Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir fahren mit der Aussprache über Punkt 1 der Tagesordnung fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1984 ({0})
- Drucksache 10/280 -
b) Beratung des Finanzplans des Bundes 1983 bis 1987
- Drucksache 10/281 -
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe ({1})
- Drucksachen 10/335, 10/347 -
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und zur Einschränkung von steuerlichen Vorteilen ({2})
- Drucksachen 10/336, 10/345, 10/348 -
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer durch Kapitalbeteiligungen ({3})
- Drucksachen 10/337, 10/349 -
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über eine Investitionszulage für Investitionen in der Eisen- und Stahlindustrie ({4})
- Drucksachen 10/338, 10/346, 10/350 Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte bietet die Möglichkeit einer Generalaussprache mit unbegrenzter Themenwahl. Davon hat das Haus vor allem gestern Gebrauch gemacht.
Dabei ist eine Äußerung gefallen, die leider vom Präsidium ungerügt geblieben ist. Ein Abgeordneter der GRÜNEN hat einem ehrenwerten Kollegen menschliche Verkommenheit vorgeworfen.
({0})
Das wird ein Nachspiel im Ältestenrat haben.
({1})
Ich will heute nur folgendes sagen. Wer dem anderen in der politischen Auseinandersetzung menschliche Verkommenheit - ({2})
- Schweigen Sie und hören Sie mal zu, Herr Schily, wenn Sie sich parlamentarisch verhalten wollen! ({3})
Wer in der politischen Auseinandersetzung dem anderen menschliche Verkommenheit vorwirft
({4})
und wer einen anderen Menschen mit Blut besudelt,
({5})
dem fehlt die Achtung vor der Menschenwürde,
({6})
dem fehlen die demokratische Gesinnung und die demokratische Haltung, die für den Parlamentarismus notwendig sind,
({7})
und der erinnert in schlimmer Weise an eine schlimme Zeit.
({8})
Meine Damen und Herren, ich möchte die Debatte heute auf ihren eigentlichen Gegenstand zurückführen: auf den Haushalt 1984 und damit auf die schlimme Wirtschafts- und Finanzkrise, die es zu überwinden gilt.
Die Opposition hat dazu vorgestern und gestern keinen weiterführenden Gedanken beigetragen. Ihre Beiträge gipfelten in zwei simplen Aussagen. Erstens. Die Regierung Kohl ist nun schon elf Monate im Amt, und die Krise ist noch immer nicht gemeistert.
({9})
Das war vorwurfsvoll gedacht. Zweitens. Zur Therapie: Macht das, was auch wir in der Regierungsverantwortung gemacht haben; dann wird schon alles wieder gut. Zur Krisenbewältigung wurden im Grund dieselben Rezepte vorgetragen, die in die Krise geführt haben. Es sind immer dieselben Schemata: Was die Wirtschaft angeht, mehr Steuern und Abgaben, und was den Staat angeht, keine Konsolidierung der zerrütteten Staatsfinanzen, sondern immer mehr Schulden, Fortsetzung der ungebremsten Schuldenpolitik. Das Ganze wurde dann noch etwas eingerahmt mit Klassenkampfpolemik: die Reichen gegen die Armen, die Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber; und natürlich mit einer gehörigen Portion Unionsbeschimpfung.
Das war weder geistreich noch überzeugend. Sie können doch nicht einfach verdrängen, daß Sie erst vor elf Monaten uns nicht einen intakten Staat hinterlassen haben, den Sie 1969 von uns übernommen hatten, sondern einen restlos überschuldeten Staat, der seine finanzielle Handlungsfähigkeit weitgehend verloren hat.
({10})
Sie können doch auch nicht verdrängen, daß die Wirtschaft nicht mehr blüht wie 1969, daß sie in wichtigen Teilbereichen, Zukunftsbereichen angeschlagen ist, daß ihre finanziellen Grundlagen geschwächt sind, daß sie an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Die Folge von alldem ist Massenarbeitslosigkeit.
In der Tat, die Krise ist noch nicht gemeistert. Nur ein Narr konnte glauben, daß das in elf Monaten möglich sei. Aber zwei Dinge hat die neue Regierung in wenigen Monaten geschafft.
Erstens. Die sausende Fahrt in den finanziellen Abgrund ist gestoppt. 1984 zeigt die seit Jahren steil ansteigende Kurve des Schuldenzuwachses wieder nach unten. Außerdem brauchen wir für 1983 keinen Nachtragshaushalt. Die von Bundesfinanzminister Stoltenberg dem Haushalt zugrunde gelegten Zahlen waren realistisch und wahrhaftig.
({11})
Auch das erscheint im Rückblick auf die von sozialdemokratischen Finanzministern vorgelegten Haushaltspläne als ein geradezu revolutionärer Wandel zu mehr Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
({12})
Ein Zweites hat die neue Regierung in wenigen Monaten erreicht. Die wirtschaftliche Talfahrt ist beendet. Das „Minuswachstum", wie es beschönigend hieß, hat sich in ein wirkliches, ein positives, wenn auch noch bescheidenes Wachstum gewandelt. Selbst auf dem Arbeitsmarkt, dem letzten Indikator, der den Aufschwung anzeigt, wird die wirtschaftliche Erholung in ersten Ansätzen sichtbar. Die Augustergebnisse zeigen es.
({13})
Der gröbste Schutt, ist damit weggeräumt, den Sie hinterlassen haben.
({14})
Aber die größere Aufgabe steht noch vor uns. Es ist nur natürlich, daß die Diskussion über den jetzt einzuschlagenden Kurs voll entbrannt ist und daß nicht nur die Opposition, sondern auch die verschiedenen Interessengruppen in einem lauten, zum Teil mißtönenenden Chor den Kurs der neuen Regierung begleiten. Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl wird sich dadurch nicht beirren lassen; denn ihr Kurs ist richtig.
({15})
Da gibt es Kritiker, die von sozialer Unausgewogenheit oder gar sozialer Demontage reden
({16})
und in alter Klassenkampfmanier Arbeitnehmer-gegen Arbeitgeberinteressen ins Feld führen. Ich will nicht behaupten, daß beider Interessen identisch seien; aber ich behaupte, daß gerade in einer Krise die gemeinsamen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gegenüber den abweichenden bei weitem überwiegen.
({17})
Daß die Arbeitnehmer das wissen, zeigt das Verhalten ihrer Betriebsräte, die sich um den Erfolg ihrer Firma nicht weniger bemühen als die Unternehmensleitungen. Ich behaupte ferner, daß wir die Krise nur meistern können, wenn Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften die gemeinsamen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Maßstab ihrer Politik machen.
({18})
Das gemeinsame Interesse besteht vor allem darin, die Beschäftigungsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft zu erweitern. Das geht nicht mit kreditfinanzierten staatlichen Beschäftigungsprogrammen, aus zwei Gründen nicht. Erstens sind diese Programme auf Dauer wirkungslos, wie die Erfahrungen der 70er und des Anfangs der 80er Jahre gezeigt haben.
({19})
Zweitens können diese Programme auch nicht mehr finanziert werden, nachdem der Staat durch die unverantwortliche Schuldenpolitik der 70er und des Anfangs der 80er Jahre seinen finanziellen
Handlungsspielraum auf nahezu Null reduziert hat.
({20})
Helfen kann in dieser Lage nur die Gesundung der Unternehmen selbst. Die Unternehmen und nicht der Staat sind die Grundlage unserer ökonomischen Kraft. Es liegt daher im gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Unternehmen von übermäßigen Kosten- und Bürokratiebelastungen zu befreien, ihre Investitionsspielräume zu erweitern und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auch auf den Gebieten wieder herzustellen, auf denen sie in den 70er Jahren verlorengegangen ist. Das gilt vor allem für die Mikroelektronik, die Kommunikationstechniken und andere Zukunftstechnologien,
({21})
die aus ideologischer Verblendung heraus bei uns weniger gefördert als behindert worden sind.
({22})
Der Kurs des neuen Bundesforschungsministers Heinz Riesenhuber ist richtig und wird von uns voll unterstützt.
({23})
Wir werden, meine Damen und Herren, die krisengeschüttelten Branchen und Regionen - ich denke vor allem an Stahl und Werften und das heißt zugleich an Bremen und die Saar - selbstverständlich nicht im Stich lassen.
({24})
Der Bundeskanzler hat dazu klare Aussagen gemacht. Hilfen kann es aber nur auf Zeit geben. Hilfen sind nur gerechtfertigt, wenn sie zu neuen Strukturen führen, die aus sich selbst heraus lebensfähig sind.
({25})
Wir erwarten, daß die neue Bundesregierung mehr als die vorausgegangene Verstöße anderer Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft gegen die Wettbewerbsregeln der Europäischen Gemeinschaft zu Lasten unserer Stahlindustrie zurückweist.
Etwas Besonderes kann nur für die Landwirtschaft und den Bergbau gelten, da wir in der menschlichen Ernährung und in der Energieversorgung eine leistungsfähige Eigenversorgung auf jeden Fall aufrechterhalten müssen und weil in beiden Bereichen naturbedingt die Produktionsbedingungen schlechter sind als bei unserer ausländischen Konkurrenz. Aber auch in diesen Bereichen müssen den Subventionslasten Grenzen gesetzt werden.
Wichtiger sind Investitionen in die Zukunft, in Wirtschaftsbereiche also, in denen neue Märkte entstehen. Nicht konservieren, sondern innovieren schafft und erhält Arbeitsplätze.
({26})
Ich nenne drei Beispiele. Erstens: Umweltschutz. Wirksamer Umweltschutz wird durch moderne Technologien erst möglich. Es sind technisch hoch komplizierte Entschwefelungsanlagen, die den Schadstoffausstoß auf ein erträgliches Maß herabdrücken. Die Katalysatoren, die den reibungslosen Betrieb eines Kraftfahrzeugs mit bleifreiem Benzin ermöglichen, mußten erst einmal erfunden werden, und sie müssen weiterentwickelt werden.
({27})
Diese modernen Technologien schützen die Umwelt und schaffen, wenn wir technische Spitzenleistungen erbringen, Arbeitsplätze, auch für den Export, meine Damen und Herren.
({28})
Zweites Beispiel: Hunger in der Welt. Der Hunger in der Dritten Welt kann nicht dadurch beseitigt werden, daß Überschußprodukte der EG zu den Bedürftigen befördert werden. Er muß in der Dritten Welt selbst überwunden werden. Auch das kann nur mit Hilfe moderner Technologien gelingen,
({29})
die uns hier eine zweifache Chance bieten: die Armut in der Dritten Welt zu bekämpfen und unserer Industrie neue Absatzmärkte zu erschließen. Auch das bedeutet neue Arbeitsplätze für uns.
({30})
Drittens: Dezentralisierung. Die technische Anbindung kleiner Außenstellen in Teilgemeinden an die Zentralverwaltung einer Großgemeinde macht lange Verwaltungswege vermeidbar. Moderne Techniken werden bei Weiterentwicklung auch für Klein- und Mittelbetriebe einsetzbar. Auch das ist ein Schritt zur Dezentralisation und Wiederherstellung der Chancengleichheit. Mit wachsender Dezentralisierung der Dienstleistungsunternehmen können Straßen vom Pendel- und Stoßverkehr entlastet und kann vergeudete Freizeit verfügbar gemacht werden.
({31})
Meine Damen und Herren, die Technik ist nicht unser Feind. Wir müssen sie beherrschen und in den Dienst der Menschen stellen.
({32})
Wie notwendig das ist, zeigt folgender Vergleich. Über ein Drittel der heute in den Vereinigten Staaten von Amerika außerhalb der Landwirtschaft bestehenden Arbeitsplätze - über ein Drittel! - sind in den letzten 20 Jahren neu entstanden, nämlich 36 Millionen von 90 Millionen. Bei uns sind nur ein Achtel, nicht ein Drittel der bestehenden Arbeitsplätze neueren Datums: 3,1 Millionen von 23,6 Millionen. Das zeugt nicht gerade von Vitalität, von
Wandel, von technischem Fortschritt, sondern eher von Lähmung und Erstarrung.
({33})
Das zu ändern, meine Damen und Herren, liegt im allgemeinen Interesse. Ich kann dieses Interesse jedenfalls nicht fein säuberlich in die Kästchen „Arbeitnehmerinteresse" und „Arbeitgeberinteresse" aufteilen.
Unser Ziel muß es ohnehin sein, die Arbeitnehmer mehr noch als bisher zu Eigentümern zu machen, auch am Produktivvermögen. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung mit dem Entwurf des Vermögensbildungsgesetzes hierzu einen entscheidenden Schritt unternommen hat.
({34})
Sie knüpft damit nach zehnjähriger Pause bewußt an die Politik an, wie sie von den Regierungen Adenauer und Ludwig Erhard betrieben worden ist. Nur auf diese Weise lassen sich zwei Ziele auf einen Nenner bringen, nämlich die Wirtschaft zu stärken und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.
({35})
In dieselbe Richtung weist eine Politik, die es Arbeitnehmern erleichtert, sich selbständig zu machen. Die Zukunft unserer arbeitsteiligen Wirtschaft gehört nicht den Giganten, von denen heute manche auf tönernen Füßen stehen und sich nicht selten weniger am Markt als an staatlicher Hilfe orientieren. Die Zukunft gehört neben einigen Großen vor allem den kleinen und mittleren Unternehmen, auch denen, die in den kommenden Jahren in größerer Zahl als bisher neu entstehen müssen.
({36})
Es ist ermutigend, daß sich die diesjährigen Anträge auf Existenzgründungsdarlehen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau gegenüber dem Vorjahr verdoppelt haben.
Beides macht deutlich, meine Damen und Herren: Kapital und Arbeit sind bei uns nicht mehr besonderen Klassen vorbehalten. Die Grenzen zwischen beiden sind längst überschritten, und sie verwischen sich immer mehr - Gott sei Dank.
({37})
Wer sich dieser Tatsache und dieser Notwendigkeit, Herr Schily, widersetzt, verstellt sich den Blick und den Weg in die Zukunft. Erfolg für die Tüchtigen, Hilfe für die Bedürftigen, gleiche Chancen für alle - das ist unsere Philosophie.
({38})
Sie liegt auch unserer Haushalts- und Finanzpolitik zugrunde. Trotz der schwierigen konjunkturellen Lage und trotz der Kürzung des Staatsdefizits gelingt es der neuen Regierung im Haushalt 1984, die schon 1983 eingeschlagene strategische Linie fortzuführen, nämlich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern und durch eine Reihe von steuerlichen Entlastungen im Unternehmensbereich die Investitions- und Innovationskraft zu stärken.
({39})
Nachdem für 1983 schon Entlastungen bei der Gewerbesteuer vorgenommen waren, enthalten der Bundeshaushalt 1984 und seine Begleitgesetze eine Entlastung im Bereich der Vermögenssteuer und werden überdies Abschreibungserleichterungen für die investierende, insbesondere für die mittelständische Wirtschaft vorgesehen.
({40})
Das hat mit sozialer Asymmetrie, wie die Opposition polemisch behauptet, nicht das geringste zu tun.
({41})
Es war die unabhängige Deutsche Bundesbank, die seit Jahren davor gewarnt hat, daß die Ertragslage der Unternehmen und ihre Eigenkapitalquote auf einen erschreckenden Tiefstand gesunken sind. Unternehmen, meine Damen und Herren, die keine Gewinne machen, schaffen keine Arbeitsplätze; Unternehmen, die Verluste machen, gehen in Konkurs und setzen Arbeitskräfte frei. Der Volksmund sagt: Eine Kuh, die man melken will, darf man nicht schlachten, man darf sie auch nicht verhungern lassen. Was für die Kuh gilt, gilt auch für die Wirtschaft, meine Damen und Herren.
({42})
Es gehört ein hohes Maß an ideologischer Verblendung dazu, diese Tatsache aus den Augen zu verlieren.
({43})
Das Klassenkampfsyndrom darf uns auch nicht daran hindern, nach Wegen zu suchen, die geeignet sind, die Steuer- und Abgabenlast der Unternehmen zu begrenzen und, wenn möglich, zu vermindern. Die voll mit Steuern und Abgaben belastete Arbeit ist so teuer geworden, daß das Ausweichen in die Schwarzarbeit, in die Schattenwirtschaft ein schlimmes Ausmaß angenommen hat.
({44})
Daß die Unternehmensbesteuerung bei uns höher ist als bei allen unseren Konkurrenten und daß die Lohnnebenkosten inzwischen die Lohnkosten übersteigen, liegt nicht im Interesse unserer Arbeitnehmer und erst recht nicht im Interesse der Arbeitsuchenden.
({45})
Trotzdem halte ich die Anregung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht, die SteuerentDr. Dregger
lastung auf die Unternehmensbesteuerung zu konzentrieren, vorerst nicht für realisierbar.
({46})
Als nächstes streben wir jedenfalls Entlastungen bei der Lohn- und Einkommensteuer an. Sie liegen im Interesse der Arbeitnehmer und im Interesse der Unternehmen, die von der Einkommensteuer erfaßt werden. Auch das ist eine Entlastung der Unternehmensbesteuerung.
({47})
Ebenso dringlich ist die Steuerentlastung kinderreicher Familien; Stichwort Familiensplitting. Darüber hinaus wird es in dieser Legislaturperiode keinen finanziellen Spielraum für Steuerentlastungen geben, selbst wenn die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und die wirtschaftliche Erholung schnellere Fortschritte machen sollten, als wir es bisher zu hoffen wagten. Aber als Zukunftsperspektive bleibt die Aufgabe bestehen, die Belastung der Unternehmen mit Steuern und Abgaben zu verringern, um auch auf diese Weise Arbeit, und zwar legale Arbeit, für alle wieder möglich zu machen.
({48})
Das System, das immer mit dem Namen von Ludwig Erhard verbunden bleiben wird, heißt nicht Marktwirtschaft, sondern Soziale Marktwirtschaft. Bei all unseren Sparbemühungen darf daher der Kern unseres Systems der sozialen Sicherheit nicht angetastet werden.
({49})
Das geschieht auch nicht. Im Gegenteil: Er wird gefestigt und zukunftssicher gemacht.
Auch 1984 wird das Rentenniveau nicht nur der absoluten Höhe nach, sondern auch relativ, d. h. gemessen am verfügbaren Einkommen der beschäftigten Arbeitnehmer, höher sein als im Durchschnitt der 70er Jahre.
({50})
Das Rentenniveau wird nach einem vollen Arbeitsleben bei Rentenbeginn 65% des verfügbaren Einkommens betragen. Das ist eine Altersversorgung, die es so in keinem anderen sozialen System der Welt gibt. Ein solches Alterssicherungssystem kann nicht das Ergebnis von sozialer Demontage sein.
({51})
Auch das Netz der Sozialhilfe bleibt erhalten. Allerdings gebietet es nicht nur die schlechte Finanzlage der Träger - der Landkreise und der Städte -, sondern auch die Wahrung einer angemessenen Relation zwischen den unteren Lohngruppen und den Sozialhilfeempfängern, hier Veränderungen vorzunehmen.
({52})
Zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden werden wir prüfen, ob die dazu gemachten Vorschläge des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit den besten Weg aufzeigen.
Wie die Lage der Rentner ist auch die der beschäftigten Arbeitnehmer positiv einzuschätzen. Schon in diesem Jahre, 1983, wird dank des stark gebremsten Preisanstiegs von zunächst unter 3% - jetzt 3% - der Reallohn in der Regel kaum sinken. Und er soll auch nicht sinken, auch aus Nachfragegründen soll er nicht sinken.
({53})
Nur im öffentlichen Dienst gibt es geringe Einbußen, die zum Teil in der Sicherheit des Arbeitsplatzes ein Äquivalent haben. Das ist allerdings auf Dauer kein akzeptabler Weg. Nur zur Überwindung der Krise ist er auf Zeit gangbar. Dabei muß die Gleichbehandlung der einzelnen Gruppen des öffentlichen Dienstes gewahrt werden.
({54})
Geringfügige Verschiebungen müssen bei geeigneter Gelegenheit ausgeglichen werden.
Was die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte angeht, stehen sich zwei Richtungen gegenüber. Die einen lehnen den Sparkurs prinzipiell ab und sprechen vom „Kaputtsparen". Den anderen geht der Sparkurs nicht weit genug, sie sprechen von „mangelnder Konsequenz". Beide Vorwürfe sind unbegründet. Wer vom „Kaputtsparen" spricht, stellt die Tatsachen auf den Kopf.
({55})
Zwar wird die Nettoneuverschuldung, d. h. der Schuldenzuwachs, im Vergleich zum Vorjahr unter großen Anstrengungen um einige Milliarden zurückgenommen, aber mit 37 Milliarden DM ist diese Nettoneuverschuldung noch immer 50 mal höher als die Nettoneuverschuldung im Jahresdurchschnitt zwischen 1949 und 1969. Diese veranschlagte Nettoneuverschuldung von 37 Milliarden DM übersteigt immer noch die Schuldengrenze des Art. 115 des Grundgesetzes. Aber ich bin hier noch nicht, lieber Herr Carstens, ohne Hoffnung. Wir können mit einem höheren Bundesbankgewinn rechnen als veranschlagt, und ich erkläre: wenn das der Fall sein sollte, dann wird er auschließlich zur Defizitabsenkung verwandt und zu nichts anderem.
({56})
Vielleicht finden auch die Haushälter noch etwas.
({57})
Es wäre jedenfalls schön und unser Ziel, wieder eine verfassungsmäßige Finanzwirtschaft betreiben zu können, die es in den letzten Jahren nicht mehr gegeben hat.
Aber wie dem auch sei: zur Neuverschuldung des Bundes von zirka 37 Milliarden DM kommt eine hohe Neuverschuldung der Gemeinden, der Länder, der Bundesbahn und anderer Träger öffentlicher Aufgaben hinzu. All das wirkt gewiß nicht deflatorisch.
Wie notwendig unser Sparkurs ist, zeigt folgende Betrachtung.
Herr Kollege Dregger, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Blunck? - Bitte schön, Frau Blunck.
Herr Dregger, ich habe eine Frage. Welche der Sparmaßnahmen, die jetzt von Ihrer Regierungspartei in Augenschein genommen worden sind, trifft eigentlich Sie oder mich?
Trifft -?
Sie oder mich, bei unseren Einkommen. Oder gehen ich recht in der Annahme, daß es lediglich diejenigen trifft, die darauf besonders angewiesen sind?
({0})
Haben Sie noch eine weitere Frage?
Nein, genau diese. Die möchte ich beantwortet haben.
Sonst keine? - Gut. Ich wollte sie nämlich im Zusammenhang beantworten.
Natürlich kann der Staat in seinen Ausgaben nur dort sparen, wo er Ausgaben tätigt. Wenn Sie vom Staat keine Einnahmen bekommen - ich weiß das nicht; vielleicht als Beamtin oder sonstwie -, dann können Sie auch von Sparbemühungen nicht betroffen sein. Aber die Beamten sind z. B. von Sparbemühungen betroffen worden, auch die Angestellten und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes.
({0})
- Von uns Abgeordneten gar nicht zu reden; wir haben ja die Nullrunde seit sieben Jahren.
({1})
Aber das wollte ich gar nicht erwähnen.
Die Tatsache, daß der Einkommen- und Lohnsteuertarif, der naturgemäß diejenigen trifft, die höhere Einkommen haben, seit Jahren unverändert ist und daß sich heimliche Steuererhöhungen in Milliardenhöhe ereignet haben, zeigt doch, daß auch dort etwas liegt, was als Sonderbelastung zu werten ist.
({2})
Mir ist jede Kürzung unangenehm, die diejenigen trifft, die auf diese Einnahmen besonders angewiesen sind. Sie können überzeugt sein, daß wir eine Politik machen werden, die nicht nur auf lange Sicht die sozialere ist - die Politik von Ludwig Erhard hat doch erst den Massenwohlstand für alle geschaffen -,
({3})
sondern daß wir uns auch bemühen, bei diesem Weg aus der Krise, die Sie zu verantworten haben, so sozial gerecht wie möglich zu verfahren.
Meine Damen und Herren, wenn Sie noch einer volkswirtschaftlichen Erkenntnis zugänglich sind, dann möchte ich als weitere Begründung für unseren Sparkurs folgendes sagen. Wie notwendig er ist, zeigt auch folgende Betrachtung. Von der Nettoneuverschuldung des Jahres 1984 in Höhe von 37 Milliarden DM gehen knapp 30 Milliarden DM an Zinsen für Altschulden ab, so daß nur noch ganze 7 Milliarden DM für Sachaufgaben übrig bleiben. Es ist doch eine schreckliche Lawine, eine Schuldenlawine, die ihre Eigendynamik erhalten hat: immer mehr Schulden, immer mehr Zinslasten und immer weniger staatliche Handlungsfähigkeit, immer weniger Möglichkeiten, um konjunkturpolitisch wirksam zu werden. Das müssen Sie doch endlich einmal begreifen.
({4})
Es gibt noch einen dritten Grund für den Sparkurs. Um ihre Defizite in Höhe von sage und schreibe 80 Milliarden DM finanzieren zu können, mußte die öffentliche Hand 1981 von der inländischen Geldvermögensbildung nahezu 50 % für sich selbst in Anspruch nehmen. In den 60er Jahren waren es weniger als 15 % gewesen. Immer mehr Sparkapital wurde auf diese Weise für staatliche, und zwar überwiegend für konsumtive Zwecke verwendet; für Investitionen der Privatwirtschaft stand es nicht zur Verfügung. Dabei beschäftigt allein die private, die unternehmerische Wirtschaft Arbeitskräfte, die ihren Unterhalt am Markt verdienen, die sich also selbst tragen.
Es kann keine Frage sein, daß die expansive Finanzpolitik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung mit ihren wachsenden öffentlichen Defiziten, dem wachsenden Staatsanteil am Bruttosozialprodukt und mit ihrer Umschichtung von den Investitionen zum Konsum unsere Volkswirtschaft auf Dauer aufs schwerste geschädigt hat und daß es großer und langwieriger Anstrengungen bedarf, um das schrittweise wieder in Ordnung zu bringen. Sozialdemokraten, die einigermaßen sachverständig sind, wissen das; manchmal sagen sie das sogar.
Im Frühjahr 1982, in der Endphase seines Lernprozesses, sagte der Bundesfinanzminister Matthöfer folgendes. Ich zitiere Herrn Matthöfer:
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise hat vielleicht auch damit zu tun, daß lange Gewöhnung an Wohlstand manchen den Blick für die ökonomischen Grundtatsachen getrübt hat, daß nämlich aller Wohlstand auf Arbeit beruht, daß es keine Garantie für den wirtschaftlichen Erfolg gibt und daß die Konkurrenz groß und hungrig ist. In einer Zeit, in der alles vom Vorrang der Zukunftsvorsorge und der Schaffung neuer Arbeitsplätze spricht, entziehen die direkten Steuern und die Sozialabgaben den aktiv Beschäftigten und der Wirtschaft immer mehr Geld, um es in immer höherem Maße in unproduktive Verwendungen zu lenken.
- Immer noch Matthöfer. Hier liegt die Wurzel der Forderung nach einer
Umstrukturierung des Sozialprodukts zugunDr. Dregger
sten produktiver, innovativer und investiver Verwendungen.
({5})
Aus dieser SPD, wie sie heute argumentiert, müßte Herr Matthöfer eigentlich austreten.
({6})
Vielleicht gilt das auch für den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Ich wiederhole ein Zitat, das gestern schon gebracht worden ist. Er kann das ja noch drastischer und treffender formulieren als sein Jünger Matthöfer. Er hat vor der Bundestagsfraktion der SPD am 30. Juni 1982 gesagt:
Wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, noch viel tiefer in die Sozialleistungen reinschneiden.
Originalton Helmut Schmidt, nicht meiner. Die heutigen Sprecher der SPD
({7})
argumentieren anders. Sie verdrängen die Erkenntnisse und Erfahrungen, die ihre Regierungsvertreter gemacht hatten, was um so bedauerlicher ist, weil die langen Lehr- und Wanderjahre der sozialdemokratischen Regierungen außerordentlich kostspielig für die deutsche Volkswirtschaft gewesen sind.
({8})
Aus all dem ergibt sich, daß die von uns eingeleitete neue Finanzpolitik unerläßlich und längst überfällig war. Sie als „Kaputtsparen" zu bezeichnen, ist absurd.
({9})
Nicht wer spart und seine Ausgaben seinen dauernden Einnahmen anpaßt, geht kaputt; kaputt geht derjenige, der dauernd über seine Verhältnisse lebt, und das war die Politik der sozialdemokratischen Bundesregierung,
({10})
an deren Folgen wir noch lange Jahre leiden müssen.
Herr Kollege Dregger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Mit Vergnügen.
Herr Kollege Dregger, gehört der Sozialhilfeempfänger, dem Sie also weniger dazugeben,
({0})
als die Preissteigerungsrate dieses Jahres beträgt, für Sie zu denjenigen, die „über unsere Verhältnisse" gelebt haben?
Nein, gewiß nicht.
({0})
- Nein, das habe ich nicht gesagt. Herr Westphal, ich bin gestern schon einmal von Ihrem Fraktionsvorsitzenden falsch zitiert worden. Ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, daß in den Bereichen davon überhaupt nicht die Rede sein kann. Aber daß es ein Problem gibt, nämlich das Problem, daß Arbeitnehmer mit mehreren Kindern in den unteren Lohngruppen - bei denen ist es so - weniger bekommen als Sozialhilfeempfänger, haben Sie vielleicht auch erkannt und als Problem empfunden. Ich folgere daraus mehreres. Ich folgere daraus z. B., daß Kindergeld unentbehrlich ist.
