Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten abrüstungspolitischen Vorschlägen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Borgmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Maße, indem sich die sowjetische Bedrohungslegende in Verhandlungsangebote auflöst, entlarvt sich die westliche Notwehrpolitik mehr und mehr als rücksichtsloses Falkenkomplott. So langsam dämmert wohl auch den hiesigen Reagan-Fans, auf welche Art von Bündnispartnerschaft sie sich da eingelassen haben.
Am 18. April 1986 offerierte Michail Gorbatschow - nach dem Vorschlag, die strategischen Atomwaffen in Europa abzubauen - nun auch eine Reduzierung im konventionellen Bereich vom Atlantik bis zum Ural. Eben dieses konventionelle Übergewicht auf östlicher Seite wurde und wird im Westen als Grund für die Stationierung von einigen Tausend taktischen Atomwaffen angegeben. Die gigantische Bewaffnung der Sowjetunion im konventionellen Bereich - das Symbol der kommunistischen Bedrohung schlechthin - könnte damit erstmals ihre Zugkraft als Teufel an der Wand verlieren. Die atomaren Kurzstreckenraketen stehen nach den Vorschlägen Gorbatschows nun ebenfalls zur Verhandlung an.
Ein weiteres überraschendes Zugeständnis ist in der Zustimmung zu Verifikationsmöglichkeiten vor Ort zu sehen. Darüber hinaus kündigt Gorbatschow Verhandlungen über die Vernichtung von C-Waffen mit umfassenden internationalen Kontrollmöglichkeiten an.
Am 22. April 1986 bekräftigten die Vereinigten Staaten ihre Friedenssehnsucht mit dem dritten Atomtest seit Verkündung des einseitigen sowjetischen Testmoratoriums; ganz zu schweigen von der unmittelbar bevorstehenden Wiederaufnahme der C-Waffen-Produktion, dem SDI-Wahnsinn und dem Angriff auf Libyen.
Trotz allem wird von unserer Regierung weiter die Bündnistreue beschworen, obwohl die Vereinigten Staaten ohne vorherige Konsultation der Bundesregierung mit NATO-Einrichtungen einen Drittstaat angreifen.
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Die Bundesregierung erhebt keine Proteste gegen die amerikanischen Atomversuche, keinen Einspruch gegen die Contra-Millionen. Sie lehnt SDI nicht ab. Im Gegenteil: Sie plant sogar ein europäisches SDI-Pendant, EVI.
Trotz allem werden bei uns weiterhin die deutsch-amerikanischen SDI-Verhandlungen und deren Ergebnis als verhandlungstechnische Großtat verkauft. - Es darf gelacht werden! Trotz allem werden uns auf Grund des Mehrbedarfs - völlig klar - ungefähr ein Drittel mehr Pershings als bestellt vor die Nase gesetzt. Eine Mordsverteidigung, was?
Trotz allem schickt sich Helmut Kohl an, grünes Licht zur US-Produktion von binären chemischen Kampfstoffen - wie Giftgas auch umschrieben wird - zu geben. Das hieße auch grünes Licht für die Lagerung hier und nur hier.
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Ein Bonner Veto am 29. Mai im NATO-Rat könnte das verhindern, da im NATO-Rat formal im Konsens entschieden wird. Da sich alle Bundestagsparteien eindeutig gegen neue chemische Waffen auf deutschem Boden ausgesprochen haben, sollte man meinen: kein Problem. Doch Herr Kohl hat bereits ein Überdenken dieser Frage für den Krisenfall angekündigt. Wenn das nicht flexibel ist!
Meine Damen und Herren, was muß eigentlich noch alles passieren, bis sich unser Regierungschef einmal an seinen Amtseid erinnert und den faustdick ins Haus stehenden Schaden vom deutschen Volk wenden wird?
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Die GRÜNEN verkennen durchaus nicht den allgemein gehaltenen Tenor der Vorschläge aus Moskau. Die Ernsthaftigkeit derselben wird sich erweisen, wenn die Nagelprobe am Verhandlungstisch erfolgt.
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Während aus Washington bereits abgewunken wurde, ist hier selbst bei den Falken wohlwollende Prüfungsbereitschaft zu verzeichnen. Noch! Wie lange werden Sie in diesem Fall Ihre ungewohnte Aufmüpfigkeit gegenüber den USA noch durchhalten, meine Herren Bangemänner? Sie können sich wohl denken, daß wir von Herrn Kohl mindestens eine klare Stellungnahme gegen weitere US-Atomtests fordern, ein Veto in puncto C-Waffen und nachträgliches Einwirken auf Herrn Reagan in bezug auf die ernsthafte Einbeziehung der Abrüstungsvorschläge aus dem Kreml.
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Wohlgemerkt, noch sind die Gorbatschow-Vorschläge weitgefaßte Vorschläge mit viel Verhandlungsspielraum. Es liegt an der Bundesregierung, den Sinn atlantischer Partnerschaft neu zu definieren, aus einem simplen Grund: dem des Überlebens!
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Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann der verehrten Frau Kollegin Borgmann in zwei Punkten zustimmen, erstens ihrer Feststellung einer gigantischen sowjetischen Überrüstung im konventionellen Bereich und dann ihrem Hinweis im Zusammenhang mit der chemischen Rüstung. Auch an dieser Stelle verdient es wohl wieder festgehalten zu werden, daß hier seit 1969 eine Vorleistung unseres amerikanischen Bündnispartners vorliegt, keine chemischen Waffen zu produzieren. Die UdSSR hätte diese Möglichkeit durchaus nutzen können, auch ihrerseits auf diese Vorleistung einzugehen, wenn sie nicht inzwischen in einer Gesamtzahl von mehr als 400 000 t chemische Kampfstoffe aufgerüstet hätte. Ich meine, das muß man in diesem Zusammenhang auch einmal sagen. Vielleicht ergeben sich daraus auch Dinge in einer gemeinsamen Beratung mit den GRÜNEN.
Was die Vorschläge des sowjetischen Generalsekretärs in Ost-Berlin zum Abbau konventioneller Überrüstung und zum Abbau nuklearer Systeme in Europa anbetrifft, fällt es wohl zunächst einmal sehr schwer, diese im Detail zu kommentieren, weil Details in diesen Vorschlägen nicht vorliegen.
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Auch was die Absichtserklärungen anbetrifft, könnte man dies zweifellos eher dann tun, wenn von vornherein unterstellt werden könnte, daß diese Absichten noch einmal konkretisiert werden.
Dennoch darf ich feststellen, daß wir trotz dieser Schwierigkeiten diese Vorschläge oder Überlegungen nicht ohne Sympathie sehen, weil sie zunächst einmal in der Tat auf eine spezifische europäische Bedrohungslage abstellen. Vielleicht ergibt sich hier auch für die UdSSR die Möglichkeit, in Anbetracht ihrer Überrüstung im konventionellen Bereich, die Sie ja, Frau Borgmann, festgestellt haben, die entsprechenden Konsequenzen auch in einer Richtung zu ziehen, die wir im NATO-Bündnis bereits verwirklicht haben: eben unsere Streitkräfte so zu dislozieren, daß wir von einer strukturellen Nicht-Angriffsfähigkeit auf unserem Gebiet für die NATO sprechen können.
Wenn wir diese Vorschläge, diese Überlegungen nicht ohne Sympathie sehen, dann vielleicht auch deshalb, weil damit nach dem Vorschlag vom 15. Januar 1986 der sowjetische Generalsekretär einem Bedenken vor allen Dingen auch der Bundesregierung Rechnung getragen hat, die konventionellen Streitkräfte in Europa in die allgemeinen Abrüstungsvorschläge einzubeziehen. Aber ich will hier auch darauf hinweisen, daß damit der sowjetische Generalsekretär möglicherweise einen etwas dornenvollen Weg im Zusammenhang mit der öffentlichen und politischen Meinung in Europa geht, und zwar deshalb, weil wir gerade nach den Vorschlägen vom 15. Januar 1986 erlebt haben, daß, bezogen auf die verschiedenen Verhandlunsforen, an denen auch die UdSSR teilnimmt, den öffentlichen Ankündigungen z. B. nicht Instruktionen an die Unterhändler gefolgt sind, was das tatsächliche Verhandeln an Ort und Stelle anbetrifft.
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Damit könnte die UdSSR einen Weg beschreiten, der es für uns kritisch macht, mit der hier geäußerten Sympathie auch weiterhin derartige Ankündigungen zu verfolgen. Eines dürfte auch nicht im Interesse des sowjetischen Generalsekretärs liegen: daß er zum Ankündigungsgeneralsekretär wird - weil das viel von dem guten Willen in Europa zerstören würde, der offensichtlich breit, auch im Deutschen Bundestag, angesiedelt ist.
Wenn hier keine Unterfütterung gerade sowjetischer Vorstellungen erfolgt, ist das auch für die Meinungs- und Willensbildung des westlichen Bündnisses nicht gerade erleichternd; denn hier wird festgestellt, daß vom Atlantik bis zum Ural abgerüstet, verhandelt werden könnte. Das bezieht sich nach der derzeitigen Geschäftslage aber auf mehrere Verhandlungsforen, die es bereits gibt. Eine Präzisierung wäre deshalb angebracht, um auch die Meinungsbildung des westlichen Bündnisses zu erleichtern. Diese Aufgabe kommt jetzt in erster Linie dem sowjetischen Generalsekretär zu.
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Das Wort hat der Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten in den letzten Wochen mehrfach Grund, das Verhalten der USA zu kritisieren. Deshalb ist es positiv zu würdigen, daß der Präsident entschieden hat, zwei U-Boote abzuwracken, damit im Rahmen von SALT II zu bleiben. Ohne diese Entscheidung hätte es eine sehr ernste Lage ungebremster Rüstung gegeben.
Von der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Vertrages ist hier oft gesprochen worden. Auf die Offensivfähigkeit seiner Streitkräfte und entsprechende Planung und Manöver hat der Bundesminister der Verteidigung wiederholt und beschwörend hingewiesen. Nicht nur die Opposition, sondern der Westen insgesamt hatte nach den Vorschlägen Gorbatschows vom 15. Januar darauf hingewiesen, daß umfassende nukleare Abrüstung verlangt, auf dem konventionellen Gebiet entsprechende Vorschläge zu machen. Sie liegen jetzt vor.
Was Gorbatschow auf dem Parteitag der SED angeboten hat, gestattet konventionell echte Reduzierung durch abzulösende Verbände, d. h. auch schweres Gerät. Eine so weitgehende Bereitschaft hat es bisher noch nicht gegeben. Sie schließt ein die Reduktion der konventionellen Bedrohung, unter der sich Westeuropa seit Jahren fühlt. Mit diesem Argument hat die NATO ihre atomare Bewaffnung mit der Möglichkeit des Ersteinsatzes beschlossen.
Was hier angeboten wird, ist das Ende der konventionellen militärischen Nachkriegsentwicklung in Europa, nämlich durch immer neue Streitkräfte, Waffensysteme und einseitige Entscheidungen vorzugehen. Es ist die Bereitschaft, Vereinbarungen zwischen NATO und Warschauer Vertrag zu schließen, die kontrollierbar die Nichtangriffsfähigkeit konventionell erreichen sollen. Dies ist historisch das richtige Ziel, wenn man an Europa denkt.
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Nun gibt es Fragen, ob dies nicht Propaganda sei. Ein Streit darüber lohnt nicht. Man muß Gorbatschow testen.
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Dann kann man hören: Es ergeben sich eine Reihe von Fragen und das Bedürfnis nach zusätzlichen Erläuterungen. - Kollege Wimmer, Ihre Formulierung von dem „Ankündigungsgeneralsekretär" ist schon deshalb sehr ernst zu nehmen, weil Sie ihn damit in eine schwierige Lage in seinem eigenen Lande bringen könnten.
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Aber daß man zusätzliche Fragen stellen sollte, stimmt natürlich. Ich hatte Gelegenheit, solche Fragen Anfang der Woche in Moskau mit Herrn Dobrynin zu erörtern, und habe die Bundesregierung darüber informiert.
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Die Bundesregierung und die Koalitionspartner haben positiver und interessierter auf den Gorbatschow-Vorschlag reagiert als die USA. Hoffentlich bleibt die Bundesregierung bei einer konstruktiven
Haltung; denn hier geht es um unser vitales Interesse. Statt weitere Erläuterungen von Moskau einzufordern, ist es an der Zeit, endlich einmal einen westlichen Vorschlag auf den Tisch zu legen.
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Konventionelle Stabilität in Europa wäre eine ungeheure Veränderung, auch wenn die beiden Weltmächte sich nicht so schnell über atomare Waffen einigen könnten. Die Bundeswehr ist der stärkste konventionelle Faktor in Westeuropa. Wir haben auf diesem Gebiet militärisch ein größeres Gewicht als auf irgendeinem anderen, also auch größere Verantwortung. Unser Interesse ist konventionelle Nichtangriffsfähigkeit, sicher, kontrollierbar, wachsende Unabhängigkeit von atomaren Waffen. Wir drängen die Bundesregierung, in diese Richtung zu drängen. Der Bundeskanzler sollte die Gelegenheit des Weltwirtschaftsgipfels in Tokio benutzen, um dafür auch andere Partner zu gewinnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus den Reden der Vorgänger aus allen Fraktionen ist deutlich geworden, daß niemand in diesem Hause die Vorschläge des sowjetischen Parteisekretärs als Propaganda abtun will, sondern daß wir Substanz in diesen Vorschlägen erkennen. Es ist ja übrigens nicht der einzige Vorschlag des sowjetischen Parteisekretärs gewesen, sondern wir haben schon in der Vergangenheit, im Januar, aber auch bei dem Parteitag der KPdSU durch den sowjetischen Außenminister eine ganze Reihe von Vorschlägen gehört, die fugen, die zusammenpassen, und die immer wieder auf westliche Bedenken eingingen, die wir geäußert haben. Von daher, kann man sagen, ist dieser Vorschlag sehr interessant.
Aber man muß auch sagen, eine gewisse Skepsis ist solange berechtigt, als noch nicht zu erkennen ist, wie sich dieser Vorschlag in die praktischen Verhandlungen umsetzen läßt. Hier liegt der entscheidende Punkt. Wir wollen jetzt auch einmal an den bereits bestehenden Verhandlungstischen sehen, daß die Sowjetunion in vergleichsweise unbedeutenderen Fragen bereit ist nachzugeben. Ich denke hier an Stockholm, an die KVAE, wo es im Benehmen der Sowjetunion liegt, durch ein Zugeständnis zu sagen: Wir wollen in der Frage der vertrauensbildenden Maßnahmen weiterkommen. Leider ist ein solcher Vorschlag noch nicht da, so daß wir jetzt sagen sollten: Bitte, fangt einmal klein an! Wir wollen auf diese Vorschläge eingehen, aber wir wollen auch präzise wissen, wie sie umzusetzen sind. Das ist jetzt der entscheidende Punkt.
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Wir sollten bei der Beurteilung der sowjetischen Vorschläge natürlich etwas nicht aus dem Auge lassen. Es gibt manchmal hier Kollegen, die glauben,
Schäfer ({1})
man müsse vor allem auf die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten Rücksicht nehmen. Ich bin der Meinung, es ist zunächst auch auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik und in Europa Rücksicht zu nehmen.
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Hier, meine Damen und Herren, ist natürlich im Augenblick auch etwas zu spüren, wenn man sich mit unseren Wählern unterhält. Diese Vorschläge erwecken den Eindruck, die Sowjetunion ist in der Offensive, was die Abrüstung betrifft, und der Westen ist beschäftigt, zu erklären, weshalb eine militärische Aktion stattgefunden hat. Das ist natürlich ein oberflächlicher Eindruck. Aber wir müssen als Politiker darauf achten, daß sich dieser Eindruck nicht vertieft und daß wir wirklich seitens des Westens sehr bald auch die Sowjetunion dazu bringen, über ihre Vorschläge hinaus konkret zu werden und in den Abrüstungsverhandlungen einmal klar zu sagen, wo es langgeht.
Dabei ist für mich nicht entscheidend, an welchem Tisch das verhandelt wird. Ich meine aber, wir sollten zunächst einmal davon ausgehen, daß es mehrere Tische gibt, bei denen es bislang keinen Fortschritt gegeben hat; die sind vorhanden, und an denen sollte man zu Ergebnissen kommen. Aber das ist keine Glaubensfrage. Wenn sich aus den neuen Vorschlägen möglicherweise ergibt, daß eine andere Methode der Fortsetzung dieser Verhandlungen besser ist, dann sollten wir nicht zögern, eine solche Methode zu erwägen. Aber zunächst geht es darum, daß bei den Verhandlungen in Wien und in Stockholm Fortschritte erzielt werden, natürlich auch in Genf.
Ein letztes Problem kommt hinzu, das uns ja seit Jahren daran hindert, einen Fortschritt zu erzielen, und diesem Problem müssen wir uns mit ganz großer Aufmerksamkeit widmen; das ist die Frage der Verifikation. Auch hier hat Gorbatschow angedeutet, er sei bereit, vor Ort Inspektionen zuzulassen, aber wir wissen noch nicht genau, was das heißt. Hier ist der entscheidende Punkt dessen, was wir jetzt eruieren, herausfinden müssen, was wir auch mit westlichen Vorschlägen begleiten sollten. Dann können wir sagen, wir können bei den Abrüstungsverhandlungen weiterkommen. Ich bin der Meinung, daß die Sowjetunion ernsthaft daran interessiert ist, zu Abrüstungsergebnissen zu kommen,
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und zwar weil aus allen Analysen hervorgeht, auch aus den Analysen der Reden, die auf dem Parteitag der KPdSU gehalten worden sind, daß die Priorität dieses Generalsekretärs in seiner Bemühung liegt, die Wirtschaft seines Landes voranzubringen, zu reformieren. Dazu braucht er natürlich Ruhe an den äußeren Fronten. Das sollten wir im Westen nicht unterschätzen. Wir sollten die gegebenen Chancen zu nutzen versuchen.
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Meine Damen und Herren, wir sollten allerdings
der Sowjetunion auch sehr kritische Fragen über
die Umsetzung ihrer verbalen Vorschläge bei großen Parteitreffen stellen, und zwar am harten Verhandlungstisch; denn nur dort können Ergebnisse erzielt werden.
Vielen Dank.
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Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aktualität der Stunde gebietet es, sich auf die jüngsten sowjetischen Erklärungen zu konzentrieren. Herr Kollege Voigt, Generalsekretär Gorbatschow geht mit seinen Berliner Erklärungen auf Gedanken und Erwartungen ein, die die Bundesregierung öffentlich und auch im intensiven Meinungsaustausch mit der Sowjetunion zum Ausdruck gebracht hat. Die Bundesregierung hat in ihren Stellungnahmen zu den Vorschlägen des sowjetischen Generalsekretärs vom 15. Januar für eine stufenweise nukleare Abrüstung darauf hingewiesen, daß eine drastische Reduzierung der nuklearen Arsenale nur dann zu mehr Stabilität, insbesondere in Europa, führen werde, wenn es gelinge, im konventionellen Bereich ein ausgewogenes Kräfteverhältnis herzustellen und die chemischen Waffen weltweit zu beseitigen.
Wenn wir in Europa eine durchgreifende Wende zum Besseren erreichen wollen, dann müssen wir der konventionellen Stabilität ebensoviel Aufmerksamkeit widmen wie dem nuklearen Kräfteverhältnis. Der innere Zusammenhang zwischen allen Elementen des gesamten militärischen Kräfteverhältnisses muß berücksichtigt werden. Nur so kann das Ziel unserer Sicherheitspolitik erreicht werden, jeden Krieg zu verhindern, einen nuklearen ebenso wie einen konventionellen Krieg.
Mit den Waffen unserer Zeit wird ein konventioneller Krieg in Europa die Schrecken des Zweiten Weltkrieges in unvorstellbarem Maße übertreffen und der Zivilisation auf unserem Kontinent ein Ende machen. Daher begrüßt die Bundesregierung die Bereitschaft der Sowjetunion, auch die bisher noch fehlenden Bereiche des konventionellen Kräfteverhältnisses in ganz Europa in Verhandlungen einzubeziehen. Das Ziel solcher Verhandlungen muß es sein, eine bestehende Überlegenheit abzubauen und ein stabiles Gleichgewicht auf möglichst niedriger Ebene herzustellen.
Bei den MBFR-Verhandlungen in Wien muß sich zeigen, ob diese Fragen lösbar sind. Die erste östliche Reaktion auf die weiterführenden westlichen Vorschläge vom Dezember 1985 bei den MBFR-Verhandlungen sind unbefriedigend. Sie sollten nicht das letzte Wort des Ostens sein. Das gilt insbesondere für die Bereitschaft zur Verifikation und zur Lösung des Datenproblems durch Inspektion.
Die Bereitschaft, die der sowjetische Generalsekretär zu mehr Nachprüfbarkeit jetzt erklärt hat, muß sich nun am Verhandlungstisch in Wien bei den MBFR-Verhandlungen bewähren. Das gleiche gilt für die Genfer Verhandlungen über ein umfasBundesminister Genscher
sendes weltweites Verbot der chemischen Waffen. Ein Durchbruch in Wien, der jetzt in der Hand des Ostens liegt, würde die Aussicht vergrößern, auch für das konventionelle Kräfteverhältnis in ganz Europa eine Verhandlungslösung zu finden. Diese ganz Europa umfassende Lösung darf sich nicht nur auf zahlenmäßige Parameter beschränken, so unverzichtbar auch Parität als Element des Gleichgewichts ist. Wir müssen in Europa die geographischen Disparitäten berücksichtigen. Es ist nicht dasselbe, ob eine Einheit hinter den Ural oder hinter den Atlantischen Ozean zurückverlegt wird. Es ist noch weniger das gleiche, ob eine Einheit lediglich zurückgezogen oder aufgelöst wird.
Auf westlicher Seite ist zu berücksichtigen, daß unsere Sicherheit in die Strukturen des Bündnisses eingebettet bleiben muß. Der Grundsatz der Kollektivität ist für das Bündnis von entscheidender Bedeutung. Wir müssen in langfristiger Perspektive nicht nur über Zahlen sprechen, sondern auch über Bewaffnung und Ausrüstung, über Militärdoktrinen und Feindbilder.
Die Streitkräfte des westlichen Bündnisses sind schon heute weder nach ihrer Doktrin noch nach ihrer Struktur noch nach ihrer Stärke zu raumgreifenden Operationen und deshalb auch nicht zu einem Angriffskrieg fähig.
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Wichtige Elemente der konventionellen Stabilität werden schon in Stockholm behandelt. Eine Verständigung über ein inhaltsreiches Paket vertrauensbildender und sicherheitsbildender Maßnahmen, die helfen würden, die Sorge vor Überraschungsangriffen abzubauen, würde das Vorhaben von Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa fördern. Es wird jetzt wichtig sein, daß sich beide Seiten um rasche Fortschritte an den bestehenden Verhandlungstischen, an den verschiedenen Foren in Genf, in Stockholm und in Wien bemühen und gleichzeitig ihre Vorstellungen über die weitergehende Aufgabe konventioneller Stabilität in ganz Europa entwickeln und konkretisieren.
Dazu gehört auch die Frage, in welchem Rahmen Verhandlungen darüber stattfinden sollen. Hier wird sich Gelegenheit zur Erörterung bieten, wenn im Herbst die KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien zusammentritt. Die Bundesregierung wird darüber in der Westeuropäischen Union und im westlichen Bündnis mit ihren Partnern sprechen. Wir werden wie bisher unseren Einfluß im Bündnis geltend machen, um sowohl für die Gewährleistung der gemeinsamen westlichen Sicherheit wie für die Nutzung aller sich bietenden Möglichkeiten zur Verbesserung der West-Ost-Beziehungen durch Dialog und Zusammenarbeit zu sorgen. Die Äußerungen Generalsekretär Gorbatschows in Berlin haben bestätigt, daß der sowjetischen Führung die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses bewußt ist. Sie zeigen allerdings auch, daß es noch unterschiedliche Bewertungen der Ursachen und Folgen in der Entwicklung des militärischen Kräfteverhältnisses der letzten Jahre gibt. Es ist auf beiden Seiten notwendig, sich in die Lage der anderen Seite zu versetzen.
Keiner wird heute seine Sicherheit mit autonomen Mitteln ohne Rücksicht auf die Sicherheit der anderen Seite durchsetzen können.
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Die Notwendigkeit kooperativer Lösungen verstärkt sich und breitet sich auf immer breitere Felder aus. Solche kooperativen Lösungen, die auf Gleichgewicht und Stabilität zielen, sollen auf möglichst niedrigem Niveau erreicht werden. Das Streben nach Überlegenheit schafft gefährliche Instabilität. Unsere Sicherheitsinteressen werden aber genauso, und zwar auf andere Weise, gefährdet, wenn Instabilität durch einseitige Abrüstung angestrebt würde.
Es kommt jetzt darauf an, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Bundesrepublik Deutschland wird als festes Glied der westlichen Gemeinschaft und als ein verläßlicher Partner der Vertragspolitik mit unseren östlichen Nachbarn mit allen Kräften dafür eintreten, daß die zarte Pflanze der Verständigung in den West-Ost-Beziehungen, die in den letzten Monaten gewachsen ist, gehütet und gepflegt wird, damit sie wachsen und Wurzeln schlagen kann. Wir nehmen die sowjetischen Vorschläge ernst, und wir sind der Meinung, daß die Möglichkeiten für eine neue Phase in den West-Ost-Beziehungen, von denen der Bundeskanzler und Generalsekretär Honecker am 12. März 1985 gesprochen haben, nicht versäumt werden dürfen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, ich bin Ihnen dankbar für die Aussage, daß diese Sache inhaltlich nicht durch einen Methodenstreit zerredet werden sollte. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Es ist erfreulich, daß die Bundesregierung und die Koalitionsparteien, den jüngsten Gorbatschow-Vorschlag positiv und interessiert aufgenommen haben.
Die SPD begrüßt den Vorschlag des sowjetischen Parteichefs und diese Reaktion der Bundesregierung. Die SPD hat bereits sehr früh darauf gedrängt, daß die Sowjetunion sich zu einem konventionellen Gleichgewicht in Europa bereit findet. Gorbatschow hat auf dem Parteitag der SED ein ernst zu nehmendes Verhandlungsangebot gemacht: NATO und Warschauer Pakt sollen ihre Hochrüstung mit Land- und Luftstreitkräften in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural abbauen. Die abzubauenden Truppenverbände würden aufgelöst werden und ihre Waffen entweder vernichtet oder aus ganz Europa herausgebracht. Gleichzeitig würden auch die taktischen Nuklearwaffen beider Seiten abgebaut. Der Abbau würde national und
international überprüft, auch durch Inspektionen an Ort und Stelle. Ziel des Truppenabbaus muß die konventionelle Nichtangriffsfähigkeit in ganz Europa sein. Die SPD fordert schon in ihrem Leitantrag zur Friedens- und Sicherheitspolitik, daß sich auch die Staaten des Warschauer Pakts auf die Vorneverteidigung ihres Territoriums beschränken und auf die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive verzichten. Mit seinem Angebot nähert sich Gorbatschow diesen Vorstellungen, und er stellt erstmals Truppen auf dem Territorium der Sowjetunion selbst zur Disposition. Damit berücksichtigt der Vorschlag, daß sich in Europa über den räumlichen Geltungsbereich der Wiener MBFR-Verhandlungen hinaus konventionelle Streitkräfte gegenüberstehen, die so ausgewogen reduziert und umstrukturiert werden sollen, daß sich beide Seiten weniger bedroht und damit sicherer fühlen können.
Die Sowjetunion muß ihre Initiative konkretisieren; das ist keine Frage. Andererseits ist es das Interesse der Bundesrepublik, daß jetzt mit einem konstruktiven westlichen Vorschlag geantwortet wird.
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Man kann von der Sowjetunion nicht erwarten, daß sie unsere Interessen wahrnimmt und unsere Probleme löst.
Deshalb hat es jetzt keinen Zweck, über die mangelnde Konkretheit des Vorschlages zu klagen. Herr Schäfer, ich bin völlig Ihrer Auffassung: Wir sollten aufhören, tibetanische Gebetsmühlen herunterzuleiern. Wir müssen das Angebot ernstnehmen, indem wir unsere eigenen Interessen nennen. Wir brauchen einen westlichen Vorschlag, der nunmehr unsere Ziele und mögliche Wege dahin aufzeigt.
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Ich fordere die Bundesregierung auf, hierzu eigene Beiträge zu leisten und unsere Verbündeten zu einem gemeinsamen Vorschlag zu drängen. Dabei kommt uns gelegen, daß der Gorbatschow-Vorschlag das Statusproblem einer Rüstungskontrollzone in Europa auflöst, indem auch sowjetisches Territorium bis zum Ural kontrolliert werden soll.
Darüber hinaus ist ein ausgewogener Truppenabbau in ganz Europa möglicherweise der einzige, bestimmt aber der sinnvollste Weg, um dem Verteidigungsminister jeder Bundesregierung aus den Personalproblemen der neunziger Jahre herauszuhelfen.
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Dabei mag es interessieren, daß die personelle Entwicklung nicht nur ein Problem der Bundeswehr, sondern beispielsweise auch der NVA ist.
