Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/8/1983

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Die Sitzung ist eröffnet. Es ist beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/357 - Änderung der Auslieferungspraxis der Bundesregierung und Staatenbeschwerde gegen die Türkei - zu erweitern. Der Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung ist rechtzeitig vorgelegt worden; er ist also zulässig. Wird zu diesem Punkt das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? Ich weise vorsorglich darauf hin, daß der einzelne Redner eine Redezeit von fünf Minuten - das sind strenge fünf Minuten, weil es in der Geschäftsordnung so steht - nicht überschreiten darf. Bitte schön, Herr Kollege.

Dieter Burgmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000311, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde! Kemal Altun ist tot. Wir trauern um Kemal Altun. Wir schämen uns, daß in diesem Staat 38 Jahre nach Ende des Faschismus politisch Verfolgte ausgeliefert und in Folter und Tod getrieben werden. Es sind viele Worte der Trauer und des Bedauerns gefallen, selbst von Regierungsseite. Doch dort möchte man den Fall gern zu einem tragischen Unglücksfall herunterspielen. Der Tod Kemal Altuns war kein Unglücksfall, war keine höchstpersönliche Ausnahmesituation, wie Herr Zimmermann sagte. Der Tod Kemal Altuns war die grausame Konsequenz des Vorgehens von Behörden, Justiz und der Minister Engelhard und Zimmermann. Das Schicksal Altuns steht nicht allein. Mehrere Asylbewerber wurden schon nachweislich aus der Bundesrepublik der türkischen Folter ausgeliefert. 60 Auslieferungsanträge der türkischen Junta sollen der Bundesrepublik noch vorliegen. Erst gestern berichtete die „Frankfurter Rundschau" wieder von Massenprozessen mit drohenden Todesstrafen und von Folterungen in der Türkei. Der Fall Kemal Altun kann sich bei Fortsetzung der bestehenden Auslieferungs- und Abschiebepraxis morgen wiederholen. Da werden Worte des Bedauerns zur Heuchelei, wenn den Worten nicht Tagen folgen, die eine Wiederholung verhindern. Wenn es noch Menschlichkeit in diesem Parlament gibt, dann muß der tragische Tod von Kemal Altun Konsequenzen haben. Das sind auf der einen Seite personelle Konsequenzen für die Verantwortlichen. Darüber wird heute noch zu reden sein; das steht auf der Tagesordnung. Aber auch andere Maßnahmen müssen getroffen werden, und zwar schnell, die eine Wiederholung verhindern. Die GRÜNEN im Bundestag haben deshalb den Antrag auf Drucksache 10/357 eingebracht und beantragen, ihn heute auf die Tagesordnung zu setzen und darüber zu beschließen. Da sich der Inhalt mit den Anträgen auf Entlassung der Minister Engelhard und Zimmermann deckt, kann er gleichzeitig behandelt und debattiert werden. Er bedeutet also keine zeitliche Ausdehnung der Tagesordnung. Dieser Antrag ist deshalb so besonders wichtig, weil die Gesetzeslücke in § 18 des Ausländergesetzes und die Auslieferungspraxis in der Bundesrepublik heute oder morgen eine Auslieferung von Türken an Folter und Tod ermöglichen könnten. Die GRÜNEN im Bundestag haben in diesem Antrag bewußt auf ihre eigene Forderung verzichtet, daß kein Mensch an einen Staat ausgeliefert und abgeschoben werden darf, wo Folter und Tod drohen. Wir haben uns im Interesse einer schnellen Regelung für die Betroffenen bewußt auf Minimalforderungen beschränkt, von denen wir glauben, daß diesen alle in diesem Parlament - Christen, Demokraten, Liberale, Ökologen und Sozialisten - zustimmen müssen: nämlich daß erst die rechtlichen Verfahren geklärt sein müssen, ehe eine Ausweisung erfolgt und damit nicht wiedergutzumachende Fakten geschaffen werden. Ich meine, einen zweiten Wiedergutmachungsversuch sollte sich dieses Volk ersparen, indem es den Schaden erst gar nicht anrichtet. ({0}) Ich appelliere also an alle Menschen in diesem Parlament, unseren Antrag auf die Tagesordnung zu setzen und zu unterstützen. Ich appelliere an alle Menschen in diesem Staat, insbesondere an die karitativen Verbände, an die Kirchen, die Gewerkschaften, alles daranzusetzen, daß keine Auslieferung mehr an die Türkei erfolgen kann. Der Tod von Kemal Altun muß uns Verpflichtung und Mah1244 nung sein. Kein Mensch, der diesen Staat um Hilfe, um Asyl bittet, darf mehr vor die Tür gesetzt, Folter und Tod ausgeliefert oder in deutschen Gefängnissen und Justizmühlen zugrunde gerichtet werden. Das ist unsere Konsequenz aus der Geschichte vor 38 Jahren und dem Tod Kemal Altuns vor zehn Tagen. Ich bitte deshalb, unserem Antrag zuzustimmen, diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion DIE GRÜNEN beantragt eine Änderung der Tagesordnung. Die CDU/CSU widerspricht dieser Änderung der Tagesordnung. Das Haushaltsrecht ist das klassische parlamentarische Recht. Es ist unsere erste Pflicht, dieses Recht auszufüllen, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Deswegen haben wir uns in all den vergangenen Jahren während der Wochen, in denen wir den Haushalt in erster, zweiter und dritter Lesung beraten haben, jeweils voll und ganz auf diese Aufgabe konzentriert. So haben wir das auch für diese Woche einvernehmlich zwischen allen Fraktionen vereinbart. Deswegen wollen wir die Tagesordnung heute nicht ändern. Ich will nicht bewerten, wie DIE GRÜNEN im Rahmen dieser Haushaltsdebatte ihrer parlamentarischen Aufgabe gerecht werden. Wir, die CDU/ CSU-Fraktion, nehmen unsere Aufgabe in den Haushaltsberatungen ernst. Ich will nur einen einzigen Satz zu dem sagen, was mein Vorredner gesagt hat. Der Verfall der Demokratie hat - auch in der Geschichte des deutschen Volkes - sehr viel mit dem Verfall parlamentarischer Sitten zu tun. Wir werden dem von der ersten Stunde an Einhalt gebieten. Wir lehnen den Antrag ab. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Porzner.

Konrad Porzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Im Rahmen der Haushaltsdebatte steht die gesamte Politik der Regierung zur Diskussion. Deswegen besteht auch die Möglichkeit, alles, was eine Fraktion bzw. ein Redner ansprechen will, zu behandeln. Wir halten es deswegen nicht für erforderlich, daß ein zusätzlicher Punkt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wenn wir uns vor Augen halten, was heute zur Debatte steht, sehen wir, daß es mit der Einteilung der Zeit sehr, sehr knapp werden wird. Für uns haben die Wirtschaftspolitik, die Sozialpolitik, die Beschäftigungspolitik und die Sonderprobleme, die zusätzlich im Zusammenhang mit der Werftkrise, der Stahlkrise und dem Kohlebergbau entstehen, den gleichen Rang wie anderes. Da Fragen des Asylrechts heute im Rahmen des Tagesordnungspunktes 2 sowieso angesprochen werden können, müssen wir, glaube ich, nicht zusätzlich einen weiteren Punkt auf die Tagesordnung setzen. Eines noch: Die Art, wie die Behörden in diesem Fall gehandelt haben, wird von uns scharf kritisiert. Wenn der Vorredner der GRÜNEN allerdings einen Zusammenhang zwischen dem Handeln der Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Staates und der Tätigkeit der Behörden in der Bundesrepublik Deutschland herstellt, so stimme ich ihm nicht zu. ({0}) Das, was Sie mit Ihrem Antrag erreichen wollen, muß alles sorgfältig erörtert werden. Dazu werden wir bestimmt schon in der nächsten Woche Zeit haben. Ich glaube nicht, daß wir damit irgend etwas versäumen. ({1})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der GRÜNEN. Wer der Aufsetzung dieses Punktes auf die Tagesordnung zuzustimmmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wir fahren fort in der verbundenen Aussprache über die Punkte 1 und 2 der Tagesordnung: 1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1984 ({0}) - Drucksache 10/280 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß b) Beratung des Finanzplans des Bundes 1983 bis 1987 - Drucksache 10/281 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe ({1}) - Drucksachen 10/335, 10/347 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß ({2}) Innenausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Präsident Dr. Barzel Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Verteidigungsausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und zur Einschränkung von steuerlichen Vorteilen ({3}) - Drucksachen 10/336, 10/345, 10/348 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß ({4}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer durch Kapitalbeteiligungen ({5}) - Drucksachen 10/337, 10/349 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({6}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über eine Investitionszulage für Investitionen in der Eisen- und Stahlindustrie ({7}) - Drucksachen 10/338, 10/346, 10/350 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß ({8}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO 2. a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Entlassung der Bundesminister des Innern und der Justiz - Drucksache 10/333 ({9}) - b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Entlassung des Bundesministers der Justiz und des Bundesministers des Innern - Drucksache 10/342 ({10}) - Nach der Geschäftsordnung können Sie das Wort später haben. Ich war dabei, einem Abgeordneten das Wort zu erteilen. - Sie wünschen zu einer persönlichen Erklärung jetzt das Wort? Vielleicht ist es günstig, gleich etwas in Ordnung zu bringen. Bitte schön, Herr Kollege Burgmann.