({1})
Es ist nämlich so, daß das Kindergeld für Arbeitende geringer ist als dasjenige, was ein Sozialhilfeempfänger nach dem Bedarfsdeckungsprinzip für seine Kinder erhält. Da ist ein Problem. Auf dieses Problem wollte ich hinweisen; deswegen habe ich das gesagt.
({2})
Schlußfolgerung: Unser Sparkurs hat mit „kaputtsparen" überhaupt nichts zu tun. Er ist im Interesse der Zukunft unseres Landes und der Beschäftigung unserer Wirtschaft notwendig.
Aber jetzt die umgekehrte Frage: Ist denn der Sparkurs konsequent genug? Müssen wir ihn jetzt bei den Haushaltsberatungen nicht noch verschärfen?
({3})
Auch damit möchte ich mich sachlich auseinandersetzen. Diejenigen, die das meinen, sollten folgendes nicht übersehen: Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit das Finanzierungsdefizit des Staates nicht weiter steigen zu lassen, sondern es zu verringern - schon das ist eine respektable Leistung. Die Einsparungen im Bundeshaushalt, wie sie ihren Niederschlag im Haushaltsbegleitgesetz finden, betragen immerhin 6,5 Milliarden DM. Das sind keine einmaligen Ausgaben, die da gespart werden, sondern laufende Leistungen. Dazu kommen Einsparungen in der Rentenversicherung in Höhe von 5,5 Milliarden DM. Diese Sparleistung von insgesamt 12 Milliarden DM, von denen viele unserer Mitbürger betroffen werden, ist beachtlich. Die alte Koalition wäre jedenfalls nicht in der Lage gewesen, das Steuer in dieser Weise herumzureißen.
({4})
Wie groß die Konsolidierungsanstrengung ist, zeigt sich auch beim Blick auf die Ausgabenplanung. Die Bundesausgaben sollen 1984 nur um 1,8
steigen. Sie werden also sehr viel langsamer wachsen als das nominelle Sozialprodukt, das nach der Wirtschaftsprojektion der Bundesregierung für 1984 mit einem Zuwachs von mehr als 5,5 % ausgewiesen ist. Darauf kommt es an: Wenn es uns gelingt, das Ausgabenwachstum über mehrere Jahre hinweg unter dem nominellen Zuwachs des Sozialprodukts zu halten, dann werden die Staatsfinanzen zwar nicht schlagartig, aber schrittweise konsolidiert.
Die neue Linie der Finanzpolitik kann nur zum Erfolg führen, wenn sie durch eine verantwortungsbewußte Tarifpolitik der Gewerkschaften und Arbeitgeber ergänzt und unterstützt wird. In letzter Zeit sind die Tarifpartner ihrer Verantwortung gerecht geworden. Wir hoffen, daß das auch in Zukunft so ist. Insbesondere die Frage möglicher Arbeitszeitverkürzungen muß jetzt eine Antwort finden, die unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Das ist für uns als zweitgrößte Exportnation die wir ein Drittel des Sozialprodukts exportieren müssen und auf dem deutschen Markt auch die Konkurrenz der ausländischen Produkte zu bestehen haben, von entscheidender Bedeutung.
({5})
Wie sagte weiland Herr Matthöfer: Die Konkurrenz ist groß und hungrig.
Im Tempo der Arbeitszeitverkürzung liegen wir ohnehin vorn: Während bei uns jetzt die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich gefordert wird, haben sich die Tarifpartner in der Schweiz gerade darauf geeinigt, die 40-Stunden-Woche einzuführen, aber nicht sofort, sondern in zwei Etappen, 1986 und 1988 - und das nicht bei vollem Lohnausgleich.
({6})
- Ich teile nur eine Tatsache mit. - Ich bezweifle, daß unsere Produkte denen der Schweiz in Qualität und Preis so sehr überlegen sind, daß wir uns in der Arbeitszeitverkürzung ein völlig abweichendes Verhalten leisten können.
Die Schweiz hat keine Arbeitslosigkeit, nur 0,6 %. Das gilt auch für Japan, unseren großen Konkurrenten auf dem deutschen Markt und auf den Weltmärkten: zur Zeit 2,4 %. Das sind die beiden Inseln der Vollbeschäftigung im Meer der weltweiten Massenarbeitslosigkeit. Ich glaube, keiner wird behaupten können, diese beiden Länder würden ihre Sonderstellung einer besonders forcierten Arbeitszeitverkürzung verdanken.
Meine Damen und Herren, wenn bei uns in den 70er Jahren ebenso viele neue Arbeitsplätze in den Zukunftstechnologien entstanden wären wie in Japan und in den USA, wenn jetzt nicht nur ein Achtel der Arbeitsplätze, die wir haben, neueren Datums wäre, sondern - wie in den USA - ein Drittel, dann bräuchten wir, glaube ich, über Mangel an Arbeit nicht zu klagen. Arbeit ist keine fixe Größe, die von irgendeiner Weltbehörde oder vom lieben Gott den einzelnen Industrienationen zugeteilt würde.
Nun, diese Arbeitsplätze sind nicht entstanden, und da sie nicht entstanden sind, fordern wir die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und die Bundesregierung auf, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die Arbeitszeitverkürzungen ohne Verlust der Wettbewerbsfähigkeit möglich machen. Die sogenannte Tarifrente zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit verdient - zumindest als Übergangslösung für die 80er Jahre - nähere Prüfung. Ich weiß, daß der Bundesfinanzminister an die Risiken und Belastungen des Bundeshaushalts denkt, die natürlich beherrschbar sein müssen.
Es ist notwendig, daß Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Bundesregierung sich zusammensetzen und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Arbeitskämpfe bringen uns hier nicht weiter.
({7})
Arbeitskämpfe wegen dieser Frage würden nur der ausländischen Konkurrenz nützen, aber sonst niemandem, meine Damen und Herren.
({8})
Wer seine Produkte nicht mehr im gewünschten Ausmaß absetzen kann, muß besser oder billiger werden, am besten beides; denn die Verbraucher entscheiden doch, was sie kaufen. Wir sind doch auch nicht bereit, auf japanische Autos zu verzichten, wenn sie - was weiß ich - besser oder billiger sein sollten, und für die ausländischen Konsumenten gilt das erst recht. Wer glaubt, sich diesem Zwang durch eine die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigende Arbeitszeitverkürzung, durch Subventionen oder durch kreditfinanzierte staatliche Beschäftigungsprogramme entziehen zu können, betrügt sich selbst und andere, und das können wir uns beim Ernst der Lage gewiß nicht leisten.
Meine Damen und Herren, was unsere Konsolidierungsaufgabe so sehr erschwert, ist das Nebeneinander wichtigster Aufgaben, die gleichzeitig angepackt werden müssen. Drei große Defizite bedrohen unsere Zukunft: das Arbeitsplatzdefizit, das Finanzdefizit und auch das Geburtendefizit. Wir haben die niedrigste Geburtenrate aller Länder der Erde. Für die Gegenwart sind nur die beiden ersten Defizite, das Finanz- und das Arbeitsplatzdefizit, von Bedeutung. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, man könne die Bekämpfung des Geburtendefizits der Zukunft überlassen, man könne dieses Problem vertagen, bis die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise gemeistert sei. Wenn sich auch die negativen Folgen des Geburtendefizits erst mittelfristig zeigen, die Ursachen werden jetzt gesetzt, und zwar in unkorrigierbarer Weise.
({9})
Dieses Geburtendefizit bedroht den Bestand der Nation und die Funktionsfähigkeit des Systems der sozialen Sicherheit, das davon ausgeht, daß die nachwachsende Generation die Kranken- und Altenlast der vorhergehenden übernimmt. Dieses letztere Argument sollten auch diejenigen würdigen, die geneigt sind, nur das als wichtig anzusehen, was ökonomisch und finanziell von Bedeutung ist. Das ist nicht meine Sicht der Dinge; aber selbst wenn
man sich darauf beschränkt, muß man die Frage des Geburtendefizits als ein aktuelles Problem begreifen.
Die Behauptung, das Problem sei nicht mit Geld zu lösen, ist nur zum Teil richtig. Gewiß, entscheidend sind die Bereitschaft zum Kind, der Wille zum Leben und die Orientierung an der Zukunft. Das alles aber wird zur Zeit durch ein Steuer- und Sozialsystem gebremst, das Kinderlose begünstigt und Kinderreiche skandalös benachteiligt.
({10})
Wir wollen Kinder nicht staatlich subventionieren, aber wir wollen staatliche Barrieren abbauen, die jetzt Paare davon abschrecken, sich für Kinder, insbesondere für mehrere Kinder zu entscheiden.
Meine Fraktion möchte deshalb noch in dieser Legislaturperiode drei Reformen auf den Weg bringen - ich drücke mich vorsichtig aus bei dieser Finanzlage -:
Erstens. Die Ausdehnung des Mutterschaftsgeldes für alle Mütter ab 1. Januar 1987. Das steht fest. Das ist der Vorschlag des Bundesfinanzministers selbst. Daran halten wir uns.
Zweitens. Die stärkere Berücksichtigung der durch Kinder entstehenden Kosten bei der Einkommen- und Lohnsteuer, Stichwort Familiensplitting. Dabei geht es im Grunde nur um steuerliche Gerechtigkeit, meine Damen und Herren.
({11})
Sie können doch nicht behaupten, daß ein Mann, der seine Frau, die sich um ihre Kinder kümmert, und vier Kinder unterhält, steuerlich genauso leistungsfähig sei wie ein kinderloses Ehepaar, von dem beide arbeiten. Das ist eine steuerliche Ungerechtigkeit, die verändert werden muß.
Ich betone noch einmal, was ich eben Herrn Westphal schon gesagt habe: Das Kindergeld bleibt unverzichtbar.
Herr Kollege Dregger, erlauben Sie noch einmal eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Blunck?
Bitte schön, gnädige Frau.
Bitte schön, Frau Blunck.
Herr Kollege, ist es richtig, daß derjenige, der arbeitet, viele Kinder hat und keine Steuern zahlt, bei der von Ihnen vorgeschlagenen Form des Familiensplittings keine müde Mark mehr bekommt?
Gnädige Frau, ich habe eine Kommission der Fraktion eingesetzt, in der Haushalts-, Finanz- und Familienpolitiker zusammenarbeiten. Ich kann nicht so vorschnell urteilen, wozu Sie in der Lage sind. Ich denke, daß sehr angestrengtes Nachdenken notwendig ist, um einen gangbaren Weg zu finden. Ich räume Ihnen ein, daß das gar nicht einfach zu verwirklichen ist,
({0})
sowohl vom Volumen her, das hier beim Familiensplitting bewegt werden muß, wie von der Art der Ausgestaltung her. Sie werden uns noch gestatten, in Ruhe nachzudenken und ausgereifte Ergebnisse vorzulegen.
({1})
Das werden wir tun. - Bitte, Herr Kollege Althammer.
({2})
- Entschuldigung, ich darf ja gar nicht.
Ich wollte Sie fragen, Herr Kollege.
Das Wort hat Herr Kollege Althammer zu einer Zwischenfrage.
Darf ich die Frage an Sie richten, ob es Ihnen bekannt ist, daß niemand seitens der CDU/CSU daran denkt, die Direktleistungen an die Familie zu reduzieren,
({0})
sondern daß die im gleichen Maße behandelt werden sollen wie die Steuererleichterungen.
Das ist völlig richtig, meine Damen und Herren. Dabei gibt es bei uns viele Überlegungen. Ich will das ruhig einräumen, die Frage z. B., ob alle Transferleistungen bekommen oder nur diejenigen, die keine steuerlichen Vergünstigungen in Anspruch nehmen können. Ich habe für diesen Gedanken eine Sympathie, das so aufzuteilen. Das ist noch nicht ausdiskutiert. Wir sind bei der Ausgestaltung im einzelnen noch am Anfang. Aber unseren politischen Willen, das zustande zu bringen, können Sie zur Kenntnis nehmen. Wir werden das tun.
({0})
Als drittes schließlich möchten wir das mögliche tun, um der Frau, die sich für Kinder entscheidet und ihre Erziehung - das ist ja doch unentbehrlich, die Mütter sind völlig unentbehrlich -
Herr Kollege Dregger, wir haben noch einmal eine Bitte um eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Matthäus-Maier. - Bitte schön.
Herr Dregger, ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen verständlich, wieso Ihr Kollege Althammer sagen kann, es sei nicht daran gedacht, direkte Leistungen an die Familien zu kürzen, wenn Sie bereits jetzt das Mutterschaftsgeld durch Ihren Gesetzentwurf kürzen?
Wir müssen leider im Jahre 1984 durch ein enges Tal, das uns hinterlassen worden ist. Die Absenkung des Mutterschafts1348
geldes - über die Ausgestaltung ist noch nicht das letzte Wort gesprochen; ich bin z. B. dafür, die vier Monate beizubehalten - ist jedenfalls aus heutiger Sicht unserer Finanzmasse eine Voraussetzung, daß wir es dann 1987 auf alle Mütter ausdehnen können.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie sehen, unser Thema Familienpolitik interessiert auch die anderen. Ich finde es sehr schön, daß Sie geistig mitarbeiten wollen.
({1})
Meine Damen und Herren, schließlich möchten wir das mögliche tun, um der Frau, die sich der Erziehungsarbeit für ihre Kinder widmet, durch Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht ein größeres Stück persönlicher Unabhängigkeit, zu geben. Ich glaube, auf lange Sicht - da stimme ich mit meinem Freund Norbert Blüm überein - ist dieser dritte Punkt wahrscheinlich der entscheidende. Die Frauen wollen im Alter unabhängig sein. Sie wollen wissen, daß sie dann eine eigene Alterssicherung erhalten. Das ist allerdings die schwerste Aufgabe, auch vom Volumen her, aber den Einstieg wollen wir schaffen.
Meine Damen und Herren, ich möchte hinzufügen, wir wissen, all das darf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und der Systeme der sozialen Sicherheit nicht gefährden. Diese von uns beabsichtigte Politik für Kinder, Mütter und Familien ist außerdem davon abhängig, daß es uns gelingt, das noch geringe Wirtschaftswachstum zu verstärken und auch dadurch die Staatsfinanzen zu entlasten. Aber wir sehen, im Gegensatz zu anderen, alle drei Aufgaben gleichzeitig. Wir fordern, den Blick nicht nur auf die Gegenwart zu lenken, sondern auch auf die Zukunft. Und ohne Kinder haben wir keine Zukunft. Und ohne Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern und kümmern können, geht unser Volk zugrunde.
({2})
Meine Damen und Herren, es sind schwere und zahlreiche Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen. Gesunde Staatsfinanzen und eine dynamische Wirtschaft sind das ökonomische Fundament für die Erfüllung aller Staatsaufgaben. Sie müssen im Vordergrund unserer Bemühungen stehen. Technikfeindlichkeit ist ein Luxus, den wir Deutschen uns zuallerletzt leisten könnten. Wir müssen wissenschaftlich, technisch und ökonomisch Spitze sein, und dort, wo wir es nicht mehr sind, müssen wir diesen Rang zurückgewinnen.
({3})
Das setzt auch eine Korrektur der verfehlten Bildungspolitik der 70er Jahre voraus. Nicht die Zahl, sondern die Qualität der Bildungsabschlüsse und ihre Verwendbarkeit im Beruf sind ausschlaggebend.
({4})
Für ein Volk, das auf engstem Raum ohne wertvolle Rohstoffe seinen hohen sozialen Standard bewahren will, gibt es zu einer solchen offensiven, optimistischen, leistungsbezogenen Politik keine Alternative.
({5})
Leistungsverweigerung, Zurückweichen auf den Märkten, Resignation würden schneller, als die Vertreter dieser morbiden Philosophie annehmen, unser Volk ins Elend stürzen.
Einen Rahmen zu schaffen, der Leistung freisetzt und damit Zukunft sichert, auch und vor allem die Zukunft des Sozialstaates, ist das Ziel unserer Haushalts- und Finanzpolitik. Es ist eine Politik für die Zukunft des deutschen Volkes.
({6})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem Applaus nach der Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Dr. Dregger, muß man doch wohl schließen, daß eine wahre Begeisterung bei der CDU/CSU entstanden ist.
({0})
Aber ich muß sagen, daß diese Rede deutlich gemacht hat,
({1})
daß für Herrn Dr. Dregger die Aufgabe des Fraktionsvorsitzenden doch wohl sehr ungewohnt ist; denn vor allem, was die Innen-, Gesellschafts- und Sozialpolitik angeht, war seine Rede keine überzeugende Vorstellung.
({2})
Vor allem waren auch Passagen in dieser Rede, die in weiten Teilen, meine ich, recht widersprüchlich waren.
Lassen Sie mich jetzt auf den sozialpolitischen Teil des Bundeshaushaltsplans und der Haushaltsoperation 1984 eingehen, die nach meiner Auffassung den endgültigen Beweis dafür gebracht haben, was die sogenannte Wende für die Arbeitnehmer und ihre Familien, für die Arbeitslosen, für die Rentner und für die Behinderten bedeutet. Ich meine, es ist sichtbar geworden - auch in der Debatte dieser Woche -, daß die Wende zum Schlechteren, nicht zum Besseren begonnen hat.
({3})
- Ja, ich komme darauf noch, denn im Schuldenmachen sind Sie ja noch besser als wir, wenn ich das richtig sehe.
({4})
Sie sind gegen das Schuldenmachen angetreten, aber Sie machen mehr Schulden als die vorige Koalition. Sie tun aber so, als ob auf diesem Feld die Wende eingetreten ist.
({5})
Die Wende ist auf einem ganz anderen Felde eingetreten. Ich möchte versuchen, Ihnen das klarzumachen.
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- Nun seien Sie doch nicht jetzt schon so aufgeregt. Ich fange doch erst an.
({7})
Wir können Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie inmitten der schwersten ökonomisch-sozialen Krise seit Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts eine Politik des sträflichen Nichtstuns, ja sogar der Krisenverschärfung betreiben, eine Politik des gewollten Sozialstaatsabbaus, eine Politik - ich will versuchen, das auch noch zu beweisen ({8})
der bewußten Entsolidarisierung, eine Politik der Manipulation
({9})
und eine Politik der leeren Versprechungen.
({10})
Es gibt ja nichts Überzeugenderes, was meine letzte Behauptung angeht, als das, was Ihr Fraktionsvorsitzender zur Familienpolitik gesagt hat. Dies war doch geradezu haarsträubend, und zwar deswegen, weil er auf der einen Seite sagt: Auch in einer finanziellen und ökonomischen Krise muß man etwas für die Familien tun, gleichzeitig aber auch sagt: Das Mutterschaftsurlaubsgeld mußten wir nun kürzen, aber 1987 - das steht noch nicht in der mittelfristigen Finanzplanung, aber dies ist von Finanzminister Stoltenberg j a zugesichert worden - werden wir dies alles nachholen. Dann wird manches noch besser werden, sogar im Zusammenhang mit den Kindererziehungszeiten bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies ist allerdings ein wahres Kunststück. Auf diese Dinge möchte ich eingehen, weil ich glaube, daß es notwendig ist klarzumachen, daß Sie hier mit leeren Versprechungen arbeiten.
({11})
Von einer Politik des Nichtstuns und der Krisenverschärfung müssen wir sprechen, weil Sie sich von jeglicher staatlicher Verantwortung für die Arbeitslosigkeit zurückziehen. Heute gibt es - das ist wohl nun inzwischen unbestritten - 400 000 Arbeitslose mehr als vor einem Jahr, und das, obwohl Sie den Wählern den Aufschwung versprochen haben. Dann hätte man j a zumindest erwarten können, daß die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigt. Aber auch dies war ein leeres Versprechen. Alle
Experten, ja sogar die Fachleute des Bundeswirtschaftsministeriums rechnen in ihren internen Analysen, die uns Herr Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff nicht vorlegt, von denen wir aber wissen, mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf mindestens drei Millionen in den nächsten Jahren, wenn - dieser Nebensatz wird hinzugefügt - nichts Entscheidendes geschieht.
({12})
- Ich freue mich überhaupt nicht darüber.
({13})
Wie kommen Sie mir denn eigentlich vor? Glauben Sie, ich stelle mich hier für eine sozialdemokratische Bundestagsfraktion hin, um meine Schadenfreude zum Ausdruck zu bringen? Wir machen doch nicht eine solche Opposition, wie Sie sie in der ganzen Zeit gemacht haben, als wir regierten,
({14})
und zwar nach dem Rezept Sonthofen auf der einen Seite; auf der anderen Seite hatten Sie den Winterschlaf angetreten. Dieser ist Ihnen ganz gut bekommen, wie ich zugeben muß. Trotz des Wahlausganges am 6. März werden wir Ihr Rezept nicht anwenden.
({15})
Es ist doch wohl die Frage gestattet: Was tut denn die Bundesregierung? Ich habe dazu hier noch nichts gehört. Es ist doch wohl, wenn ich jetzt auf die Rede des Herrn Dr. Dregger eingehe, die Frage gestattet: Was tut die Regierungskoalition? Ich sage noch einmal: Ich habe nichts gehört.
Ich habe nur folgendes gehört: Die Bundesregierung verweigert jede aktive Beschäftigungspolitik. Dies wird ja nun von Herrn Dr. Dregger auch noch in nicht sehr überzeugender Weise begründet. Die Bundesregierung blockiert die Arbeitszeitverkürzung und die Modernisierung der Arbeitszeitordnung und damit die Einschränkung der Überstundenpraxis. Dabei wird auf Schweden verwiesen, das nicht bei 35, sondern bei 40 Stunden ist. Wir sind nach unseren gesetzlichen Bestimmungen heute in der Bundesrepublik Deutschland noch bei 48 Stunden. Dies scheint Ihnen j a doch wohl entgangen zu sein. Und alles, was sich darunter bewegt, sind tarifvertragliche Abmachungen. Wir haben es noch nicht einmal fertiggebracht, durch gesetzliche Bestimmungen die Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 den veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in diesem Land anzupassen. Nun fangen wir doch damit erst einmal an.
({16})
- Das haben Sie verhindert!
({17})
Das hat vor allem unser früherer Koalitionspartner, der jetzt Ihrer ist, in der Zeit verhindert, in der wir die Regierungsverantwortung trugen.
({18})
- Ich habe Ihnen eben gesagt: Dies ist von unserem damaligen Koalitionspartner, der heute der Ihrige ist, verhindert worden. Nun können Sie einmal zeigen, ob das bei Ihnen besser wird.
({19})
- In der Tat ist das durch die FDP verhindert worden. Es waren alle Entscheidungen innerhalb der SPD-Fraktion getroffen.
({20})
Die Koalition hat bisher mit parlamentarischen Tricks - vielleicht bestreiten Sie auch das - die Behandlung unseres Gesetzentwurfs zum Vorruhestandsgeld verzögert, ohne selbst etwas auf die Beine bringen zu können. Ich habe gehört, der Entwurf soll in der nächsten Woche in erster Lesung behandelt werden. Bisher ist das auf Betreiben der Regierungskoalition mit der Begründung zurückgestellt worden, daß die Regierung selber einen Gesetzentwurf zum Vorruhestandsgeld vorlegen wird und wir so lange mit der Beratung unseres Gesetzentwurfs warten sollen, bis dieser Gesetzentwurf vorliegt.
({21})
Daß dieser Gesetzentwurf nicht vorliegt, wissen wir inzwischen. Nun werden wir unseren Gesetzentwurf, den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, in der nächsten Woche als einzigen beraten und zwar, wie ich hoffe, mit Zustimmung der Regierungskoalition.
Die Bundesregierung streicht das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium der Bundesanstalt für Arbeit zusammen. Sie kürzt das Unterhaltsgeld bei beruflicher Fortbildung und Umschulung, das Übergangsgeld bei den beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen, die Mobilitätshilfen und die Einarbeitungszuschüsse.
Nun, ich weiß sehr wohl und halte es auch für einen verhältnismäßig schmerzlichen Vorgang, daß durch Maßnahmen der sozialliberalen Koalition die Grenzen des Tragbaren schon erreicht gewesen sind. Aber diese dürfen nunmehr nicht überschritten werden.
({22})
Die Einschnitte, die jetzt vorgesehen sind, sollen - dies ist der Eindruck auch der Behinderten, die in diesen Tagen auf die Straße gehen - die Sache treffen, sollen die Menschen treffen und Maßnahmen wie die berufliche Rehabilitation unmöglich machen. Das steckt doch in Wahrheit dahinter, wenn Sie in diesem Gesetzentwurf - um nur ein Beispiel zu nehmen - gleichzeitig verbieten wollen, daß die Leistungen des Übergangsgelds oder des
Unterhaltsgelds auf das Niveau des Regelsatzes der Sozialhilfe erhöht werden. Dies steht in Ihrem Gesetzentwurf. Da gehen Sie doch bewußt davon aus, daß die Maßnahmen z. B. der beruflichen Rehabilitation abgebrochen werden oder daß solche Maßnahmen überhaupt nicht mehr neu beantragt werden,
({23})
weil die Betreffenden sogar unter das Sozialhilfeniveau fallen, wenn sie eine solche Maßnahme beantragen.
({24})
Mit den Haushaltskürzungen wird darüber hinaus Massenkaufkraft in beträchtlichem Umfang abgeschöpft, und zwar ca. 15 Milliarden DM im Jahre 1984. Schon bei der vorigen Sparoperation 1983 haben Sie dem volkswirtschaftlichen Kreislauf ca. 15 bis 16 Milliarden DM entzogen und nach Meinung von Experten 200 000 Arbeitsplätze vernichtet.
({25})
Ich habe das seit dem vorigen Herbst immer wiederholt. Das haben Sie in keinem Punkt entkräftet. Mit dieser Politik der Massenkaufkraftvernichtung verschärfen Sie die Krise
({26}) und produzieren zusätzliche Arbeitslose.
Eine Politik des bewußten Sozialstaatsabbaus müssen wir Ihnen vorwerfen, weil Sie die Lasten der ökonomischen Krise einseitig den sozial Schwachen aufbürden und die Wohlhabenden begünstigen. Sie kürzen das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe, obwohl Herr Blüm im Oktober vorigen Jahres gesagt hat, Kürzungen des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe seien mit ihm nicht zu machen.
({27})
Dies ist im Debattenprotokoll vom Oktober des vorigen Jahres nachzulesen.
({28})
Ich finde, wir sollten uns daran erinnern. Gleichzeitig wollen Sie die Zwangsanleihe für die Bezieher sehr hoher Einkommen wieder zurückzahlen.
Sie sparen bei den Leistungen für Behinderte und beim Krankengeld, ohne den Ärzten, den Zahnärzten oder der pharmazeutischen Industrie den geringsten Konsolidierungsbeitrag abzuverlangen. Da findet nichts statt.
({29})
- Reden Sie doch dann, wenn Sie das vorher geprüft haben!
({30})
Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode - 20. Sitzung. Bonn. Freitag. den 9. September 1983 1351
- Nein, das ist für Sie unangenehm. Schlimm ist das, was Sie machen, aber nicht das, was ich hier sage.
({31})
Sie kürzen bei den Renten und wollen gleichzeitig über die Wohlhabenden eine ungezielte Vermögensteuersenkung ausschütten - oder bestreiten Sie auch das? -, ohne die geringste Gewähr, daß dies zu mehr als zu verstärkten Kapitalanlagen in den Vereinigten Staaten führt.
({32})
Sie wollen die Enkel und die Großeltern zu den Kosten der Sozialhilfe heranziehen und treiben damit alte Menschen in die verschämte Armut. Ich meine das, was Herr Dr. Geißler im Zusammenhang mit der Vorlage seiner Gedanken zur „neuen Armut" veranstaltet hat. Auf der anderen Seite unternehmen Sie nichts gegen die haarsträubenden Mißstände im Steuerrecht, z. B. bei Abschreibungsgesellschaften und Bauherrenmodellen, nichts gegen Steuerhinterziehung und Subventionsschwindel. Würden Sie dies ernsthafter betreiben, könnten wir auch in der Frage, wie man die Lasten unseres Sozialsystems besser tragen kann, meine ich, zu anderen und besseren Ergebnissen kommen.
({33})
Sie dürfen sich nicht wundern, wenn man Ihre Behauptung nicht glaubt, dies alles geschehe nur, um das soziale Netz zu bewahren und die Vollbeschäftigung wiederzugewinnen.
({34})
Sie setzen sich dem Verdacht aus, daß Sie die Krise als Hebel für Interessenpolitik einsetzen, daß der Sozialstaatsabbau das bewußte, das eigentliche Ziel Ihrer Politik ist.
({35})
Es gibt eine regelrechte Inflation von Denkschriften, in denen Prominente aus CDU/CSU und FDP unmißverständlich klarmachen, daß sie den eigentlichen strategischen Ansatz der Wirtschaftspolitik
- dies hat Herr Dr. Dregger hier heute noch einmal voll bestätigt, wenn ich das richtig verstanden habe
- darin sehen, die Reallöhne zu senken, die sogenannten Soziallasten abzubauen, Arbeitsschutzvorschriften und arbeitsrechtliche Garantien für die Arbeitnehmer, selbst für die schwächsten, zu verschlechtern,
({36})
das Tarifsvertragrecht auszuhebeln und Mitbestimmungsrechte von Gewerkschaften und Betriebsräten einzuschränken. Das heißt doch: Disziplinierung der kleinen Leute ist das Rezept. „Das Fleisch dem Kapital und der Arbeit die Diät", dieses Wort
stammt nicht von mir, sondern von einem prominenten Mitglied der CDU-Sozialausschüsse
({37})
- ich sehe es zur Zeit nicht, aber es wird sicherlich bei der Debatte hier im Saal sein -, nämlich dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Wolfgang Vogt.
({38})
Ich finde, dies ist eigentlich sehr zutreffend charakterisiert.