Ein ausgewogener Truppenabbau in ganz Europa kann und muß die Schwäche der konventionellen Verteidigung in Westeuropa beseitigen. Wir dürfen uns von ersten Stellungnahmen gegen das sowjetische Angebot, die anderen Interessenlagen entspringen, nicht beeindrucken lassen. Wir müssen unsere Interessen wahrnehmen, in das Bündnis einbringen und durchsetzen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Abelein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob der Vorschlag von Gorbatschow das Ende der konventionellen Nachkriegsentwicklung in Europa einleitet, wird sich zeigen; wir wünschen es alle. Ob dieser Vorschlag die historische Bedeutung haben wird, wie Sie, Herr Bahr, das angeführt haben, wollen wir hoffen.
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Allerdings haben Sie aus Ihren Gesprächen in Moskau über die doch reichlich vagen Vorschläge von Gorbatschow, die zugegebenermaßen interessant sind, keine näheren Einzelheiten, die noch interessanter wären, nach hier mitgebracht.
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Ich bin der Meinung, daß diese Sache mit Gorbatschow sehr ernstzunehmen ist. Ich will jetzt diesen Vorschlag gar nicht als Propaganda abtun. Selbst wenn er Propaganda wäre, hätte ich gar nichts dagegen. Daß dieser Vorschlag mit auf die westliche Offentlichkeit zielt, ist doch einleuchtend. Das ist auch legitim. Daß er im Westen große Wirkungen hervorrufen kann, ist nicht nur eine Vermutung, sondern das wurde uns heute von den GRÜNEN demonstriert. Dort hat dieser Propagandavorschlag bereits einen vollen Erfolg gehabt, ohne daß Sie groß in Prüfungen eingetreten sind.
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- Jeder Vorschlag enthält auch ein Element der politischen Propaganda. Das müßten Sie, Herr Voigt, nach der Art, wie Sie politische Äußerungen und Vorschläge machen, doch ganz genau wissen; denn Sie machen es doch genauso.
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Ich habe gar nichts dagegen; denn die Politik spielt sich auch auf dem Gebiet der Propaganda ab.
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Interessant sind einige Elemente, einmal die Bereitschaft, die konventionelle Seite und die nuklearen taktischen Waffen mit einzubeziehen; denn das liegt in unserem Interesse. Hier haben wir in Mitteleuropa ein sehr ausgeprägtes eigenes Interesse, dieses Feld mit in die Abrüstungsverhandlungen einzubeziehen.
Definiert ist auch der Reduzierungsraum vom Atlantik bis zum Ural. Aber hier gibt es bereits eine Reihe von Fragen, die Herr Außenminister Genscher hier angeführt hat. Hier haben wir auch eigene Interessen, schier formuliert in dem Ausdruck der geographischen Symmetrie, die sehr beachtet
werden müssen. Das wird von Gorbatschow mit zu präzisieren sein - neben der zahlenmäßigen Reduzierung -, wie die Fragen der geographischen Symmetrie hier behandelt werden. Denn es ist in der Tat ein großer Unterschied, ob die reduzierten Truppen bereitstehen am Ural auf der einen Seite und über dem Atlantik auf der anderen Seite.
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Eines muß ebenfalls klar sein, aus unserem Interesse gesprochen: die NATO darf nicht in zwei verschiedene Gruppen aufgespalten werden; denn das wäre kein Beitrag für unsere Sicherheit.
Interessant ist drittens auch noch die Bereitschaft zu Inspektionen vor Ort, wobei mich allerdings die Hinzufügung von Gorbatschow außergewöhnlich mißtrauisch macht: „falls erforderlich". Damit ist ein Teil dieses hochinteressanten Vorschlags, der etwas neues bedeuten könnte, bereits wieder zurückgenommen worden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier auf eines aufmerksam machen. Die Dinge so einseitig auf die Seite des Westens abzuladen, wie das die GRÜNEN getan haben, ist in der Tat unseriös. Denn es wird ja über diese Dinge und über die Einzelheiten des Gorbatschow-Vorschlags schon verhandelt.
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- Seit elf Jahren. Das müßten Sie doch wissen. Es zeigt nicht eine große Aufmerksamkeit gegenüber diesen Dingen, wenn Sie das nicht wissen, daß seit Jahren, beispielsweise in Wien seit elf Jahren, über diese Fragen verhandelt wird. Es wird in Genf und in Stockholm verhandelt. Es gibt doch eine ganze Reihe von Vorleistungen des Westens auf diesem Gebiet. Beispielsweise laden wir Beobachter der Sowjetunion und des Ostblocks zu unseren Manövern ein; da können sie alles ganz genau ansehen.
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Wieso folgt denn die Sowjetunion, um ihre Vorschläge ein klein wenig gewichtiger zu machen, solchen, von uns einseitig ergriffenen Maßnahmen nicht nach? Wir haben einseitig eine ganz beträchtliche Zahl abgezogen, nämlich über 2 000 Nuklearwaffen taktischer Art aus Europa. Wieso folgt Gorbatschow dem beispielsweise nicht nach? Dazu bräuchte er gar keine großen Verhandlungen zu führen. Wir haben es ja auch nicht getan; wir haben es gemacht.
({8}) Diese Dinge werden wir jetzt abwarten.
Etwas muß in diesem Zusammenhang sehr beachtet werden. Diese Vorschläge von Gorbatschow müssen bei den bestehenden Verhandlungen besprochen werden. Es darf nicht zugelassen werden, daß das, was hier bereits verhandelt wird, auf Eis gelegt wird, um irgendeine neue Verhandlungsebene zu eröffnen; denn damit wäre überhaupt niemand gedient.
Also, die Vorschläge von Gorbatschow werden sehr ernst genommen. Das hat die Bundesregierung zum Ausdruck gebracht. Es bleibt aber eine Reihe von schwerwiegenden Fragen, die erst noch geklärt werden müssen. Ich hoffe, daß sich diese Fragen klären lassen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war schon nach dem ersten Redner geneigt zu sagen: Welche Einstimmigkeit hier in diesem Plenum! Aber nachdem ich den Kollegen Abelein gehört habe, fällt mir das etwas schwerer. Wer hätte eigentlich gedacht, nachdem am Dienstag vergangener Woche die Welt in Angst erstarrte, daß es vielleicht zum dritten Weltkrieg kommen könnte, und nachdem wir hier im Bundestag am letzten Freitag die Erhöhung der Dauer des Grundwehrdienstes um drei Monate beschlossen haben, daß wir in dieser Woche über derartige Abrüstungsvorschläge im konventionellen Bereich diskutieren?
Herr Genscher, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür, daß Sie den Begriff der Sicherheitspartnerschaft, auch wenn Sie ihn nicht genannt haben, aus meiner Sicht sehr klar definiert haben. Denn das, was Sie an Zusammenarbeit und deren Voraussetzungen hier erwähnt haben, entspricht unserer Auffassung von Sicherheitspartnerschaft.
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Wenn man die Vorschläge betrachtet, ist es richtig, wenn man zu dem Ergebnis kommt, daß eine Reihe von Fragen offen sind. Aber es liegt doch an uns, hier nicht darüber zu lamentieren, sondern die Initiative zu ergreifen
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und nicht nur darauf zu schielen, was unser Verbündeter in den Vereinigten Staaten sagt. Es genügt auch nicht, so, wie es der Bundeskanzler macht, darauf zu reagieren, daß man sagt, wie es bei allen bisherigen Abrüstungsvorschlägen der Fall gewesen ist - das hört man ja immer wieder -, der Vorschlag eines Abbaus der konventionellen Streitkräfte in Europa sei ein Schritt nach vorn und in die richtige Richtung, und man werde ihn sorgfältig prüfen.
Es liegt eine Reihe von Vorschlägen aus Ost und West in allen Bereichen auf dem Tisch.
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Die Reaktion der Politiker, je nachdem, auf welcher Seite sie standen und von wem der Vorschlag kam, war immer die gleiche.
Deswegen, Herr Genscher, - ich muß auf den Außenminister zurückkommen - bin ich Ihnen außerordentlich dankbar, daß Sie auf einer Veranstaltung Ihrer Partei im nordrhein-westfälischen Neuss ganz klare Worte gefunden und gesagt haben: Es müssen endlich „Nägel mit Köpfen" gemacht werden. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie
das hier im Deutschen Bundestag so deutlich gesagt hätten.
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- Ja. Vielleicht ist es richtig, Herr Kollege Voigt, daß man erst einige Köpfe hier im Haus überzeugen muß, bevor man woanders Nägel mit Köpfen machen kann.
Ich wäre Ihnen also dankbar gewesen, wenn Sie das hier so deutlich gesagt hätten und vielleicht schon Initiativen der Bundesregierung hätten vortragen können, in welche Richtung Sie gehen.
Die Initiativen dürfen nicht nur in die eine Richtung, auf die amerikanischen Partner zu schielen, gehen, sondern müssen die Möglichkeiten ausloten und europäische Interessen vertreten. Denn im konventionellen Bereich haben wir eine sehr viel stärkere Position auch in Verhandlungen und Gesprächen als in allen anderen Abrüstungsbereichen, über die in Genf, Wien und Stockholm verhandelt wird.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat auf der 2. Sondergeneralversammlung für Abrüstung der Vereinten Nationen am 14. Juni 1982 in New York gesagt: Es genügt nicht, über Abrüstung und Rüstungskontrolle im Deutschen Bundestag auf Veranstaltungen von Parteien und auf Foren zu reden; die Ungeduld der Menschen ist nicht auf Dauer aufzuhalten, und die Ungeduld mit den Regierenden, die nur zu reden scheinen, während sie gleichzeitig immer neue todbringende Waffen entwickeln, produzieren und in Stellung bringen lassen, wächst ins Unermeßliche.
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Wir werden das Vertrauen der Menschen verspielen, wenn wir nicht jede Möglichkeit zur Reduzierung der militärischen Vernichtungspotentiale nutzen. Hier bietet sich eine große Chance gerade im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, aber auch des gesamten Deutschlands.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hauser ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Jungmann, hier lamentiert niemand. Wir vom Westen haben genug und ausgezeichnete Abrüstungsvorschläge auf den Tisch gelegt. Über die gilt es jetzt zu verhandeln. Ich bitte Sie, dies in Ihren Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren.
Ich könnte meine Rede auf den einen knappen Satz kaprizieren: Was wir uns nun in dieser konkreten Situation wünschen, ist, daß den sowjetischen Ankündigungen Taten folgen.
Aber ich möchte mich nun mit drei Punkten auseinandersetzen. Der Kreml hat inzwischen begriffen, daß man nicht von vertrauensbildenden Maßnahmen sprechen und auf einer anderen Ebene Kontrollen vor Ort ablehnen kann. Wir haben die sehr weitgehende Ankündigung von Herrn Gorbatschow schon anläßlich des Treffens mit Präsident Reagan in Genf gehört. Schon damals war von sowjetischer Seite von Kontrollen, wenn notwendig vor Ort, die Rede. Aber die Genfer Verhandlungen schleppen sich nun schon Monate hin, ohne daß die Sowjetunion auch nur ansatzweise der westlichen Forderung nach Kontrollen vor Ort nach eigener Wahl entsprochen hätte. So müssen wir auch jetzt wieder Herrn Gorbatschow fragen, wie ernst es ihm mit seiner Ankündigung von Kontrollen vor Ort ist. Wir müssen auch weiterhin feststellen, daß das generöse Angebot von Ost-Berlin mehr Fragen als Antworten aufwirft.
Der zweite Punkt. Eine Abrüstung - dies wurde hier schon des öfteren angesprochen - zwischen Atlantik und Ural wäre gut und schön, aber ist es nicht so, daß es diese Definition der Sowjetunion ermöglicht, jede Menge von Waffen aus einem künftigen Vertragsgebiet - nennen wir es einmal „Europa bis zum Ural" - abzuziehen und hinter dem Ural zu stationieren, während wir auf unserer kleinen Fläche dazu verdammt wären, einen solchen Vertrag bis auf den letzten Buchstaben auszufüllen? Müßte nicht ehrlicherweise von der Sowjetunion in Aussicht gestellt werden, eine wirkliche Abrüstung und nicht bloß eine Verschiebung von Waffen und Armeen hinter eine geographische Linie anzustreben? Noch einmal: Wie weit würde der Westen eine wie auch immer geartete Kontrolle bis zum Ural oder auch in den Gebieten der Sowjetunion durchführen dürfen, in denen die Truppen und Waffen tatsächlich stationiert sind?
Meine Damen und Herren, so interessant die Vorschläge von Gorbatschow sind, er muß tatsächlich erst noch beweisen, daß es mehr als nur eine Propagandaveranstaltung ist.
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Brisanz geht auch von der Formulierung „Rückzug der Waffen und Armeen auf das eigene Staatsgebiet" aus. Das Thema wurde schon x-mal diskutiert.
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- Jetzt hören Sie doch einmal zu, und regen Sie sich nicht so auf! Sie sollten insbesondere auf Ihren Adrenalinspiegel achten!
Die Sowjets müssen nur einige hundert Kilometer hinter die polnisch-sowjetische Grenze zurück, während die Amerikaner und Kanadier einige tausend Kilometer über den Atlantik nach Amerika abziehen müssen. Es kann doch nicht sein, daß Herr Gorbatschow dieses Problem einfach übersehen hat. Wir müssen jetzt schon die Forderung anmelden, daß dieses geographische Ungleichgewicht bei jeder Vereinbarung berücksichtigt werden muß. Die Lagerung des Ausrüstungsmaterials in den
Hauser ({2})
USA ist illusorisch, weil es unseren legitimen Sicherheitsinteressen nicht entspricht.
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Gleiche Sicherheit für alle, dies ist eine Formel, die von der Sowjetunion ständig betont wird, die wir auch für uns selbst angewendet wissen wollen.
Der dritte Punkt: Wird die Sowjetunion ihre Armeen z. B. aus der DDR abziehen wollen bzw. können? Die Truppen der Sowjetunion in den Warschauer-Pakt-Staaten haben ja bekanntlich nicht nur operative Aufträge nach Westen hin, sie sind auch da, um Ruhe im Cordon sanitaire der Sowjetunion zu erhalten. Berlin 1953, Warschau und Budapest 1956, Prag 1968 sind Eckdaten dafür, wie die Sowjetunion sich hier einläßt.
Wir sehen die historische Dimension des Gorbatschow-Vorschlags auch insoweit, als hier die Chance besteht, auf dem Weg über die Abrüstung in Europa ein Mehr an Freiheit auch für die seit Jahrzehnten unterjochten Völker des Ostens zu erreichen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt.
Herr Kollege, wenn ich mir Ihre Ausführungen durch den Kopf gehen lasse, dann höre ich daraus als Reaktion auf die Abrüstungsvorschläge von Generalsekretär Gorbatschow die Vorlage und Entwicklung eines neuen Feindbildes. Es wird das Schreckgespenst aufgebaut, als wenn die Sowjetunion, wenn sie ihre konventionellen Truppen hinter den Ural zurückzieht, dann plötzlich von dort aus einen Überraschungsangriff auf die Bundesrepublik Deutschland starten könnte.
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Ich möchte demgegenüber festhalten, daß die Vorschläge von Gorbatschow einen großen Schritt nach vorn in die richtige Richtung darstellen.
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Statt jetzt überall nur Vorbehalte und ein verstecktes Nein zu formulieren, sollten Sie lieber eigene Vorschläge vorlegen. Dazu waren Sie bisher weder bereit noch in der Lage.
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Der Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West wird auf unabsehbare Zeit andauern; aber wir müssen dazu beitragen, daß dieser Macht- und Systemkonflikt entmilitarisiert wird, d. h. daß es auf beiden Seiten zu einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit kommt. Die Sowjetunion ist jetzt bereit, dieses Ziel prinzipiell zu akzeptieren, und statt daran rumzumäkeln, sollten Sie das auch ohne Einschränkungen begrüßen.
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Wenn ich Ihre Ausführungen hier höre, frage ich - aus Zwischenrufen aus meiner Fraktion ist es schon deutlich geworden ob Sie Abrüstung überhaupt wollen oder ob Sie Abrüstung fürchten. Der Kollege Todenhöfer hat einmal in bezug auf die Wiener MBFR-Verhandlungen gesagt, das Schlimmste, was dem Westen passieren könnte, wäre, wenn der Osten seine Vorschläge annimmt. Das zeigt doch die Geisteshaltung, die zum Teil bei Ihnen vorherrscht.
Und Herr Dregger ist doch derjenige gewesen, der die amerikanischen Vorschläge zu den Mittelstreckenwaffen noch verschlechtert hat, weil er fürchtete, daß die Sowjetunion plötzlich auf die beiderseitige Nullösung eingehen könnte. Er fürchtet doch die Abrüstung aller Pershing und Cruise Missiles sogar dann, wenn die Sowjetunion alle SS-20 abziehen würde.
Auch beim Teststopp haben Sie Ihre Haltung geändert, als die Sowjetunion bereit war, auf die Verifikation einzugehen. In all diesen Feldern, glaube ich, ist in Wirklichkeit ein deutlicher Unterschied erkennbar: Sie machen Vorbehalte geltend, weil Sie in Wirklichkeit Verhandlungen führen, um Aufrüstungsschritte zu verschleiern, aber weniger, um Abrüstung zu ermöglichen.
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Bei einer solchen Grundeinstellung kann es zu keinen Ergebnissen kommen.
Generalsekretär Gorbatschow hat auch etwas zur chemiewaffenfreien Zone in Europa gesagt. Ich bin nach dem, was ich in den letzten Wochen aus der CDU/CSU und von der Bundesregierung gehört habe, der Überzeugung, daß beide gegen diesen Vorschlag einer chemiewaffenfreien Zone auch deshalb sind, weil sie sich völkerrechtlich die Option der späteren Stationierung von neuen chemischen Waffen in der Bundesrepublik Deutschland offenhalten wollen.
Ich habe vor einer Woche öffentlich gegenüber Bundeskanzler Kohl den Vorwurf erhoben, daß er die Unwahrheit gesagt habe in bezug auf die Produktion und Stationierung neuer chemischer Waffen und daß er die deutsche Bevölkerung über die grundlegenden strategischen Folgen und Erwägungen in bezug auf chemische Waffen im unklaren lasse, die in den USA zur Zeit stattfinden. Die CDU hat dies zurückgewiesen. Ich habe dem Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle und auch der Bundesregierung vor über einer Woche Material aus den Vereinigten Staaten übergeben. Die Bundesregierung und die CDU/CSU waren in der Sitzung des Unterausschusses am Mittwoch nicht in der Lage, auf dieses Material einzugehen, es zu kommentieren oder zu widerlegen. Aus diesem Grunde wiederhole ich meinen Vorwurf, daß ich auf Grund der Informationen, die ich habe, davon ausgehen muß, daß der Bundeskanzler die Unwahrheit gesagt hat, als er behauptete, daß die Ent16456
Voigt ({5})
scheidung über die Produktion chemischer Waffen eine ausschließlich amerikanische Angelegenheit sei. Richtig ist, daß die Amerikaner davon ausgehen, daß die NATO-Partner, also auch die Bundesrepublik Deutschland, dem zustimmen. Unrichtig war auch seine Behauptung, die Stationierungsentscheidung stelle sich in Friedenszeiten überhaupt nicht; und wenn, dann müßten die Bundesregierung und die NATO erst zustimmen. Richtig ist, daß die Amerikaner bereits heute von einer Zustimmung zu einer späteren Stationierung ausgehen, daß dies der Bundesregierung auch bekannt ist und daß deshalb die deutsche Öffentlichkeit über die tatsächlichen Absichten und Planungen irregeführt wird und ihr in Wirklichkeit die Absichten und Planungen verheimlicht werden.
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Richtig ist, daß nicht nur Bomben geplant werden mit chemischen Waffen, sondern daß auch weitreichende Raketenwerfer und Cruise Missiles mit chemischer Munition bestückt werden sollen. Dies ist ein Beitrag zur Entwicklung einer Komponenten-Abschreckung im Bereich der chemischen Waffen, die grundlegend gegen alle Vorstellungen verstößt, die bisher alle bisherigen Bundesregierungen vertreten haben. Ich möchte, daß Sie auf diese Vorwürfe hier im Parlament antworten und nicht erst dann reagieren, wenn die Entscheidungen nächste Woche und im Mai in der NATO gefallen sind. Und dann behaupten Sie, Sie hätten von allem nichts gewußt. In Wirklichkeit wird eine Irreführung der deutschen Öffentlichkeit betrieben.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich empfinde es, Herr Kollege Voigt, schon als einen Mißbrauch einer Aktuellen Stunde, die sich mit den Vorschlägen Generalsekretär Gorbatschows befaßt, wenn Sie ausschließlich zu den Chemiewaffen reden - und das, nachdem auch im Unterausschuß über diese Frage eingehend gesprochen worden ist,
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wo wir die Haltung des Bundeskanzlers nachdrücklich bekräftigt haben, die über jeden Zweifel erhaben klar ist. Und wer hier gelogen und wider besseres Wissen Behauptungen aufgestellt hat, werden wir in der Tat in einigen Wochen näher wissen.
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Zweitens stelle ich fest, daß Ihr Versuch, uns als den Beelzebub der Abrüstungsgegner hinzustellen, in einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem steht, was die Kollegen Horn und Bahr gesagt haben.
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Der Kollege Bahr hat gesagt, daß die Haltung der Bundesregierung konstruktiv sei. Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Der Kollege Horn hat festgestellt, daß gottlob alle Fraktionen dieses Hohen Hauses die Vorschläge Generalsekretär Gorbatschows konstruktiv und positiv beantwortet haben.
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Ich möchte feststellen, daß die Forderung, die auch Sie, Herr Kollege Bahr, erhoben haben, der Westen müsse eigene Vorschläge machen, in der Vergangenheit schon vielfältig positiv beantwortet worden ist. Wir haben die Vorschläge in Wien gemacht. Leider sind sie von sowjetischer Seite nicht so beantwortet worden, wie wir alle gehofft haben. Wir haben auf den Vorschlag zum INF-Bereich nach sehr eingehenden konstruktiven Konsultationen mit den Vereinigten Staaten einen gemeinsamen Vorschlag gemacht, über den jetzt in Genf verhandelt wird, wenn die Sowjetunion auf ihn eingeht.
Ich finde also, daß wir, der Westen, daß insbesondere auch die Bundesrepublik Deutschland, abrüstungspolitisch keineswegs ein Defizit haben und alles andere als in der Defensive sind. Wir haben konstruktiv und offensiv unsere Vorschläge unterbreitet.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, um den Wert der Vorschläge des sowjetischen Generalsekretärs etwas zu untersuchen, ein wenig auf den Zusammenhang eingehen. Es ist in der Tat bemerkenswert, daß wir nicht nur die Vorschläge vom 15. Januar haben, nicht nur den Vorschlag aus Ost-Berlin, sondern daß wir auch in der Rede des Generalsekretärs vor dem KPdSU-Parteitag und in der Resolution des KPdSU-Parteitags eine Reihe von beachtenswerten Tönen haben, daß wir Sätze finden, die jeder von uns unterzeichnen kann. Aber ich glaube, wir müssen auch sehen, aus welcher Situation diese Reden und diese Offensive Generalsekretär Gorbatschows gekommen ist. Es ist aus einer Situation gekommen, in der die Sowjetunion isoliert war und innenpolitisch Stagnation verbreitet war.
Das Fazit daraus ist, daß die Sowjetunion ein Interesse an Abrüstung haben könnte. Allerdings möchte ich auch darauf hinweisen, daß die Art der Präsentation, und, wenn Sie so wollen, auch der visionäre Charakter dieser Vorschläge zu einer gewissen Vorsicht mahnen.
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An die möchte ich für uns alle appellieren. Ich sage nicht, daß die sowjetischen Vorschläge Propaganda seien. Aber daß sie auch ein psychostrategisches Element enthalten, ist nicht zu übersehen. Daß diese psychostrategische Zielsetzung bei den KolleLamers
gen von den GRÜNEN schon vollsten Erfolg gehabt hat, haben wir heute morgen wieder gemerkt.
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Je größer der Erfolg des sowjetischen Generalsekretärs auf diesem psychostrategischen Feld ist, um so geringer werden die substantiellen Erfolge sein. Wir werden alles tun - darauf können Sie sicher bauen -, wir als Fraktion der CDU/CSU,
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daß das, was die Bundesregierung angekündigt hat, Wirklichkeit wird. Wir werden alles tun, um die Ernsthaftigkeit und die Substanz dieser Vorschläge zu prüfen.
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Wir werden Generalsekretär Gorbatschow testen, ob das, was er vorgetragen hat, Substanz hat oder ob es lediglich eine Psychostrategie ist, die sich nahtlos in die Vergangenheit einreiht, die wir zur Genüge kennen.
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Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Nur ganz wenige Bemerkungen, um einige Eindrücke zu korrigieren.
Das erste, was mich an einer Debatte etwas stört, die sonst sehr viel Übereinstimmung zutage gefördert hat: Es wird gelegentlich der Eindruck erweckt, als ob der Westen auf sowjetische Vorschläge reagiere. Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl in Stockholm wie in Wien wird über westliche Vorstellungen zur Abrüstung verhandelt.
Nun sage ich dazu: Man kann sich sehr wohl überlegen, man muß sich überlegen, an welchem Verhandlungstisch über die Reduzierung von Truppen einschließlich Gerät vom Atlantik bis zum Ural verhandelt werden soll und muß. Aber eines ist ebenso klar - ich bin dankbar, daß der Kollege Abelein das zum Ausdruck gebracht hat; ich möchte das festhalten; auch der Bundesaußenminister hat es für die Bundesregierung gesagt -: Wir verhandeln in Wien und in Stockholm über konkrete Möglichkeiten konventioneller Rüstungsbegrenzung. Anstatt sich an einen neuen Verhandlungstisch zu begeben, kommt es jetzt darauf an, die Sowjetunion an diesen beiden Verhandlungstischen zu fordern und ihr abzuverlangen, die ersten Schritte zu gehen, damit anschließend weitergegangen werden kann. Das ist der entscheidende Punkt.
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Dort wird man die Sowjetunion zunächst einmal auf Elemente ihres Vorschlags abfragen müssen.
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- Es ist gut, wenn Sie damit einverstanden sind. Dann haben wir insoweit Übereinstimmung.
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Es darf nämlich nicht passieren, daß wir um eines ferneren Ziels willen die ersten vernünftigen und möglichen Schritte nicht zusammen gehen.
Vorletzter Punkt: Hier wird allerlei über chemische Waffen geredet und behauptet. Kollege Voigt, dazu haben Sie mich provoziert. Ihre Behauptung trifft schlicht nicht zu. Sie wissen das.
({3})
Die Bundesregierung verfolgt mit einer Energie ohnegleichen das Ziel weltweiter vollständiger Abrüstung chemischer Waffen. Wir sind es, die die konstruktiven Vorstellungen auf den Tisch gelegt haben.
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Im übrigen sage ich Ihnen, lieber Herr Kollege Voigt, wenn Sie von chemiewaffenfreien Zonen reden: Welch eine Arroganz, ausschließlich eine Zone von chemischen Waffen befreien zu wollen! Anstatt das anspruchsvolle Ziel weltweiter Verbannung chemischer Waffen zu verfolgen,
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wollen Sie andere diesen Waffen aussetzen.
Ein letzter Hinweis: Wir reden über Verifikation, wir reden über Kontrollen. Wir waren uns alle einig - das möchte ich ebenfalls festhalten -, die Sowjetunion hier beim Wort zu nehmen.
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Nun ist in den letzten Tagen in Genf ein Vorschlag Gorbatschows zu chemischen Waffen auf den Tisch gelegt worden.
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- Ja. - Und was zeigt sich? Daß die Sowjetunion, obwohl er in seinem Vorschlag Inspektionen vor Ort, falls erforderlich, versprochen hatte, Verdachtskontrollen wiederum ablehnt.
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Also auch nach Gorbatschows Vorstellungen ist die
Verdachtskontrolle bei chemischen Waffen in Genf
abgelehnt worden. Das ist für uns - wie Sie wissen -, auch für Sie unakzeptabel.
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Daher werden wir an unseren Vorstellungen über vollständige chemische Abrüstung festhalten und darauf bestehen, daß Verifikationen - und das heißt auch Verdachtskontrollen - auf verläßlicher Basis durchgeführt werden.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben die Chance zur rechtzeitigen Klarstellung nicht genutzt.
({0})
Auch dieses Mal sind Sie ausweichend geblieben. Wir möchten von Ihnen aber klare Auskünfte über die Haltung der Bundesregierung haben, bevor in der NATO beschlossen wird und bevor Sie sich hinter NATO-Beschlüssen verstecken können, in deren Zusammenhang man manchmal erfährt, daß die Bundesregierung hoffe, hinter verschlossenen Türen werde anderes entschieden, als sie der deutschen Öffentlichkeit verkünde.
({1}) Das wäre eine gefährliche Politik.
Sie haben sich solchem Verdacht bei den Angriffen der amerikanischen Bomber auf Libyen ausgesetzt, und Sie setzen sich dem Verdacht aus bei den Entscheidungen der USA und der NATO über die Einführung einer neuen Generation chemischer Waffen.
({2})
Hier verlangen wir Klarheit. Und die Debatte darüber wird weiterlaufen, schon heute, wenn hier im Parlament Dringlichkeitsfragen vom Bundeskanzler zu beantworten sein werden, was die Bundesregierung wirklich über den bevorstehenden Angriff der USA auf die libyschen Städte gewußt hat.
({3})
- Das ist in der Tat das Problem, die Doppelzüngigkeit gegenüber der amerikanischen Offentlichkeit und der deutschen Öffentlichkeit, gegenüber der amerikanischen Regierung und gegenüber europäischen Regierungen.
