Vizekanzler zu dem Zeitpunkt im Ausland waren und daß sie nicht zurückgekehrt sind. Das kann notwendig gewesen sein. Aber der Innenminister war auch nicht da, und der Chef des Bundeskanzleramtes war auch außer Landes oder nicht greifbar.
Wenn eine Regierung schon in einem solchen Fall wie Tschernobyl, weit entfernt von uns, nicht Herr der Lage sein kann, so möchte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen, was aus dieser Bundesregierung würde, wenn wir ernstere Krisen zu überstehen hätten.
({25})
Keine Regierung kann im Vorwege für alle theoretisch ausdenkbaren Krisen fertige Pläne in der Schublade haben, um sie dann herauszuziehen.
({26})
Schmidt ({27})
Ein Staat braucht eine Führung, die das „crisis management", wie die Amerikaner sagen und wie wir es in unsere Sprache inzwischen übernommen haben, die das Management einer Krise beherrscht und beherrschen will.
({28})
Nicht aber brauchen wir Regierungen, die einen normalen Arbeitskonflikt so anheizen, daß daraus eine innenpolitische Krise entstehen kann.
({29})
Ihre Stellungnahme im Tarifkonflikt vor zwei Jahren, Herr Bundeskanzler, zugunsten der Arbeitgeber, Ihre Aussage, die Forderungen der Gewerkschaften seien „dumm und töricht", war selber das Gegenteil von klug und weise.
({30})
Ich erinnere mich aus 33 Jahren nicht, daß sich je ein Bundeskanzler vorher einseitig derartig in einen Tarifstreit in der Privatwirtschaft eingemischt hat. Wie wollten Sie denn eigentlich danach noch helfen, wenn solch ein Konflikt dann wirklich zur Krise wird? Ich nehme an, in einem solchen Fall rufen Sie dann lieber den Sozialdemokraten Schorsch Leber zu Hilfe.
({31})
Sie haben sich oft und gern als Adenauers politischer Enkel ausgegeben. Aber der Alte hat das soziale Gefüge unserer Gesellschaft geachtet.
({32})
Er war kein Freund der Gewerkschaften, aber er wußte, was sozialer Friede wert ist.
({33})
Gewerkschaftliches und kirchliches Gedankengut sind zusammengeflossen, als Konrad Adenauer und Hans Böckler mit der Montanmitbestimmung den Grundstein zur sozialen Partnerschaft gelegt und ein großartiges, erfolgreiches Experiment begonnen haben.
({34})
Ich kenne viele Franzosen, Engländer, ebenso amerikanische Unternehmensleiter, die in Deutschland ihre Tochterfirmen haben, die uns beneiden, z. B. um unsere Einheitsgewerkschaft, um unsere Betriebsräte, um unser gutes soziales Klima. Die Einheitsgewerkschaft ist insbesondere im Vergleich zu Italien oder Frankreich oder England oder Amerika oder Japan einer der größten Vorzüge unserer gesellschaftlichen Ordnung und unserer Volkswirtschaft.
({35})
Heute sitzt Ernst Breit auf dem Stuhl von Hans Böckler, und Sie, Herr Bundeskanzler, sitzen auf dem Stuhl von Adenauer. Beherzigen Sie die Weisheit des Großvaters!
({36})
Oder hören Sie auf Hans Katzer, und wenn Ihnen der nicht so liegt, hören Sie auf Biedenkopf!
({37})
Lassen Sie den Versuch zur Neuordnung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes Ihre letzte Entgleisung gewesen sein!
({38})
Aber, verehrte Kollegen, auf einen dürfen Sie in dieser Sache nicht hören - und das ist Graf Lambsdorff.
({39})
Graf Lambsdorff, ich freue mich darüber, daß das Gericht den absurden Vorwurf der Bestechlichkeit gegen Sie und Hans Friderichs aus der Welt genommen hat. Sie wissen, ich habe Ihnen in diesem Punkte - ebenso wie Hans Friderichs - immer geglaubt, ebenso wie ich meinem Freunde Egon Franke in einem vergleichbaren Punkte immer glaube.
({40})
Sie sind damit eine, wie ich nachfühlen kann, schwere psychische Last losgeworden. Da bleibt noch einiges andere, ich weiß; aber dies sind Sie los.
Und nun sollten Sie auch Ihre eigene Wortwahl in politischen Reden und Interviews wieder etwas mäßigen.
({41})
Ich muß Ihnen vorhalten, was Sie z. B. im Januar - eine Ihrer vielen Äußerungen - in einem Zeitungsinterview gesagt haben. Sie haben gesagt, Voraussetzung für einen Dialog zwischen Regierung und Gewerkschaften sei es - und jetzt wörtlich -,
daß die Gewerkschaften ihre irreführende, täuschende und verlogene Argumentation ... einstellen. Sie hetzen ihre Mitglieder auf, sie bringen damit den demokratischen Grundkonsens in Gefahr,
({42}) - hören Sie zu Ende sie terrorisieren die Meinungsfreiheit.
Mein Gott, Graf Lambsdorff, was verstehen Sie unter „Terror"?
({43})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Gerne.
Herr Schmidt, darf ich Sie fragen, warum Sie den für mich entscheidenden Satz aus diesem Zitat ausgelassen haben, obwohl er im Manuskript Ihrer Rede steht, das ich besitze? Darf ich Sie fragen, warum Sie nicht vollständig zitiert haben? Das vollständige Zitat heißt:
daß die Gewerkschaften ihre irreführende, täuschende und verlogene Argumentation, bei der Änderung des § 116 handele es sich um eine Einschränkung des Streikrechts ...
Warum haben Sie diesen Halbsatz soeben weggelassen?
({0})
Das will ich Ihnen gerne und sofort klar beantworten. Ich habe überhaupt keine Hemmung, diesen Satz vorzulesen; ich habe ihn ja auch verteilen lassen. Ich habe nur im Interesse der Zeit an vielen Stellen das Manuskript gekürzt.
({0})
Aber, Graf Lambsdorff, daß von § 116 die Rede war, hatte ich j a wohl vorher gesagt.
({1})
Und ob es sich um § 116 oder um „dumm und töricht" handelt: Der Vorwurf des Terrorismus an die Adresse der deutschen Einheitsgewerkschaften ist absolut unzulässig.
({2})
Sie, Graf Lambsdorff, und einige andere Führungspersonen der rechten politischen Parteien mögen die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch weiterhin von Fall zu Fall oder generell bekämpfen, und Sie brauchen sich auch in Zukunft weder die protestantische Sozialethik noch die katholische Soziallehre seit „Rerum Novarum" - heute beinahe mehr als hundert Jahre alt - zur Richtschnur zu nehmen, aber ich bitte Sie um Respekt vor der kämpferisch-demokratischen Leistung unserer Gewerkschaften, einer Leistung, die insgesamt, Graf Lambsdorff, weiß Gott sehr viel älter ist als Sie und als ich.
({3})
Und an die Adresse des Finanzministers gesagt - mit der gleichen persönlichen Sympathie, mit der ich soeben zu dem hervorragenden Vertreter einer immer noch angesehenen Partei gesprochen habe -: Herr Stoltenberg, Sie können die deutschen Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften mit all Ihren gestrigen steuermathematischen Kunststücken nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der normale Arbeitnehmer heute den in der bundesrepublikanischen Geschichte bisher höchsten prozentualen Abzug an Steuern und an Sozialabgaben von seinem Bruttolohn, von seinem Bruttogehalt gefallen lassen muß.
({4})
Herr Kohl und Herr Stoltenberg haben dafür dank
Graf Lambsdorff und dank der FDP bisher eine
Mehrheit. Aber als Sozialdemokrat hoffe ich sehr,
daß sie diese Mehrheit nicht noch einmal vier Jahre behalten.
({5})
Uns Sozialdemokraten liegt der Sozialstaat, das soziale Klima und die soziale Gerechtigkeit am Herzen. Stabile wirtschaftliche Verhältnisse sind nur dann zu haben, wenn wir soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit fruchtbar miteinander verbinden.
({6})
- Diese Zwischenrufe sind nicht alle qualifiziert, Herr Kollege. ({7})
Deshalb muß dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes wieder Achtung verschafft werden.
({8})
- Das war eben übrigens nicht mein Text, sondern der Text von Johannes Rau.
({9})
Das Zitat war auch in diesem Fall aus Gründen der Zeit nicht ganz vollständig, Graf Lambsdorff.
({10})
Aber, damit Sie mich nicht mißverstehen: Ich stehe nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen hinter dem, was Johannes Rau da gesagt hat.
({11})
- Herr Waigel, das werden wir abwarten.
({12})
- Alle diese Zwischenrufe machen uns erneut bewußt, daß eine parlamentarische Demokratie keine harmonische oder diplomatische Veranstaltung ist. Das war sie vor zweieinhalbtausend Jahren im Athen des Perikles und des Demosthenes auch nicht. Demokratie im Parlament bleibt immer allzu menschlich, besonders dann, wenn die Politiker ihr Metier mit Leidenschaft betreiben.
({13})
Trotzdem bleibt das Parlament der wichtigste Ort der Auseinandersetzung.
({14})
- Er ist nicht Mitglied dieses Hauses.
({15})
- Ja, wo sind denn die anderen zehn?
({16})
Schmidt ({17})
Sie können doch nicht im Ernst verlangen, daß einer aus München oder aus Düsseldorf anreist, um Herrn Dregger zu hören.
({18})
- Wenn das eben zu scharf gewesen sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung. Ich habe auch sonst in den 33 Jahren manchen Kolleginnen und Kollegen durch Überschärfe Wunden zugefügt.
({19})
Ich hoffe, es wird mir nachgesehen. - Nein, ich weiß, Sie sind unverletzlich, Herr Dregger.
({20})
Was mir in diesem Zusammenhang noch am Herzen liegt, weil hier Emotionen geweckt worden sind: Man soll die parlamentarische Demokratie nicht idealisieren. Man muß sie so menschlich, allzu menschlich nehmen, wie sie ist. Der alte Churchill hat mit Recht gesagt, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, aber doch besser als alle anderen, die wir schon ausprobiert haben.
Wichtiger als solche Zitate ist mir aber die Erinnerung an Gemeinsamkeiten mit parteipolitischen Gegnern jenseits des Streits und nach allem Streit, auch nach dem heftigsten und bisweilen verletzendsten Streit.
Eine meiner schärfsten polemischen Auseinandersetzungen habe ich mit einem damals herausragenden Sprecher der CSU erlebt, dem Freiherrn zu Guttenberg. Wir haben uns gegenseitig nichts geschenkt. Wir haben trotzdem den Respekt voreinander nicht verloren. Aus Respekt wurde mehr. Mir ist es unvergeßlich, wie ich dann von Guttenbergs Witwe gebeten wurde, an seinem Grab eine Rede auf diesen bedeutenden Mann zu halten, der sein schweres Leiden ebenso aufrecht und überzeugungstreu ertragen hat, wie er zu seinen politischen Grundeinsichten hielt.
Ich habe auch die vertrauenswürdige, zuverlässige Zusammenarbeit mit Rainer Barzel in der Zeit der Großen Koalition und seit der Zeit der Großen Koalition nie vergessen. In solchen persönlichen Erlebnissen spiegelt sich für mich eine Grundeinsicht wider, die ich hier gewonnen habe: Kein Parlament, keine demokratische Ordnung kann überleben ohne ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit. Die kann sich inhaltlich ausdrücken als Konsens. Sie kann sich formal ausdrücken als Respekt, als Achtung. Sie kann sich sogar als persönliche Freundschaft zwischen Angehörigen verschiedener Parteien ausdrücken. All dies jedenfalls ist für unser Parlament notwendig.
({21})
Wenn es das nicht gäbe, dann hätte das Parlament keine demokratische Dignität, keine Würde.
({22})
In diesem Zusammenhang komme ich auf das Zitat des Kollegen Dregger aus der - wie Sie sagten - berühmten Rede von Herbert Wehner am 30. Juni 1960 zurück. Sie haben daraus zitiert. Lassen Sie mich das Zitat vervollständigen. Das, was ich eben meinte, hat damals, vor einem Vierteljahrhundert, Wehner folgendermaßen ausgedrückt:
Warum sollten wir nicht versuchen, auf der Basis der Anerkennung der moralischen und der nationalen Integrität des innenpolitischen Gegners zu Resultaten zu kommen, die uns allen ... helfen könnten? ...
Innenpolitische Gegnerschaft belebt die Demokratie. Aber ein Feindverhältnis, wie es von manchen gesucht und angestrebt wird, tötet schließlich die Demokratie, so harmlos das auch anfangen mag. Das geteilte Deutschland ... kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen.
Nun kennt die Geschichte unseres Staats etliche Beispiele für das Zusammenwirken von Demokraten über alle parteilichen Grenzen hinweg, wenn das nationale Interesse es verlangt. Ich habe an unser Zusammenstehen anläßlich der Leidenszeit von Hanns-Martin Schleyer schon erinnert. Ein anderes Beispiel lag 20 Jahre vorher. Das war die Wehrverfassung von 1955/56. Die Debatte über die Einordnung der bewaffneten Macht in das Grundgesetz, in den Staat hat unsere Gemüter damals sehr bewegt - wir waren alle gerade aus dem Krieg nach Hause gekommen, zum Teil versehrt, zum Teil aus langer Gefangenschaft; einige waren glücklicher dran gewesen als andere -: Wie ordnet man die Streitkräfte in einen demokratischen Staat ein? Das hat unseren Verstand lange, lange beschäftigt. Allen von uns erschien damals der Primat der Politik über die Streitkräfte, erschien die Garantie der Grundrechte des einzelnen Mannes innerhalb der Streitkräfte verfassungspolitisch, aber auch verteidigungspolitisch als kardinale Notwendigkeit. Wenn ich sage „es erschien uns", was meine ich mit „uns", was meine ich mit dem Wort „wir"? Ich meine damit eine Gruppe von Abgeordneten aus allen drei damaligen Fraktionen, die gemeinsam in langer Arbeit eine parlamentarische Initiative entfalteten, die dann schließlich in jene Grundgesetzergänzung einmündete - im Grundgesetz waren ja Streitkräfte nicht vorgesehen gewesen - und sich übrigens auch in einer Reihe einfacher Gesetze niedergeschlagen hat.
Zu dieser großen Verfassungsgebungskoalition - wenn ich das für einen Augenblick einmal so sagen darf - haben damals gehört: Richard Jaeger, Dr. Georg Kliesing, Hellmuth Heye von der CDU/CSU, der spätere Abgeordnete, damals, glaube ich, noch Ministerialrat, Rainer Barzel, entsandt für die Landesregierung NRW, der als Bundesratsvertreter an diesen Sitzungen teilnahm und sie befruchtete, Adolf Arndt, Fritz Erler, Ernst Paul, Karl Wienand
Schmidt ({23})
und Erich Mende von der FDP. Tatsächlich ist uns allen sodann im Lauf der Jahre der Aufbau genuin demokratischer, genuin verfassungstreuer Streitkräfte gelungen, wie es das niemals vorher in der deutschen Geschichte je gegeben hat.
({24})
Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an viele Soldaten. Drei möchte ich nennen, mit denen ich selbst besonders eng zusammengearbeitet habe. Der eine ist Graf Baudissin, der andere ist Ulrich de Maizière, und der dritte ist der an einer Kriegsverletzung früh verstorbene Admiral Armin Zimmermann.
Natürlich, damals, in den 50er Jahren, als wir diese Dinge bewegten, war das Parlament sehr verschieden von dem heutigen Bundestag in den 80er Jahren. Ich erinnere mich mit Wehmut und andererseits mit Lebhaftigkeit an die großen parlamentarischen Gestalten der ersten zwei Jahrzehnte. Zur Zeit der ersten Wahlperioden des Bundestages war das Land in einer ganz außergewöhnlichen Lage. Personen beanspruchten - und mit Recht - die Führung, die unter dem Nazi-Unrechtsregime gelitten hatten, die sich aber nicht gebeugt, ja, die ihm widerstanden hatten. In ihrem Willen zur Gestaltung und zur politischen Erneuerung lebte die böse Erfahrung jener zwölf Jahre fort. Das Erlebnis der Scheußlichkeiten der Diktatur gab ihrem demokratischen Engagement die Tiefe. Aus dieser Erfahrung ist die mitreißende Kraft Adenauers gekommen oder Schumachers oder Thomas Dehlers. Aus diesen Gründen kam die Autorität von Hermann Ehlers oder von Gerstenmaier oder von Wehner oder Carlo Schmid oder Erler. Heute unterscheidet sich unser Staat kaum von anderen europäischen Demokratien. Die Ausnahmesituation ist inzwischen der Normalität gewichen. Das ist ein großer Erfolg. Der Bundestag braucht deshalb den Vergleich mit der Kammer in Paris oder mit dem Unterhaus in London oder mit dem Repräsentantenhaus in Washington nicht zu scheuen.
In den nächsten Bundestag, der demnächst gewählt werden wird, werden abermals viele der heutigen Kolleginnen und Kollegen nicht zurückkehren, und neue Abgeordnete werden ihre Erfahrungen erst machen müssen. Sie werden lernen müssen, was eigentlich einen Abgeordneten ausmacht. Sie werden die zur Funktionsfähigkeit des Bundestages notwendige Fraktionsdisziplin kennenlernen, aber zugleich, hoffentlich, werden sie auch die Einsicht gewinnen, daß viele der Privilegien eines Abgeordneten ihre Rechtfertigung nur im Art. 38 des Grundgesetzes finden, wo bestimmt ist, daß der Abgeordnete keiner Weisung, sondern allein seinem Gewissen unterworfen ist. Und das Gewissen ist persönlich.
Die Synthese zwischen Fraktionsdisziplin und eigenverantwortlichem Gewissen ist schwer herzustellen. Sie ist nur herzustellen, wenn jeder von uns einerseits bereit und willens ist, zu seiner Überzeugung zu stehen, aber andererseits die übergeordnete Notwendigkeit gemeinsamen Handelns nicht außer acht läßt. Dabei kann unser Parlament ohne eigenwillige Individualisten natürlich nicht auskommen, nicht ohne solche Menschen wie August Dresbach oder wie Käte Strobel oder wie Peter Nellen und Gustav Heinemann oder wie Karl-Hermann Flach oder Wolfgang Döring oder Hilde Hamm-Brücher oder Annemarie Renger und manche andere. Die sind bei bestimmten Gelegenheiten immer ihre eigenen Wege gegangen, nach reiflicher Überlegung. Sie haben damit anderen Abgeordneten ein Beispiel gegeben für Überzeugungstreue und für Standfestigkeit.
({25})
Jeder Abgeordnete hat gegenüber seinen Kollegen Anspruch darauf, daß man ihm nicht seine Würde nimmt. Aber die Abgeordneten müssen selbst auch menschlich anständig miteinander umgehen, auch nach der leidenschaftlichsten Schelte.
Ein Parlament mit mehr als zwei Parteien - heute sind wir vier - muß sich j a doch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit zwischen allen Parteien schaffen und erhalten. Ein Mehrparteienparlament, wie es sich aus unserem Wahlsystem regelmäßig ergibt, verlangt grundsätzlich Koalitionsfähigkeit aller nach allen Seiten; grundsätzlich!
({26})
Daß einige davon gegenwärtig deutlich entfernt sind,
({27})
bedarf keiner Konstatierung. Solche Grundeinstellung aber für möglich zu halten - daß man mit dem oder dem koaliert -, hat mit Verfilzung - wie es heute so schön heißt - nichts zu tun. Selbst die Enge des Raums in der kleinen Stadt Bonn - und die Enge in diesem Saal ist ja viel angenehmer als die große Bahnhofshalle dort drüben -,
({28})
selbst diese Enge in Bonn hat ja nicht zur Verfilzung geführt. Ich hatte in den 50er Jahren große Zweifel, ob es denn nun eigentlich richtig sei, Bonn als Bundeshauptstadt zu wählen. Ich habe inzwischen dazugelernt. Ich denke, Bonn hat sich als Sitz des Parlaments und der Regierung durchaus bewährt.
({29})
Die Stadt kann auch auf jene vielen Tausende von Bürgern und Staatsdienern stolz sein, ohne deren loyale Hilfe und ausführende Arbeit alle Politik doch im Sande verlaufen würde. Ich erinnere mich an viele tüchtige, engagierte Beamte, die mit meiner SPD gewiß nichts zu tun hatten, die aber SPDgeführten Regierungen gleichwohl loyal und pflichtbewußt gedient haben. Vielleicht darf ich jemanden nennen wie Dr. Wiek, heute Präsident des BND in München, oder Dr. Sanne, der nicht mehr unter uns ist, oder Bernd von Staden oder Dr. Ruhfus oder den aus der Industrie gekommenen ErnstWolf Mommsen. Einen Sozialdemokraten möchte
Schmidt ({30})
ich auch nennen dürfen: den herausragenden Chef des Bundeskanzleramts Manfred Schüler.
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Die älteren Kollegen im Saal werden j a wissen, um wen und um welchen politischen und persönlichen Hintergrund es sich bei den Namen handelt, die ich genannt habe. Es waren alle nacheinander meine engsten persönlichen Berater.
Ich habe die Namen deswegen in Erinnerung gerufen, weil ich sagen möchte: Auch in Zukunft sollte die Auswahl der Spitzenbeamten nach Können und Loyalität geschehen und nicht nach dem Parteibuch.
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Lassen Sie mich ein persönliches Wort sagen. Als der Krieg zu Ende war - ({33})
- Sie machen wieder meinen Spruch wahr, daß dies keine diplomatische Versammlung ist, meine Herren.
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Sie verwechseln das mit der Volksversammlung in Fulda.
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- Ich habe nichts gegen Fulda, ich habe auch nichts gegen Volksversammlungen; ich habe nur etwas dagegen, daß jener Stil vom „Blauen Bock" in den Bundestag übergreift.
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Ich möchte gern eine persönliche Erfahrung erzählen dürfen. Als der Krieg zu Ende war, ist es mir gegangen, wie Millionen deutschen Soldaten auch. Wir haben mit großer Erleichterung gesagt: Gott sei Dank, es ist vorbei! Im Kriege hatten wir Millionen deutscher Soldaten uns zuallermeist in einem schizophrenen Zustand befunden. Tagsüber haben wir gekämpft, teils weil wir das für unsere Pflicht hielten, teils um unser eigenes Leben zu bewahren, teils um nicht in Kriegsgefangenschaft zu fallen; aber des Nachts wünschten wir uns sehnlich das Ende des Krieges und der Nazidiktatur herbei - schizophren!
Wir waren ja damals jung, ganz jung. Aber auch nur wenige der sehr viel älteren Vorgesetzten oder der sehr viel älteren Reservisten haben damals eine Vorstellung gehabt, was denn nun an die Stelle der Braunen treten müßte, und was wir dazu zu leisten hätten. Ich habe erst im Kriegsgefangenenlager in
Belgien den Beginn einer geistigen Freiheit erlebt, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ich war seit 1937 Wehrpflichtsoldat gewesen. Aber als die erste deutsche Demokratie 1933 völlig zerschlagen war, war ich gerade erst 14 Jahre alt geworden. Woher sollte diese Generation später erfahren, was eine Demokratie sein kann?
Ein sehr viel älterer kriegsgefangener Soldat, Hans Bohnenkamp hieß er, ein religiöser Sozialist, dazu ein Pädagoge von großer persönlicher Ausstrahlung, hat im Kriegsgefangenenlager meine Erziehung zum bewußten Demokraten und Sozialdemokraten eingeleitet. Als ich dann aus der Gefangenschaft nach Hause zurückkam, war ich innerlich schon ein Sozialdemokrat, der ich aus Überzeugung geblieben bin und bleiben werde. Vielen Menschen meiner Generation, die damals zur CDU oder zur CSU oder zur FDP oder zur SPD gestoßen sind, ist es ähnlich ergangen. Wir alle wollten damals nicht Altes einreißen - da gab es gar nichts mehr einzureißen! -, sondern wir wollten etwas Neues aufbauen und wußten in unserer jugendlichen Unerfahrenheit in Wirklichkeit überhaupt nicht, wie man das macht.
Aber wir haben dann doch manches aufbauen können. Wir haben z. B. in diesen 40 Jahren endlich eine positive Einstellung in unserem Volke zum Judentum aufgebaut.
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Und wir haben gelernt, die politische Erbschaft der Schuldigen zu tragen und aus ihr die Konsequenz zu ziehen, obschon wir heute lebenden Deutschen zuallerallermeist Unschuldige sind.
Die jungen Deutschen mögen aus der Geschichte der Nazi-Zeit aber bitte eines erkennen: In den ganz frühen 30er Jahren hat es unter dem Druck der damaligen ersten großen Weltwirtschaftskrise mit der Suche nach Sündenböcken angefangen. Dann hat es angefangen mit Gewalt gegen Schriften und gegen Bücher. Mit Gewalt gegen Sachen hat es sich fortgesetzt. Danach kam die Gewalt gegen Personen, und schließlich kam der Mord und der millionenfache Mord.
Wenn wir heute auf die letzten 40 Jahre seit 1945 oder seit 1949 zurückschauen und uns die Frage stellen: Dürfen wir eigentlich zufrieden sein? Oder müssen wir unzufrieden sein? Was haben wir damals eigentlich erhofft? Was ist eigentlich daraus geworden? Haben wir dazu genug beigetragen? Die Antworten müssen wir den Späteren überlassen, wie die Geschichtsschreibung darüber befinden wird.
Wir können nur subjektiv urteilen; aber wenn wir subjektiv - wenngleich unvoreingenommen - auf die vier Jahrzehnte zurückschauen, wenn wir ohne die parteilichen Brillen, die wir auch immer einmal wieder aufsetzen müssen, den Blick auf die Bundesrepublik dieses Jahres 1986 richten und sie mit der des Jahres 1946 vergleichen, dann, denke ich, dürfen wir das Erreichte dankbar anerkennen, und zwar nicht nur deshalb, weil wir selbst uns noch so gut erinnern, in welcher Situation oder vor welchem
Schmidt ({38})
Hintergrund dieser Staat und diese Gesellschaft aufgebaut werden mußten.
Wer hätte sich damals eigentlich das heutige Maß an Wohlstand vorstellen können? Wer aus meiner Generation hätte sich das Maß an Freiheiten vorgestellt, das wir heute selbstverständlich nutzen? Und wer von uns hätte ein derartiges Maß an politischer Ordnung und sozialer Ordnung vorausgesagt, wie wir es trotz des damaligen Chaos erreicht haben? Wer hätte das erwartet?
Es liegt im Charakter von Trauerarbeit, daß sie nicht vollständig geleistet wird, und es liegt an der Schwere von Trauerarbeit, daß einigen Menschen die Defizite, die dabei übrigbleiben, schmerzlicher erscheinen, als ihnen die Erfolge befriedigend vorkommen. Aber unser Land ist - auch wegen dieser Trauerarbeit - eben nicht den Verführungen erlegen, die von den 12 vorangegangenen braunen Jahren auch hätten ausgehen können. Das war doch unsere große Angst damals; man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und dies allerdings, daß von den Verführungen nichts, aber auch nichts sich hat realisieren können im Leben unseres Staats, das ist in meinen Augen sehr viel mehr, als wir damals Anlaß gehabt haben zu hoffen.
Sicher, viele Dinge haben wir nicht erreicht, manche Probleme sind nicht zufriedenstellend gelöst, nicht von meiner Regierung, nicht von denen, die vorhergegangen sind, nicht von Ihrer Regierung, nicht von denen, die Ihnen nachfolgen werden. Aber wenn wir jene Ausgangslage realistisch betrachten, so, denke ich, können wir stolz sein auch auf den moralisch-geistigen Neubau in unserem Lande.
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Der damalige Oppositionsführer Kohl hat moralisch-geistige Führung als Auftrag an die Bundesregierung verstanden wissen wollen.
(
Auch an die Bundesregierung!)
- Auch an die Bundesregierung. Ich habe die Protokolle vorgestern noch einmal sorgfältig gelesen: auch an die Bundesregierung. Es hat damals vor Jahr und Tag dazu im Parlament eine leichte Auseinandersetzung gegeben. Ich habe das alles noch einmal gelesen, was Sie, andere und auch ich damals gesagt haben. Auch Herr Barzel hat dazu früher gesprochen. Aber auch als ich vorgestern abend mit erheblichem zeitlichen Abstand an Ihre damalige Forderung dachte, so wurde mir nicht klar, was Sie, Herr Bundeskanzler, unter moralischer und geistiger Führung auch durch die Bundesregierung eigentlich verstanden wissen wollen.
Meine Auffassung ist unverändert diese: Die Organe des Staates haben im wesentlichen andere Aufgaben. Die geistige Orientierung erwartet jemand wie ich, erwarten wir alle, denke ich, von denen, die dazu berufen sind in den Wissenschaften, in den Schulen, Universitäten, in der Kunst, der Literatur, jedenfalls in den Kirchen und den Religionsgemeinschaften. Dabei muß schließlich jeder einzelne Mensch seine persönliche Richtschnur finden. Die Richtschnur des Dissidenten wird sich von derjenigen des gläubigen Juden oder Christen sehr unterscheiden. Die moralische Richtlinie des Pazifisten wird sich sehr von jenen unterscheiden, welche Verteidigung für erlaubt oder - wie ich - für geboten ansehen.
Geist, Philosophie, Ethik, Moral sind persönliche Entscheidungen von großer Vielfalt oder Pluralität, und deswegen bejahen wir doch alle den pluralistischen Staat und die pluralistische Gesellschaft.
Im pluralistischen Staat, wie ihn die Grundrechte des Grundgesetzes gewollt haben, die ja den einzelnen und sein Gewissen schützen wollen, im pluralistischen Staat muß, wie mir scheint, die Bundesregierung, jede Bundesregierung, sich in geistiger und moralischer Hinsicht beschränken auf eben dieses Grundgesetz, auf unsere Grundrechte, unsere Grundfreiheiten. Sie allein sind die für alle geltenden gemeinsamen geistig-moralischen Grundlagen.
({0})
Diese Art. 1 bis 20 des Grundgesetzes sind die geistig-moralischen Grundlagen von Regierten wie auch Regierenden.
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, diese Beschränkung auf Moral und Geist und Buchstaben des Grundgesetzes meinen sollten, dann - allerdings auch nur dann - bin ich mit Ihrem Wort von der geistig-moralischen Orientierung auch durch Sie selbst und auch durch Ihre Regierung einverstanden.
Darüber hinaus aber erwarte ich etwas ganz anderes von der Bundesregierung, nämlich politische Orientierung, politische Führung, angesichts der Arbeitslosigkeit wie angesichts von Tschernobyl oder SDI. Wir Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf. Das Leiden der Teilung bringt immer wieder die Gefahr, daß die ohnehin gegebene deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang gefährlich durchbricht. Deshalb bedürfen wir Deutsche der abwägenden Vernunft, der politischen Ratio als einem notwendigen Gegengewicht in der Ausbalancierung unserer nationalen, sagen wir genauer: nationalstaatlichen Anomalie. Teilung gleich Anomalie.
Deshalb - so denke ich - sollten wir gemeinsam die Grundpfeiler pflegen, auf denen wir unser Gebäude errichtet haben. Das geht nur mit Vernunft und mit Realismus. Aber ebenso muß man auch feststellen: Ohne Idealismus wären wir arm, und eine Jugend ohne Idealismus wäre ganz besonders arm.
Aber Idealismus darf nicht idealistische Romantik sein. Idealismus darf nicht umschlagen in moralische Besserwisserei und Beckmesserei, sondern Idealismus muß in sich den Willen zum eigenen Urteil, den Willen zur Kritik und zur Selbstkritik einschließen. Er muß die Standfestigkeit und die Zivilcourage einschließen. Von alledem sind Karrierismus und Opportunismus nur das Gegenteil. ReaSchmidt ({1})
lismus und Vernunft schließlich gebieten auch, zum Kompromiß bereit zu sein.
So möchte ich uns aufrufen zur Besinnung auf das Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer Absicht, unter moralischer Zielsetzung. Das heißt, das, was wir erreichen wollen, das, was wir tun wollen, das muß moralisch begründet sein. Der Weg, auf dem wir das Ziel zu erreichen versuchen, muß realistisch sein, er darf nicht illusionär sein. Aber was immer wir auch anstreben, vergessen dürfen wir nicht, daß der, der ein fernes Ziel erreichen will, sehr viele kleine Schritte tun muß.
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Es sollte keiner glauben, daß solch Ethos die politischen Ziele ihres Glanzes beraube oder den politischen Alltag seines Feuers. Die Erreichung des moralischen Ziels verlangt pragmatisches, vernunftgemäßes politisches Handeln, Schritt für Schritt. Und die Vernunft erlaubt uns zugleich doch auf diesem Weg ein unvergleichliches Pathos. Denn keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft.
Ich danke Ihnen sehr.
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Meine Damen und Herren, ich darf mir sicher erlauben, Helmut Schmidt dafür sehr herzlichen Dank zu sagen, dem streitbaren Kämpfer, dem Diplomaten, dem Staatsmann und dem Menschen Helmut Schmidt, in welcher Weise er unserem Volk seinen Dienst geleistet hat.
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Vielleicht darf ich hinzufügen: wie und in welcher Weise er dieses Parlament stets zum Forum der Nation gemacht hat.
Alles Gute, Helmut Schmidt.
({1})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
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- Verzeihen Sie, mir ist mitgeteilt worden, daß erst der Herr Bundeskanzler sprechen soll.
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Werter Herr Bangemann, das war nicht mal ein Vorgriff auf die Zukunft.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler a. D. Schmidt, Sie haben mit dieser Rede Ihren Abschied von der aktiven Tätigkeit als Abgeordneter in diesem Haus genommen, sicher nicht von der Politik im allgemeinen. Auch viele, die mit Ihnen nicht übereinstimmen, werden bedauern, daß Sie dieses Haus verlassen.
({0})
Vielleicht ist die Vermutung nicht ganz falsch, daß die Zahl derjenigen, die dieses Bedauern haben, in den anderen Fraktionen mindestens so groß ist wie in Ihrer eigenen.
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Sie haben einen Abriß dessen gegeben, was Ihr politisches Credo ist. Sie haben aber auch gleichzeitig auf eine Reihe von aktuellen Problemen hingewiesen und haben das Recht eines amtierenden Abgeordneten zur Kritik an der Regierung genutzt, gut genutzt. Deswegen werden Sie sicher verstehen, wenn in dieser Debatte nicht nur über Ihre Leistungen, über das, was in die Geschichte eingeht, zu sprechen ist, sondern auch das, was Sie kritisch angemerkt haben.
Mich hat immer besonders beeindruckt, und zwar gerade in der Koalition, die meine Partei mit Ihrer Partei geführt hat, was Sie in dieser Koalition sicherheitspolitisch gewollt haben, was Sie durchzusetzen versucht haben, was nicht immer gelungen ist. So wie diese Rede sicherlich zu den besonderen Gelegenheiten dieses Parlaments zählen wird, so wird, glaube ich, Ihre Rede auf dem Kölner Parteitag Ihrer Partei zur Frage der Nachrüstung ein historisches Dokument bleiben, übrigens auch ein Dokument des persönlichen Mutes eines Menschen, der für seine eigene Auffassung kämpft.
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Ich darf aus dieser Rede einige Passagen zitieren, weil es - auch das darf ich ganz offen sagen - vielleicht nötig ist, gerade in dieser Stunde Ihren eigenen Parteifreunden zu sagen, was sie mit Ihnen als Abgeordnetem der SPD-Fraktion verlieren werden.
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Ich möchte das gerne tun, weil die Auseinandersetzung über die Sicherheitspolitik nicht beendet ist. Die Auseinandersetzung über Sicherheitspolitik, meine Damen und Herren, ist eine aktuelle Entscheidung, die wir und die die Bürger der Bundesrepublik im Januar mit zu treffen haben werden.
({4})
Ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus Ihrer Rede vor dem Kölner Parteitag zitieren:
Die Russen haben erlebt, daß der Westen nicht immer solidarisch auf Drohungen reagiert. Sie hoffen, die westeuropäischen Verbündeten und die USA psychologisch und politisch voneinander trennen und sogar gegeneinander ausspielen zu können.
Und Sie fügten hinzu:
Dies ist mein erster Grund für die Stationierung jetzt.
({5})
- Das mag schon sein. Wenn Sie diesen Schluß aus diesen Zitaten ziehen, muß ich Sie darauf hinweisen, daß das jetzt alles Zitate des früheren Bundeskanzlers Schmidt sind.
({6})
So sagte Ihr Kollege Schmidt damals:
Dies ist mein erster Grund für die Stationierung jetzt. Die Bundesrepublik muß ihr Wort halten trotz aller Enttäuschungen über Reden und Verhalten in Washington.
Unsere eigenen Vorstellungen von der nötigen Gesamtstrategie des Bündnisses - und das heißt auch: unser Wunsch nach Fortentwicklung unserer Ostpolitik - machen Solidarität und Kohärenz innerhalb der Allianz zu einem überragenden Gebot.
Mein zweiter Grund
- sagte Herr Schmidt vor dem Parteitag der SPD -:
Das politische Gleichgewicht würde nachhaltig gestört werden, wenn sich die Sowjetunion mit ihrer einseitigen unprovozierten Vorrüstung durchsetzte. Eine tiefe Krise der Allianz würde unvermeidlich eintreten.
Das, worauf Sie noch einmal hingewiesen haben, haben Sie auch damals angeführt:
Wir Europäer müssen ganz allgemein diese doppelte Philosophie des Doppelbeschlusses als Ausfluß der Harmel-Doktrin wieder zur gemeinsamen Grundlage unseres Bündnisses machen. Die amerikanische Führung muß von den europäischen Regierungen auch hören, daß für uns Entspannung nicht das Endziel, sondern Teil eines langfristigen Prozesses zur Verbesserung und zur Förderung einer Regelung der europäischen Fragen ist.
Alles das war richtig, alles das ist richtig. Es ist eine persönliche Tragik, die man Ihnen nicht vorwerfen kann, aber die doch auch das Urteil über Ihre eigene Partei prägen wird, daß Sie sich mit diesen Vorstellungen nicht haben durchsetzen können, daß Sie auf diesem Parteitag eine Handvoll Delegierte fanden, die Sie da unterstützt haben.
({7})
Deswegen ist es nicht anmaßend, wenn die Bundesregierung sagt, was Sie damals ausführten: Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und Kontinuität unserer Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik sind das Kennzeichen der Politik dieser Regierung und in diesem speziellen Bereich das Marken- und Gütezeichen des Außenministers, meines Freundes Hans-Dietrich Genscher.
({8})
Das, meine Damen und Herren, ist eine Außenpolitik des Friedens, der Verständigung und der
Zusammenarbeit. Diese Außenpolitik hat sich bewährt, gerade auch in den Zeiten internationaler Spannungen, und sie hat dazu beigetragen, den Entspannungsprozeß auch in diesen Zeiten aufrechtzuerhalten.
Wir wissen, daß dieser Dialog zwischen West und Ost gerade für uns in einem geteilten Land wichtig ist und daß wir ein besonderes, weitergehendes Interesse haben als andere Länder, diesen Dialog fortzusetzen. Deswegen sind wir daran interessiert, daß die Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem sowjetischen Generalsekretär fortgesetzt werden und Ergebnisse haben. Wir wollen dazu beitragen, gute Voraussetzungen für Ergebnisse dieser Treffen zu schaffen.
({9})
Diese Regierung steht auch ein für die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses, eines Prozesses, der in besonderer Weise den Beitrag europäischer Länder markieren kann und der dazu beitragen wird, daß dieser Dialog nicht nur zwischen zwei großen Mächten stattfindet.
Die Bundesrepublik arbeitet gemeinsam mit ihren Partnern auf einen erfolgreichen Abschluß der Stockholmer Konferenz hin. Vertrauensbildenden Maßnahmen, die dort von den 35 Teilnehmerstaaten vereinbart werden sollen, kommt eine entscheidende Bedeutung für den Fortgang der Rüstungskontrolle auf unserem Kontinent und darüber hinaus zu. Die Bundesregierung setzt sich - damit gehört sie zu den aktiven Mitgliedern der Genfer Abrüstungskonferenz - für ein weltweites Verbot chemischer Waffen ein. Die Bundesrepublik führte zusammen mit Frankreich in der NATO einen Beschluß herbei, das Konzept für eine konventionelle Rüstungskontrolle in ganz Europa durch eine hochrangige Arbeitsgruppe weiterzuentwickeln.
Ohne unsere aktive Friedenspolitik, meine Damen und Herren, hätte es dadurch kein Mehr an Stabilität, auch nicht in den deutsch-deutschen Beziehungen, gegeben.
({10})
Wir wollen alles dazu beitragen, daß diese politische Zusammenarbeit durch wirtschaftliche Kooperation unterstützt wird. Diese Wirtschaftsbeziehungen können nicht die Entspannungspolitik ersetzen; sie sind aber ein Fundament für diese Politik. Auch wenn es derzeit infolge des Ölpreisverfalls Schwierigkeiten im Handel zwischen Ost und West gibt, so gibt es auch Ansatzpunkte für eine Belebung. Wie andere Mitglieder der Bundesregierung habe auch ich immer wieder den Versuch unternommen, diese wirtschaftliche Kooperation zu unterstützen.
Wir haben begrüßt, daß es einen Prozeß der Annäherung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem RGW gibt. Auch das ist eine notwendige Ergänzung; allerdings soll und darf diese Form der Zusammenarbeit nicht an die Stelle der bilateralen Beziehungen treten. Auch dieses Konzept wird von der Sowjetunion akzeptiert.
Seit dem letzten Besuch des Außenministers in Moskau wird eine Konferenz vorbereitet, die über neue Formen der wirtschaftlichen Kooperation mit der Sowjetunion beraten und beschließen soll, einer Kooperation, die bis hin zu Joint Ventures gehen kann und soll, um auf diese Weise die ausgebliebenen Fortschritte im klassischen Handel durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zu ersetzen.
({11})
Die Außenpolitik der Bundesregierung hat auch einen ganz wesentlichen Beitrag zum Fortgang der europäischen Einigung geleistet. Wie Sie, Herr Schmidt, bin ich der Meinung, daß die Frage der europäischen Einigung bei uns deswegen zu einem einseitigen politischen Dialog geführt hat, weil wir uns mit Fehlentwicklungen in der europäischen Einigung auseinanderzusetzen haben, die den eigentlichen Wert dieser Einigung schon fast zu überlagern und zu verdecken scheinen. Meine Damen und Herren, kein Bürger sollte sich durch die Schwierigkeiten des Agrarmarktes davon abhalten lassen, intensiv daran mitzuwirken, daß diese Europäische Gemeinschaft zusammenfindet und identischer wird, als sie heute ist; denn darin liegt eine Vorbedingung für eine gute Entwicklung überhaupt.
Die Bundesregierung hat dazu beigetragen, daß über eine einheitliche Europäische Akte, die zu Beginn des Jahres 1986 unterzeichnet werden konnte, eine ganze Reihe von neuen Schritten möglich geworden sind. Ich nenne die schrittweise Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bis 1992, Verbesserungen der Entscheidungsverfahren in der Gemeinschaft, die verstärkte Möglichkeit, Mehrheitsentscheidungen im Rat anzuwenden, Erweiterungen der Befugnisse des Europäischen Parlaments und die Aufnahme neuer Bereiche in die Römischen Verträge.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hauff?
Ja, bitte sehr.
Herr Bundesminister, angesichts der Tatsache, daß Sie die einheitliche Europäische Akte für so wichtig erachten, frage ich Sie: Würden Sie dem Parlament mitteilen, wann die Bundesregierung entsprechende Beschlüsse im Bundeskabinett zu fassen und das Gesetzgebungsverfahren zu eröffnen beabsichtigt?
Sehr gerne, Herr Hauff, das kann ich tun. Sie wissen, daß durch diese Europäische Akte - gerade auch in der Frage neuer Mehrheitsentscheidungen - eine ganze Reihe von politischen Kompetenzen, die bisher ausschließlich nationalstaatlich organisiert waren, auf die Kommission und den Ministerrat übertragen werden. Da das natürlicherweise die politischen Interessen der Länder berührt, findet derzeit eine Abstimmung mit den Bundesländern, und zwar mit allen Bundesländern, statt. Wenn diese Abstimmung abgeschlossen sein wird, kann das Ratifizierungsverfahren eingeleitet werden. Ich hoffe, daß das möglichst bald geschehen kann. Wenn Herr Rau hier wäre, könnte er Ihnen übrigens sagen, daß der Außenminister deshalb mit ihm schon ein Gespräch geführt hat.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte.
Mit anderen Worten, Sie können keinen Zeitpunkt nennen?
Wenn ich eine Abstimmung mit den Ländern vornehme und wenn ich das, wie ich hinzufügen darf, lieber morgen als übermorgen machen möchte, können Sie daraus ja entnehmen, daß wir uns intensiv darum bemühen.
Die deutschfranzösische Zusammenarbeit hat sich entwickelt. Auch Eureka ist ein Beweis dafür, daß neue Initiativen, die die Bundesregierung eingeleitet und erheblich unterstützt hat, Bedeutung erlangt haben. Immerhin haben 19 Staaten Europas und die EG-Kommission Anstrengungen vereinigt, und es wurden über 70 Projekte in Angriff genommen.
Ich möchte ausdrücklich erwähnen, daß zu diesen europäischen Staaten, was sich ja bereits aus der Zahl ergibt, auch Nichtmitgliedsländer der EG gehören. Ich tue das, weil ich nicht möchte, daß der falsche Eindruck entsteht, die Europäische Gemeinschaft sei Europa. Europa ist weiter und größer als die Europäische Gemeinschaft. Die Länder, die wir in diese Anstrengungen einbezogen haben, haben das mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen und akzeptiert, daß sich die Bundesregierung wesentlich dafür eingesetzt hat, daß der enge institutionelle Rahmen der EG nicht zum Hemmnis geworden ist.
({0})
Der finanz- und haushaltspolitische Sprecher der SPD-Fraktion hat gestern darauf hingewiesen, wie wichtig die weitere Entwicklung des Freihandels auf der Welt und die handelspolitischen Anstrengungen der Bundesregierung sind. Ich kann das nur unterstreichen. Ich freue mich, daß das eine Änderung mancher Äußerungen anzudeuten scheint, die man früher gehört hat, wo darauf hingewiesen worden ist, wie gefährlich es doch sei, daß ein so großer Teil unseres Bruttosozialprodukts aus außenwirtschaftlichen Beziehungen erwirtschaftet wird. Denn wir haben da keine Wahl. Wir können nicht bewußt, gewollt auf diesen Beitrag zum Wachstum der Wirtschaft und zu unserem Bruttosozialprodukt verzichten. Wir müssen alles unternehmen, daß die protektionistischen Anstrengungen und Bemühungen anderer Länder eingedämmt werden können.
({1})
Deshalb hat sich die Bundesregierung mit Entschiedenheit
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- auch dazu komme ich gleich - dafür eingesetzt, daß wir zu einer neuen GATT-Runde in Punta del Este in Uruguay kommen. Ich habe auf mehreren Konferenzen, die der Vorbereitung dieses Treffens dienten, mit den Handelsministern der wichtigsten Mitgliedsländer des GATT und auch bei bilateralen Besuchen alles getan, um die zunächst sehr starke Ablehnungsfront einiger Länder aufzubrechen. Es ist nach zweijährigen Bemühungen gelungen, auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Position zu erarbeiten, die den Schluß zuläßt, daß wir in dieser Vorbereitungskonferenz die neue Runde einläuten können.