({39})
- Ja, ich habe nichts dagegen.
Alle Versuche von Teilen der CDU/CSU, sich von den Lambsdorff-, George- und Albrecht-Papieren zu distanzieren, sind völlig wertlos, wenn diese Rezepte in der praktischen Politik tatsächlich angewendet und auch feilgeboten werden, wie das heute morgen durch Herrn Dr. Dregger wieder geschehen ist, angefangen von den Mietgesetzen und der Abkehr vom Grundsatz der Chancengleichheit in der Bildungspolitik bis zum sogenannten Abbau ausbildungshemmender Vorschriften und zur Aushöhlung der Tarifautonomie im öffentlichen Dienst.
Wir müssen Ihnen eine Politik der bewußten Entsolidarisierung vorwerfen, weil Sie ganz offensichtlich planmäßig die Konsolidierungslasten auf die Randgruppen der Gesellschaft abwälzen, die ohnehin die Krise besonders spüren. Sie spekulieren darauf, daß Ihnen das von den 60 % oder 70 % nicht übelgenommen wird, die nicht oder noch nicht betroffen sind. Sie spielen die Arbeitslosen gegen die Beschäftigten aus, die Rentner gegen die Beitragszahler, die Behinderten und Kranken gegen die Leistungsfähigen und Gesunden und behaupten, wir machten Klassenkampf,
({40})
indem wir die unterschiedlichen Interessen der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern darstellen.
({41})
Innerhalb jener Gruppen, die Sie belasten, versuchen Sie noch einmal den Keil der Entsolidarisierung anzusetzen. Sie schonen die relativ gut organisierten Teilgruppen, vermeiden Maßnahmen, die alle gleichmäßig treffen und halten sich an den jeweils schwächsten Teil.
Sie verzichten infolge unseres massiven Drucks
- um auch das einmal klarzumachen - und des Protestes der Verbände auf die erneute Verschiebung der Rentenanpassung.
({42})
Dafür nehmen Sie teilweise unter eklatanter Verletzung des Vertrauensschutzes Einschnitte in individuelle Rechtsansprüche vor, die im Einzelfall wesentlich schmerzhafter sein können, z. B. bei den Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten oder bei der von Ihnen beabsichtigten, wenn auch im jetzi1352
gen Gesetzgebungsverfahren noch nicht enthaltenen Verschlechterung der Rentenansprüche aus Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit, nämlich bei den sogenannten beitragslosen Zeiten.
Wenn Herr Dr. Dregger hier etwas von einer Durchschnittsrente von 65 % des letzten Nettoeinkommens sagt, dann kann ich nur sagen: Herr Dr. Dregger, wir sind heute bei einer Durchschnittsrente von 65 % des letzten Nettoeinkommens unter der Voraussetzung einer Mindestversicherungszeit von 40 Jahren. Die Durchschnittsrenten ganz allgemein sind doch bedeutend niedriger.
({43})
- Dies haben Sie, meine ich, nicht gesagt. Wenn Sie es gesagt haben, nehme ich das zurück. Aber ich habe es nicht gehört. Sollte es so sein, korrigiere ich mich.
Innerhalb der Behinderten schonen Sie die besonders gut organisierten Kriegsopfer und belasten allein die Zivilbehinderten. Sie haben überhaupt keine Skrupel, dem Grundsatz der Finalität, den wir hier gemeinsam entwickelt haben und über den wir gemeinsam entschieden haben, in weiten Teilen aufzugeben.
({44})
Dabei schonen Sie die Kriegsopfer völlig, denn Sie sagen: Dies ist eine gut organisierte Gruppe; aber bei den anderen können wir ruhig rangehen, die können sich nicht wehren.
Wie ist denn das, Herr Dr. Dregger? Wir haben die Sozialversicherung für Behinderte in den Werkstätten für Behinderte nach Überwindung schwerster Widerstände in den 70er Jahren hier dann letzten Endes doch gemeinsam verabschiedet. Nun wird diese Leistung von 90 % auf 70 % des Durchschnittseinkommens aller Versicherten gesenkt. Wissen Sie, was das für die Behinderten selbst und ihre Eltern bedeutet?
({45})
Das bedeutet, daß das, was Sie verhindern wollten - sie im Alter von Leistungen der Sozialhilfe frei zu machen -, eintritt. Das heißt, diese Behinderten und ihre Eltern - sofern die dann noch leben, meistens werden sie es nicht - werden erneut auf die Leistungen der Sozialhilfe angewiesen sein.
({46})
Dies zu beurteilen ist sicherlich nur dem möglich, der das nachvollziehen kann, was sich da abspielt.
({47})
Ich finde, man kann nicht in so leichtfertiger Weise über das hinweggehen.
Als wir im vorigen Jahr oder im vorvorigen Jahr die Zeitdauer der Unterbringung in Werkstätten für Behinderte beschränken wollten - dies war schmerzlich genug - und als das die Institutionen, vor allem die Institutionen der Kirchen traf, haben Sie Demonstrationen ins Leben gerufen. Sie haben die Leute aufgewiegelt, Protestschreiben an uns zu richten. Selbst die geistig Behinderten haben Sie aufgefordert, drei Kreuze zu machen. Sie sind mit denen hier vor die Ausschußtüren gegangen. Heute, wo es um die Ansprüche dieser geistig Behinderten selbst geht, rührt sich bei Ihnen nicht ein Finger.
({48})
Dies ist doch keine Frage der Institution. Dies ist eine Frage des Anspruchs der Behinderten, die dies selbst nicht formulieren können. Ich finde, man kann nicht in so kaltherziger Weise über diese berechtigten Ansprüche hinweggehen. Es ist wirklich nicht meine Art, hier mit Emotionen zu handeln; nein, dies nicht.
({49})
Aber ich glaube, dies müssen Sie doch wohl anerkennen, daß ich mich in besonders engagierter Weise für diese Leute einsetze.
({50})
- Dies müssen Sie so hinnehmen. Sonst hätten Sie das Angebot, über solche Dinge mit uns zu sprechen, angenommen, bevor Sie derart hartherzige Entscheidungen fällen.
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Dieses Angebot haben wir Ihnen seit August vorigen Jahres gemacht. Nun kommen Sie uns nicht damit und sagen: „Wir wollen darüber reden, wie man alle diese Dinge wieder in den Griff bekommt", nachdem Sie Tatsachen geschaffen haben, die später nicht mehr zu korrigieren sind!
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- Ich spreche jetzt von den Behinderten.
Sie erhöhen effektiv die Sozialversicherungsbeiträge, tun dies aber durch verstärkte Heranziehung der Einmalzahlungen und schonen damit diejenigen, deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Das ist ein weiterer Beweis für die „soziale Ausgewogenheit" Ihrer Maßnahmen.
Beim Mutterschaftsgeld versuchen Sie, die nicht erwerbstätigen Mütter gegen die berufstätigen Frauen auszuspielen. Bei der Sozialhilfe spekulieren Sie darauf, diejenigen von der Inanspruchnahme abzuschrecken, die ohnehin entweder aus Unwissenheit oder falscher Bescheidenheit auf ihr gutes Recht verzichten.
Meine Damen und Herren, daß dies alles von einer Partei ins Werk gesetzt wird, die angeblich die neue soziale Frage entdeckt hat - ich habe es bereits gesagt -, verdient es wirklich, dem Bürger immer wieder mit Nachdruck vor Augen geführt zu werden.
Wir müssen Ihnen auch eine Politik der Manipulation und der unsoliden Verschiebung von Finanzierungslasten vorwerfen.
({53})
- Davon verstehen wir in der Tat was, natürlich. Dies will ich auch gar nicht beschönigen. Wie käme ich dazu! Aber ich will sagen, wo der Punkt erreicht ist, den eigentlich weder Sie noch wir mitmachen können. Ich hatte gemeint, Sie seien sensibilisiert auf Grund bestimmter Vorgänge in der sozialliberalen Koalition, die ich hier nicht nachträglich gutheiße; ich denke gar nicht daran. Aber das ist auch nicht für Sie ein Grund, der Sie es besser machen wollten. Sie haben gesagt: So geht das nicht mehr weiter, jetzt wollen wir eine neue Politik! - Aber Sie machen es jetzt in einem Umfang, der noch viel, viel schlimmer ist als das, was wir gemacht haben.
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Wir müssen Ihnen diesen Vorwurf machen bezüglich Ihrer Streichungen bei den Sozialleistungen, vor allem bezüglich der Kürzung des Arbeitslosengelds und der Arbeitslosenhilfe. Dies ist absolut neu. Bisher hat ein solcher Versuch noch nicht stattgefunden. Diesmal war er erfolgreich. Sie treiben noch mehr Menschen in die Sozialhilfe und wälzen soziale Verpflichtungen des Bundes auf die Haushalte der Städte und Gemeinden ab, die sich vielfach ohnehin in äußerster Finanznot befinden.
Die Krankenversicherung und die Unfallversicherung werden zugunsten der Rentenversicherung und des Bundeshaushalts geschröpft, angezapft, ohne daß etwas für eine dauerhafte Sanierung gewonnen wird. Wenn wenigstens das dabei herauskäme! Aber auch das ist nicht der Fall.
Es kommt dabei auch nichts im Sinne einer Bekämpfung der Arbeitslosigkeit heraus, wie uns Graf Lambsdorff das gestern oder vorgestern in bewegten Worten immer wieder klarmachen wollte. Nichts dergleichen ist dabei herausgekommen und wird dabei herauskommen.
Wir haben nachgerechnet, daß nicht weniger als 4,9 Milliarden DM im Jahre 1984 auf die Versicherten in den drei Zweigen der Sozialversicherung abgewälzt werden. Aber die Bundesregierung versucht durch eine Vielzahl von Tricks, eine offene Beitragssatzsteigerung zu vermeiden, um die Arbeitnehmer über die tatsächliche Belastung hinwegzutäuschen.
Allein 1,9 Milliarden DM an Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen mutet man den Krankenkassen zu, was natürlich der Beitragsstabilität entgegenwirkt, um die sich die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenversicherung seit Jahr und Tag im Zusammenhang mit den Kostendämpfungsversuchen der sozialliberalen Koalition bemüht.
({55})
Eine Politik der leeren Versprechungen werfen wir Ihnen vor, weil Sie frühere, während Ihrer Oppositionszeit gegebene Zusagen kaltschnäuzig mißachten und für die Zukunft unverantwortliche Versprechungen machen, die Sie nicht einlösen können. Was ist denn die sogenannte Lehrstellengarantie anderes gewesen als eine bewußt auf den Wahltag und den Schlitz der Wahlurne hin gezielte und kalkulierte leere Versprechung? Sie haben dieses Versprechen doch nicht nur für 30 000 oder 35 000 Jugendliche gegeben - das hat der Kollege Kuhlwein gestern abend schon klarzumachen versucht -, sondern der Bundeskanzler hat gesagt: Jeder junge Mensch, der bildungsfähig und bildungswillig ist, soll einen Ausbildungsplatz erhalten. Dafür wolle er sorgen. Ich finde, das kann man nun nachträglich nicht einschränken.
({56})
- Das haben wir in der Tat nicht gesagt. Das konnten wir auch gar nicht sagen, denn zu dem Zeitpunkt - ({57})
- Getan haben wir allerhand. Aber Sie haben doch auch zusätzliche Möglichkeiten nach dem Arbeitsförderungsgesetz ab 1. Januar 1983 durch Ihr Haushaltsbegleitgesetz 1983 beschnitten.
Das beste Beispiel für die unsoliden Versprechungen der Union ist aber ihre Familienpolitik. Jahrelang haben CDU/CSU die frühere sozialliberale Bundesregierung mit unrealistischen Forderungen - ich möchte einmal sagen - drangsaliert und den Eindruck erweckt, nach dem Regierungswechsel werde der große Segen für die Familien kommen. Die Wirklichkeit nach dem 1. Oktober vorigen Jahres steht, so meine ich, in völligem Gegensatz zum ideologischen Anspruch.
Erst kam die BAföG-Streichung, nun kommt die Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes.
({58})
Darüber hinaus wird auch - das ist übrigens noch gar nicht gewürdigt worden - der Kinderzuschuß zu den Renten gestrichen, was ja vor allem die vorzeitig Berufs- und Erwerbsunfähigen trifft, diejenigen mit besonders niedrigen Renten. Ich meine, auch das ist eine Maßnahme der Familienpolitik gewesen. Hinzu kommen schließlich die Beerdigung der Reform der Hinterbliebenenversorgung bzw. die Ankündigung, daß das nun wohl auf dem geringsten aller Nenner vielleicht im nächsten Jahr stattfindet.
({59})
Der Haushaltsansatz für das Kindergeld geht nicht nur anteilig zum Gesamtetat, sondern auch absolut zurück - Frau Fuchs hat das eben gesagt -, und zwar um 830 Millionen DM.
({60})
Das ist in der Tat eine höchst erstaunliche Leistung,
wenn man Ihre eigenen Programmvorstellungen
zur Familienpolitik, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, als Maßstab anlegt.
Diesen Eindruck können Sie auch nicht mit den schönsten Zukunftsvisionen zudecken, die wir jeden Tag hören mit dem Ziel, die Leute zu beruhigen: weder mit der Aussicht auf ein Erziehungsgeld nach dem Modell des bayerischen Ministerpräsidenten Strauß noch mit der Ideologie der neuen Mütterlichkeit des Bundesarbeitsministers Blüm, noch mit den leeren Versprechungen des Familienministers und Generalsekretärs Dr. Geißler,
({61})
irgendwann einmal - wie es da so schön heißt -, sobald die Finanzlage es zulasse - das hat j a auch Herr Dregger gesagt -,
({62})
werde etwas gemacht. Auch schwere Zeiten dürften uns eigentlich nicht daran hindern, in der Familienpolitik das Notwendige zu tun. Nein, er tut das nicht, stattdessen kürzt er.
Erziehungsjahre in der Rentenversicherung sollen ebenfalls anerkannt werden. Außerdem wird ein sogenanntes Familiensplitting in Aussicht gestellt, von dem Sie doch selbst wissen, daß es entweder verteilungspolitisch völlig verfehlt oder völlig unfinanzierbar wäre. Damit werden jedenfalls Versprechungen in die Welt gesetzt, die Sie nicht halten können. Wir werden darauf bestehen, daß Ihr familienpolitischer Anspruch an der Wirklichkeit gemessen wird.
Trotz der Ablehnung der Haushaltsoperation der Regierungskoalition wird sich die SPD-Bundestagsfraktion nicht aufs bloße Neinsagen verlegen, sondern ihre Alternativen aufzeigen.
({63})
Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, daß nicht der Sozialstaat, sondern die Arbeitslosigkeit zu teuer ist. Deshalb bestehen unsere Alternativen in erster Linie in einem erneuten Konzept zur aktiven Beschäftigungspolitik, das wir in Kürze vorlegen und in die parlamentarische Behandlung einbringen werden. Ich befürchte nur, daß Sie dieses neue Konzept genauso wie das erste ablehnen werden. Das ist ja durch die gestrigen Ausführungen von Wirtschaftsminister Lambsdorff deutlich geworden.
Im Unterschied zur Politik der Union in ihrer früheren Oppositionszeit werden wir zur Konsolidierung der Rentenversicherung ein solides und rechenbares eigenes Konzept vorlegen, das sich nicht darauf beschränkt, hastig die Pfennige zusammenzukratzen und notdürftig die Löcher zu stopfen, sondern zugleich eine dauerhafte und sozial ausgewogene Sicherung der Rentenfinanzen beinhaltet. Dazu gehört in allererster Linie, daß die Bundesanstalt für Arbeit für die Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wieder volle Rentenversicherungsbeiträge zahlt. Denn die eigentliche Ursache der gegenwärtigen Rentenprobleme sind die zu hohe Arbeitslosigkeit und die Tatsache
Herr Kollege!
- ich komme zum Schluß, Herr Präsident -,
({0})
daß die jetzt regierende Koalition die Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit um über 55% gekürzt und der Rentenversicherung damit Liquidität in Höhe von rund 5 Milliarden DM jährlich entzogen hat. Diese Fehlentscheidung muß rückgängig gemacht werden.
Darüber hinaus werden wir, was die Aktualisierung der Renten angeht, der Bundesregierung zustimmen. Wir sind für eine gleichmäßige Entwicklung der Renten und der verfügbaren Arbeitseinkommen.
Herr Kollege Glombig!
Wir werden auch Vorschläge machen hinsichtlich der Berechungsgrundlagen des Arbeitgeberbeitrages, und zwar im Hinblick auf die Wertschöpfung. Weiter sind wir der Auffassung -
Herr Kollege Glombig, Sie haben mir vor zwei Minuten versprochen, zum Schluß zu kommen.
Sind schon zwei Minuten herum? Das bedaure ich sehr, daß das so schnell geht. Ich komme jetzt zum Schluß.
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Herr Kollege Glombig, ich kann mich mit dem Bedauern nicht zufriedengeben. Wir haben bestimmte Vereinbarungen, die einzuhalten der Präsident gezwungen ist.
Ich komme nun wirklich zum Schluß
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und bringe zum Ausdruck, daß wir in den Ausschußberatungen den Versuch einer vernünftigen Gestaltung des sozialpolitischen Teils dieser Begleitgesetze erneut machen werden und daß wir auf die Kräfte in der CDU/CSU und vielleicht auch noch in der FDP hoffen, die uns dabei unterstützen werden. - Schönen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Cronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Zusicherung von Eugen Glombig, in den Ausschußberatungen eine sachliche Diskussion zu garantieren - das ist seine Pflicht als Ausschußvorsitzender - und für seine Partei eine sachliche Diskussion zu führen, möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
Man hat gespürt, daß es Eugen Glombig leichter gefallen ist, diese Oppositionsrede heute zu halten, als in der Vergangenheit eine seriöse vernünftige
Cronenberg ({0})
Politik zu unterstützen; das ist ihm viel schwerer gefallen.
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Aber sei's drum. Der Bürger, der Wähler erwartet nicht Schau, erwartet nicht Aktionismus, er erwartet Kontinuität und Konsequenz, zu Recht.
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Mindestens hat Eugen Glombig in seiner Rede den Liberalen keine mangelnde Konsequenz vorgeworfen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
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Er hat davon gesprochen, daß im Wirtschaftsministerium möglicherweise Prognosen vorlägen, die eine stärkere Arbeitslosigkeit befürchten lassen. Das ist sicher nicht verkehrt. Aber er hat auch gesagt - und das möchte ich ausdrücklich unterstreichen -: „wenn nichts Entscheidendes passiert". Entscheidendes haben Sie vorliegen, nämlich einen konsequenten Konsolidierungshaushalt. Genau dies ist die entscheidende Voraussetzung, daß im Lande wieder mehr Arbeit ist. Das ist genau der Grund, warum wir diesen Haushalt so hartnäckig vertreten.
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Kurzatmige „Ex-und-Hopp-Arbeitsbeschaffungsprogramme" helfen da nicht. Wir brauchen keinen Neuheitenkatalog. Wir müssen das, was wir uns vorgenommen haben konsequent durchführen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Herr Kollege Dreßler, ganz kurz, aber dann bitte ich um Verständnis, daß ich keine weitere Frage zulasse. Denn meine Zeit ist außerordentlich beschränkt.
Herr Kollege Cronenberg, Sie haben gerade erklärt, daß der vorliegende Haushalt der entscheinde Durchbruch sei. Können Sie mir erklären, wieso dann die Bundesregierung in ihrer mittelfristigen Finanzplanung bis 1987 die durchschnittliche Arbeitslosigkeit nicht als zu senken, sondern mindestens als gleichbleibend, wenn nicht sogar als verstärkt prognostiziert?
Nein, Herr Kollege Dreßler, ich habe nicht erklärt, das sei der entscheidende Durchbruch. Ich bitte Sie, genau zuzuhören. Ich habe gesagt, daß das ein entscheidender Schritt, sozusagen die Voraussetzung ist, die Arbeitslosigkeit überhaupt abzubauen. Ich bitte, das auch zur Kenntnis zu nehmen.
Nur eine solche Politik, eine Politik, die nicht von der Hand in den Mund lebt, schafft das notwendige Vertrauen bei der Bevölkerung und in der Wirtschaft.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß in diesem Haushalt der Etat Arbeit und Soziales mit 60,2 Milliarden DM der größte Einzeletat ist - trotz aller Einschränkungen. Und der drittgrößte Etatposten ist mit 32,7 Milliarden DM der Schuldendienst. Alles das, was Sie an Wohltaten erhalten oder weiterhin verteilen wollen, hat doch nicht anderes zur Folge als eine massive Erhöhung dieses Schuldendienstes.
Wer dem Volk aufs Maul schaut, wird eine Fülle von Beispielen hören, auch im sozialen Bereich, wo gekürzt, wo gespart werden kann. Für den einen oder anderen ist dies unbestritten hart. Das wird überhaupt nicht bestritten. Aber ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, daß sich diejenigen, die sich dieser unangenehmen Pflicht unterziehen, die allergrößte Mühe geben, dies ausgewogen zu betreiben.
Eugen Glombig, ich möchte zum wiederholten Male darauf aufmerksam machen, daß das Argument, dies bedeute Nachfrageausfall, schlicht und ergreifend falsch ist.
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Die Nachfrage durch Transferleistungen erhalten, bedeutet entweder höhere Abgaben an anderer Stelle - und das wiederum bedeutet dort eben großen Nachfrageausfall - oder höhere Schulden. Dies aber ist ebenso von Übel und schafft keine Arbeitsplätze, sondern im Gegenteil! Aus diesem Grunde ist diese Argumentation nicht schlüssig. Im Interesse Ihrer Glaubwürdigkeit würde ich herzlich bitten, auf diese Argumentation zu verzichten. Sie ist nun oft genug widerlegt worden.
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Die 60er Jahre - und wer da regiert hat, weiß jeder hier im Hause - waren von einem Boom im Sozialbereich gekennzeichnet. Vieles, was wünschenswert war, wurde eingeführt. Heute läßt sich das nicht mehr finanzieren. Wir müssen daher das System unserer sozialen Sicherheit an die verschlechterten Bedingungen anpassen und die wirtschaftlichen Bedingungen, die überhaupt die Voraussetzung zur Finanzierung dieses sozialen Sicherheitssystems sind, wo immer möglich verbessern. Im Haushaltsbegleitgesetz 1984 sind verschiedene Maßnahmen vorgesehen. Sie dienen genau dieser Sicherung.
Dauerhafte Sicherung der Rentenversicherung: Mit der Anpassung der Renten an die Entwicklung der Arbeitsentgelte des Vorjahres und mit dem Grundsatz einer gleichgewichtigen Entwicklung von Renten und verfügbaren Arbeitseinkommen wird eine unzumutbare Belastung der Aktiven verhindert, ohne daß die Rentner von der allgemeinen Einkommensentwicklung ausgeschlossen werden. Für die Zusage der Sozialdemokraten, diese Position zu unterstützen, möchte ich mich bedanken.
Im Hinblick auf den ab 1990 steigenden Rentneranteil haben wir schon in unseren 32 Thesen zur Alterssicherung vorgeschlagen, eine demographische Komponente in die Rentenformel einzubauen. Ziel dieses Vorschlages ist und bleibt es, Rentner und Beitragszahler an der Lösung der künftigen Finanzierungsprobleme angemessen zu beteiligen. Eine einseitige Belastung der Aktiven oder der
Cronenberg ({2})
Rentner würde dagegen die Solidarität des Generationenvertrages in Frage stellen.
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Vor diesem Hintergrund tragen wir auch verstärkt die Einbeziehung der Sonderzahlungen von Weihnachts- und Urlaubsgeld
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in die Beitragspflicht schweren Herzens mit. Das vorgesehene Verfahren ist gerade für kleine und mittlere Unternehmer verdammt kompliziert. Meine politischen Freunde und ich hoffen, daß wir in den parlamentarischen Beratungen eine Lösung finden werden, die unbürokratisch ist, um diese schwierige Aufgabe zu erleichtern. Anregungen auf diesem Gebiet werden wir mit Dank entgegennehmen.
Die vom Bundesarbeitsminister vorgeschlagene Änderung bei den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten sind, so meine ich, zum Teil mit Recht kritisch bewertet worden. Wir halten daran fest, daß Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit kein vorgezogenes Altersruhegeld sind. Die jetzige Praxis widerspricht eindeutig den Intentionen des Gesetzgebers. Wir sehen aber auch die damit zusammenhängenden Probleme für die Personengruppen, die sich im Vertrauen auf frühere Zusagen von der Rentenversicherung haben befreien lassen. Von seiten des Bundesrates ist die Bundesregierung um Prüfung, auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, gebeten worden. Wir werden das Ergebnis dieser Prüfung abwarten und gegebenenfalls neue Vorschläge zu diesem Punkt einbringen.
Die Regelung der Hinterbliebenenversorgung sowie die notwendige Harmonisierung der verschiedenen Alterssicherungssysteme sind weitere wichtige Aufgaben im Bereich der Alterssicherung. Bei der Harmonisierung - lassen Sie mich das deutlich machen - gehen die Liberalen davon aus, daß die Vielfalt und Eingeständigkeit der verschiedenen Alterssicherungssysteme zu respektieren und zu erhalten sind.
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Wir sind gegen jede Nivellierung und Gleichmacherei in und zwischen den einzelnen Systemen. Grundsatz muß dabei sein, daß Dauer und Höhe des Beitrages letztlich die Höhe des Alterseinkommens bestimmen. Überversorgungen ohne eigene Leistungen sind abzubauen, Einkommensverzichte in bestimmten Bereichen sind aber auch Leistungen.
Die vom Bundesarbeitsminister konzipierten Gesetzesvorschriften sehen auch eine Änderung im Bereich der beruflichen Rehabilitation, des Schwerbehindertenrechts vor; dies sind ganz wichtige Einschnitte. Wir nehmen dazu wie folgt Stellung: Wir wollen und müssen die knapper werdenden Finanzmittel auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Die anderen sollen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mit zur Finanzierung herangezogen werden. Darin eine Rückkehr zur Armenpflege des vorigen Jahrhunderts zu sehen, ist in meinen Augen nichts anders als Polemik.
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Meine Damen und Herren, bei der Diskussion unseres Hauptproblems, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, spielt die Arbeitszeitverkürzung eine wichtige Rolle. Technologische Entwicklung und Produktivitätsfortschritt haben Arbeitszeitverkürzungen in der Vergangenheit möglich gemacht. Produktivitätsfortschritt kann aber nur einmal verfrühstückt werden. Und: Wir müssen bei den Maßnahmen Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie nehmen. Aber, meine Damen und Herren: Ohne Wachstum gibt es keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Wachstum allein reicht aber nicht. Deshalb muß auch über Arbeitszeitverkürzungen nachgedacht werden.
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-Ihr beifälliges Nicken, meine lieben Kollegen von der SPD, erfreut mich außerordentlich. Denn damit haben Sie dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Otto Graf Lambsdorff, seit langer Zeit wieder einmal zugestimmt; dies war nämlich ein Zitat von ihm. - Auch ich bin in diesem Punkt der gleichen Auffassung. Es ist wenig hilfreich, wenn dieses Thema entweder völlig tabuisiert wird oder wenn utopische Forderungen nach der Einführung der 35Stunden-Woche, sofort und bei vollem Lohnausgleich, erhoben werden.
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Verkürzung der Lebensarbeitszeit oder Einführung einer sogenannten Tarifrente sind - so leider Hans Janssen - kein Thema für die IG Metall; bedauerlich! Einziges Thema ist die 35-Stunden-Woche.
Der bevorstehende Tarifkampf um die 35-Stunden-Woche ist für die IG-Metall in erster Linie eine Machtfrage. Entweder wir schaffen es, oder wir sind für die nächsten 10 Jahre von der politischen Bühne verschwunden.
So berichtet die „Westfälische Rundschau", der man j a wohl nicht im Ernst nachsagen kann, daß sie den Sozialdemokraten oder der IG Metall unfreundlich gegenübersteht.
Ich meine, daß diese Einstellung zu diesem uns alle bedrückenden Problem nicht richtig ist. Es kann doch nicht eine Frage von Macht sein, sondern es kann doch nur eine Frage der Vernunft sein, unter der wir diese Aspekte diskutieren.
Ich habe den Eindruck, daß einige Funktionäre der IG Metall und einige Wissenschaftler den Kontakt zur Betriebsbasis verloren haben. Lassen Sie mich dies aus der Sicht eines mittelständischen Unternehmers, der keine Prasixferne hat, die Lage schildern: Es ist doch nicht so, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht; wir sehen ja, in welchem Umfang Schwarzarbeit geleistet wird.
Herr Kollege Cronenberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Noch nicht. Wenn ich mit der Zeit hinkomme, gern. - Ich möchte dem Haus in aller Eindringlichkeit noch einmal klarmachen, daß Vorstellungen, die 35-Stunden-Woche soCronenberg ({0})
fort und bei möglichst vollem Lohnausgleich einzuführen, unrealistisch und gefährlich sind.
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Einige Gewerkschaftsfunktionäre haben hier wirklich den Kontakt zur Basis verloren. Sie müßten sich das einmal klarmachen: Der allergrößte Teil der Beschäftigten arbeitet in mittleren und kleinen Betrieben. Diese kleinen Betriebe sind weitestgehend lohnintensiv. Wer die Möglichkeiten für Arbeit in diesen Betrieben verschlechtert, ihre Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert, vernichtet sehenden Auges Arbeitsplätze. Ich glaube, man nennt so etwas grobfahrlässig.