({4})
Diese Unverläßlichkeit, diese Unberechenbarkeit kann sich deutsche Politik am allerwenigsten leisten.
({5})
Ich möchte noch einmal daran erinnern, was im Beitrag des Kollegen Jungmann angeklungen ist: am Dienstag morgen der Bomberangriff auf die libyschen Städte, am Donnerstagabend die Entscheidung über die Verlängerung der Wehrpflicht.
({6})
Das ist ein zufälliger Zusammenhang gewesen.
({7})
- Das ist ein zufälliger Zusammenhang gewesen. Aber daß in der Bundesrepublik viele Menschen dabei Angst gehabt haben, müssen doch auch Sie mitbekommen haben.
({8})
Ich will Ihnen sagen - Propaganda hin, Propaganda her -: Daß in diesen Tagen der sowjetische Generalsekretär nicht hinter verschlossenen Türen mit dem Politbüro in Moskau geblieben ist, daß er nach Berlin gefahren ist, daß er öffentlich auf dem SED-Parteitag einen Abrüstungsvorschlag gemacht hat, war in dieser konkreten Situation ein Beitrag zur Entspannung, und dafür mußte man dankbar sein.
({9})
Wie immer man diesen Vorschlag behandelt: Daß er als Signal in den USA angekommen ist, in der Bundesrepublik angekommen ist, ist gut. Es gäbe uns allen Anlaß, auch in der Sache sorgfältig und positiv zu reagieren.
({10})
- Es geht dabei auch um die Zustimmung für die NATO in der Bundesrepublik. Die Glaubwürdigkeit unserer Friedens-, Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik ist dadurch gefährdet, daß wir bei jedem Vorschlag der Gegenseite ausweichen. Werden allgemeine Vorschläge gemacht, dann heißt es, sie seien zu abstrakt. Werden konkrete Vorschläge gemacht, dann heißt es, der Teufel stecke im Detail. Werden Vorschläge für den nuklearen Bereich gemacht, dann heißt es: „Ja, aber das Ungleichgewicht im konventionellen Bereich!" Werden Vorschläge zum konventionellen Bereich gemacht, heißt es: „Ja, aber im atomaren Bereich!"
({11})
Werden Vorschläge zur Verifikation gemacht, die eine Veränderung zumindest der erklärten Position der Sowjetunion mit Rückwirkung auf ihr Bündnis und ihre Bevölkerung bedeuten, dann wird dies mit dem Hinweis herabgespielt, es hätte ja nur „erforderlichenfalls" geheißen. Als ob etwas auch erfolgen sollte, wenn es nicht erforderlich sei! Diese Politik der Reaktion macht uns unglaubwürdig.
({12})
Ich fordere Sie auf: Machen Sie endlich einmal einen positiven Schritt nach vorne. Minister Genscher, ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie am 21. April 1986 zu den Vorschlägen von Herrn Gorbatschow gesagt haben:
Es ist nun an uns, daß wir das sachliche und das substantielle Gespräch und die substantiellen Verhandlungen suchen über das konventionelle Kräfteverhältnis.
Es ist nun an uns, daß wir das sachliche und das substantielle Gespräch suchen. Ich bitte Sie, lassen Sie sich durch die Töne, die von einzelnen Rednern der Union gekommen sind, von dieser Absicht nicht abhalten.
({13})
Lassen Sie sich von dem Verteidigungsminister dabei nicht bremsen, und zeigen Sie endlich einmal Mut auch gegenüber unserem amerikanischen Verbündeten, wo es darum geht, unsere existentiellen deutschen und europäischen Interessen zu vertreten.
({14})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Petersen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Horn hat den Ausdruck von der tibetanischen Gebetsmühle benutzt. Ich finde, er hat recht. Wir sind schon so lange in diesem Spiel, das hin- und hergeht, daß wir die eigentlichen Fragen, den Wald vor lauter Bäumen schon gar nicht mehr sehen. Meine Damen und Herren, das eigentliche Problem sind doch nicht Waffen. Wir zählen Sprengköpfe, Kanonen, Bomben, Granaten und Flugzeuge; das ist alles ganz schön und gut, nur diese sind doch nicht das Problem. Waffen sind natürlich auch nicht die Antwort. Das Problem ist doch vielmehr die Angst.
Ich habe den Eindruck, daß die Sowjetunion vor uns Angst hat, aber nicht, weil wir die Pershing II oder den Tornado hätten, sondern weil wir frei sind und weil die Leute im Kreml - bitte, warum verhaften und sperren sie denn Menschen ein, die ein „falsches" Buch in der Tasche haben? - begriffen haben, daß Geschichte nicht von Bomben und Granaten gemacht wird, sondern von Träumen von Millionen von Menschen. Die Streitkraft der Freiheit wird immer überzeugender und aus dieser Sicht auch brisanter sein als alles, was der Marxismus, der Leninismus und all die anderen Ismen, die da drüben erstarrt sind, hervorzubringen in der Lage sind. Davor haben die Leute Angst.
Wie kann man diese Angst und damit auch die Überrüstung abbauen, also an die eigentliche Frage herangehen? Es gibt zwei Möglichkeiten.
Entweder folgen wir in dieser geistigen Auseinandersetzung denen und schränken auch unsere Freiheit ein,
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oder wir überlegen uns, wie wir die Menschen da drüben dazu bringen können, ihren Traum zu erfüllen. Unsere besten Verbündeten, Herr Kollege von den GRÜNEN, beim Eintreten für die Freiheit in der Welt sind die Millionen von Menschen im Ostblock. Reden Sie doch einmal mit denen. Fahren Sie einmal hinüber. Das sind die besten Verbündeten der Freiheit.
Ich meine, wir dürfen in dieser ganzen Auseinandersetzung - natürlich müssen wir die Raketen zählen - die eigentliche geistige Auseinandersetzung nicht vergessen.
Im Hinblick auf konkrete Vorschläge, die Sie immer fordern, Herr Voigt, ist zu sagen: Natürlich, wir sollten konkrete Vorschläge machen. Ich will einen ganz simplen Vorschlag machen.
Es wird seit elf Jahren in Wien verhandelt. Am 15. Dezember hat der Westen einen ganz revolutionären Vorschlag gemacht: Verzicht auf die Datendiskussion, an der sich die Sache festgehakt hatte. Am 15. Januar hat dann Gorbatschow eine Rede gehalten und gesagt: Jawohl, ich bin für Inspektionen. - Wir sind dann extra nach Wien gefahren, Herr Kollege Bahr, um uns anzuhören, wie denn der Osten reagiert - am 20. Februar. Es wurde gesagt: Jawohl, Inspektion ist hervorragend, aber nur da, wo wir das erlauben; Verdachtskontrollen vor Ort nur an den Orten, die wir vorher bestimmen. Und wenn ihr im Westen einen anderen Ort haben wollt und wir das ablehnen, dürft ihr das bitte nicht als Zeichen schlechten Gewissens werten. - Jetzt haben wir in Wien einen, zugegeben, zu engen Reduzierungsraum definiert. Warum exerzieren wir in diesem Reduzierungsraum nicht einmal das, was Gorbatschow vorn Atlantik bis zum Ural vorgeschlagen hat? Fangen wir doch da einmal konkret an, natürlich einschließlich der Inspektionen vor Ort. Dann könnten wir diesen Raum Schritt für Schritt erweitern. Diese Vision, vom Atlantik zum Ural, ist ja interessanterweise von de Gaulle. Ich finde sie hervorragend, genau wie die, daß man vielleicht im Jahre 2000 keine einzige Atombombe mehr hat.
({1})
Aber statt da Visionen zu portraitieren, die wohl kaum erreichbar sind, weil das Wissen aus den Köpfen der Menschen nicht wegzuoperieren ist, sollten wir doch einmal konkrete Schritte in dem Bereich tun, wo wir als Bündnisse gelernt haben, miteinander zu reden. In diesem Bereich sollten wir einmal anfangen, Schritt für Schritt diesen Raum erweitern. Dies ist mein ganz simpler Vorschlag. Dazu wäre gar keine große Vorbereitung mehr nötig.
Danke schön.
({2})
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Bevor ich den nächsten Punkt der Tagesordnung aufrufe, darf ich Ihnen mitteilen, daß interfraktio-
Präsident Dr. Jenninger
nell vereinbart wurde, Punkt 19 der verbundenen Tagesordnung zu erweitern um die
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verbot von Kernwaffenversuchen
- Drucksache 10/5399 -
und um die
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Borgmann, Lange. Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN
Vollständiges Atomteststopp-Abkommen
- Drucksache 10/5398 -.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Geplantes Mahnmal in Bonn
- Drucksache 10/4293 ({0}) Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({1})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Geplante zentrale Mahn- und Gedenkstätte im Regierungsviertel in Bonn
- Drucksache 10/4521 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({2})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Zentrale Gedenkstätte in der Bundeshauptstadt
- Drucksache 10/4998 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({3})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 18a bis c und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Thema möchte ich mir eine persönliche Vorbemerkung erlauben.
Als junger Oberbürgermeister stand ich bereits einmal vor einer Aufgabe, wie sie uns jetzt hier in Bonn gestellt ist. Vielleicht können die damals gewonnenen Erfahrungen und Einsichten für unsere Überlegungen heute nutzbar gemacht werden.
Anfang der 60er Jahre beschlossen die Bürger und die städtischen Körperschaften Fuldas, ihren Toten ein Ehren- und Mahnmal zu errichten. Zum Standort wurde die Michaelskirche gewählt, die alte Totenkirche der Benediktiner. Über einem Seiteneingang befindet sich ein Totenlicht aus gotischer Zeit, das entzündet wurde, wenn ein Toter dort aufgebahrt lag. Seitdem wir dort unser Mahn-und Ehrenmal errichtet haben, nimmt diese Totenleuchte an Gedenktagen wieder ihre alte Funktion wahr.
Der künstlerische Auftrag zur Gestaltung des Mahnmals wurde damals auf meinen Vorschlag hin Ewald Mataré erteilt. Er bearbeitete eine große Platte rheinischen Schiefers. Er . teilte sie in vier unsymmetrische Felder auf. Auf dem linken unteren Feld skulptierte er Todenschädel verschiedener Größe und auf dem rechten oberen Feld eine Figur, in der man einen Engel sehen kann, der nach oben weist.
Wir haben damals eine kurze, schlichte Widmungsinschrift angebracht, deren Text mir nicht mehr in Erinnerung ist. Auch diese kurze Widmungsinschrift stieß auf Kritik. Obwohl damals wesentlich jünger als heute, habe ich eine Entscheidung getroffen, die vielleicht salomonisch war, nämlich diese Widmungsinschrift wegzunehmen und keine neue anzubringen. Mir ist nicht bekanntgeworden, daß irgend jemand bisher eine solche Widmungsinschrift dort vermißt hätte. Die von Mataré gestaltete Platte spricht selbst, nicht in Worten, sondern in der Sprache der Kunst. Meine Hoffnung ist es, daß es gelingt, auch für diese Aufgabe in Bonn einen Künstler ähnlicher Qualität zu finden, dessen Werk wir nicht mit Inschriften erklären müssen.
Jeder, meine Damen und Herren, der vor St. Michael in Fulda verweilt, kann der Toten aller Völker gedenken, natürlich auch der Toten, die ihm besonders nahestehen, seien sie an der Front gefallen, seien sie als Zivilpersonen im Bombenhagel umgekommen, seien sie in den KZs umgebracht, seien sie bei der Flucht oder Vertreibung erschlagen. Die Totenschädel, die Mataré geformt hat, unterscheiden sich j a nicht nach Nationen, Konfessionen und Ideologien. Man kann nicht erkennen, wann und wo sie zu Tode gekommen sind. Im Tode sind wir alle gleich, und unsere Seelen - das glauben Christen, Moslems und Juden - sind in der Gerechtigkeit Gottes, die die unsere bei weitem übersteigt.
Gestatten Sie mir eine zweite Vorbemerkung: Der Bundespräsident steht über den Parteien. Keiner hat das Recht, ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Der Bundespräsident hat sich zur Frage des Mahnmals bisher nicht geäußert - jedenfalls nicht öffentlich. Der Auszug aus seiner Rede zum 8. Mai 1945, den die SPD in den letzten Wochen zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht hat, ist vom Bundespräsidenten weder für einen Ideenwettbewerb noch als Widmungsinschrift für ein Mahnmal bestimmt worden. Das hat die SPD nicht daran gehindert, den Versuch zu machen, den Bundespräsidenten mit Hilfe dieser Passage gegen die Mehrheit des Hauses, insbesondere gegen die Fraktion,
aus der er selbst hervorgegangen ist, in Stellung zu bringen.
({0})
- Herr Kollege Vogel, ich habe mich bisher nicht dazu geäußert.
({1})
- Sie können gar nicht zuhören.
Herr Kollege Mischnick hat diesen Versuch der SPD - ich zitiere wörtlich - als „Verirrung" bezeichnet, da er den Bundespräsidenten unvermeidlich in die politische Auseinandersetzung hineinziehe. Ich teile diese Bewertung. Statt über Redeauszüge des Bundespräsidenten zu streiten,
({2})
die er gar nicht im Hinblick auf das Mahnmal geäußert hat, wäre es geziemender, Herr Ehmke, mit dem Bundespräsidenten zu sprechen. Ich habe das bereits vor Wochen mit Gewinn getan. Ich bin überzeugt, daß der Bundespräsident auch den anderen Fraktionen in dieser Frage zur Verfügung stehen wird.
Nun zur Sache: Der Künstler, der den Auftrag erhält, unsere zentrale oder nationale Gedenkstätte zu gestalten, wird vor einer ungewöhnlich schweren Aufgabe stehen. Sie wird schwieriger sein als die Aufgabe, die Mataré in Fulda zu lösen hatte. Mataré konnte an das Ambiente der alten Totenkirche anknüpfen, die in ihrem Kern auf das Jahr 820 zurückgeht. An dem Standort, der bisher für unsere Gedenkstätte vorgesehen ist, gibt es nichts Vergleichbares. Es gibt dort eine Wiese und den Strom. Unser nationales Ehren- und Mahnmal wird daher allein aus der künstlerischen Kraft dessen wirken können, der den Auftrag erhält.
Daher sind nicht Vorgaben, die wir machen, gefragt, sondern künstlerische Qualität. Ein Künstler, der diesen Namen verdient, wird ohnehin nicht auf die Idee kommen, Opferkataloge, die wir hier verfassen, in Form von Reliefs oder in anderer Weise sichtbar zu machen.
({3})
Meine Damen und Herren, in der letzten Zeit wird zunmehmend die Ansicht geäußert, man könne die Opfer und die Täter nicht gemeinsam ehren. Dabei bleibt häufig offen, wer mit den Begriffen „Täter" und „Opfer" gemeint sein könnte.
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Überprüfen wir es an Hand der schrecklichen Verlustbilanz unseres Volkes seit 1914: 300 000 Deutsche starben seitdem als rassisch, religiös und politisch Verfolgte, 500 000 Deutsche starben als Opfer des gegen die Zivilbevölkerung geführten Bombenkrieges, 2,2 Millionen Deutsche starben als Opfer von Flucht und Vertreibung, 2 Millionen deutsche Soldaten starben im Ersten Weltkrieg, 3,1 Millionen deutsche Soldaten starben im Zweiten Weltkrieg,
({5})
außerdem blieben 1,2 Millionen deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg vermißt. Das sind fast 10 Millionen Angehörige unseres Volkes, die seit 1914 gewaltsam vom Leben zum Tode befördert wurden. Es gibt - wie wir wissen - kaum eine Familie in unserem Volk, die nicht einen Angehörigen auf diese oder jene Weise verloren hat. Ich frage: Wer will sich zum Richter dieser Toten aufspielen, die stumm sind und sich nicht verteidigen können? Wer will sich anmaßen, sie in die Kategorien Opfer und Täter einzuteilen? Ich bin jedenfalls nicht dazu bereit.
({6})
Ich schließe keinen dieser nahezu 10 Millionen Toten aus. Ich schließe sie alle ohne Ausnahmen in mein Gebet ein.
({7})
Ich will nichts anderes sein als ihr Anwalt und Fürsprech und zugleich der Anwalt und Fürsprech des gequälten und dezimierten Volkes, aus dem sie hervorgegangen sind.
({8})
Was die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angeht, möchte ich folgendes zu bedenken geben. Unter ihnen sind nicht wenige, die nur deshalb Opfer des Widerstandes wurden, weil sie nicht schon vorher als Soldaten gefallen waren. Denn es waren ja nicht wenige Soldaten, vielfach mehrfach verwundet und mit Tapferkeitsauszeichnungen hochdekoriert, die am 20. Juli 1944 den Aufstand gegen Hitler gewagt haben.
Eine weitere Überlegung. Von den tragischen Verstrickungen unserer Geschichte sind die meisten Opfer des Widerstandes gewiß nicht freier als z. B. mein Bruder, der 1944 als 18jähriger an der Ostfront vermißt blieb. Ich erwähne ihn, um damit deutlich zu machen, daß hinter den abstrakten Kollektivbezeichnungen wie die „Täter" und „Opfer" die Russen, die Deutschen, die Kommunisten, die Juden, jeweils einzelne Menschen mit ihrem individuellem, nicht wiederholbaren, unvergleichlichen Schicksal stehen. Es gehört wohl zu den größten Grausamkeiten unseres Jahrhunderts, die Einzelmenschen zu gesichtslosen Massenartikeln von Kollektiven herabzuwürdigen, meine Damen und Herren.
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Aus all dem möchte ich den Schluß ziehen: Man kann die Toten unseres Volkes nicht nach Spruchkammerkategorien in Gerechte und Ungerechte einteilen. Im übrigen, meine Damen und Herren, jeder einzelne dieser Toten hat bereits vor dem obersten Richter gestanden, vor dem auch wir einmal stehen werden. Ich bin sicher, daß dieser die Toten nicht nach der Uniform oder Sträflingsklei16462
dung beurteilen wird, die sie getragen haben, nicht nach der Frage, ob sie zu den Siegern oder zu den Besiegten gehört haben, und auch nicht nach der moralischen und politischen Qualität derer, die sie in den Tod geschickt haben.
({10})
Der Herrgott wird jeden einzelnen von uns für sein persönliches Verhalten in Anspruch nehmen und für sonst nichts.
Die Kolleginnen und Kollegen der SPD möchte ich bitten, noch einmal zu überlegen, ob sie an ihrem Vorschlag festhalten wollen, das Mahnmal mit einem „Denkhaus" zu verbinden, in dem, wie es in dem SPD-Antrag heißt - ich zitiere -, „die Menschenrechte und ihre Mißachtung durch Staats- und Kriegsterror dargestellt werden". Ich meine, daß die Museen, die in Berlin und Bonn jetzt geschaffen werden sollen, dafür der geeignetere Standort sind. Ich meine ferner, es muß auch einen Platz geben, an dem wir ohne volkspädagogische Absichten nur eines tun:
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den Millionen Toten, die zu Opfern der Kriege und unrechtmäßiger Gewalt wurden, unseren Respekt und unsere Ehrfurcht zu bekunfen. Das schließt, meine Damen und Herren, die Mahnung zum Frieden und zur Beachtung der Menschenrechte und des Völkerrechts ein. Diese Mahnung wird um so eindrucksvoller sein, je weniger penetrant, je schlichter und menschlicher sie zum Ausdruck kommt.
In dem von CDU/CSU und FDP eingebrachten Antrag heißt es, die Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland solle den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft, insbesondere den Toten unseres Volkes, gewidmet sein. An diesem Nachsatz ist Kritik geübt worden. Meine Damen und Herren, wir schließen natürlich in unser Gedenken die Toten aller Völker ein, alle Opfer der Kriege und unrechtmäßiger Gewalt.
Aber wir halten es nicht für kritikwürdig, eine Gedenkstätte in Deutschland in besonderer Weise den Deutschen zu widmen, den Deutschen, zu denen ich selbstverständlich die deutschen Juden rechne, die in den KZs ermordet wurden; denen, die auf der Flucht und Vertreibung, nur weil sie Deutsche waren, erschlagen wurden; den Deutschen, die als Zivilpersonen der Kriegsfurie zum Opfer fielen - vor allem dem Bombenkrieg -, und nicht zuletzt den deutschen Soldaten der beiden Weltkriege, die an den Fronten fielen oder in der Gefangenschaft umkamen und deren moralische Haltung, deren ehrenhafte Gesinnung und deren in der Regel - es gab auch Ausnahmen - untadeliges Verhalten auch von vielen unserer ehemaligen Kriegsgegner ausdrücklich anerkannt worden ist. Daß es auch haßerfüllte andere Urteile gibt, weiß ich, aber als Zeitzeuge sehe ich mich nicht in der Lage, mir diese Schmähungen unserer toten Soldaten zu eigen zu machen.
Was unsere Staatsbesucher angeht, möchte ich fogendes sagen. Wenn sie die Absicht haben, unsere Toten durch eine Kranzniederlegung zu ehren, dann entsprechen sie einer Übung, die in aller Welt selbstverständlich ist. Als wir im Dezember vergangenen Jahres als Parlamentsdelegation unter dem Vorsitz des Bundestagspräsidenten Jenninger an den Ehrenmälern der Sowjetunion in Moskau und Leningrad Kränze niederlegten, galt unsere Ehrung nicht allen Toten, sondern den Toten der Sowjetunion. Keiner von uns hatte Schwierigkeiten, den Kriegs- und Gewaltopfern der Sowjetunion diese Ehre zu erweisen. Ebenso klar möchte ich sagen: Kein ausländischer Besucher hat Anlaß, den Kriegs- und Gewaltopfern unseres Volkes eine entsprechende Ehrenbezeugung zu verweigern.
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Bei unserem Besuch in Moskau und Leningrad haben wir nicht nur die Toten der Sowjetunion geehrt; wir hatten auch Gelegenheit, in der Nähe von Moskau auf einem der wenigen Friedhöfe deutscher Soldaten, die nicht eingeebnet worden sind, einen Kranz niederzulegen. Das geschah in Abstimmung mit unseren sowjetischen Gastgebern, allerdings ohne ihre Begleitung.
Es hat damals mich und wohl nicht nur mich tief getroffen, daß ein Mitglied unserer Delegation, die Vertreterin der GRÜNEN, zwar bereit war, mit uns gemeinsam die Toten der Sowjetunion zu ehren, eine entsprechende Ehrung für die gefallenen deutschen Soldaten aber ablehnte.
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Meine Damen und Herren, ich will dazu nur sagen, daß mich die Eiseskälte, die daraus sprach, damals mit Entsetzen erfüllt hat.
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Wie in Moskau habe ich mich auch in Warschau darum bemüht, neben den Opfern des polnischen Volkes, insbesondere des Warschauer Aufstandes, auch die Toten unseres Volkes zu ehren. Einziger Ansatzpunkt in Warschau war dafür das einzige deutsche Soldatengrab, das dort nicht eingeebnet worden ist. Der Versuch, es zu finden und an ihm einen Kranz niederzulegen, gelang mir erst im zweiten Anlauf, weil sein einziger Schmuck, ein schlichtes Birkenkreuz, vorher abgerissen worden war.
Ich meine - und ich weiß, daß das auch die Ansicht der SPD und der FDP ist -, die Toten und ihre Grabstellen sollten nicht zwischen unseren Völkern stehen, sondern sie sollten uns zusammenführen, wie es im Westen und auch in Teilen der Dritten Welt selbstverständlich ist.
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In unserem Antrag heißt es schließlich, die Gedenkstätte „soll ein Zeichen der Trauer und Erschütterung und zugleich der Hoffnung und der Versöhnung sein"; in der Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge habe dieser Gedanke beispielgebend Ausdruck gefunden. Ich meiDr. Dregger
ne, so ist es. Die vom Volksbund gestalteten Soldatenfriedhöfe sind beispielhaft in ihrer Schlichtheit, ihrer Würde und in ihrer Mahnung zum Frieden.
Ich fasse zusammen. Wer sich anschickt, unserem Volk eine zentrale oder nationale Gedenkstätte zu geben, der sollte es ohne Anmaßung und ohne Selbstgerechtigkeit gegenüber den Opfern tun. Er sollte die Toten nicht zum Gegenstand der Vergangenheitsbewältigung machen. Er sollte sie ruhen lassen und sich vor ihnen verneigen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den vorliegenden Koalitionsantrag anguckt, könnte man meinen, es ginge hier heute um die geschäftsmäßige Entscheidung über einen Bauantrag der Bundesregierung. Aber schon die Rede vom Kollegen Dregger hat gezeigt, daß es um ein Bauwerk in dieser Debatte überhaupt nur insoweit geht, als es angemessener Ausdruck des politischen Selbstverständnisses und der politischen Selbstverständigung unseres Volkes in Erinnerung, Trauer und Ermahnung sein kann.
Diese Debatte ist darum so schwierig und so schmerzlich, weil wir uns alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße, langjährige Versäumnisse vorzuwerfen haben. Die Geschichte des Nazi-Unrechtsregimes in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten nur in begrenztem Maße aufgearbeitet worden. Anderes erschien wichtiger: der Neuanfang, das „Wirtschaftswunder", der Antikommunismus. Viele wollten vergessen und verdrängen. Davon legt die traurige Geschichte der NS-Prozesse ebenso Zeugnis ab wie die Auseinandersetzung um die Verjährung von NS-Verbrechen.
Heute scheinen Umfragen zu zeigen, daß eine Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger am liebsten einen Schlußstrich unter die offene Auseinandersetzung mit unserer Geschichte der Jahre von 1933 bis 1945 ziehen möchte. Da mag die Versuchung groß sein, mit einem Mahnmal gleichsam einen Schlußpunkt unter das Ganze zu setzen. Aber Bitburg mit allen seinen negativen Folgen wie die Kontroversen um das geplante Mahnmal und das geplante „Haus der Geschichte" bestätigen nur die jüdische Weisheit, daß das Vergessen die Gefangenschaft verlängert und das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt.
Unsere Geschichte wird uns um so öfter und um so gründlicher einholen, je mehr wir ihr davonzulaufen trachten. Was wir daher brauchen, ist eine tiefgehende Diskussion über unsere Geschichte mit dem Ziel, durch gemeinsame Vergewisserung über unsere demokratischen Grundüberzeugungen zu größerer Einigkeit zu kommen. Das Anhörungsverfahren meiner Fraktion hat gezeigt, wie weit wir in dieser Frage noch von einem tragfähigen Konsens entfernt sind.
Das wird sofort deutlich, wenn die Frage gestellt wird: Wessen wollen wir an einem solchen Mahnmal in der Bundeshauptstadt gedenken? Die Antwort meiner Fraktion lautet: alle Opfer der Gewaltherrschaft und der Kriege. So haben wir es übrigens in den vergangenen Jahrzehnten - erst im Bonner Hofgarten, dann auf dem Bonner Nordfriedhof - stets gehalten. Unsere Antwort betont, daß wir einer Beschränkung auf die deutschen Opfer der Gewaltherrschaft und die deutschen Toten des Krieges nicht zustimmen können.
Wir haben - Herr Dregger hat es schon erwähnt - in diesem Zusammenhang auf die große Rede des Herrn Bundespräsidenten vom 8. Mai vergangenen Jahres Bezug genommen. Diese Rede hat Schuld nicht verdrängt, sondern eingestanden, und sie hat die Opfer des Nazi-Regimes beim Namen genannt. Sie hat der ermordeten Juden, der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen und der umgebrachten Geisteskranken ebenso gedacht wie derer, die bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in der Gefangenschaft oder bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind; der Opfer des Widerstandes einschließlich des Widerstands der deutschen Kommunisten ebenso wie der Opfer des Widerstands in den von uns besetzten Ländern und der erschossenen Geiseln.
Mit der Bezugnahme auf die Rede des Herrn Bundespräsidenten, die in unserem Volk breite Zustimmung gefunden hat, Herr Dregger, wollten wir diesen Text nun nicht als Inschrift auf einem Mahnmal in der Bundeshauptstadt kanonisieren. Meiner Meinung nach - insoweit kann ich aber nur für mich selbst sprechen - ist der bisherige Text, an dem ja auch jahrzehntelang niemand Anstoß genommen hat, die Widmung an die Opfer der Gewaltherrschaft und der Kriege, in seiner Kürze überzeugend.
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Wohl aber scheinen uns die Worte des Herrn Bundespräsidenten - und das ist kein Mißbrauch des Herrn Bundespräsidenten; das war ein falscher Zungenschlag, Herr Dregger - für die Gestaltung des Mahnmals - auf seine ideenmäßige und künstlerische Gestaltung wird viel ankommen - insofern vorbildlich zu sein, als sie nichts verschweigen oder mythisch verschleiern, sondern das ebenso klar wie differenziert aussprechen, was ein Mahnmal ausdrücken muß.
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Eine Verständigung zwischen den Fraktionen auf eine solche Sinngebung ist vorerst gescheitert. Ein Teil der Unionsparteien will sich offenbar mit einer solchen Sinngebung nicht identifizieren.
Meinungsverschiedenheiten bestehen aber nicht nur hinsichtlich der Benennung der unterschiedlichen Gruppen der Opfer des Nazi-Regimes, zwischen denen im einzelnen sehr wohl differenziert werden muß. Meinungsverschiedenheiten - das zeigt gerade auch die öffentliche Diskussion - bestehen vor allem hinsichtlich der Möglichkeit gemeinsamen Gedenkens an die im Krieg gefallenen Soldaten und die Opfer des Unrechtsregimes.