Wir verfolgen damit drei strategische Ziele: zum einen den nach wie vor virulenten und gefährlichen protektionistischen Kräften in anderen Ländern Einhalt zu gebieten. Ohne einen Erfolg dieser Konferenz und ohne den Beschluß, die Konferenz einzuläuten, würde der freie Welthandel in höchste Gefahr geraten, weil das von anderen Ländern als Zeichen genommen würde, vom Prinzip des Freihandels Abschied zu nehmen und zum Protektionismus zurückzukehren. Dem müssen wir Einhalt gebieten, und zwar auch durch den wirksamen und konkreten Abbau von Handelshemmnissen und -verzerrungen. Das heißt, wir müssen auch im internationalen Handel mehr marktwirtschaftliche Prinzipien und Prinzipien des Freihandels durchsetzen.
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Dazu gehört auch, daß das GATT in seinen Mechanismen und Regelungsbefugnissen verstärkt wird. Es ist sicher bis jetzt eine nützliche Einrichtung gewesen, aber eine Einrichtung, die zu wenige Durchsetzungsmöglichkeiten hatte und deswegen gegenüber den Ländern, die sich nicht an die Regeln halten, zu hilflos reagierte. Deshalb brauchen wir eine Verstärkung dieser Mechanismen.
Nun, was kann und muß die Bundesrepublik argumentativ in der Situation vortragen, in der sie jetzt ist: mit großen Handelsbilanzüberschüssen und demgemäß einer positiven Leistungsbilanz? Ich bitte darum, nicht selber die falsche Argumentation aufzugreifen, die viele Länder, die mit Handelsbilanzdefiziten leben müssen, verwenden, nämlich daß ein solches Defizit oder ein solcher Überschuß eine Frage eines einzigen Landes sei. Das ist eine Frage des Welthandelssystems insgesamt, und solche Überschüsse oder Defizite gleichen sich in der Gesamtheit der Welthandelsbeziehungen aus. Es ist nicht so, daß sie ständig bestehen. Es ist übrigens auch nicht so, daß sie gegenüber allen Ländern bestehen. So ist die erfreuliche Tatsache festzustellen, daß wir mit Entwicklungsländern defizitäre Handelsbilanzen haben. Das heißt, unsere Bemühungen um die Öffnung unserer Märkte führen zu dem erfreulichen Ergebnis, daß gerade die Länder, auf die es ankommt oder denen diese Möglichkeit gegeben werden muß, sie ausnutzen können.
({4})
Das setzt allerdings voraus, daß wir uns über diese Prinzipien nicht nur theoretisch einig sind, sondern daß man auch in der praktischen Politik das Nötige tut, um sie durchzusetzen. Ich bilde ein
Beispiel. Wenn wir uns bemühen, ein liberaleres Welttextilabkommen zu erreichen - und die Bundesregierung hat sich ganz wesentlich dafür eingesetzt -, dann ist es natürlich wunderschön, wenn die Opposition - in dem Fall kann ich jetzt nicht von den GRÜNEN sprechen, die ja ganz generell den Export überhaupt abschaffen wollen ({5})
- ja nun, irgendwo müssen sie ja anfangen - ({6})
dann ist es nicht sehr hilfreich, wenn die SPD ihrerseits die Notwendigkeiten nicht einsieht, die damit verbunden sind.
Mit anderen Worten: Es ist sehr einfach, zu Hause protektionistisch zu sein, seine eigenen Industrien mit fadenscheinigen Vorwänden zu schützen, sich dann aber auf großen internationalen Konferenzen für den Freihandel einzusetzen. Das kann man auch nicht machen.
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Deswegen hoffe ich, daß wir bei dieser Bemühung, die auch bei uns einige zusätzliche Anpassungsschwierigkeiten schaffen wird, auf die Unterstützung des ganzen Hauses rechnen können.
Wir werden bei dieser neuen Runde übrigens nicht nur über die traditionellen Handelshemmnisse zu reden haben, sondern auch über Grauzonen, über Subventionen, über andere Maßnahmen, z. B. über Exportselbstbeschränkungen, die heute in viel höherem Maße den Handel beeinträchtigen, als das früher der Fall war. Deswegen sollte auch niemand glauben, daß das Thema der Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft tabu sein könnte. Es wird und muß ein Gegenstand dieser Verhandlungen sein.
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Die Bundesregierung unterstützt insbesondere auch die amerikanische Forderung, Dienstleistungen in den Katalog der Gegenstände mit aufzunehmen, die dem GATT unterliegen. Ich glaube, daß das eine neue und wirkungsvolle Bestätigung des Prinzips des Freihandels sein kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu der Problematik von Wirtschaftssanktionen gegenüber Südafrika sagen. Sie wissen, daß wir uns hier im Hause alle einig sind, daß das menschenverachtende Regime der Apartheid keinerlei politische, moralische oder andere Unterstützung verdient. Darüber müssen wir nicht diskutieren. Wir werden übrigens auch bei Einzelmaßnahmen diese Einschätzung in politische Aktionen umsetzen. Die Europäische Gemeinschaft prüft derzeit, welche Maßnahmen gegen Südafrika rechtlich möglich und wirkungsvoll sind, um einen entsprechenden Druck auf die Regierung auszuüben. Aber unsere Haltung, umfassende Wirtschaftssanktionen nicht als Mittel der Politik zu nutzen, gilt nach wie vor. Ich werde noch einmal versuchen, Ihnen darzulegen, warum dies eine so
wichtige, grundsätzliche Entscheidung außenwirtschaftlicher Politik sein muß.
Wirtschaftssanktionen sind in der Regel unwirksam. Sie waren jedenfalls in der Vergangenheit immer unwirksam, angefangen bei historischen Maßnahmen wie etwa der napoleonischen Kontinentalsperre. Alle wissen um die Umgehungsmöglichkeiten. Jeder weiß, daß z. B. die Wirtschaftssanktionen gegen das damalige Rhodesien dieses Land nicht etwa in die Knie gezwungen haben, sondern dazu beigetragen haben, daß es durch eigene Anstrengungen und Unterstützung anderer wirtschaftskräftiger geworden ist. Außerdem glaube ich, daß für den Fall, daß solche allgemeinen Wirtschaftssanktionen tatsächlich wirken und greifen sollten, die Situation in Südafrika dadurch nicht besser werden kann, sondern noch stärker aufgeheizt wird und dadurch Zwänge auf beiden Seiten entstehen, auf der Seite der schwarzen Bevölkerung wie auf der Seite der weißen, die wir nicht entstehen lassen sollten. Diese Zwänge werden sich besonders nachteilig gerade für die schwarze Bevölkerung auswirken, denn gerade sie ist darauf angewiesen, daß wenigstens ihre materielle Existenz über funktionierende Wirtschaftsbeziehungen gesichert ist.
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Im übrigen geschieht auch schon einiges. Wir haben ein Waffenausfuhrverbot, wir haben ein Ausfuhrverbot für sensible Technologien, wir haben ein Verbot der nuklearen Zusammenarbeit. Und letztlich - das möchte ich hier mit aller Klarheit sagen -: Wer für umfassende Wirtschaftssanktionen, für einen Wirtschaftsboykott gegenüber Südafrika eintritt, der muß diesen Boykott rechtfertigen. Er kann und wird ihn nur mit moralischen Überlegungen rechtfertigen, mit Überlegungen, die den Menschenrechten zugrunde liegen. Wenn das aber richtig ist, dann darf dieser, wenn er nicht unglaubwürdig werden will, nicht dieselbe Anstrengung unterlassen, wenn es sich um andere Länder handelt, die ebenfalls gegen Menschenrechte verstoßen.
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Deswegen, Herr Kollege Vogel, sind wir gegen eine solche allgemeine Verhängung eines Wirtschaftsboykotts, weil wir wissen und glauben, daß Sie sich im Falle Nicaragua sicher anders verhalten würden als im Falle Südafrika.
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- Wir nicht. Wir haben uns in allen Fällen gleich verhalten. Wir haben im Fall Nicaragua, im Fall Libyen, im Fall Libanon, im Fall Südafrika, in all diesen Fällen - ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Wertung - einen allgemeinen Wirtschaftsboykott aus guten Gründen abgelehnt.
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Meine Damen und Herren, diese Haltung der Bundesrepublik nach außen, die in sich geschlossen, logisch und konsistent ist, sollten wir auch an den Tag legen, wenn wir unsere eigene Ordnung im Innern betrachten. Wer die Menschenrechte achtet, muß das nach außen wie nach innen tun. Wir haben ein Problem, auf das auch der Herr Kollege Schmidt eingegangen ist, das Problem des Asylrechts, das uns alle in besonderer Weise zu einer Anstrengung auffordert.
Ich glaube zunächst einmal, daß diejenigen recht haben, die - in den Regierungsfraktionen wie auch außerhalb - den steigenden Strom von Asylbewerbern mit Besorgnis betrachten. Denn wir alle wissen, meine Damen und Herren: Je mehr Scheinasylberechtigte oder -antragsteller, je mehr Menschen dieses Recht aus anderen Gründen als aus politischer Verfolgung in Anspruch nehmen wollen, desto schwieriger wird es, denjenigen Asyl zu gewähren, die wirklich Anspruch darauf haben und denen wir helfen müssen.
({13})
Das ist der entscheidende Grund, meine Damen und Herren, warum wir im Verfahrensrecht alle Anstrengungen unternehmen müssen, damit die Unterscheidung zwischen politischen Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen, wie man allgemein sagt, rechtzeitiger, klarer und auch mit den entsprechenden Konsequenzen einer Abschiebung getroffen werden kann. Denn erst wenn das geschieht, hört dieser Druck aus Ländern auf, die die Bundesrepublik als Einwanderungsland betrachten, was sie nicht ist. Aber dazu - und das ist die Meinung meiner Partei, die ich hier auch deutlich sagen will - reicht es aus, die Asylverfahrensrechte entsprechend zu gestalten; wir haben uns mit dem Koalitionspartner darüber geeinigt. Einer Grundgesetzänderung bedarf es nicht.
({14})
Gestatten Sie, Herr Bundesminister, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Ich möchte jetzt weitermachen. Ich habe wenig Zeit und möchte allen nachfolgenden Rednern Gelegenheit geben, ihre Rede hier zu halten. Der Herr Bundeskanzler a. D. Schmidt hat zwar sicherlich mit Recht zwei Stunden gesprochen - ich kritisiere das nicht -, aber er bringt alle nachfolgenden Redner in Schwierigkeiten. Ich bitte deswegen um Nachsicht, wenn ich jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Wirtschaftslage machen. Das ist nicht mehr umfangreich notwendig, nachdem wir gestern nachmittag darüber diskutiert haben. Aber, meine Damen und Herren, eines ist trotz aller Rechnungen - und man kann, je nachdem, welche
Zeiträume man wählt, je nachdem, welche Erscheinungen man herausnimmt, unterschiedliche Rechnungen anstellen -, wenn nicht hier in diesem Haus, so doch außerhalb und bei den Bürgern, die im Januar ihre Entscheidung über den Erfolg dieser Regierung in der Wirtschaftspolitik zu treffen haben, klar: Die wirtschaftliche Lage hat sich erheblich verbessert,
({0})
seitdem diese Regierung die Wirtschaftspolitik bestimmt.
({1})
Wir hatten seit Beginn der 80er Jahre eine stagnierende Wirtschaft, sinkende Beschäftigung, rasch wachsende Arbeitslosigkeit. Wir hatten eine Inflationsmentalität. Das ist z. B. ein Punkt, in dem ich mit Herrn Schmidt überhaupt nicht übereinstimme. Der berühmte Satz „5 % Inflation sind mir lieber als 5 % Arbeitslosigkeit" zeigt die ganze Fehlorientierung der Wirtschaftspolitik früherer Regierungen.
({2})
Deswegen, meine Damen und Herren, gab es eine resignierende Stimmung, die ein schleichendes Gift für jedes wirtschaftliche Wachstum ist. Das haben wir überwunden. Denn was haben wir erreicht? Das Sozialprodukt ist seit Ende 1982 um 11% gestiegen, hat sich also in den vier Jahren bis 1986 gegenüber 1982 real um rund 160 Milliarden DM erhöht. Dagegen war das Sozialprodukt 1981 und 1982 zusammengenommen um 14 Milliarden DM gesunken. Die Ausrüstungsinvestitionen haben um 25 % zugenommen. Wenn Sie dieses Jahr mit in die Rechnung einbeziehen, werden Sie auch insgesamt zu einer Steigerung der Ausrüstungsinvestitionen kommen.
Von der Konsolidierung des Staatshaushalts ist bereits gesprochen worden. Hier muß sich die Opposition mal einigen, ob das stimmt, was Herr Schmidt sagte, daß die Konsolidierung zu rasch vorangegangen sei, oder ob das andere stimmt, daß man sich hoch verschuldet habe, was gestern die ganze Debatte beherrscht hat. Was ist denn nun richtig? Was ist Ihr Vorwurf? Haben wir zu rasch oder zu wenig konsolidiert? Was ist denn nun eigentlich wahr?
({3})
- Ich weise nur ganz bescheiden darauf hin, daß zwischen dem, was Herr Apel gestern gesagt hat, und dem, was Herr Schmidt heute morgen zur Haushaltskonsolidierung ausgeführt hat, ein fundamentaler Unterschied besteht.
({4})
Der Rückgang der Beschäftigung ist gestoppt. Ich
weise es zurück, meine Damen und Herren, wenn
diejenigen, die immer wieder die Arbeitslosigkeit
als das Problem Nummer eins bezeichnen - worin sie recht haben -, gleichzeitig sagen:
({5})
Jetzt macht die Bundesregierung eine vergebliche Anstrengung, das über neue Beschäftigungszahlen zu verdecken.
600 000 Arbeitsplätze mehr bis Ende des Jahres und 900 000 mehr bis Ende des nächsten Jahres! Meine Damen und Herren, das sind 900 000 Arbeitslose weniger!
({6})
Das wird j a auch deutlich, die Menschen haben wieder Zutrauen.
({7})
Schauen Sie sich an, was die Institute, die wahrhaftig nicht immer die Meinung der Bundesregierung vertreten, über Investitionsbereitschaft, über die Zukunftshoffnungen der Menschen, über die Bereitschaft ihre wirtschaftliche Zukunft besser zu sehen, sagen.
({8})
Diese Zuversicht ist auch gerechtfertigt, weil sie sich auf die Fortsetzung dieser Politik in den nächsten vier Jahren verlassen können.
({9})
Meine Damen und Herren, auch das ist vielleicht ein Grund, warum Herr Rau hier zitieren läßt und nicht erscheint.
({10})
Da ist der Hinweis auf die anderen zehn Ministerpräsidenten natürlich peinlich. Ich dachte immer, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sei der Kanzlerkandidat der SPD. Das scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
({11})
Es ist ja ganz interessant, warum er nicht hierher kommt. Denn er würde dann gefragt werden, was seine Konzeption ist und wie sie mit der Konzeption seiner Partei zu wirtschaftlichen Fragen übereinstimmt.
({12})
Es spricht doch Bände, daß der finanzpolitische und
der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zwei Anläufe brauchen, um auch
nur in den Bundesvorstand der SPD gewählt zu werden.
({13})
Meine Damen und Herren, in welcher Welt befinden wir uns eigentlich? In China führt man Elemente der Marktwirtschaft ein. Die Sowjetunion versucht, ihre Betriebe mit marktwirtschaftlichen Elementen effizienter zu machen.
({14})
Heute morgen konnten Sie nachlesen, daß die chinesische Regierung ein Arbeitsrecht beschlossen hat, das wir hier überhaupt nicht anwenden könnten, weil wir mit diesem Arbeitsrecht hinter den Stand, den wir heute erreicht haben, zurückfallen würden.
({15})
Überall in der Welt, meine Damen und Herren, in sozialistischen und kommunistischen Ländern erkennt man den Wert des Marktes, weil der Markt effizienter wirtschaftet und damit für jeden Bürger Kosten vermeidet. Nur die SPD hat ihre Bedenken gegenüber dem Markt neu ausgegraben. Sie sind die einzige politische Kraft auf der ganzen Welt, die die Marktwirtschaft nicht akzeptiert.
({16})
- Daß Ihnen das nicht paßt, ist ja klar. Holen Sie doch den Herrn Rau hierher, dann werden wir ihn fragen, was er wirtschaftspolitisch und sicherheitspolitisch machen will.
({17})
Es trifft doch auch zu, was bei der Wandinschrift des SPD-Parteitages, von einem SPD-Mitglied gefertigt, über Rau gesagt worden ist. „Rau: Mir nach, Genossen! Ich folge euch!"
({18})
Das ist Ihr Problem, und weil das Ihr Problem ist, wissen Sie auch ganz genau, daß es im Grunde genommen mehr als Pfeifen im dunklen Wald ist, wenn Sie glauben, eine absolute Mehrheit erreichen zu können.
({19})
Das ist Vortäuschung einer Wirklichkeit, die überhaupt nicht besteht. Und das wissen Sie im Grunde ganz genau. Ihre Hände sind ja gebunden. Der Wahlkampf, den Sie führen werden, beruht auf so utopischen Voraussetzungen, daß Sie selber jede Bedingung geschaffen haben, keinen Erfolg zu bekommen.
({20})
- Ja, wir werden das so weitermachen,
({21})
weil wir wissen, daß wir damit Erfolge erzielt haben, von denen Sie nur träumen können.
({22})
Ich sage hier: Das, was Herr Dregger gesagt hat, trifft zu. Diese Erfolge sind in einer Koalition erreicht worden, die viel mehr Geschlossenheit und viel mehr gemeinsamen Willen hat, als das vielleicht in früheren Koalitionen der Fall war.
({23})
Das wird notwendig sein. Denn, meine Damen und Herren, was ist denn eigentlich die Auseinandersetzung, um die es in diesem Wahlkampf geht?
({24})
- Dann seien Sie ein bißchen ruhig, damit Sie wegen Ihres eigenen Geschreis nichts verpassen. Besonders Sie, Herr Ehmke, möchte ich jetzt mal aufklären.
({25})
Wir hatten - darauf hat Herr Schmidt mit Recht hingewiesen - in der Bundesrepublik eine Reihe von grundlegenden Entscheidungen zu treffen, wir alle, die Bürger. Das war nach 1945 die Frage: Wie sieht die Zukunft der Bundesrepublik aus? Werden wir in einem westlichen Bündnis zusammen mit Freunden leben, die ähnliche politische Ziele verfolgen, und werden wir das mit einer Wirtschaftspolitik untermauern können, die marktwirtschaftliche Prinzipien umsetzt? Das war die entscheidende Frage. Deswegen gab es damals die Koalition zwischen CDU, CSU und FDP. Die SPD, die heute Herrn Wehner und Herrn Schmidt gefeiert hat, sollte sich einmal überlegen, wie weit sie inzwischen von dem abgekommen ist, was Wehner auf dem Godesberger Parteitag und im Anschluß an seine Rede zur NATO im Bundestag durchgesetzt hat.
({26})
Das sollten Sie sich einmal überlegen.
({27})
Wir hatten eine sozialliberale Koalition, meine Damen und Herren - ich sage das hier auch ganz
deutlich -, die nicht ein Betriebsunfall politischen Liberalismus' in der Bundesrepublik war.
({28})
- Nein. Damals war die wichtige Aufgabe zu lösen, nach der Aussöhnung mit dem Westen, nach der Schaffung von Freunden und Freundschaften ein einigermaßen vernünftiges Lebensverhältnis mit unserem östlichen Nachbarn zu schaffen. Deswegen war diese Koalition auch notwendig. Aber, meine Damen und Herren, die Koalition, in der wir jetzt leben, war notwendig, weil sich die Situation von 1945 wiederholt, weil es Zweifel gibt, ob die SPD noch so zu dem Atlantischen Bündnis steht, wie das damals Herbert Wehner durchgesetzt hat,
({29})
weil es mehr als Zweifel gibt, schon fast eine Gewißheit, daß die SPD auf dem Marsch weg von der Marktwirtschaft ist,
({30})
daß sie das einführen will, von dem andere Länder Abschied nehmen. Weil das so ist, wird meine Partei diese Koalition mit CDU und CSU fortsetzen. Wir werden noch mehr Erfolg haben, als wir in den vergangenen vier Jahren hatten.
({31})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundeskanzler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte zum Haushalt 1987 ist natürlicherweise eine Generalaussprache für die ganze Legislaturperiode von 1983 bis 1987. Es ergibt sich auch zwingend aus dem nahen Termin der Bundestagswahl am 25. Januar - das ist in knapp vier Monaten -, daß bei dieser parlamentarischen Auseinandersetzung nicht nur Rechenschaft gefordert und Kritik geübt wird, sondern auch Perspektiven für die Zukunft erwartet werden.
({0})
Wir haben, meine Damen und Herren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eben die eindrucksvolle Abschiedsrede von Helmut Schmidt gehört. Es waren die Erfahrungen und die Reflexionen eines der großen Parlamentarier und politischen Gestalten in der Geschichte unserer Bundesrepublik.
({1})
Ich stehe nicht an, Herr Kollege Schmidt, gerade auch im Sinne der Worte, die die Frau Präsidentin gefunden hat, in diesem Augenblick meinen persönlichen Respekt zu bekunden vor einer Lebensleistung im Dienste der Republik.
({2})
Wenn ich dies sage, Herr Kollege Schmidt, denke ich natürlich dabei auch - und wer versteht das besser als Sie selbst? - an manche harte parlamentarische Auseinandersetzung - Sie sprachen davon - der letzten Jahre, an manche heftige Kontroverse. Parlamentarische Auseinandersetzung, das heißt ja nicht, daß man sich gegenseitig Freundlichkeiten sagt, aber daß man sich gegenseitig, wie ich denke, wie sicher auch Sie denken, unterstellt, daß auch der andere, der politisch eine andere Perspektive und Meinung vertritt, das Beste für das Land will. Und unter diesem Gesichtspunkt will ich Ihnen, auch gerne zu vielem zustimmend, ein Wort zu dem sagen, was Sie ausgeführt haben. Vor allem will ich einen Satz aufgreifen. Ich will es in meinen Worten sagen: Sie haben Stellung bezogen gegen ein Freund-Feind-Verhältnis in der parlamentarischen Demokratie. Ich halte das für einen wichtigen Satz; denn ich glaube, daß der erste große demokratische Versuch der Deutschen, nämlich die Weimarer Republik, nicht zuletzt daran zugrunde gegangen ist, daß man den Graben zwischen politischen Meinungen auch unter Demokraten hatte zu tief werden lassen. Sie verstehen natürlich auch, daß ich vieles von dem, was Sie dann noch gesagt haben, überhaupt nicht akzeptiere. Dazu gehörten Ihre Worte als Oppositionsredner. Insofern waren Sie der erste Oppositionsredner.
Ich habe auch bemerkt - das ist eben schon von Martin Bangemann mit Recht gesagt worden -, daß Sie oft Ihren Kanzlerkandidaten zitiert haben. Herr Kollege Schmidt, wir haben uns ja einmal in der umgekehrten Funktion gegenübergestanden. Ich stelle Ihnen einfach die Frage: Wie hätten Sie es damals, 1976, kommentiert, wenn ich als einer neben zehn anderen, wie Sie zu sagen beliebten, der parlamentarischen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag aus dem Weg gegangen wäre?
({3})
Bei dem, was Sie aus der Vergangenheit gesagt haben - und das räume ich gerne ein -, hat sicherlich der Blick zurück manches verklärt, und manches ist auch durch die Brille Ihres Temperaments gesehen worden.
({4})
Für eines wäre ich Ihnen allerdings dankbar gewesen: wenn Sie heute bei dieser Abschiedsrede auch noch einmal zu den Punkten Position bezogen hätten, von denen ich sicher bin, daß Sie in entscheidenden Teilen den Regierungsfraktionen des Hauses näher stehen als Ihrer eigenen Partei.
({5})
Bei allem Respekt, Herr Kollege Schmidt - und dafür habe ich auch viel Sympathie -, für die Solidarität zur eigenen Partei, die ja in Jahrzehnten nicht nur irgendeine Interessengemeinschaft ist, sondern ein Stück persönlicher Heimat, glaube ich schon, daß Sie der deutschen Öffentlichkeit auch ein Wort darüber schulden, welche Wege Ihre eigene Partei heute geht in der Außen-, in der Sicherheitspolitik, in der Wirtschafts-, in der Energiepolitik.
Und Sie haben mit sehr viel Wärme von der Einheit unserer Nation gesprochen. Sie wissen, Herr Kollege Schmidt, daß starke Kräfte Ihrer Partei aufgebrochen sind, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern.
({6})
Das verträgt sich überhaupt nicht miteinander.
({7})
Und ein letztes, Herr Kollege Schmidt: Ich glaube, es wäre auch richtig - ob dies heute oder anderswo geschieht -, daß Helmut Schmidt, den ich eben in meiner Weise anzusprechen versucht habe, der deutschen Öffentlichkeit sagt, was er von einem Bündnis der traditionsreichen deutschen Sozialdemokraten mit der Gruppe der GRÜNEN hält. Auch das ist eine Frage, die zur Beantwortung ansteht.
({8})
Herr Kollege Schmidt, Sie haben in der Vorbereitung - und das ist ja auch ganz verständlich - zum heutigen Tag manches nachgelesen. Sie haben daraus zitiert. Auch ich habe mir erlaubt, das zu tun, und zitiere einen Satz vom 24. November 1980 - aus Ihrer Regierungserklärung nach der Wahl -:
Wir sind nicht Objekt der Geschichte. Wir sind handlungsfähig - und wir sind handlungswillig. Je nachdem, wie wir uns politisch entscheiden, kann unser Land in zehn oder zwanzig Jahren sehr verschieden aussehen.
Ich stimme diesem Satz voll und ganz zu. Meine Damen und Herren, weil dies so ist, ergibt sich für die Wahl am 25. Januar, daß es eine Richtungswahl für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland ist.
({9})
Und weil dies so ist, muß klargestellt werden, auf welcher Seite jeder Bewerber um einen Wahlkreis, um ein Mandat im Deutschen Bundestag in den Kernfragen der Republik steht.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben dann einiges zum Thema Arbeitslosigkeit gesagt. Ich will nur noch mit einer Lesefrucht - dann will ich Sie nämlich verschonen - daran erinnern, daß Sie im Juni 1982, zu einem Zeitpunkt, wo von Kennern der Verhältnisse in Bonn die Frage des Fortbestandes Ihrer Regierung schon sehr diskutiert wurde, vor Ihrer Fraktion eine bemerkenswerte Rede gehalten haben; eine Rede, die es gerade jetzt im Blick auf die kommende Richtungswahl im Januar nächsten Jahres lohnt nachzulesen. Sie haben dabei gesagt - ich zitiere: „In diesen zwölf Jahren - gemeint ist die Zeit zwischen 1970 und Anfang 1982 - ist die Zahl der Arbeitsplätze von 26,7 Millionen auf 25,4 Millionen gefallen, also um 1,3 Millionen; gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit von 0 auf 1,8 Millionen gestiegen."
Herr Kollege Schmidt, daraus ergibt sich doch zwingend, daß das, was an Arbeitslosigkeit von der von mir geführten Regierung übernommen wurde, in der Tat eine Erblast Ihrer Zeit ist. Daran führt doch gar kein Weg vorbei.
({10})
Wenn Sie dieses Zitat zugrunde legen - ich sagte schon, es war im Juni 1982 -, dann wissen Sie, daß im Oktober 1982 die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl bereits die 2-Millionen-Grenze überschritten hatte. Genau waren es 2 040 000 Arbeitslose.
Sie wissen auch, Herr Kollege Schmidt, denn daran führt auch kein Weg vorbei: Die Bundesrepublik Deutschland stand am Ende Ihrer Amtszeit mitten in der tiefsten Krise der Nachkriegszeit. Meine Damen und Herren, die Gründe waren vielfältig. Darüber kann man durchaus reden. Aber eines hat Martin Bangemann eben zu Recht gesagt: Am Ende der von einem Sozialdemokraten geführten Regierung stand in diesem Land eine depressive Stimmung, standen Pessimismus und Zukunftsangst. Das sind Tatsachen, die unbestreitbar sind.
({11})
Sie haben viel Beherzigenswertes zum Thema Außen- und Sicherheitspolitik gesagt. Aber auch hierzu muß ich doch als Nachtrag erwidern: Das Problem für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Oktober 1982 bestand doch nicht in den politischen Meinungsäußerungen der FDP, Ihres damaligen Koalitionspartners, und der CDU/CSU, der damaligen Opposition. Im Herbst 1982 standen die Bündnistreue und die Verläßlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als Partner wegen der Entwicklung in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf dem Spiel. Das ist doch die Wahrheit.
({12})
Es gab damals die Abwendung der deutschen Sozialdemokratie unter Führung von Willy Brandt und vielen anderen von Ihrer Sicherheits- und Außenpolitik, wie Sie sie in jener Zeit vertreten haben. Sie haben in den letzten Monaten Ihrer Regierungszeit von der Opposition, der CDU/CSU, und von Ihrem Koalitionspartner FDP weit mehr Unterstützung erfahren als von Ihrer eigenen Partei.
({13})
Sehen Sie, Herr Kollege Schmidt, wir haben seit 1982 das Notwendige getan, um die Verteidigungsbereitschaft der Allianz zu sichern. Wir haben wichtige Initiativen ergriffen und unterstützt. Wir haben das vor allem auch im Blick auf den Dialog mit dem Osten auf dem Feld der Abrüstung und der Rüstungskontrolle getan.
Meine Damen und Herren, die konventionelle Verteidigungsleistung der Bundesrepublik Deutschland stellt im Zusammenhang Mit den amerikanischen Potentialen und Garantien - Sie haben das heute wiederholt; ich unterstreiche das - den Kern der Sicherheit Westeuropas und damit selbstverständlich immer auch der Bundesrepublik Deutschland dar. Wir, diese Koalition von FDP, CSU und
CDU und diese Bundesregierung, haben die Strukturen und die Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte verbessert. Wir haben die Deckung des Personalbedarfs durch die Verlängerung der Wehrpflicht und durch die gleichzeitige Erhöhung der Wehrgerechtigkeit sichergestellt.
Herr Kollege Schmidt, muß es Sie nicht nachdenklich machen, daß in der Zeit von 1969 bis zum Ende Ihrer Amtszeit 1982 wenigstens - wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe - in der Hälfte der Jahre der Verteidigungsetat hier im Deutschen Bundestag einstimmig beschlossen wurde - wenn ich von den paar Stimmen innerhalb der SPD absehe, die immer dagegen abgegeben wurden?
Wir haben eine solche Haltung seitens der Opposition nicht erfahren. Der NATO-Doppelbeschluß ist aus gutem Grund von Ihnen und anderen in einer richtigen Erkenntnis der weltpolitischen Lage und der sowjetischen Rüstungspolitik innerhalb der NATO herbeigeführt worden. Sie haben in den damaligen Debatten im Deutschen Bundestag eine breite Zustimmung dafür erfahren, nicht zuletzt deswegen, weil Ihr damaliger Koalitionspartner, die FDP, und die jetzige Regierungspartei CDU/CSU Ihnen Unterstützung gewährt haben. Sie konnten zu jeder internationalen Konferenz - das gilt übrigens auch für EG-Besprechungen - immer mit der Gewißheit fahren, daß in der Außen- und Sicherheitspoiitik ein breiter Konsens im Haus bestand. Ich war nie, zu keiner Stunde meiner Amtszeit, in der glücklichen Lage, die Zustimmung der großen Oppositionspartei SPD zu einer Konferenz mitnehmen zu können.
Meine Damen und Herren, wir haben den NATODoppelbeschluß ja dann durchgeführt. Sehen Sie, Herr Kollege Schmidt, das Problem ist doch, daß viele Äußerungen - etwa das Ja zur NATO, die Freundschaft zu den Amerikanern oder die Partnerschaft mit den Amerikanern - deswegen nicht überzeugend sind, weil, während Herr Rau das in Washington sagt, führende Leute Ihrer eigenen Partei - das ist nicht irgendwer, sondern das sind wesentliche politische Kräfte Ihrer Partei - überall draußen im Lande, wenn es darum geht, gegen die Amerikaner zu demonstrieren, in der ersten Reihe marschieren und Antiamerikanismus fördern.
({14})
Herr Kollege Schmidt, wir haben doch nicht aus Lust und Freude am Beschluß die schwierige Entscheidung getroffen, die Wehrpflicht auf Grund der demographischen Grundlagen von 15 auf 18 Monate zu verlängern. Das war doch in der Tat wieder einmal eine Chance, Gemeinsamkeit in der Sicherheitspolitik zu demonstrieren. Ich bin ganz sicher, daß, wenn unter den gegebenen Verhältnissen anstelle von Manfred Wörner Helmut Schmidt Bundesverteidigungsminister gewesen wäre, Sie zu dem gleichen Ergebnis gekommen wären, nämlich daß die Wehrpflicht verlängert werden mußte. Ihre Partei hat sich dieser Pflicht entzogen, und deswegen verdient sie kein Vertrauen in Sachen Verteidigung.
({15})
Ich sage es noch einmal: Die Sozialdemokratie bekennt sich zwar öffentlich zum Bündnis
({16})
und zur Freundschaft mit den USA, aber die Entfremdung von der Allianz und die Verstrickung in ein wertneutrales Äquidistanzdenken, die völlig neue und den einstigen Konsenz verleugnende außenpolitische Grundorientierung rühren natürlich an den Grundfesten des Bündnisses. Meine Damen und Herren - auch davon hat Martin Bangemann im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik zu Recht gesprochen -, Sie brauchen sich doch nur in Europa umzusehen. Sprechen Sie mit Ihren sozialistischen Freunden in Frankreich, sprechen Sie mit Ihren sozialistischen Freunden in Spanien, sprechen Sie mit Ihren sozialistischen Freunden in Italien - ich meine jetzt nicht mit den Feunden von der KPI, mit denen Sie sich neuerdings treffen, ich meine die Sozialisten Craxis.
({17})
Wenn Sie mit all jenen sprechen, dann werden Sie doch feststellen, daß diese sozialistischen Parteien und die aus diesem Lager kommenden regierungsverantwortlichen Persönlichkeiten froh und dankbar dafür sind, daß wir als Bundesregierung und damit als Bundesrepublik Deutschland in Sachen Verteidigung eine so klare und damit natürlich auch berechenbare Position vertreten und vertreten haben, auch dann, wenn dies Stimmen gekostet hat. Die Entscheidung beispielsweise vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen, das damals notwendige Gesetz zur Verbesserung der Altersstruktur in der Bundeswehr durchzusetzen, war eine bittere Notwendigkeit, hat aber der Demagogie in Ihren Kreisen Tür und Tor geöffnet.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Verhältnis zu den Amerikanern. Herr Kollege Schmidt, Sie waren viele Jahre Regierungschef. Ich verstehe, daß Sie als Oppositionsredner die Dinge etwas salopp formuliert haben, aber Sie wissen doch auf Grund Ihrer über hundert Besuche in den Vereinigten Staaten, von denen Sie sprachen, daß diese Bundesregierung und vor allem ich in einer Fülle von Kontakten und Konsultationen mit der amerikanischen Regierung selbstverständlich deutsche Politik vertreten haben,
({18})
daß doch überhaupt gar keine Rede davon sein kann, daß wir nicht nachdrücklich unsere Interessen vertreten, daß also - ({19})
- Ich brauche Ihnen nur ein Beispiel zu nennen, das sogar Ihre Zustimmung gefunden hat.
({20})
Wir haben ganz konkret, als es um die Vorgänge in Libyen ging, eine Position bezogen, die nicht die Zustimmung der Amerikaner gefunden hat. Das war doch erst vor ein paar Monaten. Ich kann die Liste beliebig erweitern.
Herr Kollege Schmidt, Sie wissen auch so gut wie ich, daß all das, was Sie zum Thema SDI gesagt haben, einfach so nicht stimmt.
({21})
Im übrigen, denke ich, werden wir noch sehr viel Gelegenheit haben, hoffentlich auch mit Ihnen - dann in anderer Eigenschaft -, über dieses Thema zu diskutieren. Wenn Sie die jüngste japanische Entscheidung in Sachen SDI zur Kenntnis nehmen, dann können Sie sehen, daß der Hintergrund dessen, was Sie gesagt habe, so einfach nicht stimmt.
({22})
Wir legen großen Wert darauf, daß die traditionelle Freundschaft und die enge Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von uns wie von den Amerikanern pfleglich behandelt wird. Wir legen aber selbstverständlich auch Wert darauf, daß wir, die wir die Souveränität unseres Landes und unsere wohlverstandenen Interessen zu vertreten haben, dafür den nötigen Respekt und die nötige Anerkennung finden, und das ist ja auch der Fall.
Wenn es jetzt - ich werde gleich darauf zu sprechen kommen - nach all den Indikatoren, die wir sehen, mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem nächsten Treffen zwischen Generalsekretär Gorbatschow und Präsident Reagen kommt, finden Sie bei den Vorschlägen, die dort unterbreitet werden, vieles von dem wieder, was wir über Konsultationen mit in die Entscheidung eingebracht haben.
Nicht nur uns, sondern allen Europäern, meine Damen und Herren, sind Aufgaben in diesem Feld gestellt, und wir müssen glaube ich, gemeinsam der Gefahr begegnen, daß die Öffentlichkeit eines auch in seinem Selbstbewußtsein wiedererstarkten Amerika immer mehr zur Skepsis gegenüber Europa neigt und daß das Selbstmitleid, das manche Europäer deutlichmachen, dort immer weniger verstanden wird.
Damit bin ich beim Stichwort „Europa". Sie haben dazu sehr viel Beherzigenswertes gesagt, was ich absolut akzeptiere. Sie haben aber im Blick zurück auch vieles verdrängt. Nahezu alles, Herr Kollege Schmidt, was Sie zur europäischen Agrarpolitik aus Ihrer Zeit gesagt haben, ist schlicht und einfach historisch falsch. Ich muß es noch einmal deutlich sagen: Wenn es eine Erblast gab
({23})
- ich sage das übrigens ohne Vorwurf -, dann gab es sicherlich in diesem Feld eine Erblast; denn Sie wissen so gut wie ich, Herr Kollege Schmidt, daß das Konzept der Römischen Verträge von einer schnellen Einführung europäischer Politiken in vielen Feldern ausging, daß dies dann nicht eintrat, daß sich das dann durch viele Jahre, ja Jahrzehnte, in der Agrarpolitik fixierte. Sie wissen, daß man in allen europäischen Staaten - das gilt auch für die Bundesrepublik, und daran sind alle politischen Kräfte beteiligt, das muß man auch sagen - den Bauern die Lösung der Überproduktion anbot. Herr Kollege Schmidt, ich verstehe nicht, daß Sie, der Sie gern von Solidarität sprechen, in diesem Zusammenhang den Vorwurf machen - ich rede nicht von dem, was Herr Apel gestern sagte, das hat sich in sich selbst disqualifiziert - ({24})
- Meine Damen und Herren, wer so wie Herr Apel gestern von Solidarität spricht und dann so zynisch über die Bauern spricht, der hat für mich das Recht verwirkt, über Bauern und von Solidarität zu sprechen.
({25})
Herr Kollege Schmidt, wir haben die Agrarpolitik übernommen, und wir sind jetzt dabei - und das wissen Sie wiederum so gut wie ich -, Stück für Stück, in einem Moment, wo die Dinge nach dem Beitritt von Spanien und Portugal nicht leichter, sondern schwerer geworden und mit den Problemen des Mittelmerraumes noch angereichert sind, die Dinge in eine vernünftige Richtung zu bringen.
Wir haben 1985 beim Europäischen Rat in Mailand zusammen mit Frankreich - wie Sie es mit Recht hier angemahnt haben - den Entwurf eines Vertrages über die außenpolitische Zusammenarbeit eingebracht und zum Bestandteil einer europäischen Akte weiterentwickelt. Aber, meine Damen und Herren, diese europäische Außenpolitik steht natürlich in Wahrheit am Anfang. Wir müssen alle zusammen in Europa ein stärkeres Bewußtsein für eine gemeinsame europäische Interessenlage in der Welt entwickeln. Dabei geht es mir nicht um eine unabhängige Rolle Europas zwischen den Blöcken, sondern darum, den europäischen Pfeiler im Bündnis zu stärken.
Herr Kollege Schmidt, die Luxemburger Beschlüsse mit - ich will nur einen wichtigen Teilpunkt nennen - der Öffnung zum Binnenmarkt in den nächsten Jahren sind ja schließlich eine beachtliche Leistung. Wenn Sie schon anmahnen, dann kann ich doch zurückgebend sagen: Warum haben Sie das nicht zu Ihrer Zeit mit Präsident Giscard d'Estaing entwickelt. Ich kann fortführen, ich kann sagen: Warum ist die militärpolitische Zusammenarbeit zu Ihrer Zeit nicht weiter gediehen? Wir haben jetzt ganz entscheidende und - wie ich denke - bahnbrechende Entscheidungen für die Zukunft getroffen. Deswegen läßt sich die Europa-Politik dieser Regierung sehr wohl sehen.
Um Europa voranzubringen, müssen vor allem - und da sind wir einer Meinung - die Bundesrepublik Deutschland und die Französische Republik zusammenwirken. Daß auch wir engste Beziehungen zu Frankreich haben - so wie das zu Ihrer Zeit auch der Fall war -, mit dem Präsidenten der Republik, mit dem Premierminister, das steht doch außer Frage.
Diese Zusammenarbeit findet ihren Ausdruck in Abstimmung und Zusammenarbeit in allen Fragen der europäischen Integration und im Bereich der Zusammenarbeit bei den neuen Technologien. Ich kann Sie also beruhigen: Herr Chirac und ich, wir
haben gerade gestern abend über den Hubschrauber gesprochen. Wir werden hier gemeinsam tätig werden.
({26})
Aber, Herr Kollege Schmidt, Sie wissen so gut wie ich, daß man, wenn Militärs die Dispositionen über die Machbarkeit und die Einsetzbarkeit eines Gerätes vorlegen, nicht einfach sagen kann, daß das so entschieden werde, sondern das muß mühsam im Detail durchgesprochen werden.
Ich sage noch einmal: Wir haben auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheitspolitik kräftige Schritte in die Zukunft gemacht.
Es ist das Werk aller demokratischen Parteien seit 1949, daß die deutsch-französische Freundschaft ein Kernstück jeder deutschen Politik ist. Darauf sollten wir auch gemeinsam stolz sein und uns nicht gegenseitig nachrechnen, wer da möglicherweise um ein Gramm mehr getan hat.
Meine Damen und Herren, es ist auch wahr - und das ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik gewesen; und wir dürfen auch sagen, wir haben Anteil an der Entwicklung -, daß die WestOst-Beziehungen in Bewegung geraten sind. Wenn Sie nur die Summe der Vorschläge - ob man sie immer akzeptieren mag oder nicht, ist jetzt gar nicht die Frage -, die jetzt für die Besprechung Reagan-Gorbatschow auf dem Tisch liegen, im Blick auf Abrüstung und Entspannung vor sich sehen und sich vorstellen, wir hätten vor zwei Jahren hier über dieses Thema bei der Haushaltsdebatte gesprochen, dann spüren Sie: Damals hätten die wenigsten diese Entwicklung für möglich gehalten. Die Dinge sind in Bewegung geraten.
({27})
Ich bin sicher: Wenn dieses Treffen zustande-kommt, werden davon neue Anstöße für die Zukunft für eine wirkliche Entspannung ausgehen. Dabei weiß ich auch - wir bleiben realistisch - , daß das nur kleine Schritte sind. Aber es werden Schritte in die richtige Richtung sein, etwa in Richtung auf ein weltweites Verbot chemischer Waffen, in der Frage eines Zwischenabkommens, das die Zahl der Mittelstreckenwaffen in West und Ost verringert, beim Problem der Verbesserung der Verifikation eines Teststoppabkommens, hinsichtlich einer Vereinbarung über die Errichtung von Zentren zur Verhinderung nuklearer Risiken und auf dem Gebiet der von der Stockholmer Konferenz behandelten sicherheits- und vertrauensbildenen Maßnahmen und Abrüstungsfragen in Europa.
In den Rüstungskontrollverhandlungen, meine Damen und Herren, ist auf Grund der Vorschläge von beiden Seiten eine Lage entstanden, in der bei Verhandlungswillen und Kompromißbereitschaft konkrete Ergebnisse erzielt werden können. Ich gehe davon aus, daß heute dieser Wille auf beiden Seiten vorhanden ist. Wir haben dazu als Bundesregierung wichtige Beiträge und Anstöße geliefert.
({28})
- Ja, wenn Sie nicht einmal die Tageszeitung lesen, kann ich Ihnen auch nicht helfen, meine Damen und Herren.
({29})
Wenn Sie morgens nur den neuen „Vorwärts" zur Hand nehmen, soweit Sie den wenigstens noch lesen, kann Ihre Information natürlich nicht umfassend sein.
({30})
- Solange es ihn noch gibt, ja.
Wir haben im Rahmen der Konsultation mit den USA und im Bündnis Beiträge zu den amerikanischen Rüstungskontrollvorschlägen und zum Fortgang der Verhandlungen erarbeitet. Wir sind überzeugt, daß unsere Mitwirkung dazu beigetragen hat, daß die amerikanische Antwort auf den sowjetischen Vorschlag vom 11. Juni dieses Jahres weiterführend war.
({31})
Herr Bundeskanzler - Dr. Kohl, Bundeskanzler: Nein, ich bin nicht bereit, die Redezeit jetzt zu unterbrechen.
({0})
Zusammen, meine Damen und Herren, mit den europäischen Bündnispartnern sind wir für die Weiterbeachtung von SALT II eingetreten, sowohl gegenüber der Sowjetunion wie gegenüber den USA. Wir haben entschieden die Auffassung vertreten - Herr Kollege Schmidt, Sie haben nach diesem Punkt gefragt -, daß der ABM-Vertrag bis zu einer beiderseitigen, einvernehmlichen Lösung der Frage des Zusammenhangs zwischen Offensiv- und Defensivwaffen fortgelten muß. Ich habe übrigens bereits im Mai 1985 in meiner Rede auf dem letzten CDU-Parteitag darauf hingewiesen, daß zwischen dem Ausmaß der Reduzierung von Offensivwaffen und der Notwendigkeit und der Zahl von Defensivsystemen ein logischer Zusammenhang besteht. In der Frage eines allgemeinen Abkommens über den nuklearen Teststopp haben wir zum Ausdruck gebracht, daß ein schrittweises Herangehen über eine zeitliche und quantitativ-qualitative Beschränkung von Tests geboten ist. Wir haben eigene Vorschläge zur Verifikation von nuklearen Tests sowie zur Nichtproduktion und Nichtlagerung chemischer Waffen in die Verhandlungen eingebracht. Wir haben gemeinsam mit Großbritannien, meine Damen und Herren, Vorschläge zu MBFR innerhalb der Allianz und schließlich auch in Wien vorgelegt. Wir haben auch die Stockholmer Verhandlungen, wie jeder von Ihnen erkennen kann, ganz maßgeblich mitbestimmt.
Letztlich will ich nur noch darauf hinweisen, daß wir bei der Tagung in Montebello gemeinsam mit unseren Bündnispartnern beschlossen haben, 2 400 nukleare Sprengköpfe in Europa einseitig abzubauen.
Ich stelle also fest, daß sich diese Bundesregierung mit ihren Initiativen und Beiträgen auf allen Ebenen tatkräftig und energisch in den Prozeß der Abrüstungsverhandlungen eingeschaltet hat. Wenn wir jetzt bei dem Gipfeltreffen weitere Fortschritte erreichen, dann, denke ich, darf man mit Recht am Ende dieser vier Jahre sagen: Wir haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß wir sagen können: Frieden schaffen mit weniger Waffen.