Meine Damen und Herren, schauen Sie sich einmal eine Region wie Remscheid an. In Remscheid wurden vor 15 Jahren noch en masse Qualitätswerkzeuge gefertigt, und diese Qualitätswerkzeuge wurden in alle Welt exportiert. Inzwischen sind auf Grund der Kostensituation in diesem Raum aus fabrizierenden, produktiv arbeitenden Betrieben Importeure geworden. Sie haben sich umstellen müssen. Sie exportieren nicht mehr, sie fabrizieren nicht mehr; sie importieren. Warum? Weil die Kosten in den Betrieben - und in diesen lohnintensiven Betrieben sind nun einmal Lohn- und Lohnnebenkosten entscheidende Kosten - zu hoch sind.
Denken Sie einmal an die vielen Betriebe der Stahlverformung. Ich rede jetzt nicht von der Stahlindustrie, wo Konzernleitungen und Gewerkschaften gemeinsam nach Subventionen schreien; ich meine die Kunden der Stahlindustrie, die Stahlverformung. Niemand kommt auf die Idee, für diese Betriebe Hilfe - etwa Subventionen - zu verlangen. Wenn diese Betriebe keine ausreichende Erlöse mehr erzielen, sagt man ihnen schlicht und ergreifend: Geh zum Amtsgericht, mach pleite, mach die Bude zu. - Das wird - meine Damen und Herren, dies werfe ich Ihnen vor - in der Diskussion um eine pauschale Arbeitszeitverkürzung nicht im entferntesten berücksichtigt.
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Deswegen sagen wir, wir wollen nicht die Zweiklassenwirtschaft: auf der einen Seite Großbetriebe, die subventioniert werden, auf der anderen Seite die kleineren und mittleren Betriebe, die die meisten Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, um die sich aber kein Teufel kümmert. Meine Damen und Herren, ich glaube, auch hier im Hause müssen einige lernen, daß 1 x 20 000 nicht mehr ist als 1 000 x 20, 1 000 Betriebe mit je 20 Beschäftigten. Deswegen bitte ich Sie allen Ernstes und sehr eindringlich, bei all Ihren Überlegungen, die objektiv zu diskutieren ich j a gern bereit bin, diesen Gesichtspunkten die gebührende und notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.
Wenn die IG Metall sagt, das ist für uns eine Machtfrage, und außer pauschaler Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich kommt nichts in
Frage, dann werden sehenden Auges die Arbeitsplätze gefährdet.
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Ich möchte mich mit aller Deutlichkeit gegen eine solche Politik aussprechen.
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Was macht denn eigentlich das Aufsichtsratsmitglied der IG Metall, in der Automobilindustrie, wenn der Einkäufer aus der Automobilindustrie mit einem Betrieb der deutschen Stahlverformung spricht? Da sagt der Einkäufer im Ausland würden diese Artikel billiger erzeugt. In ausländischen Betrieben wird 40 Stunden gearbeitet, die Lohnkosten sind niedriger, die Lohnnebenkosten sind niedriger, die Energiepreise sind wesentlich niedriger, und den Stahl bekommen diese Betriebe auch noch billiger geliefert.
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Wer sich einbildet, daß tüchtige deutsche Arbeitnehmer, tüchtige Techniker und tüchtige Manager - die durchaus in der Lage sind, erhebliche Wettbewerbsnachteile auszugleichen - gegen einen solchen Wettbewerb ankommen können, der ist arrogant und dumm obendrein.
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Das ist der Grund, aus dem wir uns in diesem Zusammenhang so nachhaltig gegen solche pauschale Betrachtungen aussprechen müssen.
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Das ist der Grund, aus dem wir sagen: Wir möchten gerne differenzierte Lösungen; bei der individuellen Gestaltung der Arbeitszeit müssen Lösungen auch unter Berücksichtigung der Kosten im Rentenbereich gefunden werden.
Die Substanz der sozialen Sicherheit und die Eigenständigkeit der verschiedenen Systeme müssen gewahrt bleiben. Die soziale Selbstverwaltung muß gestärkt werden. Es geht um Spielraum für mehr Eigenverantwortung und mehr Eigenvorsorge. „Der alles durchdringende Staat ist ein Rezept für unverantwortliches Handeln" - darauf hat Ralf Dahrendorf hingewiesen - „denn nur Verantwortung macht verantwortlich".
Sie, meine Damen und Herren, haben die Chance, in den Ausschüssen unsere ernst und seriös gemeinten Vorschläge verantwortlich mit uns zu diskutieren. Dafür bedanke ich mich im voraus.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reents.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich platze jetzt bewußt mit einem Beitrag zum Verteidigungshaushalt und zur Friedenspolitik in diese Debatte über Sozialpolitik, damit auch wirklich niemand übersehen kann, daß zwi1358
schen Rüstungs- und Sozialpolitik ein Zusammenhang besteht.
({0})
Ich tue das nicht etwa deshalb, weil uns sonst nichts einfiele.
Die Bundesregierung hat in ihrer Unterrichtung über den Finanzplan des Bundes 1983 bis 1987 erklärt, „daß 1984 die Ausgaben für die Verteidigung fast 20% der Gesamtausgaben des Bundes ausmachen und damit wie bisher den zweitgrößten Block hinter den Sozialausgaben bilden". Weiter heißt es: „Die Ausgaben für die militärische Verteidigung wachsen in den Jahren 1984, 1985 und 1986 mit 3,6 %, 3,7 % und 3,5% deutlich stärker als die Gesamtausgaben des Bundes."
Es ist uns unbegreiflich, wie man so etwas mit Genugtuung und gar mit Stolz erklären kann.
({1})
Aber es verdeutlicht erneut, daß es sich bei dem Dauerlutscher von Bundeskanzler Kohl, er wolle Frieden mit immer weniger Waffen schaffen, um etwas handelt
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- ich habe es schon erwartet -, für dessen genaue Charakterisierung der Bundestagspräsident vermutlich einen Ordnungsruf erteilen würde.
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- Ich sagte: für dessen genaue Charakterisierung.
„Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", aber im Rüstungshaushalt weiter zubuttern und neue Atomraketen ins Land holen, das ist, als wenn ein passionierter Raucher erzählt, er sei eigentlich Nichtraucher, und bei den 40 Zigaretten, die er am Tag qualme, ginge es nur ums Abgewöhnen.
({4})
Zumindest dem Menschen würde doch jeder antworten: Der verkohlt uns doch.
Die GRÜNEN werden in dieser Haushaltsdebatte einen detaillierten Abrüstungsvorschlag einbringen, einen Vorschlag, der zusammen mit den anderen von uns vorgeschlagenen Maßnahmen viel Geld dafür freisetzen kann, worüber sich die Minister Blüm, Stoltenberg und Lambsdorff angeblich so sehr den Kopf zerbrechen: zur Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, zur Sanierung der Renten, zur Sicherung der sozialen Versorgung und
- wie wir meinen - für ein soziales und ökologisches Sofortprogramm.
Es ist ja kein Naturgesetz, sondern nur die Verfahrensweise - oder besser: die verfahrene Weise
- dieser Bundesregierung und ihrer Vorgänger, daß die Rüstungsausgaben ein Fünftel der Staatsausgaben verschlingen, in Wahrheit sogar mehr. Länder wie Österreich oder Finnland leben mit einem geringeren Anteil ihrer Rüstungsausgaben am
Staatshaushalt j a nicht unsicherer, sondern eher sicherer als die Bundesrepublik.
({5})
- Das mit der Sowjetunion habe ich erwartet. Warten Sie ab! Dazu kommt noch etwas.
Unsere Vorschläge betreffen folgende Abrüstungsmaßnahmen:
Erstens. Einfrieren der vorhandenen Waffensysteme und militärischen Anlagen.
Zweitens. Personalstopp in der Bundeswehr.
Drittens. Drastische Einschränkung der Wehrforschung.
Viertens. Rückzug der Bundeswehr aus anderen Ländern und Senkung der NATO-Kosten.
Fünftens. Aktivitäts- und Manövereinschränkung der Bundeswehr.
Sechstens. Stopp der Vorbereitungsmaßnahmen für einen Atomkrieg und der Maßnahmen für psychologische Kriegsvorbereitung und Kriegsführung.
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Wir verraten Ihnen ja kein Geheimnis, wenn wir sagen, daß wir überhaupt gegen Rüstung und Rüstungsausgaben sind,
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aber hier geht es momentan ja nur darum, diese Regierung auf einem verhängnisvollen Weg zu stoppen, und nicht darum, von ihr einen Amtseid auf unser Programm zu verlangen.
Mit den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen lassen sich mühelos über 9 Milliarden DM freisetzen. Das sind 19 % des geplanten Verteidigungshaushaltes. Darüber hinaus lassen sich unter den gleichen Gesichtspunkten 7,4 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigungen auffinden, die in den vergangenen Jahren erteilt worden sind und im kommenden Jahr 1984 fällig werden. Wenn daran etwas rückgängig zu machen ist - das streben wir an -, wäre eine Senkung des Verteidigungshaushalts um bis zu einem Drittel möglich.
({8})
Wir wissen um die haushaltstechnische Problematik dieses letzten Punktes. Aber der Verweis allein darauf kann nicht die Notwendigkeit verdrängen, über eine Umkehr nachzudenken, die gleichermaßen für den Frieden in Mitteleuropa und für die soziale und ökologische Lebensqualität in unserem Lande nützlich ist. Eine präzise Liste unserer Kürzungsvorschläge werden wir Ihnen bei den Beratungen im Haushaltsausschuß vorlegen.
Die Aufrüstungspolitik, die die Bundesregierung betreibt, ist gefährlich und eine der Ursachen der sozialen Demontage. Wer 50 Milliarden DM in die Rüstung steckt, muß eben Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe kürzen, die Rentenzuschüsse senken
und auf jedem erdenklichen Weg der Bevölkerung das Geld aus der Tasche ziehen.
Die antisoziale Politik dieser Bundesregierung wird übrigens im Verteidigungshaushalt selbst genauso streng eingehalten. Die Ausgaben für Bekleidung, Verpflegung und Bildungswesen werden nämlich auch im Verteidigungshaushalt gekürzt, damit die Ausgaben für Wehrforschung und Beschaffung um so steiler ansteigen können.
({9})
Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen haben inzwischen bestätigt, daß Sachausgaben und Investitionskäufe im militärischen Bereich im Schnitt um ein Drittel geringere Arbeitsplatzeffekte haben als in anderen Bereichen. Lesen Sie einmal nach, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bereits 1977 über die Bedeutung der Staatsausgaben für die Beschäftigung herausgegeben hat. Ihre Rüstungspolitik macht Ihr eigenes Gerede über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Makulatur.
({10})
Diese Regierung ist eine Regierung des Rüstungskapitals, so wie sie überhaupt eine Regierung des großen Geldes und nicht der kleinen Leute ist, auch wenn Herr Dregger das eben bestritten und gemeint hat, daß sich die Grenzen zwischen Kapital und Arbeit längst verwischt hätten.
({11})
Wenn dem so ist, dann soll uns Herr Dregger doch einmal den pensionierten Bankier oder den kinderreichen Grundstücksspekulanten zeigen, der auf das Sozialamt gehen muß.
({12})
Dort schicken Sie mit Ihrer Politik doch lediglich diejenigen hin, deren Wählerstimmen Ihnen zwar ein paar Schmeicheleien, aber nicht eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen wert sind.
({13})
- „Maulwurf" klingt immerhin freundlicher als „Ratten". Aber das, was Sie da sagen, hat bestimmte Vorbilder.
({14})
Ich will zur Friedenspolitik zurückkehren. Der Bundeskanzler hat gestern noch einmal den NATO-Doppelbeschluß bekräftigt und gesagt, wer für die Zusammenlegung der START- und der INF-Verhandlungen sei, der spekuliere auf die Verschiebung des Stationierungstermins. Das muß ja ein wahres Grausen für diese Regierung sein. Die Raketen können offenbar nicht früh genug ins Land kommen. Dann beschweren Sie sich aber nicht, wenn man Ihnen Atomfanatismus und Raketengeilheit vorwirft.
({15})
Von der Sache her ist die Forderung nach Zusammenlegung der Verhandlungen über strategische und euronukleare Rüstung sehr begründet. Sie zählen jeden Panzer der Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg mit, aber verlangen von der Sowjetunion, daß sie die britischen und französischen Atomraketen, die nicht gegen Washington, sondern gegen Moskau gerichtet sind, doch freundlichst ignorieren solle.
({16})
Das ist aber nur das eine an Ihrer unernsthaften Position.
({17})
- Warten Sie es doch einmal ab. Sie brauchen nicht ständig mit dem Zwischenruf „Sowjetunion" zu kommen. Wir brauchen gar keine Belehrung. Das lesen Sie mal bei uns im Programm nach.
({18})
Im übrigen habe ich Sie darauf hingewiesen, daß ich dazu noch etwas sagen werde. Sie werden sich vermutlich noch wundern.
({19})
Das ist aber nur das eine an Ihrer unernsthaften Position. Das zweite ist: Im SALT-Vertrag sind die strategischen Raketen dadurch definiert, daß sie eine Reichweite von mindestens 5 500 km haben, weil dies die kürzeste Luftentfernung zwischen der Sowjetunion und den USA ist. Der SALT-Vertrag zählt aber auch die U-Boot-gestützten Raketen zur strategischen Rüstung, obwohl diese häufig eine geringere Reichweite haben, die US-amerikanischen Polaris und Poseidon z. B. ca. 4 600 km. Strategische Rüstung zwischen den Supermächten meint also offenbar die Erreichbarkeit des gegnerischen Territoriums zwischen USA und Sowjetunion. Ist das denn bei den Pershing II und Cruise Missiles, wenn sie in der Bundesrepublik stehen, etwa nicht der Fall? Die USA haben hier mit ihrer Unterscheidung von strategischer und euronuklearer Rüstung einen plumpen Trick hingelegt, um sich eine Legitimation für ihren Rüstungswahn und ihre neue Strategie des „gewinnbaren Atomkrieges" zu schaffen, für die Reagan in einer Rede am 18. Mai 1981 als Ziel angab - ich zitiere das nach der „Neuen Zürcher Zeitung" -:
Wir werden ({20}) abschließen als ein trauriges, bizarres Kapitel der Geschichte, dessen letzte Seiten eben geschrieben werden. Wir werden uns nicht damit abgeben, ihn
anzuprangern, wir werden uns seiner entledigen ...
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auf das künftige Generationen diese amerikanische Nation und ihre großen Ideale ehren können.
Die großen Ideale mit den Orden von Hiroshima und Nagasaki, von Vietnam, Guatemala und Chile und morgen vielleicht von Nicaragua - ({22})
- Ich zähle hier die Dinge auf, die Sie immer vergessen.
({23})
Von Ihnen bekommt man doch nie ein einziges Wort über die Verantwortung der USA zu hören,
({24})
sei es im Vietnam-Krieg, sei es für den Putsch in Chile, sei es für den seinerzeitigen Putsch in Guatemala oder sei es für Hiroshima und Nagasaki. Darüber reden Sie doch überhaupt nicht. Das wollen Sie doch vergessen machen.
({25})
Begreifen Sie doch, warum wir und mit uns Millionen in unserem Land diese Raketen nicht wollen: weil wir nicht die Todgeweihten eines Dritten Weltkrieges sein wollen und ebensowenig wollen, daß andere Völker dies sind.
Lesen Sie einmal das beunruhigende Buch des amerikanischen Publizisten Robert Scheer über seine Gespräche mit hohen Verantwortlichen der Reagan-Administration „Und brennend stürzen Vögel vom Himmel" und versuchen Sie, den Satz zu verstehen, den er darin auf Seite 30 schreibt und den ich gern zitieren will:
Die Frage nach dem universalen Tod wird schal, weil die Argumentationen oft unnötig komplex sind, auf einem Fachchinesisch beruhen und Begriffe benutzen, die gezielt das verschweigen, was diese Bomben anrichten können -, daß sie nämlich die Menschen töten, die man liebt, und fast alle anderen auch.
Die Militärs und Regierungen entdecken ständig neue Waffenlücken: die Raketenlücke, die Panzerlücke und jetzt auch die Lücke bei den chemischen Waffen, obwohl bereits 2 000 bis 4 000 t US-amerikanisches Giftgas in unserem Lande lagern. Die Bundesrepublik ist bekanntlich das einzige Land, das den USA die Lagerung solcher Giftgase erlaubt. Wann - das ist unsere Frage - wird endlich einmal die Lücke entdeckt, die mit solcher Aufrüstung in den Frieden hineingerissen wird?
({26})
Die Koalitionsparteien behaupten, daß ihre Haltung zum NATO-Doppelbeschluß von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werde, denn schließlich hätten sie j a 56% der Wählerstimmen erhalten. Mehrere Meinungsumfragen aus jüngster Zeit sagen aber etwas anderes. Wir meinen, daß diese Frage geklärt werden muß. Beides kann nicht stimmen. Das Mittel, dies zu klären, kann eine Volksbefragung sein, wie sie bereits von vielen gefordert wird: ja oder nein zur Raketenstationierung.
({27})
Wir hätten keine Angst davor, aber vielleicht die Regierung. Es ist auf jeden Fall ein kaum zu überbietender Ausdruck von einer Arroganz der Macht, wenn Unionspolitiker heute darauf hinweisen, daß Adenauer sich j a auch nicht danach gerichtet habe, was ein Großteil der Bevölkerung meint. In bezug auf Adenauer haben Ihre Politiker damit sicherlich recht. Täuschen Sie sich aber nicht, daß die Friedensbewegung in unserem Land ein zweites Mal so mit sich umspringen läßt.
({28})
Denn heute geht es noch mehr als damals um unsere Existenz, und das wissen zum Glück bereits sehr viele Menschen in unserem Land.
Wir sagen von hier aus auch eindeutig: Unsere Hoffnung richtet sich insbesondere darauf, daß es nicht bei dem vom DGB-Vorstand für den 5. Oktober angekündigten 5-Minuten-Streik bleibt, sondern in den Betrieben und Gewerkschaften diejenigen mehr Gehör finden, die bereits über einen Generalstreik nachzudenken gewagt haben.
({29})
Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hat kürzlich in der „Zeit" eigentlich Ausreichendes dazu gesagt, nämlich daß ein Generalstreik zwar dazu führen würde, daß vorübergehend der Postbote nicht mehr käme und auch keine Milch zu kaufen sei und daß dies unangenehm sei; aber immerhin werde es dies nach dem Generalstreik wieder geben, nach einem Atomkrieg aber nicht.
({30})
Ich muß bei dieser Gelegenheit - ich wende mich jetzt zur anderen Seite hin - etwas aus einem Interview zitieren. Eine Zeitschrift hat vor längerer Zeit ihrem Interviewpartner folgende Frage gestellt - ich zitiere -:
Nun sind zum erstenmal auch zwei Stichworte gefallen: Volksbefragung und Generalstreik. Halten Sie die Anwendung beider Kampfmittel für legitim?
Die Antwort darauf war:
Die Frage möchte ich uneingeschränkt mit Ja beantworten.
Das Interview wurde 1958 geführt. Damals ging es um die Frage der atomaren Bewaffung der Bundeswehr. Die Zeitschrift hieß „konkret" und der Interviewpartner Helmut Schmidt,
({31})
damals wie heute Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneter und dazwischen Bundeskanzler und als Bundeskanzler u. a. für den NATO-Doppelbeschluß wesentlich mitverantwortlich. Man kann der SPD nur raten, dieses Wort ihres Exkanzlers zu beherzigen, und man muß ihr raten, nicht nach der Methode „Haltet den Dieb!" jetzt Spuren zu verwischen. Eine Loslösung vom NATO-Doppelbeschluß liegt bei der SPD nicht vor. Da schießt die CDU/ CSU mit ihren Vorwürfen weit übers Ziel hinaus. Aber hier und da versucht die SPD draußen wirklich diesen Eindruck zu erwecken, wenn es denn nützt. Wir wissen natürlich auch, daß in der SPD mal wieder ganz hart innerparteilich gekämpft wird. Aber wir vermuten auch schon zu wissen, wer die Siegerschärpe davontragen wird. Das ist gerade das Bedauerliche.
So bleibt, wenn Willy Brandt in einem von der „Süddeutschen Zeitung" Anfang letzten Monats veröffentlichen Brief an die Friedensbewegung von den „Neo-Reaktionären" in den USA spricht, doch die Erinnerung daran, daß es justament eineinviertel Jahre her ist, daß der SPD-Parteivorstand seinen eigenen Mitgliedern die Teilnahme an einer Protestdemonstration gegen den führenden Vertreter dieser „Neo-Reaktionäre" untersagte.
Herr Vogel, Sie haben gestern in der Debatte vehement auch z. B. die Produktion und Lagerung von Giftgasen angeklagt. Dem stimmen wir voll zu. Aber sind Sie denn auch bereit, die frühere SPD-FDP-Regierung deswegen anzuklagen? Denn sie hat auch nichts dagegen unternommen, sondern hat in ihrer Antwort auf die Anfrage eines Abgeordneten vom 12. Juni 1981 erklärt - ich zitiere -:
({32}) setzt sich ... in besonderer Weise seit Jahren für ein umfassendes C-Waffen-Verbot in den internationalen Gremien für Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Diese ständigen Bemühungen werden in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, daß eine beschränkte Menge von US-C-Kampfstoffen in Übereinstimmung mit dem NATO-Truppenstatut und dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland gelagert wird.
Wenn jemand auf die Vergeßlichkeit der Menschen spekuliert, dann ist das keine gute Visitenkarte.
Ich will zum Schluß aber noch etwas anderes ansprechen, und damit kommen auch Sie mit Ihren Zwischenrufen zur Sowjetunion zum Zug.
Die GRÜNEN haben zu dem Abschuß eines Zivilflugzeuges durch sowjetische Abfangjäger eine Erklärung abgegeben, die keinerlei Unklarheit läßt, daß wir das für ein Verbrechen halten. Wir haben darüber hinaus deutlich gemacht, daß diese sowjetische Rakete nicht nur 269 Menschen getroffen und in den Tod geschickt hat, sondern daß diese Rakete die internationale Friedensbewegung getroffen hat.
({33})
Wir brauchen da nicht den geringsten Nachhilfeunterricht.
({34})
Aber wir haben unsererseits etwas hinzuzufügen:
({35})
Die Reagan-Regierung hat jetzt Sanktionen gegen die Sowjetunion verhängt, und die westlichen Regierungen insgesamt beraten jetzt - gestern auf der KSZE-Konferenz - über gemeinsame Aktionen, vor allem einen 14tägigen Boykott sowjetischer Flughäfen durch die westlichen Fluglinien. So etwas kann man nur aus tief wurzelndem Vergeltungsdenken erwägen.
({36})
Es heizt den Kalten Krieg weiter an und hat vor allem mit der Sache nichts zu tun. Werden dadurch etwa solche Militäraktionen in Zukunft verhindert, die der Zündfunke für noch viel Schrecklicheres sein können?
Wir schlagen Ihnen etwas anderes vor: Soll sich doch der Herr Bundeskanzler vor die Weltöffentlichkeit stellen und alle Staaten auffordern, in erster Linie die Sowjetunion und die USA, ein halbes Jahr lang den Luftraum von jeglicher militärischer Fliegerei und Nutzung freizuhalten!
({37})
Erklären Sie die Bereitschaft der Bundesrepublik, damit sofort anzufangen und in der UNO mit allen Staaten zu diskutieren, ob man daraus nicht einen Dauerzustand machen sollte! Damit würden Sie einen wirklichen Beitrag leisten, daß es zu solchen Anschlägen auf die Zivilflugfahrt gar nicht wieder kommen kann. Sie hätten mal das erste Handfeste für ihre bislang leere Floskel „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" auf den Tisch gelegt.
({38})
Ich bin ziemlich sicher, daß bei vernünftigem Nachdenken unser Vorschlag mit Ihrer Sanktionsund Vergeltungspolitik um eine Mehrheit in der Bevölkerung konkurrieren könnte.
({39})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe von Ihrer Resolution gegen den Abschuß eines Jumbos mit 269 friedlichen Menschen durch die Sowjetunion gehört, aber ich habe Sie und Ihre sozialdemokratischen Freunde in diesen Tagen nur vor amerikanischen Flughäfen und Kasernen demonstrieren gesehen.
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Können Sie sich vorstellen, meine Damen und Herren, was Sie und Ihre sozialdemokratischen
Freunde gemacht hätten, wenn die Amerikaner ein tschechisches Privatflugzeug abgeschossen hätten?
({1})
Wenn es von Ihnen einen Protest gab, dann war er streng vertraulich.
({2})
- Ich habe nicht davon gesprochen, daß Sie nicht protestiert haben, ich habe nicht in Zweifel gezogen, daß Sie eine Resolution verkündet haben. Ich habe nur darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Friedensbewegung in diesen Tagen vor amerikanischen Kasernen und Flugplätzen aufgehalten hat. Mehr habe ich nicht gesagt.
({3})
Auch ich könnte mir lohnendere Ziele für unsere Arbeit, für unser Geld als Waffen, Panzer, Raketen, vorstellen. Nur sind wir die falsche Adresse für diese Wünsche, für diese Forderungen. Ihre Forderungen müssen sich an diejenigen richten, die übergerüstet haben. Moskau, der Kreml, ist die Adresse Ihrer Forderung.
({4})
In der Tat wünsche ich mir, daß wir Geld haben, nicht nur für unsere Rentner, nicht nur für die Behinderten, sondern für den Hunger in der Welt; aber wir schaffen ihn nicht aus der Welt, wenn eine Seite die Waffen hinlegt, weil alle Erfahrungen beweisen, daß dies ganz besonders für Diktaturen eine Versuchung ist, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Die Geschichte liefert dafür das Beweismaterial.
({5})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Hoss.
Herr Bundesminister können Sie zustimmen, daß die Friedensbewegung, die im Bereich der DDR agiert, mit ihrer Aktion in Ost-Berlin gezeigt hat, daß die Friedensbewegung eine einheitliche Friedensbewegung ist und daß Ihr Vorwurf, daß wir einseitig für den Frieden eintreten, unberechtigt ist?
Nein, ich muß diesen Vorwurf aufrechterhalten. Obwohl ich anerkenne, daß Sie in Ost-Berlin demonstriert haben, sehe ich, daß sich die Wucht Ihres Protestes gegen diejenigen richtet, die hier noch gar keine Raketen stehen haben, und daß Sie völlig unberücksichtigt lassen, daß die Sowjetunion ihre Raketen hier in Mitteleuropa stehen hat.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn ich die soziale und gesellschaftspolitische Diskussion dieser Haushaltsdebatte
({1})
am Ende Revue passieren lasse, stelle ich fest, daß uns die Opposition einerseits vorwirft, zuviel Schulden gemacht zu haben, und andererseits, zuviel gekürzt zu haben, daß sie einerseits behauptet, wir würden nichts tun, und andererseits, wir würden zuviel tun. Ich möchte Sie darum bitten, die Argumente zuerst zu sortieren; beides kann nicht stimmen.
Wenn ich die vielen Argumente, Vorwürfe, Beschwerden auf einen Hauptnenner bringe, so ist es das gleiche Strickmuster von Apel über Roth, Vogel bis heute morgen zu Herrn Glombig:
({2})
Den Großen wird gegeben und den Kleinen wird genommen. Das ist in Kurzfassung Ihr Strickmuster.
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- Ich bedanke mich, daß Sie das ausdrücklich noch einmal bestätigen.
Ich setze dem entgegen: Die Schulden des Staates haben immer die kleinen Leute bezahlt.
({4})
Erkundigen Sie sich bei Ihren Großeltern, Eltern, und nehmen Sie Ihre eigenen Erfahrungen, wenn Sie sie haben, hinzu! Die Schulden des Staates - das beweist die Sozialgeschichte -, die Zeche haben immer die kleinen Leute bezahlt. Die Großen erhalten die Zinsen, und die Kleinen zahlen die Steuern, aus denen diese Zinsen finanziert werden.
({5})
Deshalb, meine Damen und Herren; Schulden machen ist unsozial; Schulden abbauen ist sozial.
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Jetzt frage ich Sie: Wer hat Schulden gemacht, und wer baut Schulden ab? Sie haben Schulden gemacht - das ist unsozial -, wir bauen sie ab - das ist sozial.
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Von 1970 bis 1982 mußte der Bund 111,5 Milliarden DM allein an Zinsen zahlen. Das ist doppelt so viel, wie der ganze Sozialhaushalt ausmacht. Allein im Jahre 1982 betrug die Zinslast des Bundes fast halb so viel wie alle Leistungen im Sozialetat. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Gezahlt haBundesminister Dr. Blüm
ben die Zinsen die Arbeitnehmer aus ihrer Lohnsteuer, erhalten werden sie weder Rentner noch Sozialhilfeempfänger noch kinderreiche Familien, sondern diejenigen, die dem Staat Geld leihen konnten. Das sind die Ölscheichs, die Banken und die Höherverdienenden. Was ist daran sozial, frage ich Sie, was ist an Ihrer Politik sozial?
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- Wenn Sie mich schon mit Stichworten an diesem Faden weiterspinnen lassen: Die Investitionshilfeabgabe, die wir von den Höherverdienenden für drei Jahre gefordert haben, die erst in den 90er Jahren zurückgegeben wird, bringt eine höhere Zinsbelastung für die Höherverdienenden als Ihre Ergänzungsabgabe, mit der Sie durch den hessischen Wahlkampf ziehen. Das ist die Tatsache.
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Herr Bundesminister, gestatten Sie - Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Nein, ich möchte jetzt meine Thesen im Zusammenhang darstellen.
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- Dieser Vormittag bietet noch mancherlei Gelegenheit zum Gedankenaustausch hier von diesem Pult aus.
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Für Zinszahlungen geht das Lohnsteueraufkommen von 5 Millionen Arbeitnehmern drauf. 5 Millionen Arbeitnehmer zahlen ihre Lohnsteuer, nur damit der Staat seine Zinsen - nicht an Arbeitnehmer - zahlen kann.