Dr. Ehmke ({2})
Auf dem rechten Flügel unseres politischen Spektrums besteht die Tendenz, die Last des NS-Unrechts durch eine große, sich national gebende Geste zu relativieren, um gewissermaßen das „normale" nationale Gedenken wieder in sein Recht einzusetzen - so, als ob das Nazi-Unrecht nicht dem sogenannten „Normalen" entsprungen wäre und als ob es als ein zwar bedauerlicher, im Grunde aber nicht wirklich bedeutungsvoller Zwischenfall unserer Geschichte abgetan werden könnte. Warum dies politisch nicht nur falsch, sondern gefährlich ist, brauche ich nicht noch einmal darzulegen.
Auf der anderen Seite stößt die Idee eines Bonner Mahnmals für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft auf entschiedene Kritik aus den Kreisen derer, die gegen das Nazi-Regime Widerstand geleistet haben oder von ihm aus unterschiedlichen Gründen verfolgt worden sind. Man könne und dürfe nicht, so heißt es, der Opfer und der Täter gleichzeitig und am gleichen Ort gedenken, Opfer und Täter nicht gleichermaßen ehren. Das ist der Kern der Bedenken und Einwände, die von Freunden aus der Bonner Synagogengemeinde, vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, von Verfolgten-Organisationen, von Überlebenden und Hinterbliebenen des deutschen Widerstandes, von den Sinti und Roma, aber auch etwa von der Aktion Sühnezeichen und von vielen Stimmen aus unseren eigenen Reihen geltend gemacht werden.
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Diese Einwände, Herr Dregger, kann man nicht einfach übergehen. Wir hören sie nicht nur mit Verständnis, sondern mit Respekt, ja mit Demut. Wir versuchen, nachzuempfinden, was in einem Überlebenden der Verfolgung oder des Widerstandes vorgehen muß, wenn an ein und demselben Mahnmal seiner ermordeten Angehörigen und Freunde und der toten Soldaten aus Hitlers Armeen gedacht wird. Wir verstehen es auch gut, wenn zum Beispiel gerade die Sinti und Roma sich vehement gegen diesen Gedanken wenden. Denn wir haben j a nicht einmal wirklich versucht, das an ihnen begangene Unrecht wenigstens insoweit gutzumachen, als uns das möglich wäre. Auch wir sind daher an ihnen schuldig geworden, und wir werden es heute - in einem Klima abbröckelnder Toleranz gegenüber Minderheiten - erneut. Ich möchte der Kollegin Frau Hamm-Brücher sehr herzlich für den Aufsatz danken, den sie uns gestern zu dieser Frage zugeschickt hat.
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Die Position meiner Fraktion ist daher eindeutig: Wenn es nicht gelingen sollte, in einer gründlichen öffentlichen Diskussion zu einem breiten Konsens und damit zu neuer Gemeinsamkeit zu finden, kommt für uns die Errichtung eines Mahnmals in der Bundeshauptstadt nicht in Betracht.
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Wir werden keinem Vorschlag zustimmen, der nicht auch die Zustimmung der Verfolgten und des Widerstandes findet.
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Unsere Bitte an die Betroffenen geht aber dahin, sich der von uns gewünschten intensiven Diskussion auch in Zukunft nicht zu entziehen, auch weiterhin für Argumente Anderer offen und zur Änderung der eigenen Meinung bereit zu sein. Wir versprechen das auch für uns.
Ich selbst - ich halte es für meine Pflicht als Mitglied dieses Hohen Hauses, das auch offen auszusprechen - habe erhebliche Zweifel, ob die gegen ein Mahnmal in Bonn geltend gemachten Bedenken wirklich durchschlagend sind. In dem Schreiben von Überlebenden und Hinterbliebenen des deutschen Widerstandes an die Mitglieder des Deutschen Bundestages steht der Satz:
Der Riß, der 1933 bis 1945 durch das deutsche Volk ging, ist eine historische Tatsache, die nicht mehr ungeschehen gemacht, verleugnet und durch ein gemeinsames „Mahnmal" zugedeckt werden kann.
Nun: Weder wollen noch können wir Geschichte ungeschehen machen. Wir wollen aber auch das Geschehene weder verleugnen noch verdecken, wir wollen es offen ansprechen und aussprechen.
Aber müssen wir uns nicht auch die Frage stellen: Ist ein Volk, das seiner Toten nicht mehr gemeinsam gedenken kann, eigentlich noch ein Volk?
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Dabei spreche ich von Volk nicht im biologischen, sondern im politischen, im demokratischen Sinne, von Volk im Sinne von Demos. Ich bitte, mit zu überlegen: Kann ein politisches Gemeinwesen zu sich selber finden, wenn die in ihm lebendigen Kräfte selbst an den Gräbern nicht mehr zueinander finden?
Ich beschwöre nicht - Herr Dregger, wenn ich Sie recht verstanden habe, unterscheidet uns das, - den Tod als den großen Gleichmacher. Denn wenn es auch wahr ist, daß vor dem Tod und vor Gott alle Menschen gleich sind: Ein Mahnmal soll j a die Lebenden mahnen, ein Denkmal soll die Lebenden anhalten, der Toten und ihres Vermächtnisses zu gedenken. Das kann man allerdings nur dann gemeinsam, wenn man so sorgfältig differenziert, wie es der Herr Bundespräsident getan hat.
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Fähigkeit, gemeinsam zu trauern, so glaube ich, kann es ohne eine solche Differenzierung nicht geben.
Die bloße Gegenüberstellung von Opfern und Tätern - da stimme ich Ihnen zu - wird dieser Forderung nach Differenzierung nicht gerecht. Allerdings, Herr Kollege Dregger, ist das nicht eine Frage von Zahlen, und den „SpruchkammerbeDr. Ehmke ({9})
scheid" fand ich in diesem Zusammenhang auch nicht sehr angemessen.
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Niemand will an einem Mahnmal in Deutschland der KZ-Schergen oder der Mitglieder verbrecherischer Einsatzgruppen gedenken.
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Aber sollte es nicht auch Kritiker nachdenklich stimmen, daß z. B. ein Mann wie Willy Brandt in einem Gespräch mit der Gräfin Dönhoff gesagt und gegen deren Widerspruch darauf bestanden hat, daß für ihn ,,die Opfer des Krieges eigentlich auch immer gleichzeitig Opfer des Nazismus" gewesen seien?
Gerade wegen des Erfordernisses der Differenzierung kann man auch die Frage des Standortes eines Mahnmales nicht mit so banalen Argumenten entscheiden, wie daß ein Mahnmal am Rheinufer von den Besuchern der Bundeshauptstadt auch von den Schiffen her zu sehen sein würde. Für uns Sozialdemokraten ist auch hinsichtlich des Standortes eine weitere gründliche Diskussion erforderlich. Da es uns nicht um Zudecken, nicht um Gleichmacherei, sondern um Aufklären und Aufarbeiten geht, haben wir zusätzlich zu einem Mahnmal ein „Denkhaus" zur Diskussion gestellt. Mit der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten sind wir der Meinung, daß „Ursache und Wirkung, Schuld und Verantwortung des Nationalsozialismus für Gewaltherrschaft und Krieg" zum Ausdruck gebracht werden müssen und daß der Frauen und Männer des Widerstandes gedacht werden muß, „die die Ehre der Deutschen retteten".
Überlebende und Hinterbliebene des deutschen Widerstandes haben die Errichtung eines „Hauses des deutschen Widerstandes" vorgeschlagen als Ergänzung zu dem von der Bundesregierung geplanten „Haus der Geschichte". Ich halte wie sie die Beschränkung des geplanten Geschichtshauses auf die Geschichte der Bundesrepublik - die ja ohne die vorangegangene Zeit des sogenannten Dritten Reiches gar nicht zu verstehen ist - für falsch. Offengestanden hätte ich mir diese öffentliche Unterstützung meiner Kritik schon zu einem früheren Zeitpunkt gewünscht. Aber ich muß erneut zurückfragen: Kann ein „Haus der deutschen Geschichte" wahrhaftig sein, wenn es nicht zugleich auch ein Haus der Geschichte des Nazi-Unrechts, der Verfolgung und des Widerstandes ist?
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Darum bitte ich zu bedenken: Arbeitet man nicht denen in die Hände, die diesen Teil unserer Geschichte aus ihr streichen oder zudecken wollen, wenn man nun umgekehrt - im positiven Sinne - die Geschichte der Verfolgung und des Widerstandes von der Geschichte unseres Volkes absondert? Soll denn ihr, soll denn sein Vermächtnis nicht Gemeingut unseres ganzen Volkes werden? Soll in Zukunft eine Mehrheit der Toten des Krieges und eine
Minderheit der Toten der verfolgten Minderheiten gedenken und an dritter Stelle der Opfer des Widerstandes gedacht werden? Meine Antwort darauf lautet: Auch das wäre verhängnisvoll.
Darum bitte ich alle, uns alle hier im Hause, uns alle in der Bundesrepublik, ja, soweit das möglich ist, uns alle im geteilten Deutschland: Lassen Sie uns zusammen in einer ernsten und gründlichen Diskussion ausloten, ob wir nicht doch in Offenheit und mit der gebotenen Differenzierung der Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg gemeinsam gedenken können.
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Ernsthaftigkeit und Zuhörbereitschaft, nicht Eile und technokratische Effizienz sind gefragt. Lassen Sie uns einen neuen Versuch der Selbstverständigung unseres Volkes über grundlegende Gemeinsamkeiten deutscher Demokraten in dem Bewußtsein unternehmen, daß auch das Geheimnis der Freiheit in der Erinnerung liegt.
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Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die heutige Debatte könnte, betrachtet man die internen und öffentlichen Diskussionen der letzten Wochen und Monate, mit einem bekannten Buchtitel von Alexander und Margarete Mitscherlich überschrieben werden: „Die Unfähigkeit zu trauern". Vielleicht muß man hinzufügen, die Unfähigkeit von uns Deutschen zu trauern, die Unfähigkeit von uns allen, mit der Vergangenheit zu leben, sie als Teil unseres Deutschseins anzunehmen und zu ihr zu stehen, die Unfähigkeit anzuerkennen, daß wir gegenüber unzähligen Menschen im In- und Ausland im Hinblick auf unsere Vergangenheit einer moralischen Verpflichtung unterliegen, die uns Rücksichtnahme, Sensibilität und Feinfühligkeit abverlangt, die auch heute unser politisches Handeln bestimmen sollte, ja, muß. Wir müssen also lernen zu trauern; wir müssen lernen, die Gefühle der Opfer der Gewaltherrschaft, die Trauer der Hinterbliebenen und die Ängste der Lebenden zu respektieren. Wir müssen wieder fähig werden, die Trauer anderer zu akzeptieren. Wir müssen die Unfähigkeit zu trauern überwinden.
Die geplante Gedenkstätte sollte nach unserer Auffassung eine Stätte sein, dieser Trauer Ausdruck zu verleihen; sie sollte eine Stätte der Begegnung und Verständigung sein, der Begegnung in der Trauer und der Verständigung in dem Gedenken an die gemeinsamen Toten.
Darüber hinaus sollte die Gedenkstätte auch ein Mahnmal sein, sollte eine Mahnung der Toten an die Lebenden sein zur Versöhnung, Verständigung und zum Frieden. Wir wollen mit diesem Mahnmal Trauer und Erschütterung im Rückblick auf die Vergangenheit ausdrücken. Wir wollen aber auch ein Zeichen für die Zukunft setzen. Wir wollen ein
Zeichen der Bereitschaft zum Frieden mit den Toten, dabei auch ein Zeichen für den Frieden der Völker in der Welt setzen.
Wir wollen keine Tourismusattraktion und auch keine sinnentleerte Stätte der Politshow schaffen. Wir wollen unseren ausländischen Besuchern, aber auch allen anderen Menschen die Möglichkeit geben, der Toten zu gedenken und ihrem Willen zum Frieden, ihrem Wunsch nach Verständigung und vielleicht auch Versöhnung vor dem deutschen Volk Ausdruck geben.
Es wäre auch gut, wenn diese Gedenkstätte nicht nur für die ausländischen Staatsoberhäupter, sondern auch für die vielen tausend Besucher der Bundeshauptstadt den Wunsch unseres Volkes nach Frieden und Versöhnung dokumentieren könnte und zugleich ausdrücken würde, daß für das heutige demokratische und rechtsstaatliche Deutschland die Katastrophe des NS-Staates nicht ein Betriebsunfall der Geschichte, sondern eine ständige Mahnung und Verpflichtung zur Wachsamkeit gegenüber allen radikalen und rassistischen Erscheinungen geworden ist.
Eine Gedenkstätte, meine Damen und Herren, ersetzt allerdings weder das Nachdenken noch das Handeln. Die Diskussion darüber, wie die zentrale Gedenkstätte errichtet werden soll, zeigt, daß wir uns bei der Behandlung dieses Themas um größtmögliche Sensibilität bemühen müssen. Schon die bisherigen, sehr unterschiedlichen Meinungsäußerungen der in diesem Zusammenhang besonders betroffenen Vereinigungen und Verbände veranlassen mich gerade wegen ihrer Eindringlichkeit zu der Frage, ob wir uns mit diesem Vorhaben nicht vielleicht eine in Wahrheit unlösbare Aufgabe stellen.
({0})
Die Zukunft wird diese Frage beantworten.
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Deshalb empfinde ich es als unser aller Verantwortung, die parlamentarischen und außerparlamentarischen Beratungen angesichts der genannten moralischen und politischen Verpflichtungen von uns allen behutsam und ohne Zeitdruck zu führen. Einen wie auch immer gearteten Termindruck halte ich für äußerst schädlich
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und einer verantwortungsvollen Diskussion für mehr als abträglich.
Wir halten es für notwendig, meine Damen und Herren, daß, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird, allen Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, ihre Ansichten vorzutragen und hinsichtlich des Sinnes und der inhaltlichen Gestaltung einer Gedenkstätte ihre Vorschläge zu unterbreiten. Zu diesem Zweck - darüber sind wir uns in diesem Hause einig - sollen die zuständigen Ausschüsse eine öffentliche Anhörung durchführen. Wir sind der Meinung, alle Seiten sollten aufeinander zugehen und im Gespräch prüfen, ob und auf welchem Wege eine gemeinsame Grundlage für die Verwirklichung gefunden werden kann. Im Interesse des inneren Friedens unseres Landes wäre es auch kaum zu verantworten, sich einfach über die bisher geäußerten Bedenken und Vorstellungen hinwegzusetzen. Denn nichts verträgt eine Gedenkstätte der beabsichtigten Art weniger als Mißverständnisse. Davon gab es in der Vergangenheit bereits genug. Sie sind heute nicht weniger geworden.
In diesem Zusammenhang möchte ich gleich einem Mißverständnis vorbeugen, das durch die Berichterstattung der letzten Wochen entstanden sein könnte, wir planten etwa eine Gedenkstätte der Parlamentsmehrheit, ein Mahnmal der Koalition. Ein solches einseitiges Handeln darf es nicht geben.
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Meine Fraktion wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um das behutsame und eindringliche Wirken des Bundestagspräsidenten um einen Konsens zwischen den Fraktionen zu unterstützen.
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Wir sind der Auffassung, daß diese Gedenkstätte nur dann verwirklicht werden kann, wenn sich die weitaus überwiegende Mehrheit nicht nur des Bundestages, sondern der gesamten Bevölkerung mit der Konzeption und der inhaltlichen Gestaltung einverstanden erklären kann.
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Sollte diese Übereinstimmung auch nach ausgiebigen Beratungen nicht zu erzielen sein, halten wir es für eine sich aus der Problematik ergebende Selbstverständlichkeit, daß wir dann auf eine wie auch immer geartete Gedenkstätte verzichten. Sollten wir aber zu dem gemeinsamen Entschluß kommen, eine zentrale Gedenkstätte zu errichten, dann werden wir uns dessen erinnern, was Theodor Heuss im Jahre 1952 zur Weihe des Gedenksteins auf dem Boden des ehemaligen Konzentrationslagers bei Bergen-Belsen gesagt hat. Ich zitiere:
Wer als Deutscher spricht, muß sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hier von Deutschen begangen wurden, zu erkennen.
Und weiter:
Dieses Belsen und dieses Mal sind stellvertretend für ein Geschichtsschicksal. Es gilt den Söhnen und Töchtern fremder Nationen. Es gilt den deutschen und ausländischen Juden. Es gilt auch dem deutschen Volke.
Legt man das, was Theodor Heuss damals gesagt hat, heute zugrunde, dann sage ich: Ja, wir trauen uns die innere Freiheit zu, die volle Grausamkeit des Krieges und der begangenen Verbrechen zu erkennen. Ich sage: Ja, wir anerkennen die geplante Gedenkstätte als Mal stellvertretend für ein Geschichtsschicksal, stellvertretend für alle Toten, für alle Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft. Wir wollen mit dem Mahnmal der deutschen und ausländischen Juden, der Sinti und Roma gedenken, selbstverständlich aber auch der Soldaten, die
gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in der Kriegsgefangenschaft gestorben sind. Und wir wollen der Frauen und Kinder gedenken, die durch Kriegshandlungen, auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus ihrer Heimat ihr Leben lassen mußten.
Das Mahnmal soll stellvertretend stehen für diejenigen, die unter der Gewaltherrschaft Opfer ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens wurden, und denen gewidmet sein, die getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten oder einer anderen Rasse zugerechnet wurden. Dies ist unsere grundsätzliche Einstellung zu der inhaltlichen Bedeutung, die das Mahnmal erlangen sollte.
Darüber hinaus sind aber auch für uns die Worte, die der Bundespräsident am 8. Mai letzten Jahres hier an gleicher Stelle als Nekrolog gesprochen hat, von herausragender Bedeutung. Sie sind für uns eine Richtschnur, an der wir uns orientieren wollen. Diese Überlegungen des Bundespräsidenten sind und bleiben auch für die FDP-Fraktion richtungweisend.
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Wir wollen heute keine endgültigen Feststellungen treffen. Dafür ist es nach unserer Auffassung noch zu früh.
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Die heutige Debatte kann zu keiner abschließenden Meinungsbildung führen. Sie ist nur ein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Gedenkstätte. Sie ist gleichsam ein Zwischenbericht der aktuellen Situation, eine Rückbesinnung ohne falsche Emotionen. Wir sollten abwarten, was die Anhörung vor dem Innenausschuß erbringt, und dann - ich wiederhole das - ohne Zeitdruck darüber entscheiden, wie wir weiter verfahren wollen.
Meine Damen und Herren, das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt mehr als 40 Jahre zurück. Da darf es nun auf ein paar Monate nicht ankommen, wollen wir nicht durch hastige, unüberlegte Entscheidungen von vornherein die Akzeptanz der Gedenkstätte in der Bevölkerung in Frage stellen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Wahrscheinlich ist keine Menschheit dem Tode gegenüber so ratlos gewesen wie die heutige." Ich meine, wir sollten alle versuchen, ihn in diesem besonderen Fall zu widerlegen. Wir alle sollten versuchen, dem Tod, seinem Gedenken, seinen Mahnmalen nicht ratlos gegenüberzustehen.
Ich weiß, daß das sehr schwierig sein wird, und schließe unser Scheitern nicht aus. Deshalb bitte ich Sie alle: Treten wir dafür ein, daß es in dieser Frage zu keinen polemischen und parteipolitischen Auseinandersetzungen kommt! Treten wir dafür ein, daß sich das Land nicht in zwei Lager spaltet, sondern sich auf Dauer der moralischen Verpflichtung unserer Vergangenheit gegenüber den Toten und den Lebenden bewußt bleibt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frauen und Männer! Ich glaube, man würde die Toten würdiger ehren, wenn man auf das Denkmal verzichtete.
Die Bundesrepublik befindet sich gegenüber anderen Ländern, die Ehrenmale bauen, in einem Dilemma. Dort ist es meist nur ein ästhetisches Problem, das gelöst werden muß. Hier aber entsteht das Dilemma, daß die Ermordeten mit denen gemeinsam geehrt werden, die ihren Tod verursacht haben. Das scheint mir so bedenklich zu sein, daß es eines solchen kollektiven Denkmals nicht bedarf, daß es sich verbieten sollte. - Das hat Hans Schafgans, der Vorsitzende der Synagogengemeinde in Bonn, vor einem SPD-Hearing 1985 erklärt. Herr Kollege Dregger, das sollten Sie noch einmal durchdenken.
Herr Bundeskanzler, Herr Dregger, ich nehme Bezug auf das, was Sie auch in den Vorgesprächen geäußert haben, und kann Sie versichern: Es geht hier nicht darum, daß Sie Ihrer Toten, insbesondere auch der Toten aus Ihrer Verwandtschaft oder Ihrer Freunde, derer gedenken und sich an diese erinnern. Das Recht will Ihnen überhaupt keiner nehmen. Das ist Ihre ganz persönliche, private Sache. Seit es Menschen gibt, haben Sie ihrer Toten gedacht.
Aber der Bau eines Mahnmals und erst recht der Bau eines nationalen Mahnmals, getragen durch Regierung und Parlament in der Bundeshauptstadt, das ist doch etwas ganz anders. Nationale Gedenkstätten zeigen nicht nur, wie ein Volk und die Regierung mit Geschichte umgehen, sondern Denkmale sind vor allem auch gegenwartsbezogen. Die Errichtung eines Denkmals ist immer - und soll es ja wohl auch sein; so habe ich den Kollegen Dregger verstanden - auch ein Akt der Politik, ein Staatsakt, und ganz besonders dann, wenn es an so hervorragender Stelle in der Bundeshauptstadt errichtet werden soll. Daran, wie sich Planer und Erbauer eines solchen Denkmals mit unserer deutschen Geschichte auseinandersetzen, daran ist das Vorhaben eines nationalen Denkmals zu messen.
Auseinandersetzung mit unserer deutschen Geschichte würde aber zu allererst den Mut verlangen, die eigene Verantwortung, das eigene Beteiligt-Sein an der Leidenszufügung, an den Eroberungskriegen, Herr Dregger, und vor allem an der Ermordung von Millionen von Menschen auch zu akzeptieren. Dieses Akzeptieren der Verantwortung und des Beteiligtseins hat bis auf ganz wenige Ausnahmen in der Bundesrepublik nie stattgefunden.
Der Kollege Duve hat in dem schon erwähnten SPD-Hearing 1985 für mich Eindrucksvolles berichtet. Der Lektor Duve hat festgestellt, daß es so gut wie keine Erinnerungszeugnisse für die Nazizeit von Menschen gibt, die sich selbst als Täter bekennen, vielleicht gar nicht einmal als Täter in KZs, aber vielleicht als Täter und Beteiligte, die sagen: „Da, wo eine Synagoge angesteckt wurde, da war ich dabei."
Bei soviel Mord stehen wir bis heute da und haben keine Täter, die sich dazu bekennen. Auch der Kollege Dregger hat j a hier nicht davon gesprochen, was eigentlich die deutschen Soldaten, die er in Warschau und in Moskau geehrt hat, in der Sowjetunion und in Polen wollten, was sie dort gemacht haben, was sie dort an Leiden zugefügt haben.
Der Herr Bundeskanzler beruft sich auf die Gnade der späten Geburt. Von der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, von der Auseinandersetzung mit der Nazizeit ist keine Rede. Schweigen überdeckt das Annehmen eigener Verantwortung, das Zugeben eigenen Beteiligtseins.
Zumindest offizielles Gedenken, staatliche Erinnerung an die Verstorbenen, ob in der Rede eines Bundespräsidenten oder durch ein Denkmal, müßte immer auch die Geschichte reflektieren und benennen, die von den Toten nicht zu trennen ist. Das heißt, bei der Erinnerung an die Verantwortlichen und Beteiligten, an die Ermordung ist das Geschehen, das dahintersteckt, auch kenntlich zu machen. Bei der Gestaltung eines Denkmals in der Bundesrepublik, gar eines Denkmals, das auch die Zustimmung der Soldatenverbände finden muß, ist dies wohl kaum zu bewerkstelligen.
Das offizielle Gedenken an die Ermordeten müßte auf deren Schicksal eingehen. Die Unfaßbarkeit dessen, was in Deutschland von 1933 bis 1945 und von Deutschland aus durch seine Soldaten geschehen ist, ist kaum übersetzbar in ein steinernes oder sonstwie erfaßtes Denkmal.
Ein Unding ist es aber und völlig unvorstellbar, daß die Ehrung der Ermordeten und der Verursacher ihres Todes in einem Denkmal möglich sein soll. Nur wer die deutsche Geschichte für sich entsorgt hat, kann auf solche Gedanken kommen. Die Verhöhnung der Ermordeten, neues Unrecht an ihnen und vor allem eine Zumutung für die Überlebenden wären unausweichlich.
Deshalb lehnen wir gemeinsam mit den ehemaligen Widerstandskämpfern, deren Angehörigen, jüdischen Gemeinden, dem Zentralrat der Sinti und Roma, der Aktion Sühnezeichen und anderen die Errichtung dieses Denkmals ab.
Heute ging mir wie wahrscheinlich auch den anderen Fraktionen ein Brief des Simon-WiesenthalCenters aus Los Angeles zu, in dem davon gesprochen wird, daß die Errichtung eines solchen Denkmals, in dem Täter und Opfer gemeinsam geehrt oder ihrer gedacht werden soll, ein- kollektiver Schlag in das Gesicht von 6 Millionen ermordeten Juden sei.
Wir finden es gut und richtig, daß diese Debatte hier und heute endlich stattfinden kann. Wir haben uns ein halbes Jahr bemüht, die Auseinandersetzung, die Diskussion aus den Diensträumen des Präsidenten heraus hier in das Plenum des Deutschen Bundestages und damit in die Öffentlichkeit zu kriegen. Wir meinen, es war unerträglich, daß hinter verschlossenen Türen die Fragen des Ob und Vielleicht sogar auch schon des Wie eines nationalen Mahnmals durch einzelne Parteivertreter vorentschieden und die Öffentlichkeit an dieser Auseinandersetzung nicht beteiligt werden sollte.
Die Errichtung eines nationalen Mahnmals am Rhein wäre auch wegen der Wirkung auf die Politik der Gegenwart verhängnisvoll. Ein solches Mahnmal, gar noch in den monströsen Dimensionen, wie vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vorgeschlagen, würde sich in die Versuche der Bundesregierung einreihen, durch den Bau riesiger, fast schon sakraler Geschichtsmuseen in Berlin und Bonn ein neues bundesdeutsches Nationalgefühl zu schaffen. Ein solches Nationalbewußtsein brauchen wir nicht. Schlimmer noch: Solches Nationalbewußtsein hat in der jüngsten Vergangenheit für die Nachbarvölker und für die Deutschen verhängnisvolle Konsequenzen gehabt und zu Krieg und millionenfachem Tod geführt.
Eine solche Sinnstiftung, eine solche Ideologie, die nur dazu dient, die Bevölkerung auf hinlänglich bekannte Sachen zuzurichten, lehnen wir ab. Denkmale zur ideologischen Ausrichtung, zur militärischen Aufrüstung des Denkens haben wir schon genug.
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- Hören Sie zu, Herr Kollege. - Das Ehrenmal für das Heer in Koblenz, das für die Luftwaffe in Fürstenfeldbruck, das für die Marine in Laboe reichen ja wohl. Und die Denkmale, die die deutsche Nation hochhalten sollen, wie etwa die Walhalla bei Regensburg, die Befreiungshalle in Kelheim, das Niederwald-Denkmal oder das Hermanns-Denkmal reichen, sind mehr als genug. Diese Ehrenmale wurden mit Unsummen restauriert, wiederaufgebaut, gepflegt, und Tausende von Menschen werden an ihnen vorbeigeschleust.
Wir stellen dagegen die Ehrung der Toten, der Toten in den Konzentrationslagern, der Toten, die in den Fabriken als Sklaven und Zwangsarbeiter umgekommen sind. Die sollten wir zunächst ehren, dafür sollten wir Geld ausgeben und die Bürgerinitiativen und Geschichtswerkstätten ausstatten und stärken, die da helfen, etwa wie in Drütte oder wie in Hamburg, die das endgültige Entsorgen der Geschichte verhindern wollen.
Wer ernsthaft den Wahnsinnn von Kriegen aus der Welt schaffen will, braucht kein nationales Mahnmal, sondern den Willen, aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort, da, wo Geschichte stattgefunden hat, Zivilcourage, Unangepaßtsein zu lernen und Widerstand zu entwickeln. Gegen die Entsorgung der Geschichte durch Verdrängung stellen wir das Erinnern, um so vielleicht die Wiederholung der Verbrechen zu verhindern.
Das nationale Mahnmal da unten am Rhein lehnen wir ab. Die Staatsgäste in der Bundesrepublik werden sicher verstehen, daß es mit der Totenehrung und Kranzniederlegung in der Bundesrepublik nicht so einfach ist wie in anderen Ländern.
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Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag, das frei gewählte Parlament des deutschen Volkes, erweist mit dieser Debatte den Toten der Kriege und der Gewaltherrschaft Aufmerksamkeit und Ehre. Indem wir dies tun, verhalten wir uns als Erben und Bewahrer einer Tradition die bei allen Völkern gepflegt wird und bis zur frühesten Menschheitsgeschichte zurückreicht. Es sind sittliche Maßstäbe, religiöse Überzeugungen und geschichtliche Erfahrungen, die unser Handeln dabei bestimmen.