({1})
Wir waren auch immer der Meinung, daß eine Stabilisierung der West-Ost-Beziehungen, die von allen gewünscht wird, nicht allein auf dem Wege von Rüstungskontrollverhandlungen erreicht werden kann. Auch die anderen Probleme müssen Lösungen zugeführt werden. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zeichnet sich nach dem Austausch mehrerer Botschaften zwischen Generalsekretär Gorbatschow und mir eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen ab, die man jetzt durchaus als konstruktiv bezeichnen kann. Sie haben ja äußere Zeichen dieser Entwicklung zur Kenntnis genommen anläßlich des Moskau-Besuches der Bundesminister Genscher und Riesenhuber vom 20. bis 23. Juli 1986. Meine Damen und Herren, bei diesem Anlaß erfolgte die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Rahmenabkommens über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und die Paraphierung dazugehörender Ressortabkommen und Programmabsprachen auf den Gebieten der Landwirtschaft, des Gesundheitswesens und der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Meine Damen und Herren, auf diesen Erfolg hat die Bundesrepublik seit 1972 gewartet; auch das ist doch ein Erfolg, der nicht geleugnet werden kann.
({2})
Ich bin auch in diesem Feld ohne jede Illusion; mit dieser Anbahnung eines konstruktiveren Arbeitsverhältnisses sind natürlich nicht alle Schwierigkeiten in den deutschsowjetischen Beziehungen ausgeräumt. Aber ich denke, es sind gute Grundlagen geschaffen für die Zukunft. Vieles deutet darauf hin, daß wir schon in nächster Zeit erleben werden, daß die daraus erwachsenden Chancen von beiden Seiten wahrgenommen werden.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den Besuch des Kollegen Wallmann in diesen Tagen in Moskau
({3})
und an die Entwicklung im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Umweltabkommens. - Ach, Herr Kollege, Sie wollen doch hier nicht diskutieren, sondern Sie wollen Ihre Häme ausbreiten, mit dem Ziel, die Wähler zu verwirren. Das ist doch eine ganz andere Vorstellung von Politik.
({4})
Wir bereiten den Abschluß von Umweltabkommen, von Kulturabkommen und von wissenschaftlich-technischen Abkommen mit einer ganzen Reihe von Ländern des Warschauer Pakts vor. Die
Entwicklung wird uns auch auf diesem Feld recht geben.
Meine Damen und Herren, es ist ganz natürlich, daß in dieser Debatte nach den letzten vier Jahren die Wirtschafts-, die Finanz- und die Sozialpolitik eine große Rolle spielt. Für mich ist nur erstaunlich, mit welch einem Maß von Verwegenheit die Spitze der Sozialdemokratischen Partei auf die Vergeßlichkeit, um nicht zu sagen: auf die Dummheit der Wähler spekuliert.
({5})
Professor Krupp, im Falle eines Wahlsiegs von Hans-Jochen Vogel 1983 als Wirtschaftsminister vorgesehen, hat am 14. Oktober 1982 geschrieben:
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich im Herbst - gemeint war: Herbst 1982 dramatisch verschlechtert. Der Rückgang der Beschäftigung hat sich verstärkt, der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist steiler geworden.
Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute haben im Oktober 1982 in ihrem Ausblick auf das Jahr 1983 hinzugefügt:
Die Zahl der Arbeitslosen dürfte 1983 etwa 2,3 Millionen betragen und damit um mehr als 450 000 höher sein als 1982.
Herr Kollege Vogel, im Februar 1983 und in den Tagen bis zu der großen Fernsehdebatte am Donnerstag vor der Bundestagswahl am 6. März 1983 sind Sie und andere durch das Land gezogen und haben dann noch einen Oppositionszuschlag draufgesattelt. 2,3 Millionen war Ihnen als Horrorzahl zu gering; Sie sprachen von 3 Millionen Arbeitslosen, die unsere Politik herbeiführen würde.
({6})
Meine Damen und Herren, das, was Sie uns vor allem hinterlassen haben - ich sage es noch einmal -, war eine depressive Stimmung, war Pessimismus, war Untergangsszenario.
Es ist auch Übung geworden - wir haben heute wieder etwas davon gehört -, daß ein katastrophaler Abwärtstrend bei Wachstum, Stabilität und Beschäftigung mit dem Hinweis auf die ungünstigen internationalen wirtschaftlichen Verhältnisse entschuldigt wird. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß eine solide Diskussion, eine intellektuell redliche Diskussion in diesem Feld natürlich auch die internationalen Gegebenheiten beachten muß.
({7})
Aber das ist eben nur die Hälfte der Wahrheit. Wenn die OECD - das sollten Sie sich merken, weil es für Ihre Politik steht - für den Zeitraum von 1969 bis 1982 unter den Kanzlern Brandt und Schmidt feststellt, daß in den USA mehr als 20 Millionen, in Japan 6 Millionen, in Kanada 2,5 Millionen und in Italien und in Frankreich jeweils 1 Million neue Arbeitsplätze hinzugekommen sind, dann sind das Zahlen, die Sie bitte mit den Ausführungen
des Kollegen Schmidt vor Ihrer Fraktion im Juni 1982 vergleichen.
({8})
Meine Damen und Herren, hier bei uns, unter den gleichen internationalen Bedingungen, waren es am Ende Ihrer Regierungsverantwortung nicht mehr Arbeitsplätze, sondern rund 700 000 Arbeitsplätze weniger als 1969. Deswegen frage ich Sie schlicht und einfach: Woher nehmen Sie den Mut, hier den Arbeitslosen zu sagen, daß sozialistische Politik in Deutschland für sie Zukunft bedeutet?
({9})
Martin Bangemann hat schon ganz recht: Sie können solche Horrorszenarien hier im Haus entwickeln, Sie können sich vielleicht auch bei Ihrer Vorstandssitzung daran berauschen; im Land glaubt Ihnen dies kein Mensch.
({10})
Aus der Rezession ist wieder Wachstum geworden, und die marxistisch unterbauten Zukunftspropheten, die uns ja, auch aus Ihrem Lager kommend, zu Beginn der achtziger Jahre für ein ganzes Jahrzehnt - übrigens sehr zum Ärger des Kollegen Schmidt - Nullwachstum prophezeit haben, für die überhaupt das Thema „Null" immer etwas Positives enthielt,
({11})
all diese falschen Propheten sind ja ad absurdum geführt worden.
Dabei räume ich ein - da hat der Kollege Schmidt natürlich recht -, daß Dollarkurs und Exporte zu diesem Ergebnis ganz wesentlich beigetragen haben. Aber, meine Damen und Herren, es zeigt sich doch inzwischen, daß die Aufwärtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ganz entscheidend vom inländischen Impuls, d. h. vom privaten Verbrauch und von Investitionen in Maschinen und Anlagen, getragen wird und daß sich auch der so kritische und auf Grund der gegebenen schwierigen - nicht zuletzt demographischen - Verhältnisse beeinträchtigte Baubereich zunehmend stabilisiert hat.
Wir können doch heute mit Fug und Recht behaupten, daß - und das ist ja die gemeinsame Leistung aller Bürger guten Willens in unserem Lande - der Aufschwung in der Bundesrepublik Deutschland auf einem breiten, auf einem soliden Fundament steht.
Die Preise sind so stabil, daß man weit in die Vergangenheit zurückgehen muß, um Vergleichbares zu finden. Wenn Sie nun dauernd die Preisentwicklung bei Öl und Benzin vorrechnen, dann lassen Sie uns das abziehen; dann bleiben wir trotzdem noch bei 1,5 %, und das ist eine Stabilitätsrate, die in der Tat Weltspitze ist. Darauf können wir doch stolz sein!
({12})
Im übrigen wissen Sie doch, weil Sie es draußen in Ihren Versammlungen erleben: Die große Mehrheit unserer Bevölkerung - gerade die Leute mit den kleinen Einkommen, die keine Gelegenheit hatten, in irgendwelche Sachwerte zu flüchten - weiß, daß die größte soziale Tat, die ein Land sich selbst antun kann, die ist, stabile Preise zu haben, und die haben wir.
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Es ist erstaunlich, wenn Sie, meine Damen und Herren, trotz dieses Beispiels, an dem sich ja im übrigen - das ist doch nicht nur eine Frage von Regierung und Opposition - viele verantwortliche Persönlichkeiten auch aus Ihrem Kreis mit beteiligt haben, an dem sich auch viele Gewerkschaftsführer durch vernünftige Lohnabschlüsse - auch das gehört doch in das Gesamtbild hinein - mit beteiligt haben, ein Szenario entwickeln, das besagt, dies alles gebe es nicht. Das glaubt Ihnen schlicht und einfach niemand.
Nehmen Sie das als einen Rat von mir an.
({14})
- Hören Sie doch erst einmal zu! Das ist doch die politische Debatte der Steinzeit; es sind nur noch Töne, die herausgestoßen werden,
({15})
das ist völlig unartikuliert.
Mein Rat auf Grund der leidvollen Erfahrung meiner eigenen Partei - ich denke an die Oppositionszeit - ist, daß es wenig sinnvoll ist, dann, wenn das Bild draußen Sonnenschein zeigt, der Bevölkerung klarmachen zu wollen, es sei finstere Nacht mit Sturm und Schnee.
({16})
Wenn Sie jetzt Ihre Beschlüsse von Nürnberg unter diesem Gesichtspunkt betrachten - oder auch das, was gestern einer Ihrer Sprecher vorgetragen hat, der es ja als früherer Finanzminister nun wirklich besser weiß, weshalb ich nur sagen kann, daß ich vermute, daß er es zum Teil wider besseres Wissen so vorgetragen hat -, dann ist das doch der Rückfall in den alten Kreislauf einer verhängnisvollen sozialistischen Wirtschaftspolitik, die über die Verhältnisse lebt, die einfach nicht die Grunderkenntnis wahrhaben will, daß auch der Staat nur das ausgeben kann, was wir gemeinsam erwirtschaftet und erarbeitet haben.
({17})
Wir setzen auf eine Stabilitätspolitik mit langem Atem, auf eine Politik mit greifbaren Ergebnissen. Ich räume ein, das war in diesen vier Jahren oft schwierig genug. Wenn Sie am Abend einer Landtagswahl eine Niederlage eingestehen müssen, ist es für diese Stunde nur ein geringer Trost, daß Sie fest davon überzeugt sind und wissen, daß in Jahresfrist Erfolge sichtbar werden. Wir haben diesen langen Atem gehabt; wir werden ihn auch in Zukunft haben.
In diesem Jahr steigen die Nettorealeinkommen, d. h. die Einkommen der Arbeitnehmer nach Abzug von Steuern, Abgaben und Preisanstieg, um rund 4 %. Das ist der höchste Anstieg seit 1970, also seit
16 Jahren. Das ist soziale Politik für die Arbeitnehmer.
({18})
Sehen Sie, Herr Kollege Schmidt, das wissen j a auch alle, die der großen demokratischen Tradition der deutschen Gewerkschaftsbewegung verpflichtet sind.
({19})
- Ach wissen Sie, meine Damen und Herren von der SPD: Über „brutto" und „netto" rede ich mit Ihnen nicht,
({20})
da sind Sie Spezialisten, wenn ich beispielsweise Ihre Politik in Sachen Neue Heimat betrachte.
({21})
Dieses Realeinkommen der Arbeitnehmer mußte natürlich auch jeder Betriebsrat zur Kenntnis nehmen. Deswegen, Herr Kollege Schmidt, geht es hier nicht darum, eine antigewerkschaftliche Politik zu konzipieren.
({22})
- Das glauben Sie doch selber nicht.
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Vor einem Vierteljahr haben Sie doch noch proklamiert, wir würden das Streikrecht abschaffen. Das glaubt doch heute kein Mensch. Sie haben beim § 116 AFG gemeinsam mit Teilen der Gewerkschaftsbewegung, die Ihrer Partei angehören, probieren wollen, wer die Macht im Staat hat. Das Parlament und die Regierung entscheiden, der Wähler entscheidet - und nicht die Straße.
({24})
Alles, was wir zur Wiederbelebung der Wirtschaft getan haben - Preisstabilität, gefüllte Auftragsbücher -,
({25})
hat etwas mit sozialer Politik für Arbeitnehmer und ihre Familien zu tun.
Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts lag die saisonbereinigte Zahl der Arbeitsplätze zuletzt um mehr als eine halbe Million über dem Tiefstand von Anfang 1984. Sie lag damit um mehr als 250 000 über dem Stand vom Herbst 1982.
Das heißt - und das können Sie nicht hinwegreden -:
({26})
Arbeitsplätze und Beschäftigung liegen heute bereits deutlich über dem Stand, den diese Regierung bei ihrem Amtsantritt vorgefunden hat.
Ich füge gleich hinzu, damit auch da kein Zweifel aufkommt: Wir sind in Sachen Arbeitslosigkeit mit dem bisher Erreichten noch keineswegs zufrieden.
Wir sind noch nicht über den Berg. Aber wir haben ein gutes, ja ein entscheidendes Stück des Aufstiegs geschafft. Solides Wirtschaftswachstum, stabile Preise, wachsendes Realeinkommen, zunehmende Beschäftigung: Das sind die Markenzeichen der Sozialen Marktwirtschaft auch in der Mitte der 80er Jahre, und das wird der Wähler bestätigen.
({27})
Wir haben hier im Parlament wichtige Grundsatzentscheidungen auf diesem Weg getroffen. Ich bin vor allem dafür dankbar, daß die große Mehrheit unserer Bürger diese Entscheidungen letztendlich doch akzeptiert hat.
Zu diesen Entscheidungen gehört die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen. Sie können noch so viele Rechenkünste hier aufbieten, und Sie können den Kollegen Stoltenberg noch so persönlich dabei angehen - er eignet sich ja so ziemlich gar nicht für dieses Verfahren, wie Sie genau wissen -:
({28})
Jedermann in der Bundesrepublik, der wirklich Einsicht in die Dinge hat - und das ist wiederum die Mehrheit der Bürger -, weiß, daß wir auf dem Weg einer sparsamen Haushaltsführung, die natürlich auch Opfer gekostet hat, das Land wieder auf den richtigen Weg gebracht haben.
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Heute, vier Jahre später, ist deutlich sichtbar, was mit der Rückgewinnung des finanzpolitischen Handlungsspielraums erreicht werden konnte.
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- Wissen Sie: Aus Ihrem Lager würde ich über die Reichen so nicht reden.
({31})
Ich finde: Diese Mottenkiste können Sie doch wirklich im 19. Jahrhundert belassen. Wollen Sie denn im Ernst sagen, daß Sie hier mit Ihrer Partei für die sozial Schwachen stehen?
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Da schauen Sie sich doch einmal um! Da werden Sie doch selber über das lachen müssen, was Sie jetzt sagen.
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Wir haben auf den Kreditmärkten für den privaten Nachfrager Platz gemacht. Verbraucher und Investoren sind heute in der Lage, das notwendige Geld zu günstigen Bedingungen zu erhalten.
Wir haben die Steuern für Arbeitnehmer und Unternehmen gesenkt, weil wir mehr Freiheit für die private Entscheidung des Bürgers haben wollen, weil wir gegen mehr staatliche Umverteilung und Bevormundung sind.
Wir haben Spielraum für eine aktive Arbeitsmarktpolitik geschaffen. Mit mehr als 10 Milliarden DM pro Jahr hat sich diese Bundesregierung auf -diesem wichtigen Feld jedenfalls mehr engagiert als Sie zuvor. Hunderttausend Plätze für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind mehr als das Dreifache dessen, was wir im Jahre 1982 vorgefunden haben.
Meine Damen und Herren, wir treiben eine aktive Politik zugunsten der Familie. Das erste Steuersenkungspaket in der Größenordnung von über 10 Milliarden DM dient vor allem auch diesem Ziel. Mit dem Erziehungsgeld, mit steuerlichen Erleichterungen, mit der Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung haben wir neue familienfreundliche Wege beschritten.
Wir treiben eine aktive Sozialpolitik. Wir haben die Renten für die vor uns liegenden Jahre auf eine sichere Grundlage gestellt, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zweimal verlängert, das Wohngeld um 1 Milliarde DM angehoben, die Sozialhilfe erhöht und das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche wiedér eingeführt,
({34})
das Sie, meine Damen und Herren von der SPD, gestrichen haben.
({35})
Die wenigen Beispiele zeigen, daß wir eine solide Politik betrieben haben, die nicht Illusionen nachgelaufen ist, sondern die mit Solidität und Augenmaß immer auch die Finanzen in der Perspektive hat. Deswegen stellt sich natürlich vor der Wahl an Sie alle die Frage, wie Sie Ihre vielen Versprechungen halten wollen.
In Nürnberg ist j a in der Tat niemand zu kurz gekommen. Sie haben allen alles versprochen, den Schülern BAföG, den jungen Männern einen kürzeren Wehrdienst, den Frauen die berufliche Wiedereingliederung, den Bauern ein Aktionsprogramm, dem Mittelstand die Investitionsrücklage und den Arbeitslosen Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Sie haben nur nicht gesagt, wie Sie es finanzieren würden. Das ist der Punkt, zu dem sich Fragen stellen.
({36})
Der Weg, den Sie vorschlagen, ist klar: zurück zu höheren Schulden, höheren Steuern und zum Verlust von Arbeitsplätzen. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik.
({37})
Das gilt auch für ein anderes wichtiges Kapitel - Herr Kollege Schmidt, ich hätte dazu gerne auch von Ihnen ein Wort gehört -, nämlich Kernenergie und Kernkraft.
Die SPD hat trotz aller Warnungen aus den Gewerkschaften, von führenden Gewerkschaftlern aus ihrer eigenen Fraktion, Warnungen aus den Betrieben die Abschaltung der Kernkraftwerke innerhalb von zehn Jahren beschlossen, und dies, obwohl doch gerade unter ihrer Regierungsverantwortung 16 von den 20 deutschen Kernkraftwerken genehmigt wurden. Sie haben doch in der Nachbarschaft - ich war gerade letzte Woche in Stockholm -, in Schweden, einem Land, dessen Regierung Ihnen nun wirklich sympathisch sein sollte, ein Beispiel dafür bekommen,
({38})
daß sich die Schweden, von jetzt an gerechnet, einen Zeithorizont von 24 Jahren setzen.
({39})
- Herr Kollege Vogel, Sie haben zur Kernkraft fast jeden Tag etwas anderes gesagt,
({40})
nur Herr Rau hat zu diesem Thema noch nebulöser gesprochen.
({41})
Ebenso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik steuern Sie in der Kernkraftfrage einen unberechenbaren Kurs.
({42})
Für diese Bundesregierung spielen Arbeitsplätze und Beschäftigung eine zentrale Rolle.
({43})
Deswegen steuern wir auch in der Energiepolitik einen klaren Kurs.
({44})
- Herr Abgeordneter Professor Dr. Ehmke, wenn Sie über die Not von Arbeitslosen sprechen, denkt sich jeder in diesem Haus seinen Teil. Das will ich Ihnen doch einmal sagen.
({45})
Wir wollen einen akzeptablen Sicherheitsstandard, und zwar nicht nur bei uns, sondern in allen Ländern, die Kernkraftwerke betreiben. Denn was nützt es uns, um bei Ihrer Vorstellung zu bleiben, wenn wir alle Kernkraftwerke abschalten, sich ringsherum aber nichts verändert?
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Sie wissen, daß weder die DDR noch die Französische Republik noch irgendein Land - ({47})
- Entschuldigung, Cattenom ist doch wirklich zu Ihrer Amtszeit genehmigt und gebaut worden.
({48})
Die entscheidenden Genehmigungen sind doch alle zu Ihrer Amtszeit nach Konsultationen gegeben worden. Das wissen Sie doch so gut wie ich.
({49})
Es ist doch absurd, nachdem Sie in Ihrer Verantwortung viele Jahre hindurch in bezug auf Cattenom nichts getan haben,
({50})
daß Sie jetzt so tun, als sei dieses inzwischen gebaute Kernkraftwerk einfach stillzulegen.
({51})
Die einfachsten internationalen Gegebenheiten auf diese Art zu leugnen ist doch wirklich absurd.
({52})
Meine Damen und Herren, ich habe nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl
({53})
die Initiative für eine internationale Konferenz über die Sicherheit kerntechnischer Anlagen ergriffen.
({54})
Die Konferenz beginnt in vierzehn Tagen in Wien.
({55})
Meine Damen und Herren, wir werden nach der Rückkehr von Bundesminister Walter Wallmann Gelegenheit haben, nach einer Regierungserklärung hier im Haus über die Ergebnisse und die Perspektiven insgesamt zu diskutieren.
Wir jedenfalls haben, was die Bundesregierung betrifft, nach Tschernobyl die notwendigen Konsequenzen gezogen. Wir haben in der vergangenen Woche ein Aktionsprogramm beschlossen, um alle Erfahrungen aus dem Reaktorunfall zu verwerten. Hierzu gehört auch der nach dem Unfall an die Reaktorsicherheitskommission erteilte Auftrag, alle in Betrieb, in Bau oder in Planung befindlichen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik angesichts der Erfahrungen einer Überprüfung zu unterziehen.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch zur Entwicklung alternativer Energien unseren Beitrag leisten und jede Anstrengung zur Energieeinsparung weiter unterstützen.
({56})
Dies hat ja auch sehr konkrete Folgen, die Sie im Haushalt, der jetzt beraten wird, erkennen können. Die Bundesregierung schlägt vor, für alternative Energien, Energieeinsparung mehr Geld zur Verfügung zu stellen, als dies je zuvor der Fall war. Ich glaube, daß noch Chancen für neue Entwicklungen bestehen.
Aber ich weiß auch, daß niemand von uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen kann, wann sich diese Chancen so realisieren, daß sie in praktische und praktizierbare Technologien umgesetzt werden können.
({57})
Es ist einfach richtig, daß im Augenblick niemand sagen kann, zu welchem Zeitpunkt neue Entwicklungen welche Beiträge zur Energieversorgung leisten können.
Und solange wir das nicht wissen, meine Damen und Herren, ist es eine bewußte Täuschung des Bürgers, mit der Ankündigung fester Zeitpunkte und Zeiträume hinsichtlich des Verzichts auf Kernenergie den Eindruck zu erwecken, wir hätten diese Entwicklung bereits jetzt fest im Griff. Dies ist einfach nicht wahr!
({58})
Wer es dennoch tut, muß auch über die Konsequenzen einer solchen Aussteigerpolitik sprechen:
Erstens. Konsequenzen für die Umwelt. Denn der Rückgriff auf die fossilen Energieträger, auf Öl, Gas und vor allem Kohle, wäre j a dann wohl unausweichlich.
({59})
Und dieser Rückgriff würde doch, wie wir alle wissen - und Gutachten, die Sie gerne heranziehen, sagen das ja auch -, die Schadstoffbelastung der Umwelt beträchtlich erhöhen. Gestern noch hörte ich von seiten der SPD - ich denke an die Debatte im Bundestag zum Thema Buschhaus;
({60})
das ist ja so lange noch nicht her -: Kohlekraftwerke sind Dreckschleudern und damit Gift für Wald und menschliche Gesundheit. Stirbt aber erst der Wald, so lautete doch die Parole, so stirbt auch bald der Mensch.
({61})
Heute werden uns Kohlekraftwerke demgegenüber als die ideale Lösung angepriesen.
({62})
Zweitens. Die Konsequenzen für die Entwicklungsländer, meine Damen und Herren, von denen Sie doch so gerne sprechen, werden von Ihnen in dieser Debatte überhaupt nicht erwähnt. Jeder von Ihnen weiß, daß die Industrieländer und damit auch die Bundesrepublik Deutschland höhere Preise für 01, Gas und Kohle noch bezahlen können. Für die große Mehrheit der Entwicklungsländer würde dies aber das Ende ihrer wirtschaftlichen Zukunft bedeuten,
({63})
und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem die Zukunft in vielen Ländern noch gar nicht richtig begonnen hat.
Drittens. Die Konsequenzen für unsere wirtschaftliche und damit auch politische Abhängigkeit von Ölförderländern, die wir doch gerade erst in den letzten Jahren gemeinsam verringert haben: Stehen Sie wirklich noch zu der Politik „Weg vom 01", die wir in den 70er Jahren gemeinsam diskutiert und beschlossen haben?
({64})
In der Energiepolitik kann es - bei allem Verständnis, ja Sympathie für Ängste von Menschen - nicht um eine Politik des Alles oder Nichts gehen, d. h. um das sofortige Abschalten oder Nichtab17702
schalten von Kernkraftwerken. Denn jeder weiß, daß eine abrupte Änderung in der Energiepolitik ohne schwerste Belastungen für die Umwelt, für die Wettbewerbsfähigkeit und für die Arbeitsplätze nicht denkbar ist.
Unsere Energiepolitik muß sich an drei Leitlinien orientieren.
Erstens. Die Sicherheit und die Gesundheit des Bürgers müssen absoluten Vorrang vor allen anderen - auch ökonomischen - Überlegungen haben.
({65})
Das heißt, es muß ein hoher und zugleich vertretbarer Sicherheitsstandard durchgesetzt werden, und zwar natürlich selbstverständlich über Ländergrenzen hinaus.
Wir haben dazu vieles auf den Weg gebracht.
Ich füge aber gleich hinzu: Ich sehe auch den Wiener Verhandlungen ohne Illusion entgegen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dies keine Frage des Ost-West-Verhältnisses ist, sondern - ich habe das gestern abend wieder in einem Gespräch in Paris erfahren -, daß die Einschätzung, auch die tiefenpsychologischen Vorgänge im Zusammenhang mit Kernkraftwerken und nuklearen Vorgängen überhaupt in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich aussehen und wir das natürlich bei internationalen Gesprächen in Rechnung stellen müssen.
Wir müssen zweitens am Ziel, die Umweltbelastung zu verringern, konsequent festhalten, und zwar nicht erst mit Blick auf das Jahr 2000, sondern auch heute.
Wenn uns heute die Waldbauern im Schwarzwald sagen: Unser Wald geht kaputt; wenn sie sagen: Was seid ihr bereit zu tun, damit unsere Existenz erhalten bleibt?, dann muß diese Anstrengung schon jetzt und heute unternommen werden.
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- Da Sie, meine Damen und Herren, auf diesem Feld in der Vergangenheit wirklich wenig aufzuweisen haben, schlage ich vor, daß Sie am besten dazu schweigen.
({67})
Wir müssen zum dritten trotz des niedrigen Ölpreisniveaus, das viele dazu verleitet, vom Energiesparen abzusehen, dabei bleiben, daß Energieeinsparung und die Entwicklung alternativer Energien wichtige Ziele unserer Politik sind - auch dann - das füge ich ausdrücklich hinzu -, wenn wir nicht bei jeder Maßnahme und bei jedem Unternehmen, das gestartet wird, den Erfolg vorhersehen können.
Meine Damen und Herren, wir halten am Kurs der deutschen Energiepolitik fest.
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Es kann dabei sehr wohl sein - niemand wird
etwas dagegen haben -, daß wir Kernenergie zu
einem späteren Zeitpunkt rückblickend als eine
Energieform des Übergangs betrachten können. Aber heute können wir das so noch nicht sagen.
Meine Damen und Herren, wenn wir diese letzten vier Jahre rückblickend betrachten und den politischen Standort der Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1982 oder am Wahltag, 6. März 1983, mit dem im Herbst 1986 vergleichen, können wir mit Genugtuung und Dankbarkeit sagen: Wir haben in diesen vier Jahren ein gutes Stück Weg zurückgelegt.
({69})
Die Talsohle, von der Karl Schiller früher einmal gesprochen hat, liegt glücklicherweise ein gutes Stück hinter uns. Die OECD kommt im Sommer dieses Jahres zu dem Urteil: „Die Aussichten für die deutsche Wirtschaft sind gut. Das Risiko einer Wiederbelebung der Inflation dürfte gering sein, die Realeinkommen erholen sich, und die Arbeitslosigkeit dürfte zu sinken beginnen."
Das ist eine ermutigende Bilanz. Es ist aber keine Bilanz, die uns den Hinweis gibt, daß es an der Zeit sei, die Hände in den Schoß zu legen, sondern eine Bilanz, die uns den Auftrag gibt, noch entschiedener an den Problemen in Zukunft zu arbeiten.
Auf der internationalen Tagesordnung steht unverändert das große Thema Friedenssicherung und Abrüstung an erster Stelle. Wir wissen als Deutsche, daß wir nur durch das Zusammenwachsen Europas in Zukunft auch die Einheit der Nation gewinnen können.
Wir wissen, daß auch hierzulande viele wichtige Themen anstehen. Der Satz „Leistung muß sich lohnen" bedeutet für uns, daß wir die wirklich große Steuerreform durchführen müssen, die auch ein Stück Abbau von Bürokratie und Staatsfeindlichkeit beim Bürger ermöglichen wird.
Ich möchte wiederholen, was Norbert Blüm immer wieder gesagt hat - und ich bin sehr dankbar, Frau Kollegin Fuchs, daß Sie Ihre Reaktion zu diesem Thema so ausgedrückt haben, wie es zu lesen war -, daß wir vielleicht doch bei allem, was uns trennt, den Versuch unternehmen können, in der neuen Legislaturperiode in Sachen Sicherung des Lebensabends der alten Mitbürger, der Rentenversicherung eine gemeinsame und tragfähige Grundlage zu finden.
({70})
Wir alle wissen, daß wir im Felde des Gesundheitswesens noch schwierigste Aufgaben zu erledigen haben.
Ich habe nur diese drei Punkte unter vielen herausgegriffen, um deutlich zu machen, daß auch in der nächsten Legislaturperiode, in den nächsten vier Jahren wichtige Entscheidungen anstehen.
Wir werden gemeinsam, FDP, CSU und CDU, für die Zukunft diesen Weg einer soliden und solidarischen Politik fortsetzen. Ich bin ganz sicher, daß wir im Blick zurück auf die letzten vier Jahre mit dem Nachweis einer erfolgreichen Politik und mit der überzeugenden Kraft unserer Ideen für die nächsten vier Jahre am Wahltag gut bestehen werden.
Meine Damen und Herren, wir werden in diesen Monaten miteinander viele Auseinandersetzungen haben. Ich möchte mit einem Satz schließen, den der Kollege Schmidt ausgesprochen hat: daß wir bei aller Härte der Auseinandersetzung in diesem Haus und noch mehr außerhalb des Hauses nicht vergessen sollten, daß wir gemeinsam unserer Republik dienen wollen.
({71})
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Erste Rednerin ist Frau Hönes.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin etwas erstaunt, wie unterentwickelt die Dialogbereitschaft in diesem neuen Haus ist. Ich vermisse eine ganze Anzahl der Kollegen und der Kolleginnen aller Parteien.
({0})
Ich habe heute in der Nachmittagsrunde die historische Chance, gleich auf zwei Kanzler der 80er Jahre eingehen zu können. Bevor ich mich mit der Bilanz des jetzigen Bundeskanzlers befasse, erlauben Sie mir eingangs einige Bemerkungen zu dem ehemaligen Kanzler Helmut Schmidt. Immerhin hat er mit seiner Politik eine nicht unwichtige Rolle als Geburtshelfer der GRÜNEN gespielt.
Während sich hier der politische Philosoph und Weltökonom Helmut Schmidt verabschiedete, habe ich gedacht: Da redet ein Mann, in dessen Regierungszeit die meisten Atomkraftwerke geplant und gebaut wurden, der Mann, der wie kein anderer dafür verantwortlich zu machen ist, daß die mörderischen Mittelstreckenraketen ins Land kamen, der Mann, der Anfang der 80er Jahre damit begonnen hat, die Renten zu kürzen, BAföG zu kürzen, die Krankenkassenleistungen abzubauen, die Arbeitsloseneinkommen und -ansprüche zusammenzustreichen.
Helmut Schmidt hat heute morgen sehr unterkühlt, in seiner für ihn sehr typischen, unnachahmlichen hanseatischen Art, diese Kürzungen schlicht und ergreifend die Normalisierung des Haushalts 1982 genannt. Ich weiß nicht, ob die Bürgerinnen oder die Bürger dieses so als normal empfanden. Ich befürchte, es klang ihnen sehr zynisch in den Ohren.
({1})
Ich habe mich, schon bevor er heute morgen geredet hat, auch gefragt, was ausgerechnet Helmut Schmidt prädestiniert, hier den SPD-Wahlkampf zu eröffnen.
({2})
Die Antwort ist: Es gibt vermutlich niemanden, der soviel Erfahrung hat, vor der Wahl alles Mögliche zu verkünden, um notfalls nach der Wahl das genaue Gegenteil davon zu machen.
({3})
Helmut Schmidt hat zu den neuen SPD-Beschlüssen relativ wenig gesagt. Trotzdem wurde vor allem dies deutlich: Er kann gut damit leben. Er kennt den Wert solcher Parteitagsbeschlüsse, und er kennt Rau gut genug, um zu wissen, daß der sie im Fall der Fälle rechtzeitig wieder einkassieren wird.
Aber nun ist, meine Damen und Herren, Bilanz zu ziehen von vier Jahren Politik der geistig-moralischen Erneuerung dieser Regierung. Leider ist der Chef dieser Regierung immer noch nicht auf seiner Bank.
({4})
Wir kritisieren dabei weniger den Aussitz-Kanzler Kohl und sein Pannen-und-Skandal-Kabinett, bedrohlich ist dieser Kanzler nämlich gerade dort, wo er handelt. Und das Chaos im Regierungslager erscheint uns vergleichsweise vernachlässigenswert gegenüber der Systematik, mit der die Rechtskoalition seit ihrem Amtsantritt die Interessen des großen Geldes gegen den Rest der Bevölkerung durchgesetzt hat.
({5})
Wir haben heute wieder die alte Litanei der Aufschwungserfolge gepredigt bekommen. Sie enthielt nichts Neues. Wir wußten vorher, daß es den Unternehmen blendend geht. Wir wußten, daß sie Gewinnsteigerungen bis zu 30 % verbuchen können,
({6})
daß ganze Heerscharen von hochbezahlten Finanzmaklern damit beschäftigt sind, diese Gewinne - allein im letzten Jahr waren es 30 Milliarden DM - ins Ausland zu transferieren, weil das profitabler als die Schaffung von Arbeitsplätzen hierzulande ist.
Wir wissen aber auch: Damit die einen, die Chemiegiganten, die Banken, die Automobil- und Rüstungskonzerne reich werden konnten, mußten die anderen, die Erwerbstätigen, die Erwerbslosen, die Sozialhilfeempfänger, die Rentner und die Behinderten, arm gemacht werden. Da wurden das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe gekürzt, die Anwartschaftszeiten verlängert, da wurden auf Weihnachts- und Urlaubsgeld Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung erhoben, liebe Kolleginnen. Das Mutterschaftsurlaubsgeld wurde um 32 % gesenkt. Das Unterhaltsgeld für Umschüler wurde ebenso zusammengestrichen wie das Übergangsgeld für Rehabilitanten.
({7})
Für die Sozialhilfeempfänger wurde die Mietkostenerstattung begrenzt, den Behinderten die kostenlose Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel gestrichen usw. usf.
Und wer ist für diese soziale Barbarei verantwortlich? Ausgerechnet der Mann mit dem seriösesten Image in den Reihen der Regierung, Finanzminister Stoltenberg. Er fehlt heute nachmittag bei dieser Gesprächsrunde ebenfalls.
Die soziale Wahrheit im vierten Jahr der Wende ist jedenfalls brutal, meine Damen und Herren. Die Massenarbeitslosigkeit ist unverändert hoch, der leichte Rückgang der Erwerbslosenzahlen, den sich die Bundesregierung als Verdienstorden an die Brust heftet, ist vornehmlich statistischer, nicht realer Natur. Zwischen vier und fünf Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben an der Armutsgrenze. Angesichts dieser traurigen Realität fühlt sich der Arbeitsminister Blüm, der heute nachmittag natürlich ebenfalls fehlt, gefordert. Wer bezüglich der Bundesrepublik von Armut spreche, so Norbert Blüm, handle zynisch gegenüber dem Elend der Dritten Welt. Er merkt gar nicht, wie schlimm die soziale Lage von Millionen Menschen in einem der reichsten Länder der Welt sein muß, wenn er als der zuständige Minister sie nur noch durch den Vergleich mit den Hungertoten in Afrika zu relativieren vermag.
({8})
Ich will an dieser Stelle nicht erneut auf die anderen sozialen Kahlschläge, auch nicht auf die brutalste arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Maßnahme, den neuen Antistreikparagraphen, § 116 AFG, eingehen. Nur soviel: Wenn es im Januar gelingt, die Verantwortlichen dafür in die Minderheit zu bringen, dann stehen wir GRÜNEN bereit für das Zustandebringen einer parlamentarischen Mehrheit, die diesen sozialpolitischen Schrott wegräumt und den § 116 beseitigt. Da kann uns jeder beim Wort nehmen.
({9})
In der Frauenpolitik hat Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, mittlerweile die Bedeutung von Frauen als Wählerinnen erkannt. Das hat Sie aber nicht daran gehindert, seit Beginn Ihrer Regierungsperiode die Frauen systematisch aus der bezahlten, abgesicherten Erwerbsarbeit herauszudrängen, sie zur Manövriermasse für den Bedarf der Arbeitgeber an billigen, jederzeit ersetzbaren und schutzlosen Arbeitsplätzen zu machen.
({10})
Ihre Regierungszeit steht für die Legalisierung kapazitätsorientierter Arbeitszeiten. Ihre Politik verbaut vielen Frauen die Perspektive auf eine partnerunabhängige Existenzsicherung und will sie auf den weitgehend unbezahlten Bereich der Hausund Erziehungsarbeit festlegen.
Da mußte Ihnen natürlich die jetzige Fassung des § 218 ein Dorn im Auge sein. Ungerührt von allen internationalen Erfahrungen, die eindeutig belegen, daß die Freigabe der Abtreibung die Abbruchziffern ebensowenig in die Höhe treibt, wie ihre Kriminalisierung sie senkt, greifen Sie Befürworterinnen und Befürworter der ersatzlosen Streichung des § 218 als Babymörder an.
({11})
Die GRÜNEN haben immer gesagt: Nur eine umfassende Sexualpädagogik und die Schaffung frauen- und kinderfreundlicher Lebensbedingungen sind geeignet, die Zahl der jährlichen Schwangerschaftsabbrüche zu senken.
({12})
Aber dazu sind Sie nicht bereit, denn Ihre Frauenpolitik, Herr Bundeskanzler, ist reaktionär.
({13})
Sie wird auch dadurch nicht besser, daß sie nun seit knapp einem Jahr von einer Ministerin präsentiert wird, die sich inzwischen Frauenministerin nennt.
({14})
Unsere Kritik an Frau Süssmuth besteht nicht etwa darin, daß sie sich zu Wahlkampfzwecken mißbrauchen läßt. Mein Vorwurf an sie ist ernster: Sie weiß, was sie tut.
Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind gut vier Monate vergangen. Daß Tschernobyl einen historischen Einschnitt in der ganzen Atomdebatte bedeutet, hat die große Mehrheit der Bevölkerung begriffen. 80 bis 90 % aller Bürgerinnen und Bürger sind für den Ausstieg aus dieser mörderischen Technologie. Nur die Atomlobby - dazu gehören die Energiewirtschaft und die Regierung - hat immer noch die Unverfrorenheit, mit dem Bau neuer Atomanlagen bis hin zur Plutoniumfabrik in Wackersdorf zu drohen. Gleichzeitig müssen wir lesen, daß die Regierung durchaus um die tödlichen Gefahren weiß, die auch von deutschen Atomanlagen ausgehen. Während Herr Zimmermann, Herr Kohl und die ganze Regierung nach Tschernobyl immer wieder unterstreichen, deutsche Atomkraftwerke seien absolut sicher, erfahren wir nun, daß Herr Wallmann Sicherheitsnachrüstungen erwägt, die Hunderte von Millionen DM kosten, eben weil die AKWs nicht sicher sind.
Da gibt Herr Bangemann zwei Gutachten zur Ausstiegsfrage in Auftrag, eines sogar direkt an die Atomlobby, und trotzdem kommen beide Gutachten zu dem Ergebnis: Jawohl, der Ausstieg aus der Atomkraft ist machbar. - Beide Gutachten bestätigen, daß die Atomparteien jahrelang gelogen haben.
({15})
Die Parolen: Ohne Atomstrom gehen alle Lichter aus und werden Millionen arbeitslos - alles Lüge.
({16})
Und jetzt wird der Herr Bangemann von Ihnen dafür geprügelt, daß er das Restrisiko der WahrFrau Hönes
heitsfindung einging und prompt der größte anzunehmende Unfall eingetreten ist, daß wissenschaftliche Gutachten die Wahrheit an den Tag brachten. Wir sind sicher: Es wird nicht lange dauern, bis Sie neue Gutachten vorlegen, die das genaue Gegenteil belegen. Aber hören Sie nach diesem „Wahrheitsunfall" auf, uns und der Offentlichkeit irgend etwas über die Freiheit der Wissenschaft vorzuschwätzen. Diese treten Sie notorisch mit Füßen, nur: Diesmal sind Sie auf frischer Tat ertappt worden.
Es ist bekannt, daß wir GRÜNEN nicht nur für den Ausstieg allgemein, sondern für die sofortige Abschaltung aller Atomanlagen eintreten. Der Grund dafür ist einfach: Spätestens seit Tschernobyl hat sich gezeigt, daß derjenige, der auf Atomanlagen setzt, Leben und Gesundheit von Millionen von Menschen riskiert. Nach Tschernobyl kann kein Staatspolitiker mehr sagen, er habe nicht gewußt, welche Höllenmaschinen da in Gang gesetzt werden.
Seit über zehn Jahren kämpft die Anti-Atom-Bewegung gegen die Atomtechnik und einzelne Reaktorvorhaben. Wir sind deshalb froh über jeden Teilerfolg, den wir dabei erringen. Deshalb will ich an dieser Stelle deutlich machen: Wir begrüßen ausdrücklich, daß die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag ihrerseits den Ausstieg aus der Atomtechnologie propagiert hat.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Suhr?
Herr Kollege, lieber Heinz.
Frau Kollegin, wie finden Sie denn den Umstand, daß wir hier bei der Debatte über den Haushalt 1987 im Moment die stärkste Fraktion im Hause sind?
Lieber Heinz, ich habe schon ganz zu Anfang bemerkt, daß es mit der Dialogbereitschaft in diesem Hause nicht sehr weit her ist.
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- Deshalb habe ich es speziell für ihn wiederholt.
- Ich möchte mich noch einmal wiederholen und noch einmal ausdrücklich begrüßen, daß die SPD ihrerseits auf ihrem Nürnberger Parteitag den Ausstieg aus der Atomtechnologie propagiert hat, denn wenn die Partei, die in der Hauptsache für den Ausbau verantwortlich zu machen ist, jetzt für den Abbau plädiert, ist das fraglos ein wichtiger Schritt nach vorn.
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Das hindert uns freilich nicht daran, genau zu registrieren, was die SPD beschlossen hat. Sie hat einen Ausstieg nur bei einem ganz breiten Konsens beschlossen, also nur im Einvernehmen mit Kraftwerksbetreibern und Unionspolitikern. Sie hat ferner nur einen langfristigen Ausstieg beschlossen. Wir registrieren, daß nichts zum Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop beschlossen wurde, und wir registrieren vor allem, daß kein Antrag an die sozialdemokratisch regierten Länder Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Hessen ergangen ist, dort, wo es ja geht, schon heute mit der Ausstiegspolitik zu beginnen. Dann wundert es natürlich nicht, wenn man in der Früh in der Zeitung liest, daß sich die SPD des Landkreises Mayen/Koblenz für die Inbetriebnahme des AKW Mülheim-Kärlich ausgesprochen hat.
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Es bleibt der Eindruck: In der Opposition anti AKW, aber in der Regierung bleibt die SPD Atompartei.
(Beifall bei den GRÜNEN - Vogel [München] [GRÜNE]: Leider, leider! -
Das ist ein Irrtum: Die Koblenzer SPD ist in der Opposition! Sie täuschen sich!)
- Noch schlimmer.
Aber ich komme nun auf Ihr schäbigstes Kapitel der geistig-moralischen Erneuerung zu sprechen, Herr Bundeskanzler, auf den Versuch der Koalition, mit dem Schüren von Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit auf Stimmenfang zu gehen. Ziemlich genau im Juni dieses Jahres entdeckten die Wahlkampfstrategen der Unionsparteien das sogenannte Asylantenproblem. Seither vergeht kein Tag, ohne daß führenden Christdemokraten den Untergang des Vaterlandes beschwören, wenn dem sogenannten Flüchtlingsstrom nicht energisch Einhalt geboten werde. Kein Wort, Herr Waigel, dazu, welchen Schwierigkeiten und Diskriminierungen politische Flüchtlinge in der Bundesrepublik ausgesetzt sind, kein Wort dazu, daß die Asylbewerber nach ihrer Ankunft in Lager gesperrt werden, in denen sie, isoliert von der Umwelt, unter katastrophalen Wohn- und Sanitärverhältnissen leben müssen. Kein Wort dazu, daß beispielsweise die Stadt Aachen politischen Flüchtlingen aus der Türkei die Sozialhilfe um 20 % gekürzt hat, mit dem infamen Argument, Türken hätten j a einen - so wörtlich - „geringeren Ernährungsbedarf als Deutsche", oder - so die zuständige Behörde weiter - „sie müßten ja auch in der Türkei zu Fuß gehen", weshalb ihnen dann auch das Fahrgeld für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel gestrichen wurde!
Kein Wort dazu, daß Asylbewerber mit einem zweijährigen Arbeitsverbot bestraft werden, um sie gleichzeitig als angeblich faule Schmarotzer diffamieren zu können, kein Wort über die Gründe, die diese Menschen aus ihrer Heimat fliehen lassen, über die Hunderttausende, die vor Krieg, Verfolgung, Folter aus dem Iran fliehen, während bundesdeutsche Rüstungsunternehmen mit Ihrer Billigung, Herr Bundeskanzler, Unsummen an der nun schon seit sechs Jahren dauernden Menschenschlächterei zwischen Iran und Irak verdienen!
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Kein Wort darüber, daß der Staatspräsident von Sri Lanka der Volksgruppe der Tamilen den totalen Krieg erklärt hat und seine Armee systematisch Jagd auf diese Menschen macht. Im Libanon herrscht Bürgerkrieg, in Ghana werden Menschen von einem diktatorischen Regime mißhandelt und und und!
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Nein, das Schicksal dieser Menschen schert jene, die jetzt über politische Flüchtlinge hetzen, nicht im geringsten.
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Humanität - so lautet die Kalkulation - kostet Wahlprozente, also weg damit.
Insgesamt 125 000 Flüchtlinge leben nach Angabe des UNO-Flüchtlingshochkommisariats in der Bundesrepublik; das sind 0,2 % der Gesamtbevölkerung. Ganze 64 000 Menschen wurden seit Bestehen der Bundesrepublik als politisch Verfolgte anerkannt. 64 000 in 37 Jahren! Dann wird so getan, als wäre die Bundesrepublik jahrelang humanitätsduselig gewesen, als stünde der wirtschaftliche Bankrott bevor, weil ziemlich genau 0,3% aller öffentlichen Ausgaben für politisch Verfolgte und von Hunger Bedrohte ausgegeben werden.
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Das ist halb so viel Geld, wie die pharmazeutische Industrie jährlich allein für Werbung ausgibt.