Dieter Burgmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000311, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte hiermit feststellen, daß ich keinen Zusammenhang zwischen den Geschehnissen des Nationalsozialismus und der Auslieferung des Türken hergestellt, sondern davor gewarnt habe, daß wir in eine ähnliche Entwicklung hineinrutschen. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, Sie haben diese Erklärung gehört. Das Wort hat der Kollege Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden in der heutigen wirtschaftspolitischen Debatte zum Bundesetat 1984 die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen fair führen. Wir werden ihnen nichts vorwerfen, was sie nicht selbst zu verantworten haben. Lassen Sie mich hier am Anfang dieser Debatte - vielleicht mit der Hoffnung, daß es, auch Ihnen, noch nützt - eine Bemerkung in Richtung auf die Deutsche Bundesbank machen. Ich halte eine Erhöhung der Leitzinsen zum jetzigen Zeitpunkt für das falsche Signal. Wir appellieren an die Deutsche Bundesbank, den Zinstrend nicht zusätzlich in die falsche Richtung zu verstärken. ({0}) Sie müssen sich schon an dem festhalten lassen, was Sie selbst verkündet haben. Vor dem 6. März haben Sie den Aufschwung beschworen. Ich finde, heute müßte der Tag sein, an dem bewertet wird, wo Ihr Aufschwung geblieben ist. Seit Ihrem Regierungsantritt ist die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland um weitere 400 000 Erwerbslose auf nunmehr 2,2 Millionen gestiegen. Ist das der Aufschwung, mit dem Sie Wahlpropaganda gemacht haben? ({1}) In keinem anderen Industrieland - dieses Datum ist noch entscheidender - der westlichen Welt ist die Arbeitslosigkeit in den letzten zwölf Monaten so schnell angestiegen wie in der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Ist das der Aufschwung? Am Arbeitsmarkt gibt es keinen Aufschwung. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter. Gestern habe ich gehört, 6 000 Arbeitslose weniger im August bedeuten schon einen Stopp des Anwachsens der Arbeitslosigkeit. Wenn man die Saisonkomponente herausrechnet, steigt die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik natürlich wei1246 ter. Hören Sie doch wenigstens auf Worte aus der eigenen Partei. Herr Albrecht hat nicht ohne Argumente und Daten eine Erwerbslosenquote von 3,5 Millionen Menschen in den nächsten Jahren vorausgesagt. Merken Sie nicht, wie falsch Ihre Begrifflichkeit „Aufschwung" angesichts dieser Daten am Arbeitsmarkt ist? ({3}) Ich habe überhaupt den Eindruck, Sie wußten im März bereits, daß es keinen Aufschwung gibt. Man konnte bei einer nüchternen Analyse nämlich durchaus merken, daß die wesentlichen Bestandteile der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht nach oben weisen. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat vier Bestandteile: den Konsum, die Investitionen, die Staatsnachfrage, den Export. Ein paar Worte zum Export. Schon seit Beginn des Jahres war jedem klar, daß auf Grund der großen Zahlungsbilanzprobleme nicht nur der Entwicklungsländer, sondern auch vieler Industriestaaten - denken Sie an Frankreich, denken Sie an Österreich - Exportmöglichkeiten nicht mehr im bisherigen Umfang entwickelt werden können. Es war klar, daß das jetzige Niveau des Exports höchstens gehalten werden konnte. Zum zweiten Bestandteil der Nachfrage, der Staatsnachfrage: Hier gehört es j a zu Ihren ständigen Glaubensbekenntnissen - gestern war es auch von Herrn Stoltenberg gesagt worden -, daß die Staatsnachfrage abgesenkt werden soll. Er hat gesagt, wir bräuchten weniger Staatsnachfrage. Das heißt, sie haben in Bund, Ländern und Gemeinden einen geplanten Rückgang von Nachfrage. Die dritte Komponente des Sozialprodukts ist der Konsum. Hier hatten Sie am Anfang des Jahres Glück. Dadurch, daß die Ölpreise weltweit gesenkt wurden, entstand wegen der niedrigeren Ölrechnung der Haushalte auf der Konsumgüterseite praktisch ein Beschäftigungsprogramm von 13 Milliarden. Weil durch geringere Ausgaben für Ö1 das Geld für andere Dinge verwendet werden konnte, entstand mehr Nachfrage. Jedem war aber klar, daß das ein Einmaleffekt ist. Wenn dieser Rückgang des Ölpreises stattgefunden hat, wird der Aufschwung über die Konsumgüternachfrage schnell wieder abgestoppt werden, vor allem dann, wenn Sie - was ja Ihr ständiges Glaubensbekenntnis ist - sagen, die Sozialeinkommen müßten reduziert werden - das bedeutet j a gerade, daß Leute, die ihr Geld voll ausgeben, weniger Einkommen haben -, und dann, wenn Sie jubeln, wenn die Gewerkschaften nicht einmal die Realeinkommen sichern und die Arbeitnehmer sogar Einbußen hinnehmen müssen. Das heißt, Sie haben auch vom Konsum her keine belebende Wirkung auf Dauer. Es bleibt die letzte Komponente des Sozialprodukts. Die letzte Komponente des Sozialprodukts ist die Investitionsgüternachfrage, d. h. die Nachfrage nach Maschinen und Anlagen, nach Gewerbebauten und vielem anderen, was im wirtschaftlichen Bereich genutzt wird. Aber Sie wußten am Wahltag genausogut wie wir, daß ein dauerhafter Investitionsstoß bei Realzinsen von damals 4 % und heute über 5 % nicht machbar ist. ({4}) - Ich rede hier nicht über die Tatsache der Zinshöhe schlechthin; ich rede über das Lügen gegenüber der Wahlbevölkerung am 6. März, ({5}) über die Behauptung, es stehe ein Aufschwung bevor. Darüber rede ich! ({6}) - Ich bin nicht unfair! ({7}) Ich werfe Ihnen an keiner Stelle vor - und werde das auch nicht tun -, daß die Zinsen so hoch sind, ({8}) aber ich werfe Ihnen vor, daß auf Ihren Wahlplakaten für den 6. März gestanden hat „In Deutschland sinken die Zinsen, und sie werden dauerhaft sinken", obgleich jeder Analytiker des Kapitalmarktes wissen mußte, das irgendwann die Zinswende kommt, weil Amerika sinnlose Budgetdefizite macht. Das werfe ich Ihnen vor. ({9}) Meine Damen und Herren, in einer Phase, in der man die Wahl hat, entweder zu hohen Renditen Geld anzulegen oder aber auf Grund der Absatzprobleme ganz großen Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein, im Unternehmensbereich Renditen zu erzielen, Gewinne zu erzielen, wird die Investitionstätigkeit immer stagnieren. Da können Sie auch mit Steuertricks nichts in Bewegung bringen, denn auch mit Steuertricks ändern Sie ja nicht das Kalkül zwischen Geldhalten auf der einen Seite und Investieren auf der anderen Seite, es sei denn, Sie wären bereit, über Instrumente nachzudenken, wie sie beispielsweise Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre benutzt wurden, nämlich über Zinssubventionen für Bereiche sinnvoller Investitionen, aber das verweigern Sie, zum Teil - das gebe ich zu - unter dem Druck der Bundesbank. Was haben Sie nun gemacht? Sie dachten, man muß steuerlich etwas tun, um aus der Zinsklemme herauszukommen. Also haben Sie pauschal Vermögensteuern