Weil wir um die Paradoxie der Geschichte wissen und die volle geschichtliche Wahrheit ins Auge fassen wollen, bleibt unser Gedenken und Mahnen nicht auf die Toten unseres eigenen Volkes begrenzt. Politische Kultur tritt in vielerlei Formen in Erscheinung. Sie erreicht dort ihren Höhepunkt und schönsten Ausdruck, wo sie in der Pflicht und Verantwortung vor den Toten Frieden und Freiheit zwischen Menschen und Völkern stiftet.
Seit 1925 steht der Volkstrauertag im Kalender des deutschen Volkes. In vielen Städten und Gemeinden unseres Vaterlandes werden am zweiten Sonntag vor Advent offizielle Gedenktage abgehalten. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge veranstaltet zum Gedenken an die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus im Plenarsaal des Deutschen Bundestages eine Feierstunde. Der Herr Bundespräsident spricht den Nekrolog zur Totenehrung. Die Gedenkreden zum Volkstrauertag sind Dokumente politischer Kultur. Sie können auch Quelle und Fundament einer Sinnfindung und Sinngebung für eine nationale Mahn- und Gedenkstätte in Bonn sein. Die Bundesregierung dankt dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und allen, die sich der Gräber und der Pflege der Friedhöfe und Gedenkstätten annehmen.
In der deutschen Hauptstadt, in Berlin, gibt es nationale Gedenkstätten, die geeignet sind, das Gedächtnis an unsere Toten würdig und eindrucksvoll wachzuhalten. Unser Blick richtet sich auch auf Auschwitz, Plötzensee und Stadelheim. Wir denken an alle Stätten des Grauens.
In der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, in Bonn, fehlt eine zentrale nationale Gedenkstätte. Nicht nur die Bundesregierung empfindet diese Tatsache als Mangel, den es zu beheben gilt. Dabei geht es in keiner Weise in erster Linie um die Notwendigkeiten des internationalen Protokolls. Vielmehr müssen wir einsehen: Selbst mit der besten Kriegsopierversorgung und Sozialgesetzgebung haben wir die Dankesschuld an unsere Toten und ihre Hinterbliebenen nicht abgetragen.
Jede Familie setzt nach dem Tod eines Angehörigen einen Grabstein. Wir dürfen nicht länger zögern, den Toten unseres Volkes, den Opfern der
Kriege und Gewaltherrschaft einen Gedenkstein in unserer Bundeshauptstadt zu setzen.
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Es gibt geschriebene, gesprochene und gebaute Nekrologe. Was wir am Volkstrauertag reden und hören, muß seine Architektur, seine künstlerische Form finden. Viele Zuschriften, Zurufe, Ermahnungen und Ermutigungen aus dem Volk bestätigen uns in der Annahme, daß wir mit der Verwirklichung einer Mahn- und Gedenkstätte dem Willen und Wunsch einer breiten Mehrheit der Bevölkerung entsprechen.
Schon am 4. Mai 1983 hat Bundeskanzler Helmut Kohl darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung entschlossen sei, der Stadt Bonn zu helfen, ihrer Funktion als Bundeshauptstadt gerecht zu werden. Inzwischen haben sich der Bundesrat, der Gemeinsame Ausschuß Bundeshauptstadt Bonn und der Bauausschuß des Deutschen Bundestages für einen Standort in der Gronau in unmittelbarer Nähe des Rheins ausgesprochen. Die topographischen Verhältnisse und die städtebaulichen Umstände zwingen dort zu einer architektonischen Lösung, die sich in den baulichen Ausmaßen beschränkt und nur durch Idee und Gestalt zu beeindrucken vermag. Wir wollen kein Kriegerdenkmal der herkömmlichen Form und Sinngebung bauen. Unsere Gedächtnisstätte soll dem Traditionsverständnis unserer Zeit voll gerecht werden. Wir sind vor die Aufgabe gestellt, eine sittliche Idee ins Bildhaftte zu übersetzen.
Bei unseren Bemühungen um eine repräsentative, zentral gelegene Gedenkstätte greifen wir Überlegungen und Gedanken früherer Bundesregierungen auf. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat am 6. Mai 1981 erklärt, in der Bundeshauptstadt fehle ein Denkmal für diejenigen - ich zitiere -,
die durch die Irrtümer und die Verbrechen des Dritten Reiches ihr Leben gelassen haben, sei es in den Gefängnissen und Konzentrationslagern, sei es in der Heimat im Bombenkrieg und sei es an den Fronten des Zweiten Weltkrieges:
Die Bundesregierung war von Anfang an ernsthaft bemüht, das Vorhaben der Gedenkstätte dem politischen, dem parteipolitischen Streit zu entziehen. Ein nationales Mahnmal, eine Gedächtnisstätte für das gesamte Volk, für die Toten der Kriege und der Gewaltherrschaft, setzt nationalen Konsens voraus. Uns eint unsere gemeinsame Geschichte, unsere Sprache, unsere Kultur. Durch das Grundgesetz und die Grundrechte sind wir in einer gemeinsamen Grundwerteordnung verbunden.
Die Mitglieder des Deutschen Bundestages sehen in der Menschenwürde das höchste Rechtsgut unserer Verfassung. Diese Tatsache beruht auf den Erfahrungen unserer langen und schmerzensreichen nationalen Geschichte. Es ist das Ergebnis unserer Kulturtradition, in der antike, jüdische und christliche, germanische und slawische Elemente eine komplexe, aber fruchtbare Symbiose gefunden haben.
Die Menschenwürde ist der Maßstab für unser politisches Handeln, sie ist die sittliche Rechtfertigung für ein nationales Mahnmal; denn ein Volk, das vergäße, seine Toten zu ehren, verlöre das Fundament seiner eigenen Kultur. Die Würde des Menschen endet nicht mit dem Tode, sie kennt auch keine nationalen Grenzen; sie ist allen Völkern und Rassen gleichermaßen verliehen.
Perikles brachte diesen Gedanken in seiner Leichenrede auf die Gefallenen des Peloponesischen Krieges zum Ausdruck. Die großen Epen der Weltliteratur bezeugen diese Wahrheit.
Antigone nahm den Tod auf sich, weil sie gegen den Befehl Kreons ihren Bruder Polyneikes beerdigt hat, obwohl dieser als Feind der Stadt den Tod fand.
1943 erleidet die Berliner Antigone, die Schwester eines gehängten Stalingradkämpfers, den Tod unter dem Fallbeil des Tyrannen, weil sie den Leichnam ihres Bruders aus der Berliner Anatomie entwendet und auf einem Friedhof bestattet hatte.
Sophokles und Rolf Hochhuth haben uns mit dem Schicksal dieser beiden Frauen vor Augen geführt, daß sich das Heroische im soldatischen Opfertod nicht erschöpft.
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Die Würde des Menschen ist unsterblich und damit der Achtung und der Ehre, dem Schutz und der Pflege der Überlebenden anheimgestellt. Unsere Friedhöfe sind Stätten des Friedens, über die wir Christen das Kreuz, das Zeichen der Versöhnung und Auferstehung errichtet haben. Andere Völker, andere Kulturen, andere Religionen haben ähnliche Zeichen und Symbole würdiger Totenehrung und Ehrverpflichtung entwickelt. Das förmliche militärische Zeremoniell, die Kranzniederlegung an Gedenkstätten für die Toten eines Volkes entsprechen internationaler Gepflogenheit. Wer darin nur eine protokollarische Geste zu sehen vermag, verkennt den Wert des Zeichen- und Symbolhaften im Leben der Völker. Der Mißbrauch nationaler Symbole und Traditionen zerstört nicht ihre geistig-sittliche Substanz. Die Tatsache, daß unsere Soldaten von einem Unrechtsregime in einem sinnlosen Krieg mißbraucht worden sind, mindert nicht unsere Dankbarkeit für ihr Pflichtgefühl und ihre Tapferkeit.
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Wir haben verlernt, den „Gesang des Deutschen" wieder anzustimmen, aber viele in unserem Volke empfinden auch heute noch mit Hölderlin, wenn er enttäuscht beklagt: „Oft zürnt' ich weinend, daß Du immer blöde die eigene Seele leugnest." Unsere gefallenen Soldaten, denen die Heimkehr, wie sie Wolfgang Borchert dramatisch in Szene gesetzt hat, versagt blieb, dürfen als Tote nicht „Draußen vor der Tür" bleiben!
Carl Zuckmayer hat kurz nach dem Kriege in einem Brief an Inge Scholl zum Tode ihrer Geschwister Hans und Sophie geschrieben:
Sie kämpften für das einfachste und größte Anliegen der Menschheit, den Triumph des Guten und Echten über das Böse und Falsche, der Wahrheit über die Lüge, des Göttlichen in der Menschenbrust über das Teuflische; sie kämpften mit einer so weltweiten Herzenskraft, daß sie die Liebe zu allen Völkern mit einschloß, für ihr geliebtes Vaterland. Sie kämpften für die Souveränität des freien Geistes, im Glauben an die tiefe Verpflichtung, die uns das Gottesgeschenk einer unsterblichen Seele auferlegt. Sie starben mit der Vision von der gereinigten Auferstehung ihres geknechteten Volkes, in brüderlicher Gemeinschaft mit den freien Völkern der Erde.
Die Geschwister Scholl, alle Toten des Krieges und Opfer der Gewaltherrschaft haben uns ein Testament hinterlassen. Darin ist uns aufgegeben, für den Triumph des Guten und Echten über das Böse und Falsche zu kämpfen, für eine friedliche Gemeinschaft mit allen Völkern der Erde.
Viele werden an das Mahnmal treten und an Kriegskameraden denken, an die Nachbarn im Luftschutzkeller, die Leidensgefährten der Kriegsgefangenschaft, der Flucht und der Vertreibung, die ertrunken oder erfroren sind. Viele von ihnen sind in den letzten Kriegsmonaten Opfer brutaler Gewalt und unmenschlicher Grausamkeit geworden.
Das „Lied vom guten Kameraden" hat ein liberaler deutscher Professor geschrieben, der 1849 als Abgeordneter in der Paulskirche zu Frankfurt am Main die seherischen Worte gesprochen hat: „Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist!" Ludwig Uhland und Hoffmann von Fallersleben sprächen sich heute für ein Mahnmal aus.
Aber lassen Sie mich auch an Bert Brecht erinnern, an seine Ermahnungen „An die Nachgeborenen":
Ihr, die Ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind,
gedenkt,
wenn Ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit,
der Ihr entronnen seid ...
Gedenkt unserer mit Nachsicht.
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Bert Brecht, aus amerikanischem Exil nach Berlin zurückgekehrt, warnte unsere Jugend vor Rechthaberei und pseudomoralischer Überheblichkeit.
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Über dem Mahnmal schwebe der Geist der Bergpredigt, die Botschaft des Friedens und der Friedfertigkeit, der Geist der Versöhnung und Besinnung.
Wir wissen nicht, welche Gefühle in einem Menschen wach werden, wenn er an ein Grab oder vor eine nationale Gedächtnisstätte tritt. Dem Christen ziemlich wäre das Gebet, vielleicht das Vaterunser, die Bitte an Gott „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern".
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In der Genesis spricht der Brudermörder Kain zu Gott: „Wer mich findet, wird mich erschlagen." Und Gott antwortet: „Jeder, der Kain erschlägt, soll siebenfacher Rache verfallen."
Wir wissen: Manche Tat schreit ewig. Der Stein der Gedächtnisstätte muß der Stein des Denk-Anstoßes, nicht des Ärgernisses werden. Er soll zum Nachdenken führen, zur tieferen Besinnung auf die moralischen und religiösen Quellen unserer Kultur.
Das Mahnmal muß unser Volk einen, es darf nicht trennen. Das gilt auch für das Verhältnis zu anderen Völkern.
Wir wissen doch: Der Buchstabe ist tot, lebendig ist der Geist. Der Stein ist tot, erst unsere Gesinnung erhebt ihn zum Gedenkstein, rechtfertigt ihn vor den Toten als nationales Mahn- und Ehrenmal.
So begreife ich auch den Nekrolog zum Volkstrauertag, die Rede des Herrn Bundespräsidenten am 8. Mai 1985, die Reden aller Bundespräsidenten und aller Bundeskanzler aus Anlaß unserer nationalen Gedenktage und zum Tag der Deutschen Einheit im Sinne eines Anstoßes zum Denken und Nachdenken über unser Volk und seine Geschichte.
Wir treten als Väter und Mütter, Söhne und Brüder, Schwestern und Töchter vor das Mahnmal. Und in vielen werden Gedanken und Empfindungen aufsteigen, wie sie der baltische Dichter Siegfried von Vegesack seinem mit 20 Jahren in Rußland gefallenen Sohn Gotthart auf ein Totenbrett im Bayerischen Wald geschrieben hat:
Die Ähren sinken, wenn das Korn sich neigt.
Die Blüte fällt, wenn Frucht aus ihrem Schoße steigt.
Und alles wächst und drängt und möchte sich vollenden.
Du aber bist gefallen vor der Zeit:
Du mußtest ohne Frucht, mit leeren Händen Dich selbst verschwenden ...
Und bleibst nun jung in alle Ewigkeit.
Ein schlichtes Denkmal in Worten: ergreifend und ernst, doch voller Trost und Verheißung - auch für uns.
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Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In vielen Kulturen setzen die Lebenden ihren Toten Zeichen der Erinnerung: Hügel, Steine, Gebäude, Pyramiden. Meist waren es Zeichen zum Ruhm der Herrscher, nicht der Beherrschten; diese erhielten kein Denkmal. Es waren die Feldherren und Generäle, die ihr Standbild bekamen, nicht der gemeine Mann, den sie in den Tod geführt hatten, nicht die Frauen und Kinder, die in ihren Kriegen elend umgekommen waren.
Wir wollen hier über ein Zeichen der Erinnerung reden; der Erinnerung nicht für die Mächtigen, sondern für die unzähligen Opfer der nazistischen Gewaltherrschaft und des Krieges. Andere Völker können ihre Toten unbefangener ehren als wir, denn die Gewaltherrschaft der Nazis und der Zweite Weltkrieg waren verbrecherisch. Deshalb können wir kein Ehrenmal bauen; es soll ein Zeichen der Erinnerung, der Trauer und der Mahnung sein.
Ich möchte eine Nebenbemerkung zum Protokoll machen. Es wird uns ja immer wieder gesagt, das Protokoll erfordere ein solches Mahnmal in der Hauptstadt. Dies ist kein guter Grund. Vielen Bürgern unserer Republik erscheint dieses staatliche Protokoll als leeres, kaltes Ritual.
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Warum hat eigentlich nach dem verlorenen Krieg kein Bundespräsident, kein Bundeskanzler dieses Staatsritual durch neue Formen ersetzt, die zeigen, daß wir eine friedliche, eine friedfertige Republik sein wollen, die ohne militärisches Gepränge trauern kann?
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Das hätten doch unsere Gegner von gestern gewiß respektiert und verstanden.
Deshalb sollten wir, wenn wir jetzt über das Mahnmal reden, auch über zivile, über bürgerliche, kultivierte, friedliche Formen der Trauer und des Protokolls nachdenken.
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Viele sagen uns, dieses Mahnmal bedeute einen unaufhebbaren Widerspruch. Können wir, so hat vor einiger Zeit Österreichs Bundeskanzler Fred Sinowatz in Bonn gefragt, der Opfer im Kampf gegen den Faschismus gemeinsam mit den Opfern im Kampf für den Faschismus gedenken? Wir tun gut daran, diese Einwände ernst zu nehmen.
Günther Gillesen hat vor einiger Zeit in der „Frankfurter Allgemeinen" - und Sie, Herr Bundesminister, haben das ja aufgenommen - daran erinnert, daß auf jedem Friedhof unseres Landes Opfer neben Tätern liegen, und er hat an die Antigone erinnert, die ihren toten Bruder Polyneikes nicht den Vögeln zum Fraß überläßt, sondern ihn entgegen dem Befehl des Königs beerdigt, weil im Reich der Toten gleiches Recht gilt. Aber hier, Herr Bundesminister, geht es nicht um Gräber. Es geht nicht um einen Friedhof, es geht nicht um das Recht der Toten, sondern es geht um ein Zeichen für die Lebenden. Das Mahnmal ist etwas anderes als die Erde der Antigone für ihren toten Bruder.
Deshalb wollen wir mit Ihnen darüber reden, was das Mahnmal bedeuten, was es bewirken soll, wollen wir uns mit Ihnen darüber verständigen, aus welcher Geisteshaltung heraus dieses Mahnmal entstehen soll.
Wir hören aus den Koalitionsfraktionen, man wolle wegen des Mahnmals nicht eine allgemeine und ausufernde Debatte über die deutsche Geschichte führen. Wie denn? Soll das Mahnmal Geschichte wachhalten, oder soll es Erinnerung zuschütten? Soll es zur Trauer aufrufen, oder soll es die Trauer beenden? Soll es ein Stein des Anstoßes für die Lebenden werden oder ein Stein, unter dem die Vergangenheit endlich begraben wird?
Von der „Entsorgung der Geschichte" spricht Habermas, und wir fragen Sie: Glauben Sie, daß wir, wenn wir wie die anderen Völker ein nationales Mahnmal haben, es dann mit der Erinnerung genug sein lassen können? Für ein solches Mahnmal des Vergessens werden Sie unsere Zustimmung nicht finden.
Wir wollen uns nicht mit dem Hinweis auf unser Geburtsjahr in der deutschen Geschichte hinwegstehlen. Es gibt keine deutsche Kollektivschuld, das ist gewiß; aber - das müssen wir heute angesichts der Tendenzen zum Verschweigen und zum Vergessen deutlich sagen - es gibt auch keine kollektive Unschuld des deutschen Volkes. Wer die wachsende Ausländerfeindlichkeit, wer den neuen Antisemitismus, wer die kalte Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft wachsam beobachtet, der weiß, daß der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem der Faschismus kroch. Deshalb wollen wir erinnern, und deshalb ist für uns der Weg zu diesem Mahnmal, das Gespräch über seine Aussage, über seine Notwendigkeit, über seine geistige Grundlage, für uns genauso wichtig wie das Ergebnis, das Mahnmal selbst.
Wir haben vorgeschlagen, den weiteren Überlegungen für das Mahnmal die Gedenkworte des Bundespräsidenten aus seiner großen Rede am 8. Mai zugrunde zu legen. Das hat nie bedeutet, und das hat niemand vorgeschlagen, diese Worte nun in Stein zu meißeln. Aber wir fragen Sie: Warum soll diese Rede, in der nichts verschwiegen wird, in der alle Opfer des Krieges und der Naziherrschaft genannt werden, diese Rede, die in der ganzen Welt Aufmerksamkeit und Zustimmung gefunden hat, nicht unsere gemeinsame geistige Grundlage für das geplante Mahnmal sein?
Wird da eine Gruppe von Menschen nicht genannt, um die wir trauern sollen? Oder werden da Opfer genannt, um die Sie nicht trauern wollen? Stände es uns nicht an, mit diesem Mahnmal auch der Toten der anderen Völker, unserer Nachbarn, zu gedenken, die im Krieg unter uns gelitten haben?
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Und würde nicht auch unseren ausländischen Gästen, die das Protokoll zu diesem Mahnmal führen will, deutlich werden, daß wir aus unserer Geschichte gelernt haben?
Es war Ihr Vorschlag, daß der Herr Bundespräsident nach öffentlicher Diskussion nach einem zweistufigen Wettbewerb, beraten von einem Gremium der elder statesmen, die endgültige Entscheidung über das Mahnmal treffen soll. Das ist ein guter Vorschlag, Herr Minister. Wir stimmen ihm zu. Das Mahnmal soll nicht das Mahnmal einer parlamentarischen Mehrheit, es soll ein gemeinsames Mahnmal unserer Republik werden.
Aber wissen Sie, was Sie anrichten, wenn Sie nun von dieser Rede des Bundespräsidenten abrücken? Wissen Sie, was Ihr Nein zu seinen Gedenkworten für die Diskussion im Inland und im Ausland über dieses Mahnmal bedeutet?
Die Frage stellt sich auch, ob die Aufgabe mit ihren fürchterlichen Widersprüchen überhaupt künstlerisch gelöst werden kann. Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Beckmann: Vielleicht zeigt uns der geplante Wettbewerb, daß das künstlerisch nicht zu lösen ist, daß die Informationsstätte, daß das Denkhaus der bessere Weg ist.
Aber wenn diese Wettbewerbe kommen, sollten wir überlegen, ob wir dazu nicht auch Künstler und Architekten aus der DDR einladen. Die Teilung unseres Volkes als Folge des verlorenen Kriegs und die unterschiedliche Entwicklung beider deutschen Staaten in ihren politischen und militärischen Bündnissen führen dazu, daß es kein gemeinsames Denkmal aller Deutschen geben wird. In Bonn kann nur ein Mahnmal der Bundesrepublik Deutschland entstehen. Aber könnten wir nicht durch Beteiligung von Künstlern aus der DDR deutlich machen, daß uns bei vielem, was uns trennt, die Trauer um die Opfer des Faschismus und des Krieges verbindet?
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Dieses Mahnmal ist eine schwierige Aufgabe. Es sagt nicht nur etwas über die Vergangenheit, über tote Täter und Opfer, über Schuld und Verantwortung. Es sagt vor allem etwas über uns, über die Lebenden, über unsere Moral, über unser Geschichtsbewußtsein, über unsere Fähigkeit, zu trauern. Es kann sein, daß wir am Ende dieses mühsamen Gesprächs keinen Konsens finden, daß die Zeit für dieses Mahnmal noch nicht reif ist, weil es keine gemeinsame moralische und geistige Grundlage für dieses Mahnmal gibt. Wir Sozialdemokraten wollen dieses Gespräch. Wir wollen viele Menschen daran beteiligen. Wir wollen, daß unsere Republik es sich mit diesem Mahnmal nicht leichtmacht.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es soll eine Gedenkstätte für Tote sein, für Tote verschiedener Völker, nicht zuletzt der Deutschen. Es sollte also - und da greife ich Ihren Satz auf - um Trauer, Erschütterung und Besinnung vorweg gehen. Es sollte also nicht um streitbare Diskussionen gehen, die anderswo notwendig sein mögen. Man muß die Frage aufwerfen, ob es dem nötigen Maß an Ehrfurcht entspricht, wenn wir vor einer solchen Gedenkstätte über
Gruppen der Toten und über das streiten, was dem Tod voranging.
Wir wollen nichts beschönigen. Auch Verantwortung und Schuld können in Erschütterung und Besinnung einbezogen werden! Wir haben nirgends in unserem Antrag von einem Schlußstrich gesprochen. Aber haben Sie jemals die Opfer von Krieg und von Gewalt in den Stunden oder Minuten vor dem Tod, in den Materialschlachten, in den Zwangs-und Vernichtungslagern und in den Flüchtlingstrecks selbst erlebt und begleitet? Wer das erlebte, wird vielleicht nicht um Nekrologe und Gruppen diskutieren! Im Sterben ist der Mensch auf sich selbst geworfen, auf sein eigenes personales Ich. Unzählige Opfer von Gewalt und Krieg haben physisch und seelisch oft Unbegreifliches gelitten, und zwar solche, die vorher ungerecht handelten, und solche, die gerecht handelten. Wer weiß denn, wie viele Ungerechte in diesen Stunden und Minuten vor einem qualvollen Tod vieles gebüßt und anderes moralisch in Ordnung gebracht haben? Dürfen wir einen Teil der Toten von Krieg und Gewalt einzeln unter Anklage stellen? Dürfen wir hier an dieser Stätte über Vergangenheit und Zeitgeschichte streiten?
Sollte nicht vielmehr ein großer Künstler hier auch eine Stätte der Barmherzigkeit für die leidende, für die geschundene Kreatur gestalten? Könnten wir die Gemarterten und Leidenden fragen, so würden sie uns vielleicht sagen: Nur Unbarmherzige brechen den Stab über den einzelnen Toten. Gruppennekrologe sind kaum darstellbar, und wenn, so zeigen sie wieder das Leid der Personen nur unter einem gewissen Blickpunkt. Eine Gedenkstätte - das klang hier wiederholt an - kann nicht den Richterspruch über den einzelnen ersetzen. Die Gedenkstätte kann allerdings auch nicht Sühne im geordneten Rechtsgang und nicht sittlich fundierte Urteile ersetzen.
Meine Damen und Herren, viele leidenschaftliche Spanier haben in einer Art, die uns vielleicht nicht so ganz liegt, aber immerhin an der gemeinsamen Grabstätte für die Opfer der verschiedenen Seiten eines grausamen Bürgerkrieges zu einem geordneten Miteinander gefunden. Man wird hier - gestatten Sie mir das persönliche Wort - in Bonn auch der über zwei Millionen deutscher Heimatvertriebener gedenken, die ihr Leben auf der Flucht und Vertreibung ließen. Aber angesichts ihres Todes, so meine ich, sollte man nach ihren qualvollen Erlebnissen an dieser Stätte nicht mehr - allerdings ohne Tatsachen zu vernebeln - über die verworrene Verstrickung von Opfern und Verursachern streiten.
Wir könnten allerdings die gemeinsame Sorge haben: daß sich Künstler finden, die in den Formen unserer Zeit, viele Menschen aus allen Schichten ergreifend, jeden rechthaberisch-ideologischen Streit durch Trauer, Erschütterung und Besinnung überwinden, die künstlerisch manche emotionale Leere beim Gedenken an die Toten von Krieg und Gewalt in eine würdige und in eine gerechte Tradition in unserem Volk hinüberführen. Ernst Barlach und Käthe Kollwitz haben erschütternde Kunstwerke ohne Heroisierung der Soldaten des Ersten Weltkrieges, aber breite Kreise der Bevölkerung erschütternd, gestaltet.
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Herr Kollege von den GRÜNEN, die haben nicht verzichtet. Wenn Sie nach den Widerstandskämpfern fragen, so lesen Sie vielleicht den 4. Band der Aufzeichnungen und Briefe von Alfred Delp, der sie mit gefesselten Händen in wochenlanger Erwartung seiner Hinrichtung geschrieben hat.
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Alfred Delp hat sich nicht gegen die Unterscheidung von Gerechten und Ungerechten ausgesprochen, er hat aber in einer ergreifenden Weise die konstruktive Aufgabe der Deutschen und der Europäer und der Deutschen in Europa mit gefesselten Händen im Angesicht des Todes niedergeschrieben!
Über Trauer und Besinnung hinaus sollte diese Stätte deshalb auch nach vorn weisen. Sie sollte sich jenem Ziel stellen, das vor ihrer physischen Vernichtung in einer bitteren Zeit des Widerstandes nachweisbar so viele vereint hat. Dieser niedergeschriebene und von vielen unterzeichnete Satz lautete - das ist wenigstens für mich der Hauptsatz -: Wir wollen die Wiederbesinnung auf den Grundlagen der Sittlichkeit im privaten und öffentlichen Leben unseres Volkes. Dieser Satz hat Männer geeint, Konservative wie Goerdeler, Liberale wie Löser, Sozialdemokraten wie Julius Leber, Wilhelm Leuschner und Löbe, Katholiken wie Bolz und Wirmer, Evangelische wie Ulrich von Hassel und James Graf Moltke. Sie haben den Nationalsozialismus auch mit dem richtigen und von ihm gewünschten Namen genannt: Sie haben ihn nicht als Faschismus, sondern als Nationalsozialismus bezeichnet.
Wenden wir uns also der Sorge um das Wie der Gestaltung zu: In Ergriffenheit Deutsche und Nichtdeutsche hinüberzuführen zur Hoffnung für die Aufgaben unseres Volkes und für Deutschland, eingefügt in ein erträgliches Zusammenwirken der Europäer! Viele Kräfte deutschen und nichtdeutschen Widerstandes haben ein solches Wirken in diesem Sinn, beherrscht von dieser Hoffnung, gewünscht, und ich meine, die Mahnstätte sollte auch daran erinnern.
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Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Czaja, ich glaube, die Beiträge heute haben klargemacht, daß niemand hier im Hause den Stab, wie Sie es gesagt haben, brechen will über Tote. Ich glaube, das ist nicht der Kern der noch zutage tretenden Meinungsunterschiede.
In der Umgangssprache hat sich eine dem Englischen entlehnte Formel eingeschlichen. Ein Mensch, eine Absicht, ein Unternehmen ohne Er16474
folg, alles, was versagt hat, wird mit der Aufforderung gekennzeichnet: „Den kannst du vergessen - vergiß es!" Die alltägliche Aufforderung, daß unwichtig Gewordene zu vergessen, den Versager aus dem Gedächtnis zu schieben, enthüllt ein Stück sozialer Erbarmungslosigkeit.
Eine ähnliche Floskel bedient sich eines sehr konkreten Elements aus der Architektur: „Die oder der sei weg vom Fenster." Der Raum wird als leer, als wiederbeziehbar vorgestellt, in dem früher noch der Schattenriß des unwichtig Gewordenen erkennbar war. Unangenehme, bedrückende Erinnerungen sollen vom Fenster der Erinnerung entfernt werden.
„Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird." Eine Gedenkstätte stellt jene große Anforderung an unsere Wahrhaftigkeit, Herr Dr. Dregger, von der Richard von Weizsäcker in- seiner Rede am 8. Mai 1985 gesprochen hat.