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Das ist das Lohnsteueraufkommen - hören Sie doch in Ruhe zu, ich lese Ihnen die Städte vor - von Frankfurt, Gießen, Rüsselsheim, Hanau, Darmstadt, Wetzlar, Limburg, Kassel. Wollen Sie noch ein paar hessische Städte haben?
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Nicht nur die Arbeitnehmer in Hessen, auch die in Bremen und Bremerhaven zahlen mit ihren Lohnsteuern nur die Zinsen,
({4})
die Herr Stoltenberg für die Schulden, die Sie ihm hinterlassen haben, zahlen muß. Und es sind nicht nur die Arbeitnehmer in Hessen, Bremen und Bremerhaven, es müssen hinzugezählt werden die Arbeitnehmer von Schleswig-Holstein und RheinlandPfalz; dann haben die ungefähr die Lasten zusammen.
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Herr Bundesminister, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Es hat keinen Sinn, wenn der Versuch unternommen wird, durch massive Zwischenrufe die Ausführungen des Redners - ganz gleich, wer auch immer da vorne spricht - unmöglich zu machen.
({0})
Ich bitte, die parlamentarische Ordnung zu wahren. - Bitte fahren Sie in Ihrer Rede fort.
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Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihre Hilfe. Ich hatte das Geschrei als eine Art von Argumentationshilflosigkeit betrachtet.
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Insofern war es ganz wichtig zur Kennzeichnung der Lage, in der wir hier diskutieren.
Ich komme noch einmal auf das Frauenthema. 9 Millionen Frauen sind erwerbstätig. Auch zwei von drei Frauen zahlen - wenn wir die Zahl nehmen - ihre Lohnsteuer nur für die Zinsen.
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Umverteilung von unten nach oben, aber ganz anders, als Sie und Herr Börner behauptet haben. Umverteilung von unten noch oben durch Ihre Schuldenpolitik; das war die perfekteste Form der Umverteilung von unten nach oben.
({1})
Meine Damen und Herren, was könnten wir nicht alles tun, müßten wir die Hinterlassenschaft von Ihnen nicht abtragen, hätten wir keine Schulden, müßten wir sie nicht tilgen, müßten wir nicht Zinsen zahlen!
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Wir könnten die Lohnsteuer um 50 % senken. Wir könnten in der Rentenversicherung zehn Jahre Erziehungszeit zahlen. Und Sie kommen und werfen uns vor, daß wir keine Erziehungszeiten einführen können! Zehn Jahre könnten wir einführen, wenn Sie die Schulden nicht hinterlassen hätten.
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Sie beschweren sich, daß wir den gesetzlichen Mutterschaftsurlaub um einen Monat zurücknehmen. Hätten Sie uns nicht die Schulden hinterlassen, könnten wir zehn Jahre 1 000 DM pro Monat zahlen; zehn Jahre!
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Wer im Sommer das Gras frißt, hat im Winter kein Heu. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
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Sie beschimpfen uns, obwohl wir im letzten Sommer den Hof gar nicht bewirtschaftet haben.
Wenn ich das schon höre, Herr Roth: Tanga. Zu mehr Einfällen sind Sie bei mir nicht gekommen: Katzer - Badehose, Blüm - Tanga. Meine Damen und Herren, wenn ich mich am sozialpolitischen Nacktbadestrand befände wie Sie, würde ich mich nicht über die Knappheit eines Tangas erregen.
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Meine Damen und Herren, wir sparen, und niemand muß glauben, wir sparen aus Lust und Laune. Wir sparen aus Zwang, aus Notwendigkeit. Wir sparen, um Schulden abzubauen, wir sparen, um Steuern zu senken, wir sparen, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden.
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Schulden abbauen, Steuern senken, Arbeitslosigkeit überwinden - das sind die drei Glieder der einen Kette.
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- Ich bin immer noch dabei, den Versuch zu unternehmen, meine Gedanken im Zusammenhang darzustellen. Da Sie sich aufs Schreien verlegen, nehme ich mir an Herrn Vogel ein Beispiel, der auch keine Zwischenfrage zugelassen hat.
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Schulden abbauen, Steuern senken, Arbeitslosigkeit überwinden - das gehört zusammen. Wenn wir die Schulden nicht abbauen, können wir keine Steuern senken. Wenn wir keine Steuern senken, werden die Arbeitnehmerorganisationen, werden die Gewerkschaften zu einem verzweifelten Wettkampf zwischen Lohnerhöhungen und Lohnsteuererhöhungen getrieben. Die Lohnsteuereinnahmen des Staats sind seit 1969 doppelt so schnell gestiegen wie die Löhne. Der Staat war bei jeder Tarifverhandlung der lachende Dritte. Sie treiben die Gewerkschaften j a in eine unvernünftige Lohnpolitik. Der Lohnsteuerstaat ist ein gewerkschaftsfeindlicher Staat. Er macht die Erfolge der Gewerkschaften zunichte.
Was haben die Arbeitnehmer von 5 % Lohnerhöhung, auf die die Gewerkschaften stolz sind, wenn anschließend die Lohnsteuererhöhung alles wieder zunichte macht?
({10})
Wenn die Lohnsteuern nicht nachgelassen werden, bleibt auch kein Geld für Innovationen und Investitionen. Wir müssen Steuern und Schulden abbauen, damit wir wieder Luft, wieder Nachschub bekommen, um Investitionen zu ermöglichen; denn ohne Investitionen gibt es keine Arbeitsplätze.
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Je moderner die Arbeitsplätze sind, desto mehr Geld kosten sie. Im Neandertal war der Arbeitsplatz billig. Da hat man nur eine Keule gebraucht. - Manche würden dort vielleicht besser arbeiten. - Ich glaube, daß ein moderner Arbeitsplatz sehr teuer ist und daß wir das Geld für Investitionen zurücklegen müssen.
({12})
Der Weg einer solchen Wirtschaftspolitik, dieser Weg, über Schuldenabbau und Lohnsteuersenkung zur Überwindung der Arbeitslosigkeit zu kommen, ist ein langer Marsch.
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Ich wähle dafür nicht den Begriff „Aufschwung". Das erinnert mich zu sehr an Reckturnen. Ich wähle dafür den Begriff „Aufstieg". Eine Anstrengung wird von uns gefordert, nicht eine Seilbahnfahrt, mit der wir aus dem Tal kommen, eine Anstrengung aller.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Vogel, haben Sie selbst in Ihrem „Zeit"-Interview vom 6. März gesagt, daß zum Bremsen der Arbeitslosigkeit und ihrer Überwindung eine ganze Legislaturperiode notwendig sei. Sie sind selber nicht davon ausgegangen, daß die Arbeitslosigkeit im Hauruckverfahren zu überwinden ist.
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Herr Bundesminister, einen Augenblick bitte. Ich bitte Sie, sich § 38 unserer Geschäftsordnung anzusehen. Wenn der Präsident nicht mehr in der Lage ist, die Ordnung ohne Zuhilfenahme dieses § 38 aufrechtzuerhalten, dann muß er ihn anwenden.
Es geht nicht, daß der Redner nicht mehr in der Lage ist, auch nur einen Satz ohne wiederholte Störungen hier vorzutragen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sparen auch jetzt, um Geld zu haben, um Krisenbranchen zu unterstützen. Wir sparen für die Werftunterstützung, für die Stahlunterstützung, für die Kohle. Der Finanzminister ermöglicht mit hohen Bürgschaften Exporte. Würden wir sie nicht ermöglichen, wären Arbeitsplätze gefährdet. Wir haben die Unterstützung, die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht auf übermorgen verschoben, sondern wir leisten mehr als je zuvor auch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Hier habe ich eine Anzeige der SPD „Die CDU ist gegen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" aus dem
hessischen Wahlkampf; „die CDU ist gegen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen"!
({0})
1980 41 250 Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 1981 38 460 Arbeitsplätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 1982 29 200 Arbeitsplätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese drei Jahre, 1980, 1981, 1982, waren Regierungsjahre der SPD. Um Ihnen noch einmal die Zahl des letzten Jahres langsam vorzulesen: 29 200. Und wie viele in diesem Jahr unter CDU/CSU-Verantwortung? 56 000. Das ist doppelt soviel an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie das, was Sie uns hinterlassen haben. Wer halb soviel gemacht hat, kann sich nicht beschweren, daß wir zuwenig machen.
({1})
2,37 Milliarden DM stehen an Haushaltsmitteln und Verpflichtungsermächtigungen im Bundeshaushalt. Das ist die höchste Summe seit Bestehen des Arbeitsförderungsgesetzes - die höchste Summe! -, die wir für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgeben. Auch das Sonderprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hat im nächsten Jahr 205 Millionen DM zur Verfügung. Sie hatten in Ihrer mittelfristigen Finanzplanung genau 35 Millionen DM eingesetzt. Sechsmal soviel, und dann beschweren Sie sich darüber, daß wir zuwenig machen würden, lassen Anzeigen verbreiten, die mit der Wahrheit nicht in Übereinstimmung stehen. Wie haben Sie in Ihrem Wahlprogramm in Hessen gesagt? Ein freiheitliches Toleranzklima wollten Sie in Hessen erzeugen. Sie erzeugen einen dümmlichen Ignoranz-mief in Hessen.
({2})
Lassen Sie mich auch zu dem Lehrstellenproblem etwas sagen. Wissen Sie, ich fürchte, manche unserer jungen Mitbürger werden sich durch diesen Streit um Zahlen nicht sehr beeindrucken lassen, zumal die Zahlen im September gar nicht verläßlich sein können. Sie waren es in keinem September irgendeines Jahres. Wirklichkeit und Statistik jeden Jahres kamen erst im Dezember des Jahres zur Übereinstimmung. Dennoch, Ihre ganze Kraft investieren Sie in statistische Buchhalterübungen.
({3})
Ist es nicht wichtiger, daß wir uns gemeinsam darüber unterhalten, wie jeder zu einem Arbeitsplatz kommt? Außer Ideologie und Nörgelei haben Sie nicht sehr viel geboten.
Ich danke jedem, der mitgewirkt hat, einen Ausbildungsplatz mehr zu schaffen.
({4})
- Nein. - Ich danke jedem Handwerker, ich danke jedem Unternehmer, ich danke den Betriebsräten, die mitgewirkt haben, und, Herr Vogel, ich danke auch ausdrücklich den Gewerkschaften, die mitgewirkt haben, besonders denjenigen Gewerkschaften, die in ihren Hauptverwaltungen junge Menschen ausbilden, und weniger den Gewerkschaften, die keinen ausbilden, sich aber an Demonstrationen beteiligen.
({5})
Da lese ich: „200 000 junge Leute ohne Ausbildungsplatz. Das ist die CDU-Politik." Vor acht Tagen den Wählern in Hessen in einer Anzeige verkündet; vor acht Tagen! Vorgestern höre ich von Herrn Apel, 100 000 Lehrstellen fehlten. Wenn sich der Preisverfall Ihrer Voraussagen so fortsetzt - innerhalb von acht Tagen ist die Zahl um 100 000 reduziert worden -, dann haben wir ja nach der Hochrechnung in 14 Tagen alle Lehrlinge untergebracht. Nur, so leicht machen wir es uns nicht.
Ich appelliere noch einmal an alle. Eine Seilschaft, die sich an einem schwierigen Berg befindet und in der einer dauernd sagt: Wir schaffen es nicht, laßt uns aufhören!, wird nie den Gipfel erreichen. Deshalb, meine Damen und Herren: Wir brauche nicht mehr Miesmacher, wir brauchen mehr Mutmacher.
({6})
Auf den Tribünen sitzen und pfeifen - das waren nie die besten Sportler. Und Politiker, die nur kritisieren, aber nicht mitmachen, bewegen die Welt auch nicht.
({7})
Ich will die Gelegenheit auch nutzen, mich an die jungen Mitbürger zu wenden, die einen Ausbildungsplatz haben: Suchen Sie keinen zweiten, und wenn Sie einen zweiten haben, dann lassen Sie den ersten frei. Wer in dieser Situation Ausbildungsplätze hamstert, versündigt sich an seinen Alterskameraden.
({8})
Das gilt auch für diejenigen - die Zahl nimmt offenbar zu -, die Ausbildungsverträge haben, aber die Ausbildung nicht antreten. Ich lese hier von einer Zeche: von 260 Lehrlingen kamen 80 Lehrlinge nicht zum vereinbarten Termin. Ich will die Jugendarbeitslosigkeit jetzt nicht privatisieren; damit wir uns nicht falsch verstehen. Das Problem bleibt, Ausbildungsplätze zu schaffen. Aber auch das andere Problem bleibt, in der jungen Generation ein Gefühl, eine Sensibilität für Solidarität, für Gemeinschaftspflichten zu erzeugen. Mein Vater hätte es mir nie gestattet, einen Ausbildungsvertrag zu schließen, aber die Ausbildung nicht anzutreten. Das wäre nie möglich gewesen in unserer Familie.
({9})
Ich sagte: Wir brauchen Investitionen. Wenn ich sage: Investitionen, die auch durch eine vernünftige Lohnpolitik ermöglicht werden, dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß die Arbeitnehmer an diesen Investitionen beteiligt werden. Deshalb treten wir für Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ein.
({10})
Sie ist wirtschaftspolitisch notwendig und gesellschaftspolitisch erwünscht. - Meine Damen und Herren, ich kann das Kontrastprogramm bringen. Wenn Sie es wünschen, wenn Sie darauf bestehen, nenne ich Ihnen zu jedem Punkt das Kontrastprogramm aus Ihrer Regierungszeit. Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand! Ihre letzte vermögenspolitische Maßnahme war innerhalb der Operation 1982. Da haben Sie die Vermögensbildung um 900 Millionen zurückgenommen. Unsere erste vermögenspolitische Maßnahme war, daß wir in dieser Legislaturperiode die Vermögensbildung trotz harter Sparzwänge um 1,4 Milliarden ausdehnen. Sie 900 Millionen weniger, wir 1,4 Milliarden mehr. Auch das ist ein Kontrastprogramm.
({11})
Wir brauchen viele neue Ideen. Mit Ladenhütern werden wir das Jahr 2000 nicht erreichen. Ich meine nicht nur neue Ideen in Sachen Produkte, nicht nur neue Ideen in Sachen Technologie. Der Weg führt nicht zurück in den Schrebergarten. Der Weg führt vorwärts in eine moderne Industriegesellschaft.
({12})
Dafür brauchen wir Wachstum, in der Tat, dafür brauchen wir Wachstum. Auch dafür das Kontrastprogramm. Sie haben sich verabschiedet mit Minuswachstum, wir treten in diesem Jahr mit Pluswachstum an. Auch das ist ein Unterschied.
({13})
Wir brauchen neue Ideen. Wir brauchen eine Offensive, eine Weltmeisterschaft der neuen Ideen in Sachen Produkte, auch in Sachen neue soziale Ideen.
({14})
Ich denke, daß uns auch zum Thema Arbeitszeit mehr einfallen muß, als uns bisher eingefallen ist. Das Nein der Arbeitgeber ist zwar eine Antwort, aber keine Lösung. Ich verstehe auch nicht diejenigen Unternehmen, die in ihren Betrieben mit Hilfe von Sozialplänen eine Lebensarbeitszeitverkürzung durchführen und gleichzeitig ihre Verbände gegen Lebensarbeitszeitverkürzung Sturm laufen lassen. Ich denke, daß wir Arbeitszeitverkürzungen nicht defensiv, nicht als Mangelverwaltung betreiben sollten, sondern auch als Angebot, mehr Wahlmöglichkeiten in das Leben zu befördern, auszusteigen aus diesem harten Zeitkorsett, in das wir uns seit 200 Jahren begeben haben. Der Mikroprozessor bietet ja auch Möglichkeiten der Individualisierung der Arbeitszeit. Ich habe nie verstanden, wieso die einen null arbeiten müssen, weil sie arbeitslos sind, und die anderen acht Stunden, obwohl sie mit vier Stunden zufrieden wären. Wir haben 250 000 Arbeitslose, die nur Teilzeitarbeitsplätze suchen. Über zwei Millionen Arbeitnehmer wären mit Teilzeitarbeit zufrieden, die vollerwerbstätig sind. Welche bornierte Gesellschaft, daß diese beiden Königskinder nicht zusammenkommen können! Es muß uns doch möglich sein, aus den kollektivistischen Gewohnheiten einer Kolonnengesellschaft auszusteigen und das Leben wieder vielfältiger zu machen. Ich glaube, daß die Arbeitszeit dazu eine Gelegenheit bietet.
({15})
Da Arbeitszeitpolitik und Einkommenspolitik unter einem Dach versammelt sein müssen - denn wir können den Kuchen nicht zweimal essen; was an Arbeitszeit verzehrt ist, kann nicht mehr in der Lohntüte landen -, deshalb muß das Programm der Arbeitszeitverkürzung auch vorrangig von den Sozialpartnern betrieben werden. Der Gesetzgeber kann bestenfalls Geburtshelfer sein, aber er hat keine Elternschaft. Arbeitszeit und Einkommen müssen zusammenbleiben. Wir sind bereit, unsere Hilfsdienste zu leisten. Nur, was die Sozialdemokraten an Arbeitszeitgesetzgebung vorgelegt haben - jetzt wieder durch den neuen Vorschlag aus Hessen -: Ich fürchte, da werden Hoffnungen geweckt, die die Stabilität einer Seifenblase haben. Sie können nicht erfüllt werden. Auch ich glaube, daß das Arbeitszeitgesetz überholt ist. Die Sprache der Zeit, in der das Arbeitszeitgesetz formuliert wurde, ist nicht mehr unsere Sprache. Die Arbeitnehmer sind Gott sei Dank keine Gefolgschaftsmitglieder mehr, und ich bin auch nicht der Reichstreuhänder der Arbeit; da hatte ich auch nie Ehrgeiz. Aber zu glauben, mit Arbeitszeitgesetzgebung - staatlich reglementiert - das Problem der Arbeitszeitverkürzung lösen zu können, das scheint mir eine Illusion zu sein.
Sie verkünden als großen arbeitspolitischen Durchbruch in diesem Gesetz die 40-Stunden-Woche.
({16})
97 % der Arbeitnehmer haben bereits mit Hilfe von Tarifverträgen die 40-Stunden-Woche.
({17})
Hauptsächlich die Bereiche Landwirtschaft und Gaststätten sind davon noch nicht erfaßt. Dort wurden jetzt aber Tarifverträge abgeschlossen, so daß ab 1. Januar 1984 auch dort die 40-Stunden-Woche gilt. So steigt der Anteil von 97 auf 99%. Es bleibt genau 1 % der Arbeitnehmer übrig. Die Rechnung, mit diesem einen Prozent den arbeitsmarktpolitischen Durchbruch zu schaffen, müssen Sie mir erst einmal aufmachen.
({18})
- Ich formuliere, ich interpretiere ja Ihr Gesetz sehr wohlwollend. Ich bin ja noch gar nicht fertig.
Das zweite: Überstunden. Zwei Überstunden sollen genehmigungsfrei sein. Meine Damen und Herren, wir wollen doch einmal die Praxis vorführen. Die nächsten zwei müssen, wenn kein entsprechender Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung geschlossen wurde, bei einer Aufsichtsbehörde beantragt werden, die Aufsichtsbehörde muß das Arbeitsamt einschalten, und dann dürfen Sie mit der 43. Stunde beginnen. Ich stelle mir das so vor: Freitag abend, in meinem Keller bricht das Wasserrohr - ein Alltagsfall. Ich rufe den Installateur an. Das
Wasser steigt. Der Installateur hat seine genehmigungsfreien Stunden bereits verbraucht, die anderen auch. Es bleibt uns nur die Wahl, bis Montag zu warten - dann beginnt ja die Zählung der Woche neu - oder das Arbeitsamt über das Wochenende zu mobilisieren. Ich entscheide mich für die Wochenendlösung. Das Wasser steigt weiter.
({19})
So wie ich unsere Bürokratie kenne, muß der Installateur den Antrag mindestens in dreifacher Ausfertigung stellen.
({20})
- Zum Lachen ist das gar nicht. - Dann wird das Arbeitsamt eingeschaltet. Der Installateur ist bestenfalls Samstagabend am Ort der Handlung. Meine Kinder fahren inzwischen mit dem Schlauchboot im Wohnzimmer herum. ({21})
Eine solche Vorstellung ist der Ausfluß einer bürokratischen Borniertheit.
({22})
Sie schreiben dann noch in die Begründung - Herr Börner hat das Gesetz hier vorgestellt -, mit Hilfe dieses Gesetzes würden 380 000 Arbeitslose wieder in Arbeit kommen. Ich sehe nicht, wie Sie zu dieser Rechnung kommen. Wenn ich sagte, das sei eine Milchmädchenrechnung, würde ich die Milchmädchen beleidigen.
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Ich bleibe dabei, daß wir das Thema Arbeitszeit nicht tabuisieren können. Ich appelliere gerade auch an die Sozialpartner. Das Erfolgsgeheimnis der Nachkriegszeit war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, war Kompromißbereitschaft, war soziale Partnerschaft. Dafür stehen auch Namen, die ich mit großem Respekt nenne, wie Böckler und Konrad Adenauer. Ich glaube, daß wir diese Tugenden, aufeinander zuzugehen, sich an einen Tisch zu setzen, wie auch die Bereitschaft, gemeinsam - Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber - nach Lösungen zu suchen, wieder mobilisieren müssen, und zwar nicht im Sinne eines unverbindlichen Meinungsaustausches, sondern im Sinne ergebnisorientierter Gespräche.
Für mich gehört zu dieser Konsenspolitik auch die Mitbestimmung. Sie ist eine der größten Erfindungen in der Sozialgeschichte.
({24})
Sie ist ein Institut des sozialen Friedens. Wenn ich recht sehe, haben unsere europäischen Nachbarn ohne Mitbestimmung ihren Strukturwandel nur mit mehr Streit und Streik zustande gebracht. Der Heizer auf der Diesellok, das ist nicht eine Figur mitbestimmter Unternehmen, das ist eine Figur aus klassenkampfbestimmten Gewerkschaften. Wenn ich recht verstehe, basiert auch der japanische Erfolg nicht auf einer Konfliktstrategie, sondern auf
einer Konsenspolitik, den Japanern freilich nicht mit dem Institut der Mitbestimmung verständlich, sondern in einer Tradition, die ich nicht nachvollziehen kann, die einem anderen Kulturkreis entspringt, einer geradezu patriarchalischen Kultur, die manchmal auch Familie und Betrieb verwechselt. Ich bin für partnerschaftliche Familie und partnerschaftlichen Betrieb. Aber immerhin: Der Erfolg der Japaner liegt auf der gleichen Ebene, auf der auch die Mitbestimmung angesiedelt ist: nicht Klassenkampf, sondern Zusammenarbeit. Ich halte den sozialen Frieden für den größten Produktionsfaktor unserer hochtechnisierten, hochzivilisierten Industriegesellschaft. Deshalb will ich hier noch einmal für jedermann in Erinnerung bringen, daß der Bundeskanzler klargestellt hat: Diese Regierung rührt die Mitbestimmung nicht an. Das ist eine Klarstellung, die Sie zur Kenntnis nehmen sollten und die Sie auch im Wahlkampf verbreiten sollten.
Meine Damen und Herren, zur Sozialpolitik im engeren Sinne, einer Sozialpolitik, die ja nicht unabhängig ist von dem, was ich vorgetragen habe: Ohne Überwindung der Arbeitslosigkeit gibt es keine Rentenversicherung auf Dauer. Es gibt keine soziale Sicherheit, die aus himmlichen Quellen finanziert wäre; es gibt sie nur auf Grund der Arbeit der jetzt Tätigen.
Zur Sozialpolitik will ich für die Regierung festhalten: Es sind zwei Maximen, die wichtig sind: Wir versprechen nicht mehr, als wir halten können; da sind wir für absolute Parität. Wenn uns einer fragt, was der Unterschied zwischen der Rentenpolitik der alten und der Rentenpolitik der neuen Regierung sei, dann kann ich ihm leicht ohne jede Formel erklären: Die alte Regierung hat die Rentenanpassung vor der Wahl versprochen und sie nach der Wahl verschoben. Wir haben umgekehrt gehandelt: Wir haben die Rentenanpassung vor der Wahl verschoben, und nach der Wahl zahlen wir Jahr für Jahr pünktlich die Renten; das ist der Unterschied.
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Ein Weiteres: Ich glaube, wir brauchen in der Sozialpolitik, meine Damen und Herren, auch eine Verdoppelung der Perspektiven. Wir können die Qualität der Sozialpolitik, ihre Leistungen nicht allein davon abhängig machen, wie hoch die Leistung ist, die der Empfänger erhält. Die zweite Perspektive ist ebenso wichtig: Wer bezahlt die Sozialleistungen? Das ist die Perspektive der Beitragszahler; auch das sind Arbeitnehmer. Ich halte es für einen Erfolg, daß es uns gelungen ist, die Krankenversicherungsbeiträge zu senken. Eine Milliarde DM wird auf diesem Wege mehr in die Wirtschaft fließen. Wir haben die Konsolidierung auf alle Schultern verteilt: auf die der Rentner und auch auf die der Beitragszahler.
Noch eine Klarstellung, meine Damen und Herren: Beiträge zur Rentenversicherung für Sonderzahlungen belasten die kleinen Einkommensbezieher überhaupt nicht. Das ist der Unterschied zur Alternative Beitragserhöhung. Die Beitragspflicht der Sonderzahlungen, die wir vorschlagen, verän1368
dern die Lage der kleinen Einkommensbezieher überhaupt nicht.
({26})
- Der großen auch nicht. Allerdings: Die großen erhalten dafür auch keine Gegenleistung; sie sind nicht in der Solidarität drin. Sie belasten die mittleren und höheren Vermögen allerdings unter dem Solidaritätsgesichtspunkt, daß man durch die Zufälligkeit eines Zahlungstermines nicht darüber entscheiden kann, ob man in öffentlichen Beitragspflichten ist oder nicht. Das müßte für Sie mit Ih. rem Solidaritätsdenken doch verständlich sein.
Nun, meine Damen und Herren, ich will für unsere Rentenversicherung festhalten: Es gibt keine Maßnahme - keine einzige! -, die ordnungspolitisch nicht begründbar wäre. Und es gibt keinen Beitrag, der nicht einen strukturpolitischen Aspekt hätte.
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Ich will das gegen alle Zweifler feststellen. Die größte Leistung - auch für die Rentner - ist, daß es uns gelungen ist, die Preissteigerungsrate zu drücken. Die Tatsache, daß wir von 6 % auf 3 % heruntergekommen sind, ist so viel wert, als hätten die Rentner 3 % mehr Rente erhalten. Das haben Sie ganz vergessen.
({28})
Inflation ist der größte Feind der Rentner. Wenn wir die Preise zurückdrängen, dann machen wir auch eine altenfreundliche, eine rentenfreundliche Politik.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Renten so konsolidieren wollen, daß sie nicht nur bis zum nächsten Wahltag konsolidiert sind, wenn wir nicht eine Rentenpolitik von Wahltag zu Wahltag, sondern eine Rentenpolitik machen wollen, die die Generationen überdauert, die das Jahr 2000 unversehrt erreicht, dann gibt es intellektuell nur drei Möglichkeiten: Entweder die Beiträge werden erhöht - nötig wäre dann eine Beitragsverdoppelung - oder die Renten werden gesenkt - nötig wäre dann eine Halbierung - oder die Rentenversicherung wird schlanker und konzentriert sich auf ihre eigentliche Aufgabe.
Die erste Möglichkeit - Beitragserhöhung - halte ich für illusionär. Die zweite Möglichkeit - Rentensenkung - halte ich für unsozial. Es bleibt uns nur die dritte Möglichkeit, zu fragen: Für was ist die Rentenversicherung gedacht? Ist sie eine soziale Einrichtung, die für alles zuständig ist, was sozial nützlich und wichtig ist? Ich weiß viele Ziele, ich weiß viele Aufgaben der Sozialpolitik. Den Behinderten muß mehr geholfen werden, der Familie muß mehr geholfen werden. Aber nicht alles kann die Rentenversicherung erledigen. Der Hoesch-Arbeiter oder der Opel-Arbeiter ist nicht dafür zuständig, sich als Staatsersatz um alle sozialen Probleme dieses Landes zu kümmern und die Leistungen mit seinen Groschen zu finanzieren. Wir brauchen eine saubere Trennung zwischen den Aufgaben der Alterssicherung und den Aufgaben der allgemeinen Sozialpolitik.
({29})
Meine Damen und Herren, der wunde Punkt der Rentenversicherung - Sie können auch „Achillessehne" sagen - ist die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente. Hier ist die Rentenversicherung verwundbar. Von den 630 000 Rentenneuzugängen des Jahres 1982 waren 51,3 % Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Über die Hälfte der Rentenneuzugänge erfolgen wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit!
Damit kein Zweifel entsteht: Dem, der gesundheitlich ausgelaugt ist, der sich kaputt fühlt, soll der Zugang zur Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente unverändert offenstehen. Aber es darf doch die Frage gestellt werden, ob es richtig ist, daß über 51 % nicht in die normale Altersrente, sondern in die vorzeitige Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente gehen, ob es richtig ist, daß das, was einmal als Ausnahme gedacht war, nun plötzlich zur Regel geworden ist, ob es richtig ist, daß das, was einmal der Seiteneingang war, nun plötzlich das Hauptportal ist, oder ob sich nicht auf diese Weise manche arbeitsmarktpolitisch entlastet haben. Vorgezogene Altersgrenze mit relativ niedrigen Beiträgen
({30})
und mit relativ kurzen Versicherungszeiten - das ist die Umgehung der Möglichkeiten, zur flexiblen Altersgrenze zu kommen. Zur flexiblen Altersgrenze - um mit 63 in die Rente zu kommen - braucht man 35 Beitragsjahre, für die Erwerbsunfähigkeitsrente nur 5 Jahre. Es darf doch die Vermutung geäußert werden, daß die Erwerbsunfähigkeitsrente zu einem Ersatz für die Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu herabgesetzten Preisen geworden ist. Hier sage ich Ihnen: Wir machen keine Sozialpolitik für die Cleveren, wir machen eine Sozialpolitik für jedermann, nicht nur für diejenigen, die alle Möglichkeiten kennen.