gesenkt. Ich halte diese Maßnahme deshalb für so verfehlt, weil dadurch die Vermögen gefördert werden, nicht etwa die Investitionen. Vermögen ist j a die Investition von gestern. Übrigens fördern Sie mit diesem Gesetz nicht nur die produktiven Anlagen, sondern sogar auch die Finanzanlagen; auch die werden in die Vermögensteuersenkung einbezogen. Das heißt, Sie vergeuden Geld, das nach unserer Auffassung viel konzentrierter in die wirklich bedrängten UnternehmensRoth sektoren Stahl, Werften und Kohle auf der einen Seite und in die kleinen und mittleren Unternehmen auf der anderen Seite gelenkt werden müßte. ({10}) Mit einer gewissen feststehenden Summe kann man den Hauptbetroffenen dann helfen, wenn man nicht mit der Gießkanne durch die Lande geht, sondern sich auf diejenigen konzentriert, die tatsächlich Probleme haben. Herr Posser hat Ihnen das am Freitag im Bundesrat ja sorgfältig dargestellt; daher kann ich mich kurzfassen. Aber eines kann ich Ihnen nicht ersparen, ein Zitat Ihres Parteifreundes Albrecht. Er hat Ihnen in den letzten Tagen ins Stammbuch geschrieben: Mit den bisher eingeleiteten Maßnahmen allein ist weder ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung noch ein Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Weiter: Der durch den Regierungswechsel und den Wahlsieg der Union in der Wirtschaft ausgelöste psychologische Aufschwung erschöpft sich. Solche psychologischen Faktoren können für das Auslösen eines realen Aufschwungs hilfreich sein. Sie verpuffen aber, wenn sie nicht durch realwirtschaftliche Maßnahmen gestützt werden. Ich finde eigentlich keine konkretere Kritik der Art und Weise, wie Sie den Haushalt 1984 aufgestellt haben, als den letzten Satz von Herrn Albrecht: Sie verpuffen aber, wenn sie nicht durch realwirtschaftliche Maßnahmen gestützt werden. - Ministerpräsident Albrecht hat recht: Sie machen nur Propaganda, handeln aber in der Praxis nicht. ({11}) Ich habe gesagt: Sie wußten schon damals, daß es ohne Handlungen nicht gutgehen würde. Und es geht nicht gut. Ich habe hier auf drei Seiten, Herr Bundeskanzler, Zitate von Wirtschaftsinstituten, die der Union in der Diskussion über Wirtschaftspolitik geistigpolitisch gar nicht so fernstehen: Ifo, Hamburger Weltwirtschaftsarchiv und die entsprechende Studieneinrichtung der OECD. Diese drei Seiten stellen den Gedanken, den ich gerade mit Bezug auf Herrn Albrecht vorgetragen habe - der Etat geht in die falsche Richtung, er stabilisiert die Nachfrage zuwenig -, dar. Ich will das hier nicht vorlesen. ({12}) Statt hier zu zitieren, werde ich die Seiten mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten dem Herrn Bundeskanzler überreichen. ({13}) - Der Bundeskanzler meint, dazu brauchte ich keine Erlaubnis. Ich sage mir: Vorsicht ist Vorsicht. ({14})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Es besteht wirklich Anlaß, vorsichtig zu sein, Herr Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir verstehen uns, Herr Präsident.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nach diesem Material beziffert das If o-Institut ({0}) den negativen Nachfrageeffekt der öffentlichen Haushalte auf etwa 11/2% des Bruttosozialprodukts. Was bedeutet das jetzt an Arbeitsplätzen, meine Damen und Herren? 11/2% bedeuten 375 000 Arbeitsplätze weniger durch eine falsche Etatpolitik der Bundesregierung. ({1}) Übrigens steht das Ifo-Institut damit nicht allein. Die OECD schätzt den Nachfrageausfall, der durch Ihre Finanzpolitik 1984 entsteht, auf etwa 50 Milliarden DM. Anders ausgedrückt: In den zwei Jahren, in denen Sie finanzpolitische Verantwortung tragen, werden etwa 750 000 Menschen mehr arbeitslos, als wenn man eine andere Etatpolitik betrieben hätte. ({2}) Meine Damen und Herren, dies ist nun allerdings dramatisch. Es ist ein vernichtendes Urteil über Ihre überzogene Konsolidierungspolitik. Wir haben offenbar einen Finanzminister, der zwar hier vieles in Zahlen elegant vorträgt, der aber jedes beschäftigungspolitische Denken vermissen läßt. Das haben wir gerade bei dem Thema Vermögensteuer gesehen, wo dem Interessendruck von Gruppen nachgegeben wurde. Hier habe ich eine Frage an den Kollegen Blüm. Herr Blüm, kommen Sie sich auf dieser Regierungsbank nicht komisch vor? 3,6 Milliarden DM Steuersenkung für die Wirtschaft ohne jeden belegbaren Arbeitsmarkteffekt! Und dann Kürzung beim Mutterschaftsgeld um 300 Millionen DM! ({3}) Kommen Sie sich nicht komisch vor? Gestern hat mir ein Freund aus meiner Fraktion gesagt: Wir haben über Katzer gesagt, er sei die soziale Badehose der CDU. - Über Blüm kann man sagen: Er ist der soziale Tanga der CDU, also noch ein bißchen kleiner. ({4}) Herr Kohl, Sie haben einen Wirtschaftsminister, der sich aus vorgeblich marktwirtschaftlichen Gründen weigert, eine vorausschauende Industrie1248 politik zu betreiben. Das hat er praktisch in jeder Rede wiederholt. Er weigert sich, ein Schiffbaukonzept, ein Stahlkonzept, ein Kohlekonzept vorzulegen. Diese Weigerung hat diese Branchen allmählich in die Katastrophe geführt. Ich zitiere nur aus der heutigen Ausgabe des „Handelsblatts" - das ist nun weiß Gott kein sozialdemokratisches Tageblatt -: Die Bundesregierung muß jetzt - in der Stahlindustrie Farbe bekennen. Sie muß sich aktiv in den Umstrukturierungsprozeß dieses Wirtschaftszweiges einschalten, ob sie nun will oder nicht. Das Haus brennt, es brennt schon ziemlich lange. ({5}) Das ist das Votum des „Handelsblatts" zu Ihrem Handeln in der Industriepolitik. Vor einigen Wochen haben wir, die SPD-Bundestagsfraktion, eine Anhörung zur Lage im Schiffbau durchgeführt. Wir haben die Bundesregierung eindringlich gefragt, welche Vorstellungen sie über Art, Umfang und Standorte für die Schiffbauindustrie hat. Und was war die Antwort? Das ist Entscheidung der Unternehmen. - Und was ist die Antwort seit letzter Woche? Das Schiffbaukonzept ist nicht Sache der Bundesregierung, aber des Bremer Senats. Ich halte diese Taktik nicht nur für verhängnisvoll, sondern für zerstörerisch für die Industriestruktur der Bundesrepublik Deutschland. Durch Nichthandeln, durch Nichteingreifen läßt man die Sache an die Wand fahren und deutet dann auf andere, lädt die Schuld auf andere ab. ({6}) Übrigens, Ihr Vorschlag von vorgestern, jetzt Hilfen in Höhe von 80 Millionen DM für Ersatzarbeitsplätze zu geben, ist j a - das haben Sie versucht zu verschleiern - kein Vorschlag zur Lösung der Schiffbaukrise. In der Stahlindustrie ist es dasselbe. Wie das Zitat, das ich soeben gebracht habe, beweist, warten alle Unternehmen inzwischen auf eine Antwort der Bundesregierung zur Stahlkonzeption. Aber ich habe die Vermutung, Sie handeln mit einer Hoffnung: Sie handeln mit der Hoffnung, daß irgendwann einer der Stahlkonzerne pleite geht und daß durch das Ausscheiden dieses einen Konzerns die