Welche Bereitschaft zur präzisen Erinnerung ist vorhanden in einer Zeit, in der die „Gnade der späten Geburt" Schlußstriche unter das Unangenehme, das Erbarmungslose gefordert hat? Ich bin Herrn Dr. Biedenkopf dankbar, daß er vorgestern in einer sehr eindrucksvollen Rede zu diesem Komplex Stellung genommen hat.
Herr Dr. Dregger, Sie persönlich und Ihre Fraktion haben sich leidenschaftlich für eine nationale Gedenkstätte eingesetzt. Zu der seit mehr als zwei Jahren ernst geführten Diskussion um die Inhalte haben Sie bisher nicht viel beigetragen. Ihre Formel, die Gedenkstätte sei insbesondere „den Toten unseres Volkes gewidmet", diese Verengung könnte wieder einmal als Ausdruck jener Verdrängung wirken, über die wir seit 40 Jahren nicht - leider nicht! - in ein wahrhaftiges Gespräch gekommen sind. Trauer muß wahrhaftig sein, wahrhaftige Trauer muß konkret sein.
Die Unfähigkeit zur Trauer wurde seit einem halben Menschenalter getragen von dieser merkwürdigen Fähigkeit der Verdrängung, der Verleugnung dessen, was wirklich geschehen ist. Deshalb wollen wir in unserem Antrag so konkret wie möglich sein. Und deshalb wollen wir Ihre Formel nicht akzeptieren, die sich müht, so generell, so allgemein wie möglich zu bleiben.
Alexander Mitscherlich hat dieser Abkehr von der konkreten Wirklichkeit seinen großartigen Essay gewidmet. Herr Beckmann hat ihn heute schon erwähnt. Die konkrete Wirklichkeit muß immer Namen und Adresse haben. „Auch die Toten der Schlachtfelder" - so Mitscherlich - „bleiben hinter diesem Schleier des Unwirklichen verborgen". - Soll das heute immer noch gelten?
Wir müssen konkret sein, Herr Dr. Dregger. Als Sie Ihren Bitburger Brief an die amerikanischen Abgeordneten schrieben, waren Sie sehr konkret, so konkret wie heute morgen. Sie erwähnten Ihren gefallenen Bruder und Sie erwähnten sich selbst als Verteidiger einer deutschen Stadt gegen die sowjetischen Soldaten. Da waren Sie ganz konkret und ganz persönlich.
Bei der Diskussion um die Gedenkstätte dürfen wir uns nicht der Flucht ins Allgemeine schuldig machen. Was heißt denn „insbesondere unsere Toten"? Sind damit die Juden gemeint, die sich schon einen kubanischen oder brasilianischen Paß hatten beschaffen können, und die dann doch in Holland oder Frankreich ihren Häschern in die Hände fielen? Sind damit die Juden nicht gemeint, die in Ungarn oder in Norwegen lebten? Und bei den Soldaten? Sind die jungen flämischen, kroatischen oder rumänischen Soldaten in den deutschen Armeen ein- oder ausgeschlossen aus diesem „insbesondere"? Sind nicht auch sie auf den sogenannten Schlachtfeldern geblieben, verblendete, verführte Anhänger Hitlers vielleicht?
Eine irreale abstrakte Trauer, die nur Gefühle wachriefe, aber keine Erinnerung, wäre eine erneute Mißachtung derjenigen, die in unseren Diskussionen ungenau als Opfer bezeichnet werden.
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Nein. Erinnerung muß konkret sein, so schmerzhaft konkret, so verletzend präzise, daß dem der Atem stockt, der plötzlich wahrnimmt, was da alles im Fenster seiner Erinnerung auftaucht.
Ob das in Bonn mit allen zu gestalten ist? Wir haben versucht, es in einer - sehr bewegenden - Anhörung der SPD-Fraktion herauszufinden. Ich möchte aus dieser Anhörung den stellvertretenden Vorsitzenden der Synagogengemeinde Bonn, Herrn Schafgans, zitieren:
Ich glaube, man würde die Toten würdiger ehren, wenn man auf das Ehrenmal verzichtete.
Aber auch der Gedanke, hier könnte zum erstenmal des Kain und des Abel gemeinsam gedacht werden, ist bei uns aufgenommen und bewegt diskutiert worden.
Wir haben - das ist heute morgen deutlich geworden - keine endgültige Antwort gefunden. Aber daß es ohne eine präzise Benennung oder Darstellung, ob in der verbalen oder in der künstlerischen Form, derjenigen nicht geht, die umgebracht worden sind - von Kriegswaffen auf dem Felde, von Bomben in den Städten, in Gaskammern, auf dem Schafott, durch den Strick oder das Beil des Henkers, die in den KZs zu Tode gequält wurden, die entehrt oder entwürdigt wurden -, daß es ohne eine solche präzise einbrennende Erinnerung nicht ginge, das ist uns in allen Gesprächen deutlich geworden. Wir können niemanden auf der Flucht in die Abstraktion begleiten.
Ich möchte Sie an das schrecklich eindrucksvolle Bild erinnern, das im „Spiegel" der vorvergangenen Woche aus Wien abgebildet wurde, wo sowohl der junge Deutsche wie die Juden, die gezwungen waren, mit der Zahnbürste einen Platz aufzuwischen, entwürdigend wirkten. Beide, dieser Deutsche, der dort stand und das mit Gewalt durchsetzen wollte, und diese gebeugten Juden, die in aller Öffentlichkeit erniedrigt wurden, müssen uns beschämen. An beide müssen wir denken.
Jürgen Leinemann hat diesen Vorgang der Flucht aus der Wirklichkeit, der Flucht in die Abstraktion
in seiner Reportage über den ehemaligen Bürgermeister der Stadt Kerschenbroich sehr genau gesehen:
Ja, es gab eine Synagoge, aber eine Gedenktafel in der Mühlenstraße 34, wo sie stand, die sollte es nicht geben.
Darum, Herr Dr. Dregger, haben wir den Text, diese Passage Richard von Weizsäckers in unseren Antrag aufgenommen. Denn sie ist konkret.
Meine Damen und Herren, die ersten Ermordeten der Naziterroristen waren die demokratischen Gegner. Der erste Mord war der Mord an der Demokratie. Der Terror begann 1933.
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Wir haben in unserem Antrag die Idee eines Denkhauses eingebracht, eines Ortes, wo des Kampfes um Demokratie, um die Menschenrechte, aber auch der Kämpfer für die politische Freiheit gedacht werden soll. Insofern können wir heute den Überlebenden und Hinterbliebenen des deutschen Widerstandes für ihr Votum danken. Wir können da diesen Gedanken aufgreifen, den Sie vorgebracht haben. Wenn die Gedenkstätte ein Ort lebendiger und konkreter Erinnerung werden soll, dann kann, ja, dann sollte sie auch eine Stätte umfassen, an der sich die Besucher sehr konkret mit dem deutschen Widerstand beschäftigen können.
Meine Damen und Herren, in Kerschenbroich, in der Mühlenstraße 34, fehlt eine Tafel, die auf die Synagoge hinweist. So fehlen in Tausenden von Orten konkrete Hinweise auf die Geschichte des Terrors. Aber es gibt inzwischen an vielen Hunderten von Orten in der Bundesrepublik, in der DDR, in ganz Europa Mahnstätten, die sehr real auf das dort Geschehene hinweisen. Diese Mahnstätten sind häufig auf Betreiben örtlicher Initiativen oder Betroffener entstanden. Sie sind häufig so konkret, daß es schmerzt.
So ist ein weit verzweigtes Narbengeflecht auf dem Gesicht Europas entstanden, das die Flucht in die Abstraktion immer schwerer macht. Alle diese örtlichen Mahnstätten und Mahntafeln sind bereits heute eine sehr konkrete Erinnerung an die Umgekommenen und Umgebrachten der Jahre 1933 bis 1945. Sie sind in den Fenstern der Erinnerung wieder wachgerufen. Wir müssen dafür arbeiten, daß diese nicht zu leeren Fensterrahmen werden, hinter denen sich nichts mehr bewegt.
Unsere Fähigkeit zu trauern: die erfrorenen Soldaten vor Leningrad und die verhungerten Bürger in Leningrad, die ermordeten Griechen in Saloniki und die getöteten Soldaten in Serbien, die Gequälten und Mißhandelten von Auschwitz, Majdanek und Bergen-Belsen, die an Entkräftung gestorbenen Zwangsarbeiter in den Fabriken der deutschen Industrie bei Frankfurt oder in Hamburg und auch, Herr Dr. Czaja, die Toten, die auf der Flucht ihr Grab in der Ostsee gefunden haben. Wenn wir die Fähigkeit zu dieser Trauer haben, dann werden wir auch im Konsens eine Gedenkstätte in Bonn errichten können. Aber nur dann.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Meine Damen und Herren! Ich darf am Ende dieser Debatte vielleicht versuchen, einer Empfindung Ausdruck zu geben: Es tut uns allen sehr gut, wenn wir in unserer tagespolitischen Arbeit gelegentlich so eine Zäsur einlegen, die uns gemeinsam veranlaßt, über die geistigen, die politischen, die moralischen Grundlagen nachzudenken, sozusagen eine Art Standortbestimmung vorzunehmen. Ich habe es auch als sehr gut empfunden, daß wir das ohne jede parteipolitische Konfrontation getan haben.
Ich denke, wir sollten das auch ohne alle Fraktionszwänge, Koalitionszwänge tun. Jedenfalls hat die FDP-Fraktion ausdrücklich noch einmal bestätigt, daß wir mit unserem Antrag nur zum Ausdruck bringen wollen, daß weitere Beratungen, Überlegungen und weiteres Nachdenken notwendig sind. Theodor Heuss hat das einmal sehr schön „das Ethos gemeinsamer Verantwortung" genannt. Ich glaube, wir sind dem in dieser Stunde recht gut gerecht geworden.
Aber bei aller Behutsamkeit: Auch diese Debatte über die Sinngebung eines Ehrenmals, eines Mahnmals hat doch zutage gebracht, wie schwer wir uns immer noch mit einer politikgeschichtlichen Standortbestimmung tun. Sie hat deutlich gemacht, wie schwer wir uns mit der geistig-moralischen Grundlegung und der Rechtfertigung unseres Gemeinwesens tun. Sie hat auch den Stellenwert der fortwirkenden Verantwortung für das während der HitlerZeit im deutschen Namen Geschehene zutage gebracht. Das darf in dieser Debatte nicht fehlen.
Hier ist nicht zu erörtern, weshalb wir uns so schwertun. Wir wissen es! Aber es ist redlich, darüber nachzudenken, worauf wir uns verständigen können, um einen sich bereits anbahnenden Konsens, verehrter Herr Kollege Dregger, nicht leichtfertig zu zerreden oder gar zu zerstören.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, wohin Parteienstreit um nationale Symbole in Deutschland geführt hat. Der schreckliche Flaggenstreit in der Weimarer Republik um die nationalen Farben war der Anfang des Endes demokratischer Gemeinsamkeiten. Dessen müssen wir uns bei dieser Frage leider auch ernsthaft bewußt sein.
({0})
Deshalb noch einmal: Der Symbolgehalt eines nationalen Mahnmals kann nicht mit Mehrheitsentscheidung, nicht durch Koalitionsentscheidung beschlossen werden. Wir dürfen auch nicht der Versuchung erliegen, sozusagen für jeden etwas. Das möchte ich ganz besonders auch hier unterstreichen.
Die FDP würde es sich sehr wünschen und wird sich auch dafür einsetzen, daß wir uns der Konti16476
nuität unserer Nachkriegsgeschichte bewußt sind. Denn wir stehen ja schon in der Tradition der geistig-moralischen Grundlegung unseres Gemeinwesens.
Theodor Heuss als erster Bundespräsident hat eindrucksvoll damit begonnen. Alle Nachfolger haben diese Grundlegung fortgesetzt. Nicht zuletzt in seiner historischen Rede vom 8. Mai vorigen Jahres hat Richard von Weizsäcker Maßstäbe gesetzt, denen wir doch alle verpflichtet sind.
({1})
Wir stehen in dieser Kontinuität, meine Damen und Herren. Das heißt aber doch überhaupt nicht, den Bundespräsidenten für parteipolitische Meinung in Beschlag zu nehmen.
({2})
Ich möchte deshalb mit meinem Beitrag, weil es ja bei einer solchen Gelegenheit auch höchst interessant ist, ein wenig nachzuforschen, noch einmal zurückgehen und die gedankliche Orientierung bei Theodor Heuss suchen, wenn es schon heikel sein sollte, sie bei Richard von Weizsäcker zu finden.
Bereits im Juli 1947 hat Theodor Heuss auf dem ersten und einzigen Treffen liberaler Parteien in Eisenach eine ebenso realistische wie visionäre Rede mit dem Titel „Das deutsche Schicksal und unsere Aufgabe" gehalten. Er stellt darin fest:
Wir haben die größte Demütigung unserer Geschichte erlebt, und zwar eine Demütigung, die wir verdient haben. Es ist die Aufgabe, in der wir stehen, uns die moralische Auseinandersetzung nicht von den Siegermächten aufdrängen oder aufreden zu lassen, sondern sie selbst aufzunehmen. Wir wissen, daß wir in der furchtbaren Lage sind, nun eine Auseinandersetzung mit uns selbst anständig und offen aufzunehmen. Hitler hat den deutschen Namen besudelt wie nie in der Geschichte. Wenn man das sagt, kommt man in die Gefahr, daß die Erinnerung bei dem einen oder anderen Menschen bereits verblaßt
- 1947! und daß sie auch nicht hören wollen, wie bei den anderen das Leid, das wir anderen Völkern angetan haben, noch lebendig ist.
Und später:
Die Frage, wie wir aus dieser Situation zu einem neuen deutschen Geschichtsbild kommen, ist die schwerste Aufgabe, die vor uns steht.
({3})
Ein neues Geschichtsbild entsteht nicht, indem man das alte in eine Reinigungsanstalt bringt
({4})
und statt Braun Rot oder Schwarz irgendeine andere Farbe darauf malt. Ein neues Geschichtsbild entsteht dadurch, daß wir den Sinn für die Wahrhaftigkeit zurückgewinnen.
Meine Damen und Herren, ich meine, das genau ist es. Dieser Gedanke kann und muß heute noch stehenbleiben. Wir müssen die Auseinandersetzung über unser nationales Selbstverständnis offen und anständig aufnehmen. Wir müssen dabei den Sinn für Wahrhaftigkeit sehr gewissenhaft beachten. Wir müssen gerade im Fall der Symbolkraft eines Mahnmals darauf Rücksicht nehmen, daß das Leid, das wir anderen Völkern zugefügt haben, dort noch lebendig ist, j a schmerzhaft lebendig ist, wie wir bei jedem Besuch von Vertretern dieser Völker und Staaten erleben.
Wenn das Mahnmal, Herr Kollege Czaja, symbolisiert - darüber können wir philosophieren; das finde ich schön -, dann symbolisiert es in einer elementar versteinerten Form unser Geschichtsbild. Deshalb kann die Mahnung von Heuss für uns auch heute noch Verpflichtung sein. Wir ringen um dieses Geschichtsbild, weil es ja die Grundlage unseres Selbstverständnisses und die Voraussetzung für eine geistig-moralische Standortbestimmung ist. Solange wir das Geschichtsbild nicht gefunden haben, sollten wir - wiederum im Sinne der Wahrhaftigkeit - tunlichst auf jede verkrampfte Symbolik ganz verzichten.
({5})
Ich möchte das hier auch einmal als einzige Frau in dieser Debatte sagen. Ich habe als Staatsministerin oft vor Denkmälern unbekannter Soldaten gestanden und mir gedacht: Wo bleibt eigentlich das Denkmal für die unbekannte Mutter?
({6})
Irgendwo können wir Frauen sowieso nicht mit dieser Symbolik zurechtkommen.
({7})
Nun, nach der historischen Rede des sechsten Bundespräsidenten am 8. Mai 1985 hatten wir Liberalen offen gesagt gehofft liebe Fraktionskollegen und Koalitionskollegen, daß wir wirklich im Sinne von Heuss ein gutes Stück weitergekommen seien, daß wir ein festes Stück Gemeinsamkeit erreicht hätten und es nun auch betreten könnten. Es wäre sehr bedauerlich, wenn das nicht gelingen würde; denn ich meine - und damit komme ich zum Schluß -, unsere demokratische Kultur braucht drei Dinge am dringendsten.
Unsere demokratische Kultur braucht ein festes Stück geistig-politischer Gemeinsamkeit und Kontinuität, eben im Sinne unserer großen Bundespräsidenten.
Unsere demokratische Kultur braucht ein Bekenntnis zu unserer fortwirkenden Verantwortung. Dies vor allem schulden wir nachwachsenden Generationen.
Unsere demokratische Kultur braucht schließlich jenen Sinn für Wahrhaftigkeit, der uns eben nicht erlaubt, das Geschehene zu beschönigen oder gar salomonisch für jeden etwas in so ein Denkmal hineinzugeheimnissen.
Wenn schon Salomon, meine Damen und Herren, ist mir bei der Rede von Herrn Dregger eingefallen, dann wirklich den originalen Salomon - und die
schöne Losung, mit der Theodor Heuss seine Tätigkeit als erster Bundespräsident angetreten hat, ist ein echter Salomon -: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk."
({8})
Wenn überhaupt, meine Damen und Herren, so ein Mahnmal im Konsens ohne Mischmasch zustande kommen soll, dann sollte es nach meiner Überzeugung so schlicht, so unprätentiös, so un-symbolisch wie nur irgend möglich sein, denn nur dann ist es wahrhaftig.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat Frau Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dregger hat heute morgen bei seinen Ausführungen erklärt, daß er sehr viel Eiseskälte gespürt habe, weil eine Vertreterin der GRÜNEN bei einem Besuch einer zweiten Parlamentarier-Delegation in Moskau nicht am Besuch des deutschen Soldatenfriedhofs teilgenommen habe. Ich war die Vertreterin der GRÜNEN, und ich möchte diese Gelegenheit zu einer persönlichen Erklärung nutzen. Ich möchte noch einmal versuchen, Herrn Dregger und allen denen, die mich in den letzten Monaten sehr, sehr stark angegriffen haben - das waren auch Sie, Herr Laufs, auch Ihnen möchte ich das noch einmal sagen -, erklären, warum ich an diesem Besuch auf dem deutschen Soldatenfriedhof nicht teilgenommen habe.
Das war alles andere als Eiseskälte, sondern es war die Einsicht, daß es nicht möglich ist, die Täter vor den Opfern zu ehren. Es war mir, mir ganz persönlich, unmöglich, das Grab der Deutschen zu besuchen, bevor ich das Grab des unbekannten Soldaten besucht hatte, wo die Opfer des sowjetischen Volkes geehrt werden. Ich denke, 40 Jahre nach Kriegsende ist es unsere Aufgabe, erst die Opfer der deutschen Aggression zu ehren und dann unserer eigenen Opfer zu gedenken.
({0})
Ich möchte nicht verhehlen, daß mir dieser Schritt nicht leichtgefallen ist, weil ich auch in meiner Familie sehr viele Opfer zu beklagen habe und mein Schwiegervater einige Kilometer vor Moskau gefallen ist. Es ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich denke, wir müssen diese Unterscheidung lernen. Wir müssen diese Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern lernen.
({1})
- Auch die Täter waren Opfer. Einmal waren sie
Opfer ihrer fehlenden Zivilcourage, zum anderen
waren sie Opfer einer wahnsinnigen Ideologie, die
eine Überlegenheit symbolisiert hat, die ihr nicht zukam.
({2})
Aber wenn wir der Geschichte gerecht werden wollen, müssen wir glasklar unterscheiden - und wenn uns das persönlich noch so weh tut - zwischen Opfern und Tätern. Das war meine persönliche Aufgabe bei diesem Besuch. Das war auch meine Aufgabe als Vertreterin der GRÜNEN, einer Partei, die sich auf die Kraft der Friedensbewegung stützt.
Ich danke Ihnen.
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Anträge auf den Drucksachen 10/4293 ({0}), 10/4521 und 10/4998 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun nochmals den Tagesordnungspunkt 12 auf, den wir gestern behandelt haben:
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Altenhilfepolitik in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 10/2957, 10/4108 -
Die Abstimmung über die hierzu vorliegenden Entschließungsanträge wurde auf den heutigen Sitzungstag verschoben.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5375. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5393 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 und die folgenden Zusatztagesordnungspunkte auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einstellung aller Atomversuche
- Drucksache 10/5270 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Verheugen, Catenhusen, Dr. Scheer, Bahr, Duve, Horn, Jungmann, Schulte ({2}), Dr. Soell, Voigt ({3}), Wolfram ({4}) und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Westphal
Nichtverbreitung von Atomwaffen
- Drucksachen 10/2787, 10/3599 Berichterstatter:
Abgeordnete Lamers
Frau Kelly
Zusatzpunkte:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Verbot von Kernwaffenversuchen - Drucksache 10/5399 und
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN
Vollständiges Atomteststopp-Abkommen - Drucksache 10/5398 Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b sowie der Zusatztagesordnungspunkte 4 und 5 und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Scheer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 10. Mai 1957 forderte der Deutsche Bundestag erstmals in einem einstimmigen Beschluß, daß die Bundesregierung sich für die „unverzügliche Einstellung weiterer Atombombenversuche" einsetzen soll. Bei nur wenigen Gegenstimmen wurden darüber hinaus die Großmächte aufgefordert, „die Atombombenversuche zunächst für eine begrenzte Zeit einzustellen", um einen vollständigen Stopp einzuleiten.
Am 5. Juni 1964 ratifizierte der Deutsche Bundestag den „Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser". Dieser enthält das Gebot, „die Einstellung aller Versuchsexplosionen von Kernwaffen für alle Zeiten herbeizuführen". Die Bundesrepublik Deutschland hat sich damit zum gesondert zu verfolgenden Ziel eines umfassenden Atomteststopps völkerrechtlich verpflichtet. Zu diesem Ziel hat sich der Deutsche Bundestag auch in mehrfachen Beschlüssen seitdem, zuletzt 1985, bekannt.
1963 war es die Sowjetunion, die einen vollständigen Atomteststopp nicht zustande kommen ließ, weil sie zu einer zuverlässigen und verbindlichen Verifikation nicht bereit war, indem sie die dafür notwendigen Ortsinspektionen ablehnte. Seit dieser Zeit war die Kontrollierbarkeit die einzige Bedingung, die der Bundestag und Bundesregierung an einen umfassenden Teststopp stellten.
Mit der Erklärung vom 15. Januar 1986 hat nun endlich der sowjetische Generalsekretär die offizielle Bereitschaft der Sowjetunion verkündet,
Ortsinspektionen und damit die vollständige Kontrollierbarkeit eines umfassenden Atomteststopps zuzulassen. Damit ist der Weg zu einer endgültigen Einstellung aller Atomversuche frei. Jeder lügt, der noch weiter suggeriert oder behauptet, ein Atomteststopp sei wegen mangelnder Kontrollierbarkeit noch nicht möglich.
Wenn die Regierungsfraktionen ihre eigenen, noch 1983 bis 1985 von ihnen selbst eingereichten und beschlossenen Anträge ernst nehmen, dann müßte heute der Deutsche Bundestag dem Antrag der SPD-Fraktion zur Einstellung aller Atomversuche einstimmig zustimmen. Wenn der Deutsche Bundestag glaubwürdig bleiben will, dann muß er sich mit seiner Mehrheit, ohne Wenn und Aber für einen unverzüglichen Vertrag zum vollständigen Atomteststopp aussprechen und die Bundesregierung zu entsprechenden Initiativen auffordern.
({0})
Wir erwarten mit unserem Antrag mit keinem Wort mehr, als der Bundestag bisher mehrfach beschlossen hat und was das amerikanische Repräsentantenhaus am 26. Februar mit fast Zweidrittelmehrheit forderte.
Unser Antrag soll also bekräftigen und klarstellen. Die Bekräftigung und Klarstellung sind notwendig geworden, weil sowohl die Bundesregierung als auch Abgeordnete der CDU/CSU in den letzten Monaten Auffassungen äußerten, die einer Absage an einen Atomteststopp gleichkommen.
({1})
Alle politischen Versicherungen, daß die Bundesregierung und die CDU/CSU-Fraktion für einen Atomteststopp seien, sind durch mehrdeutige Äußerungen und eindeutige Handlungen der Bundesregierung widerlegt. Sie haben heute Gelegenheit, diesen Vorwurf der Scheinheiligkeit durch Zustimmung zu unserem Antrag zu widerlegen.
Noch am 9. Januar erklärte Bundeskanzler Kohl sein - wie er sagte - grundsätzliches Interesse an einem umfassenden Teststopp. Er erklärte außerdem, daß dies kein Ersatz für eine Reduzierung vorhandener Atomwaffen sei. Vereinbarungen über einen Abbau vorhandener Atomwaffen wurden damit nicht zur Bedingung für einen Atomteststopp gemacht.
Am 15. Januar erklärte Staatssekretär Rühl im Verteidigungsausschuß, der Teststopp sei allenfalls ein langfristiges Ziel; Atomversuche seien so lange notwendig, wie Atomwaffen zur Strategie des Bündnisses gehörten. Damit wurde ein Junktim formuliert, das mit einer Absage zum Ergreifen der Chancen zum Teststopp gleichzusetzen ist.
Dies war der Grund, warum hier am 23. Januar auf Antrag der SPD-Fraktion eine Aktuelle Stunde stattfand. Wir fragten die Bundesregierung, ob sie entgegen den Bemühungen des amerikanischen Kongresses durch Zusatzbedingungen an der Beerdigung der Chancen zum Teststopp beteiligt sei. Die Bundesregierung wich aus, indem sie durch Staatsminister Möllemann erklären ließ, daß Dr. Scheer
wörtlich - „ein enger Zusammenhang zwischen einem umfassenden Teststopp und einem Abbau atomarer Arsenale" bestehe. Dies war ebenso nichtssagend wie unkonkret.
({2})
Am 11. April hat nun Bundeskanzler Kohl in einer Pressekonferenz seine zitierte Aussage vom 9. Januar faktisch zurückgenommen. Er forderte nämlich die USA und die Sowjetunion auf, sich auf Zeitpunkt und Anzahl weiterer Atomtests zu verständigen. Er wollte dies als eine Befürwortung des Teststopps verstanden wissen. Zahlreiche Medien fielen darauf herein, indem sie meldeten, „Kohl für Atomteststopp". Tatsächlich hat sich Kohl aber für das Gegenteil ausgesprochen, nämlich für eine vereinbarte Fortsetzung der Atomversuche. Eine vereinbarte Fortführung der Atomversuche ist aber ebensowenig zu verantworten wie eine unvereinbarte.
({3})
Die Weltöffentlichkeit und die deutsche Öffentlichkeit wollen endlich den vereinbarten Stopp dieses Höllentheaters. Das ist der Punkt, um den es geht. In dieses Bild einer Bundesregierung, die damit weitere Tests befürwortet - allerdings in der Hoffnung, dabei von der Öffentlichkeit nicht ertappt zu werden -, passen nahtlos die Ereignisse der letzten Wochen. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, daß zum SDI-Projekt eine Vielzahl von Atomversuchen gehört und daß nicht zuletzt deshalb ein Programm, das angeblich der Überwindung der atomaren Abschreckung dienen soll, einen weiteren unendlichen atomaren Rüstungswettlauf auslösen wird. Denn um die Laserwaffen, mit denen SDI allein möglich würde, zu entwickeln, bedarf es unweigerlich der Energie von Atomexplosionen. Diesen Zusammenhang haben Sie bisher bestritten. Entweder war dies eine naive Selbsttäuschung. Dann sind Sie unfähig zur politischen Verantwortung. Oder Sie haben diesen Zusammenhang vertuschen wollen. Dann sind Sie politische Roßtäuscher. Die Wahrheit ist, daß Sie mit der Zustimmung zum SDI-Programm automatisch zu Steigbügelhaltern weiterer Tests geworden sind. In den letzten Tagen ist bekanntgeworden, daß allein für die SDI-Forschung und -Entwicklung 200 - ich wiederhole, 200 - weitere Atomversuche notwendig seien.
({4})
In dieses Bild paßt auch, daß Sie in den letzten vier Wochen keinen Versuch unternommen haben, die amerikanische Regierung von der Eröffnung ihrer jüngsten Testserie abzuhalten. Außer einigen lauen Erklärungen, daß Sie an einem Teststopp interessiert seien - die weitestgehende und noch akzeptabelste war von Ihnen, Herr Rühe -, haben Sie insgesamt in Ihrer Mehrheit zugesehen, wie die bisher größte Chance zu einem solchen Teststopp kaputtgebombt worden ist. Sie haben es hingenommen, daß die Sowjetunion zu einer demnächst wohl stattfindenden Wiederaufnahme von Tests provoziert wurde, damit anschließend ungeschminkt und scheinbar unbekümmert eine Flut neuer amerikanischer Tests und dann wohl auch sowjetischer stattfinden kann.
Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen jetzt eilig nachgeschoben haben, trägt zwar die Überschrift „Verbot von Kernwaffenversuchen". Wären Sie wenigstens ehrlich, dann müßten Sie Ihren Antrag mit der Überschrift „Weiterführung von Atomwaffenversuchen" versehen. Ihre Erklärung, daß der Teststopp ein wichtiges Ziel in diesem Antrag sei, ist ein Begräbnis dieses Anliegens. Indem Sie allgemeine Absichtserklärungen für eine Reduzierung von Atomwaffen, die ja auch am SDI-Programm scheitern, gegen den Teststopp ausspielen, verschieben Sie diesen auf den Sankt-NimmerleinsTag. Der Koalitionsantrag ist insofern eine arglistige Täuschung der deutschen Öffentlichkeit, mit der Sie verdecken wollen, welche tiefgreifenden Differenzen es in Ihren Reihen zu dieser Frage gibt, und die Sie zu Mitläufern in der politischen Unterwelt einer immer hemmungsloseren Atomrüstung macht. Ich sage das so, wie ich es empfinde.