({31})
Meine Damen und Herren, Erwerbsunfähigkeitsrente kann - wie schon der Name nach meiner Definition sagt - nur derjenige erhalten, der erwerbstätig ist. Wer nicht erwerbstätig ist, kann qua Logik kaum Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente erheben. Die Erwerbsunfähigkeitsrente hat eine Lohnersatzfunktion. In ihr steckt ein hoher sozialer Ausgleich, finanziert von den Arbeitern, die
40 oder 50 Jahre arbeiten. Den Lohnersatz durch die Erwerbsunfähigkeitsrente kann nur jemand in Anspruch nehmen, der auch Lohn bezieht. Wer keinen Lohn bezieht, kann auch keinen Ersatz dafür bekommen. Ich kann nicht Null ersetzen!
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Stringenz, Klarheit in unserer Politik, das müssen wir mit unseren Sparmaßnahmen verbinden. Es geht nicht um eine Zurücknahme; es geht um mehr Plausibilität in unserer Rentenversicherung.
41 % derjenigen, die - mit Erwerbsunfähigkeitsrenten - früher in die Rente gegangen sind, hatten
in den letzten fünf Jahren vor diesem Zeitpunkt überhaupt keine Pflichtversicherungsbeiträge mehr gezahlt; sie hatten vor vielen, vielen Jahren zum letztenmal Beitrag gezahlt. Meine Damen und Herren, wenn Sie das nicht ändern, bezahlen es die Arbeitnehmer. Ich meine, die Rentenversicherung müßte wieder die klassische Alters- und Invaliditätssicherung der Arbeitnehmer sein. Das ist ihre eigentliche Aufgabe. Wer auf diesen Karren alles lädt, der trägt dazu bei, daß dieser Karren zusammenbricht. Das wäre nicht im Interesse unserer Mitbürger.
Es ist auch der Vorwurf erhoben worden, unsere Rentenpolitik sei frauenfeindlich.
({33})
- Hören Sie mich doch erst einmal an, und sprechen Sie dann Ihr Urteil! Ich hatte auch Lehrer nicht gern, die mir die Note schon geschrieben hatten, als ich den Aufsatz noch gar nicht zu Ende gebracht hatte. Warten Sie doch erst einmal ab!
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Die frauenfreundlichste Maßnahme in der Rentenversicherung ist die, daß man als Voraussetzung für die Altersrente nicht mehr 15 Jahre lang Beitrag zahlen muß, sondern nur 5 Jahre. An dieser 15-Jahre-Grenze sind viele Frauen gescheitert. Die haben vor der Ehe gearbeitet, Beitrag gezahlt, in der Ehe vielleicht noch ein paar Jahre: 10, 11, 12 Jahre. Die haben die 15 Jahre nicht zustande gebracht. Wenn wir von 15 auf 5 Jahre heruntergehen, dann ist das eine Maßnahme, die gerade Frauen begünstigt. Wir haben es nachgerechnet. Von 100, die diese Rente in Anspruch nehmen, werden 85 Frauen sein, darunter 69 Arbeiterinnen.
Wir haben auch festgestellt, daß viele von denjenigen, die über 65 hinaus gearbeitet haben, Arbeiterinnen waren. Ich vermute, daß darunter eine große Zahl war, deren Rente möglicherweise klein war, aber auch eine große Zahl von Frauen, die die 15 Jahre nicht zustande gebracht haben und die nicht wußten, daß man sich über den Seiteneingang Erwerbsunfähigkeit auch einen Zugang verschaffen kann.
Die zweite Maßnahme: Bei der Anrechnung auf den Zugang zur Erwerbsunfähigkeitsrente, daß man nämlich in den letzten fünf Jahren mindestens drei Jahre pflichtversichert gewesen sein muß, zählen Arbeitslosigkeit und Krankheit positiv mit - und Kindererziehungszeiten. Sie haben immer darüber geredet, gemacht haben Sie nichts. Es ist das erstemal, daß Kindererziehungszeiten im Rentenrecht eine Rolle spielen. Das ist der Spalt in der Tür für eine weitergehende Regelung, denn nach meiner Überzeugung gehören zur Alterssicherung nicht zwei, sondern drei Generationen. Die Kinder von heute sind die Beitragszahler von morgen. Deshalb muß es eine Rolle spielen, ob Kinder erzogen werden oder ob keine Kinder erzogen werden.
({35})
Meine Damen und Herren, ich will nur noch ein paar Dinge klarstellen. Es ist davon gesprochen worden, die Kürzung des Arbeitslosengeldes würde zu einem Massenandrang in der Sozialhilfe führen. Ich will hinzufügen, daß uns die Kürzung des Arbeitslosengeldes nicht leichtgefallen ist, daß wir sie insofern sozial gestaltet haben, als von ihr nur die Arbeitslosen betroffen sind, die keine Kinder haben. Ganz so neu ist das nicht. Bis zum Jahre 1974 gab es in der Arbeitslosenversicherung unterschiedliche Beträge je nachdem, ob der Arbeitslose Kinder hatte oder nicht. Nur, gegenüber jener Darstellung, als würden jetzt alle in die Sozialhilfe abgedrängt, will ich doch mitteilen, daß ein Lediger ohne Kinder weniger als 1300 DM als Arbeitnehmer verdient haben muß, um als Arbeitsloser in die Sozialhilfe zu kommen. Die niedrigste Tariflohngruppe in der Bekleidungsindustrie - das ist eine Industrie, die nicht an der Spitze der Tariflohnentwicklung liegt - erhält 1540 DM.
({36})
Meine Damen und Herren von der SPD, ich bitte, daß Sie mit Ihren Zahlen nicht die Arbeitslosen verwirren. Uns sind die Opfer schwergefallen. Aber es ist nicht so, wie Sie das darstellen; in diesem Ausmaße muten wir den Arbeitslosen keine Opfer zu.
Es ist davon gesprochen worden, daß es unsozial sei, vom Krankengeld Beitrag zur Rentenversicherung zu zahlen. Lassen Sie mich noch in diese Einzelheit gehen, weil darin auch ein Prinzip unserer Sozialpolitik deutlich werden könnte. Neu ist das auch nicht. Das Krankengeld ist jetzt schon ab 13. Monat beitragspflichtig; wir ziehen das nur an das Ende des Lohnfortzahlungstermis vor. Heute ist es so: Das Krankengeld beträgt 80% des Bruttoverdienstes. Das ist in der Mehrzahl der Fälle identisch mit dem Nettoverdienst. Denn wer hat nur 20% Abzüge?! Man kann also sagen, das Krankengeld ist genauso hoch wie der Nettoverdienst. Und jetzt sage ich Ihnen - ob das nun populär oder nicht populär ist -: wir werden in der Sozialpolitik keine Lohnersatzleistungen durchhalten, die genauso hoch sind wie der Lohn, von dem sie abhängen. Das werden wir nicht durchhalten.
({37})
Ich will diese Betrachtungen an Hand von Beispielen zur Sozialpolitik zusammenfassen in das Ziel unserer Sozialpolitik: Sie soll menschlich und freiheitlich sein. Wenn ich „menschlich" sage, dann meine ich nicht eine Sozialpolitik, die nur den Profis überlassen bleibt, nur dem Gesetzgeber. Es geht um eine soziale Gesellschaft, in der Gemeinschaft wieder gilt, in der Nachbarschaft, in der Familie einen Ort hat. Wenn wir ein Programm der Entstaatlichung vertreten, vertreten wir nicht das Programm der Privatisierung, vertreten wir nicht das Programm, jeden einzelnen sich selbst zu überlassen. Subsidiarität verlangt von uns, die kleineren Gemeinschaften zu stärken - Selbstverwaltung, Familie, nicht diese anonyme Gesellschaft, die auch gegen Mißbrauch weniger gewappnet ist als die personengebundenen Gemeinschaften. Gegenüber anonymen Computern ist die Hemmschwelle niedrig; gegenüber dem Kollegen, mit dem ich in einer Solidargemeinschaft bin, ist die Hemmung, diese Solidargemeinschaft zu mißbrauchen, viel größer.
Wir betreiben eine Politik für die Familie. Eine Politik für die Familie hängt nicht nur vom Geld ab. Das ist ein materialistisches Mißverständnis. Ein öffentliches Bewußtsein, das die Familie wie eine nostalgische Gegebenheit behandelt, wie ein Zweckbündnis aus dem man ein- und aussteigen kann, wie man in einen Schützenverein ein- und aussteigt, hat eine Gesellschaft zur Folge, der alle Treue, Liebe und Verläßlichkeit schwindet.
({38})
Wenn wir beim Mutterschaftsurlaub einen Monat zurückgegangen sind, so ist mir das auch schwergefallen. Ich verkünde dies hier doch nicht mit Freude und Genuß. Nur, meine Damen und Herren, das Mutterschaftsurlaubsgesetz war - da verrate ich Ihnen nichts Neues - nie mein Wunschgesetz, mein Traumgesetz; denn in dieses Gesetz ist eine Diskriminierung eingebaut, nämlich die Diskriminierung der nichterwerbstätigen Mutter. Wir wollen doch nicht die eine gegen die andere ausspielen. Aber wir kämpfen nicht nur für die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Erwerbsleben, wir kämpfen auch für die Gleichberechtigung der nichterwerbstätigen Mutter mit der erwerbstätigen Mutter. Und diese Gleichberechtigung haben Sie ganz vergessen, meine Damen und Herren.
({39})
Wir nehmen einen Anlauf zu einem großen Sprung. Deshalb muß man möglicherweise einen Schritt zurückgehen.
Das zweite Prinzip: freiheitliche Sozialpolitik. Sozialpolitik hat es nicht nur mit Fürsorge zu tun, hat es nicht nur mit Zuteilung zu tun. Sozialpolitik, wie wir sie wollen, ist solidarische Selbsthilfe. Nicht der behandelte Mensch ist das Ziel der Sozialpolitik, sondern der handelnde. Freiheitliche Sozialpolitik hat also unterstützenden Charakter.
Meine Damen und Herren, ich sehe auch im Leistungsprinzip ein emanzipatorisches Prinzip. Nicht danke schön sagen zu müssen für eine Sozialleistung, sondern sie selber erworben zu haben, das verändert den Charakter der Sozialversicherung. Und deshalb bestehen wir darauf, daß die Sozialversicherung lohnbezogen bleibt, weil der Lohn das Kriterium für die Leistung ist. Wir wollen nicht den Versorgungsstaat. Wir wollen nicht die sozialistische Gulaschkanone, aus der jeder den gleichen Schlag bekommt. Wir wollen ein leistungsbezogenes Renten- und Sozialversicherungssystem.
({40})
- Meine Damen und Herren von der SPD, ich danke Ihnen für die Beruhigung, die sich inzwischen bei Ihnen eingestellt hat.
Ich bin sicher, wir werden die Krise meistern.
({41})
Dazu wird uns nicht Pessimismus helfen. Ich finde, „Krise" ist geradezu zum Lieblingswort der Zeit geworden. Es wird gebraucht wie die Hostie einer Pseudoreligion. Ich finde, dieser Untergangston mobilisiert keine Kräfte. Wir brauche Optimismus, daß wir es schaffen. Wir haben in der Nachkriegszeit
schwierigere Situationen überwunden. Warum sollte es uns nicht gelingen, mit Mut, Zuversicht und Ausdauer, diese Krise zu meistern, sie zu beenden?
({42})
Auf der Diplomatentribüne hat eine Delegation des Schwedischen Reichstages unter Vorsitz von Rune Carstein Platz genommen. Ich begrüße die Mitglieder des Schwedischen Reichstages bei uns im Bundestag recht herzlich und wünsche einen angenehmen und ersprießlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, ob die Zuhörer draußen am Radio eigentlich gemerkt haben, welches Ressort Herr Blüm hier heute vertreten hat.
({0})
Jeder Abgeordnete kann heute in seinem Wahlkreis feststellen, mit welcher Furcht viele Gruppen unseres Volkes die sozialpolitische Situation verfolgen. Haben Sie, Herr Blüm, eigentlich einmal hingehorcht? Sie reden hier von Optimismus. Wenn Optimismus verbreitet werden soll, so schaffen Sie ihn, aber dann mit einem anderen Programm.
({1})
Ein knappes Jahr nach dem Ende der sozialliberalen Koalition - das gibt Herr Albrecht in der zweiten These seiner zehn Thesen ja auch zu - sind doch die Hoffnungen verraucht, die mit dem Regierungswechsel verbunden waren. In dieser Woche wird uns mit dem Haushaltsplan das größte sozialpolitische Sparprogramm vorgelegt, das wir in der Bundesrepublik je erlebt haben - und das ohne jeden Ausgleich und ohne jede Belastung auf der anderen Seite, nämlich bei den Leuten, die nicht so sehr auf soziale Leistungen angewiesen sind.
({2})
Herr Blüm hat hier lustig vom Wasserrohrbruch im Keller gesprochen. Der Keller ist das Fundament. Es kann schon sein, daß hier ein Wasserrohr bricht. Die Frage ist, wer dort dann zuerst absaufen wird. Das ist unser Problem.
({3})
Wir müssen ja nun nicht etwa alle den Gürtel sehr viel enger schnallen. Diejenigen, die ohnedies keine dicken Bäuche haben, sollen den Gürtel enger schnallen. Ich muß es mir jetzt versagen, daran zu erinnern und breit auszuführen, welche Anträge Sie als Opposition hier in den vergangenen Jahren eingebracht haben, wenn es um die benachteiligten Gruppen ging. Sie wollten uns doch immer übertreffen. Aber nun sieht man, was daran wirklich war: Eine unverbindliche Liebedienerei war es, sonst gar nichts. Es sind nicht einmal alle Kürzungen, so schmerzlich diese auch im einzelnen sind, die uns hier so ärgerlich machen. Es ist vielmehr die einseitige, ungerechte, phantasielose und teilweise sogar
grausame Art, in der sich Einschnitte vollziehen sollen.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie lassen jene Solidarität vermissen, die wir uns als Wohlstandsgesellschaft sehr wohl auch heute noch erlauben könnten.
Am schärfsten sind von den aktuellen Beschlüssen der neuen Bundesregierung die Frauen betroffen. Keiner hat je so viel über die Frauen und die Familie geredet wie Herr Bundeskanzler Kohl, keiner je so schön wie die Herren Minister Blüm und Geißler. Heute morgen hat Herr Dregger ja auch noch ein Gedicht angefügt. Jetzt nehmen aber doch viele voller Staunen zur Kenntnis, daß nun alles andere geschieht als das, was sie vor der Wahl erwartet haben. Ich rede hier heute nicht von einer Minderheit. Ich rede von der Mehrheit unseres Volkes, auch wenn sie sich als solche nicht in den Organisationen manifestiert. Im Zusammenhang mit den jetzigen Kürzungen rede ich nicht vom Abbau von Privilegien, obwohl das nötig wäre, sondern ich rede über das rigorose Ende eines Prozesses, der in den letzten Jahren mehr Gleichberechtigung gebracht hat. Gleichberechtigung heißt mehr Gleichheit aus Berechtigung. Dies war eine noch keineswegs abgeschlossene mühselige Entwicklung, die durchaus ihre Kritiker fand und findet, z. B. in der Frauenbewegung. Aber es war doch so, daß sich in Familie und Arbeitswelt real doch einiges in Recht und Praxis bewegt hat.
Ich hatte mir immer gewünscht, zu diesem Thema einmal im Rahmen einer großen Debatte sprechen zu können. Daß das heute hier vor einem so negativen Hintergrund geschieht, macht mich nach 30jähriger politischer Tätigkeit sehr betroffen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich bin viel zu lange hier, um noch in billiger Polemik zu schwelgen.
Wir brauchen wahrscheinlich bald eine grundlegende Diskussion darüber, wie unser Sozialsystem, dessen Grundstruktur ja noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt, auf neue Grundlagen gestellt werden kann, die den Veränderungen der Wirtschaft entsprechen und nicht am Lohn als einziger Größe anknüpfen. Bei abnehmender Zahl der Arbeitsplätze kann anhaltende Schmälerung von Sozialleistungen und die damit verbundene Unsicherheit, die ja nicht nur die Rentner empfinden, doch nicht über Jahre hinweg das Dauerkonzept sein. Ich wundere mich, wenn Herr Cronenberg hier heute so lapidar sagt, es handle sich schlicht um die Anpassung des Sozialsystems an die verschlechterten Bedingungen. Ich meine, etwas mehr wird man wohl nachdenken müssen.
Meine Damen und Herren, soweit es sich nur um schlichte Kürzungen handelt, erwarten die Bürger zumindest ein erkennbares Bemühen um Gerechtigkeit. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit sparsamer Haushaltsführung: Dieser Generalangriff auf die Lebenschancen von Frauen, den wir jetzt erleben, wird Sie, wenn das Gefühl für Gerechtigkeit im Volke noch nicht ganz versiegt ist, politisch noch teuer zu stehen kommen.
({6})
Die Rechtskoalition hat mühsam erreichte Fortschritte ausgelöscht und berechtigte Hoffnungen erstickt. Die Frau, der Sie als Berufstätiger und Hausfrau doch immer so gern den Hof machen, wobei Sie beide gleichzeitig gegeneinander ausnutzen, ist nun zum Aschenputtel der Politik geworden.
Klingt es nicht wie Hohn, wenn die Minister der neuen Regierung 200 000 Geburten pro Jahr mehr fordern, während Sie gleichzeitig den Mutterschaftsurlaub um 40 % kürzen, d. h. um einen Monat Bezugsdauer und 150 DM alle vier Wochen? Das sind zusammen 1 200 DM pro Fall. Finanzieren Sie damit einen Teil der Vermögensteuersenkung?
({7})
Diese Frage muß doch erlaubt sein. Minister Posser hat uns vorgetragen, wem diese Vermögensteuersenkung zugute kommt. Wie können Sie das vor den berufstätigen Müttern entschuldigen? Über 90 % der jungen Mütter haben vom Mutterschaftsurlaub Gebrauch gemacht. Ist Ihnen eigentlich gar keine andere Gruppe unseres Volkes eingefallen, bei der Sie den Rotstift eher ansetzen konnten? Es ist hier schon an die Vorschläge von Staatssekretär Vogel erinnert worden. Warum holen Sie Ihre Sparmilliarden ausgerechnet von denen, die schon am meisten belastet sind?
Sogar Herr Dr. Haimo George meint in seinem bekannten Papier, wenn er von der unterlassenen Humaninvestition, d. h. von den fehlenden Geburten spricht, die Familienförderung dürfe ruhig etwas kosten und müsse sogar ausgebaut werden. Mit der letzten Kindergeld- und der jetzigen Mutterschaftsurlaubskürzung hat sich allerdings der Finanzminister durchgesetzt. Wir haben das so erwartet. Denn mit der CDU und mit der FDP kann man das eben machen.
Nachdem ich Herrn Dr. George zitiert habe, muß ich nun leider auch anfügen, daß ihm vor allen Dingen der sogenannte Nebeneffekt von Familienförderung, nämlich die Entlastung des Arbeitsmarktes, wichtig ist. Wenn - so argumentiert er - vier Millionen Kinder seit 1970 mehr geboren worden wären, dann hätten ihre Mütter den Arbeitsmarkt weniger belastet. Aber während er beklagt, daß jüngere Frauen ihre Erwerbsarbeit zunehmend weniger unterbrechen, wobei - das sage ich - die Angst um den Arbeitsplatz natürlich eine Rolle spielt, teilt er keineswegs mit, welche Arbeitsplätze eigentlich den vier Millionen Kindern winken, die ihre Mütter vom Arbeitsmarkt fernhalten sollen.
({8})
Unglaublich widersprüchlich wird die Sache bei Herrn Dr. George aber erst, wenn er noch im selben Papier bemängelt, daß wegen bestimmter Beschäftigungsverbote und Arbeitszeitregelungen in den letzten Jahren nun auf einmal zu wenig Frauen tätig geworden seien; sonst hätte man sich nämlich die ausländischen Gastarbeiter sparen können.
Hier tritt das alte konservative Denkschema zutage, wonach die Frauen als Arbeitsmarktreserve für alle - außer für sich selbst natürlich - die beste Lösung sind.
({9})
- Ja, ja! Wir sind auch schon alternativ geworden.
({10})
- Sie kennen ja unsere Vorschläge.
George - muß ich Ihnen sagen - schreckt ja nicht mal vor dem Vorwurf zurück, die Frauen nähmen vor geplanter Mutterschaft Arbeit auf, nur um dann Leistungen zu kassieren. Das ist ja gerade so, als ob den Frauen jetzt massenhaft Arbeitsplätze angeboten würden.
Andererseits gibt es kein Verständnis, kein kritisches Wort für die negative Einstellung von Firmenchefs, die junge Frauen wegen der Familienfrage nicht einstellen, andererseits außerbetrieblich natürlich immer den Geburtenmangel beklagen. Hier sollen offensichtlich Schutzbestimmungen weg. Das tut ja die neue Regierung auch.
Einen Mann wie Dr. George, der solche Ansichten vertritt, leistet sich die CDU/CSU-Fraktion als Vorsitzenden ihrer Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales. Arbeit und Soziales! In dieser Funktion haben die Vorschläge einen hohen Stellenwert, auch wenn er sie als persönlich deklariert. Und die jetzige Regierung kann nach dem, was auf dem Tisch ist, sicher gut mit ihm leben. Da können wir mit den Familienverbänden, die Ihnen ja sonst immer die Stange gehalten haben, und den alleinerziehenden Müttern und Vätern nur sagen, daß die Diskrepanz zwischen den positiven Worten der Bundesregierung und ihren die Familie zunehmend belastenden Taten offensichtlich ist.
({11})
Auch die Ankündigung, daß ab 1987 an alle Mütter ein Mutterschaftsgeld gezahlt werden solle, tröstet nur noch einige Gutgläubige, Herr Blüm. Sie findet keinen Niederschlag in der mittelfristigen Finanzplanung. Darin ist ebenso kein Babyjahr zu finden. Die Milliarden, die das kosten würde, werden sicherlich anderswo gebraucht, und eine bloße Taschengeldlösung beim Mutterschaftsgeld können Sie sich schenken.
({12})
Mit all diesen Kürzungen, meine Damen und Herren, haben CDU, CSU und FDP den Familien mehr genommen - ich denke an Wohngeldkürzungen, BAföG, an all die Dinge, die noch dazu kommen -, als sie ihnen je durch das Erziehungsgeld in Aussicht gestellt haben, und Sie haben ihnen nicht mal dieses gegeben.
({13})
Käme es zum Familiensplitting, was ich bezweifle, dann würde dies das allgemeine gleiche Kindergeld aufzehren müssen; denn sonst ist es viel zu teuer. Wenn es das aber tut, wird es sozial ungerecht, und das sagen Ihnen die betroffenen Verbände ebenfalls schon jetzt. Hier sagt Herr Dregger - auch Herr Blüm hat es anklingen lassen -, daß die kinderreichen Familien sozial benachteiligt sind. Herr Dregger hat gesagt: Skandalös benachteiligt. Haben Sie denen etwa nicht das Wohngeld, die Sozialhilfe und das Kindergeld gekürzt?
({14})
Arme Kinderreiche werden vom Splitting nichts haben. Ich frage Sie: Wem wollen Sie denn eigentlich helfen?
({15})
Familiengründung und Mutterschaft, so sagt der Verband alleinerziehender Väter und Mütter, wird ein abenteuerliches Risiko, insbesondere wenn Sie dann auch noch das Scheidungsrecht mit der Wiedereinführung von Verschuldenskriterien, der Erschwerung von Unterhalt und Versorgungsausgleich novellieren.
({16})
- Es ist nicht unbedarft, es ist leider eine Tatsache, falls Sie Ihre Ankündigungen wahr machen!
({17})
- Wir streiten hier darüber, was notwendig ist und in welcher Form es notwendig ist, aber das muß man ganz seriös machen. Herr Althammer, wir sind eben anderer Auffassung und meinen, daß Sie nicht ausgerechnet immer bei den armen Familien und den Müttern ansetzen sollten.
({18})
Die meisten Familien leben von Erwerbsarbeit - das sagt Herr Dr. George, das ist heute morgen hier auch von Herrn Dregger gesagt worden -, sie ist die Quelle unseres Wohlstandes. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß Sie am meisten an die Menschen denken, die den Wohlstand erarbeiten, nämlich an die Arbeiter und die Frauen unter ihnen. Es heißt nämlich bei Herrn Dr. George und auch anderswo, daß die Arbeit billiger werden soll. Ich finde es beschämend, wenn Herr Dr. George schreibt, daß ausgerechnet die Löhne und Gehälter in den Niedriglohngruppen zu hoch sind. So reden nur Leute, die ein Vielfaches davon verdienen.
({19})
Herr Dr. George widerspricht sich dann aber neun Seiten später selbst, indem er gleichzeitig meint - das werden wir festhalten -, die Arbeitszeitverkürzung könne nicht kommen, weil nämlich die Arbeitnehmer nur begrenzt zu Lohnverzichten bereit und - man denke! - auch fähig seien. Da meint er sicherlich die Niedriglohngruppen. Wen anders sollte er da wohl meinen? In den Niedriglohngruppen sind ganz überwiegend die Frauen, mit ihren Handikaps in Ausbildung, kontinuierlicher Arbeit und Aufstieg. Sieht die Regierung nicht, daß genau an ihnen die neuen schleichenden Formen von Arbeitszeitverkürzung ausprobiert werFrau Huber
den, Jobsharing und kapazitätsorientierte Arbeitszeit?
({20})
Herr George fordert nach den überzogenen Erwartungen, die die SPD gezüchtet habe, eine neue Sicht. Wir fordern: Augen auf vor solchen Prozessen am Arbeitsplatz, die ganz besonders die Frauen bedrohen! Warum tun Sie eigentlich nichts dagegen, Herr Blüm? Sie wollen noch nicht einmal die Arbeitszeitordnung novellieren, und das ist wohl das mindeste.
({21})
- Ich habe schon gehört warum, aber ich bin trotzdem der Meinung, daß das geschehen sollte.
({22})
- Ich habe zugehört. Wir sind für die Veränderung der Arbeitszeitordnung.
Die Frauen haben keine überzogenen Erwartungen. Sie kennen ihre schwächere Position; sie läßt sie oft genug trotz Benachteiligung schweigen. Sie lernen sie schon bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz kennen, wo Mädchen trotz guter Zeugnisse schwerer zu vermitteln sind und noch zuhauf in Berufe kommen, wo sie lange nicht alle bleiben können: Friseusen, Arzthelferinnen, Bäckerinnen.
Der Wahlkreis von Herrn Dr. Kohl ist ein Musterbeispiel für die Ausbildungsmisere in unserem Land. Und die hat er doch zu beheben versprochen.
Ich muß Ihnen sagen: Bei uns in Essen sieht es etwas besser aus als in seinem Wahlkreis.
({23})
- Nicht deswegen. - Eines will ich Ihnen aber sagen, wenn Herr Blüm so billig argumentiert mit den Jungen, die nicht an der Zeche erschienen sind zur Aufnahme ihrer Arbeit. Ihre Familien haben sie nicht dorthin gejagt wie vielleicht die Eltern früher, von denen Herr Blüm sprach, weil das Damoklesschwert der Zechenschließung über uns hängt - schon wieder einmal - und weil wir nicht wissen, wieviel Sie für die Kohle tun werden.
({24})
Es handelt sich um Arbeitsplätze, die unter ganz besonderen Schwierigkeiten stehen. Ich komme von der Ruhr.
({25})
- Bei der Chemie nicht, aber bei dem Beispiel von der Zeche. Das hat er als Hauptbeispiel hier angeführt. Reden Sie sich nicht heraus. Der Mehrzahl der jungen Leute, die keinen Arbeitsplatz haben, wird nicht damit geholfen, daß Sie sagen: Es gibt da
eine Zeche, zu der nicht alle zur Arbeitsaufnahme gekommen sind.
({26})
Solange die Kohle so unsicher ist, wird das wohl auch noch weiter passieren, verständlicherweise passieren.
CDU und FDP haben den jungen Leuten, Mädchen und Jungen, einen schweren Schlag versetzt durch den Kahlschlag beim BAföG. Viele Eltern werden angesichts mangelnder Unterstützung nun zur Praxis meiner Jugendzeit zurückkehren; das heißt hier, die Ausbildung für den Jungen hat Vorrang, Mädchen stehen wieder zurück.
({27})
Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe es selbst erlebt. Es haben gerade die Mädchen in den letzten 20 Jahren unsere weiterführenden Schulen erobert und gute Ergebnisse gebracht. Wir freuen uns darüber, denn wir wissen, daß auch die Mädchen für ihre Lebenssicherheit eine feste Grundlage brauchen.
({28})
Aber diese Mädchen werden nun zum Teil, Herr Blüm, Opfer einer Krise, von der andere Leute gar nichts merken.