Es ist eher Scham angebracht, daß die reiche Bundesrepublik nur so wenigen Menschen Zuflucht gewährt hat und daß sie jene, die sie vorübergehend aufnimmt, so schlecht behandelt. Die GRÜNEN sagen an dieser Stelle ganz eindeutig: Wir werden das Grundrecht auf Asyl, eine der wenigen politischen Konsequenzen aus unserer faschistischen Vergangenheit, gegen alle Angriffe verteidigen. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
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Aber wir wollen zugleich, daß das Asylrecht in der Bundesrepublik auch verwirklicht wird. Die menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen muß aufhören, Krieg muß in jedem Fall als Asylgrund anerkannt werden, und wir fordern, daß die Bundesrepublik endlich die Verantwortung für das Elend und die Not übernimmt, die Ihre Außen- und Entwicklungspolitik in der Dritten Welt angerichtet hat.
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In den dreieinhalb Jahren, in denen wir GRÜNEN dem Bundestag angehören, haben wir bei unserer Oppositionsarbeit folgende Erfahrung gemacht: Keines der wesentlichen Anliegen, für die wir 1983 gewählt wurden, konnten wir durchsetzen. Immerhin können wir aber heute feststellen: Als Waltraud Schoppe hier vor gut drei Jahren die erste wirklich feministische Rede gehalten hat, tobte dieses Männer-Parlament noch in übelster Stammtischmanier.
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Heute muß sich sogar Herr Geißler als Freund der Frauenbewegung geben, und die Quotierung ist ein geläufiger Begriff geworden.
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Als wir vor zwei Jahren unser Atomsperrgesetz einbrachten, in dem der sofortige Ausstieg aus der Atomtechnologie gefordert und dessen Machbarkeit begründet wurde, ist das von allen Parteien - ich zitiere - als „billiger Klamauk" abgetan worden.
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Heute bestätigen sogar Regierungsgutachten, daß grüne Alternativen ernstzunehmen und machbar sind.
Schließlich: Als Otto Schily hier in seinen ersten Reden die kriminelle Spendenpraxis aller anderen Parteien von der CDU/CSU über die FDP bis hin zur SPD offenlegte und geißelte, traf er dort nur auf heuchlerische Unschuldslämmer mit den angeblich ganz blütenweißen Westen.
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Heute wissen alle und viele geben offen zu: Es wurden jahrelang Industriespenden illegal in die Parteikassen gelenkt. Der Korruptionssumpf der Altparteien ist tiefer und morastiger als je vermutet, Herr Kollege.
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Viele von uns haben sich anfangs gefragt, ob es sich denn überhaupt lohnt, so viel Energie und Fleiß in diese parlamentarische Arbeit zu stecken, die von Ihnen überhaupt nicht ernstgenommen wird, meine Damen und Herren.
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Ich glaube, es hat sich gelohnt, weil wir als parlamentarischer Arm und als Sprecherin der Ökologie-, der Friedens- und Frauenbewegung oder für die Anliegen von Bürgerinitiativen tätig werden konnten. Daran werden wir uns auch in dieser Haushaltsdebatte und bei unserer Arbeit im letzten Halbjahr orientieren, um dann im Wahlkampf gegen diese Wende-Regierung zu mobilisieren und erneut für die Ziele zu werben, für die wir GRÜNEN seit jeher stehen: Abschaltung aller Atomanlagen und ökologischer Umbau der Industrie, konsequente Abrüstung und Friedenspolitik gegen die NATO-Kriegspolitik,
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einseitige Parteinahme für die Interessen von Frauen, weil nur so deren Diskriminierung und Benachteiligung beseitigt werden können.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Oppositionsführer und die Opposition haben uns für diese Haushaltsdebatte eine Generalabrechnung angekündigt. Da kann ich nur sagen: Das hätte dann anders angepackt und anders durchgeführt werden müssen, denn das ganze gerät zu einer Generalabrechnung mit der Opposition, die nur unterbrochen wurde durch eine Rede von Helmut Schmidt, die aber aus ganz anderem Grunde auch über Parteigrenzen und Fraktionsgrenzen hinweg akzeptiert oder - besser gesagt - respektiert worden ist, wobei ich ihm allerdings sagen möchte - er ist im Moment noch nicht da -, daß eigentlich zum Inhalt und zum Stil seiner Rede die Bemerkungen über Dr. Dregger nicht gepaßt haben. Das hätte er sich sparen können.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn Herr Vogel als General der Opposition - der Feldherr, der Feldherr aus Düsseldorf, hat ja keinen Mut, sich an der Front zu zeigen - Abrechnungen vorlegt, dann wäre er gut beraten, die SPD-Bilanzen der frühen achtziger Jahre auf den Tisch zu legen. Denn diese waren allein durch rote Zahlen gekennzeichnet. Das reale Bruttosozialprodukt war rückläufig. Die Bruttoinvestitionen nahmen von 1980 bis 1982 um real 46 Milliarden DM ab, und vom 4. Quartal 1980 bis zum 1. Quartal 1983 ging die Zahl der Beschäftigten saisonbereinigt um 920 000 zurück. Die Zahl der Kurzarbeiter erreichte die Millionengrenze, und der Anstieg der Verbraucherpreise lag bei über 6%.
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Wenn man heute noch behaupten will, es sei Ende 1982 versucht worden, einen stocksoliden Haushalt vorzulegen, dem dann allerdings ein Defizit von über 50 Milliarden DM drohte, dann kann man nur sagen, das war nicht stocksolid, sondern der Haushalt ging am Stock. Die Rentenversicherung stand vor gravierenden Liquiditätsproblemen, und, was das Allerschlimmste war, das Vertrauen von Konsumenten, Investoren und der internationalen Finanzmärkte hatte den absoluten Nullpunkt bereits unterschritten.
Es ist heute bereits auf eine Rede von Helmut Schmidt am 22. und am 30. Juni 1982 vor der SPDBundestagsfraktion hingewiesen worden. Damals mußte sich j a der amtierende Bundeskanzler gegen die Kritik aus seinen eigenen Reihen verteidigen. Er hat versucht, dieser Kritik die Grundlage mit folgender Argumentation zu entziehen. Von 1970 bis 1982 stieg der Anteil der staatlichen Sozialausgaben von 16 auf 23% des Sozialprodukts. Finanziert wurde dies - so Helmut Schmidt damals - erstens durch eine wesentlich höhere Belastung der Arbeitnehmer - bezogen auf ein durchschnittliches Arbeitseinkommen, stieg die Belastung nämlich von 22,7 % auf 31,7 % -, zweitens durch die Nettokreditaufnahme am Kapitalmarkt - ihr Anteil an den
Gesamtausgaben des Bundeshaushalts stieg in diesen 12 Jahren von knapp 3 auf weit über 10 % -, drittens schließlich durch ein Herunterfahren der öffentlichen Investitionen zugunsten von Leistungsgesetzen.
Das hat damals Helmut Schmidt seiner eigenen Fraktion gesagt. Wenn uns dann gestern vorgehalten wurde, unsere Investitionen gingen zurück, und zwar deswegen, weil wir Geld und Leistungsbefugnis an die Länder abgetreten und damit einen Beitrag zur Stärkung des Föderalismus geleistet haben, dann ist das ein blankes Eigentor, das gestern Hans Apel geschossen hat.
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Es ist ja ohnehin ein Jammer - ich sehe im Moment den geschätzten Kollegen Apel nicht und auch den geschätzten Kollegen Roth nicht -, wenn ich mir vorstelle, daß die Leute, die finanz- und wirtschaftspolitisch und auch theoretisch noch so einigermaßen den Kurs des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt halten oder zu halten versuchen, zwar hier bei Debatten noch in den ersten Reihen sitzen dürfen, wenn sie anwesend sind, aber beim Parteitag jeweils in den zweiten Wahlgang gehen müssen und dann händeringend von Vogel beschworen werden müssen, doch überhaupt in den zweiten Wahlgang zu gehen. Wenn der Kollege Roth - er ist nicht da ({3})
- ich möchte es aber wiederholen, weil Sie es vorher nicht gehört haben - vom Juso-Vorsitzenden, ohne daß er sich persönlich sehr stark geändert hat, heute zum Rechtsaußen der SPD geworden ist und rechts von ihm in der SPD nur noch die Wand steht, dann muß innerhalb der SPD das Koordinatensystem sich schon ganz gründlich verändert und verschoben haben.
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Sie haben damals, Herr Kollege Schmidt, einen harten Satz gesagt. Ich habe ihn oft wiederholt. Der Satz stimmt, auch wenn er bitter ist für Freund und Feind. Sie haben damals gesagt: Wer mehr für beschäftigungswirksame Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, noch viel tiefer in die Sozialleistungen reinschneiden. Sie haben recht gehabt, Herr Kollege Schmidt. Es war notwendig. Es ist bitter, daß das, was wir, von Ihnen als richtig erkannt, anschließend in die Tat umgesetzt haben, uns so viel Kritik, Häme und Verleumdung eingetragen hat. Sie müßten uns eigentlich gegenüber dem in Schutz nehmen, was uns in den letzten vier Jahren an böser, bösartiger Kritik aus den Reihen der SPD widerfahren ist.
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Da Sie anwesend sind, Herr Kollege Schmidt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen nicht nur in meinem persönlichen Namen, sondern namens der gesamten Fraktion der CDU/CSU Respekt auszudrücken vor einer persönlichen und politischen
Lebensleistung, vor der Verantwortungsbereitschaft und vor dem Verantwortungsbewußtsein, das Sie in Ihrem politischen Leben unter Beweis gestellt haben. Den Beifall, den Sie über die Fraktionen hinweg erhalten haben, haben Sie verdient, auch für eine große Rede, die Sie heute gehalten haben und die jedem, über Parteien hinweg, etwas gesagt hat.
Ich bin nicht Ihr Zensor, da ich wesentlich jünger bin. Aber erlauben Sie mir doch nochmals die Anmerkung - ich habe sie vorhin schon gebracht -: Die Bemerkungen über Dr. Alfred Dregger waren eigentlich dieser großen Rede nicht angemessen.
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Aber ich möchte mir natürlich schon erlauben, ein paar Bemerkungen auch zu dieser Rede, Herr Kollege Schmidt, zu machen. Sie haben mit einem Zitat von Oscar Wilde über Irrtümer begonnen. Mir ist dabei ein Zitat von Max Frisch aus seinen Tagebüchern in den Sinn gekommen, in dem es heißt - es ist vielleicht manchmal, wenn man selbstkritisch ist, ein gefährliches Zitat -: „Überzeugungen sind der beste Schutz vor dem lebendig Wahren." Das heißt nicht, daß Überzeugungen nicht notwendig sind. Es heißt aber: Überzeugungen müssen begründet werden, Überzeugungen müssen immer wieder dargestellt werden, und nichts ist von selbst.
Ich frage mich aber - und auch Sie, Herr Kollege Schmidt -: Sind nicht heute Ihre treuen Weggefährten, die ihre Überzeugung auch heute noch aufrechterhalten, innerhalb der SPD längst in die Isolierung geraten? Ich frage mich: Mußten nicht andere ihre Überzeugungen ändern, um in der SPD überleben zu können? Ich denke an Hauff, ich denke an von Bülow und andere.
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Ich frage mich nochmals, ob das eigentlich noch Ihre SPD ist, bei der ein Hans Apel und ein Kollege Roth in die zweite Abstimmung gehen müssen, um überhaupt noch in den Parteivorstand gelangen zu können.
Sie haben dann gesagt, der Einfluß der derzeitigen Regierung auf die Vereinigten Staaten, unseren stärksten Bündnispartner, sei zu gering. Ich halte diese Behauptung für falsch. Ich erlaube mir die Gegenfrage, Herr Kollege Schmidt: Wie ist denn der gegenwärtige Einfluß der SPD in den Vereinigten Staaten? Wird Ihre Haltung, wird Ihre Auffassung überhaupt noch zur Kenntnis genommen? Die Partei muß ja nach jedem Parteitag Emissäre nach drüben schicken, um überhaupt noch erklären und verdeutlichen zu können, was der bündnispolitische Kurs der SPD darstellt.
Sie haben eine kritische Bemerkung zum europäischen Agrarmarkt gemacht. Sie, Herr Kollege Schmidt, haben damals die Misere frühzeitig erkannt und sich dazu auch geäußert. Nur: Sie haben resigniert und bis 1982 nichts Entscheidendes getan, um das zu beheben, woran wir heute so schwer zu tragen haben.
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Sie haben an Kollegen dieses Hauses, was den DGB betrifft, einen Appell zur Mäßigung gerichtet. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie diesen Appell zur Mäßigung auch an den DGB gerichtet hätten bezüglich des Umgangs mit einem Gewerkschaftler namens Norbert Blüm und anderen, die sich redlich bemühen, für die Arbeitnehmer etwas zu tun.
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Allerdings hat dies - das will ich auch dankbar anmerken - Ihr früherer Pressesprecher Bölling in der ihm geeignet erscheinenden Weise getan.
Es war von großem Interesse, Herr Kollege Schmidt, daß Sie heute Konrad Adenauer in seiner Politik 1960 und 1961 gegenüber Frankreich gerechtfertigt und dargestellt haben, daß es in manchen Parteien - nicht nur in der SPD, sondern auch in anderen Parteien - damals nicht so gesehen wurde, wie es die beiden großen Staatslenker Europas gesehen haben und wie es für unsere Zukunft richtig gewesen wäre.
Ich darf nur am Rande vermerken, daß Franz Josef Strauß dies schon damals so erkannt hat, wie Sie es heute darstellen.
Eines allerdings, Herr Kollege Schmidt, lasse ich Ihnen - bei allem Respekt vor der heutigen Rede - nicht durchgehen, und zwar Ihre Bemerkung über den DDR-Kredit. Sie wissen ganz genau, wie der Kredit zustande gekommen ist, wie er läuft und was damit verbunden ist. Sie wissen das ganz genau, aber die rhetorische Versuchung hat Sie wahrscheinlich dazu verleitet, hier diesen Seitenhieb zu probieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Waigel, da ich es wirklich nicht weiß, möchte ich Sie fragen, ob Sie so liebenswürdig sein möchten, mir ins Bewußtsein zu heben, was dann die Gegenleistung gewesen sei.
Genau das wollte ich. Denn ich hätte Sie nicht apostrophiert, ohne eine Begründung dafür zu bringen.
Beim DDR-Kredit handelt es sich, Herr Kollege Schmidt, um ein Darlehen auf privatwirtschaftlicher Grundlage, das nach den Konditionen des Marktes verzinst und getilgt wurde. Der Marktzins lag über dem internationalen Durchschnitt, und die DDR zahlt den Kredit zurück, bisher pünktlich und zuverlässig.
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- Jetzt kommt etwas hinzu: Sie wissen auch, daß seitdem Jugendaustausch, Erhöhung der Besucherzahlen, Verbesserung der Ausreisemöglichkeiten, Fortschritte im Bereich des Umweltschutzes, Kulturabkommen und vieles andere passiert ist, mehr als in der Deutschland-Politik zuvor. Ich glaube, das kann man guten Gewissens als einen Vorteil dieser zwei Milliarden-Kredite, die uns keinen Pfennig aus der Staatskasse gekostet haben, bezeichnen.
({1})
Demgegenüber waren, Herr Bundeskanzler a. D., die Kredite, die früher, 1975, Polen gegeben wurden, völlig anders strukturiert. Sie wissen ganz genau, daß nach dem Kredit damals die Gegenleistung, 120 000 Personen die Ausreise zu gestatten, eingehalten wurde, daß wir aber, was die Zinsen und die Tilgung betrifft, in keiner guten Lage sind.
Dies veranlaßt den Abgeordneten Schmidt zu einer weiteren Zwischenfrage.
Wenn ich die Geschäftsordnung ein bißchen dehnen darf. - Herr Waigel, daß Kredite in der Erwartung der Verzinsung und späteren Rückzahlung gegeben werden, zeichnet den Kredit, den Herr Strauß nach Ost-Berlin gegeben hat, nicht vor anderen aus.
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- Er hat ihn organisiert. - Daß Polen, andere Staaten wie Jugoslawien, Brasilien, Mexiko und 50 bis 60 weitere Staaten der Welt in ein Zahlungsbilanzdilemma geraten sind und ihre Kredite nicht richtig bedienen können - sonst brauchten wir ja keine Weltumschuldungsaktion -, das, glaube ich, liegt auf der Hand.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht den Unterschied sehen zwischen der Vermittlung eines privatwirtschaftlichen Kredits, in der Hoffnung, es werde ein paar Jugendbegegnungen mehr und dergleichen geben, und einer Hingabe von einigen hundert Millionen - z. B. an die DDR - gegen die schriftliche Abmachung, daß sie eine Autobahn zwischen Berlin und Hamburg bauen müsse - was sie getan hat -, oder an Polen gegen die schriftliche Vereinbarung, zigtausend Menschen - ich glaube, über 100 000; ich weiß die Zahl aus dem Kopf nicht mehr genau -, die aus Polen nach Deutschland umsiedeln wollten, herauszulassen, und gegen die schriftliche Verabredung, polnische Ansprüche an die deutsche Rentenversicherung abzugelten. Alles dies war schriftlich vereinbart. Ich frage Sie, ob das nicht ein großer Unterschied ist.
Ich sehe durchaus den Unterschied. Nur, Herr Kollege Schmidt, sehe ich natürlich auch den Unterschied, daß bei dem, was wir organisiert haben, bisher die Dinge geklappt haben, während in den Dingen, die vorher organisiert wurden, nicht einmal die Rückzahlung geklappt hat.
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Jedenfalls war die Gesamtbilanz der Deutschland-Politik auch durch diesen Kredit sehr erfolgreich und ist über die Erfolge, die Sie zuvor gehabt haben, hinausgegangen.
Ich hätte den Vergleich heute, Herr Kollege Schmidt, nicht angestellt, wenn Sie nicht den einen Nebensatz losgelassen hätten. Die Diskussion darüber konnte ich Ihnen deswegen nicht ersparen. Ich bitte um Verständnis.
Bitte schön.
.Mit vollem Verständnis die letzte Frage - das muß jedenfalls in Frageform formuliert werden -: Ist Ihnen nicht bewußt, Herr Kollege, daß ich im Grunde die Kontinuität der Deutschland- und der Außenpolitik der gegenwärtigen Regierung ausdrücklich anerkannt habe?
Das ist mir bewußt, und ich bedanke mich noch mal für das Lob, das Sie uns jetzt damit zum Ausdruck gebracht haben.
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Sie haben dann, Herr Kollege Schmidt, in einem anderen Zusammenhang hier die Hoffnung auf eine künftige SPD-Mehrheit geäußert. Sie haben es sehr bewußt bei der Hoffnung belassen und keinen sehr starken Glauben damit verbunden. Ich bin ziemlich sicher: Sie müssen die 42 Liegestützen nicht machen, die Sie angeblich für den Fall angekündigt haben, daß Johannes Rau über 42 % kommt.
Nun haben Sie auch noch die Abwesenheit des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen damit zu entschuldigen versucht, daß er sich uns nicht anzuhören brauche. Selbst wenn man dem folgen könnte, Herr Kollege Schmidt, ist es eine grobe Unhöflichkeit, daß er Ihnen nicht zugehört hat. Erlauben Sie mir, wenigstens das kritisieren zu dürfen.
({1})
Sie haben dann noch den alten Plenarsaal als Bahnhof bezeichnet.
({2})
- Bahnhofshalle! - Aber, Herr Kollege Schmidt, Sie sind eigentlich bei Ihrer rhetorischen Brillanz mit dieser Halle gar nicht so schlecht gefahren und haben das Instrument durchaus beherrscht.
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Über diese Institution, wo man so oft hat sprechen können und auch Beifall bekommen hat, soll man am Schluß nicht so schlecht sprechen. Und wir sollten ihn auch möglichst in der alten Gestalt einigermaßen bewahren. Er gehört zu den wenigen Räumen, die uns an die Gründung unserer Republik und an das erinnern,
({4})
was Sie uns heute ebenfalls über Parteien hinweg dargestellt haben.
({5})
- Das ist keine Provinzposse, sondern das ist eine ganz normale Auseinandersetzung. Früher saßen in der ersten Reihe hier Leute, die wirklich Zwischenrufe machen konnten. Heute läßt man auf seiten der SPD Dilettanten dieses Geschäft betreiben.
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Wir sind in einer guten Position. Der Tiefpunkt der Beschäftigungsentwicklung ist durch eine positive Entwicklung überholt worden. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer und Rentner steigen wieder. Arbeitsplätze werden neu geschaffen. Die Frage der Liquidität der Rentenversicherung ist gelöst. Das Defizit im Bundeshaushalt, aber auch bei Ländern und Gemeinden konnte halbiert werden. Nur, wir müssen uns darüber im klaren sein: Der Konsolidierungskurs muß fortgesetzt werden, die Bundesbank muß an der stabilitätsorientierten Linie festhalten, und wir benötigen Steuerentlastungen auf Arbeitnehmer- wie auf Unternehmensseite, um hier Einbrüchen bei den privaten Investitionen begegnen zu können.
Welche Alternative hat nun die Opposition? Ich kann dazu nur sagen: Nichts als Widersprüche. Der Kollege Apel kritisiert die Rückführung der Neuverschuldung, sie verlaufe ihm viel zu schnell, während der Kollege Vogel dem Bundesfinanzminister vorwirft, er habe in den vergangenen drei Jahren zuviel Schulden gemacht und sich keinesfalls als sparsamer Hausvater erwiesen. Der Kollege Apel versichert feierlich, die SPD beabsichtige keinesfalls eine über das jetzige Niveau hinausgehende Neuverschuldung, während der Kollege Roth unentwegt mit seinen Programmen eine expansivere Finanzpolitik fordert - was im Klartext natürlich die Neuauflage kurzatmiger, schuldenfinanzierter Ausgabenprogramme bedeutet.
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- Also, mit dem Wort „Umschichtung", Herr Kollege Roth, können Sie doch keinen toten Hund hinter den Ofen bringen. Sie haben doch noch nie umgeschichtet. Wenn Sie umgeschichtet haben, immer zu Lasten der Investitionen und zugunsten des Konsums. Eine andere Form der Umschichtung haben Sie noch nie praktiziert.
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Nun regt sich die SPD auf, wenn man sie als Steuererhöhungspartei bezeichnet. Nur, wenn man alles auflistet, was in den letzten zwei Jahren von der SPD an Steuererhöhungsplänen propagiert und beschlossen wurde, dann reichen mehrere Sondersitzungen des Deutschen Bundestages nicht, um das auch nur diskutieren oder beschließen zu können.
Eines will ich auch klar und deutlich sagen. Was das gestrige Angebot einer Koalition des Kollegen
Apel an die CSU bezüglich der steuerstundenden Investitionsrücklage betrifft, so kann ich nur sagen: Das Handwerk wird gegenüber der SPD auf diesen Taschenspielertrick nicht hereinfallen.
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- Sie wissen doch gar nicht, was eine steuerstundende Investitionsrücklage ist. Eine Unverfrorenheit! Da macht der Mann einen Zwischenruf und hat das Wort zum ersten Mal gehört. Das ist j a nicht zu fassen. ({10})
Denn, meine lieben Kollegen von der SPD, was Sie den Handwerkern durch die Rücklage geben, nehmen Sie ihnen im Gegenzug durch die von Ihnen angekündigte Erhöhung und Ausweitung der Gewerbesteuer.
Was das Angebot einer Koalition zwischen SPD und CSU betrifft, so kann ich nur sagen: Unser Bedarf an Großer Koalition ist für absehbare Zeit gedeckt.
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Nun fordert der Kollege Roth, mehr zur Stärkung der Binnennachfrage zu tun. Dabei hat er offensichtlich übersehen, daß wir die Bundesmittel für die Städtebauförderung verdreifacht haben, Verkehrsausgaben erhöhen, daß die Investitionen der Post steigen, daß höhere Leistungen im Bereich des Wohngeldes und der Sozialhilfe gegeben werden und die Steuerentlastung in zwei Stufen erfolgt. Wir betreiben damit genau jene notwendige sinnvolle Mischung einer angebots- und einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Demgegenüber können zusätzliche staatliche Investitionen, über Steuern finanziert, das nicht wettmachen, was durch einen Einbruch der privaten Investitionen fehlen würde.
In Nürnberg hat es nun der Kollege Roth - ich habe Ihre Rede aufmerksam nachgelesen - als Heilsformel der Koalition bezeichnet, mehr Gewinne für die Unternehmen bedeuteten mehr Investitionen für die Wirtschaft und damit mehr Arbeitsplätze. Herr Roth, hier handelt es sich doch nicht um eine Heilsformel dieser Koalition, sondern um die nach jahrelangem und intensivem Studium gewonnene Erkenntnis Ihres Freundes oder, besser gesagt, Kollegen Helmut Schmidt, der erklärt hat: Die Unternehmenserträge von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.
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Das hätten Sie in Ihr neues Grundsatzprogramm hineinschreiben müssen. Aber Sie nehmen Abschied von all dem, was einmal Deist, was Karl Schiller oder Helmut Schmidt Vernünftiges zu diesem Thema gesagt haben.
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Herr Kollege Roth, Sie werden doch nicht im Traum daran glauben, daß Ihre angekündigten Steuer- und Abgabenbelastungen, Rahmenpläne,
Strukturräte und vieles mehr dazu führen könnte, mehr Vertrauen, mehr Investitionslust überhaupt in die Wirtschaft hineinzubringen. Wenn Sie immer wieder mit Ihrer Forderung kommen, die Marktwirtschaft ökologisch zu erneuern, da kann ich nur sagen: Sie haben doch die Katalysatorenentwicklung in den USA und in Japan verschlafen, und die Grenzwerte in der Großfeuerungsanlagen-Verordnung sind doch von uns auf das heutige Maß gebracht worden und leider nicht durch Sie.
Nun wird uns aus den Reihen der SPD der Vorwurf gemacht, Konservative würden die Angst verbreiten, mehr Umweltschutz würde Arbeitsplätze vernichten. Ich kenne keinen konservativen Politiker, der dies in letzter Zeit gesagt hätte.
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Ich kann Ihnen aber mit einigen anderen Zitaten kommen. Zum Beispiel hat der doch sicherlich auf allen Seiten dieses Hauses Wertschätzung genießende Kollege Adolf Schmidt dem Vorhaben in Buschhaus zugestimmt, weil es um den Erhalt von 4 000 Arbeitsplätzen geht.
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Meine Damen und Herren, mit welchem Argument hat denn der SPD-Kandidat Rau der Inbetriebnahme von Ibbenbühren zugestimmt? Es ging ebenfalls um den Erhalt von mehr als 4 000 Arbeitsplätzen. Nur, meine Damen und Herren, nichts ist in der Politik widerlicher als Pharisäismus:
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daß man auf das eine Werk mit Fingern zeigt und das andere dann selber tut. Diesen Pharisäismus lassen wir weder Ihnen noch Ihrem Kanzlerkandidaten durchgehen.
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Meine Damen und Herren, es ist Ihnen 1983 nicht gelungen, die Mehrheit der Bevölkerung mit einem Angstwahlkampf um die Raketen zu verunsichern. Darum sind Sie von diesem Thema schnell weggegangen und versuchen heute, die Menschen mit Prognosen, die nicht stimmen, und mit Ankündigungen zu verunsichern. Ihren ursprünglichen Prognosen zufolge müßten wir heute bei mehr als vier Millionen Arbeitslosen stehen. Und nach den Vorstellungen - ich sage nicht: Wunschvorstellungen, ich sage nur: Vorstellungen - des Kollegen Roth müßte sich unsere Konjunktur spätestens seit Ende 1984 wieder auf einer rasanten Talfahrt befinden. Tatsächlich ist jedoch die Zahl der Erwerbstätigen Ende Juli um knapp 290 000 höher als im Juli 1985, die Wachstumsrate liegt im zweiten Quartal 1986 um real 3,3% über dem Vorjahreszeitraum, und das Ziel der Preisstabilität ist erreicht.
Nun sind Sie natürlich - von den GRÜNEN will ich in dem Zusammenhang gar nicht reden ({18})
auf der Suche nach einem neuen emotionalen Aufputschmittel.
({19})
Sie haben dieses Thema - leider - im Instrument der friedlichen Nutzung der Kernenergie gefunden. Auslöser war die auf systemimmanenter Schlamperei und Mißwirtschaft beruhende Katastrophe in Tschernobyl. Es zeugt von unglaublicher politischer Verlogenheit, wenn die Herrschaften, die bei jeder Demonstration in der Republik von Flensburg bis Konstanz dabei sind, bisher noch nicht eine Minidemonstration gegenüber dieser Schlamperei in der Sowjetunion organisiert oder sich an ihr beteiligt haben.
({20})
Wir hatten natürlich auch gehofft, daß sich wenigstens die SPD - von den GRÜNEN erwarte ich das ja nicht - an die Sowjets wendet. Doch weit umgekehrt: Die unsicheren Reaktoren liegen, wenn man der offiziellen Politik der SPD folgen darf, ja nicht in der Ukraine, sondern in der Bundesrepublik und in Frankreich.
Nun wird nach einem verlorenen Raketenwahlkampf ein Kernenergiewahlkampf geführt. Ziel soll es sein, die Bevölkerung in Angst und Panik zu versetzen. An die Stelle sachlicher Auseinandersetzung tritt die Dämonisierung, an die Stelle der Ratio die Emotion.
({21})
- Ich komme gleich darauf.
Nach der ersten Ölkrise hieß es, unser Land müsse die Ölimportabhängigkeit drastisch reduzieren und die bestehenden Öl- und Gaskraftwerke angesichts der begrenzten Rohstoffvorräte unseres Planeten durch die Kernkraft ersetzen. Stimmt die Feststellung von damals oder nicht? Ist nicht unsere Abhängigkeit gerade im Ölbereich von der krisengeschütteltsten und krisenanfälligsten Region dieser Welt auch heute noch gravierend? Verdrängen Sie das? Sie verdrängen doch permanent Wahrheiten und setzen Emotionen an die Stelle einer rationalen Auseinandersetzung.
({22})
Damals wurden die Atomprogramme der SPDForschungsminister auf Hochglanzpapier verteilt. Als es dann Ende der 70er Jahre zur Kampagne gegen die zunehmende Luftverschmutzung durch die Verstromung der Kohle kam, wurde damals wie heute auf die mögliche gravierende Gefährdung unseres Klimas durch die zunehmende Verstromung fossiler Energieträger hingewiesen. Heute wollen Sie diese elementare und völlig irreparable Gefährdung unseres Erdballs in Kauf nehmen. Es wird nicht mehr vom Waldsterben geredet,
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Luftverschmutzung ist plötzlich ein Thema dritter
Ordnung, weil Sie in Ihrem ideologischen Kampf
gegen die Kernenergie die Realitäten verlassen haben.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man sich die Berichte früherer Bundesregierungen und die der heutigen ansieht, wenn man mit wirklich kompetenten Wissenschaftlern spricht, mit Physikern und Betriebsräten in den Kernkraftwerken selbst, dann kann man sich vom Sicherheitsstandard unserer Kernkraftwerke überzeugen, und an diesem vorbildlichen, überzeugenden Standard der deutschen Kernkraftwerke hat sich durch Tschernobyl nichts geändert; umgekehrt wird vielmehr ein Sinn daraus: Verantwortungsethik kann für uns nur darin bestehen, den Menschen in der Sowjetunion, die selber nicht wählen und nicht demonstrieren können, auch nicht gegen Tschernobyl, dadurch zu helfen, daß wir durch weltweite Aktionen, durch internationale Konferenzen, durch Nichtstillhalten in unseren Anstrengungen erreichen, daß unser Sicherheitsstandard auf die Kernkraftwerke in der Sowjetunion übertragen wird.
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Nur damit, meine Damen und Herren, helfen wir den Menschen in Kiew und Tschernobyl, den Menschen in der Sowjetunion, den Menschen in Europa und den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Alles andere ist vielleicht gesinnungsethisch verbrämt, ist aber nicht einmal Gesinnungsethik, sondern letztlich die Ethik der Opportunisten, und bei Ihnen ist ja nicht einmal Opportunismus, sondern bodenlose politische Dummheit vorgegeben.
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Meine Damen und Herren, nun höre ich, Sparen sei eine neue Energiequelle. Sparen ist notwendig, und was immer gelingt, um zu einem sparsameren Energieverbrauch zu kommen, wird unsere Unterstützung finden.
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Aber Sparen selbst ist schließlich noch keine Energiequelle, und jeder weiß auch, daß die Sparpotentiale begrenzt sind. Diät mag ein wirksames Mittel gegen Verschwendung sein, Diät als Mittel zum Stillen des Hungers ist jedoch glatter Zynismus. Genauso ist es auch mit der Behauptung, man könne durch Sparen Energie überhaupt ersetzen.
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Meine Damen und Herren, es ist verantwortungslos, heute einen Umstieg zu propagieren, obwohl man überhaupt nicht weiß, was an Stelle der Kernenergie treten kann, und obwohl man auf Grund der seriösen Darlegungen der Wissenschaftler weiß, daß uns frühestens zu Beginn oder zur Mitte des nächsten Jahrhunderts eine andere, vielleicht sicherere Energiequelle zur Verfügung steht.
({29})
Meine Damen und Herren, was heute die SPD leider im Einvernehmen mit den GRÜNEN bei der Energiepolitik, insbesondere bei der Kernenergiepolitik betreibt, ist ein gezieltes Programm zur Erhöhung der Luftverschmutzung und zur Intensivierung des Waldsterbens, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.
({30})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon unglaublich, wenn man an einem Tag die Urananreicherungsanlage in Gronau mit großem Pomp einweiht und nachmittags die weitere Kernenergienutzung generell ablehnt.
({31})
Es ist schon unglaublich, wenn der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Jochimsen, an einem Tag den Betreibern des Hochtemperaturreaktors die größten Vorwürfe macht und sich anderentags klammheimlich von diesen Vorwürfen wegstehlen muß. Es ist schon ein starkes Stück, wenn man Bund-Länder-Beschlüsse zur Wiederaufarbeitung unterzeichnet, aber dann später die Wiederaufarbeitung verteufelt und gleichzeitig alle konkreten Arbeiten zur direkten Endlagerung behindert.
({32})
Das ist moralisch nicht verantwortbar, sondern allein wahltaktischer Opportunismus, um mit dem Faktor Angst Politik zu betreiben.
({33})
Ich kann der SPD nur raten, nachzulesen, was Helmut Schmidt auf dem Berliner SPD-Parteitag 1979 gesagt hat. Er glaubte zu wissen, daß es nicht Aufgabe der sozialdemokratischen Partei ist, Angst zu schüren. Auch in diesem Punkt haben Sie sich von Helmut Schmidt verabschiedet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 1. Juni 1978 hat in einer Bundestagsrede Helmut Schmidt die Notwendigkeit einer Politik des politischen, des strategischen, des militärischen Gleichgewichts betont und gleichzeitig deutlich gemacht, daß nur auf der Grundlage solchen Gleichgewichts eine Politik der Entspannung, der Konflikteindämmung und des Interessenausgleichs möglich ist. Während Helmut Schmidt damals richtigerweise unser Verhältnis zur NATO in einer festen und vertrauensvollen Sicherheitspartnerschaft begründet wissen wollte, streben seine Nachfolger eine schrittweise Lockerung und Auflösung des Bündnisses und eine Sicherheitspartnerschaft mit dem Osten an. Das, was Helmut Schmidt für den Westen definiert hat, definieren Sie heute ungeschützt und ohne Differenzierung für die andere Seite. Das allein macht deutlich, wie sehr Sie sich auch von der Sicherheits- und Außenpolitik Helmut Schmidts diDr. Waigel
stanziert und entfernt haben. Sie haben ihn ja letztlich gestürzt,
({34})
weil Sie nicht mehr bereit waren, seine Sicherheitspolitik mit zu vertreten,
({35})
die wir dann in diesem Punkt zu Ende gebracht haben, weil wir das einhalten, was Bundeskanzler und Regierungen dem Westen und dem Osten gegenüber zugesagt und versprochen haben.
({36})
Meine Damen und Herren, ein Thema, auf das ich heute nicht näher eingehen kann, ist die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, einer Geißel der Menschheit, die uns gerade in den letzten Wochen und Tagen wieder heimgesucht hat. Auch hier gilt es, nicht Angst zu schüren, sondern denen, die sich dem stellen, zur Seite zu stehen. Es gilt auch hier die Vereinigten Staaten nicht allein stehen zu lassen.
Aber wir haben auch große Sorgen im Innern. Es ist gerade in den letzten Tagen wieder zu Terroranschlägen und zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Ich wiederhole in diesem Zusammenhang unsere Forderung. Niemand, Herr Kollege Schmidt, denkt auch nur im entferntesten daran, das Demonstrationsrecht, das Grundrecht der Verfassung zu tangieren.
({37})
Nur ist im Grundgesetz die friedliche Demonstration geschützt. Zur friedlichen Demonstration gehört für mich auch, daß jemand, der friedlich demonstrieren will, daß jemand, der seine politische Meinung kundtun will, sein Gesicht offen zeigt, dafür Rechenschaft abgibt und sich bei einer solchen Demonstration nicht bewaffnet.
({38})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf in diesem Zusammenhang an etwas erinnern, was der frühere Polizeipräsident von München vor einiger Zeit geäußert hat: Nicht jeder Gewalttäter ist ein Terrorist; aber jeder Terrorist hat einmal als Gewalttäter angefangen. Darum kann ich nur sagen: Wehret den Anfängen! Man darf das nicht bagatellisieren.
({39})
Es gibt für uns keine Verharmlosung einer kleinen Gewalt, einer Gewalt gegen Sachen. Sie sollten endlich ernst machen - ich meine hier die GRÜNEN -, sich klar von all diesen Dingen zu distanzieren und sich davon zurückzuziehen.
({40})
Die SPD ist nicht gut beraten, mit solchen Leuten überhaupt gemeinsame Demonstrationen durchzuführen.
({41})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe gelesen, daß heute der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen nicht teilnehmen kann,
({42})
weil er anläßlich der Aktion BUGA'87 einen Baum zu pflanzen hat.
({43})
Heute abend will er in seiner Landesvertretung an
der Veranstaltung „NRW macht Spaß" teilnehmen.
Wenn dem so ist, dann kann er gleich dort bleiben.
({44})
Er hat offensichtlich keine große Hoffnung, endgültig nach Bonn übersiedeln zu können.
({45})
Herr Kollege Vogel, ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht.
({46})
Manchmal habe ich den Eindruck, Sie lassen ihn
gar nicht sprechen, weil Sie fürchten, Sie könnten
hier sonst nicht mehr die Nummer 1 sein.
({47})
Ich möchte Ihnen übrigens noch zu Ihrem guten Wahlergebnis auf dem SPD-Parteitag gratulieren.
({48})
Dieses Ergebnis hängt wohl damit zusammen, daß das ein gewisser Obolus, eine kleine Schmeicheleinheit für das war, was Sie schon damals bei der Vertreibung von München, bei der Verpflichtung nach Berlin und dann beim Weggeben der Würde des Kandidaten alles haben hinnehmen müssen. Insofern war das ein kleiner Ausgleich für Sie.
Nur, Sie sollten uns trotzdem den Kandidaten nicht vorenthalten. Hic Rhodus, hic salta, hier soll er sich stellen, hier soll er sich der Auseinandersetzung stellen, und nicht nur auf dem SPD-Parteitag, wo Beifall leicht zu erhalten ist.
({49})
Meine Damen und Herren, Sie wissen: Feigheit kommt nicht gut an. Und es ist politisch feig, sich hier nicht zu stellen. Und in der Zeit damals, Herr Kollege Schmidt, als Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat war,
({50})
hat er sich hier sechsmal der Diskussion gestellt,
({51})
weil er vor einem solchen Forum keine Angst zu haben braucht. Und bei Johannes Angst - hätte ich schon beinahe gesagt -,
({52})
bei Johannes Rau, kann man wirklich den Eindruck haben: Er hat Angst, hier zu sprechen, er traut sich nicht, er macht lieber draußen seine Sprüche. Nur, meine Damen und Herren, das kommt nicht an, und das trägt nicht.
({53})
Ich will noch eine Bemerkung zu einem Thema machen, das heute mehrfach angesprochen worden ist, zuletzt auch von Frau Hönes, die Asylantenproblematik in der Bundesrepublik Deutschland. Wir stehen hier vor einem ungeheuer schweren Problem. Und ich wollte, jeder, der hier davon redet, hätte Beziehung dazu, wie es unten aussieht,
({54})
spräche mit den Bürgermeistern, spräche mit den Landräten, spräche mit den Regierungspräsidenten und mit vielen anderen, die damit zu tun haben. Meine Damen und Herren, ich kann nur eines sagen: Wenn wir jetzt nicht das Notwendige und Vernünftige tun,
({55})
um zu differenzieren zwischen jenen, die wirklich politisch Verfolgte sind, und jenen, die aus anderen Gründen, die ich nicht gewichten möchte, zu uns in die Bundesrepublik Deutschland kommen, dann werden Sie möglicherweise eine Ausländerfeindlichkeit und einen Fremdenhaß bekommen,
({56})
den keiner in diesem Hause will
({57})
und den bisher keine politische Partei ausgenutzt hat. Nur, meine Damen und Herren, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als ob es das Problem nicht gäbe, ist unverantwortlich.
({58})
Wir wollen nichts anderes, als dieses Grundrecht zu garantieren, in seiner Substanz zu erhalten.
({59})
Und so, wie es möglich ist, daß jedes andere Grundrecht durch ein Gesetz nach Inhalt, Gegenstand und Wesensgehalt definiert wird, muß dies auch hier möglich sein.
({60})
Das darf nicht auf die Dauer nur ein Richterrecht sein.
({61}) Das ist unser Gesichtspunkt.
Die, die hier kritisieren, kann ich nur bitten, das nachzulesen, was Golo Mann zu diesem Thema gesagt hat, der ebenfalls als selbst Betroffener in früherer Zeit eine Klärung der Dinge für unabdingbar notwendig gehalten hat.
Herr Abgeordneter Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Ich bitte sehr um Verständnis, lieber Kollege Penner, aber ich muß leider zum Schluß kommen. Ich bitte um Verständnis.
({0})
- Leiser oder laut, das hängt insgesamt auch von dem Thema ab. Herr Kollege Porzner, ich nehme das gern auf. Das hängt insgesamt davon ab, wie die Zwischenrufe sind. Wenn die Zwischenrufe stärker sind, wird man lauter. Wenn die Zwischenrufe leiser werden, wird man leiser. Und Sie wissen ja, Herr Kollege Vogel, wie das ist.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen
({2})
und nochmals an Helmut Schmidt anknüpfen: Sie haben, Herr Kollege Schmidt, von der Geschichte gesprochen, von unserer Geschichte, von der Tragik der Geschichte, ihren Widersprüchen, dem Dilemma und dem Neubeginn. Und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie insbesondere dem Neubeginn und dem, was in den letzten 41 Jahren geleistet wurde, einen so breiten Raum gegeben haben, weil ich fürchte: Es ist uns im letzten Jahr nicht genügend gelungen, diese positiven Dinge unserer neuen, jungen Demokratie so darzustellen, wie es eigentlich in einem vernünftig gewichteten Verhältnis unserer Geschichte notwendig und sinnvoll gewesen wäre.
Ich habe mich anläßlich Ihrer Rede vorhin an vier Reden von Wiechert an die deutsche Jugend erinnert. Eine der Reden stammt aus dem Jahr 1929, eine aus 1933, eine aus 1935 und die letzte ist von 1945. Sie kennen sie wahrscheinlich. Die erste hat er noch in Königsberg gehalten, die andere in München; die letzte kurz vor seinem Tod.
Bereits 1929 als Wiechert bereits seherisch vorausahnte, wohin die Reise gehen könnte, hat er zu seinen Abiturienten gesagt: „Es ist vielleicht töricht zu sagen, daß ich euch etwas gegeben habe. Aber ich habe versucht, euch etwas zu nehmen: Die Angst."
1935, in schwierigster Zeit, beschwor er nochmals die ihm zuhörende Jugend, sich nicht verführen zu lassen und nicht zu denen zu gehören, die Angst in der Welt haben. Darum muß Verantwortungsethik in der Politik unabhängig von Angst sein, und
Angst darf nicht zum dominierenden Faktor der Politik werden;
({3})
wobei die Verantwortungsethik, die Sie von Max Weber und anderen ableiten, sich nicht ohne Gesinnung vollzieht, und Verantwortungsethik und Gesinnungsethik sich nicht ausschließen.
({4})
- Frau Timm, entschuldigen Sie, es ist völlig überflüssig, daß Sie mich in diesem Zusammenhang angreifen. Ich habe nur zitiert, was Ernst Wiechert gesagt hat.
({5})
Er hat doch damals nicht gesagt, es gebe niemand der Angst hat. Er hat lediglich gesagt: Ich hoffe euch erzogen zu haben, ich hoffe euch etwas gegeben zu haben, damit ihr nicht Angst in der Welt habt! Nur das habe ich zitiert. Sie verstehen mich jetzt bewußt oder unbewußt nicht.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Wort des Münchener Philosophen Robert Spaemann schließen, worin er zum Ausdruck bringt, was für ihn verantwortliches Handeln in der Politik bedeutet; er sagte: „Verantwortliches Handeln heißt, unter vorgegebenen Umständen, die wir uns nicht aussuchen können, das Richtige, nämlich das Bestmögliche zu tun."
Wir haben uns die Situation im Herbst 1982 nicht aussuchen können,
({7})
weder, was die Wirtschaft noch was die Finanzen, noch was die Arbeitslosigkeit, noch was vieles andere mehr anbetraf. Aber ich glaube, wir haben in vier Jahren das getan, was ethisch verantwortliches Handeln von uns verlangt: Das Richtige, nämlich das Bestmögliche zu tun. Wir können uns mit unserer Bilanz sehen lassen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat Herr Professor Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit besonders großem Interesse gehört, Herr Waigel, was Sie zum Asylrecht gesagt haben, weil das unsere Erfahrung bestätigt, daß diejenigen am lautesten schreien, bei denen die Verfahren am längsten dauern; denn im Freistaat Bayern dauern Asylverfahren bis zu sieben Jahren, im sozialdemokratisch regierten Hamburg zwei Jahre. Stellen Sie doch erst einmal diese
Mißstände ab, bevor Sie wieder für eine Grundgesetzänderung plädieren.
({0})
Ich möchte aber auf die Debatte von heute früh zurückkommen. Ich denke, daß sich die Bürgerinnen und Bürger, die heute vormittag dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt zugehört haben, eigentlich gewünscht hätten, daß der amtierende Kanzler Helmut Kohl unmittelbar darauf geantwortet hätte. Das hat er nicht getan. Er hat Herrn Bangemann in der sicheren Erkenntnis zwischengelassen, daß nach Bangemann eine rhetorische Steigerung immer möglich ist.
({1})
Unsere Bürgerinnen und Bürger können aber auch so sehr einfach einen Vergleich ziehen: hier Helmut Schmidt, der als Bundeskanzler die deutschen Interessen sowohl gegenüber dem Osten als auch im westlichen Bündnis mit Umsicht und Nachdruck vertreten hat, und da der Bundeskanzler Kohl, der im Osten neues Mißtrauen hat wachsen lassen und der im westlichen Bündnis, um Willy Brandt zu zitieren, immer schon Ja und Amen sagt, während in Washington noch gepredigt wird;
({2})
hier ein Mann, der uns mit Umsicht und Entschiedenheit und übrigens unter verantwortungslosen Angriffen der Unionsrechten den Terrorismus erfolgreich vom Leib gehalten und die Geiseln in Mogadischu befreit hat, und da ein Bundeskanzler, der heute samt seines Innenministers auch auf diesem Gebiet zeigt, daß er als Oppositionsführer den Mund zu voll genommen hat, denn so viel Gewalt wie heute gab es in der Bundesrepublik noch nie;
({3})
hier ein Mann, der die Wirtschaftskrise besser als irgend jemand sonst in Europa gemeistert hat
({4})
- besser als jeder sonst in Europa; gucken Sie sich die Statistiken an - und der nur durch den Umfall der wankelmütigen FDP um die Früchte seiner Arbeit gebracht wurde,
({5})
und da ein Mann, der es zusammen mit Herrn Bangemann unterlassen hat, den weltweit einsetzenden - wenn auch flachen - Aufschwung für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu benutzen und der die in der Bundesbank angesammelten Milliarden insoweit spurlos verpulvert hat.