Kapazitäten so reduziert sind, daß Sie die Anforderungen der EG, die Stahlkapazitäten zurückzuführen, erfüllen, ohne selber dafür die Verantwortung mit übernehmen zu müssen. Sie riskieren ganz bewußt eine Pleite in der Bundesrepublik Deutschland und die Zerstörung eines Stahlstandortes. Ich will hier nicht noch Öl ins Feuer gießen, ({7}) ich will Sie in dieser Haushaltsdebatte nur noch einmal auffordern, in der nächsten Woche endlich mit Ihrer Konzeption herauszukommen. Unsere Meinung ist: Alle Stahlstandorte in der Bundesrepublik Deutschland - unter Einschluß des Saarlandes, unter Einschluß von Bremen - müssen erhalten bleiben. ({8}) Das muß das Prinzip sein. ({9}) Meine Damen und Herren, in dieser Sommerpause gab es nicht nur Theater, sondern es gab auch bermerkenswerte Äußerungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers über die Arbeitslosigkeit. Er hat in mehreren Interviews gesagt, bis Ende der 80er Jahre sei die Arbeitslosigkeit nicht wirksam zu bekämpfen. Ich nehme nun nicht an, daß die große Volkspartei CDU/CSU es sich leisten könnte - in Ihrer Wählerschaft sind j a auch Arbeitnehmer -, ({10}) die Position zu übernehmen, daß die jetzige Arbeitslosenquote bis Ende der 80er Jahre quasi Naturschicksal sei. Ich frage Sie hier als Union, ich frage insbesondere den Herrn Bundeskanzler: Ist es die Politik dieser Bundesregierung, die Arbeitslosigkeit bis Ende der 80er Jahre so weiterwuchern zu lassen, ja oder nein? Wenn Sie nein sagen, dann müssen Sie diesen Wirtschaftsminister entlassen; denn es ist seine Position. ({11}) - Ich will hier nicht viel zitieren, aber ich könnte Worte zu diesem Thema aus Ihren Reihen, von Herrn Strauß beispielsweise, zitieren, etwa aus der „Quick", die, was die Fähigkeit des Herrn Bundeswirtschaftsministers betrifft, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, viel schärfer sind. Oder wollen Sie das nicht wahrhaben? ({12}) Ich will Sie hier nicht langweilen, ({13}) aber an der Stelle hat Herr Strauß recht. ({14}) Ihre ganzen Hoffnungen, meine Damen und Herren, gehen nun auf eine Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums von der Investitionsseite her. Sie träumen sich in die Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre zurück. Denn alles, was Sie wirtschaftspolitisch sagen, ginge am Arbeitsmarkt ja nur auf, wenn wir reale Wachstumsraten von etwa 5 % hätten. Und jetzt sollte einer von Ihren Wirtschaftssprechern hier hergehen und uns genau darstellen, wie Sie mit diesen Instrumenten, die Sie bisher entwickelt haben, in den nächsten Jahren ein reales Wirtschaftswachstum von 5 % erreichen wollen. Kommen Sie hier her, sagen Sie: So machen wir's. Wir werden auch heute wieder zu dem Thema Schweigen bekommen. Übrigens: Auch da sollten Sie auf Leute aus Ihrer Partei hören. Professor Biedenkopf, der durch sein Institut immer einmal wieder unabhängige Gedanken zur wirtschaftlichen Entwicklung darstellen läßt, hat diese Regierung vor einiger Zeit gewarnt, in der Wirtschaftspolitik mit Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre zu spekulieren. Und dann überlegen Sie einmal, welche Antworten die Politik darauf geben muß, ob Sie es weiter vertreten können, wie der BDI, der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Arbeitgeberverbände Arbeitszeitverkürzungen rundum abzulehnen, oder ob Sie nicht vielmehr mit uns dahin wirken sollten, daß alle Arbeitnehmer mithelfen, daß Arbeitszeitverkürzung stattfindet. Vielleicht ist die Tatsache, meine Damen und Herren, daß die Unternehmer im letzten Jahrzehnt in weit höherem Maße als früher Kapital aus den Betrieben herausgezogen und als Geldvermögen angelegt haben, ein Anzeichen dafür, daß alte wirtschaftspolitische Antworten eben nicht mehr zünden. Sie aber wollen diese historischen Veränderungen ständig mit Steuererleichterungen für die Reichen in den Griff bekommen. Viele Wohlhabende - das wissen Sie so gut wie ich - sitzen zur Zeit auf ererbten Grundstücken oder auf dicken Geldpolstern in Finanzanlagen. Statt mit einem Teil ihres Vermögens etwas zu unternehmen, wollen sie mit Zinsen Kasse machen. Das heißt: Unbeweglichkeit bei der Vermögensanlage, Scheu vor Risiko, erreichten Vermögensbesitz lieber bewahren als ihn mit Risiko einsetzen. Dies führt zu Investitionslükken, nicht das von Ihnen ständig gegeißelte Besitzstandsdenken der Arbeitnehmer und der sozial Schwachen. ({15}) Meine Damen und Herren, bevor Sie Arme ärmer machen, sollten Sie Reiche für Nichtstun nicht noch reicher machen, wie Sie es durch die Vermögensteuersenkung ja tun. ({16}) Meine Damen und Herren, Vermögen ist in der Bundesrepublik Deutschland reichlich da. Wir müssen das Vermögen dorthin lenken, dorthin mobilisieren, wo es dringend gebraucht wird: in die Unternehmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. ({17}) Das heißt aber, meine Damen und Herren: weg von unproduktiven Geldvermögensanlagen, weg von kapitalbindendem, aber unproduktivem Grundstücksbesitz - ohne eine neue Bodenordnung wird das Geld nicht in Richtung auf die Unternehmen mobilisiert werden -, ({18}) weg aus unproduktiven Abschreibungsgesellschaften und hinein in Unternehmen zur Finanzierung von Risikokapital, von Innovation und Erweiterungsinvestitionen! Eine Wirtschaft, in der Kapital so fehlgelenkt wird in unproduktive Anlagen, in Finanzanlagen im Ausland, kann sich nicht erneuern. Dort können keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber bitte suchen Sie keine zu einfachen Antworten, wie es beispielsweise Herr Albrecht getan hat: ({19}) 20% Unternehmenssteuersenkung, dann ist die Sache schon wieder in Ordnung. Erstens. Eine derart unausgewogene Steuerpolitik - dafür müssen Sie doch ein Gespür haben - würde den sozialen Frieden in diesem Lande gefährden. 20 % weniger Steuern für die Unternehmer und ständige Steuererhöhungen für die Arbeitnehmer, bombastische insbesondere auf der Mehrwertsteuerseite -, das kann doch nicht gehen. Zweitens. Man kann mit Gewinnen viel anderes tun, als sie in Arbeitsplätze oder neue Produkte zu stecken. Auch deshalb ist das Rezept Albrecht nicht sinnvoll. Drittens bedeuten Investitionen nicht unbedingt mehr Wachstum und schon gar nicht mehr Arbeitsplätze. Wir leben in einer Zeit, in der das Rationalisierungstempo nun seit über einem Jahrzehnt das Wachstumstempo übersteigt. Derartige historische Prozesse können doch nicht durch pauschale Subventionen beantwortet werden. Herr Kolb hat dazwischengerufen: Manchmal geben Sie Herrn Albrecht recht, manchmal widersprechen Sie ihm. Ist es nicht das Wesen einer politischen Debatte, daß man beim Gegner auch die Punkte aufspürt, die vernünftig sind? ({20}) Jetzt will ich hier etwas sagen: An einer Stelle fand ich Herrn Albrechts Vorschlag gut. Er sagt nämlich, man müsse überlegen, ob die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherung heute noch tragfähig sei, ob wir nicht durch die Lohnzuschläge - Arbeitgeberbeiträge, Arbeitnehmerbeiträge - die Arbeitskosten so nach oben treiben, daß Rationalisierung angedreht wird und daß Dienstleistungen zu teuer werden. Das ist doch wohl ein richtiger Gedanke. Wenn ich zu diesem richtigen Gedanken komme, bin ich schon wieder bei Vorschlägen von unserem Freund Ehrenberg, der vor einigen Jahren gesagt hat, man sollte die Wertschöpfung zur Bemessungsgrundlage der Finanzierung der sozialen Sicherung machen und nicht den Lohn. ({21}) Damals haben Sie das attackiert. Ich habe gehört, Herr Blüm hat den Vorschlag von Albrecht auch wieder attackiert. Er hat gesagt, das Versicherungsprinzip ist heilig. Herr Blüm, was wollen Sie denn eigentlich versichern, wenn immer weniger Arbeitnehmer Beschäftigung haben? Hier ist die Idee, daß die Kollegen Roboter und Computer mitfinanzieren, was an sozialer Sicherung notwendig ist, in der Tat doch eine Debatte im Bundestag wert. ({22}) Ich hätte Interesse, von den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU eine Antwort - Kritik oder Weiterentwicklung - auf die Vorschläge von Herrn Albrecht zu hören. Ich frage Sie auch, ob Sie nicht einmal die vielfältigen Diskussionsbeiträge von Herrn Späth zur Arbeitszeitverkürzung weniger durch Schweigen als durch konkrete Diskussion hier in diesem Hause aufnehmen. ({23}) Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Was wollen Sie? Wollen Sie den Konsolidierungskurs entgegen den Ratschlägen der Wissenschaft fortsetzen und damit die Konjunktur abwürgen? Oder halten Sie Steuersenkungen für notwendig, um all dies zu verhindern? Oder meinen Sie nicht auch, daß man mehr statt weniger öffentliche Investitionen in den Etat 1984 einsetzen sollte? Sagen Sie uns nachher, wie Sie die Strukturprobleme bei Stahl, Schiffbau, Bergbau lösen wollen. Soll es dabei bleiben, daß die Bauern ihre Einkommen gesichert bekommen - wogegen ich nicht bin-, während die Bergleute, die Stahlarbeiter in vielen Regionen praktisch vor dem Nichts stehen? ({24}) Soll es weiter so sein, daß die eine Gruppe voll abgesichert wird und die andere in der Tat in die Krise läuft? Nun, meine Damen und Herren, natürlich verlangen die Bürger, die diese Haushaltsdebatte im Bundestag hören, von uns nicht nur Kritik; sie verlangen eine Konzeption. Ich möchte die Vorstellungen der SPD in vier Punkten zusammenfassen. ({25}) Erstens. Statt öffentliche Investitionen zu kürzen und damit Arbeitsplätze zu vernichten, ({26}) müssen geeignete öffentliche Investitionsprogramme für die Erwerbslosen Arbeitsmöglichkeiten schaffen. ({27}) Warum nutzen wir die gebotenen Möglichkeiten nicht? Warum schaffen wir nicht beispielsweise durch ein großes Umweltprogramm neue Arbeitsplätze? ({28}) Die Bürger, die Arbeit und Einkommen haben, sind tatsächlich zu Opfern bereit, wenn sie wissen, daß damit sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden und die Krisenspirale unterbrochen wird. Meine Damen und Herren, wir haben doch die technischen Möglichkeiten, um die Umweltschäden zu bekämpfen. Wir haben doch die Technik. Wir können den sauren Regen und die anderen Ursachen der Waldschäden ebenso bekämpfen, wie wir in einem Jahrzehnt die deutschen Flüsse sauber machen könnten - wenn wir das wollen. Wir können durch ein großes Umweltinvestitionsprogramm nicht nur Umweltschäden beseitigen, sondern wir können Arbeitsplätze schaffen. In der großen Krise der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg haben alle politischen Kräfte gemeinsam durch ein umfassendes öffentliches Wohnungsbauprogramm nicht nur die Wohnungsnot beseitigt, sondern sie haben auch Hunderttausende, ja Millionen Menschen über Jahre beschäftigt. Warum können wir die Umweltnot nicht durch ein großes Umweltinvestitionsprogramm beseitigen? Warum sollte das nicht möglich sein? ({29}) Die Bürger fragen bessere Umwelt nach. Sie werden das aus allen Versammlungen kennen. Sie wollen das. Umweltverbesserung kann man nicht kaufen. Selbst der Reichste kann sich nicht die Beseitigung der Waldschäden kaufen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Bitte schön, Herr Stratmann.

Eckhard Stratmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002269, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Roth, zählen Sie zu dem von Ihnen geforderten ökologischen Investitionsprogramm, Umweltprogramm, auch die Finanzierung des Schnellen Brüters in Kalkar und des Hochtemperaturreaktors in Hamm, gegen den es gerade gestern noch Demonstrationen gegeben hat und am 17. September wieder geben wird? Zählen Sie das in Anbetracht dessen, daß in NordrheinWestfalen die SPD mit absoluter Mehrheit regiert, auch dazu? ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wären besser beraten, statt hier polemische Zwischenbemerkungen zu machen - ({0}) Sie wissen doch ganz genau, daß die SPD-Fraktion nach einer Würdigung der Entwicklung den Stopp des Baus dieses Schnellen Brüters beschlossen hat - oder wissen Sie das nicht? - und damit auch Mittel freigesetzt hat. ({1}) Ich glaube, auch die Verlagerung von Mitteln aus falschen Verwendungsweisen gehört zur Finanzgrundlage eines derartigen Umweltprogramms. Wir Sozialdemokraten schlagen aber auch eine UmweltRoth abgabe vor, die in ein Sondervermögen fließen soll, ein Sondervermögen für Umwelt und Arbeit. ({2}) - Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, warum blöken Sie an dieser Stelle dazwischen? ({3})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Roth, ich habe kein Blöken gehört. ({0})

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielleicht ist es eine Stufe höher nicht mehr so leicht zu hören, Herr Präsident. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Roth, ich bitte, den Dialog mit dem Präsidenten, den Sie zum zweitenmal führen, zu unterlassen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Lande ein Sondervermögen im Marshallplan gehabt, das mit großem Erfolg den Wohnungsbau und Investitionen in kleinen und mittleren Unternehmen in Gang gesetzt hat. Warum sollte man in einer neuen Krisenzeit, in einer neuen Notzeit, nicht auf dieses bewährte Instrument zurückgreifen? Wir sind für ein Sondervermögen für Umwelt und Arbeit, das einerseits aus einer Umweltabgabe, andererseits über den Kapitalmarkt finanziert wird. ({0}) Schon jetzt liegen bei Bund, Ländern und Gemeinden Pläne vor, durch die 400 000 Arbeitsplätze im Umweltsektor geschaffen werden könnten. Welchen Sinn macht es eigentlich, meine Damen und Herren, wenn Sie von der Bundesregierung sich brüsten, daß Sie durch ein Wohnungsbauprogramm für 50 000 Wohnungen Arbeitsplätze geschaffen haben, wenn Sie dieses viel entscheidendere Programm zur Umweltverbesserung hier ablehnen? Ist das Wohnungsbauprogramm kein Beschäftigungsprogramm?