Die Frauen brauchen keine amtliche Untersuchung, um zu wissen, daß sie mit ihrer geringeren Berufsbandbreite, mit ihren Familienpflichten die schlechteren Chancen bei der Arbeitssuche haben, obwohl keineswegs alle einen männlichen Familienernährer haben. Ca. 19 % der Familien in der Bundesrepublik werden von einer Frau durchs Leben gebracht. Aber das schützt sie auch nicht immer davor, zum wachsenden Heer der Arbeitslosen zu stoßen, in dem die Frauen die Mehrheit bilden. Da haben sie dann Zeit, sich bei gekürzter Unterstützung Gedanken über die gepriesene Wahlfreiheit zu machen. Offenbar auf lange. Denn Sie, Herr Blüm, haben ja heute kein Beschäftigungsprogramm vorgeführt, nur Rechentricks, die keinem etwas bringen.
Tun Sie das mit der Arbeitslosigkeit der Frauen bitte nicht so leichtfertig ab. Es wird oft gesagt, die Frauen wollten alle nur teilzeitarbeiten, um einen höheren Lebensstandard zu befriedigen.
({29})
- Ja, es wird oft gesagt, das sind meist nur die Frauen, die haben einen Ernährer, die wollen nur teilzeitarbeiten.
({30})
Ich habe diese Auffassung hier nie vertreten. Im Gegenteil werden diese Frauen viele ganz normale Ansprüche nicht mehr befriedigen können, wenn sich Herr Ministerpräsident Albrecht mit seiner These durchsetzt, wonach der einzelne Arbeitnehmer künftig den Arbeitgeberbeitrag und andere so1374
ziale Absicherungen über eine erhöhte Mehrwertsteuer selbst finanziert.
({31})
Es ist nicht zu begreifen, daß die Autoren solcher Vorschläge in der CDU bei ohnedies wachsenden Mieten, gekürztem Wohngeld, gestrichener Ausbildungsförderung, sinkenden Sozialleistungen so drastische Einkommensbeschneidungen fordern und dann noch ihre Kinder- und Familienfreundlichkeit hervorheben. Zu Recht stellt der DGB fest, daß keine Gruppe in unserer Gesellschaft von den neuen Kürzungen so hart betroffen wird wie die berufstätigen Mütter. Wegen der allgemeinen Lage werden immer mehr Frauen Arbeit suchen. Aber ob sie sie bekommen, ist bei der Tatenlosigkeit, die wir jetzt erleben, sehr die Frage.
Die DGB-Frauen werden Ihnen in ihrer großen Kundgebung am 18. September hier in Bonn ihre Enttäuschung über den beispiellosen Sozialabbau bescheinigen, den Sie j a kaum unter der sonst geschätzten Rubrik „christliche Politik" unterbringen können. Die DGB-Frauen haben sehr viel Praxis, meine Damen und Herren. Sie vertreten lauter Leute, die sich nicht auf Vermögen ausruhen können. Diese Frauen wollen für ihr Geld arbeiten - und Arbeit ist j a die Grundlage für unseren Wohlstand -, aber sie dürfen es oftmals nicht.
Alle diese geschilderten Benachteiligungen haben aber noch einen gewaltigen Pferdefuß. Sie wirken sich im Alter rentenmindernd aus. Trotzdem war die Regierung keineswegs zurückhaltend mit den Beschlüssen, die besonders die Alterssicherung der Frau betreffen. Das fängt damit an, daß die Zeit des Bezuges von Mutterschafts „urlaubs" geld künftig nicht mehr Beitrags-, sondern Ausfallzeit ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte, Herr Abgeordneter Blüm.
Frau Kollegin Huber, können Sie mir bestätigen, daß die Anrechnung als Ausfallzeit für die Mütter günstiger ist als die Anrechnung als Beitragszeit? Können Sie bestätigen, daß das für die Rentenversicherung in der Regel dreimal soviel ausmacht?
({0})
Herr Blüm, was Sie sagen, ist vordergründig richtig.
({0})
Meine Damen und Herren, die Frau Abgeordnete Huber hat diese Zwischenfrage genehmigt.
({0})
Herr Blüm, ich habe Ihre Zwischenfrage nicht deshalb gestattet, weil Sie Minister sind. Ich hätte sie auch sonst gestattet, weil ich es für parlamentarisch halte, Zwischenfragen zu gestatten.
Herr Blüm, Ihre Argumentation ist doch nur vordergründig richtig. Die Ausfallzeit kann nur genutzt werden, wenn man anschließend arbeitet oder arbeitslos wird und später die Halbdeckung vorhanden ist. Genau das ist bei den meisten Frauen eben nicht der Fall.
({0}) Warum wohl nicht?
({1})
- Noch eine, aber dann möchte ich fortfahren.
Frau Huber, stimmen Sie mit mir überein, daß durch die Beseitigung des Halbbelegungsprinzips, die auf unserem Programm steht, dieser Mangel entfiele?
Wir werden sehen, wie Sie den Mangel beheben. Sie wissen j a, daß die Frauen kürzere Arbeitslebensläufe haben. Sie haben die erwähnte Verschlechterung geschaffen. Ob Sie das später wiedergutmachen, werden wir ja sehen.
({0})
- Sie merken es nicht, wenn Sie schreien, Herr Blüm.
({1})
Die Frauen sind natürlich von den verdeckten Beitragserhöhungen durch die künftige Einbeziehung der Einmalzahlungen betroffen, durch die Einbeziehung von Weihnachts- und Urlaubsgeld, das sie zu Weihnachten und für den Urlaub sicher bitterer nötig haben als andere Kreise der Bevölkerung.
Aber gravierender für die Frauen ist etwas ganz anderes, nämlich die Verschärfung der Voraussetzungen für den Erhalt einer Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente. Meine Damen und Herren, Herr Blüm hat diese Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente als „finanzielle Achillesferse des Rentensystems" bezeichnet. Über die Hälfte aller Zugänge resultierten hieraus.
Aber was machen Sie nun, Herr Blüm? Sie machen es ganz einfach: Sie katapultieren die Frauen aus diesen Renten heraus.
({2})
Künftig soll nur noch derjenige eine solche Rente erhalten, der zusätzlich zur kleinen Wartezeit in den letzten fünf Jahren mindestens drei Jahre pflichtversichert gearbeitet hat. Diese Regelung wird auch nicht sehr dadurch verbessert, daß Sie pro Kind die Rahmenfrist um fünf Jahre verlängern. Erstens gehen alle Frauen mit freiwilliger Weiterzahlung leer aus, zweitens diejenigen Frauen, die zu Hause Angehörige pflegen. Drittens ist es klar, daß die älteren Frauen - um diese handelt es sich hier ja - besonders schwer Arbeit finden und oft besonders lange aus dem Arbeitsprozeß heraus
sind. Die familienpolitische Komponente bei dieser Regelung führt nur in Ausnahmefällen zu Invalidenrenten für Frauen. Wie groß das Problem ist, zeigt die Tatsache, daß 1982 56 % der Zugänge bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten auf Frauen entfielen.
Unsicherheit herrscht noch in der Frage, ob die vorgesehene Altersgrenze für Frauen aufgehoben wird. Da läuft ja der Prozeß eines Mannes vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Regierung will offenbar das Urteil abwarten, ehe sie handelt. Ich finde es schon von Bedeutung, daß sich die Minister für Finanzen, für Wirtschaft und für Arbeit und Sozialordnung schon darüber unterhalten haben, wieviel man bei der Sache sparen kann,
({3})
wenn man, wie man im Ruhrgebiet sagt, die Oma noch länger auf Maloche schickt. Da weiß man, was uns blüht, nämlich eine Verlängerung des Arbeitslebens auf 65 Jahre, weil die meisten Frauen die Voraussetzungen für die flexible Altersgrenze nicht erfüllen und auch nicht erfüllen können.
Eine solche Verlängerung des Arbeitslebens der Frauen, wenn sie kommt, wenn Sie grünes Licht aus Karlsruhe bekommen, geschieht ausgerechnet bei einem Arbeitsmarkt, auf den so viele junge Leute drängen.
({4})
- Die Alternativen haben wir schon auf den Tisch gelegt.
({5})
- Dann haben Sie in dieser Woche, in der vorigen Woche und in der vorvorigen Woche eben nicht zugehört; tut mir leid.
({6})
Die Witwenrentenabfindung - das steht fest - wird vom fünffachen auf den zweifachen Jahressatz gekürzt, d. h. Sie kürzen die Abfindung im Schnitt um zirka 30 000 DM pro Fall. Das nimmt sich im Haushalt ganz wenig aus, wenn man es betrachtet, im Einzelfall ist es jedoch sehr viel. Es wird dazu führen, daß weniger Wiederverheiratungen stattfinden. Die Maßnahme wird dann ganz vergebens sein; Sie werden keine Mark sparen.
({7})
- Hier wird der Zwischenruf gemacht: Die Onkelehe. Das ist genau das, was dann noch mehr praktiziert werden wird.
Unsere größte Aufmerksamkeit richtet sich aber auf die sogenannte Rentenreform 1984. Das ist ein Auftrag des Verfassungsgerichts, der überfällig und durch die letzte Wahl verschoben worden ist. An diese Reform haben sich seit Jahren viele Hoffnungen auch der Frauen geknüpft. Nun hat die Regierung beschlossen, zum 1. Juli nächsten Jahres Witwer und Witwen gleichzustellen. Der überlebende
Ehegatte erhält bei Invalidität, vorgerücktem Alter oder bei Kindererziehung wie jetzt 60 % Hinterbliebenenrente. Darauf sollen aber künftig Einkünfte aus Arbeit und Vermögen angerechnet werden. Wieweit, ist noch offen, aber die Einsparungen werden fast ausschließlich bei den verheirateten Arbeitnehmerinnen abkassiert. Das ist deutlich.
({8})
Gleichbehandlung ist gut und richtig, auch wenn sie die Männer betrifft. Das wollen wir offen sagen. Aber wo bleibt nun eigentlich die entsprechende Gleichbehandlung bei den Frauen, die die Kinder erziehen und deswegen keine Rentenanwartschaft erwerben?
({9})
Da mit über 1 Million neuen Bezugsfällen von Witwerrenten zu rechnen ist, aber bis zum Ende 1987 schon Einsparungen von 700 Millionen DM erzielt werden sollen, ist im Falle des Zusammentreffens von zwei Renten - also beide Ehegatten waren tätig - eine Obergrenze von 70 % beider Renten vorgesehen. Die eigene Rente soll garantiert bleiben. Wer zahlt aber die Zeche? Die Zeche zahlen die Frauen; denn vergleicht man die üblichen beruflichen Lebensläufe von Frauen und Männern, dann weiß man um ihre Chancen, eine gute Rente zu verdienen. Dann kann man nur enttäuscht sein über eine Regelung, die lediglich denen etwas bringt, die eine Frau mit guter Rentenerwartung verlieren.
({10})
Die vielen Mütter mit Familienpflichten, die bei dieser sogenannten Reform leer ausgehen, ja sich künftig gegen ihre 60 % noch etwas gegenrechnen lassen sollen, werden zornig, aber ohnmächtig feststellen, daß sie wieder einmal die Geprügelten sind. Die Frauen mit den kleinen Renten, deren Anpassung jetzt unter der Teuerungsrate liegt, sind diejenigen, die nach dem Krieg oft die Steine geklopft haben. Diese Frauen müssen künftig, falls der Enkel nicht zahlen kann - das ist ja auch ein Kapitel für sich: Der Enkel zahlt für Oma, Oma zahlt für den Enkel, wenn noch ein paar Mark von der Rente übrigbleiben -, diese Frauen müssen gegebenen-falles noch mehr zur Sozialhilfe gehen, wo sie neben den alleinstehenden Müttern die größte Gruppe bilden. Man bedenke, daß die Bezieherinnen kleiner Renten und die alleinerziehenden Mütter die größten Gruppen bei der Sozialhilfe bilden. Aber nun wollen Sie auch hier die Regelsätze überprüfen.
({11})
- Ich sage, daß die Frauen jetzt massenhaft zusätzlich in die Sozialhilfe gehen werden. Gehen Sie einmal in die Gemeinden und lassen Sie sich die Steigerungsraten sagen. Bei uns zu Hause hat eine - ({12})
- Wer hat denn im vorigen Jahr die Rentenanpassung so gestaltet, wie sie nun ist, und ähnliches mehr?
({13})
Auf Grund der Beschlüsse, die Sie gefaßt haben, werden die Sozialhilfeetats der Städte so anschwellen, daß wir gar nicht wissen werden, ob wir das unter den derzeitigen Bedingungen noch bezahlen können. Was Sie tun, ist heute gesagt worden: Sie verschieben die Lasten nur von einer Kasse auf die andere.
({14})
Sie scheuen sich sogar nicht, den Schwerbehinderten in den beschützenden Werkstätten die Renten zu kürzen.
({15})
Sie gehen immer dahin, schütteln die Hände und gucken sich das an, und hinterher senken Sie ihnen die Bemessungsgrundlage, was zu einer 20%igen Minderung der Altersrente führt, die jetzt 600 DM und etwas beträgt. Dazu muß man doch wohl sagen: Das ist das letzte, was einem einfallen konnte.
({16})
Für das Ganze gibt es nur eine Überschrift: Rückkehr zum Almosenprinzip und zur Armenpflege. So sieht das aus.
({17})
Wenn Sie die Absicherung gerade dieser Leute so schmälern, die wir j a alle gemeinsam beschlossen haben, dann fällt einem doch nichts anderes ein als der berühmte Spruch vom Dank des Vaterlandes.
Aber eins ist gewiß - das möchte ich hier festhalten -: wer am 6. März CDU gewählt hat, neue FDP gewählt hat, der hat ein Programm zur Entsolidarisierung dieser Gesellschaft gewählt.
({18})
Das Programm wird noch gefährliche Folgen haben, auch für die, die es jetzt noch bejubeln.
(Gerster [Mainz] ({19})
- Ich beschimpfe die Wähler nicht. Ich sage Ihnen, daß ich mehr als einen getroffen habe, der jetzt auf Ihre Taten wartet und sich schon fragt, ob er sich nicht vielleicht doch vertan hat am 6. März.
({20})
- Ja, ich weiß schon, was Sie alles zur Bemäntelung dessen sagen, was ich hier vorgetragen habe.
Aber eines ist richtig: es ist eine Koalition der Herzlosigkeit, eine Koalition gegen Frauen, Mütter und Familien. Ich kann schon gar nicht mehr hinhören, wenn Sie, wie heute auch Herr Blüm, den Familien und den Frauen die Tugenden preisen:
Liebe, Treue, Verläßlichkeit. Das klingt alles sehr schön, bedarf aber einer Gegenleistung, und die haben Sie nicht erbracht. Tugenden kosten nichts, aber Sie nehmen vielen Familien die bisher gesicherten Lebenschancen weg. Nicht daß wir sparen müssen, ist so bitter, sondern eigentlich die Instinktlosigkeit von christlichen Politikern in ihren Sonntagsreden.
({21})
Unser Staat ist doch als Staat aller Bürger konzipiert. Er darf sich nicht den Nöten und berechtigten Anliegen derer verschließen, die für ihre Hilfe doch nur diese eine Adresse haben.
({22})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Haushaltsdebatte - wir stehen am Ende der Haushaltsdebatte - wirft auch eine Frage nach der Glaubwürdigkeit der Argumente auf, die vorgetragen werden. Frau Huber hat bezüglich der Haushaltspolitik, die die Bundesregierung vorlegt - und Herr Glombig hat heute vormittag ähnliche Worte und Begriffe gebraucht -, von der „Entsolidarisierung" geredet und gesagt, hier werde das größte sozialpolitische Sparprogramm vorgelegt, das wir in der Bundesrepublik Deutschland je gehabt hätten. Es mag sein, daß dieses Sparprogramm in seinem Volumen gewaltig ist. Aber es ist deswegen ein großes Sparprogramm, weil wir von Ihnen die größte soziale Ungerechtigkeit, nämlich die Massenarbeitslosigkeit übernommen haben.
({0})
Es ist kein faires Argument, das Sparen hier anzuprangern, wenn man nicht gleichzeitig deutlich macht, warum wir gezwungen sind, wieder zu einer soliden Haushaltspolitik zurückzukehren.
({1})
Die Bilanz ist eindeutig und klar: im Jahr 1969, also in dem Jahr, in dem Sie allein mit dem Bundeskanzler Willy Brandt die Regierung übernommen haben, gab es in der Bundesrepublik Deutschland 150 000 Arbeitslose. Wir haben von Ihnen zur Bewältigung zwei Millionen übernommen. Es gab 1969 0,0 DM an Neuverschuldung. Jetzt muß das Märchen von den 28 Milliarden DM, das Sie hier auftischen, auch einmal widerlegt werden: In Wirklichkeit war das Haushaltsdefizit über 50 Milliarden DM.
({2})
Wir haben in unserem ersten Haushaltsprogramm die an sich - wenn wir nach Ihren Programmen vorgegangen wären - notwendige Neuverschuldung von über 50 Milliarden DM auf 42 Milliarden DM und jetzt noch einmal auf etwas über 37 MilliBundesminister Dr. Geißler
arden DM abgebaut. Dies ist der eigentliche Erfolg unserer Haushaltspolitik. Die negativen Auswirkungen der Verschuldungspolitik für die Arbeitnehmer hat der Kollege Blüm ja überzeugend dargelegt.
Wir haben noch etwas anderes übernommen. Es ist hier, Herr Glombig, die „Neue Soziale Frage" angesprochen worden. Es gibt ein Kriterium für die soziale Not in einem Land. Es gab im Jahre 1969 ungefähr 1,5 Millionen Sozialhilfeempfänger. Im Jahre 1982 waren es über 2 Millionen. Unter Ihrer Regierungsverantwortung sind mehr als eine halbe Million Menschen unter die Sozialhilfeschwelle geraten.
Dies alles, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine negative wirtschaftspolitische Bilanz, eine negative finanzpolitische, aber auch eine negative sozialpolitische Bilanz, die wir jetzt leider aufarbeiten müssen.
Ich glaube, wir müssen in dieser Auseinandersetzung auch folgendes sagen. Es darf uns doch niemand unterstellen - ich glaube, Sie tun das letztendlich im Ernst auch nicht, Sie sagen es hier vielleicht -, daß wir diese Sparaktion nur deshalb machten, weil wir Freude daran hätten oder ganz bewußt, weil es zu unserer Position gehörte, sozialpolitische Einschnitte vornehmen zu wollen. Das wollen Sie uns doch mit Sicherheit nicht vorwerfen.
({3})
Was ist denn eigentlich die Grundlage dessen, was wir hier miteinander erarbeiten?
({4})
Sie haben hier ein Programm vorgelegt. Sie wollen die Beschäftigung mit einem zusätzlichen Investitionsprogramm von 8 bis 9 Milliarden DM ankurbeln. Da haben Sie die Vermögensteuer eingeplant, und auch der Bundesbankgewinn soll hier noch eingebracht werden. Meinetwegen! Wir halten diese Alternative, die Sie vorgelegt haben, für falsch. Denn Sie haben das früher auch schon so gemacht, und es hat nicht zu weniger, sondern zu mehr Arbeitslosigkeit geführt.
({5})
Gleichzeitig lehnen Sie alle Sparvorschläge der Bundesregierung ab, einen nach dem anderen. Jetzt müssen Sie doch den Bürgern draußen mal erklären, wie Sie das nach Ihren Vorschlägen entstehende Defizit von über 6 Milliarden DM eigentlich decken wollen. Sie haben darauf keine Antwort gegeben.
({6})
- Schulden oder Steuererhöhungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was Sie hier als sogenannte Alternative vorgetragen haben, ist j a nichts anderes als
({7})
eine Neuauflage der alten Politik, d. h. Sie treiben auch aus der Opposition heraus eine unsolide Haushaltspolitik. Die Arbeitnehmer haben Ihre Haushaltspolitik bitter bezahlen müssen, und ich bin fest davon überzeugt: sie werden sich durch diese angebliche Alternative auch vor der hessischen Landtagswahl nicht in die Irre führen lassen, sondern werden wissen, auch bei den kommenden Auseinandersetzungen, daß eine Sozialpolitik, die diesen Namen wirklich verdient, nur dann möglich ist, wenn der Haushalt saniert ist. Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Bei einer anderen Politik wird jeder Privathaushalt zugrunde gerichtet, geht jedes Unternehmen pleite und geht auch der Staat bankrott. Wir haben den Staat und damit auch die Sozialpolitik für den Arbeitnehmer vor dem Bankrott gerettet.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Glaubwürdigkeit sagen. Manches, was Sie hier geboten haben, war wirklich üble Sozialdemagogie.
({9})
Ich kann dies nicht anders bezeichnen.
({10})
- Nun schreien Sie doch bitte nicht so! Ich habe doch nur eine Antwort auf das gegeben, was Sie hier gesagt haben. Die Glaubwürdigkeit ergibt sich eben auch aus den Argumenten.
({11})
Frau Huber, jetzt stellen Sie sich z. B. hier hin und behaupten, wir hätten die Absicht, die Altersgrenze bei den Frauen anzuheben.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage als Auffassung der Bundesregierung jetzt noch einmal klar und deutlich: Die Altersgrenze für Frauen wird, wenn es nach der Bundesregierung und der Christlich Demokratischen Union und nach dem Willen der Freien Demokraten geht, nicht angehoben. Dies hat der Bundeskanzler erklärt, das hat der Bundesarbeitsminister erklärt, das hat der FDP-Vorsitzende erklärt. In unserer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht haben wir offiziell den Standpunkt vertreten, daß die Altersgrenze nicht angehoben wird.
({13})
Jetzt stelle ich an Sie wirklich die Frage: Woher
nehmen Sie das Recht - um keinen anderen Ausdruck zu gebrauchen -, hier vor dem Deutschen
Bundestag und der gesamten Öffentlichkeit in Ihren Ausführungen den Eindruck zu erwecken, als würden wir das Gegenteil tun?
({14})
Dies nenne ich sozialpolitische Demagogie, die an der Wahrheit vorbeigeht.
({15})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier?
Mir tut es leid, daß ich Zwischenfragen jetzt ablehnen muß.
({0})
- Entschuldigung, ich bedaure dies. Sie wissen genau, daß ich das normalerweise nicht tue. Sie kennen mich als jemanden, der Zwischenfragen gerne zuläßt.
(
Zuviel!)
- Manchmal auch zuviel. - Wir haben es aber in dieser Aussprache allgemein so gehalten, keine Zwischenfragen zuzulassen. Ich bedaure dies, weil die Lebendigkeit unserer Debatte darunter etwas leidet. Aber ich halte mich jetzt auch an die Gepflogenheiten, die hier eingeführt worden sind. Ich hoffe allerdings, daß wir alle miteinander eine Möglichkeit finden, diese Debatte wieder etwas aufzulockern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich in aller Ruhe noch etwas zu den Ausführungen sagen, die Frau Huber zur Familienpolitik und Frauenpolitik hier gemacht hat.
({0})
Das Konzept für die Familienpolitik und die Politik für die Frauen, das die neue Bundesregierung vorgelegt hat, ist ein Programm für die ganze Legislaturperiode.
({1})
Sie können nicht hergehen und sagen: In den ersten drei oder vier Monaten nach der Bundestagswahl sind nur die und die Ergebnisse vorhanden. Sie wissen genau, es ist ein Programm für die gesamte Legislaturperiode.
Jetzt möchte ich Ihnen einmal folgendes sagen: Es ist wahr, das Mutterschaftsgeld mußte aus Spargründen gekürzt werden. Aber wir haben gleichzeitig eine ganz entscheidende Lösung zugunsten der Frauen vorgeschlagen. Denn wir werden das ZweiKlassen-Recht für Frauen, das Sie geschaffen haben, in dieser Legislaturperiode beseitigen. Das Mutterschaftsgeld wird in Zukunft an alle Frauen ausgezahlt werden; dies ist der entscheidende Gesichtspunkt.
({2})
Weiter: Das Kindergeld ist im Haushalt 1984 nicht um eine einzige Mark gekürzt worden.
({3})
Die 800 Millionen DM, von denen Herr Glombig gesprochen hat, sind dadurch zustande gekommen, daß eben - über die Gründe sollten wir uns einmal unterhalten; die können aber nicht in der Regierungsverantwortung der CDU liegen; denn wir sind seit elf Monaten an der Regierung - in diesem und im nächsten Jahr leider immer weniger Kinder vorhanden sind, die kindergeldberechtigt sind.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies hat seinen Grund natürlich darin, daß die Familien mit Kindern in den vergangenen 13 Jahren - vor allem durch Ihre Politik - systematisch benachteiligt worden sind.
({5})
Nun kommen Sie, verehrte Frau Huber, daher und erzählen hier dem Bundestag, wir machten eine Sozialpolitik, die nur kleine Leute treffe. Richtig ist, daß alle ein Opfer gebracht haben. Aber jetzt darf ich Sie einmal daran erinnern: Als wir in der Debatte um den letzten Bundeshaushalt vor der Frage standen, ob wir das Kindergeld schematisch um 5 DM oder 10 DM kürzen sollten, wie es j a auch vorgeschlagen worden ist, haben wir, die Christlichen Demokraten und die Freien Demokraten, gesagt: Nein, wir machen es einmal nicht so, wie Sie, Frau Huber, es verantworten mußten. Wir kürzen das Kindergeld nicht denen, die ein kleines oder mittleres Einkommen haben. Denn wenn einer 2000 DM verdient, Frau Huber, dann muß er die Mark in der Hand umdrehen, wenn er zwei oder drei Kinder hat. Wir haben gesagt: Wenn jemand 62 000 DM brutto im Jahr verdient und zwei Kinder hat, dann können wir ihm zumuten, daß er auf 30 DM Kindergeld verzichtet; das ist unsere Position gewesen.
({6})
Wir wollten das Kindergeld dem kleinen und mittleren Einkommensbezieher nicht wegnehmen, so wie Sie das gemacht haben. Denn bei Ihnen ist das Kindergeld für alle - ob für den Generaldirektor oder für den Hilfsarbeiter - um 20 DM gekürzt worden.
Und jetzt darf ich an Sie die Frage stellen: Warum sind Sie denn eigentlich zurückgetreten?
({7})
Sie sind genau deswegen zurückgetreten, weil Sie sich mit einer Sozialpolitik zugunsten der Empfänger kleinerer und mittlerer Einkommen im Familienlastenausgleich in Ihrer eigenen Partei und in der eigenen Regierung nicht durchsetzen konnten. Ich habe Achtung davor, daß Sie diesen Schritt getan haben. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen Sie sich dann bitte - das darf ich
Ihnen auch sagen - nicht hierher, um solche Reden zu halten.
({8})
Herr Bundesminister, gestatten Sie Zwischenfragen?
Nein, leider muß ich auf die Zeit achten. Mir ist nur eine Viertelstunde gegeben worden.
({0})
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum nächsten Punkt. Wir werden - dies ist der eigentliche Schwerpunkt - in dieser Legislaturperiode das Kindergeld in Kombination mit dem Familiensplitting einführen.
({1})
- Das Kindergeld in der Kombination mit dem Familiensplitting!
({2})
Ich mache hier vorab auf folgendes aufmerksam. Wir sind nun wirklich der Meinung, daß es richtig ist, daß die Belastung, die durch ein Kind entsteht, steuerrechtlich berücksichtigt werden soll, weil sie die Leistungsfähigkeit des Steuerzahlers beeinträchtigt.
Die sozialpolitischen Argumente dagegen - wir haben darüber ja schon einmal debattiert - kann ich nun wirklich nicht verstehen. Auch Sie haben doch nichts dagegen, daß Bezieher hoher Einkommen, die bei Ihnen Mitglied sind, meinetwegen der Herr Vietor oder ich weiß nicht wer, die Beiträge, die sie für Ihre Partei zahlen, steuerlich berücksichtigt bekommen. Man kann jeden Hofhund von der Steuer absetzen. Aber Sie sind offenbar der Auffassung, daß Kosten, die durch ein Kind entstehen, steuerlich nicht berücksichtigt werden sollen.
Wir sind der Auffassung, daß sich die steuerliche Belastung in der Zukunft nach der Zahl der Kinder richten sollte.
({3})
Dies ist eine richtige Auffassung. Wenn man nun sagt, diejenigen, die ein hohes Einkommen haben, bekommen dadurch eine besonders hohe Entlastung, antworte ich: Das ist klar, aber das ist bei jedem Freibetrag so, denn diese Leute zahlen ja vorher auch höhere Steuern als die anderen. Das ergibt sich aus der Logik.
({4})
- Doch, das haben die schon gewußt; sie spekulieren aber darauf, daß die Zusammenhänge nicht gesehen werden.
Jetzt mache ich auf noch etwas aufmerksam, was wir in den letzten drei Monaten von der Regierung aus vorgeschlagen haben. Die Wartezeiten für das Altersruhegeld sind von 15 Jahren auf 5 Jahre reduziert worden. Gut, das gilt auch für die Männer, aber vor allem kommt diese rentenpolitische Entscheidung Millionen von Frauen zugute, die jetzt - im Gegensatz zu früher - mit einem eigenständigen Rentenanspruch in die Ehe und in die Familie hineingehen können.
({5})
Auch sind zum erstenmal bei den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten Kindererziehungszeiten anerkannt worden. Dies ist ein grundsätzlich neuer Einstieg in die Rentenversicherung.
Jetzt habe ich Ihnen allein vier Punkte genannt, die wir in den letzten vier Monaten, am Anfang dieser Legislaturperiode, familienpolitisch auf den Weg gebracht haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß wir uns auf einem richtigen Weg befinden.
Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen. Sie können jetzt an diesem Sparkonzept herumkritisieren, aber ich sage Ihnen: Alle haben ihre Opfer bringen müssen, auch die Bezieher höherer Einkommen.
({6})
- Der Kollege Blüm hat auf die Investitionshilfeabgabe aufmerksam gemacht. Das können Sie nicht wegdiskutieren.