({6})
- Frau Berger, inzwischen ist es doch so, daß Kollegen aus der Union fragen: Was soll eigentlich im
nächsten Abschwung werden, wenn die Arbeitslo17716
Dr. Ehmke ({7})
senzahlen noch schneller wachsen, was wird dann eigentlich unsere Antwort sein? - Ich bin der Meinung, wir sollten diese Frage ernst nehmen, statt sie zu verdrängen.
Hier ein Helmut Schmidt, der gemäß der Einsicht gehandelt hat, daß in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht weniger, sondern mehr soziale Gerechtigkeit gefordert ist, und da ein Helmut Kohl, der die Lasten der Krise den schwächeren Schultern aufbürdet, um der eigenen Klientel zu Diensten zu sein.
({8})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole noch einmal, was Hans Apel gestern gesagt hat: Die Politik dieser Koalition ist eine Politik der sozialen Ungerechtigkeit. - Daß Herr Stoltenberg und - ähnlich - Herr Lambsdorff auf diese Vorwürfe in der Art von sozialen Herrenmenschen geantwortet haben, unterstreicht die Arroganz und die soziale Kälte Ihrer Politik.
({9})
Herr Kollege Kohl, ich habe mich gefreut, daß Sie dagegen eher soziale Kreide aufgelegt haben. Es gab allerdings zwei Ausrutscher. Der eine passierte, als ich Ihnen zurief, Sie sollten nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema Kernkraftwerke von Arbeitsplätzen reden und an Arbeitsplätze denken. Darauf haben Sie so was gesagt - ich habe es nicht ganz mitbekommen - wie: „Professor Doktor Ehmke und Arbeitslose - da weiß ja jeder, was los ist." - Ich fürchte, keiner weiß, was Sie damit gemeint haben,
({10})
Sie selbst vermutlich auch nicht. Ich habe nur den Verdacht, Sie verstehen von Professoren und Doktoren so wenig wie von Arbeitslosen.
({11})
Aber, Herr Kohl, der kleine Ausrutscher mag noch auf Kosten unseres intensiven persönlichen Verhältnisses gehen.
Schlimmer fand ich - dies meine ich jetzt wieder ernst -, daß Sie am Schluß dann doch noch Ihr verächtliches Wort von der „Straße" wiederholt haben. Ich finde es nicht gut, wenn ein CDU-Vorsitzender und Kanzler so über protestierende Bürger spricht.
({12})
Darum meine ich, Helmut Schmidt hatte recht, als er in Nürnberg gesagt hat: Lange kann sich dieses Land eine solche Regierung nicht mehr leisten.
({13})
Lieber Helmut, die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion möchten dir anläßlich dieser Debatte noch einmal Dank sagen für alles, was du in Jahrzehnten harter Arbeit und getreuer Pflichterfüllung in Hamburg und in Bonn, als Hamburger Senator, als Bundestagsabgeordneter, als Bundesminister und als Bundeskanzler für unser Land geleistet hast.
({14})
Wir stimmen dir darin zu, daß die Arbeit für eine politische Partei ihren tieferen Sinn darin findet, ihre Rechtfertigung daraus empfängt, daß sie zugleich Dienst für unser Land ist.
Die Kollegen von der Koalition meinen nun immer, uns mit Häme - ein Lieblingswort des Bundeskanzlers - darauf hinweisen zu sollen, daß es in der SPD auch Debatten und Auseinandersetzungen mit Helmut Schmidt, auch als Bundeskanzler gegeben hat. Lassen Sie mich Ihnen darauf antworten: Wir sind stolz darauf, weder ein Kanzlerverein noch ein Club von Posten- und Pöstcheninhabern zu sein. Wir halten die offene Diskussion und nicht das Tabu, das freie Ringen um den besten Weg und nicht obrigkeitlichen Muff für das Lebenselement der Demokratie.
({15})
Wir wissen aber auch und haben das - nicht zu Ihrer Freude, ich weiß es - in Nürnberg noch einmal gezeigt, daß nach der Diskussion die Einkeit in der Aktion stehen muß, und wir sind dir, lieber Helmut, dankbar, daß du auf unserem Parteitag in diesem Sinne die Stafette an Johannes Rau weitergegeben hast.
({16})
Johannes Rau und wir stimmen mit Helmut Schmidt auch darin überein, daß Gemeinsamkeit der Demokraten in Grundsatzfragen der Nation gerade in Krisenzeiten notwendig ist. Führende Sozialdemokraten, Johannes Rau und Willy Brnadt an der Spitze, haben gerade in den letzten Wochen betont, daß, so wichtig Wahlen sind, die großen Probleme unseres Landes nicht allein durch Wahlen gelöst werden können. Die Sanierung der Rentenversicherung und des Gesundheitswesen, die Finanz- und Steuerreform, die notwendige Umstrukturierung unserer Streitkräfte, das Umsteuern in der Energiepolitik erfordern breiten Konsens.
Das öffentliche Echo auf diesen Vorstoß war gemischt.
Die FDP oder viele in der FDP scheinen offenbar zu glauben, daß die FDP ihr Extrasüppchen um so besser kochen kann, je mehr sich die beiden großen Volksparteien in den Haaren liegen. In der Union gibt es aber nicht wenige, die so denken wie wir. Herr Bundeskanzler, ich hätte gern noch einmal ausgelotet, ob Sie zu diesen in der Union gehören. Sie haben vorhin in Ihrer Rede gesagt: Sie sind für dieses Angebot in bezug auf eine gemeinsame Lösung in der Frage der Alterssicherung dankbar. Ich würde mich freuen, wenn Sie auch das Angebot der SPD-Führung annehmen würden, gemeinsam über den Umstieg in der Energiepolitik und wie man ihn bewerkstelligt zu reden und gemeinsam zu handeln;
Dr. Ehmke ({17})
denn, Herr Bundeskanzler, es wird nicht gehen - davon sind auch viele in ihren eigenen Reihen überzeugt, einige sagen es auch laut -, eine überholte und darum verfehlte Energiepolitik, koste es, was es wolle, weiter durchzuführen.
({18})
Aber, Herr Bundeskanzler, darf ich jetzt auf ein Thema kommen, das wir schon mehrfach strittig behandelt haben. Wenn man tatsächlich eine solche Gemeinsamkeit sucht, die nichts mit Koalitionen zu tun hat - ich stimme Ihnen völlig zu Herr Waigel: Wir haben keine Sehnsucht nach Großen Koalitionen, völlig einverstanden -, dann frage ich mich, Herr Bundeskanzler, ob Sie uns z. B. Ihre Äußerung zu der Wahl des Bundespräsidenten Waldheim in Österreich nicht besser erspart hätten, genauso wie Sie unserem und dem amerikanischen Volk die peinliche Show in Bitburg besser erspart hätten.
({19})
Ich frage Sie, wenn Sie Gemeinsamkeit wollen, warum Sie dann in Sachen Mahnmal oder Haus der Geschichte nicht Gemeinsamkeit suchen, sondern durch die Art Ihres Vorgehens - administrativ Mehrheiten schaffen; laßt die anderen nur reden! - in einer wesentlichen Frage der Nation Zwietracht säen. Ich frage mich auch, warum Sie in Sachen Asyl einerseits Ihre Pflicht nicht tun - Sie können z. B. ohne jedes Gesetz so viel Personal in Zirndorf beschäftigen, wie Sie meinen, daß dort nötig ist -, und warum Sie sich andererseits weigern, mit uns das Grundrecht des Asyls und das Grundgesetz zu verteidigen. Statt dessen haben Sie die Verfassung zum Gegenstand wahltaktischer Verrenkungen gemacht.
({20})
Herr Bundeskanzler, ich bin auch der Meinung: Wenn man grundsätzliche Gemeinsamkeit von Demokraten, über die Helmut Schmidt heute morgen gesprochen hat, ernsthaft will, dann sollten Sie der erste sein, der denen in Ihrer Partei entgegentritt, die meinen, daß „Deutschland, Deutschland über alles" eine besonders schlaue Wahlkampfmelodie sei. Es wäre besser, Sie würden zusammen mit uns Einigkeit und Recht und Freiheit verteidigen.
({21})
Was mit solchen dumpfen Appellen an Nationalismus im Ausland angerichtet wird, Herr Kohl,
({22})
das habe ich in der vergangen Woche in Amerika - und nicht nur unter Emigranten - leider erst wieder erleben müssen. Denn die Welt hat dieses Lied auf Grund der Greuel der Nazi-Zeit leider mit Schrecken in Erinnerung. Darum kann ich nur sagen: Diejenigen, die dieses Thema spielen, wissen zwar genau, was sie tun, aber sie wissen offenbar nicht, was sie anrichten.
({23})
Im Wahlkampf posaunen Sie nun fröhlich „raus" mit durchgestrecktem Daumen - ach nein, es ist der linke - „Weiter so". Herr Kohl, Sie haben es zugelassen, daß Stahlhelmler - ich benutze ein Wort, das aus Ihrer Fraktion stammt - in Ihrer Fraktion durch verantwortungsloses Gerede über die Grenzen in Europa neues Mißtrauen gegen uns geweckt haben, und zwar nicht nur im Osten, auch im Westen. Weiter so?
Sie, Herr Kohl, lassen volltönend über Menschenrechte in Chile und Afghanistan reden, aber in Südafrika stützen Sie aus kleinkarierter Schlauheit immer noch das Apartheid-Regime, obwohl Sie sonst doch so schnell Amerika folgen.
({24})
Im Falle Libyen, Herr Bundeskanzler, da verhalten Sie sich gegenüber der Frage der Unterstützung des Terrorismus so lauwarm, wie Sie sich gegenüber der unvertretbaren militärischen Überreaktion der Vereinigten Staaten verhalten haben. Weiter so?
Sie, Herr Kohl, klagen andere der Menschenrechtsverletzung an. Aber Sie haben es in der Asylfrage lange geduldet, daß Fremdenhaß und Extremismus geschürt wurden. Das Verdienst, das in der Union abgebrochen zu haben, haben andere als Sie. Ich bin der Meinung, mit dem, was Sie uns hier an Turnübungen in der Asylfrage - Grundgesetzänderung ja, Grundgesetzänderung nein, hin und her - wochenlang gezeigt haben, haben Sie endgültig Ihren Spruch über den Anspruch auf geistig moralische Führung zur Farce, j a zur Karrikatur werden lassen.
({25})
Ich muß auch sagen, daß ich Ihren ruhigen, angenehm ruhigen Darlegungen heute zu der Frage, was Sie in der Sicherheitspolitik getan haben, nicht zustimmen kann. Natürlich wollen wir alle den Frieden; natürlich wollen wir alle in den Rüstungskontrollverhandlungen ein Ergebnis. Aber, Herr Bundeskanzler, das Versprechen, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen, das haben Sie nicht eingehalten.
({26})
In Wirklichkeit haben Sie zu einem neuen Raketenwettrüsten in Europa beitragen; in Wirklichkeit haben Sie der Produktion neuer, für Europa bestimmter, chemischer Waffen zugestimmt, während der amerikanische Kongreß mit seiner Zustimmung noch zögert; in Wirklichkeit haben Sie eine dreißigjährige gemeinsame Politik dieses Hohen Hauses in Sachen vollständiger Atomteststop durch taktische Winkelzüge in Frage gestellt. Sie waren auch heute bei einer anderen Position, als es die herkömmliche aller ihrer Vorgängerregierungen und des Deutschen Bundestages war; während ich den amerikanischen Kongreß loben muß, daß er auch in dieser Frage Linie hält, und zwar beide Häuser.
({27})
In Sachen SDI haben Sie sich einmal mehr den außen- und sicherheitspolitischen Wünschen Wa17718
Dr. Ehmke ({28})
shingtons untergeordnet, im übrigen Ihr mangelndes Urteilsvermögen in strategischen Fragen gezeigt - Helmut Schmidt hat das schon behandelt - und zusammen mit dem famosen Herrn Bangemann Ihre Unfähigkeit, die Interessen der deutschen Wirtschaft wahrzunehmen - wir müssen diese armen Leute nun immer trösten, wenn sie jetzt ankommen uns sagen: das hatten wir nun nicht erwartet -, in einem Maße unter Beweis gestellt, daß einem nur kohlschwarz vor Augen und zugleich bange werden kann. Weiter so? Bitte, nein.
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Herr Bundeskanzler, ich höre ja gerne, was Sie alles an Vorschlägen zu Papier gebracht haben. Aber um die größte Macht im westlichen Bündnis zu beeinflussen, da braucht man ein bißchen mehr als Papier. Ich sage Ihnen, daß uns viele Amerikaner, die mit der Reagan-Regierung nicht einverstanden sind, immer und immer wieder sagen, sie würden eine viel größere Chance in Sachen Atomtest, in Sachen chemische Waffen, in Sachen Rüstungskontrolle haben, wenn die Europäer eine einheitliche Linie in Washington mit Nachdruck vertreten würde. Aber die gibt es nicht, weil Bonn paßt.
Das ist eigentlich der größte Vorwurf, den ich auf sicherheitspolitischem Gebiet gegen Sie erhebe, daß in diesen Wochen - das sind noch etwa zehn Wochen -, in denen sich entscheidet, ob angesichts der Initiativen der neuen sowjetischen Führung ein Durchbruch in der Rüstungskontrolle noch unter dieser Administration, noch in den Amtszeiten von Präsident Reagan gelingt, Sie sich so passiv verhalten haben; das ist keine Wahrnehmung deutscher und europäischer Interessen.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, die SPD hat auf ihrem Nürnberger Parteitag in der Außen-, der Sicherheits- und der Deutschlandpolitik, in der Europa- und der Nord-Süd-Politik in großer Einmütigkeit ihren Weg für die nächsten Jahre umrissen. Sie hat sich dabei nicht gescheut - anders als die Union -, auch zu schwierigen Fragen klar und unmißverständlich Stellung zu beziehen.
Wir wollen in Freundschaft mit unseren Verbündeten und im Frieden mit unseren Nachbarn leben, wir wollen die Spaltung Deutschlands und Europas überwinden, wir wollen die Achtung der Menschenrechte weltweit fördern und den Staaten der Dritten Welt ein fairer Partner sein. Wir wollen den Wahnsinn des Wettrüstens beenden und der Drohung der gegenseitigen atomaren Vernichtung mit einer Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen West und Ost begegnen. Obgleich Sie verantwortungslos genug sind, nun schon seit langem das westliche Bündnis durch die Behauptung zu schwächen, daß eine der großen Volksparteien dieser Republik nicht zum westlichen Bündnis steht, sage ich noch einmal: Wir sind für ein stabiles Bündnis, weil auch nur ein stabiles Bündnis - wir haben das ja erfahren - überhaupt zur Entspannungspolitik in der Lage ist.
Herr Bundeskanzler, ich darf Ihnen eines sagen: Über unsere Freundschaft mit Amerika haben Sie nicht zu urteilen. Es wäre gut, wenn Sie im Interesse der Freundschaft der beiden Völker darauf verzichten würden, in billiger Weise Wahlkampfmunition daraus zu ziehen, daß wir in der Tat nicht so brav sind wie Sie, sondern Kritik an manchem haben, was die Reagan-Administration tut, und diese Kritik auch vorbringen, übrigens auch in Amerika vorbringen. Aber gucken Sie einmal, Herr Bundeskanzler: Daß jemand gegen Reagan-Politik ist, macht ihn genauso wenig anti-amerikanisch, wie die vielen Millionen Menschen, die in diesem Lande gegen Kohl-Politik sind, deswegen anti-deutsch sind.
({31})
Was die Sozialisten und Sozialdemokraten in Europa betrifft, empfehle ich Ihnen, einmal die gemeinsame sicherheitspolitische Plattform zu lesen, die diese Parteien gerade für die nächste Runde der Diskussion verabschiedet haben. Aber eines ist wahr: Im Unterschied zu Ihnen wollen wir nicht Musterschüler in Washington sein, sondern wir wollen ein selbstbewußtes Europa, das seine Interessen im Bündnis mit Nachdruck zur Geltung bringt und das im übrigen West- und Osteuropa durch ein immer engeres Netz von Beziehungen und Zusammenarbeit miteinander verbindet. Deshalb sind wir nicht nur Anhänger des westlichen Bündnisses, sondern auch überzeugte Anhänger der Bestrebungen, den KSZE-Prozeß vorwärtszutreiben, wie es übrigens dem Harmel-Bericht entspricht, der vom Bündnis gemeinsam verabschiedet worden ist, den - nicht wir - aber manche Leute im Bündnis vergessen zu haben scheinen.
Unsere Unterstützung des KSZE-Prozesses ist Ausdruck der Einsicht, daß Frieden und Sicherheit primär politische, nicht militärische Kategorien sind. Unsere Deutschlandpolitik, unsere Europapolitik, unsere Nord-Süd-Politik müssen insgesamt der Sicherheit und dem Frieden dienen. Unsere Nord-Süd-Politik darf z. B. nicht, wie es die Weltschuldenpolitik derzeit tut, zu weiterer sozialer Ungerechtigkeit und politischer Instabilität in den Entwicklungsländern beitragen. Sie muß diesen Ländern im Gegenteil im Interesse des Weltfriedens Hilfe zur Selbsthilfe leisten, statt sie durch die Art der Schuldentilgung, durch die Höhe der Zinsen, aber auch durch die verdammt niedrigen Rohstoffpreise, die Sie sich dann auch noch als Preisstabilitätserfolg ans Revers heften, weiter ins Elend zu treiben.
({32})
Unsere Europapolitik muß zur Überwindung des Nord-Süd- wie des Ost-West-Konflikts beitragen. Dabei muß sie vor allem dem Frieden und der Wiederherstellung der historisch gewachsenen Einheit ganz Europas dienen. Welch zentrales Verhältnis dabei unserem Verhältnis zu Polen zukommt, hat Helmut Schmidt hervorgehoben. Ich kann nur hoffen, daß uns die Reise der Delegation von Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion nach Polen in dieser Frage nun endlich wieder an einem Strang ziehen läßt.
Dr. Ehmke ({33})
Unsere Deutschlandpolitik - auch darin sollten wir einig sein - muß darauf ausgerichtet bleiben, daß vom deutschen Boden Werke des Friedens und nicht Kriege ausgehen.
Aber auch unsere Sicherheitspolitik muß nicht nur unserer Verteidigungsfähigkeit, sondern mit dieser und über diese hinaus dem Frieden dienen, und davon handeln unsere Nürnberger Beschlüsse. Darum lassen Sie mich bitte noch einmal den Versuch machen, das Grundkonzept anzusprechen, das unseren Vorschlägen für eine Strategie der Kriegsverhütung, für eine Politik der Rüstungskontrolle zugrunde liegt. Es ist das Konzept der Sicherheitspartnerschaft, der gemeinsamen Sicherheit.
Die Union und manche besonders schlauen FDPLeute
({34})
bezeichnen das Konzept der Sicherheitspartnerschaft als Unterminierung westlicher Sicherheitspolitik, ja, als Abwendung vom westlichen Bündnis. Gleichzeitig werfen sie der SPD vor, sich von der Sicherheitspolitik Helmut Schmidts völlig entfernt zu haben.
Sie haben offensichtlich entweder vergessen oder aber verdrängt, daß das Wort Sicherheitspartnerschaft von Helmut Schmidt stammt und daß er es nicht auf einer Parteikonferenz, sondern auf einer UNO-Konferenz, und zwar in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler, in die öffentliche Diskussion eingeführt hat.
Ich verstehe Ihre Schwierigkeiten, die ja nicht nur Ihre Schwierigkeiten sind, sich mit diesem Konzept anzufreunden. Ich möchte aber noch einmal darum werben; denn ich bin der Meinung: Gerade in der Sicherheitspolitik ist ein neuer Konsens hier im Parlament wie in unserem Volke dringend erforderlich.
Die Schwierigkeiten, die das Konzept der gemeinsamen Sicherheit zwischen Ost und West bereitet, beruhen nicht auf parteipolitischen Programmen oder kurzfristigen Überlegungen. Ich glaube, sie beruhen auf einer uralten Erfahrung der Menschheit, ja, vielleicht kann man sagen: auf einem während der Entwicklungsgeschichte der Menschheit entwickelten Instinkt, dem Instinkt nämlich, daß man gegenüber dem Nachbarn - sei es, daß er in einer Höhle, sei es, daß er in einem festen Haus wohnt - nur sicher ist, wenn man einen gleich großen oder noch besser einen größeren Knüppel hat als er. Wenn der Mensch auch keineswegs nur auf Streit, sondern auch auf Gemeinsamkeit und gegenseitige Hilfe angelegt ist - die Erfahrung, wenn es zum Streit ging, spricht für diese Verhaltensweise.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist, daß in einer Welt der Massenvernichtungsmittel dieser Instinkt selbstmörderisch zu werden droht.
({35})
Wir haben mit Massenvernichtungswaffen glücklicherweise noch wenig Erfahrung. So grausam und furchtbar Hiroshima war, offenbar hat es nicht ausgereicht, das Wort von Einstein zu widerlegen, mit der Atombombe habe sich alles geändert, nur nicht das Bewußtsein der Menschen.
Eine Politik der Überlegenheit - und das Streben nach Überlegenheit liegt dem Wettrüsten zugrunde - kann im Zeitalter der nuklearen und chemischen Massenvernichtungsmittel nur im gemeinsamen Selbstmord enden.
Im Gegensatz zu allem, was die sogenannten Sicherheitsexperten, die Wörners und Weinbergers, sagen, ist die Wahrheit: Niemand, weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion, weder der Westen noch der Osten, kann seine Sicherheit heute einseitig errüsten.
Wenn z. B. Präsident Reagan den ganzen Weltraum voller Waffen stopfen würde - und voller Atomreaktoren, die die Energie für diese Waffen liefern sollen -, wenn er noch mehr Schulden machen würde, ja, wenn er ganz Amerika verpfänden würde - Amerika wäre nicht sicherer, als es heute ist. Dasselbe gilt für die Sowjetunion. Sicherheit gibt es für West und Ost im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel nur noch gemeinsam oder für keinen von beiden.
({36})
Ich bin der Meinung: Es würde sich lohnen, einmal die Antworten strittig zu diskutieren, die wir daraus in Nürnberg entwickelt haben, die Folgerungen, die sich aus dieser Einsicht für unsere Politik, für unsere Strategie und für die Struktur unserer Streitkräfte ergeben. Wir brauchen in Europa auf beiden Seiten - unsere Forderung richtet sich doch gerade auch an den Osten - eine Strategie der Kriegsverhütung sowie Streitkräfte und Streitkräftestrukturen, die zum Angriff, vor allem zum Überraschungsangriff, nicht fähig sind, wobei unsere Streitkräfte natürlich stark genug bleiben müssen, einen potentiellen Angreifer mit einem untragbaren Risiko zu belasten.
Die Union hat auf Nürnberg leider nicht in der Weise der ernsthaften Diskussion reagiert - etwas anders die Kollegen von der FDP -, sondern hat in der für sie typischen Art die Auseinandersetzung durch Diffamierung ersetzt. Wir wundern uns darüber nicht. Herr Kohl, es ist j a noch nicht lange her, daß wir die Ostverträge, den Berlin-Vertrag, den UNO-Beitritt, ja, sogar die KSZE-Schlußakte in diesem Hohen Hause gegen den erbitterten Widerstand Ihrer Partei durchsetzen mußten.
({37})
Sie waren sich nicht zu schade, bei der Abstimmung über die Helsinki-Schlußakte, auf die Sie sich heute dreimal am Tag berufen, Arm in Arm mit den albanischen Kommunisten und den italienischen Neofaschisten nein zu sagen. Die CDU, die Union, die Neofaschisten in Italien und die Kommunisten in Albanien waren die einzigen drei Parteien, die gegen Helsinki gestimmt haben, und Sie wollen uns heute etwas über Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle erzählen!
({38})
Dr. Ehmke ({39})
Aber das ist vorbei. Heute gehört die damals so heftig bekämpfte Politik der SPD zu den Selbstverständlichkeiten unseres außenpolitischen Alltags.
Ich sage Ihnen: Mit den Vorschlägen unseres Nürnberger Parteitages wird es ähnlich gehen. Heute noch von Ihnen verteufelt und als Beginn des Weltuntergangs apostrophiert, werden diese Beschlüsse morgen als zukunftsweisende Alternative zu einer immer sterileren und perspektivloseren Außen- und Sicherheitspolitik der derzeitigen Regierung von einer großen Mehrheit akzeptiert werden.
Um hier einmal etwas Positives über Amerika zu sagen - Herr Waigel hat mich ja darauf angezapft - ({40})
- Es wird Ihnen aber nicht passen! Hören Sie gut zu: Ich fand es in der letzten Woche - ob das im Weißen Haus, im Kongreß, im Pentagon oder im State Department war - wieder erfrischend, mit welcher Selbstverständlichkeit die amerikanischen Konservativen mit uns darin übereinstimmen, daß das Schlimmste, was wir dem Bündnis antun könnten, die Tabuisierung der Probleme und der Schwierigkeiten wäre, vor denen die NATO heute steht.
Was Sie machen, ist der Versuch, Probleme nicht anzupacken, sondern wegzudrücken. Atomenergie? Wegdrücken und stramm durch! Problem der atomaren Waffen, Problem der wachsenden Kriegsgefahr durch Entwicklung der Waffentechnologie? Wegdrücken! Gefahr für Europa durch SDI? Übertünchen mit Bündnistreue! Und so geht es weiter. Das ist das Schlimme, und da lobe ich mir die amerikanischen Konservativen, die wenigstens so viel Grips und so viel Mut haben, die Fragen zu diskutieren, statt sie unter den Teppich zu kehren.
({41})
Das galt nun aber nur für die Adresse der Union.
({42})
Mein verehrter Herr Kollege Bundesaußenminister ist natürlich sehr viel beweglicher. Kaum präsentiert die SPD in ihren programmatischen Auseinandersetzungen neue Ideen, schon werden sie vom Koliegen Genscher aufgenommen. Begriffe wie „Sicherheitspartnerschaft", „Selbstbehauptung Europas", „neue Runde der Entspannungspolitik", ja, selbst „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" gefallen dem Kollegen Genscher so gut, daß er sie - freilich mit ein bißchen FDP-Zungenschlag - der staunenden Öffentlichkeit als eigene Politik präsentiert. Da lese ich doch - der Kanzler hat das vermutlich ganz übersehen - im regierungseigenen Bulletin vom 29. August - parallel zu unserem Parteitag -, daß der Herr Außenminister in Wien folgendes gesagt hat:
Es gilt, kooperative Sicherheitsstrukturen in
Europa zu schaffen, die bei Fortbestehen der
Bündnissysteme so gestaltet sind, daß nach Bewaffnung, Ausrüstung, Struktur und geographischer Verteilung der Streitkräfte sowie nach jeweiliger Militärdoktrin jede Seite nur die Fähigkeit zur Verteidigung hat, nicht aber die Fähigkeit zu Angriff und Invasion.
({43})
Ich kann nur sagen: Bravo, Herr Genscher!
({44})
Schreiben Sie weiter von der SPD ab oder parallel zur SPD; aber seien Sie dann bitte auch so anständig, Herr Genscher, Ihrem geliebten Koalitionspartner Franz Josef Strauß und Ihren eigenen Leuten zu sagen, daß Sie nicht beides tun können: auf der einen Seite die SPD kopieren und auf der anderen Seite sie in dieser unmäßigen Form, wie wir es erleben, zu diffamieren und runterzumachen.
({45})
Gucken Sie: Wenn Ihr Herr Haussmann nach dem Nürnberger Parteitag davon spricht, die SPD habe die letzten Brücken zur Gemeinsamkeit abgebrochen,
({46})
und Sie im gleichen Augenblick solche Artikel veröffentlichen: Herr Genscher, das ist doch verlogen; das haben Sie doch gar nicht nötig!
({47})
- Ja, sehen Sie, das hat nicht nur eine innenpolitische Dimension, Kollege Rumpf. Denn diese Doppelzüngigkeit ist es ja, die die Politik dieser Bundesregierung draußen so unredlich und so unseriös erscheinen läßt.
({48})
Die einen sagen fast dasselbe wie wir, und die anderen diffamieren uns dafür. Die einen reden von Kontinuität in der Außenpolitik und von der Notwendigkeit des Dialogs, die anderen - darunter zahlreiche Möchtegern-Außenminister von Strauß bis Bangemann - betreiben die Wende auch in der Außenpolitik. Kein Wunder, daß niemand so recht weiß - und das gilt nicht nur im Osten, Herr Bundeskanzler, das gilt inzwischen auch für Washington -, was Sie denn nun eigentlich wollen.
Wahrnehmung deutscher und europäischer Interessen ist so nicht möglich. Darum darf im Interesse unseres Landes nach meiner und meiner Freunde Überzeugung im Januar 1987 nicht die angesichts dieser Bilanz geradezu zynische Parole „Weiter so!" siegen, sondern es muß endlich wieder Politik für unser Land und für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land gemacht werden.
Schönen Dank für Ihre Geduld.
({49})
Als nächster spricht
der Abgeordnete Dr. Barzel.
Vizepräsident Cronenberg
Bevor Herr Dr. Barzel das Wort ergreift, muß ich dem Abgeordneten Suhr von den GRÜNEN
({0})
für seinen Ausdruck „Heuchler" während der Rede des Abgeordneten Dr. Waigel einen Ordnungsruf erteilen.
({1})
Herr Dr. Barzel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nüchtern und sehr informativ hat der Bundesfinanzminister in seiner Haushaltsrede - zu der ich ihn beglückwünsche - die soziale und wirtschaftliche Lage bilanziert. Das ist dann kraftvoll und mit farbfrohem Pinsel durch die Kollegen Dregger und Waigel, aber auch durch den Herrn Bundeskanzler zu einem Bild ausgemalt worden. Die Opposition hat versucht, es zu kritisieren, aber natürlich die positiven Tatsachen nicht wegreden können, wie die Redner der Koalition bewiesen haben. Es spricht ja für sich selbst, daß der Herr Kollege Ehmke eben seine Rede eröffnete, indem er den Vergleich Kohl/Schmidt suchte, also den nötigen Vergleich Kohl/Rau wohl scheute.
({0})
Und es spricht ja auch für sich, warum sich eigentlich der Ministerpräsident Rau hier bisher nicht gestellt hat.
All das zeigt: Die Wende war nötig, und die Wende war erfolgreich. Sie wurde möglich durch die Entfernung der SPD von ihrem Kanzler, durch das Zutrauen der Union und die Entschlossenheit der FDP. Nach einer heftigen streitigen Debatte fand die Wende hier im Parlament durch eine legale und legitime Mehrheit statt.
Man hatte mich damals gebeten, diese Debatte kontrovers mit Helmut Schmidt und der SPD für Helmut Kohl zu führen. Am 1. Oktober 1982 stritten wir, Herr Kollege Schmidt, zuletzt im Parlament - wie oftmals zuvor, wie früher mit Erler, mit Wehner, mit Dehler und vor allem mit Ihnen, Herr Kollege Brandt.
Sie waren so freundlich, Herr Kollege Schmidt, mir ein gutes Wort zu schenken. Ich danke dafür. Sie wissen, daß ich Ihnen aufrichtig hohen Respekt erweise und Ihre verläßliche Haltung auch menschlich dankbar würdige.
({1})
Kein sachlicher Streit war imstande, unsere über Jahre gewachsene menschliche Beziehung zu belasten. Die vielen, die versucht haben, das hintenherum zu erreichen, haben immer auf beiden Seiten Bauchlandungen gemacht.
Ich freue mich, daß Sie heute am Schluß Ihrer Rede in der Frage nach der geistigen Führung Ihre Pflöcke in die Nähe zu denen gesetzt haben, die ich in einer früheren Debatte versucht habe, Ihnen nahezubringen. Natürlich hat politische Führung nicht geistige Führung zu ersetzen - das ist Sache von jedem, von den Kirchen, von Wissenschaft und Kunst -, aber, so damals meine Forderung, politische Führung muß durch Wirken und Haltung die Wertvorstellungen und -entscheidungen des Grundgesetzes gerade in der jungen Generation lebendig halten. Ich freue mich, daß wir hier offensichtlich aufeinander zugehen.
Dieser Vorrang für Geist schließt natürlich nicht aus - auch darin werden wir sicher übereinstimmen -, daß der Geist gelegentlich auch da weht, wo Politiker durch Werktagsarbeit ihre Sonntagsreden durchzusetzen versuchen. Die amtlichen Vertreter des Geistes sollten auch beherzigen, daß auch in diesem Hause geistvolle und vor allem geistige Arbeit geleistet wird.
Aus der damaligen Debatte - 1. Oktober, wie gesagt - möchte ich nur, weil es, wie ich glaube, in diese Bilanz gehört, drei Sätze zitieren:
Hier beginnt
- so der erste Satz eine neue Politik, die nicht nach mehr Staat, sondern nach mehr Bürgerfreiheit und mehr realer sozialer Gerechtigkeit verlangt.
Nicht die faule Ausrede, anderswo sei es
schlimmer, wird das Maß der neuen Mehrheit
sein, sondern der Anspruch: Hier ist es besser.
({2})
Wir haben heute im ersten Teil des Ausflugs des Kollegen Schmidt wieder so ein bißchen diese alte Realität gespürt.
Ich habe damals geschlossen: Wir trauen uns das zu.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute bilanzieren, muß man wohl sagen, diese Koalition ist auf einem guten Wege.
({3})
- Die Opposition ist sicherlich auf einem Wege dazuzulernen, und das wird noch eine ganze Weile dauern; ich war lange ein Oppositionsführer.
Ich würde gerne hinzufügen: Wenn sich das menschliche Verhältnis zu dem Kollegen Schmidt, von dem ich sprach, so entwickelt hat, dann hat das sicher auch damit zu tun, daß wir durch gemeinsame Arbeit gelernt haben, wo im Interesse des Ganzen der Konsens und wo der Streit seinen notwendigen Platz hat. Ich werde darauf zurückkommen.
Ich würde gerne noch zu der Haushaltsrede des Herrn Kollegen Stoltenberg - auch mit dem Blick auf die Opposition - sagen: Hätten Sie zu Zeiten Ihrer Regierung je einen solchen Datenkranz vorlegen können, wie ihn hier Herr Stoltenberg in aller Ruhe vortrug, hätten Sie sicherlich - das darf ich so sagen - ein parlamentarisches Hochamt oder ein politisches Tattoo - wer das lieber so hören will
- veranstaltet. Hier ging es schlicht und nüchtern
zu, weil diese Arbeit so schlicht und nüchtern fortgesetzt werden sollte.
({4})
Ich möchte aber festhalten, natürlich ist die Politik der Wende noch nicht im Ziel.
({5})
Vieles ist erreicht, mehr bleibt zu tun. Die Arbeitslosigkeit lastet, Haushaltsrisiken sind unübersehbar wie günstige Auswirkungen auf unsere Entwicklung, auf die wir wenig Einfluß hatten oder haben.
({6})
- Es ist doch fair, das einzuräumen; Dollar und Öl und usw.
({7})
Zur Begründung beschränke ich mich auf drei Punkte:
Erstens. Die wirtschaftlichen und sozialen Tatsachen sprechen eindeutig für die Wende wie dafür, diesen Kurs fortzusetzen.
Zweitens. Indem die Koalition den von Bundeskanzler Helmut Schmidt bewirkten Nachrüstungsbeschluß durchsetzte, wandelte sich vieles. Es ist doch kritisch, zu fragen - auf allen Seiten des Hauses -, wie es wohl aussähe ohne diese konsequente deutsche Politik, aussähe zwischen Ost und West, in Europa, im Bündnis, j a, auch in der Politik mancher Nachbarländer. Natürlich wäre es töricht und überheblich anzunehmen, auf uns alleine komme es an. Ebenso wahr aber ist, daß vieles ohne uns nicht im Ziel ankäme.
Und nun ist nicht Krieg, wie damals viele befürchteten, als wir diese Entscheidung im November hier trafen, die Folge dieser Konsequenz sind ein gesicherter Friede, ein entspannteres Klima zwischen Ost und West, das Treffen in Genf und die reale Chance, Frieden zu schaffen mit weniger Waffen.
Drittens - das füge ich hinzu, weil es meines Erachtens in dieser positiven Bilanz zu sehr untergeht -: Der technologische Abstand zu Wettbewerbern auf dem Weltmarkt konnte verringert, die damals vorhandene verbreitete Technikfeindlichkeit überwunden werden. Respekt vor dieser Leistung! Sie ist wichtig für Gegenwart und Zukunft unseres Landes, das vom qualifizierten Export lebt und Vollbeschäftigung nur auf diesem Wege erarbeiten kann. Dieser Fortschritt gelang in relativ kurzer Zeit, weil - nehmen Sie das bitte nicht als Platitüde, sondern als die Erfahrung aus einem langen parlamentarischen Leben - Regierung und parlamentarische Mehrheit übereinstimmten -, ein Punkt, der nicht genug betont werden kann.
Mit dieser Rede, für deren Gelegenheit ich danke - und ich danke ausdrücklich dem Herrn Außenminister, daß er mir hier den Vortritt gegeben hat -, will ich weder Schlachten der Vergangenheit neu schlagen oder auffrischen noch gar im Zorn zurückblicken. Rechthaberei war nie mein Thema. Die angenommene oder wirkliche Bedeutsamkeit früherer Kämpfe und Entscheidungen zu beurteilen - das obliegt allein dem Abstand geschichtlicher Betrachtung.
Ich danke, daß ich mitwirken durfte, und möchte nun nach vorn blicken.
Wieder gibt es in Deutschland - zu meiner Freude - nachdenkliche Gespräche, vor allem unter jungen Menschen, zunehmend mit Frauen, in denen - bald angstvoll, aber wohl doch zunehmend zuversichtlich - nach der Zukunft gefragt wird. Gerecht soll sie sein, gewaltlos, auch fröhlich und lebenswert. Auch nach der Zukunft der Demokratie, des Friedens und der Freiheit wird gefragt, und es wird auch geantwortet. Freilich sind nicht alle, die Antworten wagen, zugleich zu dem Wagnis bereit, sie durch entsprechendes öffentliches Handeln auch zu verantworten.
Was die Fragen betrifft, so verstehe ich sie gut und stelle mich ihnen; denn auch wir haben ja einmal so gefragt: Mißbraucht oder entzaubert, kaum mündig aus dem Krieg heimgekehrt, fragten und suchten wir auch, trafen die Älteren und die aus dem Widerstand, die Anpasser wie die einfach übriggebliebenen, auch die Witwen, die Waisen, die Ausgebombten, die Vertriebenen, die Flüchtlinge. Wir alle hungerten - nicht nur aus dem Bauch, wenn ich das so sagen darf. Es war eine Zeit des geistigen und politischen Aufbruchs und des Fragens wie des Befragtwerdens. Die morschen Schlösser waren verfallen. Neuen Wegen und besseren Zielen galt das Bemühen. Alle Türen standen uns offen, auch beruflich.
In und aus dieser schöpferischen Atmosphäre und vor dem Hintergrund leidvoller Erfahrungen entstand unsere Bundesrepublik Deutschland. Und die, die heute fragen und suchen, entdecken - oder meinen zu entdecken - Bastionen des Gewohnten. Sie klopfen zu oft, auch beruflich, an verschlossenen Türen. Einige neigen dazu, einzureißen, was ist, weil sie den Sinn des Kampfes für das mögliche Bessere nicht einsehen. Meine Damen und Herren, Ehrlichkeit gebietet, den Satz hinzuzufügen: Ein Stück dieser Wirklichkeit verantworten auch wir.
({8})
Wir verantworten zugleich, daß Zuversicht wächst und feste Orientierung Platz greift. Wir verantworten auch, daß wir in der längsten Periode unserer Geschichte leben, in der zugleich Frieden und Freiheit und Wohlfahrt wie die Chance zur friedlichen Reform als selbstverständliche Gegebenheiten gelten.
({9})
Sie sind es nicht, meine Damen und Herren. Diese elementaren Bedingungen des Strebens nach Glück und der Wirklichkeit menschenwürdigen Lebens fielen und fallen nicht wie ein Geschenk vom Himmel. Sie sind Folge entschlossenen, bedachten, auch unpopulären politischen Handelns, eines Handelns, das aus der Geschichte gelernt hat. Dazu gehört auch die Lehre: Politik geht uns alle an, weil sie unser Schicksal mitbestimmt. Auf diesen politiDr. Barzel
schen Punkt der Antwort nach der Zukunft will ich mich nun beschränken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir mit unserer Demokratie Erfolg. Sie ist stabil. Einer der Gründe dafür ist, für mich - ich nehme auf, was ich eben zu Helmut Schmidt sagte -, daß Streit und Konsens sich in gutem Verhältnis zueinander eingependelt haben. Der freiheitliche und soziale Rechtsstaat braucht beides. Er braucht den Kompromiß und von Zeit zu Zeit auch den Wechsel von Regierung und Opposition.
Die Verläßlichkeit und Stabilität der deutschen Demokratie aber erfordert, daß gewisse Grundentscheidungen über Wahlen und Wechsel hinaus feststehen und gelten.
({10})
({11})
Mit dem Blick nach vorn erfaßt mich zunehmend die Sorge, daß dieses unerläßliche Fundament brüchig werden könnte, daß der Streit auch den Bereich des für eine gute Zukunft der Demokratie unverzichtbaren Konsenses erfaßt. Ich will das an drei Punkten dartun:
Erstens. Hier ist heute sowohl durch den Kollegen Dregger wie durch den Kollegen Schmidt die bedenkenswerte Rede von Herbert Wehner vom 30. Juni 1960 im Deutschen Bundestag in die Debatte eingeführt worden. Er hat damals in aller Form und verbindlich für die deutsche Sozialdemokratie erklärt - ich zitiere -:
Die Bundesrepublik ist ein zuverlässiger Vertragspartner, gleichgültig ob die jetzige Regierung oder die gegenwärtige Opposition als Regierung die Geschäfte führt.
Gestützt hierauf erwuchs der SPD Regierungsfähigkeit. Auf diesen Eckstein gestützt wurde zunächst die „Große", dann die „sozialliberale" Koalition möglich, weil diese Wechsel fundamentale Grundfeststellungen nicht mehr in Frage stellten.
Als dann die SPD ihren Kanzler Helmut Schmidt mit seinem international gegebenen Wort allein ließ, endete, wie mir scheint, nicht zufällig, diese Regierung.
Nun will die SPD erneut die Geschäfte der Regierung, um Wehners Worte aufzugreifen, übernehmen, aber internationale Verpflichtungen wie die Strategie der NATO, SDI und Nachrüstung auflösen. Dieser Vorgang ist nicht nur aus den Sachen zu diskutieren.
({12})
- Ich komme gleich darauf zurück. Dieser Vorgang gehört zur Frage nach der Zukunft der Demokratie.
Beide großen Parteien brauchen einander, weil die Demokratie beide braucht. So geht es alle an, wie es die deutsche Sozialdemokratie mit der fundamentalen Zusage von Herbert Wehner künftig halten wird. Sollte dieses Wort nicht mehr voll gelten, was ich nicht hoffe und auch nicht wünsche, so wäre das für unsere Demokratie schlimm, weil sich auf diese Weise Fragen nach Mehrheits- und Regierungsfähigkeit einstellten. Und schon diese Fragen beeinträchtigen unsere politische Stabilität.
Alle unsere Nachbarn wollen ein verläßliches Deutschland mit einer berechenbaren Politik. Deutschland will gesicherten Frieden. Der aber ist, das ist erneut zu betonen, aus eigener Kraft nicht zu bewirken. Das Deutsche Reich Bismarcks konnte sich aus eigener Kraft Sicherheit geben. In dieser Lage sind wir nicht mehr. Wir haben es nicht mehr mit Rußland, wir haben es mit der Sowjetunion zu tun; wir leben im atomaren Zeitalter; wir haben diese Waffen nicht, wollen sie nicht und bekommen sie nicht. Deswegen ist der Frieden nur mit und von denen zu schaffen und gemeinsam zu gestalten, die über den Menschen und seine Würde denken und fühlen wie wir.
Der „Wanderer zwischen beiden Welten" ist eine literarische Figur der Blauen Blume. Für unsere politische Verantwortung muß es heißen - ich wiederhole, was ich hier schon sagte -: Mit beiden Füßen fest im Westen stehen und nach Osten die Hand reichen, nicht das Standbein verändern.
({13})
Zweitens. Unsere Demokratie ist stabil, weil unsere Wirtschaft gesund und erfolgreich arbeitet. Ich meine, nur wenn die Grundentscheidung für die Soziale Marktwirtschaft gleichfalls Wahlen und Wechsel überdauert, wird das so bleiben. Soziale Marktwirtschaft ist der Zwillingsbruder der politischen Demokratie. Man hat in Diktaturen versucht, sie als eine Technik anzuwenden, und ist damit gescheitert. Man hat in Demokratien versucht, etwas anderes zu machen, und erlebte sozialen und wirtschaftlichen Niedergang. So geht die Verläßlichkeit aller in dieser wichtigen Frage auch alle an. Auch hier schaden schon die Fragezeichen, die leider unübersehbar produziert werden.
Eduard Pestel ist zu danken, daß er, angelehnt an andere, „Instrumente" zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit verschiedener Gesellschaften angeboten hat. Er ging davon aus, daß die Menschen in ihrem Leistungspotential im Durchschnitt gar nicht so unterschiedlich seien. Das Ergebnis der Leistung aber sei abhängig von der Gesellschaftsordnung. Diese finde ihren Ausdruck in drei Komponenten: den in der Gesellschaft dominierenden Werten, dem Staatsaufbau und dem Wirtschaftssystem. Die Harmonie dieser Komponenten sei die Bedingung des Erfolges.
Diese Erkenntnis über diesen nicht auflösbaren Zusammenhang zwischen Wertvorstellung, Staatsform und Wirtschaftsordnung sowie die Abhängigkeit des sozialen und wirtschaftlichen Erfolges von dem Gleichklang dieser drei Bauelemente für das Ganze ist, so meine ich, in ihrer fundamentalen Bedeutung gar nicht zu überschätzen. Deshalb: Festhalten an der Sozialen Marktwirtschaft, die die Entsprechung der Harmonie dieser drei Elemente ist.
({14})
Drittens. Wir haben politisch und sozial Erfolg, weil wir, wie ich meine, Partnerschaft gestalteten
statt Klassenkampf zu treiben. Auch das ist fundamental - wie der Verfassungsauftrag, die Menschenrechte durch konkrete Politik für alle immer mehr alltagswirksam erfahrbar zu machen. Reale Freiheit heißt das oder Freiheit durch soziale Gerechtigkeit oder - Herr Baum war so freundlich, in einer früheren Debatte daran zu erinnern, daß ich das geschrieben habe - „Der Mensch als Hoheitsträger".