({5})
Die kaltschnäuzige Arroganz, mit der die amerikanische Regierung gegen den klaren Willen des amerikanischen Repräsentantenhauses die bisher größte Chance für einen Teststopp in den letzten Wochen runiert hat, hat große Teile der Weltöffentlichkeit und auch mich angewidert. Die lapidare Art und Weise, mit der sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen mit der Teststoppforderung auseinandersetzen und dies heute fortführen, ist für mich ein infamer politischer Vertrauensbruch. Sie sind zu feige,
({6})
sich weiter zu einem sofortigen Atomteststopp zu bekennen, wenn die Kontrollierbarkeit möglich ist. Sie sind aber auch zu feige, sich zu Ihrem politischen Umfall zu bekennen. Ihr Antrag ist deshalb - ich kann es nicht anders nennen - ein Machwerk aus heuchlerischer Selbstverleugnung, aus einer Aufrüstungspolitik mit wohlklingender Abrüstungsrhetorik und aus einer Koalitionszerstrittenheit, die Sie insgesamt lähmt und unfähig selbst zu naheliegendsten und wichtigsten Abrüstungsschritten macht.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Todenhöfer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Rede hat wieder einmal die tiefe, inzwischen offenbar un16480
überbrückbare Kluft zwischen der SPD und den USA gezeigt und eine naive Vertrauensseligkeit gegenüber der sowjetischen Politik. Ich finde das sehr bedauerlich.
({0})
Ich will die Position der CDU/CSU zur Frage der Einstellung aller Atomversuche in vier Punkten zusammenfassen.
Erstens. Für die CDU/CSU hat ein möglichst umfassender Teststopp nach wie vor grundsätzliche Bedeutung.
Zweitens. Ein Teststopp kann kein Ersatz für eine substantielle Reduzierung der vorhandenen Atomarsenale sein. Ein nuklearer Teststopp muß im Zusammenhang mit Art. VI des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen von 1968 gesehen werden. Es besteht daher ein enger Zusammenhang zwischen einem umfassenden Teststopp und Rüstungskontrollmaßnahmen, die einen ausgewogenen Abbau der nuklearen Arsenale zum Gegenstand haben. In der nuklearen Rüstungskontrolle kann ein umfassender Teststopp daher nicht isoliert am Anfang stehen; er ist nur schrittweise, Zug um Zug, mit drastischen Abrüstungsschritten erreichbar.
({1})
Drittens. Eine Lösung der äußerst komplexen Teststopproblematik setzt eine zuverlässige Verifikation auch bei niedrigen Kernladungen voraus.
({2})
Der Verifikationsvorschlag der Bundesregierung vom Juli 1985 ist eine geeignete Basis zur Lösung des Verifikationsproblems. Auch das stimmt, Herr Ehmke.
Viertens. Auch wenn ich die Teststopproblematik als äußerst komplex ansehe, so halte ich dennoch schon jetzt - ich sage das mit allem Nachdruck und mit allem persönlichen Engagement - eine Beschränkung der jährlichen Zahl von Kerndetonationen für möglich und wünschenswert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheugen?
Herr Präsident, wir haben hier eine Kurzdebatte. Ich kann mich in dieser Kurzdebatte leider nicht auf Zwischenfragen einlassen. Vielleicht am Ende meines Beitrages, Herr Kollege, wenn dann noch Zeit bleibt.
Das Unbehagen, das wir alle empfinden, wenn wir immer wieder von neuen Atomtests in Ost und West hören, ist dasselbe Unbehagen, das die Menschheit generell gegenüber nuklearen Waffen empfindet. Dieses Unbehagen hängt mit der Paradoxie nuklearer Waffen zusammen: Auf der einen Seite sind sie ein Segen, weil sie über vierzig Jahre lang einen Krieg zwischen Ost und West verhindert haben, auf der anderen Seite könnten sie jedoch zum Fluch werden, wenn sie im Falle des Versagens der Abschreckung zum Einsatz kämen.
Meine Damen und Herren von der SPD, auch die SPD kann, wenn sie den Frieden nicht gefährden will, keine Verteidigungsstrategie vorweisen, die Nuklearwaffen in naher Zukunft überflüssig machen könnte.
({0})
Meine Damen und Herren von der SPD, sie wissen ganz genau, daß auch Sie zur Verteidigung unseres Landes vorerst Nuklearwaffen benötigen würden.
({1})
Weil das so ist, muß die SPD auch bereit sein, die Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit und Sicherheit des von ihr als notwendig erachteten Bestands an Nuklearwaffen zu gewährleisten. Zu diesen Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit und die Sicherheit der heute noch erforderlichen Nuklearwaffen gehören vorerst auch noch Nukleartests. Auch das wissen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, ganz genau.
({2})
Deshalb ist die Haltung der SPD in dieser Frage auch nicht ehrlich. Sie ist genauso unehrlich wie die Haltung der Sowjetunion in dieser Frage.
({3})
Der Sowjetunion geht es bei ihrer spektakulären Teststoppkampagne nicht um Abrüstung, sondern um Propagandaerfolge im Westen.
({4})
Wir haben leider - ich muß das mit Nachdruck sagen, gerade weil Sie immer wieder mit Moratorien kommen - mit der Sowjetunion bittere Erfahrungen mit Testmoratorien machen müssen. Herr Scheer und auch Sie, Herr Ehmke, müßten sich doch daran erinnern, daß im August 1961 die Sowjetunion überraschend das seit 1958 bestehende Testmoratorium mit den Vereinigten Staaten aufgekündigt und dann innerhalb von zwei Monaten 50 Atomtests in der Atomsphäre durchgeführt hat, die an Sprengkraft die gesamte Sprengkraft aller Nukleartests aller Nuklearstaaten seit 1945 übertroffen haben. Ähnliche Erfahrungen haben wir mit der Sowjetunion bei Moratorien leider immer wieder machen müssen.
({5})
- Die haben dazugelernt? Das haben wir bei der SS 20 gemerkt, sehr geehrte Frau Kollegin.
Die Sowjetunion hat ferner - ich sage das, um hier einmal die Zahlen in Ordnung zu bringen - von 1970 bis 1985 mindestens 327 festgestellte Atomtests - manche können wir ja gar nicht feststellen - durchgeführt - im übrigen in der Zeit Ihrer Entspannungspolitik -, während die USA in
demselben Zeitraum nur 241 Tests durchgeführt haben.
({6})
- Ich sage das „nur" in Anführungszeichen. Die Sowjetunion hat aber immerhin pro Jahr durchschnittlich 20 Atomtests durchgeführt, während die USA 15 Atomtests pro Jahr durchgeführt haben. Von sowjetischer Zurückhaltung in diesem Bereich kann also überhaupt keine Rede sein.
({7})
Herr Abgeordneter - Dr. Todenhöfer ({0}): Ich habe das Problem der Zwischenfragen generell beantwortet, Herr Präsident!
Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, es handelt sich nicht um eine Kurzdebatte. Sie haben 15 Minuten Redezeit. Das ist bei uns schon eine Langdebatte. Kurzdebatte wären fünf Minuten.
Ich habe Herrn Verheugen darauf aufmerksam gemacht, daß ich, wenn am Ende Zeit bleibt, jede Frage beantworte. Das gilt auch für Herrn Scheer.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn vor diesem Hintergrund die Sowjetunion als moralischer Bannerträger einer Teststoppkampagne auftritt, grenzt das an Zynismus.
Die Sowjetunion führt darüber hinaus, völlig ungeniert und unbeachtet und von Herrn Scheer, Herrn Ehmke, Herrn Voigt und all ihren rüstungskontrollpolitischen Vorturnern überhaupt nicht erwähnt, sogenannte friedliche Nukleardetonationen durch. „Friedliche Nukleardetonationen", eine bemerkenswerte Wortschöpfung! Im vergangenen Jahr waren das immerhin zehn sogenannte friedliche Nukleardetonationen, die die Sowjetunion zusätzlich durchgeführt hat. Diese sogenannten friedlichen Nukleardetonationen finden keineswegs immer unterirdisch statt. Sie dienen z. B. der Umleitung von Flüssen im Uralgebirge und in Sibirien. Und, Herr Voigt, sie stellen eine erhebliche Verseuchungsgefahr dar und sind radioaktiv viel gefährlicher als sorgfältig durchgeführte unterirdische Kernwaffentests mit niedrigen Kernstärken. Auch die Tatsache dieser „friedlichen Nukleardetonationen" stört die Sowjetunion, aber auch die SPD, bei ihrer Teststoppkampagne leider nicht. Herr Ehmke, Sie haben sich mit dieser Frage offensichtlich noch nie befaßt.
Die Sowjetunion weigert sich ferner nach wie vor, die erforderlichen Verifikationsmaßnahmen zu akzeptieren, die zur Überwachung und Kontrolle einer Teststopp- oder Testverminderungsvereinbarung unabdingbar wären. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Genfer Abrüstungskonferenz im Juli 1985 wegweisende Vorschläge unterbreitet für den schrittweisen Aufbau eines weltweiten und dichten Netzes seismologischer Meßstationen zur Erfassung von Kernsprengungen aller Detonationswerte. Nur ein solches Verifikationssystem würde die Voraussetzungen dafür schaffen, daß heimliche Kernsprengungen nicht mehr möglich wären. Wenn die Sowjetunion ihren angeblichen Wunsch nach einer Teststoppvereinbarung ernst meinen würde, müßte sie dieses Angebot der Bundesrepublik Deutschland aufgreifen. Sie hat dies jedoch bis heute abgelehnt. Auch das spricht nicht gerade für die Glaubwürdigkeit der sowjetschen Teststoppkampagne.
({1})
Das Angebot der Sowjetunion, von dem Herr Scheer gesprochen hat, auf freiwilliger Basis VorOrt-Inspektionen durch ausländische Beobachter zuzulassen, reicht zur Verfikation von Atomtestverboten nicht aus. Hierzu ist eine gesamte Infrastruktur seismologischer Apparaturen erforderlich. Auch das weiß die Sowjetunion, und auch das weiß die SPD.
Es drängt sich daher der Verdacht auf, daß es der Sowjetunion bei ihrer Teststoppkampagne, die im übrigen sehr an die Freeze-Kampagnen der Sowjetunion erinnert, gar nicht um nukleare Abrüstung bei unverminderter Sicherheit aller Beteiligten geht, sondern um den Versuch, den in den 70er Jahren errüsteten Vorsprung im nuklearen Bereich zu behalten und ein Gleichziehen der USA zu verhindern. Ich will das an einem Beispiel belegen. Die Sowjetunion besitzt schon heute 70 mobile landgestützte Interkontinentalrakten vom Typ SS 25.
({2})
- Die interessieren Sie natürlich nicht, Herr Scheer; das ist bekannt. Ende dieses Jahres wird die mobile sowjetische Interkontinentalrakete SS 24 einsatzfähig sein. Die USA werden erst in den 90er Jahren - wenn überhaupt - in der Lage sein, eine landgestützte bewegliche Interkontinentalrakete, die sogenannte Midgetman, einzuführen.
({3})
Die Sowjetunion braucht für ihre beweglichen landgestützten Interkontinentalraketen anders als die USA keine weiteren Nukleartests mehr. Sie hat alle erforderlichen Nukleartests für die Einsatzfähigkeit dieser neuen sowjetischen Raketen durchgeführt. In einer derartigen Lage einen Teststopp vorzuschlagen, ist für die Sowjetunion eine äußerst praktische und bequeme Maßnahme. Nur: Mit Abrüstungs- und Friedensliebe hat diese Augenwischerei nichts zu tun.
Deswegen haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt, der meines Erachtens realistischer, überzeugender und glaubwürdiger als der Ihre ist
({4})
und die Sicherheit unseres Landes für die nächsten Jahre gewährleistet - was ich von Ihren rüstungskontrollpolitischen Vorschlägen der letzten Monate nicht sagen kann.
({5})
Dem Haus liegt ein weiterer Antrag der SPD vor, ein Antrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen.
({6})
Dieser Antrag der SPD zur Nichtverbreitung von Atomwaffen vom Januar 1985 ist durch die dritte Überprüfungskonferenz, die im August/September 1985 in Genf stattfand, weitgehend überholt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihren 1975 vollzogenen Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag das Prinzip der Nichtverbreitung von Kernwaffen akzeptiert.
Die Bundesrepublik Deutschland hat seinerzeit jedoch gleichzeitig ausdrücklich festgestellt, daß dies nicht zu einer Beschränkung der Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke durch die Nichtkernwaffenstaaten führen darf.
Das war unsere Politik, ist unsere Politik und wird auch in Zukunft unsere Politik bleiben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich meinem Vorredner richtig zugehört habe,
({0})
kann ich nur sagen: Mit Politikern wie Ihnen, Herr Todenhöfer, ist Abrüstung sichtlich nicht möglich. Das wäre ja nicht schlimm.
Aber wenn Sie sagen - und das haben Sie hier wörtlich an die Adresse der SPD gesagt -: „Sie, verehrte Kollegen von der SPD, wissen ganz genau, daß wir zur Verteidigung unseres Landes Nuklearwaffen benötigen",
({1})
kann ich Ihnen nur sagen: Herzlichen Dank; wir jedenfalls werden alles dazu tun, daß Sie und Ihre Gesinnungsgenossen uns nicht mit Nuklearwaffen verteidigen.
({2})
Wenn ich Ihren Antrag betrachte und die Kernforderungen herausziehe, stelle ich fest: Sie sagen, daß der nukleare Teststopp für die Bundesregierung ein wichtiges Ziel bleibt. Dahinter kommt ein Komma, und dahinter steht nichts. Entweder war das der Schreibdienst, oder irgend etwas ist vergessen worden. Sie hätten ergänzen müssen, daß dieses Ziel aber erst dann Praxis werden soll wenn der allgemeine Friede vom Himmel gefallen ist. Offensichtlich steckt wohl das dahinter. Abrüstung und Teststopp auf jeden Fall zu erreichen? Ich kann da keine Absicht erkennen, daß dies in absehbarer Zeit in konkreten Schritten von Ihnen angestrebt wird. Sonst würden Sie einen solchen Satz hier nicht schreiben. Das gilt auch für den Teilsatz b, daß der Teststopp kein Ersatz für eine substantielle Reduzierung vorhandener Waffenarsenale sein darf. Ich finde dieses Wort „Ersatz" überflüssig. Davon redet kein Mensch. Das hat kein Mensch gefordert. Genausogut können Sie sagen: Tagsüber ist es heller als draußen. Das ist ein Unsinn-Satz, der im Grund nur verschleiern soll, daß Ihnen an einer echten Teststopp-Bemühung nicht gelegen ist.
({3})
In seinem Buch „No More War" schrieb der mehrfache Nobelpreisträger und Spiritus rector des partiellen Atomteststopp-Abkommens, Linus Pauling:
Ich persönlich glaube, daß es für uns möglich ist, zu Übereinkünften mit der Sowjetunion zu kommen, mit den Atomtests aufzuhören und Abrüstung zu verwirklichen. Es ist dringend geboten, daß die Diplomatie sich vom Denken des 19. Jahrhunderts befreit und sich der Realität des 20. Jahrhunderts anpaßt. Eine Welt, in der für Krieg Kriegsdrohung als Mittel, nationale Interessen durchzusetzen, kein Platz mehr ist ({4}) Wir alle - Diplomaten und Staatsmänner eingeschlossen - müssen unsere Sichtweise ändern.
Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1958.
Wir haben seitdem weltweit mehr als tausend atomare Testexplosionen erlebt. Seit 1945 haben die beiden Großmächte allein mehr als 1 200 Atombomben zu Versuchszwecken gezündet. Es ist interessant, daß Herr Todenhöfer die Zahlen über die Sprengkraft herausfiltert und gegenüberstellt und die Anzahl wegläßt. Damit kann man natürlich auch Politik machen.
({5})
- Natürlich, aber Sie haben die Anzahl in eine Beziehung zur Sprengwirkung gesetzt, und damit wollten Sie dokumentieren, daß die UdSSR auf diesem Gebiet offensichtlich mehr als die USA gemacht hat. Sie wissen, daß die Zahlen aus dem Jahr 1945 genau anders lauten und daß die USA die Atombombe auch zum erstenmal in der Praxis eingesetzt haben. Das hätte auch in Ihre Darstellung hineingehört; denn auch da geht es um dieses neue Denken, das Linus Pauling angesprochen hat. Der Grund damals bestand aber aus Überlegungen, auf beiden Seiten die Atomwaffen einst als politische Instrumente der Kriegsverhinderung zu definieren, zu einsetzbaren und daher militärisch verwendbaren Kriegsführungsmitteln zu machen. Das gilt beispielsweise für die Neutronenbombe.
Nun hat die Sowjetunion am 8. August 1985, also 40 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki, ein einseitiges Testmoratorium erklärt und dies trotz weiterer amerikanischer Tests, insgesamt übrigens bisher neun, bis heute faktisch beibehalten. Die USA machen keinen Hehl daraus, warum sie weiterhin Massenvernichtungswaffen testen oder, sprachlich
besser und realitätsnäher formuliert, die Vernichtung der Menschheit einüben.
Herr Todenhöfer, ich weiß nicht, ob Sie diese Informationen haben, aber der US-Verteidigungsminister Weinberger hat in Hintergrundgesprächen anläßlich der Tagung der nuklearen Planungsgruppe in Würzburg die Gründe genannt, warum Atomtests aus seiner Sicht notwendig seien, und das sieht ganz anders als das aus, was Sie hier nach dem Motto gesagt haben, die USA müßten nachziehen, weil die UdSSR einen Vorsprung auf dem Gebiet der Atomtests hätte.
Weinberger hat hier drei Punkte ganz glasklar genannt. Er hat gesagt: Es geht hier um die Erhaltung der Zuverlässigkeit des vorhandenen Waffenarsenals, um die Prüfung von Nuklearwaffen gegen Strahlen, wie den elektromagnetischen Puls, EMP, und es geht drittens um die Entwicklung neuer und moderner Sprengköpfe. Das ist ganz klar gesagt, und das sind andere Argumente als Sie hier genannt haben.
({6})
Insofern ist die US-Position auch logisch. Für uns ist es wichtig, daß wir die Konsequenz ziehen, daß es den USA und offensichtlich auch Ihnen primär darum geht, Atomtests beizubehalten, um diesem Kriegsführungsdenken weiterhin Geltung zu verschaffen, und das ist genau das, was Ihre Ideologie von Sicherheitspolitik darstellt.
({7})
Wir fordern die USA auf, dem sowjetischen Beispiel zu folgen und ein Testmoratorium zu erklären. Wir fordern die Sowjetunion auf, ihre unserer Auffassung nach besonnene Moratoriumspolitik beizubehalten. Wir fordern beide Großmächte auf, Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen, einen vollständigen Atomteststopp vertraglich zu vereinbaren, und wir fordern die Bundesregierung auf, sich heute zu einem Drei-Stufen-Plan zu bekennen und sich ohne Wenn und Aber für ein vollständiges Atomteststoppabkommen auszusprechen.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht ob Herr Gorbatschow das neue Denken, das er in Abrüstungspraxis umsetzen will, wirklich verinnerlicht hat. Deshalb müssen wir ihn beim Wort nehmen, seine Vorschläge auf die Verhandlungstische in Stockholm, Wien und Genf bringen. Um das aber glaubwürdig zu tun, müssen wir uns selbst vom alten Denken in Atomkriegsführungskategorien befreien, und der Beweis dieses Denkens fängt da an, wo wir massiv dafür eintreten, daß die Ursachen und die Versuche mit Atomwaffen aufhören mögen. Ich denke, daß hier die Chance wäre, einen Anfang zu machen. Die Beiträge von Ihnen, verehrter Herr Todenhöfer, haben uns leider gelehrt, daß wir auf das Gegenteil hoffen dürfen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feldmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema nuklearer Teststopp beschäftigt uns hier im Deutschen Bundestag nicht zum ersten Male. Erstmals haben wir uns 1957, und zwar einstimmig, für die unverzügliche Einstellung aller Atomwaffenversuche eingesetzt und dieses Petitum seitdem mehrfach wiederholt, zuletzt am 3. Oktober letzten Jahres. Die Kontinuität dieser Forderungen des Deutschen Bundestages über 30 Jahre, an unterschiedliche Bundesregierungen gerichtet, zeigt deutlich, wo unsere Interessen als Land an der Nahtstelle zwischen Ost und West liegen. Wir wollen Rüstungsstopp und Abrüstung.
({0})
Wir sind überzeugt, daß ein umfassender Teststopp diesem Ziel dienen kann. Ich denke, daß wir in dieser Frage zwischen den Fraktionen nach wie vor einen gemeinsamen Konsens herstellen können sollten, da wir in der Hauptsache nicht so weit auseinander sind.
({1})
Parteipolitische Polemik ist hier sicher nicht am richtigen Platz.
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- Herr Kollege, die Bundesregierung lügt nicht. Und niemand ist hier umgefallen.
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Es ist zwar richtig, daß Testexplosionen auch der Überprüfung der Funktionsfähigkeit von Atomwaffen dienen, den Instrumenten der Abschreckung, aber in erster Linie dienen sie leider - da stimme ich meinem Vorredner zu - der Weiterentwicklung und Verbesserung atomarer Waffensysteme. Deshalb sind Kernwaffenversuche ein wesentlicher Teil des Wettrüstens.
Das Teststoppabkommen von 1963 ist auf Nuklearexplosionen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser beschränkt. Weil diese unterirdischen Testexplosionen immer noch erlaubt sind, geht das Wettrennen um die qualitative Verbesserung der Atomwaffen weiter. Die Menschen in Ost und West
- da stimmen Sie mir sicher zu - wollen aber keine Verbesserung der A-Waffen. Wir wollen keine Fortsetzung des Wettrüstens, weder quantitativ noch qualitativ, wir wollen Abrüstung.
({4})
- Langsam Herr Kollege.
Die Sowjetunion hat am 6. August letzten Jahres ein einseitiges, zunächst auf sechs Monate befristetes und dann verlängertes Atomwaffentestmoratorium verkündet, und zwar am Hiroshima-Tag. - Propaganda oder nicht -, jedenfalls beweist die Sowjetunion immer häufiger, daß sie ein gutes Ge16484
spür für die Wünsche unserer Bürger hat. Unsere amerikanischen Verbündeten könnten sich meines Erachtens hier gelegentlich ein kleines Scheibchen abschneiden.
({5})
Ich bedaure aber, daß die sowjetische Führung so kurzatmig ist und schon nach acht Monaten wieder aufgegeben hat. Ich habe - das muß ich klar sagen - wenig Verständnis, daß die USA direkte Verhandlungen über einen Teststopp brüsk abgelehnt und mit den Tests in Nevada den Anlaß zum Abbruch des sowjetischen Moratoriums gegeben haben. Aber bitte, vergessen Sie eins nicht: Auch die USA haben ihre Erfahrungen mit Moratorien gemacht. Die USA haben seit 1967, seit fast 19 Jahren, die Produktion chemischer Waffen eingestellt. An dieses Moratorium halten sich die USA heute noch - und das ist gut so -,
({6})
obwohl die Sowjetunion diesen einseitigen Verzicht in keiner Weise honoriert hat. „Was sind acht Monate, gegenüber 18 Jahren?", werden einige sagen. Sicher sind acht Monate besser als nichts. Aber demonstrative Gesten alleine machen den Frieden noch nicht sicherer.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang betonen, daß es bedauerlich ist, daß solche einseitigen Schritte von der anderen Seite noch immer so wenig honoriert werden.
Für uns Liberale ist der Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens ein unmittelbar anzustrebendes Ziel, das zum frühestmöglichen Zeitpunkt erreicht werden muß. Für uns ist ein Teststoppabkommen kein langfristiges Ziel, das erst dann angestrebt wird, wenn Atomwaffen kein essentielles Element der internationalen Sicherheit und Stabilität mehr sind.
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- Teststopp, Herr Kollege Scheer, ist eine präventive Rüstungskontrolle und sollte deshalb so früh wie möglich beginnen. Da stimmen Sie mir doch zu.
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Deshalb erlaubt sich die FDP, hier auch einen etwas anderen Standpunkt als der amerikanische Präsident zu haben. Wenn Sie das zur Kenntnis nehmen wollen, Herr Kollege Scheer.
({9})
- Herr Kollege Scheer, die Aufforderung des USamerikanischen Repräsentantenhauses an den Präsidenten hat auch unsere Sympathie. Präsident Reagan hat die mit überwältigender Mehrheit verabschiedete Resolution mit dem Argument zurückgewiesen, sie diene nicht den Interessen der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und Freunde.
Die FDP sieht dies etwas anders. Auch als Verbündeter der USA hat die Bundesrepublik Deutschland an diesen Verhandlungen ein großes Interesse, weil sie zur Beendigung des Wettrüstens beitragen und den Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozeß begünstigen können. Es liegt nämlich eine breite Palette interessanter Abrüstungsvorschläge beider Supermächte vor, um die wohl zäh und lange verhandelt werden wird. Aber die Verhandlungen werden unglaubwürdig und meines Erachtens auch unnötig belastet, wenn die Verhandlungsparteien gleichzeitig die Verbesserung, Verfeinerung und Modernisierung atomarer Waffen durch Tests fortsetzen würden. Ein Junktim zwischen Teststopp und erfolgter Abrüstung würde den Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens zum frühestmöglichen Zeitpunkt - dieses ist und bleibt erklärtes Ziel der Bundesregierung - unnötig belasten. Unser Maßstab für das Verhältnis von Abrüstung und Teststopp ist der Nichtverbreitungsvertrag - auch hier haben wir keinen Dissens -, der sowohl zu Verhandlungen über nukleare Abrüstung als auch zum Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens verpflichtet. Die Politik der Bundesregierung - es ist mir erlaubt, das hier noch einmal deutlich zu sagen - ist klar abrüstungsorientiert.
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Lassen Sie mich mit den Worten des Bundeskanzlers schließen - vielleicht gestatten Sie als Opposition wenigstens das -: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen ist unser gemeinsames Ziel.
({11})
Militärische Sicherheit durch ein Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau zu gewährleisten,
({12})
ist das gemeinsam festgelegte Ziel dieser Allianz.
({13})
Das heißt, daß alle Möglichkeiten genutzt werden müssen, mit der Sowjetunion zu ausgewogenen und verifizierbaren Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsvereinbarungen zu kommen. Das gilt auch für den Teststopp.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für gelegentlich konstruktive Zwischenrufe.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit wirklich tiefem Bedauern müssen wir feststellen, daß in dieser Debatte ein wichtiges Stück Gemeinsamkeit unserer bisherigen AußenVerheugen
und Sicherheitspolitik von Ihnen gekündigt worden ist.
({0})
- Nein, das haben Sie getan.
Bisher war es übereinstimmende Meinung des Bundestages und der Bundesregierung, daß wir ein umfassendes Teststoppabkommen wollen. Jetzt redet der Kollege Todenhöfer von einem möglichst umfassenden Abkommen. Jetzt legen Sie einen Antrag vor, den ich in dieser Fassung als eine Vorlage des Pentagon an den amerikanischen Verteidigungsminister verstehen würde,
({1})
aber nicht als eine Vorlage an den Deutschen Bundestag.
Der Kollege Todenhöfer nennt die internationale Diskussion Propaganda und nutzt dabei selbst einen Propagandatrick, indem er sich die Zahlen so zurechtmacht, wie sie ihm passen. Ich will Ihnen die wahren Zahlen sagen, was Kernsprengungen angeht. Von 1945 bis 1985 haben die USA 787 Kernsprengungen durchgeführt, die Sowjetunion 564. Ich kann Ihnen das gern in einzelne Zeiträume aufgliedern, wenn Sie es wollen.
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Der Zusammenhang, den Sie, Kollege Todenhöfer, zwischen Teststopp und dem Nichtverbreitungsvertrag hergestellt haben, ist auch falsch. Ich darf Sie daran erinnern, daß die Genfer Konferenz im vergangenen Jahr gerade zu diesem Thema präzise gesagt hat:
Die Konferenz erinnert daran, daß die Vertragsparteien den Abschluß eines Vertrages über das Verbot aller Kernwaffenversuche als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens betrachten.
Da war keine Rede davon, daß das erst geschehen soll, wenn das Wettrüsten bereits beendet ist.
({3})
An einer anderen Stelle heißt es - das betrifft genau die Bundesregierung -:
Mit Ausnahme einiger Staaten bedauerte die Konferenz zutiefst, daß ein umfassender multilateraler Vertrag über das Verbot aller Kernwaffenversuche durch alle Staaten in jeglicher Umgebung und für alle Zeiten noch nicht beschlossen wurde.
Es kann überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, daß die Genfer Überprüfungskonferenz den Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens als einen Schritt auf das gewünschte Ziel der Reduzierung von Atomwaffen hin betrachtet. Wir bleiben dabei, daß die technischen Möglichkeiten der Verifikation heute gegeben sind und daß dem Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens in Wahrheit nur noch der fehlende politische Wille entgegensteht.