({7})
Ich sage es noch einmal: Wer mehr als 100 000 DM verdient, muß drei Jahre lang eine Investitionshilfeabgabe unverzinst zahlen.
({8})
Allein der Zinsverlust ist höher als die Ergänzungsabgabe, die Sie vorschlagen.
({9})
Wir haben auch Einkommensgrenzen beim Kindergeld eingeführt.
Es ist klar: Sparen hat nur dann einen Sinn, wenn man den Menschen klarmacht, welches Ziel wir damit verfolgen. Wir machen diese Sparvorschläge, damit wir die Arbeitslosigkeit beseitigen können.
({10})
Die Sparvorschläge müssen sozial gerecht sein. Darüber kann man so oder so diskutieren; da wird man nie zu einer einheitlichen Meinung kommen.
({11})
Aber diese Regierung hat ein klares Konzept entwickelt und hat sich Mühe gegeben, die Lasten gerecht zu verteilen.
({12})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so schreien. Als Christlicher Demokrat habe ich j a nicht behauptet, Sie hätten gesündigt. Sünden werden in der anderen Welt gebüßt. Sie haben Dummheiten gemacht, die müssen Sie in dieser Welt büßen.
({13})
Da brauchen Sie gar nicht so zu schreien.
({14})
Wir haben mit unserer Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft eine Wirtschafts- und Sozialordnung aufgebaut, die wir mit Sicherheit nicht zerstören wollen. Wir wollen vielmehr wieder die Grundlagen dafür schaffen, daß wir auf der einen Seite wieder unternehmerische Initiative bekommen, daß die Menschen wieder investieren, damit wir dadurch auch die Mittel bekommen, um die soziale Gerechtigkeit zu finanzieren, und daß wir dadurch auf der anderen Seite den sozialen Frieden in unserem Lande erhalten, der seinerseits wieder die Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum ist. Dies ist sozusagen der Regelkreis der Sozialen Marktwirtschaft, den Sie gestört haben und den wir wiederherstellen wollen.
({15})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Potthast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Ich stehe hier an einem Ort, an dem in großen politischen Zusammenhängen entschieden wird, an dem die Interessen einzelner unberücksichtigt bleiben,
({0})
an einem Ort, wo oftmals Mitmenschlichkeit verlorengeht, an einem Ort, an dem so viele Männer Ausdruck für ihre Profilneurosen finden.
({1})
Von diesem Ort möchte ich eingangs an die zwölf Menschen erinnern, die seit dem 6. August 1983, seit 35 Tagen also, keine Nahrung mehr zu sich genommen haben. Allen gemeinsam ist - auch denen, die sich noch zusätzlich dem Fasten angeschlossen haben -, daß sie auf einen wahnsinnigen, völlig absurden Zustand aufmerksam machen und die Regierungsverantwortlichen bitten, jetzt, sofort damit zu beginnen, den Wahnsinn zu stoppen, einen Wahnsinn, der unter anderem besagt, daß jährlich 15 Millionen Kinder verhungern, während eine forcierte Aufrüstungspolitik Unsummen an Geldern verschlingt.
Auch in diesem Sinne ist der jetzt zur Debatte stehende Haushalt zutiefst unmenschlich und unsozial. Die Erhöhung des Rüstungsetats um 3,7 % ist eine Zumutung für alle diejenigen und eine Rücksichtslosigkeit gegenüber all denjenigen, denen man von dem wenigen, das sie bekommen, noch mehr nimmt. Vielleicht verstehen Sie von dieser Seite her, weshalb wir uns für eine Senkung der Rüstungsausgaben aussprechen.
So soll z. B. auch die eigenständige Sicherung der Frau im Alter, für die die Bundesregierung 1979 eine große Kommission eingesetzt hat, nun vom Tisch gefegt werden mit der lapidaren Begründung, die Rentenversicherung müsse erst konsolidiert werden. Diese Begründung bewegt sich auf demselben Niveau wie die gesamten Sozialkürzungsorgien. Das ist im Grunde nichts anderes als ein gigantischer Volksbetrug und eine Zumutung für die alten Menschen, insbesondere für die alten Frauen, die zu Wahlzeiten als Stimmopfer mißbraucht werden, deren Ängste geschürt werden mit Aussagen über eine angebliche Finanzkrise der Renten,
({2})
eine Zumutung insbesondere für alle Frauen und alleinstehenden Erziehenden, die sogar im Vertrauen auf eine angeblich christliche Familienpolitik diese Regierung gewählt haben, und es ist eine Zumutung für behinderte Menschen.
Ich möchte nun diesen vielen Herren und wenigen Frauen - Ihnen also in Ihren gesicherten Existenzen - an Hand einiger besonders krasser Beispiele die Realität vor Augen führen. Zuvor soll die CDU daran erinnert werden, daß sie seit zehn Jahren mit Vehemenz der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften vorgehalten hat, die Armut im Wohlfahrtsstaat nicht beseitigen zu können. Diese Regierung macht nicht nur nichts anderes, sondern sie nimmt im Gegenteil bewußt die massenhafte Verarmung in Kauf.
({3})
Erinnern wir uns daran, daß hier in diesem Land zur Zeit eine alleinerziehende Person mit zwei Kindern unter zehn Jahren zuzüglich Heizkosten und Kleidungsaufwand ca. 850 DM im Monat erhält, was mit Verlaub, einem Tagesgehalt eines Bundeskanzlers Kohl entspricht. Bisher erhielt diese Familie 1 000 DM. Und was diese Kürzungen für einen DreiKopf-Haushalt bedeuten, braucht hier wohl nicht näher erläutert zu werden. Bei einem so niedrigen Einkommen ist eine Kürzung um fast 20% schlichtweg unerträglich.
({4})
- Ich habe auf die Sonderzahlungen hingewiesen und hinzugefügt: zuzüglich Heizkosten und Kleidungsaufwand.
({5})
- Ich würde ganz gerne weitermachen. Eine weitere Konsolidierung des Haushalts erwartet die Regierung nun von den Kürzungen in der RentenverFrau Potthast
sicherung, für die Herr Blüm gerne das Wort vom Kraftakt gebraucht. Wollen wir uns diesen Kraftakt einmal genauer ansehen: Er soll aus zwei sogenannten Paketen bestehen, einer aktuellen Konsolidierung und einer langfristigen Strukturmaßnahme.
Die aktuelle Konsolidierung können wir relativ schnell abhaken. Hier geht es fast ausschließlich um eine Entlastung des Bundeshaushalts auf Kosten der Sozialversicherungen. Ausgenommen von diesen Belastungen, für die wir angeblich alle, auch Sie, gemeinsam Opfer zu bringen haben, bleiben drei Gruppen, nämlich die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Einkommen über den Beitragsbemessungsgrenzen, die Beamten und die Selbständigen, einfacher ausgedrückt: Der Haushalt wird mit dem Geld der kleinen Leute entlastet.
({6})
Bei den Strukturmaßnahmen wird uns nicht weniger übel. Wenn Herr Blüm davon spricht, es gebe einen rentenpolitischen Konsens über drei zentrale Aussagen - erstens Beibehaltung der Beitragsbezogenheit, zweitens Anlehnung an das verfügbare Einkommen, die sogenannte Aktualisierung, und drittens die Einbeziehung des Krankengeldes in die Beitragspflicht -, so ist das nur ein Konsens zwischen den etablierten Parteien; denn das bisherige Rentensystem schreibt die sozialen Ungleichheiten nur fort, ja, verschärft sie sogar.
So beziehen gerade die unteren Lohngruppen gewöhnlich weniger Zusatzversorgung, betriebliche Altersversorgung und Leistungen aus privaten Kapitalversicherungen. Des weiteren schreibt das bisherige Rentensystem die bestehenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, die bereits im Erwerbsleben existieren, in das Rentenalter fort.
Grundsätzlich ist einsehbar, daß die Lohnersatzleistungen der Beitragspflicht ebenso unterliegen. Diese sinnvolle Strukturreform kann jedoch nicht so hoppla-hopp wie die beim Krankengeld durch Belastungen einzelner Gruppen wie der der Langzeitkranken gelöst werden.
Nicht einmal das Problem der Ausfall- und Ersatzzeiten im Zusammenhang mit der Kindererziehung, ein gesellschaftliches Problem, das schon vor Jahren als vorrangig erkannt wurde, ist im Ansatz angegangen worden. Die Anerkennung der Dienstzeit eines wehrpflichtigen Soldaten als Ersatzzeit steht im krassen Gegensatz zur Nichtanerkennung von Zeiten für eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben, des Kindererziehens, als Ersatzzeiten.
({7})
Wie läßt sich Ihre materialistische Auffassung, sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/ CSU, eigentlich mit der Familienpropaganda und der Diskussion um ein Familiengeld zum Anreiz der Familiengründung vereinbaren? Welch eine Lösung, wenn die Regierung einen Großteil der Sparmaßnahmen mal wieder auf dem Rücken der Frauen austrägt.
({8})
Die folgenden Beispiele aus den Haushaltsbeschlüssen zur Rentenpolitik belegen dies überdeutlich:
Erstens. Da ist das von Ihnen, Herr Blüm, bereits erwähnte Angebot, ein lächerliches Angebot, daß Frauen bereits nach fünf Versicherungsjahren einen Anspruch auf Altersruhegeld haben sollen. Damit soll einzig und allein der Arbeitsmarkt von Frauen gesäubert werden; denn daß die Frauen dann mit Almosen von etwa 100 DM im Monat abgespeist werden, ist ein glatter Hohn.
({9})
Zweitens ist wohl auch der Versuch, Witwen und Witwer durch die Herabsetzung der Witwen- und Witwerrentenabfindung bei Wiederheirat von fünf auf zwei Jahresrentenbeiträge zu ködern, höchstens ein Aufruf zur wilden Ehe älterer Menschen, was bei der Sozialisation der älteren Generation zu schwersten Gewissensbissen führt.
Der dritte Punkt bezieht sich auf Einschränkungen bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten. Abgesehen von den verfassungsrechtlichen Bedenken, die sich auf den Bestandsschutz und damit das Vertrauen der Bevölkerung in einmal getroffene Lebenspläne beziehen, treffen diese Maßnahmen verschärft wieder Frauen, die wegen ihrer Kinder aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Einerseits ist es auch für uns einsichtig, daß die Arbeitsplatzlücken für ältere Frauen nicht auf dem Wege über das Instrument der Arbeitsunfähigkeit zugedeckt werden dürfen. Andererseits aber ist es eine diffamierende Frechheit, wenn Herr Blüm und seine Propagandabataillone in den bürgerlichen Medien so tun, als wären diese Frauen für den kaputten Arbeitsmarkt verantwortlich zu machen.
Frau Abgeordnete, das rote Licht bedeutet, daß die Redezeit abgelaufen ist.
Das hatte ich so verstanden. Danke.
Unter familienpolitischen Gesichtspunkten sind uns und auch sehr vielen Bürgern und Bürgerinnen die Haushaltsmaßnahmen völlig unverständlich. Sie bekommen erst dann einen Sinn, wenn man sie im Gesamtzusammenhang auch der anderen sozialen Streichungen würdigt. Ich nenne erstens die Kürzungen im Bereich der beruflichen Rehabilitation, zweitens die Herabsetzungen der Arbeitslosengelder und -hilfen, drittens die Maßnahmen gegen behinderte und Schwerbehinderte Menschen und viertens weitere Maßnahmen gegen die sozial Schwächeren, auf die ich hier jetzt leider nicht mehr eingehen kann.
Diese Sozialpolitik der Bundesregierung, persönlich verantwortet von den sozialen Aushängeschil1382
dern, den Herren Blüm und Geißler, muß von mir als frauenfeindlich und asozial bezeichnet werden; denn sie stellt einen Einstieg in eine Gesellschaft ohne jeden Funken Solidarität dar.
Frau Abgeordnete, ich bitte, den Schlußsatz zu formulieren.
({0})
Die Redezeit ist schon um über 10 % überschritten.
Ich hätte jetzt ganz gern noch kurz Ansätze zu einem Rentenreformprogramm vorgestellt.
Das geht in diesem Zusammenhang nicht mehr.
({0})
Frau Abgeordnete, sprechen Sie bitte den Schlußsatz.
({1})
- Sie reden hier über die Arbeitszeitregelungen und wollen sich selber dagegen versündigen, Herr Fischer.
({2})
Sozialpolitik darf unserer Meinung nach allerdings auch nicht allein auf die finanzielle Sicherung in Notlagen reduziert werden. Vielmehr muß sie auch gestaltend wirken und echte Möglichkeiten zur Selbsthilfe bieten, ohne dabei, wie es die Regierung propagiert, umsonst und damit auf Kosten der Frauen zu geschehen. Die GRÜNEN werden deshalb in den nächsten Wochen ein Programm zur wirksamen Förderung sozialer Initiativen, von jugendlichen Arbeitslosen, über alternative Ansätze im Gesundheitswesen bis hin zu innovativen Lebensmodellen vorstellen.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf des Bundeshaushalts 1984 stellt eine Wendemarke für die Bundesrepublik dar, und zwar eine Wendemarke in bezug auf eine ernsthafte Konsolidierung der Bundesfinanzen.
Der Kollege Hoppe hat von diesem Platz aus schon sehr frühzeitig und sehr häufig immer wieder darauf hingewiesen, welche große Gefährdung durch eine weiter stark fortschreitende Staatsverschuldung insgesamt auf uns zukommen kann und welche Belastung vor allen Dingen für die nächste Generation daraus erwachsen wird. Wir haben schon sehr frühzeitig immer wieder darauf hingewiesen und darauf gedrängt, mit der Konsolidierung ernst zu machen.
Herr Kollege Dregger, es ist nicht jetzt in der Koalition aus CDU/CSU und FDP erstmals gelungen, einen Sparhaushalt vorzunehmen. Vielmehr hat auch die Koalition, die vorher hier gearbeitet hat, Ansätze geliefert, die durchaus nicht zu übersehen sind.
Und, Frau Huber, es ist nicht richtig, daß der Sparhaushalt in diesem Jahr der schärfste ist, der je vorgelegt wurde; sondern der, den der Altbundeskanzler Schmidt 1981 diesem Haus vorgestellt hat, hat Sparmaßnahmen enthalten, die noch über das Volumen hinausgingen, das in diesem Haushalt heute vorgesehen ist.
({0})
Aber das ist natürlich eine Politik gewesen, die heute von der SPD nicht mehr mitgetragen wird. Der Altbundeskanzler hat uns in unserer Position damals unterstützt. Und ich bin sicher: Wenn er die Gelegenheit dazu hätte, würde er uns auch heute noch unterstützen. Aber er hält sich ja meistens im Ausland auf.
({1})
-- Das soll nur ein Hinweis darauf sein, daß es vielleicht auch der SPD heute ganz angenehm ist, daß die Interviews, die er draußen gibt, hier nicht gelesen werden.
({2})
Die Koalition wird von dem Willen getragen, die Zukunft zu gestalten und nicht nur zu verwalten. Wir müssen die jetzige Situation als eine Chance begreifen. Der Wille, die Neuverschuldung abzusenken und die Zinslast zu begrenzen, hat ja den Zweck, dafür zu sorgen, daß die nächste Generation noch Finanzierungsspielräume hat, daß überhaupt noch Freiräume wahrgenommen werden können, damit Politik auch in der Zukunft gestaltet werden kann. Es handelt sich um eine Zukunftsvorsorge, die einfach notwendig ist.
({3})
Wer heute noch wie Sozialdemokraten, der DGB und jetzt auch die GRÜNEN Beschäftigungsprogramme fordert, der hat einfach nicht aus der Vergangenheit gelernt. Wie sollen die finanziert werden? Entweder durch höhere Steuern oder durch höhere Schulden!
({4})
- Ich komme j a noch darauf, Frau Kollegin. - Sie sollen finanziert werden entweder durch höhere Steuern oder durch höhere Schulden. Aber die Vergangenheit hat uns ja folgendes gelehrt: 50 Milliarden haben wir insgesamt für Beschäftigungsprogramme ausgegeben. All das hat nicht verhindern können, daß die Arbeitslosigkeit weiter gewachsen ist. All das hat nicht verhindern können, daß wir vor einer Situation stehen,
({5})
die wir heute in den Griff bekommen müssen. Wer zusätzliche hohe Schulden macht, der muß in Kauf nehmen, daß die Zinsbelastung weiter steigt. Der muß auch in Kauf nehmen, daß Private vom Geldmarkt verdrängt werden und daß damit weniger Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Endeffekt werden es nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze sein. Wer nach massiven Steuererhöhungen ruft, der muß doch wissen und aus der Vergangenheit gelernt haben,
({6})
daß damit Leistungsanreize weggenommen werden. Und der muß auch aus der Vergangenheit gelernt haben, daß damit mehr Arbeitnehmer in die Schattenwirtschaft gedrängt werden.
({7})
- Ich habe gerade aus Ihrer Fraktion wieder die Forderung nach einer zusätzlichen Ergänzungsabgabe gehört. Und das ist j a wohl eine zusätzliche Steuer.
Wer eine solche Politik macht, kann in der Tat keine entlastenden Wirkungen für den Arbeitsmarkt erwarten.
Nun werfen Sie uns immer wieder vor, daß die Koalition nicht genug zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tue.
({8})
Das bedeutet aber nichts anderes, meine Kollegen von der SPD, daß Sie noch nicht gelernt haben, daß nicht nur staatlicher Dirigismus eine aktive Politik darstellt; sondern eine aktive Politik ist es selbstverständlich auch, wenn der Staat die Rahmenbedingungen setzt.
({9})
Was Sie dabei wohl auch übersehen, ist, daß die Bürger dieser Koalition am 6. März gerade für die Politik der Sozialen Marktwirtschaft, für eine Politik, die mehr Freiräume für die Entscheidung des einzelnen schaffen soll, den Auftrag gegeben haben. Und wir werden diesen Auftrag erfüllen. Wir werden Tatkraft und Leistungswillen wieder stärken.
({10})
Was wir brauchen,
({11})
sind Investitionen und Innovationen. Was wir brauchen, ist eine berechenbare Politik. Wir wollen damit vor allen Dingen mittelständische Strukturen fördern, weil die sich als besonders widerstandsfähig, schneller anpassungsfähig und flexibel erwiesen haben.
({12})
Große Konzerne erweisen sich immer wieder als
schwerfällige Riesen, die nicht so schnell reagieren
können. Und wenn es wahr ist, daß die neuen Technologien Risiken beinhalten, so müssen wir auch akzeptieren, daß durch die Nutzung neuer Technologien auch Möglichkeiten für neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wenn wir uns hier nicht umorientieren, wenn wir weiter der Technikfeindlichkeit den Boden bereiten lassen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir nur die Risiken bei uns zu spüren bekommen, die darauf beruhen, daß Arbeitsplätze abgebaut werden, aber nicht die Chancen ausnutzen können, die darin liegen, daß mit neuen Technologien neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
({13})
- Wir strukturieren die Forschungsmittel insgesamt um; da haben Sie völlig recht.
Die Haushaltskonsolidierung ist für uns ein Element, ein neues Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft zu schaffen. Der Staat hat sich in so viele Bereiche hineingedrängt, und er muß sich in der Zukunft daraus auch wieder zurückziehen.
({14})
Wir wollen das Subsidiaritätsprinzip wieder mehr zur Geltung bringen, wir geben der Privatinitiative Vorrang. Das bedeutet für uns auch, daß die Privatisierung von Bundesvermögen kein Tabu sein kann.
({15})
Kapitalerhöhungen bei Unternehmen mit hoher Bundesbeteiligung sollten jetzt verstärkt genutzt werden, um den Bundesanteil zu reduzieren.
Im Bereich der sozialen Sicherungen müssen wir dafür sorgen, daß die Überbeanspruchung des Sozialproduktes nicht weiter fortschreitet. Wir brauchen einen Umbau des sozialen Netzes, damit es auch in Zukunft finanzierbar bleibt. Es muß jedem aufgehen, daß bei weniger Geld nicht gleiche Leistungen geliefert werden können.
({16})
Die unsozialste Politik - das ist keine Frage - ist die Politik, die Wohltaten auf Pump finanziert.
({17})
Eigenleistung und Solidarleistung müssen wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Das bedeutet auch, daß die Leistungen auf diejenigen konzentriert werden müssen, die sie wirklich bedürfen.
({18})
Wenn hier gesagt wird, diese Politik würde die Entsolidarisierung fördern, dann frage ich Sie: Wo ist die Solidarität in unserer Gesellschaft geblieben?
({19})
Haben Sie denn die Augen davor verschlossen, daß
schon seit vielen, vielen Jahren mit dem zunehmenden Anspruchsdenken, mit dem zunehmenden Den1384
ken, daß jeder das maximal ihm Zustehende aus dem System herausholen soll, die Grundlage dafür gelegt worden ist, daß Entsolidarisierung in der Gesellschaft eingetreten ist?
({20})
Der soziale Frieden ist eines der wichtigsten Güter, die unsere Gesellschaft überhaupt hat.
({21})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaunich?
Es tut mir leid, ich habe so wenig Zeit, daß ich keine Zwischenfrage zulasse.
({0})
- Wir können uns gern weiter darüber unterhalten.
Der soziale Friede ist eines der wichtigsten Güter, die wir in unserer Gesellschaft haben. Wir können ihn nur erhalten - das wissen wir sehr genau -, wenn Maßnahmen, die ergriffen werden, als gerecht empfunden werden. Wir haben es schon seit einer Weile mit einer Entwicklung zu tun, die darauf hinausläuft, daß eine stärkere Umverteilung,
({1})
daß eine wachsende Belastung mit Steuern und Sozialabgaben, um den Ausgleich herzustellen, von einer wachsenden Zahl in der Bevölkerung nicht als Gerechtigkeit,
({2}) sondern als eine Belastung empfunden wird.
Eine dieser Maßnahmen - meine Damen und Herren, das habe ich in den letzten Jahren lernen müssen -,
({3})
die nicht als gerecht empfunden wird, ist die Zahlung von Mutterschaftsurlaubsgeld nur an berufstätige Frauen. Ich akzeptiere durchaus, daß hier die Lohnersatzfunktion im Mittelpunkt gestanden hat und stehen muß - das ist völlig klar -,
({4})
dennoch gibt es in der Bevölkerung kein Verständnis dafür, daß dies eine gerechte Maßnahme sein soll. Deshalb ist es richtig, daß die Koalition jetzt beschlossen hat, das Mutterschaftsurlaubsgeld zum 1. Januar 1987 auf alle Frauen auszudehnen.
({5})
Wenn wir die Krise meistern wollen, wollen und müssen wir den Leistungswillen stärken.
({6})
Das bedeutet, daß wir nicht mehr Steuern und Sozialabgaben erheben wollen.
({7})
- Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht einmal zuhören können, dann zeigt das Ihre Toleranzfähigkeit in dieser Gesellschaft.
({8})
Wir wollen nicht mehr Steuern und nicht mehr Sozialabgaben, weil jede Mark, die bei den Bürgern verbleibt, ihre eigenen individuellen Wünsche erfüllen kann. Wir dürfen bei allem Für und Wider über die zu beschließenden Maßnahmen nicht vergessen, daß die große Aufgabe, die vor uns steht, die Konsolidierung der Haushalte, Zukunftsvorsorge für die nächste Generation ist; denn wenn wir so weitermachen würden, wenn wir weiter auf Pump leben würden, hätte die nächste Generation nichts mehr zu beschließen, sondern nur noch unsere Schulden zu bezahlen.
({9})
Wir sind es der nächsten Generation schuldig, die Handlungsfähigkeit im Innern und nach außen zu bewahren. Der Frieden kann nur sicherer werden, wenn wir bei einer ausreichenden Verteidigungsbereitschaft die Ziele nicht aus dem Auge verlieren, die da heißen: Vertrauensbildung zwischen den Staaten zu schaffen und Abrüstung konsequent zu verfolgen.
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Auch die soziale Gerechtigkeit kann nur gesichert werden, wenn der Friede sicher ist. Ich möchte hier Alexander Haig zitieren - hören Sie mir bitte freundlicherweise zu -:
Wenn wir nicht bereit sind, uns zu verteidigen, dann werden wir die Möglichkeit verlieren, soziale Gerechtigkeit als Voraussetzung der Freiheit durchzusetzen. Wenn wir nicht bereit sind, soziale Gerechtigkeit zu suchen und zu ermöglichen, werden wir den Willen und den eigentlichen Grund verlieren, uns zu verteidigen.
Das, meine Damen und Herren, ist die Grundlage auch unserer Politik. Das internationale Vertrauen ist durch den grausamen Abschuß einer koreanischen Maschine in zehntausend Meter Höhe dramatisch erschüttert worden. Dieser Vorfall hat gezeigt, welch ein Unterschied besteht zwischen den propagandistischen Friedensbekundungen der Sowjetunion und ihrem tatsächlichen Verhalten. Ich
hoffe sehr, daß dieser Vorfall viele Bürger auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat, die noch nicht aufgestellte amerikanische Raketen mehr fürchten als die bereits aufgestellten sowjetischen.
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Darum müssen wir alles dazu tun, damit die Verhandlungen in Genf zu einem guten Abschluß geführt werden. Denn es sind Verhandlungen mit historischer Bedeutung. Ihr Ausgang entscheidet darüber, ob erstmals die Rüstungsspirale wirklich geknackt werden kann.
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Es wäre verhängnisvoll und verantwortungslos, ein Scheitern der Verhandlungen in Genf herbeizureden, wie es aus durchsichtigen Motiven von einigen Gruppen in der Bevölkerung bei uns betrieben wird.
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Genau das tun diejenigen, die heute schon erklären, daß sie nicht daran glauben, daß die Verhandlungen etwas ergeben.
({14}) In Genf ist noch alles drin.
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Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie mich von dieser Stelle eine Bitte aussprechen, eine Bitte an diejenigen, die glauben, ihr eigenes Leben einsetzen zu müssen, damit sie ihren Friedenswillen deutlich zum Ausdruck bringen können. Lassen Sie mich die Bitte an diese Menschen aussprechen, zu unterbrechen, abzuwarten, zu sehen; ihr Drängen ist gehört worden, und wir alle drängen mit, daß es in Genf zu einem für uns alle befriedigenden Abschluß kommt.
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Die Verhandlungen der Nachfolgekonferenz in Madrid der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa haben gezeigt, daß sich Beharrlichkeit und Geduld auszahlen. Es hat an vielen Stellen gehakt. Der eine oder andere Staat hat nicht mehr mitmachen wollen. Die Bundesregierung und vor allen Dingen der Bundesaußenminister haben maßgeblich mit daran gearbeitet, daß der tote Punkt immer wieder überwunden werden konnte, so daß wir heute darauf rechnen können, daß schon im nächsten Frühjahr die Konferenz über Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen ihre Arbeit aufnehmen wird. Wer Abrüstung wirklich ernst meint und wer an diesem Prozeß alle beteiligen will, der muß dafür sorgen, daß diese Konferenz mit einem genau umrissenen Auftrag weiterarbeiten kann, schnell weiterarbeiten kann. Wir brauchen noch einen langen Atem, um durchzusetzen, daß Gewaltverzicht zwischen den Blöcken und innerhalb der Blöcke sowie in ihrem Einflußbereich die
Politik nicht nur der Bundesregierung, sondern vieler Staaten werden wird.
Auch in Genf brauchen wir Beharrlichkeit und Flexibilität. Es liegt jetzt an der Sowjetunion, ihr Bedrohungspotential zu reduzieren. Sie bestimmt, welches Maß an Nachrüstung notwendig wird.
Es ist besonders tragisch, daß sich die SPD von den gemeinsamen Grundlagen unserer Sicherheitspolitik entfernt hat.
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Herr Vogel, Sie leugnen die wachsende Bereitschaft Ihrer Partei, über einen NATO-Austritt zu diskutieren. Ich erinnere Sie einmal daran, was bei Ihnen auf Unterbezirksparteitagen heutzutage diskutiert wird.
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Glauben Sie denn im Ernst daran, daß Herr Lafontaine aufhören wird, für seine Ansichten zu werben? Glauben Sie denn im Ernst daran, daß dieses Thema genauso wie das Thema der Stationierung Sie nicht in einer, wie das in einer demokratischen Partei üblich ist, Willensbildung von unten nach oben überrollen wird? Der Unterbezirksparteitag in Frankfurt hat j a schon sehr deutlich gezeigt, daß Sie nicht einmal mehr in der Lage sind, sich gegen Ihre Basis durchzusetzen.
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Karsten Voigt, der sicherheitspolitische Sprecher der SPD, war unterlegen. So geht es vielen von Ihnen.
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Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Thema sagen, das die GRÜNEN in einer Pressekonferenz in die öffentliche Diskussion einführen zu müssen glaubten. Es war Ihnen vorbehalten, die Diskussion darüber wieder aufzunehmen, ob Gewalt gegen Sachen in unserem Staat eine erlaubte Tat sei. Wir hatten das schon einmal, und ich erinnere mich nicht gern daran. Wer dann noch hingeht und solche Gewalt gegen Sachen als eine „gewaltfreie Aktion" deklariert, der betreibt eine Begriffsmanipulation, die nur schädlich sein kann.
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Hier muß jeder denken, daß es nicht einmal mehr um die Sache geht, sondern nur noch darum, Rab-batz zu machen.
Meine Damen und Herren, die Zeit, die vor uns liegt, ist schwer. Wir wollen die Zukunft gestalten, und wir brauchen einen langen Atem dazu. Die Koalition wird zusammenstehen, und ich denke, wir werden es schaffen.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe und des Finanzplans des Bundes 1983
bis 1987 zu den Tagesordnungspunken 1 a bis f an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge
des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wir sind am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. September 1983, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.