Aber auch bei diesem dritten Punkt, bei der Partnerschaft, gibt es Töne, welche die besorgte Frage nach Verläßlichkeit und Dauerhaftigkeit dieses Fundaments unseres demokratischen Erfolgs aufwerfen. Meine Damen und Herren, sozialer Frieden ist ein hohes Gut. Er ist ohne Partnerschaft nicht zu haben.
({15})
- Es ist heute früh - ich erinnere nicht mehr, von wem - von Adenauer und Böckler und der Mitbestimmung gesprochen worden. Ich habe an dieser Stelle geklatscht. Ich hätte noch mehr geklatscht, wenn hinzugefügt worden wäre, daß dies ein Gedanke war, der aus der christlich-sozialen Welt kam, aus dem Katholikentag, und daß der erste Antrag hierzu von der Fraktion, für die ich heute zu sprechen die Ehre habe, kam,
({16})
als Sie - ich will hier gar keine Schlachten - noch viel von Sozialisierung sprachen.
({17})
Wenn das hinzugekommen wäre, würde es das Bild abrunden und würde es mir noch leichter gemacht haben, aus vollem Herzen hier zu klatschen.
({18})
Meine Damen und Herren, ich will es mit diesen drei Punkten sein Bewenden sein lassen. Spätere, die nach uns kommen, werden manches neu und anders machen. Ich kann nur raten - deshalb spreche ich hier -, Sie sollten vielleicht einen Blick auf diese drei Sorgen werfen, die hier jemand vorträgt, der Krieg und Unrecht und Unfreiheit erlebt hat und sich seit mehr als vierzig Jahren nach Kräften bemüht, politisch an der Gestaltung des besseren Deutschlands mitzuwirken.
Zu diesen Merkpunkten gehört: Die Achtung des Grundgesetzes, auch der föderativen Ordnung, bleibt eine unerläßliche Bedingung für die Zukunft der Freiheit. Man sollte es - wie bisher - ohne Not nicht ändern. Das Hinwirken auf einen Zustand des Friedens, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, ist ein anderer unerläßlicher Baustein, wie ein lebensfrohes Berlin. Herr Kollege Schmidt, die Formel „die Teilung aushalten" genügt nicht. Und sie entspricht ja auch nicht der praktischen Politik, die Sie getrieben haben. - Ich nenne weiter die Freundschaft mit Frankreich wie mit den USA, die Vereinigung Europas, die atlantische Partnerschaft, das Bemühen um Israel und Polen sowie um ein nachbarliches Verhältnis zur Sowjetunion als wesentliche Punkte einer guten Zukunft Deutschlands, das eine europäische Friedensordnung anstrebt.
Wir müssen zugleich, meine Damen und Herren, der Gewöhnung an das Unrecht in der DDR widerstehen.
({19})
Wir dürfen da nicht blind oder taub werden. Ich spreche offen aus, daß mir wohler wäre, wenn so mancher von den Wortstarken, die von dieser Stelle aus gegen den Rassismus in Südafrika - mit Recht - protestieren, die gegen die Diktatur in Chile - mit Recht - protestieren, darüber nicht zu protestieren vergäßen, welche Menschenrechtsverletzungen wir täglich im anderen Teil Deutschlands ertragen müssen.
({20})
Meine Damen und Herren, wer sich da, wie man heute zu sagen pflegt, „sachkundig machen" will, muß leider kein deutsches, sondern ein Dokument des Parlaments der USA zur Hand nehmen. Das Parlament der USA macht sich die Mühe, Jahr für Jahr einen sorgfältig erarbeiteten, belegten, wissenschaftlich fundierten „Bericht über die Lage der Menschenrechte in den Ländern der Welt" vorzulegen. Dieser Bericht vom Februar 1986 ist der neueste und enthält auf Seite 980 und folgende Mitteilungen über die DDR. Ich will aus dem Vorspann nur wenige Sätze hier in die Debatte einführen. Es heißt da:
Trotz so gewaltiger Hindernisse wie der Mauer in Berlin bestehen zwischen den Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland tiefverwurzelte geschichtliche, kulturelle, sprachliche und familiäre Bande fort. Die Sorge, diese Bande und ständiger Kontakt mit westlichen Werten könnten den Rückhalt des kommunistischen Systems in der Bevölkerung untergraben, ist wesentlich für die strenge Überwachung der Menschen durch den Staat verantwortlich. Die DDR verfügt zu diesem Zweck über einen leistungsfähigen Sicherheitsapparat, der vom Innenministerium und vom Ministerium für Staatssicherheit verwaltet wird. Beide Ressorts zusammengenommen beschäftigen etwa 300 000 Personen. Mit Hilfe eines großen geheimpolizeilichen Apparats, zu dem noch Informanten hinzukommen, schränkt die DDR weiterhin Grundrechte wie die Gedanken-, Rede-, Religions-, Versammlungs- und Reisefreiheit ein. Die Geheimpolizei öffnet Post, installiert Abhörgeräte, läßt Personen überwachen, setzt sie Verhören und Einschüchterungsversuchen aus und nimmt Verhaftungen ohne öffentliches Verfahren vor ...
Das wird dann Punkt für Punkt, Grundrecht für Grundrecht ausgeführt.
Das ist nicht mehr bequem zu sagen, aber ich glaube, wir sind es den Deutschen in der DDR
schuldig, das Unrecht, das sie ertragen müssen, nicht zu verschweigen. Und wir sind es wohl auch uns selbst schuldig, die Kraft der Unterscheidung zu pflegen und zu erhalten;
({21})
denn, meine Damen und Herren, Neutralismus beginnt doch immer, wo in den Köpfen die Unterscheidungen sich einnebeln. Und Mahatma Gandhi, den viele junge Menschen heute gern zitieren, sagte doch: „Ich wünsche Wahrheit". - Dies gehört zur Wahrheit.
({22})
Wir haben nicht, wie man es so oft lesen und hören muß, auch manchmal aus berufenem Munde lesen und hören muß, „zwei Bündnisse", sondern einen freiwilligen, kündbaren Zusammenschluß der Freien und einen durch die Rote Armee zusammengezwungenen Block.
({23})
- Und Blockfreie. Ich spreche jetzt nur gegen den Begriff der „zwei Bündnisse".
Frankreich trat bekanntlich aus der militärischen Organisation der NATO aus, und in der Tschechoslowakei marschierten bekanntlich die Kommunisten ein, als sich dort, nur für die Innenpolitik, neue Gedanken Bahn brachen. Es ist auch verderblich, gedankenlos von „den beiden Blöcken" zu sprechen; aufzufordern, sich „in den jeweiligen Bündnissen für mehr Beweglichkeit" einzusetzen, die Ost-WestSpannung - das sind alles Zitate - „in eine ziemlich scharfe Konfrontation der Führungskräfte" umzudeuten, die bloße „Verteidigungsfähigkeit" der NATO einzufordern - eines Bündnisses, das nie den ersten Schuß abgeben kann und will und wird; das weder in der CSSR einmarschiert ist noch in Afghanistan militärisch aktiv geworden ist.
({24})
- Das ist nicht das Bündnis.
Es bleibt, meine Damen und Herren, nötig, das Zugleich von Demokratie und Wehrpflicht zu erhalten, und - um auch etwas Nettes über Ihren Beschluß zu sagen, denn was dort über die Wehrpflicht steht, ist sehr lesenswert und zeigt auch, daß es hier in dieser Frage noch Übereinstimmung gibt - es gilt natürlich, unsere Soldaten ehrenhaft zu behandeln.
Was ich, meine Damen und Herren, über das Parlament, an dem mein Herz hängt, sage und zu sagen hatte, habe ich im September 1984 vorgetragen. Das gilt für mich Wort für Wort.
Ich möchte aber im Zusammenhang mit den grundsätzlichen Punkten und im Hinblick auf Ihre Rede, Herr Kollege Ehmke, doch noch eine Frage stellen. Es ist eine Frage, die so wichtig ist, daß sie durch einen Sprecher der Opposition klar beantwortet werden sollte, am besten natürlich durch ihren Parteivorsitzenden. Es ist heute zu meiner Freude noch einmal vom Harmel-Bericht die Rede gewesen, sowohl beim Kollegen Schmidt als auch bei Ihnen, Herr Ehmke. Der Harmel-Bericht stammt aus dem Jahre 1967. Außenminister war damals Willy Brandt. Wir haben dem Bericht alle zugestimmt, auch alle Mitgliedstaaten der NATO.
({25})
Ich habe mich gestern vergewissert, daß er in der NATO noch gilt, und daß man sich immer noch auf ihn beruft. In diesem Bericht heißt es - ich zitiere -:
Die Atlantische Allianz hat zwei Hauptfunktionen. Die erste besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggressionen und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt.
Seit ihrer Gründung hat die Allianz diese Aufgabe erfolgreich erfüllt. Aber die Möglichkeit einer Krise kann nicht ausgeschlossen werden, solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschlandfrage,
({26})
ungelöst bleiben. Außerdem schließt die Situation der Unstabilität und Ungewißheit noch immer eine ausgewogene Verminderung der Streitkräfte aus. Unter diesen Umständen werden die Bündnispartner zur Sicherung des Gleichgewichts der Streitkräfte das erforderliche militärische Potential aufrechterhalten und dadurch ein Klima der Stabilität, der Sicherheit und des Vertrauens schaffen. In diesem Klima kann die Allianz ihre zweite Funktion erfüllen: die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhaftere Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar.
Dieses Zitat schien mir notwendig, meine Damen und Herren - Sie merken aus den Besorgnissen, die ich äußere, was mich in dieser Stunde bewegt -, weil ich mich frage, wie dieser HarmelBeschluß wohl vereinbar sein soll - ich zitiere ja nicht Zeitungen und nicht aus irgendeiner Rede eines noch so wichtigen Kollegen auf einem Parteitag, sondern ich studiere Dokumente - mit dem Beschluß des Parteitags von Nürnberg. Wie dieser Beschluß von Nürnberg „Unser Weg zu Abrüstung und Frieden" mit dem Harmel-Bericht vereinbar sein soll, müßte man versuchen zu erklären. Ich weiß nicht, ob es Ihnen gelingt.
({27})
Sie werden diese Frage beantworten müssen, denn die Antwort wird fundamental sein. Sie wird die Runde machen innerhalb der NATO, und sie wird die Runde in Deutschland machen.
Für mich, meine Damen und Herren, ist beides zugleich nicht vereinbar. Man kann nicht aus jedem
Entweder-Oder ein unverbindliches Sowohl-AlsAuch machen.
({28})
Der Harmel-Bericht gibt diese Aufgaben doch dem Bündnis; dieser Beschluß gibt sie Europa. Das sind zwei Dinge. Es gibt viele andere Punkte. Ich bin sicher, daß andere Kollegen im einzelnen dazu sprechen werden.
({29})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege Ehmke.
Herr Kollege Barzel, darf ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß ich heute aus diesem Beschluß zitiert habe, ohne es kenntlich zu machen. In diesem Beschluß steht unter IV 4:
Die Struktur und Bewaffnung der Streitkräfte müssen zur Vorneverteidigung glaubhaft befähigen, d. h. die Streitkräfte müssen jeden potentiellen Angreifer mit einem untragbaren militärischen Risiko belasten.
Wir unterschreiben die von Ihnen vorgelesene Passage aus dem Harmel-Bericht voll.
Meine Damen und Herren, dann werden Sie - das wird die Debatte ja ergeben - natürlich auch erklären müssen, was Sie dauernd mit „die Bündnisse" meinen. Denken Sie an das, was ich hier soeben unter dem Beifall gesagt habe. Sie werden erklären müssen, ob wir politisch und militärisch in die NATO „eingebunden" sind oder ob wir dort freiwillig Mitglied sind. Sie werden erklären müssen, warum Sie eigentlich die Aufgaben der Entspannung und der Friedensordnung, die Sie hier Europa zuteilen,
({0})
nicht dem gesamten Bündnis zuteilen, denn das ist hier unterschieden. Herr Kollege Ehmke, geben Sie diese Antwort ganz klar. Es lag mir daran, diese Frage, die auch für die nächsten Monate fundamental ist, möglichst unpolemisch hier auf den Tisch zu legen.
Ich möchte das noch abrunden. Meine Damen und Herren, mit den USA verbindet uns nicht nur ein militärisches Interesse, uns verbindet eine Freundschaft, die aus der Geschichte gewachsen und durch gemeinsame Wertvorstellungen entfaltet worden ist. Wer das auf das Militärische einengt, wer die USA zu oft allein läßt, mehr mäkelt als rät, der zerstört auf die Dauer, was hier Basis des Friedens, der Freiheit und der Wohlfahrt, was hier also die Bedingung der Möglichkeit ist, sein Glück zu erstreben.
({1})
Ich habe mich in den letzten Wochen erneut drüben umgesehen. Die Entfremdung wächst. Das Kopfschütteln nimmt zu, hier wie drüben. Ein Präsidentschaftskandidat erklärte, sie seien nicht wie die Römer: Sie blieben nicht in Europa, bis man sie hinauswerfe.
Meine Damen und Herren, wir müssen alle bedenken und einrechnen: Kein aus Europa nörgelnd gegen die USA erhobener Zeigefinder verhindert Krieg und wird uns schützen, wenn es not tut. Ebenso gilt - dies würde ich gerne mit allem Ernst hier lassen: Auch der stärkste Präsident der USA braucht in der Krise eine Mehrheit und überwiegend Rückhalt in der öffentlichen Meinung. Diese ist für Europa zur Zeit alles andere als gut. Das ist, wie mir scheint, eine folgenschwere Erkenntnis. Ich meine, bei aller Lust vieler in Europa, auch Dekadenz zu delektieren: Diesen Luxus können wir uns nicht erlauben.
({2})
Ich habe nicht vergessen, daß dies mit den Fragen junger Menschen begann. Sie sollten sich nicht von alten Hirnen Antiamerikanismus einreden lassen, sondern sie sollten sich selbst ein Bild machen, reisen, lesen, sich informieren und so entscheiden, wo und wie sie leben möchten.
({3})
Wir müssen umdenken. Ich will dies noch an einem Beispiel deutlich zu machen versuchen. Natürlich ist es unsere, der Deutschen, Sache, zu entscheiden, ob in Wackersdorf dem Kreislauf der friedlichen Nutzung der Kernenergie ein Stützpunkt errichtet wird, ob dort gebaut wird oder nicht, was da geschieht und wann und wie. Ebenso geht das natürlich die österreichischen Nachbarn etwas an.
({4})
Auch uns geht an, was sich in Cattenom ereignet, was Frankreich dort baut, entscheidet, wie und wann es geschieht. Rücksicht statt Ellenbogen ist das Prinzip des Erfolgs in der freien Welt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Wirklichkeit hat längst die allein formalen Bastionen nationaler Souveränität hinter sich gelassen. Man kann noch pochen auf solche Fundamente unserer Staatenwelt. Man kann sich in diesem Mauerwerk noch zur Verteidigung einrichten. Da aber die Zeit und die Technik voranschritt, ist das innerlich schon trümmerhaft, obwohl es sich äußerlich scheinbar noch kraftvoll zum Trotzen anbietet. Wer nach vorne blickt, sucht nicht den flüchtigen Schutz solcher verfallender Gemäuer, sondern den Wettbewerb neuer Ideen und die Wirksamkeit neuer Instrumente.
Es geht ja wie bei den Grenzen nicht zuerst um die Staaten, sondern um die Menschen, um das allgemeine Wohl, und das wird immer mehr zu einer wichtigen, wesentlichen Sache unter Nachbarn auf diesem Planeten.
Gemeinwohl schließt heute den Nachbarn ein. Inseln der Armut, des Hungers, des Hasses, der Angst und der Unwissenheit fordern den menschheitliDr. Barzel
chen Gemeinsinn heraus, klagen ihn auch hier und da an.
Die Verantwortlichen sollten das sehen und vorausschauend handeln, bevor der Zeitgeist unberechenbare Verhältnisse herbeiweht oder Kräfte erwachen, die aus Angst und emotional in die Hand nehmen, was besonders der Vernunft, der Einsicht und der verantwortlichen Abrede bedarf. Und es ist unverantwortlich, wenn Verantwortliche Angst schüren, statt Gewißheit zu geben.
({5})
Im September, noch in diesen Tagen, wird man in Wien - eine Initiative des Kanzlers, zu der ich ihn beglückwünsche - über einen Teil dieser Aspekte sprechen. Dabei muß Konkretes herauskommen über internationale Normen, gegenseitige Unterrichtung und grenzüberschreitende Verantwortlichkeiten. Wie es scheint, wird in dieser Frage zunehmend die Abhängigkeit des eigenen Schicksals von dem des Nachbarn begriffen, die Verflochtenheit unserer Interessen erkannt und der Wechselbezogenheit der nationalen Politiken zueinander Rechnung getragen.
Diese Einsicht sollte mehr umfassen als das Atom. Auch in vielerlei anderer Hinsicht sitzen wir in einem Boot: Wer Frieden will in Europa, darf weder übersehen noch verschweigen, daß in seinem Herzen zwei Staaten in Deutschland leben, die von guter Nachbarschaft noch weit entfernt sind. Unter guten Nachbarn kehrt man den Dreck nicht vor des anderen Tür, mauert sich nicht ein, schießt nicht auf den anderen. Wer vor der gegenteiligen Wirklichkeit die Augen verschließt, flieht gleichfalls in verfaulende Mauern, statt sich - Stein auf Stein - um dauerhaft bessere Ordnungen zu bemühen.
Es geht, meine Damen und Herren, die Franzosen an, wenn sich beim Nachbarn politische Kräfte regen, die sich aus dem festen Verbund des Westens lösen und aus der modernen Welt ausssteigen wollen. Und es geht Deutsche an, wenn in Frankreich radikale Rechte politisch Boden gewinnen. Zwar sind wir, wie Josef Rovan zutreffend sagte, zwei Völker, aber wir haben eine Zukunft.
Es geht uns an, was unseren atlantischen Nachbarn vor seiner südlichen Haustür bedrückt. Das geht uns an, so wie Berlin alle angeht, denen Frieden in Freiheit alles bedeutet. Es geht uns an, was sich in der Dritten Welt ereignet; was sich dort zusammenballt, kann auch hier zum Sprengsatz werden.
Natürlich gibt es, meine Damen und Herren, europäische Interessen, die anders sind als die der USA und umgekehrt. Aber auch diese Interessen gehen beide Seiten an; denn die freie Welt sitzt zunächst in einem Boot, und nur wenn das seetüchtig ist, wird keiner untergehen. Es ist so provinziell wie unverantwortlich, bei dieser Lage Politik als Trockentraining fernab ihrer realen Bedingungen und gegebenen Verhältnisse zu betreiben. Wir leben in diesem Boot des gemeinsamen Schicksals und nicht auf einer Insel im Jenseits unserer Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, würden wir den Blick verengen und wieder hemdsärmelig werden, so würden wir das zerstören, was die weisen Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Ordnung der freien Welt schufen, aufgebaut haben. Die hatten zwei Kriege erlebt und machten nicht mehr den Unsinn wie nach dem Ersten Weltkrieg, sondern sie gaben uns die Hand und lehrten uns, daß Rücksicht auf den anderen und Nachbarlichkeit miteinander das bessere Rezept ist. Ich fürchte manchmal, daß Hemdsärmeligkeit wieder ausbricht, und die könnte zerstören, was uns über 40 Jahre so geholfen hat.
Meine Damen und Herren, vor der Bundesversammlung habe ich unseren Staat eine „liebenswerte Republik" genannt - eine Demokratie, die stabil und bewährt ist, eine Ordnung, offen für Neue und Neues. Das kann - ich bin davon überzeugt - so bleiben, das kann auch noch besser werden. Freiheit bleibt möglich und nötig, wie der Frieden - beides.
Zum Schluß danke ich für 30 nicht nur mit Terminen und Verantwortung aufgefüllte und angefüllte, sondern erfüllte, herausfordernde Jahre hier im Deutschen Bundestag. Hätte ich hier jemanden persönlich verletzt, so bitte ich, weil es nie meine Absicht war, um ein generöses Pardon.
Glück auf denen, die uns folgen, und Segen und Glück für unser Vaterland.
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Herr Dr. Barzel, es wird dem amtierenden Präsidenten erlaubt sein, Ihnen auch im Namen des Hauses zu danken für Ihre Arbeit in den vielen Jahren, von denen Sie gesprochen haben. Unsere guten Wünsche begleiten Sie auf Ihrem weiteren Weg.
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Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Sie unterrichten, daß auf unserer sehr hoch gelegenen neuen Ehrentribüne unser erster ausländischer Gast Platz genommen hat. Ich begrüße in der Ehrenloge den Außenminister der Republik Malta, Herrn Dr. Alex Sceberras Trigona.
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Ich freue mich, daß Sie zu uns gekommen sind, und wünsche Ihnen in Bonn gute Gespräche.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die großen Reden, die zwei ausscheidende Kollegen heute hier gehalten haben, haben uns zurückgeführt an den Beginn unserer Republik, den wir nicht alle hier in der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben. Ich habe ihn aus meiner Heimat mit heißem Herzen beobachtet.
Ich denke, daß uns dieser Rückblick, der auch mit dem Aufzeigen von Perspektiven und Herausforderungen verbunden war, in Zukunft begleiten sollte, auch in der Nachdenklichkeit dessen, was gesagt wird.
Beim Rückblick auf den Beginn der Republik muß man eigentlich unmittelbar nach dem Kriege ansetzen. Es ist wenige Tage mehr als 40 Jahre her, daß in Stuttgart eine bedeutende, das Schicksal unseres Volkes und Europas verändernde Rede gehalten wurde.
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Am 6. September 1946 sprach in Stuttgart der damalige Außenminister Byrnes. Er sagte: Die Vereinigten Staaten können Deutschland die Leiden nicht abnehmen, die ihm der von seinen Führern angefangene Krieg zugefügt hat. Aber die Vereinigten Staaten haben nicht den Wunsch, diese Leiden zu vermehren oder dem deutschen Volk die Gelegenheit zu verweigern, sich aus diesen Nöten herauszuarbeiten.
Ich denke, wir Deutschen sollten die Hand, die uns damals ausgestreckt wurde, niemals vergessen.
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Meine Damen und Herren, Winston Churchill erkannte die Bedeutung dieser Hinwendung der Vereinigten Staaten zu Europa und übrigens auch zu weltpolitischer Verantwortung. Das war eine Abkehr vom Rückzug aus der europäischen und weltpolitischen Verantwortung, wie man sie nach dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Churchill antwortete in seiner berühmten Züricher Rede in zukunftsweisenden Worten aus europäischer Sicht. Er sagte: Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muß ein Aufeinanderzugehen zwischen Frankreich und Deutschland sein. Er, der Engländer, sagte: Der erste Schritt muß ein Aufeinanderzugehen der Deutschen und der Franzosen sein. Er fügte hinzu: Es gibt kein Wiederentstehen Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland. - Das ist das Vermächtnis, das aus den damaligen Entscheidungen auch unsere Politik heute bestimmen muß.
Meine Damen und Herren, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten - es ist heute wiederholt erwähnt worden - ist mehr als ein Militärbündnis. Wir fühlen uns verbunden in Wertüberzeugungen, und es gibt auch gar keinen Zweifel, wir sitzen alle in einem Boot, Europäer und Amerikaner. Wir Europäer sitzen etwas mehr am Rand; aber wenn das Boot kentert und sinkt, ist das eine Katastrophe für uns alle. Deshalb ist es so wichtig, daß man die gegenseitige Bedeutung dieses Bündnisses erkennt. Es ist genauso wichtig, daß man beherzigt, was Churchill über die Bedeutung Europas gesagt hatte. Kennedy sprach von dem Bild des Bündnisses, das auf zwei Pfeilern ruht. Ja, dann ist es aber notwendig, daß eben nicht nur ein amerikanischer Pfeiler und eine europäische Fahnenstange da sind, sondern dann ist auch ein europäischer Pfeiler erforderlich. Das bedeutet Zusammenschluß der Europäer untereinander. Meine Damen und Herren, dafür ist in den letzten Jahren Entscheidendes geschehen.
Nun haben wir heute wieder gehört, der Einfluß der Bundesrepublik Deutschland sei in den letzten Jahren gesunken.
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- Ich muß einmal daran erinnern, Herr Kollege Ehmke: Im Jahre 1982 entstand in den Vereinigten Staaten die These vom Niedergang Europas, und da blickte man auch auf uns. Man hatte Zweifel, ob wir wirtschaftlich und technologisch noch in der Lage sein würden, unser Gewicht und damit auch unsere wirtschaftliche und soziale Stabilität zu behaupten. Heute ist es dadurch, daß wir nicht nur unsere Verpflichtungen im Bündnis erfüllen, sondern auch unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückgewonnen haben, daß wir technologisch im Begriffe sind, auch auf den Gebieten den Anschluß wiederherzustellen, wo wir ihn verloren haben,
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gelungen, unser Bündnis und unser Gewicht in diesem Bündnis zu stärken. Ich will Ihnen sagen: Ich diskutiere mit den Vereinigten Staaten und ihrer Führung lieber über die Frage zu hoher Außenhandelsüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland als über das Problem, ob wir noch in der Lage sind, unsere Verpflichtungen im Bündnis erfüllen zu können; das ist der qualitative Unterschied.
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Wenn wir diese Diskussion führen, meine verehrten Kollegen, komme ich hier zu dem Begriff der Sicherheitspartnerschaft, den Sie mir zu Unreecht in den Mund gelegt haben. Sie wissen, daß wir schon, als wir noch zusammen in der Regierung saßen, über die Berechtigung dieses Begriffes untereinander diskutiert haben. Ich habe Ihnen am 9. September 1982 hier gesagt: Bei allen Gegensätzen, die es in einem Bündnis geben kann und die man auch austragen muß, weil wir nämlich ein Bündnis von Demokratien sind und nicht ein Bündnis, wo der eine dem anderen über- oder untergeordnet ist, darf man doch nie vergessen, wer der Verbündete und der Freund ist
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und wer das nicht ist.
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Herr Kollege Ehmke, vielleicht können wir uns doch auf eine solche gemeinsame Sprache verständigen, die auch etwas mit dem Inhalt dessen zu tun hat, was man meint. Vielleicht können wir uns darauf verständigen, daß wir den Begriff der Sicherheitspartnerschaft dem Bündnis reservieren und vorbehalten, in dem wir zu gemeinsamer Sicherheit zusammengeschlossen sind,
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und daß wir den Begriff der kooperativen Lösungen und der kooperativen Strukturen jenen Arrangements vorbehalten, die wir mit dem Warschauer Pakt, mit der Sowjetunion treffen müssen, um Stabilität in Europa garantieren zu können. Natürlich habe ich in meiner Rede in Wien im Vorblick auf die dritte KSZE-Folgekonferenz von kooperativen Sicherheitsstrukturen gesprochen. Ich mußte das nicht aus Ihrem Parteitag entnehmen; vor mir liegt gerade eine Rede, die der Bundeskanzler Helmut Kohl im April 1985 hier gehalten hat, in der er von der Notwendigkeit der kooperativen Lösung von Sicherheitsfragen gesprochen hat. Ein Beschluß der Bundesregierung vom Dezember 1985 verwendet exakt den gleichen Begriff.
Wir wissen doch alle, meine Damen und Herren, daß ohne diese kooperativen Lösungen einseitig heute niemand seine Sicherheit garantieren kann.
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- Herr Kollege Ehmke, ich glaube, Sie können hier auch mit dem Begriff der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit keine Punkte machen, indem Sie erklären: Er sagt da etwas anderes als die Regierung. Sie haben auf Ihrem Parteitag davon gesprochen, daß man die NATO-Strategie der Kriegsverhütung nach folgenden Kriterien zu verändern habe:
Struktur und Bewaffnung der NATO-Streitkräfte müssen unverwechselbar der Verteidigung dienen und dürfen dem Ziel einer europäischen Friedensordnung nicht entgegenstehen.
Es hat eine Zeit gegeben, Herr Kollege Ehmke, zu der wir darüber übereinstimmten, daß die Strategie der NATO und deshalb auch unsere Strukturen defensiver Natur sind. Da ist das nicht notwendig.
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- Sie haben gesagt: Die SPD fordert, die NATOStrategie der Kriegsverhütung unter folgenden Kriterien zu verändern. Dann kommt die Forderung:
Struktur und Bewaffnung der NATO-Streitkräfte müssen unverwechselbar der Verteidigung dienen ...
Ich denke, wir sind uns darüber im klaren, daß richtig war, was im Weißbuch der Bundesregierung von 1979 gestanden hat, als wir gemeinsam Verantwortung trugen. In dem Weißbuch war davon die Rede, daß unsere Strategie eine defensive Strategie ist und daß die Strategie des Warschauer Pakts eine offensive Strategie ist.
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Darauf aufbauend müssen wir jetzt die großen Verhandlungschancen nutzen, Herr Kollege Ehmke, die sich daraus ergeben, daß wir erstmalig über das konventionelle Stärkeverhältnis vom Atlantik bis zum Ural verhandeln können.
Das ist doch nicht vom Himmel gefallen.
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Daran hat diese Regierung maßgeblichen Anteil. Wenn wir jetzt unmittelbar, wie ich hoffe, vor einem befriedigenden Ende der europäischen Abrüstungskonferenz in Stockholm stehen, dann ist das ganz wesentlich das Ergebnis unserer Beiträge, die wir im Gespräch mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft, im westlichen Bündnis, aber auch im Dialog mit unseren östlichen Nachbarn geleistet haben.
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Wir haben nicht nur die Konsequenzen aus der deutschen Geschichte gezogen - als ein Volk, das im Herzen Europas lebt -, daß unsere Position ganz klar sein muß, daß wir beitragen müssen zur europäischen Einigung, sondern wir haben auch die Konsequenz gezogen, daß es den Deutschen, den Russen und als Folge davon allen Europäern immer dann besser gegangen ist, wenn Deutsche und Russen ein gutes Verhältnis zueinander hatten.
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Daran müssen wir arbeiten; denn immer dann, wenn Deutsche und Russen sich nicht verstanden, ja wenn sie Krieg führten, war das nicht nur eine Katastrophe für diese beiden Völker, es war eine Katastrophe für das ganze Europa.
Hier liegt die entscheidende Wirkung, die mit dem Moskauer Vertrag für die Gestaltung des deutsch- sowjetischen Verhältnisses ausgelöst worden ist. Nun stellen wir heute fest - das ist eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre -, daß eine neue sowjetische Führung beginnt, sich auch den Problemen des eigenen Landes zu widmen, die inneren Probleme zu definieren, daß sie den Versuch unternimmt, sie zu überwinden. Sie weiß, daß das nur möglich sein wird, wenn das in einer Zeit der verbesserten Zusammenarbeit zwischen Ost und West geschieht. Diese verbesserte Zusammenarbeit kann man nicht von heute auf morgen schaffen. Hier reicht es auch nicht aus, das West-Ost-Verhältnis auf die militärischen Fragen zu reduzieren, so wichtig die Abrüstungsverhandlungen, die wir jetzt führen, auch sind, sondern wir müssen immer erkennen, daß es politische Spannungsursachen gibt, die wir überwinden müssen. Die wichtigste und schwierigste Spannungsursache in Europa ist die Teilung unseres Kontinents, die ja auch eine Teilung der deutschen Nation darstellt.
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Alles, was dem Ziele dient, eben diese Spannungsursache abzubauen, wird auch dazu führen, daß die Zusammenarbeit breiter werden kann und daß eine Vertrauensgrundlage für jene kooperativen Sicherheitsstrukturen geschaffen wird, von denen ich gesprochen habe, ohne die es eine europäische Friedensordnung nicht geben kann. Wir müssen diese Friedensordnung schaffen, in der die Völker frei von Angst und Furcht und auch in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen in Konkurrenz miteinander, im friedlichen Wettbewerb leben können. Das ist die große Aufgabe, an der wir jetzt zu arbeiten haben, und da müssen wir sehen: Was ist denn aus dem Bekenntnis der neuen sowjetischen Führung zu der Feststel17730
lung, man müsse die Teilung Europas überwinden, herauszuholen? Wenn das so gemeint ist, dann lassen Sie uns dort anknüpfen, wo wir gemeinsame Interessen kennen und ausbauen können.
Das Wort vom Europäischen Haus zu verwenden sollten wir uns nicht scheuen, wenn wir hinzufügen, daß ein gemeinsames Europäisches Haus aber auch erfordert, daß sich in ihm Menschen, Informationen und Ideen gegenseitig bewegen, befruchten und begegnen können. Das macht es aus, das gemeinsame Europäische Haus!
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Ich finde, daß es besser ist, die Ernsthaftigkeit dieser Erklärung im Gespräch und am Verhandlungstisch zu testen, als sie über die Medien in Zweifel zu ziehen.
Wir als ein wichtiges Mitglied im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft haben heute die Möglichkeit, die Politik unserer westlichen Partner maßgeblich zu bestimmen. Wir werden das nur dann noch weiter ausbauen können, wenn wir zugleich die Kraft des demokratischen Europa verstärken. Das bedeutet auch, daß wir diesem demokratischen Europa im technologischen Bereich seine Zukunftsposition garantieren. Dazu gehört auch die Fähigkeit Europas, an der friedlichen Nutzung des Weltraums - an der friedlichen Nutzung! - auf autonomer Grundlage und gleichberechtigt teilnehmen zu können.
Dafür ist - wie bei allem, was uns in Europa voranbringt - die deutsch-französische Zusammenarbeit das Kernstück des Fortschritts. Daran führt kein Weg vorbei.
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Ich würde es sagen, wenn Herr Rau hier wäre, und ich sage es auch so:
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- Er wird es vielleicht sogar hören oder nachlesen.
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- Ja, passen Sie auf!
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- Herr Kollege Vogel, ich rede nun wirklich ausgesprochen sachlich. Ich habe seine Rede, die er auf dem Parteitag gehalten hat, mit großer Aufmerksamkeit gelesen.
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- Sicher. - Dann wird Ihnen wir mir aufgefallen sein, daß in dieser Rede die europäische Einigung und die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht erwähnt sind. Ich will nicht sagen, daß er dazu nicht positiv steht. Aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das Konzept eines Politikers, der angetreten ist, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden, dargelegt werden kann, ohne daß diese
Grundkomponenten deutscher Außenpolitik Erwähnung finden.
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Das sollte aufgearbeitet werden. Das ist notwendig. Das muß unter uns klar sein. Wir wissen alle, welche Bedeutung das für uns und für unsere Entwicklung hat.
Wenn wir also jetzt darangehen, diese Gegensätze in Europa zu überwinden, dann kann es nur so sein, daß wir in allen Verhandlungsbereichen unsere aktive Rolle behaupten.
Dafür ist es wichtig, daß wir im wirtschaftlichen Bereich und in unserer politischen Stabilität jene festen Fundamente sichern, die allein für ein Land von der Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland außenpolitische Handlungsfähigkeit garantieren können. Hier führt das wieder zusammen, was zu den Gründungsentscheidungen der Bundesrepublik Deutschland gehörte: die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft, die für uns eine Freiheitsentscheidung ist, weil die Soziale Marktwirtschaft eine Freiheitsordnung ist, und die Entscheidung für das Bündnis und die Gemeinschaft mit den westlichen Demokratien.
Wer diese gemeinsame Position hat, der ist auch in der Lage, im Erkennen von gemeinsamen Interessen mit unseren östlichen Nachbarn - ich meine hier nicht nur die Sowjetunion -, mit allen Staaten des Warschauer Pakts jene Fortschritte zu erzielen, die notwendig sind, um den Teufelskreis von Mißtrauen und Aufrüstung und Aufrüstung und Mißtrauen und gegenseitigen Spannungsursachen zu beseitigen. Das ist die Grundkomponente unserer Politik.
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In diese Politik, die durch die Schlußakte von Helsinki vorgezeichnet ist, paßt sich das ein, was wir im Verhältnis zur DDR tun, in der Deutsche leben wie wir. Über unsere Zukunft werden die Geschichte und diejenigen entscheiden, die in der entscheidenden Stunde zur Entscheidung berufen sind. Das können immer nur alle Bürger sein, die Deutsche sind. Aber auf dem Weg dorthin ist es unsere gemeinsame Verantwortung, bei allen Unterschieden der politischen und wirtschaftlichen Wertordnungen, daß wir als Deutsche hier und drüben nicht neue Spannungsursachen schaffen, sondern daß wir beim Abbau von Gegensätzen und bei der Entwicklung auch von Formen der Zusammenarbeit über die Paktsysteme hinweg vorangehen.
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Da wird es neue Entwicklungsmöglichkeiten geben. Es ist doch ganz offenkundig, daß man in der sowjetischen Führung über innere Veränderungen im Wirtschaftsleben dieses großen Landes nachdenkt. Und da bin ich gar nicht sicher, ob man in der Sowjetunion nur auf den Westen blickt. Man wird auch Experimente sehen, z. B. in der Volksrepublik China - wie es sich überhaupt für alle, die hier und anderswo Politik machen, lohnt, davon Kenntnis zu nehmen, daß die Bipolarität der Welt
„Washington : Moskau" zunehmend vom Entstehen neuer Kraftzentren in der Welt abgelöst wird. Die Volksrepublik China ist ein solches Kraftzentrum. Europa darf nicht die Chance versäumen, selber ein weiteres Kraftzentrum in dieser internationalen Struktur zu werden.
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Das gibt unserer europäischen Einigung auch noch die weltweite Perspektive: ein Europa, das sich als Partner des Friedens mit den Staaten der Dritten Welt versteht, das dabei übrigens auch in der Partnerschaft mit den Staaten der Dritten Welt seine Wertgrundsätze und Grundlagen nicht verleugnet. Deshalb müssen wir uns davor hüten, daß wir falsche Weggefährten haben. Eine Diktatur ist nicht schon deshalb eine Demokratie, weil sie sich stramm antikommunistisch gibt.
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Die Weggefährten, die wir suchen, sind vielmehr solche, die sich zu unseren Werten bekennen, und dazu kommen diejenigen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir wissen, daß ohne Zusammenarbeit Stabilität weder in Europa noch in der Welt bewahrt werden kann. Es ist vielleicht die wichtigste Lehre aus Tschernobyl, daß wir heute nicht nur militärisch, sondern in vielen anderen Bereichen erkennen, daß Gefahren keine Grenzen mehr kennen. Die Anstrengungen, Gefahren zu überwinden, dürfen deshalb auch nicht an Grenzen scheitern.
Meine Damen und Herren, wenn wir diesen Weg geradlinig weitergehen, wenn wir unsere Position als Bundesrepublik Deutschland nicht in Zweifel ziehen lassen - und dafür haben die Entscheidungen der Regierungskoalition entscheidende Klarstellungen nach innen und außen gebracht -, werden wir nicht nur nach innen, sondern auch als gute Nachbarn mit allen für unser eigenes Land den Frieden bewahren und sichern können, wie wir uns das wünschen.
Mich hat es sehr beeindruckt, was Herr Kollege Barzel über die Grundsätze guter Nachbarschaft an Stelle von Hemdsärmeligkeit im Umgang mit den Nachbarn gesagt hat. Das ist eine wichtige Sache. Ich habe bei einer anderen Gelegenheit schon einmal daran erinnert, daß der große Bremer Bürgermeister Duckwitz einmal die Staatsräson dieses kleinen Staates - er war im letzten Jahrhundert Bürgermeister - dargelegt hat. Damals ging es um den Fortbestand Bremens im Deutschen Reich. Er hat seinerzeit gesagt: „Ein Staat im Deutschen Reich, so klein wie Bremen, muß sein Verhalten immer so einrichten, daß die anderen Staaten im Deutschen Reich seine Existenz als ihr eigenes Glück empfinden. Das ist die beste Garantie für das Weiterbestehen Bremens." Die Bremer haben das bis auf den heutigen Tag, von einer gewissen Unterbrechung abgesehen, geschafft. Ich denke, das können wir auch auf uns selbst, auf uns Deutsche übertragen, indem wir sagen: Ein großes Volk im Herzen Europas wie das deutsche Volk sollte sein Verhalten immer so einrichten, daß seine Existenz auch von seinen Nachbarn als ihr Glück empfunden wird; das ist die beste Garantie, das beste Unterpfand für eine glückliche Zukunft der Deutschen.
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Ich denke, wenn wir in unserer Geschichte immer nach dieser Einsicht gehandelt hätten, wäre uns und Europa vieles erspart geblieben. In der Tat, wir haben kein einfaches Vaterland, und unsere Geschichte hat uns auch nie allein gehört. Das hat etwas zu tun mit der geographischen Lage. Von uns verlangt das besondere Verantwortung, Behutsamkeit und Stetigkeit.
Ich bin dieser Debatte heute mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Sie hatte viele Höhepunkte. Nicht selten ist es doch so, daß ein Höhepunkt durch die Frage an einen Redner und seine Antwort entsteht. Sie werden verstehen, daß ich es zu schätzen gewußt habe, daß der Kollege Schmidt den Kollegen Waigel gefragt hat, ob ihm entgangen sei, daß er, der Kollege Schmidt, durchaus anerkennen wolle, daß die Bundesregierung Kontinuität in der Deutschland- und Außenpolitik bewahrt habe. Der Kollege Waigel hat es für richtig gehalten, was ich begrüße - wenn ich hätte klatschen dürfen, hätte ich es getan -, zu sagen, daß er das als Lob empfindet und so entgegennimmt. Meine Damen und Herren, das zeigt, unsere Zusammenarbeit hat Zukunft.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Borgmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Genscher, Sie haben kürzlich dem „Spiegel" ein Interview über Ihre Vorstellungen von Außenpolitik gegeben. Ich möchte gerne darauf eingehen. Ich zitiere:
Ich glaube, daß eine Außenpolitik moralisch fundiert sein muß. Dazu gehört, daß man in den Fragen der Menschenrechte eindeutig ist, daß man z. B. in der Frage der Apartheid klar für die sofortige Herstellung gleicher Rechte eintritt, daß man nicht länger die Unterzeichnung der Antifolter-Konvention verweigert.
Wie werden diese an sich ja begrüßenswerten Vorstellungen in der bundesdeutschen Außenpolitik umgesetzt?
Erstens. Zur moralischen Fundierung von Außenpolitik: Die Militärdiktatur in Chile hat das mißglückte Attentat auf Pinochet zum Anlaß genommen, zu versuchen, nun endgültig die gesamte Opposition zu zerschlagen.
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Seit gestern findet die Repression durch sogenannte Sicherheitskräfte in einem Ausmaß statt, wie es sie seit dem Putsch 1973 nicht mehr gegeben hat. Todesschwadronen liquidieren Oppositionelle und lassen verstümmelte Leichen zurück. Ebenfalls gestern hat der berüchtigte Militärattaché der bundesdeutschen Botschaft, Herr Müller-Borchert, wie17732
der ein Loblied auf die Pinochet-Diktatur gesungen
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und bei einer Ordensverleihung durch die Streitkräfte den internationalen Kommunismus für den Terror in Chile verantwortlich gemacht.
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Wir halten es für einen Skandal, daß die Bundesregierung überhaupt einen Militärattaché in Chile hat und diesem Militaristen nach den Vorfällen im Juni erneut die Gelegenheit gibt, in seiner gestrigen Abgangsrede dem Regierungsterror seine Anerkennung zu zollen.
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Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Genscher?
Wenn die Zeit angehalten wird, gerne.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Bundesminister der Verteidigung gegen diesen Militärattaché, der Chile heute verlassen hat, ein Disziplinarverfahren eingeleitet hat?
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Sehr gut. - Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, auf die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes in Chile hinzuwirken und alles zu tun, damit die brutale Verfolgung und Liquidierung von Oppositionellen in Chile beendet werden. Und: Wir fordern die Bundesregierung auf, der bundesdeutschen Botschaft in Chile noch heute Anweisung zu geben, aktive Fluchthilfe für Oppositionelle zu leisten.
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Wir halten dies für dringend erforderlich.
Weitere Beispiele moralisch fundierten Handelns der Bundesregierung: Guatemala: Vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wurden Gelder zum Aufbau der Polizeikräfte in Guatemala in Höhe von fünf Millionen DM zugesagt, und es wurde ein Abkommen mit El Salvador über ungebundene Wirtschaftshilfe in Höhe von 22 Millionen Dollar geschlossen.
Ein anderes Beispiel: Zum Abschluß seines viertägigen Besuchs in Peru bot Minister Warnke bundesdeutsche Polizeihilfe bei der Lösung der Fragen des „Terrorismus" an. Gehört die Finanzierung von Polizeiapparaten in diesen Ländern zum Aufgabenbereich der Entwicklungshilfe?
Nicaragua: Wir wissen alle, daß die US-Regierung einen unerklärten Krieg gegen dieses Land führt, für den bisher rund 150 Millionen Dollar ausgegeben worden sind. Erst kürzlich hat der Kongreß weitere 100 Millionen Dollar bewilligt. Mit diesem Geld sind inzwischen auch mehrere Bundesbürger entführt und ermordet worden, zuletzt der Aufbauhelfer Bernd Koberstein. Und was tut die Bundesregierung? Sie unterstützt diesen Kriegskurs der USA noch, indem sie jede Entwicklungshilfe eingestellt hat und die Aggression der USA politisch mitträgt.
Wie steht es um die moralischen Fundamente der Politik von Herrn Genscher in der Terrorismusfrage? Die Bundesregierung hat uns in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage mitgeteilt, daß der Bombenanschlag auf das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrier" durch den französischen Geheimdienst im letzten Jahr, bei dem ein Mensch getötet und das Schiff versenkt wurde, kein Akt des Terrorismus gewesen sei. Was, Herr Genscher, frage ich, war es denn dann?
Weiter hat die Regierung amtlich erklärt, die Praxis der Contras in Nicaragua stelle keinen Terrorismus dar, obwohl zahlreiche beeidete Zeugenaussagen dafür vorliegen, daß die Contras systematisch Zivilisten entführen, foltern und ermorden.
Kann man daraus den Schluß ziehen, daß die Bundesregierung einen terroristischen Akt dann nicht für terroristisch hält, wenn er von Verbündeten begangen wird oder wenn dies sonst außenpolitisch opportun ist?
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Auf der anderen Seite ist die Bunderegierung gerne bereit, sich an vorgeblich der Terrorismus-Bekämpfung dienenden Kampagnen zu beteiligen, wenn die amerikanische Regierung dies für nützlich hält.
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Und auch dabei kommt es nicht auf Tatsachen an, sondern auf Opportunität.
Wir fragen uns: Wird sich die Bundesregierung ein zweites Mal von der Notwendigkeit eines militärischen Schlages gegen Libyen überzeugen lassen? Die USA treffen bereits die ersten Vorbereitungen. Ich möchte hier fragen und eine Antwort erhalten: Ist die Bundesregierung wenigstens diesmal davon unterrichtet, daß Cruise Missiles in Comiso und in Grenham Common in Bereitschaft versetzt wurden?
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Zweitens. Beleuchten wir die nächste Forderung von Herrn Genscher: In der Außenpolitik muß man sich in Fragen der Menschenrechte eindeutig verhalten.
Ende Mai dieses Jahres besuchte Bundespräsident von Weizsäcker General Evren und seinen zivilen Statthalter, Ministerpräsident Özal. Das türkische Regime hat dadurch international eine enorme Aufwertung erhalten. Es war kein deutliches Wort zu hören zum Schicksal des kurdischen Volkes, der Armenier und anderer Minderheiten. Kein deutliches Wort zu den zirka 15 000 politischen Gefangenen, die immer noch in den Militärgefängnissen sitFrau Borgmann
zen. In diesen Gefängnissen ist Folter alltäglicher als Essen. Keine Forderung nach einer Generalamnestie. Und es sind gerade die türkischen Asylbewerber, die häufig bei uns als „Wirtschaftsasylanten" diffamiert und von der Bundesregierung in die Folterzellen zurückgeschicht werden.