Herr Kollege Todenhöfer hat das wirklich in dankenswerter Offenheit klargemacht, worauf dieser fehlende Wille beruht. Er beruht darauf, daß bestimmte Rüstungsentwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika noch nicht abgeschlossen sind, obwohl die Sowjetunion inzwischen - das wissen Sie ganz genau - angeboten hat, die Waffen, die in den USA weiterentwickelt werden sollen, ganz zu verbieten. Ich frage mich also, wozu Sie unbedingt noch Tests haben wollen.
({4})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu dem Antrag zum Thema Atomwaffensperrvertrag kommen, der im vergangenen Jahr eingebracht worden ist und der in der Tat durch die Konferenz, die am 21. September vergangenen Jahres zu Ende gegangen ist, etwas an Aktualität eingebüßt hat. Aber das gibt uns die Gelegenheit, die Ergebnisse der Konferenz zu bewerten und noch einmal über die künftige Politik der Nichtverbreitung zu diskutieren. Es gibt nämlich ein paar aktuelle Anlässe.
Erstens. Vor ein paar Tagen konnte man lesen, daß Senator Cranston in den USA erklärt hat, der libysche Revolutionsführer Gaddafi versuche, sich in den Besitz von Kernwaffen zu bringen. Der Verdacht war j a schon früher geäußert worden, daß Libyen versucht habe, Atomwaffen zu kaufen. Cranston sagt nun: Nachdem das nicht gelungen sei, versuche Libyen, die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von Atomwaffen in eigener Regie zu schaffen. Der Aufbau der Kernforschungsanlage in Tadschura, 20 km von Tripolis entfernt, dient laut Cranston diesem Zweck.
Das Beispiel zeigt, daß wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie eben doch die Gefahr in sich birgt, daß sich unberechenbare Mächte in Krisenregionen in den Besitz von Atomwaffen bringen könnten. Was das bedeutet, muß ich nicht ausmalen.
Zweitens. Die Genfer Überprüfungskonferenz hat sich mit sehr ernster Besorgnis über die Nuklearfähigkeit Südafrikas geäußert. Auch hier ging es wieder um die Weitergabe von Kernanlagen, Mitteln oder Materialien jeder Art, also die Proliferation von Kerntechnik zu angeblich friedlichem Zweck. Die krisenhafte Situation im südlichen Afrika ist wohl jedem bekannt. Ich hoffe, es ist allen bewußt, daß dort ein Krieg stattfindet.
Das Beispiel Südafrika zeigt jedenfalls, daß es mit Staaten, die dem Sperrvertrag nicht beigetreten sind, keinerlei - wie auch immer geartete - nukleare Zusammenarbeit geben darf.
({5})
Das schließt ein, daß man solchen Ländern auch nicht durch die Ausbildung von Wissenschaftlern an Forschungseinrichtungen zum wissenschaftlichtechnischen Know-how verhelfen darf, wie das in der Vergangenheit leider auch bei uns geschehen ist. Im Zusammenhang mit der Lage im südlichen Afrika kann ich es nur bedauern, daß der Widerstand einiger weniger westlicher Länder - ein16486
schließlich der Bundesrepublik - dazu geführt hat, daß die Genfer Konferenz keine bindende Verpflichtung beschließen konnte, den Uranimport aus Namibia bis zur Unabhängigkeit dieses Landes zu verbieten. Ich lege aber Wert auf die Feststellung, daß die Bundesregierung und einige wenige ihrer Verbündeten in dieser Frage in der ganzen Welt isoliert dastehen.
Das dritte Beispiel führt in eine aktuelle innenpolitische Diskussion, nämlich in den Streit um die im Bau befindliche Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Der Zusammenhang mit dem Atomwaffensperrvertrag wird von der Bayerischen Staatsregierung immer wieder bestritten - dazu hat sie auf Grund ihrer eigenen Meinung zu diesem Vertrag auch allen Anlaß. Unbestreitbar ist, daß die Wackersdorfer Anlage in großem Umfang Plutonium erzeugen wird, aus dem wiederum waffenfähiges Plutonium gewonnen werden kann. Es ist ebenso unbestreitbar, daß der Nichtverbreitungsvertrag ungefähr dann ausläuft, wenn die WAA in Wackersdorf betriebsbereit sein wird. Dabei unterstelle ich, daß die Bayerische Staatsregierung ihre unsinnige, kostspielige und gefährliche Politik trotz des berechtigten Widerstands der betroffenen Bürger fortsetzen wird.
({6})
- Das ist zu befürchten, ja.
Schließlich ist ebenso unbestreitbar wahr, daß der heutige bayerische Ministerpräsident vor dem Nichtverbreitungsvertrag immer sehr, sehr eindringlich gewarnt hat. Er hat ihn als ein atomares Versailles bezeichnet. Er hat die Unterzeichnung des Vertrages durch die Regierung Kiesinger seinerzeit verhindert. Nicht genug damit: Große Teile der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben den Vertrag seinerzeit im Bundestag abgelehnt, und die Bayerische Staatsregierung hat versucht, ihn über den Bundesrat zu Fall zu bringen. So liegen die Fakten.
Ich kann es deshalb keinem Menschen in der Oberpfalz und in ganz Bayern übelnehmen, wenn er daraus seine Schlüsse zieht;
({7})
denn er hat es mit einer Regierung zu tun, die diesen Kernwaffensperrvertrag nicht gewollt hat und jetzt eine solche Anlage mit aller Sturheit, deren sie fähig ist, durchsetzt.
Alle Erfahrungen während der Geltungsdauer des Kernwaffensperrvertrages belegen eindeutig, daß die bestehenden Wiederaufarbeitungsanlagen Risikofaktoren erster Ordnung sind, wenn es um die Kontrolle des auf der Welt erzeugten Plutoniums geht. Zuviel Plutonium ist schon auf unerklärliche Weise verschwunden. Dieses Risiko kann auch in Wackersdorf nicht ausgeschlossen werden.
({8})
- Nun schreien Sie nicht so schnell dazwischen. Genau das war nämlich das Argument Ihres Parteifreundes Albrecht, des niedersächsischen Ministerpräsidenten, im Jahre 1979, daß das nicht ausgeschlossen werden könne. Herr Fellner, merken Sie sich das. Meine Damen und Herren, diejenigen, die in Wackersdorf gegen jede ökonomische und ökologische Vernunft das durchgesetzt haben, täten gut daran, jeden Verdacht zu zerstreuen und jede Besorgnis überflüssig zu machen, indem sie alles nur Mögliche tun, um den Fortbestand des Systems der Nichtverbreitung von Kernwaffen über 1995 hinaus zu fördern.
Diese Aufgabe gilt auch für die Bundesregierung. Maßgeblich für den weiteren Bestand der NV-Politik wird in erster Linie die Frage sein, ob die Kernwaffenstaaten in den nächsten Jahren die Abrüstungsziele des Vertrages endlich erfüllen. Die Genfer Konferenz konnte dazu nichts anderes feststellen, als daß sich im Überprüfungszeitraum die Kernwaffen quantitativ und qualitativ weiterentwickelt haben. In diesem Zusammenhang raubt einem ein Satz aus dem Schlußdokument der Genfer Konferenz, dem die Bundesregierung zugestimmt hat, nun wirklich die Sprache. Dieser Satz heißt - ich zitiere wörtlich -:
Die Konferenz bedauerte, daß die Entwicklung und Dislozierung von Kernwaffensystemen auch während des Überprüfungszeitraumes fortgesetzt wurde.
Das muß man sich einmal vorstellen. Kaum zwei Jahre nach ihrer Entscheidung, die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik in Gang zu setzen, bedauert diese Regierung, daß weitere Kernwaffen disloziert wurden. Wenn sie ihre eigene Entscheidung so schnell zu bedauern hat, warum hat sie sie dann getroffen?
({9})
Meine Damen und Herren, das Schlußdokument ist zustande gekommen, weil die Nicht-Kernwaffenstaaten noch einmal darauf vertraut haben, daß die beiden Großmächte in redlicher Absicht über die substantielle Reduzierung der Atomwaffen verhandeln. Unser Interesse besteht darin, deutschen Einfluß geltend zu machen, um diese im Prinzip von beiden Seiten gewünschte Reduzierung voranzubringen.
Bei der Diskussion über dieses Thema auch heute hat es aus den Reihen der Unionsparteien Töne gegeben, die mich daran zweifeln lassen, ob das noch ein gemeinsames Ziel ist. Ich denke an die Einwände aus der Union bezüglich der für Europa vorgeschlagenen Nullösung bei Mittelstreckenwaffen. Das war früher einmal ein westliches Verhandlungsziel. Jetzt werden auf einmal neue Bedingungen gestellt und neue Hindernisse erfunden. Wenn man so spricht wie Herr Todenhöfer, dann darf man sich nicht wundern, wenn einem in Moskau der Abrüstungswille nicht geglaubt wird - und hier auch immer weniger.
Meine Damen und Herren, ich will noch einen Aspekt des Genfer Dokuments herausgreifen, der für uns eine wichtige und aktuelle Bedeutung hat, denn auch der folgenden wörtlichen Feststellung hat die Bundesregierung zugestimmt. Diese Feststellung lautet:
Die Konferenz vertritt die Auffassung, daß die Schaffung kernwaffenfreier Zonen eine wichtige Abrüstungsmaßnahme darstellt und deshalb der Prozeß der Schaffung solcher Zonen in verschiedenen Teilen der Welt gefördert werden sollte.
Genau darum bemühen wir uns in Europa. Genau darum müssen wir uns von Ihnen ständig Vorwürfe gefallen lassen. Wir müssen immer wieder zu unserer tiefen Enttäuschung feststellen, daß es die Bundesregierung ablehnt, auch nur die Schaffung einer recht bescheidenden atomwaffenfreien Zone in Europa beiderseits der Blockgrenze nach dem Vorschlag der Palme-Kommission zu unterstützen.
Dieselbe Bundesregierung hat aber jetzt wiederum eine völkerrechtlich wirksame Verpflichtung bekräftigt, den Prozeß der Schaffung solcher Zonen zu fördern. Das alles paßt zu der erschütternden Reihe von Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik der jetzigen Bundesregierung. Man wundert sich schon nicht mehr. Meine Damen und Herren, es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, daß die Politik der Nichtverbreitung von Kernwaffen durch eine klare und entschiedene Politik der Rüstungskontrolle, der Rüstungsbegrenzung, der Abrüstung möglich wird.
({10})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Haltung der Bundesregierung zur Frage der Einstellung aller Kernwaffenversuche ist klar und der Öffentlichkeit hinreichend bekannt.
({0})
Der Bundeskanzler hat sich dazu vor der Presse am 9. Januar und am 11. April dieses Jahres geäußert. Ich selbst habe an dieser Stelle am 22. Januar eine Erklärung im Namen der Bundesregierung abgegeben.
Ich möchte die wesentlichen Punkte hier noch einmal unterstreichen. Die Bundesregierung tritt nachdrücklich für einen umfassenden Teststopp zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein.
({1})
- Das war, finde ich, ein sehr klarer Satz.
Kernproblem ist die Gewährleistung einer zuverlässigen Verifikation. Angesichts der großen sicherheitspolitischen Bedeutung eines umfassenden Teststopps ist es unerläßlich, sicherzustellen, daß kein Staat heimlich Tests durchführen kann.
({2})
- Eben.
({3})
- Nein. Jetzt hören Sie doch erst einmal zu. Ich habe doch gerade erst angefangen, Herr Ehmke. Sie wissen schon wieder, was ich sagen werde. Sie sind ungewöhnlich hellseherisch veranlagt.
({4})
- Hören Sie sich das einmal in aller Ruhe an. Ich habe gestern abend lange arbeiten müssen und bin sehr friedlich gesonnen. Deswegen will ich mit Ihnen auch gar nicht unnötig streiten.
Also: Kernproblem ist die Gewährleistung - ich sagte es bereits - einer zuverlässigen Überprüfung, Verifikation. Angesichts der großen sicherheitspolitischen Bedeutung, die ein Teststopp hätte, ist es unerläßlich, sicherzustellen, daß kein Staat heimlich Tests durchführen kann.
Neue technologische Entwicklungen bei den Verifikationsmöglichkeiten und ein wirkliches sowjetisches Entgegenkommen bei der Verifikation, entsprechend den Erklärungen von Generalsekretär Gorbatschow, die hier angesprochen worden sind, könnten die bisher bestehenden Hindernisse überwindbar machen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist Nichtkernwaffenstaat. Wir bringen unser Eintreten für einen umfassenden Teststopp durch praktische Beiträge zu den Fragen zum Ausdruck, in denen wir auch Sachkunde einbringen können. In diesem Sinne haben wir im vergangenen Jahr der Genfer Abrüstungskonferenz vorgeschlagen, schrittweise ein weltweites seismologisches System zur Erfassung von Nukleartests aufzubauen, das auch der Überwachung eines künftigen umfassenden Teststoppabkommens dienen würde. Diesen Vorschlag verfolgen wir bei den Genfer Verhandlungen weiter.
Wir sind überzeugt, daß seine Verwirklichung wesentlich zur Lösung der noch offenen Verifikationsprobleme eines CTB, also eines Abkommens, beitragen würde. Verhandlungen über einen umfassenden Teststopp sind Sache der Kernwaffenstaaten, übrigens nicht nur von zwei Kernwaffenstaaten - darüber haben wir uns hier bereits unterhalten.
Positiv werten wir die kürzlich von Präsident Reagan gemachten Vorschläge, nach denen die USA bereit sind, Gespräche mit der Sowjetunion über die Überprüfung der Begrenzung von Nukleartests zu führen und die beiden 1974 und 1976 im Teststoppbereich abgeschlossenen Verträge zu ratifizieren, wenn effektive Überprüfungsmaßnahmen vereinbart werden können.
Positiv werten wir auch, daß Generalsekretär Gorbatschow in seiner Rede in Togliatti vorgeschlagen hat, die USA und die Sowjetunion sollten sowohl über die Einstellung von Versuchsexplosionen als auch über die Frage der Kontrolle miteinander sprechen. Mit diesen Erklärungen beider Seiten eröffnet sich die Chance für aussichtsreiche Verhandlungen über eine Begrenzung und zukünftige Einstellung von Nukleartests und deren Verifikation.
Es darf nun nicht übersehen werden, daß ein umfassender Teststopp kein Ersatz für drastische Reduzierungen der vorhandenen Kernwaffen sein kann.
({5})
Nur Ergebnisse von Verhandlungen über die Reduzierung und Begrenzung von Kernwaffen
({6})
können ermöglichen, daß mit deren baldigem Abbau begonnen werden kann. Deshalb ist es notwendig, in den bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen in Genf ernsthaft und kompromißbereit alle Möglichkeiten für konkrete Fortschritte bei der Reduzierung von Kernwaffen auszuloten. Wer ernsthaft für nukleare Abrüstung eintritt, muß dazu beitragen, daß diese Verhandlungen zum Erfolg führen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch noch auf den Antrag der Fraktion der SPD zur Nichtverbreitung von Atomwaffen eingehen - Herr Verheugen hat ebenfalls soeben darüber gesprochen -, auch wenn dieser Antrag in manchen Teilen nach dem Ablauf der 3. Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im August/September letzten Jahres in Genf zeitlich überholt ist. Herr Verheugen, Sie räumten das selbst ein. Es wäre wahrscheinlich zweckmäßig, ihn zurückzuziehen.
({7})
In anderen Teilen wurden seine Anliegen im umfangreichen, im Konsens verabschiedeten Schlußdokument dieser Konferenz zu Recht berücksichtigt - auch das ein Grund, den Antrag jetzt als gegenstandslos zu erklären; denn in der jetzt vorliegenden Form ist er einfach nicht mehr sachlich korrekt.
Entgegen vielen skeptischen Erwartungen und im Gegensatz zur 2. Überprüfungskonferenz konnte die 3. Überprüfungskonferenz erfolgreich abgeschlossen werden. Die Konferenzatmosphäre war fast durchweg kooperativ, und als Ergebnis konnte ein substantielles Schlußdokument verabschiedet werden, das alle Aspekte des Nichtverbreitungsvertrages abdeckt. Breite Gemeinsamkeiten gab es bei der Bejahung der grundsätzlichen Ziele des Vertrages und bei der Forderung nach Fortschritten auf dem Weg zur Implementierung der Vertragsbestimmungen. Die ungehinderte friedliche Nutzung und die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet unter entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen wurden übereinstimmend bekräftigt, ebenso die freie Wahl des gesamten nuklearen Brennstoffkreislaufs. Die positive Rolle der Internationalen Atomenergieorganisation ({8}) und ihres Sicherheitssystems wurde unterstrichen, die Formulierung der Forderungen nach umfassenden Sicherheitsmaßnahmen bei Nuklearexporten auch in Länder, die dem Vertrag nicht angehören, hat uns befriedigt. Daher hat die 3. Überprüfungskonferenz insgesamt zur Stärkung des Nichtverbreitungs-Regimes beigetragen.
Die Bundesregierung ist auch nach dem erfolgreichen Abschluß der 3. Überprüfungskonferenz der Auffassung, daß die Nichtverbreitung von Kernwaffen eine erstrangige Bedeutung für die Politik der Friedenssicherung hat. Deshalb wirbt sie für eine universelle Geltung des Nichtverbreitungsvertrages und hat in mehreren Staaten, die dem Vertrag bisher nicht beitraten, für eine aufgeschlossene Haltung geworben. Auch die Bundesregierung sieht im Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag das beste Mittel, die Entwicklung eines zweiten und unkontrollierten Kernenergiemarktes zu verhindern. Sie ist aber darüber hinaus der Meinung, daß eine Politik der Zusammenarbeit mit Nichtkernwaffenstaaten, die nicht Parteien des NV-Vertrages sind, unter der Voraussetzung befriedigender nichtverbreitungspolitischer Regelungen eine Möglichkeit ist, diese Staaten so in das weltweite nichtverbreitungspolitische System einzubeziehen, daß dieses sich seinerseits immer weiter ausbreitet.
Wir stimmen mit der Fraktion der SPD nicht darin überein, daß der Nichtverbreitungsvertrag geändert werden sollte. Die Sicherheitsmaßnahmen der IAEO sind in allen Nichtkernwaffenstaaten, die Parteien des Vertrages sind, lückenlos. Eine Änderung des Vertrages zöge das Risiko nach sich, daß andere Staaten, die dem Vertrag weniger positiv gegenüberstehen als wir, auf weitere Änderungen dringen würden und es möglicherweise dann nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Schwächung des Vertrages führen würde.
Eine besondere Frage ist die, ob spezielle Regelungen für den Export sensitiver Anlagen in den Vertrag aufgenommen werden müssen. Wie Sie wissen, haben sich die Staaten, die die sogenannten Londoner Richtlinien zur Regelung der Weitergabe von Nukleargütern anwenden, zur Zurückhaltung bei Transfers von sensitiven Anlagen und sensitiver Technologie verpflichtet. Die damalige Bundesregierung hat am 17. Juni 1977 erklärt, daß sie Genehmigungen für den Export von Wiederaufbereitungsanlagen und -technologien bis auf weiteres nicht erteilen werde. Dies gilt auch für die jetzige Bundesregierung, Herr Kollege Verheugen.
Zu den weiteren Einzelfragen wie „full-scope safeguards", internationale Plutoniumlagerung, Verwendung von niedrig angereichertem Uran in Forschungsreaktoren haben wir bereits früher hier ausführlich Stellung genommen. Ich möchte das nicht alles wiederholen.
Ich möchte eine Schlußbemerkung an die Adresse des Kollegen Scheer machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Sie haben hier vorhin innerhalb von zehn Minuten im Blick auf die Bundesregierung und die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen folgende Begriffe verwandt: Steigbügelhalter, Mitläufer, Unterwelt, scheinheilig, infam, feige, Machwerk, heuchlerisch. Ich frage mich allen Ernstes, ob Sie diesen Stil auch künftig bei Debatten über den besten Weg der Friedenssicherung praktizieren wollen. Leute, die sich so artikulieren, die den Kollegen hier im Hause mit solchen Begriffen kommen, glaube ich
nicht, daß es ihnen um Friedenspolitik geht. Es geht um plumpe Parteipolitik, und offenbar ist Ihnen dabei jedes Mittel, auch die Diskreditierung Ihrer politischen Konkurrenten recht. Ich weise das in aller Schärfe zurück.
({9})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 19a, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5270. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 19b, und zwar über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/3599. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2787 abzulehnen.
Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen nunmehr über den Zusatztagesordnungspunkt 4, und zwar über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/5399 ab. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5398. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist dieser Antrag bei einer größeren Anzahl von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt worden.
Meine Damen und Herren, wir gehen nun zur Fragestunde über, die ich hiermit aufrufe:
Fragestunde
- Drucksachen 10/5365, 10/5395 -
Wir haben nur den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen aufzurufen, weil alle übrigen Fragen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden - die Antworten werden als Anlagen abgedruckt - oder zurückgezogen worden sind.*)
Zur Beantwortung der Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Mann auf Drucksache 10/5395 steht der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Möl-
*) Zurückgezogen sind die Fragen 33 des Abg. Mann, 45 und 46 des
Abg. Dr. Emmerlich sowie 53 des Abg. von Hammerstein.
lemann, zur Verfügung. Ich rufe nun die Dringlichkeitsfrage des Herrn Abgeordneten Mann auf:
Kann die Bundesregierung den Bericht der New York Times laut Frankfurter Rundschau vom 23. April 1986 bestätigen, Bundeskanzler Kohl habe sich vor dem Luftangriff für ein stärkeres militärisches Vorgehen gegen Libyen ausgesprochen, und welches ist die Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf mögliche amerikanische Militäraktionen gegen Libyen, wenn US-Präsident Reagan am 23. April 1986 weitere militärische Aktionen gegen Libyen nicht ausgeschlossen hat?
Herr Kollege Mann, auf Ihre zwei Teilfragen antworte ich wie folgt. Erstens. Nein, derartige Meldungen hat der Regierungssprecher bereits auf der Pressekonferenz vom 23. April dementiert.
Zweitens. Die Haltung der Bundesregierung zu der von Libyen ausgehenden Entwicklung ist in den Erklärungen des Bundeskanzlers vom 15. und 16. April festgelegt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
Herr Kollege Möllemann, zunächst stelle ich die Frage: Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß sie verpflichtet ist, von sich aus - wohlgemerkt von sich aus, also nicht nur auf Antrag der Oppositionsfraktionen - in der gegenwärtigen Situation die zuständigen Ausschüsse wegen einer möglichen Verwicklung der Bundesrepublik Deutschland in einen kriegerischen Konflikt im Nahen Osten umfassend zu informieren?
Das tut die Bundesregierung ja fortlaufend. Ich selber hatte das Vergnügen und die Aufgabe, dies in der letzten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses erneut zu tun.
Herr Mann, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Kollege Möllemann, meine zweite Zusatzfrage: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß sich durch die Ankündigung von Präsident Reagan, die von mir in meiner Frage erwähnt wurde, aber auch durch die neuen Ankündigungen - ich beziehe mich z. B. auf die ,,Süddeutsche Zeitung" von heute, wo es in einer Überschrift heißt „Präsident Reagan schließt Angriffe auch gegen den Iran und Syrien nicht aus" - die Gefahren terroristischer Anschläge, einer Gefährdung unschuldiger Menschen und eines kriegerischen Konfliktes im Nahen Osten erhöhen?
Herr Kollege Mann, ich weiß nicht, auf welche Äußerungen von Präsident Reagan Sie sich im Detail beziehen. Ich kann mich jetzt nur auf diese Überschrift, von der Sie sprechen, beziehen. Dazu habe ich - wie Sie wahrscheinlich auch - vorhin in den Nachrichten gehört, daß der amerikanische Außenminister Shultz klargestellt habe, daß es in den USA keinerlei Pläne für militärische Operationen gegen Teheran und Damaskus gebe. Es handele sich hierbei um Gedan16490
kenspiele. Ich kann das alles, weil ich es nur aus den Nachrichten kenne, nicht weiter kommentieren. Aber ich teile Ihre Schlußfolgerung ausdrücklich nicht, daß der Hinweis auf die Entschlossenheit, den Terrorismus zu bekämpfen, für sich genommen die Gefahr neuer terroristischer Anschläge provoziere. Die Haltung der Bundesregierung zur besten Weise der Bekämpfung des Terrorismus ist hier ausführlich in den beiden von mir genannten Erklärungen dargestellt worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt ({0}).
Herr Staatsminister, trotz Ihrer Antwort „nein" auf die erste Frage möchte ich Sie fragen, ob Sie bestätigen können, daß der Bundeskanzler von Vertretern der US-Administration vor dem militärischen Vorgehen der USA über ihre Absicht, militärisch gegen Libyen vorzugehen, informiert worden ist, daß er über den Ort, den genauen Zeitpunkt und die genauen militärischen Details nicht informiert worden ist, daß er danach aber auch nicht gefragt hat und insofern der Vorwurf der mangelnden Konsultation eigentlich weniger in Richtung der USA gehen kann, sondern der Vorwurf der mangelnden Informierung des Parlaments an die Bundesregierung gerichtet werden kann.
Das kann ich nicht bestätigen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Tatge.
Herr Möllemann, können Sie mir bestätigen, daß die „New York Times" in ihrem Bericht die Unwahrheit schreibt, wenn sie wiedergibt, daß Bundeskanzler Kohl für ein stärkeres militärisches Vorgehen gegen Libyen vor dem Angriff plädiert hat?
Ich kenne diesen Bericht nicht. Aber zu dem Kern dessen, was Sie gefragt haben - das ist der Kern der Frage Ihres Kollegen -: Ich habe den Eindruck, daß das nicht zutrifft. Dann ist das, wenn es da steht, auch die Unwahrheit.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vogel ({0}).
Herr Staatsminister, weil in der Frage von meinem Kollegen Mann auch gefragt wurde, welches die Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf mögliche amerikanische Militäraktionen gegenüber Libyen sei, würde ich gern wissen, ob es auch passieren könnte, daß sich aus dem NATO-Vertrag Beistandsverpflichtungen bei militärischen Aktionen gegenüber Libyen ergeben könnten. Ich erinnere z. B. hier an den bekanntgewordenen Angriff eines libyschen Schnellbootes auf die italienische Insel Lampedusa, die ja wohl auch zum NATO-Vertragsgebiet gehört. Wie würde sich die Bundesregierung in einem derartigen Fall verhalten?
Zunächst einmal, Herr Kollege, muß ich darauf hinweisen, daß diese auf einen Stützpunkt auf Lampedusa abgefeuerten Raketen drei Kilometer vorher ins Wasser gefallen sind, was ich begrüße. Zweitens ist klar, daß jeder Angriff auf ein Mitgliedsland der NATO als ein Angriff auf die NATO zu gelten hat. Das regelt der Vertrag klar. Drittens bin ich nicht geneigt, darüber hinausgehend hypothetische Fragen zu beantworten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Herr Staatsminister, schließen Sie es aus, daß hohe deutsche NATO-Offiziere wie z. B. der Vertreter von General Rogers in seiner NATO-Funktion vom Bevorstehen der Aktion gewußt haben, zu deren Planung sich General Rogers als Befehlshaber der amerikanischen Truppen ehrlicherweise bekannt hat, und rechnen Sie es zu den Loyalitätspflichten eines Offiziers der Bundeswehr, auch wenn er bei der NATO integriert ist, daß er in einer solchen Situation seine Regierung über Vorgänge informiert, die ja auch terroristische oder militärische Rückschläge auf die Bundesrepublik zur Folge haben können?
Herr Kollege Gansel, ich habe im Auswärtigen Ausschuß ausführlich darüber berichtet und klargestellt, daß es sich bei der Aktion der Vereinigten Staaten von Amerika gegen verschiedene Punkte in Tripolis und Bengasi um eine bilaterale Aktion gehandelt hat. Die NATO war in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt involviert. Deutsche Stellen waren ebenfalls nicht involviert.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schulte ({0}).
Herr Staatsminister, was unternimmt die Bundesregierung zur Zeit, um auf die amerikanische Administration einzuwirken, damit weitere geplante oder in Form von Gedankenspielen vorgenommene Militäraktionen gegen Libyen verhindert werden?
Herr Kollege Schulte, wir haben in den vergangenen Tagen ein Konzept zur wirkungsvollen Bekämpfung des Terrorismus entwickelt. Die Punkte sind der Öffentlichkeit und dem Parlament vorgestellt worden. Wir versuchen, für dieses Konzept möglichst viele Unterstützer zu bekommen, sowohl bei den blockfreien Staaten, bei den arabischen Ländern als auch bei Staaten des Warschauer Paktes, weil wir der Überzeugung sind, daß die Umsetzung dieses Konzepts auf möglichst breiter Ebene den Terrorismus am wirkungsvollsten bekämpfen kann.
({0})
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Borgmann.
Herr Möllemann, in einem Gespräch mit dem US-Botschafter Burt, das wir gestern hatten, sagte er uns, daß die BundesreFrau Borgmann
gierung sehr wohl vor der Aktion unterrichtet worden sei.
({0}) Wollen Sie das bestreiten?
Ich kann nicht bestreiten, was Herr Burt Ihnen gesagt hat. Das weiß ich nicht, ich war ja nicht dabei. Aber zur Sache habe ich hier die richtigen Feststellungen getroffen.
({0})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
({0})
- Das war ein Zwischenruf und nicht die Aussage des Präsidenten.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Mai 1986, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.