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kroll-Schlüter?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herr Präsident, ich möchte zum Ende kommen.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Keine Zwischenfrage.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nun lautet der Einwand, dies sei ein bürokratisches Programm. Meine Gegenfrage, meine Damen und Herren von der Union: Bauen denn eigentlich Beamte Kläranlagen? Gehen Inspektoren raus und bauen Luftfilter in Kraftwerke ein? Diese Frage zeigt doch, daß Ihr Einwand, das sei Bürokratie, unsinnig ist. ({0}) Natürlich bauen Baufirmen Kläranlagen. Sie stellen Arbeiter ein. Natürlich bauen Maschinenbaufirmen die entsprechenden Anlagen für diese Einrichtungen. ({1}) Das heißt, dort, im privaten Sektor, gibt es Beschäftigung. So wie es Beschäftigung im privaten Sektor nach dem Zweiten Weltkrieg durch die öffentlichen Wohnungsbauprogramme gegeben hat, so wie damals Arbeitsplätze geschaffen wurden, können wir das heute auch, wenn wir es wollen und den Opferwillen der Bevölkerung aufnehmen. ({2}) Statt Nichtstun aktives Investieren für die Zukunft, das ist unsere Alternative zu 1. Zweitens. Es geht nicht mehr nur um die Frage „Arbeitszeitverkürzung: j a oder nein?", sondern es geht um die Frage: „Wo Arbeitszeitverkürzung?" Sagen Sie doch endlich volles Ja zu Verhandlungen zwischen den Verbänden, zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zur Arbeitszeitverkürzung! ({3}) Sagen Sie doch endlich: „Weg mit dem Tabu-Katalog auf seiten der Arbeitgeber!" Sagen Sie doch endlich: „Schluß damit!" ({4}) Ich möchte hier auch das sensible Thema Lohnausgleich nicht aussparen. Wie anders als durch die Forderung nach Lohnausgleich sollten die Gewerkschaften denn Verhandlungen beginnen? Wie anders? Zahlen die Mitglieder für Lohnverzicht Gewerkschaftsbeiträge? Doch wohl nicht. Also: Am Beginn einer Verhandlung steht eine Verhandlungsposition. Und was steht auf der Seite der Arbeitgeber? Ein Nein, ein Tabu gegen jede Verhandlung. Da müssen Sie mit eingreifen und politisch argumentieren. ({5}) Ich bin dann in der Tat der Meinung: Es wird auch beim Lohn ein Kompromiß über die Aufteilung der Produktivitätszuwächse herauskommen. Wir werden dann öffentlich auch für diesen Kompromiß in der Arbeitnehmerschaft werben. Ich halte nämlich Solidarität derjenigen, die Arbeit und Einkommen haben, mit denjenigen, insbesondere aus der jungen Generation, die draußen vor stehen, für notwendig und für kein Lippenbekenntnis. ({6}) Und deshalb: Gerade eine wirtschafts- und unternehmernahe Partei wie die CDU, wie die FDP hätte jetzt einen besonderen Auftrag, den Arbeitgebern zu sagen: Schluß jetzt! An den Verhandlungstisch! Drittens. Jede aktive Beschäftigungspolitik muß Arbeitsplätze im privaten Unternehmen sichern. Wir sind für Investitionsförderung, aber für Investitionen für morgen und für Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen, nicht für die Gießkanne. Wenn Sie für die von der Hochzinspolitik geplagten kleinen und mittleren Unternehmen ein wirksames Instrument zur Entlastung anbieten, werden wir im Deutschen Bundestag ja sagen, einfach um weitere Pleiten zu verhindern. Wenn Sie hier konkrete Investitionsvorschläge für die Krisenbranchen und -regionen vorlegen, sagen wir j a, auch wenn die Adresse die Unternehmen sind. Wir sind nicht einseitig wie Sie. Aber wir sind der Meinung: Das knappe Geld, das, wir zur Verfügung haben, sollte nicht für pauschale Instrumente, sondern für konkrete Instrumente und wirksame Instrumente ausgegeben werden. Das ist die Alternative. ({7}) Wir werden all diejenigen Unternehmer und Unternehmen nachdrücklich unterstützen, die eben keine Rentiers - nicht Rentner, sondern Rentiers, nämlich Geldhalter - geworden sind. Wir werden die unterstützen, die Innovationen wollen, die Innovationen durchführen können. Nun machen Sie endlich einmal einen Vorschlag zur Finanzierung von Risikokapital, Herr Wirtschaftsminister! Wenn Sie hier einen vernünftigen Vorschlag einbringen, ({8}) stimmen wir ihm zu. ({9}) Viertens. Die Krise verlangt Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen in der Notsituation auch in der öffentlichen Hand. Wo auf Grund der Nachfrage- und Absatzschwäche die private Wirtschaft ausreichende Arbeits- und Ausbildungsangebote nicht sichert, muß auch der Staat eingreifen. Herr Börner, das Land Hessen hat beispielsweise jetzt zum gleichen Zeitpunkt, wo der Herr Bundeskanzler mit einer „Bild"-Zeitungs-Kampagne ({10}) gerade mal 1 000 Ausbildungsplätze hervorgelockt hat, durch eine Regierungsentscheidung 4 500 Ausbildungsplätze geschaffen. Ich glaube, die Zeit eines Ministerpräsidenten oder eines Kanzlers sollte besser darauf konzentriert werden, Ausbildungsplätze direkt zu schaffen, als sich als Hilfsinstrument einer Massenzeitung herzugeben. ({11}) Diese 4 000 Ausbildungsplätze sind jetzt da. ({12}) In den letzten Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem hessischen Unternehmer, der gesagt hat: Bei uns ist es ein bißchen besser als im Bundesdurchschnitt. Als ich seine Daten sah, stellte ich fest, daß die Situation in Hessen prozentmäßig genau um diese 4 500 Stellen besser war als im Bundesdurchschnitt. Sie sehen, man kann direkt etwas machen. Sie haben in einzelnen Bundesländern direkt überbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen. Herr Vogel hat in der letzten Debatte - das ist auch schon wieder drei Monate her - darauf hingewiesen, daß damals unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung in Berlin ein Ausbildungsamt eingerichtet worden ist, das beträchtlich zur Entlastung der Ausbildungsnot in Berlin beigetragen hat. Von Weizsäcker macht dieses weiter. Warum können Sie diese Erfahrung, wenn Sie schon die von Herrn Börner nicht aufnehmen wollen, von Herrn Weizsäcker nicht in Ihre praktische Politik auf Bundesebene umsetzen, Herr Blüm? ({13}) Herr Bundeskanzler, lassen Sie die ständigen Klimmzüge und Neuinterpretationen zur Lehrstellengarantie! In allen diesen Anzeigen, in Ihren Wahlreden war nicht nur von 30 000 Ausbildungsplätzen die Rede, sondern davon: Jeder wird einen Ausbildungsplatz bekommen. So war es. ({14}) Wenn Sie das jetzt durch Ihre Appelle, durch Klinkenputzerei nicht erreichen - das ist offenbar nicht gelungen, was ich Ihnen gar nicht vorwerfe, da man in einer Wirtschaftskrise die Zahl der Ausbildungsplätze in Unternehmen nicht beliebig vergrößern kann -, ({15}) dann frage ich Sie, warum Sie nicht die Vorschläge unseres Lehrstellenplans von vor der Sommerpause aufnehmen, den Frau Fuchs hier vorgetragen hat. Dort sind Vorschläge für hunderttausend zusätzliche Ausbildungsplätze enthalten. ({16}) Diese Regierung hat durch ihre Garantien - Aufschwung, Lehrstellen - eine große Verantwortung übernommen. Diese Regierung muß in diesen Tagen eingestehen, daß beides, Lehrstellengarantie, Aufschwunggarantie, Propagandamanöver waren. ({17}) Mir hilft nun das Eingeständnis wenig, und auch den Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz haben, hilft das sehr wenig. Wir bieten uns an, ein aktives Ausbildungsprogramm nach dem Muster unserer Vorschläge - in Gesprächen mit Ihnen - auch unter Opfern der Bevölkerung durchzusetzen, weil wir glauben, daß das besser ist, als wenn wir jetzt Scheingefechte machen. Nehmen Sie dieses Angebot der Opposition auf! Wir appellieren an Sie: Lassen Sie jetzt Propagandaaktionen wie jene in der „Bild"-Zeitung, die wirklich nichts bringen, helfen Sie mit, daß ein Beschäftigungs- und Ausbildungspakt in der Bundesrepublik zwischen allen Gruppen durchgesetzt wird! Herr Bundeskanzler, ohne diese Wende qualifiziert Sie der Haushalt nur als Kanzler der Geldbesitzer, der Arbeitslosigkeit und der Lehrstellenlüge, nicht als Kanzler der Betroffenen. ({18})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Althammer.

Dr. Walter Althammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der etwas eigenartige Abgang meines Vorredners ist eigentlich bezeichnend für die Art, wie man in diesem Hause nicht diskutieren sollte. ({0}) Aber das erinnert sehr lebhaft daran, daß es der gleiche Kollege Roth war, der das große Verdienst hat, auf dem Münchner SPD-Parteitag im vorigen Jahr den Grabstein für die alte Koalition gesetzt zu haben. Graf Lambsdorff hat dann eigentlich nur noch den Nachruf zu dieser Sache geschrieben. ({1}) Wenn man jetzt einmal vergleicht, was die SPD bisher hier an Vorschlägen gebracht hat, dann muß man und kann nur feststellen: totale Verwirrung. ({2}) Auf der einen Seite macht Minister Posser im größten Bundesland der Bundesrepublik einen noch viel extremeren Konsolidierungskurs als die Bundesregierung, auf der anderen Seite erklärt der SPD-Sprecher für Finanzen, Kollege Apel, er sei gegen Steuersenkungen, und dann kommt Herr Ministerpräsident Börner und verlangt im Bundesrat eine ganz massive Steuersenkung in Form der Anhebung des Freibetrages für Arbeitnehmer auf 1 000 DM. ({3}) Wenn wir dann noch hören, daß z. B. Herr Apel verlangt hat, den Bundesbankgewinn jetzt für Ausgaben einzusetzen, dann fragen wir uns: Welche verheerenden Wirkungen würde eine solche Maßnahme in Richtung auf die Konsolidierung der Staatsfinanzen haben, die Sie j a selber unterstützen? Ich darf noch ein Zweites sagen. Wenn jetzt als das große Patentrezept von seiten der SPD eine große Zinsverbilligungsaktion vorgeschlagen wird, dann sollte man sich einmal die Zeit nehmen, nachzulesen, was die Deutsche Bundesbank schon vor Jahren an Bedenken gegen eine solche Aktion vorgetragen hat: Zinsverbilligungen verzerren die Konkurrenzchancen und verzerren die Marktwirtschaft; Zinsverbilligungen großen Ausmaßes führen möglicherweise zu schweren Fehlleitungen von Kapital. Man kann sagen: Im Grunde ist es also eine indirekte Investitionslenkung. Deshalb sind wir nicht dafür, derartige Rezepte weiter zu verfolgen. Aber eines sollte doch klar sein:

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?