Offensichtlich ist der Bundesregierung die Funktion, die die hochgerüstete Türkei als „unverzichtbarer" Südostpfeiler des Bündnisses einnimmt, immer noch wichtiger als die Beendigung von Folter, Kriegsrecht, Pressezensur und anderen Menschenrechtsverletzungen.
Die dritte Forderung von Herrn Genscher war: Im Kampf gegen die Apartheid muß man klar für die sofortige Herstellung gleicher Rechte eintreten.
Wir müssen uns einmal die augenblickliche Situation in Südafrika vorstellen. Die Regierung in Südafrika verbietet - jetzt gerade wieder - den Menschen, deren Angehörige ermordet wurden, diese Angehörigen zu beerdigen.
Herr Genscher, ich rate Ihnen sehr dringend und allen anderen, die das auch nötig haben: Fahren Sie nach Südafrika, aber nicht, um - wie es zuletzt bei einer CDU-Delegationsreise wieder geschehen ist - ausschließlich Gespräche mit Vertretern der Regierung zu führen und anschließend auf Safari zu gehen, sondern sprechen Sie mit Vertretern des südafrikanischen Kirchenrates, mit schwarzen Gewerkschaftern, mit den Menschen in Soweto und in anderen Townships und Homelands.
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Erleben Sie Elend und Terror! - Herr Genscher, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie gerade bei dieser Passage zuhören könnten.
Herr Kollege Genscher, dies ist, glaube ich, eine Aufforderung, die berechtigt ist.
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Vielleicht kämen Sie dann von Ihrem hohen Roß herunter, wenn Sie an Ort und Stelle dieses himmelschreiende Unrecht erleben würden, und würden verstehen, was Winnie Mandela und andere sagen, wenn sie zum Ausdruck bringen: „Die Freiheit muß kommen, auch wenn sie den Tod bedeutet."
Vielleicht wäre es Ihnen doch ein bißchen peinlich, daß die Bundesrepublik trotz der weltweiten Forderung nach Sanktionen immer noch zu den drei wichtigsten Handelspartnern Südafrikas gehört, eine der wichtigsten Stützen der Apartheid ist. Nach wie vor!
Wir bleiben deshalb bei unserer Forderung nach umfassendem Handelsboykott, nach Umsetzung der UNO-Resolution 435 in Namibia, nach Anerkennung von ANC und SWAPO als den größten Befreiungsbewegungen in Südafrika und Namibia. Wir fordern die Bundesregierung auf, deren Vertreter
Oliver Tambo und Sam Nujoma zu offiziellen Gesprächen nach Bonn einzuladen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, im letzten Jahr hatte ich Gelegenheit, sieben Kritikpunkte an der amtlichen Außenpolitik zu formulieren. Es ist beschämend für diese Regierung, wie umfassend sich diese Kritik im letzten Jahr in jeder Hinsicht bestätigt hat.
Immer noch ist die Politik dieser Regierung gegenüber den USA von Unterwürfigkeit und blinder Gefolgschaft geprägt. Es wird immer deutlicher, daß sich dies noch nicht einmal auszahlt:
Als der Bundesaußenminister im April nach Washington reiste, um die USA im Auftrag der EG vor militärischen Abenteuern gegen Libyen zu warnen, da wartete Reagan nicht einmal seine Landung ab, und der Angriff erfolgte bereits, als er sich noch auf der Anreise befand. Ich denke, krasser kann die amerikanische Regierung ihre Mißachtung gegenüber ihrem sogenannten Freund Helmut Kohl wohl nicht zum Ausdruck bringen.
Nicht minder peinlich ist das Hickhack um SDI. Nachdem sich die Bundesregierung aus einer Mischung von Vasallentreue und wirtschaftlicher Gier zur Unterzeichnung eines SDI-Kooperationsabkommens bereit gefunden hatte, wird sie vom amerikanischen Senat an die Realtitäten der deutsch-amerikanischen Beziehungen erinnert: keine Aufträge an die westdeutsche Industrie, es sei denn, daß dies unvermeidbar ist. Dieses Kabinettstückchen hätte das Weltbild vieler Konservativer eigentlich erschüttern müssen. Denn es ist klar: Jetzt lohnt es sich nicht einmal mehr wirtschaftlich, sich an Kriegsvorbereitungen zu beteiligen.
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Ähnliche Taschenspielertricks bereitet die Reagan-Regierung seit geraumer Zeit vor, um die Bundesregierung in der Frage der Rüstungskontrollverhandlungen einzuwickeln. Obwohl jeder, der sich in Washington ernsthaft unterrichtet, bald herausbekommt, daß die USA an Abrüstungs- oder Rüstungskontrollverhandlungen nur dann interessiert wären, wenn sie die Form einer Kapitulationsurkunde der Sowjetunion annehmen würden, so verbreiten die Reaganisten in scheinheiligem „Optimismus", die Sowjetunion sei nun endlich zu ernsthaften Gesprächen bereit. Als wäre sie das im vorigen Jahr nicht auch schon gewesen und als wären es nicht gerade die Vereinigten Staaten, die das größte Aufrüstungsprogramm in der menschlichen Geschichte begonnen haben.
Fassen wir zusammen. Auf der Ebene großer Worte und hehrer Grundsätze hat die Bundesregierung durchaus einiges vorzuweisen. Begibt man sich dann in die Niederungen der Wirklichkeit der bundesdeutschen Außenpolitik, so zeigt sich, der hohe Anspruch und die Wende-Wirklichkeit haben nichts, aber auch überhaupt gar nichts miteinander zu tun. Daß die Regierung den Bürgern ihre höchst klägliche Bilanz trotz allem als angeblichen Erfolg verkaufen will, ist lediglich ein weiteres Indiz für
die Gewohnheit der Bundesregierung, ihre Wünsche mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
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Aber Erfolge braucht man nicht zu haben. Es reicht offensichtlich, wenn man davon redet. Das scheint das Motto der Regierung nicht nur in der Außenpolitik zu sein.
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Ich möchte hier ganz kurz bei allem Unterschied in der politischen Meinung den Kollegen Schmidt und Barzel für ihren weiteren Lebenslauf alles Gute wünschen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will in meinem Beitrag auf einen Fragenkreis zu sprechen kommen, in dem sich wie kaum in einem zweiten die Auswirkungen der Außenpolitik mit Problemen der inneren Liberalität überlagern, und in dem Fragen nach dem Umgang mit unserer Verfassung ebenso zur Debatte stehen wie solche nach der politischen Kultur dieses Landes. Wir erleben in den letzten Wochen eine Neuauflage der Diskussion: Wie gehen wir in diesem Land mit Fremden um, die auf der Suche nach Schutz und Unterkunft zu uns kommen? Das Asylrecht wird in Frage gestellt. Was man über Zahlen und Ausmaß der Probleme hört, macht vielen Sorge. Darüber müssen wir reden. Allerdings: Wer die Stimmungsmache besonders aus Bayern, wer die aufgeheizten Diskussionen und Beiträge vieler Kollegen aus CDU und CSU und auch aus der Bundesregierung hört, wer die Verzerrungen und die schrillen Töne, vor allen Dingen aber deren Widerhall in Leserbriefspalten und in der Presse ernst nimmt - und das muß man ja wohl tun -, der fragt zusammen mit vielen ausländischen Beobachtern zu Recht: Was ist eigentlich mit diesem Land los? Der versteht, daß die Kirchen, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund und daß viele andere, die nicht über die Menschen reden, sondern mit ihnen,
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mit den Ausländern ebenso wie mit den Deutschen, vor Ausländerfeindlichkeit und Überfremdungshysterie warnen.
Meine Damen und Herren, wir müssen hier im Bundestag darüber sprechen. Der Bundeskanzler hat das leider nicht getan.
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Er hat auch nicht Stellung bezogen. Das war ihm alles kein einziges Wort wert.
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Das, was in den letzten Wochen von ihm und seinen
Parteifreunden als Problem Nummer 1 in der
Presse hochgejubelt wurde, war ihm keiner Erwähnung wert, auch die Menschen nicht, um die es geht, und auch nicht ihre Sorgen. Er hielt das heute auf einmal nicht mehr für wichtig genug, um es hier anzusprechen. Wir sagen: Wir müssen hier darüber sprechen, weil die Probleme angepackt werden müssen und weil die zynische Haltung der Bundesregierung, insbesondere die der CDU/CSU, so nicht weitergehen darf.
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Aber wir müssen zunächst einmal etwas anderes tun: wir müssen das schiefe Bild zurechtrücken, in das diese Diskussion unser Land in den letzten Wochen gebracht hat. Deshalb danke ich jetzt an allererster Stelle den Männern und Frauen überall in der Bundesrepublik, die sich nicht haben einspannen lassen in dieses Netz aus Aufgeregtheit, falschen Behauptungen, bösartiger Demagogie und heimtückischer Wahlkampfstrategie auf dem Rükken von Menschen, die sich nicht wehren können.
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Wir Sozialdemokraten danken etwa den Mitgliedern beider Kirchengemeinden in Heumaden bei Stuttgart, die einfach geholfen haben, als geholfen werden mußte, und die das nicht mit Leidensmiene als Opfer deklariert haben. Nein, diese vielen jungen Männer und Frauen haben gezeigt, daß man Hilfe mit Selbstverständlichkeit und mit menschlichem Anstand verbinden kann.
Ich danke den vielen Bürgern, den Männern und Frauen, die Fremde, etwa Familien aus dem Libanon, die ganz anders aussehen und auch anders sprechen als wir, als Menschen betrachten und ihnen helfen, sich bei uns zurechtzufinden. Diese Männer und Frauen meine Damen und Herren, diese vielen jungen Menschen, stellen, Gott sei Dank, bei uns im Land die Mehrheit, allen Demagogen und Leserbriefschreibern zum Trotz. Und diese leider häufig schweigende Mehrheit macht Ihnen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, zugleich vor, was Anstand ist und wie die Regierung mit Menschen umgehen sollte.
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Sie erwarten zugleich, daß Sie die Fragen ernst nehmen, die Probleme anpacken und Ihren heimtückischen Wahlkampf auf Kosten von Wehrlosen einstellen. Die Menschen erwarten auch von Ihnen, daß Sie dem entgegentreten, was Sie losgetreten haben, nämlich der zunehmenden Unsicherheit, der Feindseligkeit gegenüber Ausländern, den zunehmenden Ausschreitungen und auch den Verbrechen wie jetzt etwa in Bayern dem Überfall auf ein Flüchtlingswohnheim.
Sicherlich handelt es sich bei denen, die so etwas tun, um Verführte, um Gestörte, um Fanatiker oder um Kriminelle, aber, meine Damen und Herren, die fühlen sich durch viele Reden aus den Reihen der CDU/CSU ermutigt. Und das war 1980 schon einmal so, als Sie Wahlkampf zu Lasten von Flüchtlingen machten. Damals kam es zu schrecklichen Begleiterscheinungen, zu Morden in Hamburg, zum Überfall auf ein vietnamesisches Wohnheim in Lörrach
mit Verletzten. Es kam zu einem Attentat auf Zirndorf. Wollen Sie so etwas heute wieder in Kauf nehmen? - Wir nicht. Und deswegen sagen wir mit den vielen anständigen Männern und Frauen: Machen Sie Schluß damit. Greifen Sie die Probleme mit uns auf. Wir und die Mehrheit unserer Bevölkerung wollen nämlich nicht, daß unser Land in einer Woge von Ausländerfeindlichkeit, Überfremdungshysterie und Überheblichkeit im Sinne von „Deutschland, Deutschland über alles" verkommt.
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Und, meine Damen und Herren, die deutsch-nationalen Töne des Herrn Dregger und was daraus folgen kann, das hatten wir in diesem Lande schon. Das wollen wir nicht mehr.
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Die Bürger erwarten, meine Damen und Herren, wie gesagt, daß Sie die Probleme und Fragen anpacken, um sie zu lösen, ohne gleichzeitig auf Menschen herumzutrampeln oder das Grundgesetz zu ändern, also das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen; denn Änderung oder „Ergänzung", wie Sie das jetzt nennen, bedeutet Abschaffung. Machen Sie uns und machen Sie sich selbst bitte nichts vor.
Probleme, die es anzupacken gilt, hat es in diesem Sommer wahrhaftig gegeben. Da waren einmal die Probleme mit der DDR
({8})
- gleich, Herr Kollege Ströbele -, die ja Flüchtlinge über den DDR-Flughafen Schönefeld nach Berlin, nach Helmstedt oder Bebra bringt.
Augenblick - Frau Dr. Däubler-Gmelin ({0}): Wenn Sie mir noch einen Moment gestatten? Das tut die DDR sicherlich auch, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in der Absicht, die erhitzten Diskussionen und schädlichen Vorschläge über Grundgesetzänderungen zu befördern, die wir seit Wochen haben. Und ich frage: Muß man als CDU-Wahlkampfplaner eigentlich auch noch denen das Geschäft erleichtern?
Wir lehnen das Verhalten der DDR nicht nur ab, weil es uns Probleme bringt, sondern auch deshalb, weil die DDR die Not von Menschen zu ihren politischen Zwecken ausnutzt,
({1})
ihnen nicht selbst Asyl gewährt, obwohl sie das könnte, und weil sie dem Flüchtlingsabkommen der Vereinten Nationen nicht beigetreten ist. Hier sind Verhandlungen gefordert. Das ist eine Aufforderung an Sie, Herr Bundeskanzler. Sie hätten heute dazu Stellung nehmen sollen.
({2}) Bitte schön, Herr Ströbele.
Frau Abgeordnete, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Ja, Herr Präsident.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Frau Kollegin, sosehr ich es begrüße, daß Sie dieses sehr wichtige Thema jetzt auch hier in der außenpolitischen Debatte ansprechen, bitte ich Sie, eine Antwort auf die Frage zu geben, was die Auffassung der SPD und Ihre Auffassung dazu ist, was mit den Flüchtlingen in der Bundesrepublik geschehen soll, die kein politisches Asyl bekommen, die aus Krisengebieten wie Libanon oder Sri Lanka und die aus Hungergebieten kommen.
Herr Ströbele, auch deswegen rede ich ja, ich komme noch darauf zu sprechen.
({0})
Berlin, meine Damen und Herren, hatte Schwierigkeiten, die ankommenden Menschen vorläufig unterzubringen. Aber Berlin hat es geschafft, und dafür schulden wir ihm Dank, übrigens auch denjenigen Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der CDU, die trotz der unglaublichen Töne anderer CDU/CSU-Kollegen und trotz der Hetze der Springer-Presse zu Nüchternheit und Vernunft gefunden haben.
({1})
Ich erwähne ausdrücklich Frau Bürgermeister Laurien.
Wir danken auch den vielen Gemeinden, die Wohnungen finden mußten, um dort Menschen unterzubringen. Das ist nicht leicht und kostet Geld. Dabei ist Hilfe nötig für die Menschen und die Gemeinden. Der Städtetag hat recht, wenn er betont, daß zwar die Belastungen für die Städte keineswegs untragbar seien, daß aber einige besonders belastet sind. Deshalb fordern wir Sie auf, Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie jetzt nicht hier sind: Machen Sie nicht Wahlkampf, sondern helfen Sie den Gemeinden, die besonders belastet sind! Wenn Sie uns vorschlagen, der Bund solle künftig den Gemeinden die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen erstatten, dann werden Sie in uns auch für diesen Vorschlag Gesprächspartner finden.
({2})
Notwendig ist aber, meine Damen und Herren - und dazu braucht man trotz Wahlkampfgetümmels keine Grundgesetzänderung, nicht einmal eine Gesetzesänderung - die Verkürzung der Anerkennungsverfahren insbesondere vor den Verwaltungsbehörden. Es muß doch nicht sein, daß bis zum
ablehnenden oder anerkennenden Bescheid aus Zirndorf drei oder mehr Jahre nur deswegen vergehen, weil die zu geringe Zahl der ausgebildeten Mitarbeiter ständig überlastet ist, oder weil die bürokratischen Verfahren zu schwerfällig organisiert sind. Für dies alles ist die Bundesregierung verantwortlich und niemand sonst. Dazu braucht man keine Konferenz. Es muß nur der Bundesinnenminister endlich tätig werden.
Natürlich, meine Damen und Herren, sind Forderungen nach Grundgesetzänderung leichter und weniger mühsam, aber sie brächten gar nichts.
Daß die Länder auch dazu beitragen könnten, die Anerkennungsverfahren zu verkürzen, und zwar ohne Einbuße an Rechtsstaatlichkeit, ist richtig. Es ist jedoch empörend, meine Damen und Herren, daß gerade da, wo am lautesten geschrien wird, die Anerkennungsverfahren am längsten dauern. Herr Bötsch, Sie wissen, warum ich Sie jetzt anspreche.
({3})
Die Bundesregierung könnte ein Weiteres tun. Sie könnte anregen und damit dazu helfen, innerhalb der Bundesländer zu einem vernünftigen Aufteilungsverfahren für die Flüchtlinge, zu menschenwürdiger. Unterbringung und zu vernünftigen Bedingungen während der Unterbringung zu kommen. Damit würden Belastungen und Schwierigkeiten von Bürgern und Gemeinden und damit auch Quellen von Ausländerfeindlichkeit abgebaut oder ganz vermieden.
Bisweilen hat man den Eindruck, daß die Zuweisungs- und Unterbringungsentscheidungen etwa in Bayern und in Schleswig-Holstein den Widerstand und die Schwierigkeiten bei Bürgern und Gemeinden vielfach geradezu herausfordern sollen.
({4})
Nein. Ist das etwa die praktische Umsetzung des bösen Wortes, wonach es darum gehe, den „Kesseldruck" zu erhöhen? Es ist doch Unsinn, meine Damen und Herren, einer Teilgemeinde mit 45 Einwohnern 60 Fremde zuzumuten. Das ist auch nicht notwendig. Da kann man mit vernünftiger Planung viel machen. Ich jedenfalls danke den Mönch-Neversdorfer Bürgern, daß sie sich nicht nur in der Ablehnung dieser zu großen Zahl von Fremden einig waren, sondern deutlich gemacht haben, daß sie es für eine Selbstverständlichkeit halten, eine Familie unterzubringen und bei sich aufzunehmen.
({5})
- Das ist gar nicht nötig, Herr Bötsch.
({6}) Nein, nein, die schlimmen Fälle kommen in Geiselhöring in Bayern und in Schleswig-Holstein vor.
({7})
- also, Herr Bötsch, ich würde vorschlagen, gehen Sie doch einfach ans Mikrophon, dann setze ich mich gerne damit auseinander. Was nämlich die Behörden in Gedankenlosigkeit und sogar mit bedingtem - ({8})
- Habe ich das Wort noch?
Sie haben das Wort.
Was manche Behörden mit Gedankenlosigkeit, vielleicht sogar mit bedingtem Vorsatz anrichten, meine Damen und Herren und insbesondere Herr Bötsch, und den Menschen zumuten, den Flüchtlingen wie auch den Deutschen, das muß Widerstand und Feindseligkeit herausfordern. Das gilt auch für die Art und Weise, in der viele von Ihnen - jetzt schaue ich Sie wieder an, Herr Bötsch - über Flüchtlinge reden. Wer von „Asylantenschwemme" redet, wer die „Flut" beschwört, die „eingedämmt" werden müsse und wer den Eindruck erweckt, der „Mißbrauch" finde durch die Flüchtlinge selbst statt, die jetzt kämen - Herr Dregger hat besonders geschmackvoll neulich 5 Milliarden beschworen, die vor „unseren" Gerichten gegen „uns" prozessieren könnten -, Herr Dregger, der spekuliert auf Wahlkampf.
Wenn Sie, Herr Dregger, dann scheinheilig hinzusetzen, man könne ja schließlich dieses Thema nicht nur deswegen aus dem Wahlkampf herauslassen, weil es der CDU/CSU nütze, dann tun Sie das in der Hoffnung, daß sich viele Menschen, übrigens gerade solche, die nicht gut gestellt sind, von den Ungerechtigkeiten und Versäumnissen ablenken lassen, mit denen Ihre Regierung gerade diese Menschen belastet. Sie wollen ablenken von Ihrer Politik der Rentenkürzung, der Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, der mangelnden Entschlossenheit bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, und Sie wollen auch von der zynischen Kälte ablenken, mit der Christdemokraten die älteren Frauen behandeln, wenn es um das Babyjahr geht.
({0})
Der VdK spricht doch zu Recht davon, daß Sie mit Ihren neuen Plänen jetzt sogar noch auf den Tod vieler älterer Frauen spekulieren,
({1})
nachdem Sie sie zunächst vollständig von dem Babyjahr ausgeschlossen hatten.
({2})
Die Menschen sollen ihre Kritik Ihnen gegenüber
vergessen und sich gegen die Flüchtlinge aufbrinFrau Dr. Däubler-Gmelin
gen lassen. Das ist das Ziel Ihrer verächtlichen, ja, ich sage, Ihrer erbärmlichen Spekulation.
({3})
Ich sage Ihnen noch eines: Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Sie tun nämlich nicht das, was Sie tun könnten und tun müßten. Sie machen Wahlkampf, Sie schüren Vorurteile, und dazu ist Ihnen nahezu jedes Mittel recht: Sie werfen unredlich mit falschen Zahlen um sich, die die Menschen erschrecken sollen. Meine Damen und Herren, nicht nur Ihre eigene Ausländerbeauftragte hat Sie darauf aufmerksam gemacht, sondern auch der Flüchtlingshochkommissar, die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände.
({4})
- Nur ganz kurz dazu. Herr Möllemann, das ist vielleicht auch für Sie von Interesse: In den zwölf Jahren der Nazi-Zeit, in denen Deutsche das „elende Leben von Flüchtlingen" erdulden mußten, haben rund 800 000 Deutsche - unter ihnen Brecht, Tucholsky, Thomas Mann, Weichmann, Ricarda Huch - in anderen Ländern Zuflucht gefunden. Ohne sie gäbe es bei uns heute keine Demokratie. In den 40 Jahren, die Zeit, die seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen sind, hat die Bundesrepublik Deutschland noch nicht einmal die Hälfte dieser Zahl an Flüchtlingen aufgenommen, alle Familienangehörigen, alle Staatenlosen und alle anderen Gruppen eingerechnet, die, wie etwa die Polen, mit Ihrer Billigung hier bleiben, obwohl sie - Herr Ströbele, das ist der eine Punkt - nicht politisch verfolgt sind. Das ist noch nicht einmal die Hälfte der Zahl der Deutschen, die während der Nazi-Zeit ins Ausland gehen mußten. Dann tun Sie so, als sei unser Asylrecht nicht haltbar und schon wegen seiner Einzigartigkeit suspekt. Richtig ist, daß es die Form des Grundrechts woanders nicht gibt, aber ein Zahlenvergleich zeigt uns, daß - gemessen an der Bevölkerungszahl - andere, auch europäische Länder mehr Flüchtlinge aufnehmen, ohne sich ständig darüber zu beklagen oder sich permanent selbst zu loben.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Nein, im Moment nicht. Ich hätte ganz gern, daß auch der Herr Möllemann noch einen Moment zuhört.
Es ist richtig, daß nur politisch Verfolgte Zuflucht bei uns finden können. Meine Damen und Herren, wenn Sie der Auffassung sind, diese Rechtslage sei im Ausland nicht bekannt, dann tun Sie etwas für die bessere Information! Dazu braucht man keinen Wahlkampf und keine Grundgesetzänderung. Wenn Sie geeignete Maßnahmen gegen kriminelle Schlepperorganisationen auf den Tisch legen würden,
({0})
Maßnahmen, die wirklich greifen und die den Handel mit Menschen und Flüchtlingen in der Welt unterbinden könnten, an dem j a im übrigen nicht nur Ausländer beteiligt sind, wie der beschämende Vorfall mit der Aussetzung von Tamilen vor der kanadischen Küste zeigte, dann würden wir auch darüber mit Ihnen sprechen.
Sie reden davon, Menschenrechte seien unteilbar, und darüber, daß Flüchtlingen in Heimatländern oder Heimatregionen geholfen werden sollte. Das ist richtig. Wir unterstützen das. Wir danken vor allen Dingen den vielen Bürgern, die Hilfswerke unterstützen, und das in selbstverständlicher Großzügigkeit. Nur, man muß hier festhalten, daß die Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung immer stärker zur deutschen Wirtschaftsförderungspolitik im Ausland verkommt.
({1})
Das Eintreten der CDU/CSU für die Menschenrechte hört in der Praxis doch schon dort auf, wo eine feste Haltung gegenüber Südafrika gefordert wäre.
({2})
Sie lehnen Sanktionen gegen Südafrika ab, obwohl die Menschenrechte der Schwarzen dort mit Füßen getreten werden. Und, meine Damen und Herren, mit Ihrer Waffenexportpolitik schüren Sie die Konflikte in der Welt.
({3})
Dadurch vergrößern Sie die Flüchtlingsströme in der Welt, anstatt zu helfen und zu lindern.
({4})
Ein Sonderpreis für Heuchelei und Demagogie kommt auch diesmal wieder Ihrem Generalsekretär Geißler zu. Er hat es sich ja zur Aufgabe gemacht, den Bürgern die Grundgesetzänderung schmackhaft zu machen und gleichzeitig vergessen zu machen, daß dies die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl bedeutet. Deshalb erklärt er jetzt kurzerhand die Verfasser des Grundgesetzes zu einer Art Club von weltfremden Idealisten, zu Leuten, die nicht gewußt hättten, was sie tun, die die Auswirkungen nicht übersehen hätten und deren Entscheidungen für uns heute deshalb nicht mehr maßgeblich sein könnten. Geißler spricht über Sozialdemokraten wie Carlo Schmid, der damals im Südwürttemberg-Hohenzollern der Nachkriegszeit tagtäglich die unglaublichen Schwierigkeiten des Alltags lösen half. Er spricht über Hans-Christoph Seebohm, lange Jahre Sprecher der Vertriebenen, Deutsche Partei, später Mitglied der CDU. Er spricht über Verfassungsrechtler wie von Mangoldt, ebenfalls CDU-Mitglied, und die wußten, meine Damen und Herren, sehr genau, was sie taten. Sie überlegten sorgfältig, welche Formulierung sie ins Grundgesetz hineinschreiben wollten, und auch, welche sie ablehnten. Sie wußten vor allen Dingen auch, was wirtschaftliche Schwierigkeiten sind; sie hatten sie nämlich damals in der Praxis: 15 Millionen Flüchtlinge mußten untergebracht werden, die Städte waren zerstört, Arbeitslosigkeit, Hunger und
Elend waren an der Tagesordnung. Sie sind mit diesen Schwierigkeiten fertiggeworden, und die Beratungen des Grundgesetzes fanden vor diesem Rindergrund statt, auch die zum Asylrecht.
Man hat damals zahlreiche Einschränkungsvorschläge erörtert, wie die Protokolle ja deutlich zeigen. Man hat sie abgelehnt, weil man genau die Opportunisten, die kleinen Schlauen, die Zyniker und die Wahlkampfstrategen, die mittlerweile bei Ihnen in der CDU/CSU wieder Oberwasser haben, nicht an das Zufluchtsrecht für politisch Verfolgte heranlassen wollte.
({5})
Weil sie weder Grenzrichter wollten noch Grenzsammellager, weil sie eingedenk unserer historischen Verpflichtung wollten, daß politisch Verfolgte, aber nur sie, bei uns Zuflucht finden, deshalb wurde die absolute Form des Grundrechts gewählt, und dabei, meine Damen und Herren, soll es bleiben.
Deshalb fordern wir Sie von der CDU/CSU auf: Hören Sie auf, Wahlkampf zu betreiben, treten Sie den Folgen entgegen,
({6})
packen Sie die Probleme an, und, Herr Bötsch, kommen Sie auf den Boden unserer Verfassung zurück!
({7})
Den Bundeskanzler fordere ich auf: Setzen Sie sich in Ihren Reihen endlich einmal durch, stoppen Sie das Wahlkampfgerede Ihrer politischen Freunde, und fangen Sie am besten mit Ihrem Fraktionsvorsitzenden Dregger an!
({8})
Ich füge hinzu, Sie mögen bitte den Flüchtlingen helfen, obwohl ich weiß, daß Sie daran derzeit nicht interessiert sind.
({9})
Ich danke nochmals all denen, die im Geist von Mitmenschlichkeit die Probleme anpacken und überwinden.
({10})
Wir ermutigen alle die, die sich mit Nüchternheit und dem Sinn für Anstand zu Wort melden und das Feld nicht den Demagogen, auch Demagogen à la Möllemann und anderen, die sich hier mit Zwischenrufen betätigen, überlassen,
({11})
und wir danken den vielen, die dieses auch in der Presse tun.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Heute morgen hat der frühere Bundeskanzler Schmidt eine Rede gehalten, in der er u. a. sagte, daß wir auch im beginnenden Wahlkampf bei aller sachlichen Härte die notwendige Gemeinsamkeit der Demokraten aufrechterhalten müßten. Wenn ich dann höre, verehrte Frau Kollegin, daß Sie schlichtweg der CDU/CSU, der FDP und namentlich genannten Kollegen unterstellen,
({0})
sie wollten den Menschen nicht helfen,
({1})
dann kann ich nur sagen: Das steht in eklatantem Widerspruch zu dem, was heute morgen Herr Schmidt hier erklärt hat.
({2})
Ich weise das in aller Schärfe zurück.
({3})
Welches Maß an Selbstgerechtigkeit, anzunehmen, daß ausschließlich Sie und Ihre politischen Gesinnungsgenossen den Menschen helfen wollten! Ich kann nur feststellen: Man kann sich so oder anders über dieses Thema unterhalten, aber eines können Sie nicht, nämlich bestreiten, daß die überwältigende Mehrheit der Deutschen auch Ausländern helfen will.
({4})
- Frau Kollegin, wir sind jetzt in einer Debatte, und Sie müssen mir gestatten, auf Sie zu antworten.
({5})
Ich kann nur sagen: Es gilt das, was Sie vorher dem Kollegen hier gesagt haben: Kommen Sie an das Pult!
({6})
Sie sind hier wieder nach dem bewährten Rezept verfahren, einen Popanz aufzubauen. Verehrte Frau Kollegin, der Bundeskanzler, den Sie angesprochen haben, hat sehr deutlich, sehr klar und so, daß Sie, wenn Sie es gelesen hätten, gar nichts dagegen saBundesminister Dr. Wörner
gen könnten, seinen Standpunkt, den Standpunkt der Bundesregierung, im übrigen als Parteivorsitzender auch den Standpunkt der CDU, deutlich gemacht,
({7})
nach der Verabschiedung der Beschlüsse der Bundesregierung. Er ging selbst vor die Bundespressekonferenz, und ich empfehle Ihnen dringend, wenn Sie es noch nicht gelesen haben, das einmal nachzulesen. Dann könnten Sie nicht weiter auf einen Popanz einprügeln.
Damit das aber ganz klar ist, Frau Kollegin: Einmal denkt niemand daran, das Grundrecht politischen Asyls anzutasten, genau wegen der historischen Erfahrungen, die wir gemacht haben,
({8})
niemand, am allerwenigsten der Bundeskanzler, die Bundesregierung oder die CDU/CSU.
({9})
Zweitens - auch das muß deutlich gesagt werden -: Worum es uns geht, und zwar aus guten Gründen, das ist die Eindämmung der Flut unechter Asylanten.
({10})
Wir sind kein Einwanderungsland, wie auch Sie wissen. Deswegen, meine verehrte Frau Kollegin, geht es darum, eine Lösung zu finden, die den wirklichen politischen Asylanten vom unechten, vom Scheinasylanten trennt. Nur wenn wir dieses Problem lösen, haben wir eine Chance, Fremdenfeindlichkeit in unserem Lande erst gar nicht aufkommen zu lassen.
({11}) Das ist der Standpunkt der CDU/CSU.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler?
Bitte schön.
Ich hätte mich nicht gemeldet, wenn Sie mich nicht aufgefordert hätten.
Wollen Sie, Herr Bundesverteidigungsminister Wörner, wirklich bestreiten, daß der Herr Bundeskanzler heute kein Wort zu diesen Fragen gesagt hat? Wollen Sie weiter bestreiten, daß im CDU/ CSU-Wahlkampfprogramm steht, daß Sie die Absicht hätten, gegebenenfalls das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 zu ändern, zu ergänzen, wie Sie das nennen? Wollen Sie weiter bestreiten, daß Herr Barschel heute in einer Presseerklärung gesagt hat, auch er wolle das Grundgesetz ändern? Wollen Sie weiter bestreiten, daß in den vergangenen Tagen sowohl aus Bayern wie aus Niedersachsen maßgebliche Mitglieder der CDU/CSU derartige Auffassungen vertreten haben?
({0})
Frau Kollegin, Sie wenden die gleiche Methode an, die Sie vorher schon angewandt haben. Sie stellen Fragen, die an der Sachaussage vorbeigehen.
({0})
Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Bundeskanzler Helmut Kohl hat seinen Standpunkt in der nötigen Präzision, Deutlichkeit und umfangreich dargestellt. Wenn er heute nicht darauf eingeht, dann kann er das gleiche in Anspruch nehmen, was hier schon einmal einer Ihrer Redner in Anspruch genommen hat: Er kann in einer Rede nicht alle Probleme gleichzeitig angehen,
({1})
zumal dann nicht, wenn sein Standpunkt überhaupt nicht in Zweifel steht.
Was Sie versuchen, ist dagegen ganz einfach zu erkennen: Ihnen ist das Thema unangenehm.
({2})
- Warum? Das ist doch ganz klar. Hören Sie sich doch einmal sozialdemokratische Oberbürgermeister, hören Sie sich sozialdemokratische Bürgermeister an, und dann können Sie nicht mehr so daherreden, wie Sie gerade dahergeredet haben.
({3})
Diese sagen: Ihr müßt das Problem lösen; unsere Gemeinden werden nicht mehr damit fertig. Frau Kollegin, wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann werden auch Sie nicht damit fertig und Ihre Oberbürgermeister schon gar nicht.
({4})
Deswegen: Hören Sie auf, Popanze aufzubauen, und beschäftigen Sie sich mit den wirklichen Standpunkten der Bundesregierung und der CDU/CSU!
Und jetzt kommt noch ein Zweites. - Es tut mir leid, Herr Präsident, ich denke, daß mir dieser Wortwechsel von meiner Zeit abgezogen wird.
Nein, Herr Kollege, das wird er nicht.
Das war aber bei Zwischenfragen so üblich.
({0})
Dann hat mich noch einmal etwas gestört. Liebe Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie haben von der „zynischen Kälte" der CDU/CSU und dieser Bundesregierung gegenüber älteren Frauen gespro17740
chen. Da sich unter diesen älteren Frauen auch meine Mutter befindet,
({1})
können Sie sich vorstellen, daß mich diese Aussage nicht unberührt gelassen hat. Deswegen sage ich Ihnen - ich hoffe, in der nötigen Sachlichkeit -:
({2})
Überlegen Sie sich gut, was Sie hier behaupten! Denn sonst könnten wir, wenn wir in der gleichen Tonart mit Ihnen reden wollten, sagen: Sie haben ein Höchstmaß an zynischer Kälte geboten, weil Sie sich während dreizehn Jahren Ihrer Regierungszeit überhaupt nicht um die älteren Frauen gekümmert haben.
({3})
Sie hätten doch die Gelegenheit gehabt. Jetzt, wo wir anfangen, das Problem anzugehen, und es stufenweise lösen, jetzt kommen Sie mit „zynischer Kälte". Was haben Sie denn getan?
({4})
Nichts. Deswegen bestreite ich Ihnen das Recht, in dieser Weise zu argumentieren.
({5})
Und nun zu dem, was eigentlich der Gegenstand der Aussprache am heutigen Nachmittag ist, nämlich Außen- und Sicherheitspolitik. Zu den größten Leistungen dieser Regierung gehört es, daß wir den Frieden für unser Land gesichert haben
({6})
- jawohl, auch ich - und dafür gesorgt haben, daß unsere Bürger frei leben konnten, ganz im Gegensatz zu dem, was Sie den Leuten vorher immer einzureden versuchten.
({7})
Das muß und wird so bleiben, und zwar so lange, wie wir die Bundeswehr intakt halten, und so lange, wie wir das Bündnis intakt halten. Das ist das Ziel unserer Politik, und dem dient der Haushalt der Bundesregierung. Mit diesem unserem Haushalt setzen wir ein Zeichen der Bündnistreue und der Verteidigungsfähigkeit. Wir sorgen dafür,
({8})
daß die Situation in Europa stabil bleibt. Wir werden durch Kräftigung der Bundeswehr, durch Stärkung der Allianz dafür sorgen, daß der Friede in Europa gesichert bleibt.
({9})
Wenn ich damit vergleiche, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Opposition, was Sie in
Nürnberg beschlossen haben, dann kann ich nur
sagen: Wenn eine Regierung die Beschlüsse, die Sie in Nürnberg gefaßt haben,
({10})
umsetzen würde, dann müßte das mit Zwangsläufigkeit dazu führen, daß das Bündnis zusammenbricht, daß die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr intakt gehalten werden kann und daß wir dann eine Landschaft haben, in der die Sowjetunion ihren
({11})
Anspruch durchsetzen kann, über die Sicherheit Europas selbst zu befinden, meine Damen und Herren.
({12})
Wir würden uns dem Diktat Moskaus ausliefern.
({13})
Unsere Grundsätze sind klar. Für uns gilt: Die eigene Verteidigungsanstrengung muß sich an der politischen und militärischen Bedrohung durch die Warschauer-Pakt-Staaten orientieren. Wir streben nicht Übergewicht an, wie es Herr Ehmke behauptet. Was wir wollen, ist Gleichgewicht. Was wir wollen, ist Kriegsverhinderung und nicht Kriegsführung. Unsere Strategie, die Strategie dieser Allianz, dient der Kriegsverhinderung. Bis vor kurzem waren Sie noch verantwortlich für diese Strategie. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Verteidigungsminister Apel, der Verteidigungsminister Leber und vor ihm der Verteidigungsminister Schmidt, sie haben diese Strategie mit entwickelt, sie haben sie vertreten.
({14})
Heute sagen Sie, die Bundeswehr müsse umgestaltet werden, sie müsse strukturell nichtangriffsfähig gemacht werden.
({15})
Meine Damen und Herren, da kann ich nur fragen: Was eigentlich hat Herr Leber, was eigentlich hat Herr Schmidt früher gemacht?
({16})
Sie wissen genauso gut wie wir, die Bundeswehr ist strukturell nicht angriffsfähig. Wenn Sie es mir nicht glauben: Der von Ihnen ja auch geschätzte, jedenfalls immer wieder eingeladene Generalinspekteur der Bundeswehr hat das heute in nicht zu überbietender Klarheit wieder einmal dargestellt.
({17})
Der Kollege Bahr hat unlängst bei einem öffentlichen Gelöbnis, an dem er dankenswerterweise teilgenommen hat - im Unterschied zu anderen -, erklärt, daß die Bundeswehr selbstverständlich noch niemand bedroht habe.
Dafür aber sagt der Herr von Bülow in Moskau in einem Interview mit einer Moskauer Zeitschrift,
vom NATO-Bündnis dürfe keine Gefahr mehr für die Menschheit ausgehen. Meine Damen und Herren, das sagt der Mann, der noch vor kurzem mit Verantwortung getragen hat. Er sagt es, wohl wissend, daß es nicht die Wahrheit ist. Diese Bundeswehr, dieses Bündnis kann nicht angreifen, will nicht angreifen. Die Bundeswehr, die Streitkräfte der NATO in Mitteleuropa sind nach Ausrüstung, nach Umfang, nach Planung so ausgelegt, daß, selbst wenn es einer wollte und wenn einer verrückt genug wäre, das zu wollen - und ich kenne keinen, der das will -,
({18})
das nicht möglich wäre. Das eigentliche Sicherheitsproblem Europas, um das Sie fortlaufend herumreden, ist, daß eben der Warschauer Pakt strukturell angriffsfähig ist, d. h. daß er seine Truppen nicht nur offensiv ausgerichtet hat, sondern daß er sie nach Stärke, Umfang, Ausrüstung so bemessen hat, daß sie in der Lage wären, das zu üben, was Sie schönfärberisch Vorwärtsverteidigung nennen, nämlich die Fähigkeit, auf gegnerisches Territorium vorzustoßen. Erst wenn dieses kardinale Sicherheitsproblem Europas gelöst wird, erst dann, lieber Herr Ehmke, können Sie zu einer neuen Strategie finden. Sie wissen das ja auch.
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Das ganze Herumreden im Augenblick, was Sie nun veranstaltet haben, um die Nürnberger Beschlüsse in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, zeigt das ja ganz deutlich.
Sie sagen: Sie wollen eine neue Strategie. Jetzt fragen wir: welche Strategie? Da kommt als erste Antwort: Wir fordern den Verzicht auf Nuklearwaffen.
({20})
Die logische Folge wäre, daß das konventionelle Übergewicht der Sowjetunion Europa dominieren müßte. Das können Sie bei Helmut Schmidt in seinem Buch „Strategie des Gleichgewichts" nachlesen. Sie können es bei Dutzenden anderer, auch bei Ihren eigenen Parteifreunden nachlesen.
({21})
Was aber schlagen Sie vor? Nicht die logische Konsequenz, jetzt die konventionelle Verteidigung zu verstärken, sondern Sie schlagen vor, die Bundeswehr zu reduzieren, weniger Personal, weniger Geld.
({22})
- Jawohl, und Sie finden glühende Zustimmung bei den GRÜNEN, wie sich wieder zeigt.
({23})
Da kann man doch nur sagen: Keine Nuklearwaffen und weniger konventionelle Verteidigung, das bedeutet weniger Sicherheit, das bedeutet das Ende der Sicherheit für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Das sind Ihre Beschlüsse.
({24})
Ganz abgesehen davon, Herr Ehmke - für eine längere Auseinandersetzung fehlt mir leider die Zeit -: Was Sie eben geboten haben, das bestätigt jenen Vorwurf eines Mannes, der bis vor kurzem noch Sozialdemokrat war, nämlich des Herrn Kriele, der da sagte: Die Feindbilder nach Osten haben Sie abgebaut, aber Sie haben sie in Wirklichkeit nur verschoben - nach Amerika.
Wissen Sie, was Sie eben in Ihrer Rede geboten haben, das ging über eine legitime Kritik auch an einem Bündnispartner, die immer erlaubt ist, hinaus. Hier haben Sie ein klassisches Beispiel dafür praktiziert, wie man die Amerikaner zur eigentlichen Gefahr für die Sicherheit und die Freiheit hochstilisieren kann und kein Wort über die Sowjetunion verlieren kann, meine Damen und Herren.
({25})
Und da wollen Sie, daß die Amerikaner in Europa stationiert bleiben. Da wollen Sie, daß sie ihre Truppen hierhalten. Da wollen Sie, daß das Bündnis intakt bleibt.
({26})
Ihre ganzen Parolen über das Bündnis können Sie vergessen, lieber Herr Ehmke, solange Sie und Ihre Freunde Reden halten, in denen Sie dauernd die Amerikaner beschimpfen und über die Sowjets kein einziges Wort verlieren.
({27})
Deswegen will ich Ihnen sagen: Freundschaft, Partnerschaft und Bündnis bedeuten auch einen fairen und loyalen Umgang miteinander. Sie wissen so genau wie ich: Solange dieses Bündnis besteht, sind wir sicher.
({28})
In dem Augenblick, in dem die Amerikaner abziehen, in dem Augenblick, in dem dieses Bündnis zusammenbricht, in dem Augenblick ist die Freiheit der Deutschen nichts mehr wert.
({29})
In dem Augenblick können wir auch den Frieden nicht mehr sichern.
({30})
Was immer die SPD auf ihren Parteitagen beschließen mag: Diese Regierung und diese Koalition werden das Bündnis pflegen, sie werden das Bündnis stärken, und sie werden, auf die Stärke dieses Bündnisses gestützt, ihre Hände - wie es
Herr Barzel gesagt hat - nach Osten ausstrecken. Wir bauen keine Feindbilder nach Osten auf, aber wir scheuen uns auch nicht, die Bedrohung beim Namen zu nennen.
Was wir wollen, ist gleiche Sicherheit für die Sowjetunion, aber auch für unser Volk. Wir wollen keine Sicherheitsordnung, die von Moskau dominiert wird. Wir wollen eine Sicherheitsordnung in Europa, in der alle Europäer in Frieden und Freiheit leben können und miteinander frei zusammenarbeiten und zusammenleben können.
({31})
Meine Damen und Herren, ich dachte, wir kämen heute ohne Ordnungsrufe aus. Aber für diese beiden letzten Zwischenrufe, Herr Ehmke und Herr Schreiner, muß ich Sie zur Ordnung mahnen.
({0})
- Trotzdem haben Sie einen Ordnungsruf bekommen, und das leider zu Recht.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister, es ist Ihr gutes Recht, unsere Nürnberger Parteitagsbeschlüsse zu kritisieren. Aber Sie müssen sie auch gelesen haben.
({0})
Wenn Sie sie gelesen und dennoch diese Rede gehalten haben, dann verbieten mir nur die parlamentarischen Sitten, dazu das gebührende Wort zu sagen.
({1})
Wir haben in Nürnberg Wegweiser aufgestellt. Ich zitiere absatzweise die Überschriften unseres Beschlusses: „Bündnispartnerschaft im Westen", „Sicherheitspartnerschaft im Ost-West-Konflikt", „Strategie der Kriegsverhütung", „Wege zur Abrüstung", „Streitkräfte, die dem Frieden dienen", „Bewegung, die dem Frieden dient". Das ist unsere Richtung. Wir sagen, wohin wir wollen.
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Wohin wollen Sie eigentlich? Wo sind Ihre Initiativen? Wo können Sie es sich leisten, eine Diskussion zu führen, wie die SPD es in den vergangenen Jahren getan hat? Wo gibt es bei Ihnen die Nachdenklichen und die Kritischen, die den Zug der Lemminge verlassen wollen?
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Mich interessiert nicht, ob man diese Welt 100- oder 137mal vernichten kann; mich macht betroffen, daß die Wahrscheinlichkeit steigt, daß sie einmal vernichtet wird.
Deshalb gibt es Anlaß, sich zu besinnen. Es ist eine Verharmlosung, zu sagen: Wir laufen in eine Sackgasse. Wir laufen in den Abgrund, wenn wir so weitermachen!
Das wissen viele. Das weiß nicht nur die Frau in der Friedensbewegung, das weiß auch der Soldat in der Bundeswehr; die Umfragen, die Sie geheimhalten, zeigen das.
({4})
Das wissen im übrigen auch die Akquisiteure der Rüstungsindustrie: So wie bisher geht es nicht weiter.
Wenn man den Worten des Präsidenten der USA Vertrauen schenken kann, daß mit SDI die atomare Abschreckung überwunden werden soll, ist das doch wohl nur als Versuch zu bewerten, angesichts des Abgrunds vom Boden abzuheben.
({5})
Wir bleiben mit beiden Beinen auf der Erde, weil wir nur diese eine Erde haben. Wir sind Realisten, und deshalb haben wir den Mut, uns mit alternativen Vorstellungen auseinanderzusetzen.
Wir wollen, daß die Bundesrepublik ihren Beitrag dazu leistet, daß die Politik wieder Handlungsraum erhält. Wir wollen den Automatismus von Rüstung, Nachrüstung und Nach-Nachrüstung, von SDI, AntiSDI und Gegen-Anti-SDI durchbrechen. Wir sagen nicht: So geht es und nicht anders. Wir wissen, daß es in unserem Beschluß auch offene Fragen, ja, sogar Widersprüche gibt, und wir bekennen uns dazu, aber wir wissen vor allem: „Weiter so, Deutschland", wie die Union verkündet hat, so geht es nicht.
({6})
Die Friedensbewegung hat bewirkt, daß Sicherheitspolitik nicht länger das Monopol von selbsternannten und sich gegenseitig bestätigenden Experten ist.
({7})
Diese Demokratisierung der sicherheitspolitischen Diskussion muß in der Bundesrepublik einen breiten Konsens über unsere Sicherheit schaffen. Ich habe mir sehr aufmerksam das angehört, was Herr Barzel gesagt hat. Herr Barzel, mit 51 % Zustimmung aus der Bevölkerung könnte die Bundesrepublik nicht verteidigt werden. Bündnis und Bundeswehr können uns vor Bedrohung und Angriff, vor Nötigung und Erpressung nur dann schützen, wenn sie von der ganz überwiegenden Mehrheit unseres Volkes getragen werden.
({8})
Ich sage Ihnen: Das ist nur noch möglich, wenn wir die Gewährleistung unserer militärischen Sicherheit mit glaubhaften und erfolgreichen Schritten zur Rüstungskontrolle und Abrüstung verbinden.
Meine Partei, die große sozialdemokratische Volkspartei, hat in Nürnberg ihren Beitrag dazu geleistet.
({9})
Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, hätten allen Anlaß, dies konstruktiv aufzunehmen, statt sich hinzustellen und das Ende der Sicherheit zu verkünden. Was sollen die Sozialdemokraten in der Bundeswehr, die Wehrpflichtigen, die Reservisten
und die Berufssoldaten, eigentlich empfinden, wenn sich ein Bundesverteidigungsminister hinstellt und in dieser Form die Bundeswehr zu seiner Bundeswehr macht, indem er andere aussperrt und als Sicherheitsrisiko bezeichnet?
({10})
So etwas hat es bei keinem Verteidigungsminister bisher gegeben.
({11})
Das gräbt der Motivation der Soldaten mehr das Wasser ab als alle anderen Bewegungen, mit denen sie sich haben auseinandersetzen müssen und die Sie oft erst in Wallung gebracht haben - mit den Ergebnissen, die Sie hier dann beklagen.
Wir haben in der SPD eine lange Diskussion geführt, und wir haben uns dabei auch selber nicht geschont. Am Ende stand ein einstimmiger Beschluß. Ich sage Ihnen: Dieses Ergebnis ist für sich ein Stückchen vertrauenbildender Politik. Das ist Kontinuität und Entwicklung. Das macht unsere Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit aus, in Washington und in Moskau. Dort gibt es mehr sachliche Aufgeschlossenheit und mehr politisches Interesse an unseren Vorstellungen als bei Ihnen, Herr Bundesverteidigungsminister, der Sie sich mindestens der intellektuellen Herausforderung stellen sollten.
({12})
Auch Sie müssen sich mit Überlegungen auseinandersetzen wie z. B. dieser:
Es gilt, kooperative Sicherheitsstrukturen in Europa zu schaffen, die bei Fortbestehen der Bündnissysteme so gestaltet sind, daß nach Bewaffnung, Ausrüstung, Struktur und geographischer Verteilung der Streitkräfte sowie nach der jeweiligen Militärdoktrin jede Seite nur die Fähigkeit zu Verteidigung hat, nicht aber die Fähigkeit zu Angriff und Invasion.
Sie regen sich über diese Aussage jetzt so auf wie vor wenigen Minuten hier an diesem Pult. Es ist doch diese Aussage, die Sie so empört kritisieren. Wissen Sie es denn nicht? - Das ist ein Zitat aus einer Rede des Bundesaußenministers, die er vor zwei Wochen in Wien gehalten hat. Es deckt sich fast nahtlos mit der Beschlußlage unseres Bundesparteitags.
So wie Herr Genscher haben auch wir gesagt:
Wir erstreben eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit auf beiden Seiten der Blockgrenze.
- Das haben Sie unterschlagen. ({13})
Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit setzt nicht nur Streitkräfte voraus, die nach militärischer Strategie, Ausbildung, Struktur, Stärke und Bewaffnung zu einem raumgreifenden Angriff ungeeignet sind ...
({14})
Wissen Sie: Man kann sich darüber streiten, ob es „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" oder „kooperative Sicherheitsstrukturen" heißen soll. Aber in der Sache ist es genau dasselbe. Ich finde das gut und hoffnungsvoll für die Diskussion, die wir in der Bundesrepublik vor uns haben.
({15})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wörner?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Wörner.
Ist es Ihnen entgangen, Herr Kollege Gansel, daß ich kritisiert habe, daß Sie von struktureller Nichtangriffsfähigkeit der Bundeswehr so reden, als ob wir sie nicht schon hätten? Das ist Punkt eins.
({0})
Und Punkt zwei: Sie stellen eben nicht ausdrücklich das fest,
({1})
was ebenfalls nach Ihrem Wissen zutrifft, daß der Warschauer Pakt strukturell angriffsfähig ist.
({2})
Mit anderen Worten: Ist es Ihnen entgangen, daß ich kritisiert habe, daß Sie die entscheidende Sicherheitsproblematik umgehen und verschweigen?
({3})
Sie haben dabei übersehen oder übersehen lassen, daß es in unserem Bundesparteitagsbeschluß heißt:
Wir fordern den Warschauer Pakt auf, seinen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit zu leisten. Dazu muß er vor allem seine Strategie der Vorwärtsverteidigung aufgeben.
({0}) Alles klar?
Sie haben auch nicht die folgende Passage aus unserem Parteitagsbeschluß nachlesen lassen oder zitieren wollen:
Die Bundesrepublik ist politisch und militärisch eingebunden in die Europäische Gemeinschaft und in die NATO. Solange die Sowjetunion eine hochgerüstete Supermacht in Europa ist, bedürfen die Westeuropäer der Verbindung mit den militärischen Gegengewichten der USA.
Ist das klar oder nicht, Herr Minister?
({1})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann?
Bitte sehr.
Bitte schön.
Herr Kollege Gansel, Sie haben soeben auf Ihre Forderungen an die Sowjetunion hingewiesen, ihre strukturelle Angriffsfähigkeit aufzugeben. Der Kern der Frage, um die es hier geht, die auch der Bundesaußenminister vorhin aufgeworfen hat, ist aber ein anderer. Ich möchte Sie fragen ob Sie und die SPD weiterhin zu der Feststellung im Weißbuch der von uns früher gemeinsam getragenen Bundesregierung stehen, daß die Bundeswehr zu einem Angriff weder ausgerüstet noch darauf ausgerichtet sei, sprich, eine strukturelle Angriffsfähigkeit nicht hat.
Herr Möllemann, wir sind stolz darauf - ich habe das auch auf unserem Bundesparteitag gesagt -; denn das gehört zu unseren republikanischen Errungenschaften, daß wir eine Bundeswehr haben, die auf die Verteidigung beschränkt ist, unter dem Primat des Politischen steht, keine Feindbilder kennt, den Bürger in Uniform und die Innere Führung will.
({0})
Aber auch Sie, Herr Möllemann, wissen doch, daß es im Zusammenhang mit dem Gerede verwegener Strategen aus dem Pentagon über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Atomkrieges in Europa, daß es im Zusammenhang mit neuen Strategien und neuen Waffensystemen nicht nur bei uns, sondern auch bei Ihnen, sogar in Teilen der CDU, in der Bundeswehr,
({1})
Befürchtungen gibt, ob nicht defensiv intendierte und organisierte Streitkräfte zu offensiven Zwecken mißbraucht werden können. Sie können doch nicht so tun, als ob es diese schlimme Diskussion über
({2})
die Option des Enthauptungsschlages nicht gegeben hätte.
Wir, die wir aus unseren Funktionen und Ämtern besondere Erfahrungen und Kenntnisse haben, wissen, daß rational entscheidende Politiker in West und auch in Ost sich so nicht verhalten können. Unser Problem ist aber, daß wir keine Garantie haben, daß sie sich immer rational verhalten werden, vor allem dann nicht mehr, wenn die menschliche Verfügungskraft über die Vernichtungswaffen sozusagen abgegeben wird an den Computer, an den Automaten, weil menschliches Gehirn und menschliche Reaktionsgeschwindigkeit sich auf diese Waffen gar nicht mehr einstellen können. Das ist doch das, was uns alle beim Thema SDI so umgetrieben hat.
({3})
Wir sind uns darüber im klaren, daß wir nicht nur amerikanische Soldaten in der Bundesrepublik für unsere gemeinsame Sicherheit brauchen - wir sind ja Bündnispartner -, sondern auch, daß wir den amerikanischen atomaren Schirm nicht von heute auf morgen aufsagen können. Wir sind uns über die Bedingungen unserer Sicherheit im klaren, aber wir wissen, daß das keine dauernde und garantierte Sicherheit ist und daß wir die Risiken, die damit verbunden sind, überwinden müssen. Wir müssen alle über Alternativen nachdenken, so wie der Bundesaußenminister. Die Sicherheit Westeuropas muß ja nicht auf der Fähigkeit beruhen, dadurch abzuschrecken, daß sie die Sowjetunion zerstören kann. Sie kann auch und sie sollte militärisch auf der Fähigkeit beruhen, sich so teuer wie möglich verteidigen zu können, damit sich ein militärischer Angriff nicht lohnt.
Es ist deshalb eine lohnende Aufgabe, eine vertrauensbildende Verteidigungsstruktur zu schaffen, die den anderen nicht die Entschuldigung für neue Rüstungsschritte liefert. Darauf beruht unser Gedanke der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit. Herr Außenminister, auch Ihr Gedanke beruht darauf.
Er ist auch eine große politische Chance. Das wird nicht zuletzt der Außenminister Genscher, der amtierende, erkannt haben, denn politisch beruht unsere Sicherheit auf Entspannung. Wir wollen deshalb eine zweite Phase der Entspannungspolitik, an deren Ende eine Sicherheitspartnerschaft im OstWest-Konflikt stehen muß. Wir wissen, daß wir dieses Konzept nur verwirklichen können, wenn sich die USA und die Sowjetunion daran beteiligen. Es ist kein Zufall, daß in unserem Nürnberger Beschluß der Absatz „Bündnispartnerschaft im Westen" vor dem Absatz „Sicherheitspartnerschaft im Ost-West-Konflikt" steht. Sicherheitspartnerschaft ist ein mutiges Konzept, weil es auf der Suche nach Partnern ist. Es wird scheitern, wenn sich keine Partner finden lassen. Aber es gibt keine Sicherheit auf, es setzt sie geradezu voraus. Deshalb setzt es auch die Bündnispartnerschaft im Westen voraus. Und ich nehme auf, was Helmut Schmidt dazu heute gesagt hat: als Gleiche und Freie und nicht als Klienten.
Meine Damen und Herren, wir wollen eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, deren Kehrseite strukturelle Verteidigungsfähigkeit ist. Dazu brauchen wir die Bundeswehr; das ist ihr grundgesetzlicher Auftrag. Dazu brauchen wir auch eine entsprechende Ausrüstung, Ausbildung, Strategie und Struktur. Deshalb haben wir auf unserem Bundesparteitag beschlossen: „Eine Reform der Streitkräftestruktur muß dem Ausbau der stabilitätsfördernden Fähigkeit zur Vorneverteidigung dienen und insbesondere die Funktion der Panzerabwehr, der Sperren und der Luftverteidigung stärken."
Herr Minister Wörner, wenn Sie zugehört haben, haben Sie vielleicht noch die Chance, einige von
den Unterstellungen oder Irrtümern zurückzunehmen, im Interesse der Bundeswehr. Wir haben allen Grund, dafür zu sorgen, daß die Bundeswehr nicht die Armee dieser oder jener Partei oder dieses oder jenes Ministers wird.
({4})
Wir werden die Bundeswehr fordern. Wir wissen, daß viele Soldaten und zivile Mitarbeiter bereit sind, sich den Anforderungen zu stellen, die sich aus einer Politik und aus einer Strategie ergeben, die dem Soldatenberuf wieder einen Sinn geben kann,
({5})
und zwar dadurch, daß der Soldat eine Strategie verfolgen kann, von der er weiß, sie wird nicht das zerstören, was er verteidigen soll, eine Strategie, von der er weiß, sie schreckt ab, weil sich ein Angriff nicht lohnt, eine Strategie, von der er weiß, sie wird den Weg zum Ausgleich und zum Frieden schaffen, einen Weg, auf dem wir vorankommen müssen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist schon überschritten.
Sicherheitspartnerschaft - und damit schließe ich - ist ein mutiges Konzept, aber kein tollkühnes.
({0})
Wir geben unsere Sicherheit nicht auf, sondern wir wollen sie für die Zukunft besser garantieren. Deshalb sind wir bereit, mehr Frieden zu wagen.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gansel, Sie sagten zu Beginn Ihrer Ausführungen, daß wir allen Anlaß haben, uns zu besinnen. In der Tat, wir in diesem Hause haben Anlaß, uns zu besinnen, in welche Richtung diese große demokratische Volkspartei SPD gegangen ist, seitdem sich unsere Wege getrennt haben. Auch Ihr sehr angenehm anzuhörender Vortrag kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie hier inzwischen einen sehr weiten Weg zurückgelegt haben, einen Weg, den wir mit Ihnen nicht gehen konnten und mit dem wir uns auch heute nicht identifizieren können.
Die Beratungen zum Einzelplan 14, meine Damen und Herren, werden demnächst zeigen - deshalb bin ich auch sehr froh, daß ich hier als Haushälter noch sprechen darf -, welch breiter Graben, welch sicherheitspolitischer Dissens die führenden Sozialdemokraten des Jahres 1986 von Positionen trennt, die sie in den Jahren vertreten haben, als die Verteidigungsminister noch Schmidt, Leber oder Apel hießen. - Herr Präsident, hier blinkt es. Kann man das bitte einmal abstellen.
({0})
- Ach, Herr Ehmke, auch wenn Sie sich hier noch so sehr als Rumpelstilzchen aufführen, Ihre Aufgeregtheiten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie sich offensichtlich getroffen fühlen.
({1})
Wir werden dies in den nächsten Wochen und Monaten auch noch sehr klarmachen.
Meine Damen und Herren, der Nürnberger Parteitag der Sozialdemokraten hat hier - ({2})
- Ach, Herr Kollege Horn, Sie sind doch sonst immer so verbindlich. Nun bleiben Sie einmal auf dem Teppich und lassen mich erst einmal ein bißchen reden. ({3})
Ihr Parteitag in Nürnberg hat in konsequenter Fortsetzung der Beschlüsse des Kölner Parteitages eine Ouvertüre geboten, deren Klänge alle diejenigen aufschrecken müssen, die sich verantwortlich fühlen für die Sicherheit der Bundesrepublik und die Funktionsfähigkeit des westlichen Bündnisses. Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, wir werden es Ihnen nicht ersparen, die Brüche und die Widersprüche in Ihrer Haltung zur Ausrüstung und Struktur der Bundeswehr aufzuzeigen.
({4})
Wir werden Sie fragen, ob die Forderung - dies ist heute bereits mehrfach angesprochen worden, und Ihre Reaktionen sind hier sehr eindeutig -, die Bewaffnung und Struktur der Bundeswehr so zu verändern, daß sie unverwechselbar der Verteidigung diene, etwa bedeuten soll, daß Ihre Verteidigungsminister in 13 Jahren eine Offensivarmee ausgerüstet oder andere als Defensivplanungen im Bündnis mitgetragen haben. Sie, die Sie doch alle wissen, in welchen Planungszeiträumen wir denken müssen, können doch nicht allen Ernstes unterstellen, daß dies in dreieinhalb Jahren möglich gewesen wäre. Herr von Bülow, Sie können noch so sehr abwiegeln, es bleibt trotzdem wahr.
({5})
Wir wollen wissen, wie das gehen soll - das müssen Sie uns erklären -, die konventionelle Kampfkraft zu verbessern - aber bitte schön, kosten darf es nichts. Sie wollen j a die Präsenz reduzieren und etliche Milliarden zusätzlich einsparen.
Wir wollen von Ihnen wissen, was denn nun gilt. Gilt das, was wir auf Seite 3 am Samstag in der „Welt" lesen konnten, daß Rote und GRÜNE in
Reinbek gemeinsam verhindert haben, daß eine Gelöbnisfeier stattfinden konnte,
({6})
oder stimmt das, was auf der nächsten Seite zu lesen ist, daß Kollege Egon Bahr in Kappeln gesagt hat, daß die Soldaten der Bundeswehr in diese Gesellschaft integriert sind? Soll das etwa heißen, daß in Zukunft die Wertschätzung der Soldaten, der jungen Wehrpflichtigen und der Berufssoldaten, davon abhängt, welche zufälligen Mehrheitsverhältnisse sich ergeben haben? Rot und grün: Bundeswehr, nein danke - so darf es doch wohl nicht wahr sein.
({7})
- Verehrte Frau Kollegin, dann müssen Sie diesen Konflikt auflösen. Stimmt etwa nicht, daß in Reinbek das Gelöbnis nicht stattfinden durfte, daß die Roten und GRÜNEN im Gemeinderat das mit einer Stimme Mehrheit verhindert haben? Das ist unangenehm für Sie, das sehe ich ja ein. Sie müssen sich dem aber stellen und sich mit Ihren Parteigenossen auseinandersetzen.
({8})
Ich wäre ja froh, wenn es nicht zutreffen würde.
Meine Damen und Herren, Ausgaben für Waffen und Munition sind nicht eben populär. Wer wüßte das nicht. Eine Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, die einen so enormen Finanzbedarf hat -51,3 Milliarden DM im Jahr 1987 -, muß stets um Akzeptanz in der Bevölkerung bemüht sein. Diese Akzeptanz hängt in besonderem Maße von einer Ausrüstung ab, die so gut ist, daß sie eine optimale Kriegsverhinderungsfunktion hat oder daß man im Verteidigungsfall erwarten kann, daß der Verteidigungsauftrag damit erfolgreich durchgeführt wird. Die Qualität einer Armee hängt aber nicht allein von ihrer Ausrüstung, sondern in ganz besonders hohem Maße von der Qualifikation, und der Motivation ihrer Soldaten ab. Deshalb, muß der Ausbildung der Soldaten, aber auch ihrem sozialen Umfeld, eine auch in der Mittelzuweisung sichtbar werdende Bedeutung zugemessen werden.
({9})
- Herr Ehmke, bitte kein Rumpelstilzchen mehr! Nicht so aufgeregt!
({10})
- Vielleicht hören Sie mir erst mal zu, dann hören Sie, was wir vorhaben, dann können wir anschließend weiterreden.
({11})
- Mein Gott, Herr Ehmke, regen Sie sich nicht so auf!
({12})
- Doch.
Erstens. Wir streben die Verbesserung bzw. den Erhalt der konventionellen Kampfkraft an mit dem Ziel, die nukleare Abhängigkeit zu verhindern.
Zweitens, der andere Schwerpunkt: Wir werden uns sorgfältig mit der sozialen Situation unserer Soldaten beschäftigen und über Maßnahmen beraten, die die besonderen Belastungen, denen die Soldaten und ihre Familien ausgesetzt sind, im Rahmen des finanziell Möglichen ausgleichen können.
({13})
Natürlich sind wir Freien Demokraten in erster Linie immer darauf bedacht, das konventionelle Gleichgewicht durch Rüstungskontrolle und Abrüstung sicherzustellen. Bevor nun eine neue Runde des Rüstungswettlaufs mit modernen zielsuchenden, zielgenauen und weitreichenden Waffen, die konventionell bestückt sind, beginnt, sollte der Westen mit dem Warschauer Pakt in Verhandlungen treten, die nicht nur ein solch gigantisches Kostenverursachendes Wettrüsten verhindern, sondern sich auch eine beidseitige strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zum Ziel setzen. Es ist doch der Warschauer Pakt, der nach Doktrin, Ausrüstung, Bewaffnung, Ausbildung, Erziehung, Dislozierung und Struktur offensiv ist. Die NATO ist weder von ihrer politischen Zielsetzung noch von ihrer militärischen Struktur her angriffsfähig oder gar angriffswillig.
Aber die Sowjetunion gibt vor, sich wegen einiger durch die östliche konventionelle Überlegenheit notwendig gewordenen nuklearen Elemente der Bündnisstrategie Sorgen zu machen. Wir sind gern bereit, diese Elemente in Frage zu stellen, wenn der Warschauer Pakt seinerseits bereit ist, strukturell und vom Kräftegleichgewicht her gesehen seine konventionelle Offensivfähigkeit, die er hat, einzustellen. Dieses ist auch die Voraussetzung für eine dauerhafte, in vollem Umfang der Möglichkeiten stattfindende Entspannungspolitik.
Meine Damen und Herren, Sicherheit - das ist ein Allgemeinplatz, der aber dennoch wahr ist - gibt es nicht zum Nulltarif. Deshalb sind die Vorschläge der Sozialdemokraten, z. B. zur Vorneverteidigung, fahrlässig und unrealistisch. Der Plan, die Vorneverteidigung vermehrt auf Reservisten zu stützen, schwächt die für die Vorneverteidigung absolut notwendige und vitale Präsenz. Anders gesagt: Stärkung der Vorneverteidigung durch Abbau der Präsenz - diese Rechnung geht nicht auf.
({14})
Ohne funktionierende Vorneverteidigung geben wir - das zeigt ein einziger Blick auf die Karte - das Gebiet der Bundesrepublik im Verteidigungsfall zeitlich und räumlich von vornherein der Vernichtung preis.
Darüber hinaus erscheint uns die Vorstellung, das Reservistenpotential noch stärker als ohnehin
geplant zu nutzen, unsozial. Die Reservisten sind ohnehin bis an die Grenzen des Zumutbaren belastet. Sie noch häufiger zu noch längeren Wehrübungen einzuziehen, ist weder Arbeitnehmern noch Arbeitgebern zuzumuten. Ich bin sicher, daß das den Fachleuten der SPD auch klar ist. Aber auf diese Art und Weise kann man sich sehr schön und sehr bequem vor der von dem letzten Verteidigungsminister der SPD, Herrn Apel, noch als notwendig bezeichneten Zustimmung zur Verlängerung der Wehrpflicht herumdrücken.
({15})
Ganz außerordentlich Mut allerdings beweist die SPD bei ihren Forderungen im sozialen Bereich. Hier strebt sie eine Regelung an, die die Zahl der Wochenstunden tariflich bei 40 festschreiben will. Ich frage: Warum fällt der SPD das erst jetzt ein, wo sie dreizehn Jahre lang unter SPD-Verteidigungsministern Gelegenheit hatte, eine solche Forderung Wirklichkeit werden zu lassen? Wir nehmen Ihnen durchaus ab, daß Ihnen - wie uns - die Verbesserung der sozialen Situation der Soldaten ein Anliegen ist. Sie sollten allerdings nicht in der Einsicht, doch nicht zur Kasse treten zu müssen, Erwartungen wecken, die Sie, wie Sie ganz genau wissen, nicht erfüllen können, weil sie unrealistisch sind.
({16})
Meine Fraktion hat schon zu Zeiten von Minister Leber und Apel eine deutliche Reduzierung der Dienstzeitbelastung unserer Soldaten verlangt. Bei wieviel Stunden der Sockel der durchschnittlichen Wochenbelastung festgelegt wird, ist nach unserer Ansicht dabei zunächst eine zweitrangige Frage. Die Grundforderung muß lauten, eine Regelung zu finden, an Hand derer ein vernünftiger Dienstzeitausgleich zu bemessen ist, in Form von Freizeit oder als finanzieller Ausgleich. Eines haben uns unsere zahlreichen Truppenbesuche deutlich gemacht: Wenn die Motivation unserer Soldaten aufrechterhalten werden soll, ist eine Reduzierung der Dienstzeitbelastung unumgänglich und prioritär.
({17})
Wir werden die dringend erforderliche Verbesserung der Unterhaltssicherung in Angriff nehmen und vor allem darauf drängen, daß eine dem Entwicklungshelfermodell angelehnte Regelung für arbeitslose Zeitsoldaten gefunden wird. Unser Staat darf es sich nicht leisten, Soldaten auf den Weg zum Sozialamt zu verweisen.
({18})
- Das eine schließt doch das andere nicht aus, Herr Bueb. Nun denken Sie doch nicht immer so in Schwarzweißkategorien!
({19})
Ebenso, meine Damen und Herren, werden wir dem Familienumfeld der Soldaten größere Aufmerksamkeit widmen müssen. Wir werden Regelungen finden müssen, Ehefrauen und Kinder, die von den berufsbedingten Versetzungen des Ehemannes oder Vaters besonders beeinträchtigt werden, vor vermeidbaren Härten zu schützen.
({20})
Es ist unter dem Gesichtspunkt der starken Berufskonkurrenz junger Menschen, die bereits in der Schule beginnt, völlig unzumutbar, daß Soldatenkinder noch in der Studienstufe die Schule wegen Umzugs wechseln sollen. Wir müssen gemeinsam Regelungen finden, die solche und vergleichbare Härten in der Schul- und Berufsausbildung vermeiden.
Nach meiner persönlichen Ansicht ist es auch nicht länger hinzunehmen, daß Soldaten zugemutet wird, den Umzug von ihrem letzten Dienstort zum Wohnort zu bezahlen. Ich meine, daß man in diesem Zusammenhang den Vorschlag des Deutschen Bundeswehrverbandes aufgreifen sollte, den Soldaten die Wahlfreiheit zu überlassen, ob sie umziehen oder für diese letzte Zeit Trennungsgeld in Höhe der Umzugskosten erhalten.
({21})
Meine Damen und Herren, wir werden den Verteidigungshaushalt 1987 sehr sorgfältig beraten und sicher in Teilbereichen Änderungen vorschlagen. Wir werden uns dabei von dem Gedanken leiten lassen, daß, wenn wir von den Soldaten der Bundeswehr erwarten, daß sie im Verteidigungsfall bereit sein sollen, für diesen Staat und seine Bürger ihr Leben einzusetzen, wir als Politiker - und ich glaube auch: als Politiker aller Parteien -, die Pflicht haben, sie so auszustatten, daß ihre Überlebensfähigkeit bestmöglich gewährleistet wird.
Beschaffungsvorhaben haben sich prioritär an den sicherheitspolitischen Erfordernissen zu orientieren. Da sind wir uns sicherlich einig, daß industriepolitische Gedanken hier nur eine zweitrangige Rolle spielen dürfen. Rüstungspolitik ist für Liberale keine Beschäftigungspolitik.
({22})
Meine Damen und Herren, den sicherheitspolitischen Erfordernissen allerdings werden wir Rechnung tragen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat der Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Haushaltsrunde mit den großen Themen Außen- und Sicherheitspolitik fällt in eine Wahlkampfzeit hinein. Das ist auf der einen Seite erfreulich, weil dadurch wieder Dynamik in die Diskussion kommt, auf der anderen Seite ist es bedauerlich, weil, wie ich meine, die großen zentralen Fra17748
gen in diesem Themenbereich doch im alltäglichen Grabenkampf des Wahlkampfes zerrieben werden.
({0})
Nicht umsonst ist ja zum x-ten Male heute das Stichwort SPD-Parteitag gefallen, und die Bälle werden hin- und hergeschoben.
Ich möchte deshalb in meiner Einleitung auf zwei Reden eingehen, die heute gehalten wurden und die ausdrücklich aus dieser Wahlkampfzeit, aus dieser Aufgeregtheit des Wahlkampfes, herausgefallen sind, nämlich die Rede des ehemaligen Bundeskanzlers Schmidt und die Rede von Herrn Barzel.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat heute morgen - und es fällt mit auf der einen Seite doch etwas schwer, sein Lebenswerk zu würdigen, auf der anderen Seite soll man es nicht versäumen; der Mann hat immerhin eines getan, er hat die Politik, wie auch immer sie gestaltet war, vertreten, und er hat gestaltet, er hat Politik nicht verwaltet, das, was die heutige Regierungskoalition schon seit Jahren betreibt, nämlich sich reaktiv zu verhalten und nicht aktiv für eine bestimmte Politik, die man für richtig oder für falsch halten mag, einzutreten - gesagt - und ich darf ihn zitieren -, die europäischen Menschen suchten Geborgenheit auf drei Ebenen. Die erste sei die familiäre Ebene, die zweite die Ebene in den Gruppierungen Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion, und die dritte Ebene sei die der nationalstaatlichen Identität. Er meinte, daß wir auf den ersten beiden Ebenen eine gewisse Identität gefunden hätten und auf der letzten Ebene diese noch suchten.
Ich habe mich da im Moment gefragt: In welcher Welt lebt der Herr Schmidt denn? Ist er möglicherweise zuviel gereist, oder hat er einfach nicht mitbekommen oder hat er ignoriert, was in den letzten vier bis fünf Jahren in dieser Bundesrepublik passiert ist? Ich behaupte schlichtweg, daß Millionen Menschen, unabhängig von den GRÜNEN, unabhängig von der Friedensbewegung, Millionen Menschen in dieser Bundesrepublik Deutschland, auf die Straße gegangen sind, von der der Herr Bundeskanzler offensichtlich nicht viel hält - für ihn sind die Menschen auf der Straße offenbar nur insofern wichtig, als sie ihren Stimmzettel in die Urne werfen; ansonsten möchte er mit ihnen nicht viel zu tun haben - um ihrem Protest Ausdruck zu geben, daß sie gegen Massenvernichtungsmittel sind, die in unser Land hineinkommen, daß sie gegen Atomkraft sind, die nicht beherrschbar ist. Und ich möchte den Menschen sehen, der verantwortlich sagen kann: Atomkraft ist sicher, und ich bin in der Lage, dies als Mensch, der hier und heute lebt, politisch zu verantworten. - Ich halte das für eine Anmaßung. Wenn Menschen demzufolge dagegen auf die Straße gehen gegen Wiederaufbereitungsanlagen, gegen den Abbau demokratischer Grundrechte - und das hat auch mit der heute morgen angesprochenen Asylfrage zu tun -, um damit zu dokumentieren, daß ihre Identität eben gebrochen oder gefährdet ist, und zwar von staatlicher Seite aus, und daß ihnen die Freude an der Gegenwart und die Chance zum Leben in der Zukunft genommen werden, dann kann man nicht sagen, daß wir im familiären, im politischen, im wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Bereich unsere Identität sicher haben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einmal Herrn Waigels Ausführungen aufgreifen, der leider nicht mehr da ist. Er hat davon gesprochen - offenbar ist das seine Meinung -, daß es Anspruch dieser Politik sein sollte, den Menschen die Angst zu nehmen. Ich kann nur sagen, daß ich froh bin, daß es Ihnen in den letzten vier bis sechs Jahren nicht gelungen ist, den Menschen die Angst vor Massenvernichtungsmitteln und Atomkraft zu nehmen. Ich bin froh, daß die Menschen überhaupt in der Lage sind, heutzutage noch Angst zu haben.
({1})
Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Herr Schmidt und Herr Dregger waren sich in einem Punkt einig. Ich möchte einmal konstruktiv versuchen, das in eine Argumentation hineinzubringen. Beide haben gesagt, der gesamtstrategische Rahmen der bundesdeutschen Sicherheitspolitik in Europa sei dadurch gekennzeichnet, daß wir durch die Mitgliedschaft in der Allianz den Rahmen erhalten, daß wir so leben, wie wir leben.
Ich meine, daß wir hier sehr leicht eine Unterstellung aufgreifen müssen, die dahintersteckt; sie besteht darin, daß dieser Rahmen ständig bedroht werde. Ob die einen auf seiten der CDU das direkt ausdrücken und in einen Antikommunismus kleiden oder ob die anderen es etwas vornehmer ausdrücken, letztlich bleibt doch die ständige Furcht, die damit geschürt wird, daß dieser Rahmen, in dem wir uns scheinbar alle wohlfühlen, natürlich von der anderen Seite bedroht wird.
({2})
Das Problem ist nur, daß die andere Seite das umgekehrt genauso sieht, so daß wir insofern durch diese Art und Weise der Auseinandersetzung - immer mehr Rüsten und immer die Schuld dem anderen in die Schuhe schieben - nicht weiterkommen.
Für mich ist aber ein anderer Punkt noch entscheidender. Selbst wenn man diesem Gedanken folgt, daß der andere diesen Rahmen bedroht und daß wir deshalb gegen seine Bedrohungsinstrumente eigene Bedrohungsinstrumente ins Spiel bringen müssen, selbst dann sagen wir, daß der Preis dafür, wenn dies so stimmt, für uns zu hoch ist. Das ist, so glaube ich, die entscheidende Diffenrenz der Friedensbewegung, der GRÜNEN zu dem Spektrum der Altparteien. Die entscheidende Differenz liegt darin, daß wir die NATO-Strategie über ihre nach außenhin formulierte Abschreckungsfunktion hinaus weiterdenken; daß wir die Nichtakzeptierbarkeit des Schlachtfeldes Mitteleuropa ins Spiel bringen und argumentativ-offensiv ablehnen; daß wir die Umfunktionierung des Bündnisses in
ein Instrument amerikanischer Hegemonialpolitik ablehnen.
Hier gilt nach wie vor das Stichwort Libyen. Heute morgen, glaube ich, war es Herr Dregger, der gesagt hat, wir sollten doch den Amerikanern endlich wieder die Stange halten, wir sollten für sie weiter eintreten und nicht an ihnen herumnörgeln. Ich kann nur sagen, er ignoriert, daß die NATO zu einem indirekten Instrument dafür wurde, daß der amerikanische Angriff auf Libyen gefahren werden konnte. Das wird hier überhaupt nicht ins Spiel gebracht.
Insofern kann man die Blindheit und naive Gläubigkeit jener Politiker diesem Instrument gegenüber sehen, die bei uns Verantwortung tragen. Man sieht einfach nicht das Gesamtinteresse der Amerikaner, das sich in den letzten Jahren gewandelt hat.
Insofern können Sie vom Harmel-Bericht -„Sicherheit und Entspannung in Europa"- reden, soviel Sie wollen. Entscheidend ist, daß sich etwas geändert hat, nämlich die amerikanische Globalstrategie und die Art und Weise, wie sich Amerika - das will ich erst einmal gar nicht kritisieren, ich will es feststellen - nun anders gegenüber der Sowjetunion verhalten will: es will sich nämlich durch Militarisierung, durch Aufrüstung, durch eine Politik der Stärke politische Optionen gegenüber der Sowjetunion verschaffen, die sie vorher nicht hatte.
({3})
Das ist in der Tat eine Veränderung der globalstrategischen Situation, die Auswirkung auf die bündnispolitische Diskussion in Europa hat, jedenfalls haben sollte.
({4})
Herrn Gansel, der als Linker in der SPD gilt, wie ich noch vor einigen Monaten gehört habe, spricht von Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland.
({5})
- Es gibt keine Schablone, aber Sie beanspruchen, einen wesentlichen Bestandteil in der Friedensbewegung zu gestalten. Ich sage Ihnen: wer für die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik ist, der mag dafür sein, daß die nukleare Schwelle abgesenkt wird, der mag dafür sein, daß die Bundesrepublik durch eine effektivere Bundeswehr, die umzugestalten ist, verteidigt wird, dennoch möchte ich ihm eine Rechnung aufmachen, wenn er schon die Konventionalisierung so hoch hält: Denken Sie einmal bitte in den beiden militärhistorischen Kategorien den künftigen Konfliktmöglichkeiten entlang nach: Mobilität und Feuerkraft. Mit der Mobilität ist es in der Bundesrepublik zu Ende. Da ist nicht mehr zu erreichen, höchstens nach hinten. Sie wollen die Feuerkraft erhöhen, d. h., die Fähigkeit, sich konventionell im grenznahen Bereich zu verteidigen. In Anbetracht der militär-technischen Entwicklung in Ost und West möchte ich Sie einmal fragen: Wissen Sie eigentlich, was das im Ernstfall bedeuten würde? Es ist doch Ihre eigene Fragestellung. Sie haben sich doch der Friedensbewegung angeschlossen und haben weitergedacht, was passiert, wenn die Abschreckung versagt, wenn der Krieg hier geführt werden muß. Ich kann Ihnen sagen: weder nuklear noch chemisch noch konventionell. Es ist das Anliegen der Friedensbewegung, das hier offensiv zu vertreten. Kein Krieg unter irgendwelchen Vorzeichen!
({6})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie zunächst eine Frage des Herrn Abgeordneten Berger?
Ja, bitte.
Herr Kollege Lange, darf ich Sie fragen, ob ich Sie dahin gehend richtig verstanden habe, daß Sie die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr verteidigen wollen, und ob das bedeutet, daß Sie sich der Bedrohung, von der ich ausdrücklich sprechen möchte, sozusagen vorauseilend unterwerfen würden?
Herr Kollege Berger, wir kennen uns aus vielen Diskussionen. Sie kennen meine Antwort. Nach dem heutigen Stand der Technik ist eine Verteidigung mit militärischen Mitteln für uns nicht nur nicht wünschbar, sie ist unverantwortlich, auch im ethischen Sinne. Deswegen treten wir für eine nicht-militärische Verteidigung ein. Wir werden deswegen im Moment belacht, belächelt; aber das ist immer so, wenn man neue Ideen ins Spiel bringt. Ich hoffe nur, daß sich das im Laufe der Diskussion noch fortsetzt.
({0})
Nur, wenn Sie hier ironische Bemerkungen machen, möchte ich Sie mit einer Gegenfrage konfrontieren: Wie sieht diese Bundesrepublik aus, wenn die Abschreckung, die Sie hochhalten, versagt?
({1})
Wenn Sie bereit wären, mit mir im Anschluß daran einmal zu diskutieren, dann können wir Ihre Antwort gern veröffentlichen. Sie werden nämlich das zugeben müssen, was viele Bundeswehroffiziere mir und den GRÜNEN in zahlreichen Diskussionen zugestanden haben: Diese Bundesrepublik wird es dann nicht mehr geben. Die Soldaten hier haben ein öffentliches Gelöbnis abgelegt, und sie schwören, daß sie für dieses Land eintreten, daß sie dieses Land verteidigen. Sie wissen: Es ist nicht mehr möglich, dieses Land zu verteidigen. Die NATO kann einen Krieg noch überleben,
({2})
aber nicht die Bundesrepublik. Herr Berger, damit ist Ihre Frage beantwortet.
({3})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horn?
Aber gerne.
Herr Kollege, nachdem Sie den Begriff der Feuerkraft gegenüber meinem Kollegen Gansel hier etwas polemisch und in abstrakter Weise ins Spiel gebracht haben, frage ich Sie: Wollen Sie wenigstens insoweit differenzieren, daß es sehr unterschiedliche Formen der Feuerkraft, nämlich eine ausgesprochen offensive, weit in das Hinterland des potentiellen Gegners hineinreichende Feuerkraft und eine Feuerkraft zur Stärkung der Panzerabwehr, zur Stärkung der Luftabwehr, gibt und daß dies eine ganz andere Form und ganz andere Dimensionen hat?
Herr Kollege Horn, es kann mich nicht trösten, wenn Sie eine Erhöhung der Munitionsvorräte fordern, die dann in das andere Land hineingetragen werden. Ich weiß nur eines - das wird in der offiziellen militärstrategischen Diskussion nicht bestritten -: Ein künftiger, sich eskalierender Konflikt wird sich hier in Mitteleuropa entzünden und eskalieren. Allein dies genügt mir schon für eine Antwort. Was dann passiert, interessiert mich, offengestanden, nicht mehr. Aber ein konventioneller Krieg in Europa findet in Mitteleuropa statt, und hier leben die Menschen, denen wir verantwortlich sind.
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- Nein.
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Nun wird noch eine weitere Zwischenfrage vom Abgeordneten Bohl gewünscht.
Aber das sollte dann die letzte sein. Ich weiß zwar nicht, wie es um meine Redezeit bestellt ist, aber ich möchte meine Redebeiträge nicht in Form der Beantwortung von Zwischenfragen bestreiten. - Bitte schön.
Herr Kollege Lange, da Sie von nicht-militärischer Verteidigung sprechen, die Ihnen vorschwebt: Könnten Sie uns ein Beispiel oder Vorbild für diese Form von Verteidigung darlegen, wie sie vielleicht in anderer Weise auf dieser Welt funktioniert oder praktiziert wird? Denken Sie an Polen oder an Afghanistan.
Herr Kollege Bohl, ich lade Sie gern zu einer Diskussion mit der Fraktion DIE GRÜNEN ein. Es ist Ihnen klar, daß es mir in diesem Rahmen - innerhalb der vier Minuten, die mir verbleiben - nicht möglich sein wird. Ich verweise auf die entsprechende reichhaltige Literatur, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt Konzepte, die dann greifen, wenn die Mehrzahl der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland hinter diesem Konzept steht. Dafür wollen wir werben, dafür wollen wir eintreten. Es wäre schön, wenn wir eine 1 gemeinsame Diskussion darüber beginnen könnten. Dazu bin ich gerne bereit.
Ich möchte am Ende auf den heute schon oft angesprochenen Zusammenhang zwischen Entspannung und Sicherheit zu sprechen kommen. Ich meine den Harmel-Bericht aus dem Jahre 1967. Herr Kollege Barzel, das war 1967, und ich möchte wiederholen: Die Zeiten haben sich geändert. Sie haben sich in Ihren Ausführungen nicht der Frage gestellt: Wollen die USA als Bündnisvormacht des Westens Entspannung? Ich kann mich an zahlreiche Äußerungen führender amerikanischer Politiker erinnern, die verächtlich über die Détente gesprochen haben, über die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition. Ich selbst habe verantwortliche Politiker in den USA hören können, die gesagt haben: Diese Zeit ist vorbei; es war ein Fehler, diese Politik zu betreiben.
Zweite Frage: Wollen die USA Sicherheit in dem Sinne, wie Sie sie verstehen? Oder könnte es nicht sein - ich hoffe, daß Sie sich zumindest mit der Frage auseinandergesetzt haben -, daß es doch so ist, wie ich vorhin ausführte, nämlich daß die USA ihre Politik in dem Sinne geändert haben, daß sie eine Politik des Drucks gegenüber der Sowjetunion betreiben, um damit ihre politischen Zielvorstellungen durchsetzen zu können, um den Einfluß der Sowjetunion eindämmen zu können? Das wäre eine höhere Risikoschwelle in der Politik mit militärischen Mitteln. Wenn das so ist, dann hat sich der Sicherheitsbegriff qualitativ geändert. Die Grundlage des Harmel-Berichts ist dadurch meiner Ansicht nach ausgehöhlt worden. Ich frage Sie, ob es zumindest nicht so sein könnte.
Noch ein letzter Exkurs über den heute schon so oft ins Feld geführte SPD-Parteitag. Ich meine, wenn Schwung schon eine Qualität ist, dann war dies ein erfolgreicher Parteitag. Da kam Dynamik auf. Und ich erkenne ausdrücklich den Anspruch von Johannes Rau an, der gesagt hat: Wir müssen Bewegung in die politische Landschaft in Europa bringen. Das ist ausdrücklich das, was auch wir akzeptieren. Nur frage ich mich, wenn ich mir seine Ausführungen zur NATO so ansehe, ob er hier nicht ein NATO-Wunschgemälde gezeichnet hat. Auch die Sprache in diesem Antrag, der dann durchgekommen ist, ist ja interessant, und Rau hat es im Grunde argumentativ auch so vertreten. Da steht drin:
Die Willensbildung im Bündnis muß den Beziehungen souveräner Vertragspartner entsprechen, die Sicherheitsinteressen aller Partner müssen in die Willensbildung des Bündnisses Eingang finden. Im Rahmen einer regional beschränkten und strikt defensiven Aufgabenstellung soll das Bündnis in seinem Geltungsbereich zur Kriegsverhütung beitragen ...
Darf, muß, soll, kann. Ich frage die SPD: Was ist denn, wenn dies alles nicht so sein wird? Dann reden wir weiter. Nur müssen Sie sich, wenn Sie Politik für die nächsten vier bis acht Jahre gestalten wollen, dieser Frage stellen: Was ist, wenn in der NATO das, was Sie hier beanspruchen, nicht
durchgesetzt wird? Wir stellen uns dieser Diskussion und sagen: Wir sind bereit,
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mit den Mitteln der Ankündigung und der Durchsetzung des NATO-Austritts uns gegenüber den USA, falls es notwendig werden sollte, die politische Option zu eröffnen, doch die Politik, die wir betreiben wollen, im Bündnis und notfalls außerhalb des Bündnisses durchzusetzen. Das ist ein erweiterter Spielraum in der Politik, und ich denke, daß wir hier ehrlicher sind als Sie. Von Ihnen hört man das nur hinter verschlossenen Türen. Ich finde, Sie sollten Ihre Skepsis gegenüber der NATO auch öffentlich bekunden.
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Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, die Sicherheitspolitik der Bundesregierung siecht im Grunde auf zwei Säulen vor sich hin: Die erste Säule ist die bedingungslose Unterwerfung unter die Politik einer Supermacht, der USA, die andere Säule ist die Förderung der Rüstungsindustrie, wo immer es nur geht und wann immer es nur geht. Daß diese Säulen brüchiger werden, als sie ohnehin schon sind, weil immer mehr Menschen diese Konstruktion nicht mehr zu akzeptieren bereit sind, dafür werden wir GRÜNEN jedenfalls weiterhin hart arbeiten.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Wir sind aber noch nicht am Schluß. Ich bitte noch für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit.
Erstens muß ich noch Unangenehmes mitteilen: Die Abgeordneten Dr. Schierholz und Frau Dr. Däubler-Gmelin haben die Begriffe „Heuchelei" und „Demagogie" auch in ihren möglichen Abwandlungen bis hin zum Persönlichen verwendet. Ich möchte hier noch einmal den Versuch machen, diese Begriffe aus der Debatte zu verbannen, und sie zurückweisen.
Das zweite ist: Der Abgeordnete Dr. von Bülow hat um eine Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung gebeten. Er hat dazu das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister für Verteidigung hat in einer ganzen Kette von Verfälschungen von Zitaten, die ich gebracht habe, auch ein Zitat verfälscht, das ich einem Moskauer Korrespondenten gegeben habe. Er hat in seiner Rede angeführt - ich zitiere das Protokoll -:
Der Kollege Bahr hat unlängst bei einem öffentlichen Gelöbnis, an dem er dankenswerterweise teilgenommen hat, im Unterschied zu anderen erklärt, daß die Bundeswehr selbstverständlich noch niemandem gedroht habe. Dafür aber sagt Herr von Bülow in Moskau in einem Interview mit einer Moskauer Zeitschrift, vom NATO-Bündnis dürfe keine Gefahr mehr für die Menschheit ausgehen.
Was ich gesagt habe, war etwas völlig anderes.
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Ich habe sinngemäß gesagt, wir stünden vor der Aufgabe, die Verteidigungsstrukturen beider Seiten so umzugestalten, daß beide Seiten wechselseitig keine Angst mehr voreinander haben müßten, und daß von beiden Seiten auch über die unfaßbare Zerstörungsgewalt der Nuklearwaffen, die 6 000mal der des ganzen Zweiten Weltkrieges entsprächen, keine Gefahr für das Überleben der Menschheit ausgehen dürfe. Ich betone: von beiden Seiten. Ich wäre dankbar, wenn sich der Verteidigungsminister künftig seine Arbeit der Auseinandersetzung mit Oppositionsabgeordneten nicht dadurch ständig erleichtert, daß er sie verfälscht zitiert.
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Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf morgen, Donnerstag, den 11. September 1986, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.