Dr. Walter Althammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das jetzt im Zusammenhang fortführen; später dann vielleicht, Herr Ehrenberg. ({0}) - Nein, das wird gar nicht peinlich, Sie haben sicher nachher noch Gelegenheit. Ich wollte den folgenden Gedanken noch weiterführen. Die SPD sollte sich darüber klarwerden, ob sie uns vorwerfen will, wir würden untätig bleiben, oder ob sie unser Programm aktiv attackieren will. Aber beides kann sie wohl nicht tun: Sie kann nicht im gleichen Atemzug uns Untätigkeit vorwerfen und im nächsten Satz dann alle Maßnahmen, die wir vorhaben, kritisieren. Ich darf deshalb nur ganz kurz unser Programm noch einmal zusammenfassen. Der erste Punkt ist der, daß wir einfach Aufräumungsarbeiten zu leisten hatten. Wir fanden ja einen derart desolaten Zustand vor, daß es schon ein Kraftakt sondergleichen war, sofort nach der Regierungsübernahme wenigstens die sausende Talfahrt, in der wir uns befanden, einigermaßen zu bremsen. ({1}) Wir haben dann als nächste Priorität die Konsolidierung der Staatsfinanzen gesetzt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der wichtigste Beitrag des Staates zum Aufschwung ist die Ordnung seiner Finanzen. Wir danken dem Herrn Bundesfinanzminister ausdrücklich dafür, daß er auch in einem physischen, persönlichen Einsatz diese gewaltige Aufgabe mit dieser Energie und diesem Einsatz und diesem Erfolg angepackt hat. ({2}) Nachdem wir jahrelang erlebt haben, daß die Rezepte der SPD in Richtung staatlicher Wirtschaftslenkung, in Richtung staatlicher Programme nicht nur fehlgeschlagen waren, sondern die Lage immer mehr verschlimmert haben, haben wir uns dafür entschieden, mehr Freiräume, mehr Möglichkeiten für die Privatwirtschaft zu Investitionen zu schaffen. Ich möchte jetzt auch ein ganz deutliches Wort zu den Diffamierungsversuchen, die Herr Kollege Roth am Schluß auch wieder an die Adresse des Bundeskanzlers gerichtet hat, sagen. Wir schaffen solche Investitionsmöglichkeiten für die Unternehmen. Gerade Sozialdemokraten sollten wissen, daß zu den Unternehmen nicht nur der Eigentümer, nicht nur das Management, sondern vor allem die Arbeiterschaft, die Belegschaft gehören. ({3}) In diese Richtung gehen unsere Bemühungen. Herr Kollege Roth, wenn Sie auf der einen Seite sagen, Sie wollten sachlich argumentieren, und im nächsten Satz dann sagen, es sei im Wahlkampf von uns eine Lüge verbreitet worden: Ich habe kein Plakat der CDU/CSU gesehen, auf dem gestanden hät1254 te: „Im September 1983 wird der Aufschwung erreicht sein." Im Gegenteil, wir haben in allen Versammlungen, bei allen Reden gesagt, daß vor unserem Volk ein schwerer, langer Weg liegen wird, der nicht in einem Jahr und auch nicht in mehreren Jahren das aufarbeiten kann, was in 13 Jahren schiefgelaufen ist. ({4}) Vielleicht ergibt sich für den Weg, den wir zu gehen haben, auch aus der Geschichte, wie wir eigentlich in die Misere hineingeraten sind, ein sehr guter Hinweis. Wie hat es denn begonnen? Es hat doch damit begonnen, daß Anfang der 70er Jahre ein ganz gewaltiger Inflationsboom in unserem Land zu verzeichnen war. Wenn Sie sich heute ansehen, wie die Preissteigerungsraten der letzten Monate waren, dann stellen Sie fest, daß wir, die Bundesrepublik Deutschland, wieder zu einem der stabilsten Länder der Welt geworden sind. ({5}) Dies ist einer der grundlegenden Fakten, die wir brauchen, um wieder den Ansatz für den Aufschwung zu erreichen. ({6}) Der zweite Punkt ist, daß wir mit Energie versuchen müssen, die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen: denn gerade auch von den völlig zerrütteten Staatsfinanzen sind die negativsten Einflüsse auf unsere Wirtschaftsentwicklung ausgegangen. Ich kann nur staunen, wenn sich Herr Roth hier hinstellt und sagt, die öffentliche Hand sollte riesige Einstellungsaktionen unternehmen und damit den Apparat der öffentlich Bediensteten noch weiter aufblähen. Herr Roth muß gestern gehört haben, welche Zahlen der Bundesfinanzminister genannt hat, was allein Bund, Länder und Gemeinden heute schon an Personalkosten aufzubringen haben. Von der Bundesbahn will ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht reden. Nun etwas zur Frage des Wirtschaftswachstums. Wir haben immerhin erreicht, daß die sausende Talfahrt, die uns dieses berühmte Wort vom „Minuswachstum" beschert hat, aufgehalten wurde. Ich meine, wenn wir jetzt beginnen, eine vernünftige, gesunde Zuwachsrate zu haben, dann ist das schon ein erster Erfolg. ({7}) Eines wollen wir allerdings unter gar keinen Umständen: Wir haben es abgelehnt, dem kranken Patienten, den wir übernommen haben, Aufputschmittel zu geben, die vielleicht für kurze Zeit eine Scheingenesung hervorgerufen, dann aber den weiteren Absturz gebracht hätten. ({8}) Wir wollen es unternehmen, in einer beharrlichen, mittelfristig angelegten Arbeit dieses Programm und diese Aufgabe anzugehen. ({9}) Wenn immer wieder kritisiert wird, daß wir diesen Weg über Steuererleichterungen und Entlastungen der Privaten gehen wollen, dann müßte auch der SPD eines klar sein: Nur solide, nur rentable Unternehmen können Arbeitsplätze halten und neue Arbeitsplätze schaffen. Gerade die Pleitewelle der letzten Jahre hat uns doch auch gezeigt, wie auf diesem Weg eine ganz gewaltige Zahl von Arbeitsplätzen verlorengehen kann. Als weitere Konsequenz der Preisstabilität, der Konsolidierung der Staatsfinanzen und der wachsenden Investitionsneigung wird sich der Abbau der Arbeitslosigkeit ergeben. Das Ende des Anstiegs der Arbeitslosenzahlen, das wir im August im Vergleich zu den Vorjahren feststellen konnten, ist doch, wenn ich es auch nicht überbewerten will, immerhin ein Lichtblick in dieser Richtung. Herr Kollege Roth hat es wieder notwendig gefunden, den Herrn Bundeskanzler wegen seines Engagements bei den Ausbildungsplätzen zu attackieren. ({10}) Ich muß sagen: Ich finde es eigentlich traurig, ({11}) dies einem Bundeskanzler vorzuwerfen, der sich als erster ganz persönlich engagiert hat, der bei der Industrie, beim Handwerk erreicht hat, daß neue, zusätzliche Anstrengungen unternommen wurden. Es wurden nicht nur 30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zugesagt und zur Verfügung gestellt, sondern der Bundeskanzler hat immerhin auch bewirkt, daß sich heute Publizitätsorgane - nicht nur die „Bild"-Zeitung, sondern auch andere Zeitschriften - eingeschaltet haben. Er hat mit seinem persönlichen Engagement erreicht, daß Privatpersonen initiativ wurden. Wir haben es in unseren Wahlkreisen doch alle erlebt, daß Leute kamen und sagten: Hier gibt es noch eine Möglichkeit, dort könnte man noch etwas tun. ({12}) Dann stellen Sie sich von der SPD hier hin und machen nur in Häme und meinen, es wäre ein Triumph für Sie, wenn diese Bemühungen um mehr Ausbildungsplätze nicht erfolgreich wären. ({13}) Ich möchte noch einen Punkt im Bereich der notwendigen Einsparungen ansprechen, der für uns sehr, sehr schwerwiegend ist. Ich muß sagen, rückschauend ist es für mich auch heute noch imponierend, wie die deutsche Wählerschaft am 6. März 1983 auf unseren Appell reagiert hat, nun anzupakken, nicht auf Versprechungen zu hören, sondern bereit zu sein, auch Opfer auf sich zu nehmen, um in unserem Land wieder auf festen Boden zu kommen. Dieser Appell ist von den Wählern honoriert worden. Für uns ist diese Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, ihren Teil zur Konsolidierung unseres Staatshaushalts beizutragen, die Verpflichtung, jetzt nicht in den Bemühungen nachzulassen, diesen Weg konsequent weiterzugehen. Natürlich müssen von allen Seiten Opfer erbracht werden. Dabei gab es in den letzten Wochen einen Punkt, der sehr ausführlich diskutiert worden ist. Das ist der Bereich der Familienpolitik. Hierzu hat auch der bayerische Ministerpräsident in der Tat sehr bemerkenswerte Vorschläge gemacht. Die bayerische Staatsregierung hat sich im Bundesrat dafür eingesetzt, unter Umständen eine Verbesserung dessen zu finden, was im Haushaltsbegleitgesetz zu diesem Komplex niedergelegt worden ist. Damit überhaupt keine Unklarheiten aufkommen, möchte ich zwei Dinge nachdrücklich feststellen. Erstens. Die Sorge um eine Verbesserung des Familienlastenausgleichs ist eine Sorge, die die gesamte Fraktion der CDU/CSU einhellig teilt. In diesem Bereich will sie etwas tun. ({14}) Ich bin überzeugt, daß unser Koalitionspartner in dieser Frage grundsätzlch genauso denkt. Zweitens möchte ich feststellen: Die gesamte Fraktion der CDU/CSU, auch die CSU-Landesgruppe, ist sich natürlich völlig einig darin, daß der Rahmen der Einsparungsvorschläge unter allen Umständen erhalten werden muß. ({15}) Bei den anstehenden Beratungen werden wir versuchen, innerhalb dieses Rahmens die bestmögliche Lösung zu finden. Wir sind aber weitergegangen. Unser Fraktionsvorsitzender hat eine Sonderkommission zur Verbesserung des Familienlastenausgleichs eingesetzt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einige grundsätzliche Hinweise zu geben, die zeigen, in welche Richtung diese Verbesserung des Familienlastenausgleiches gehen könnte. Wir sind überzeugt - das ist der erste Punkt -, daß wir eine Fehlentscheidung der alten Koalition, die auf Rechnung der SPD geht, korrigieren müssen. Wir müssen das duale System wiederherstellen. ({16}) Duales System heißt, daß die Familien sowohl auf dem Steuersektor als auch im Leistungsbereich unterstützt werden müssen. Auf dem Steuersektor gilt das Prinzip der Steuergerechtigkeit, d. h. der einzelne Bürger und damit auch die Familie müssen nach ihrer Leistungskraft besteuert werden. Es ist einfach eine Tatsache, daß ein Ehepaar mit einem Kind oder mehreren Kindern bei der Besteuerung nicht so leistungsfähig ist wie eine Einzelperson oder ein kinderloses Ehepaar. Wir werden daher auf diesem Sektor in dieser Legislaturperiode etwas Entscheidendes unternehmen. Der Herr Bundeskanzler hat diesen Punkt ja bereits in seiner Regierungserklärung angesprochen. Der zweite Punkt: Wir werden im Steuersektor die Benachteiligung der sogenannten Alleinerziehenden korrigieren. Hierzu liegt ja ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vor. Es hat einen Termin gesetzt. Wir werden darüber hinaus - das ist sehr, sehr wichtig - den Beschluß realisieren, den die Fraktion der CDU/CSU gefaßt und den die Koalitionsregierung bestätigt hat, nämlich bis zum 1. Januar 1987 den Mutterschaftsurlaub und das Mutterschaftsgeld für alle Mütter einheitlich und gleichmäßig einzuführen. ({17}) Ich freue mich ganz außerordentlich, daß der Herr Bundesfinanzminister gestern in seiner Rede ausdrücklich bestätigt hat, in der mittelfristigen Finanzplanung seien bereits die Mittel für die Realisierung dieses Zieles eingesetzt. Der nächste Punkt ist ebenfalls sehr, sehr wichtig: Wir müsen einen Weg finden, den jungen Familien, die sich für ein Kind oder mehrere Kinder entschieden haben, auch finanziell unter die Arme zu greifen. In den ersten Jahren einer Ehe entscheidet es sich, ob eine Familie Kinder haben will. Das ist für unser gesamtes Volk von außerordentlicher Bedeutung. Wir werden die Zusammenarbeit mit den Ländern und den Gemeinden suchen. Wir werden versuchen, hier einen Weg zu finden, um in diesem wichtigen Bereich voranzukommen. Es gibt noch weitere Punkte, z. B. die Regelung der Renten von Müttern für Zeiten, in denen sie nicht berufstätig sind. ({18}) Wir wollen Hilfsmaßnahmen zu § 218 entwickeln. In der Bundesrepublik Deutschland sollte eigentlich keine werdende Mutter aus finanziellen oder sonstigen sozialen Gründen genötigt sein, ein Kind, das sie gerne bekäme, nicht zur Welt zu bringen. ({19}) Wir werden versuchen, weitere flankierende Maßnahmen im Bausektor und in anderen Bereichen herbeizuführen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die erste Lesung des Bundeshaushalts ist immer auch eine allgemeine Aussprache über grundsätzliche politische Fragen. Ich möchte dieser Generaldebatte, die im weiteren Verlauf des heutigen Tages einsetzen wird, nicht in umfassender Weise vorgreifen, aber ich sehe mich als ein langjähriger Kollege unseres Bundesinnenministers Dr. Zimmermann veranlaßt, hier zu dieser beginnenden Kampagne gegen unseren Bundesinnenminister etwas zu sagen. Wir haben den Eindruck, daß die Tatsache, daß der Bundesinnenminister eine Reihe von ganz vordringlichen Fragen sofort und mit Energie angepackt hat, für manche Leute bei uns im Lande und besonders für manche politische Gruppierungen Veranlassung ist, mit allen Mitteln zu versuchen, diesen Minister an seiner Arbeit zu hindern. Ich bedaure es ganz außerordentlich, daß ein bedauerlicher Todesfall, der sich in Berlin ereignet hat, hier nun dazu herhalten soll, eine solche Kampagne fortzuführen. Ich habe mir die Einzelheiten dieses Vorganges sehr genau angesehen. Ich möchte dem, was heute nachmittag dazu zu sagen ist, im allgemeinen nicht vorgreifen. Ich weise nur auf folgendes hin: Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einem gesicherten und intakten Rechtsstaat. Drei verschiedene Gerichte haben sich wiederholt mit diesem Fall befaßt, das Berliner Kammergericht, eines der angesehensten Oberlandesgerichte der Bundesrepublik Deutschland, ({20}) dreimal; das Bundesverfassungsgericht - Herr Fischer, wenn Sie dagegen auch etwas einzuwenden haben ({21}) hat den Fall ebenfalls behandelt und genau wie das Kammergericht festgestellt, daß einem Auslieferungsverfahren nichts im Wege steht. ({22}) - Wir können uns gerne heute nachmittag darüber unterhalten. ({23}) - Ich habe j a die Unterlagen. Sie können sich beruhigen. ({24}) - Ja, natürlich, es hat die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, aber das ist doch eine Aussage in der Sache. ({25}) - Wir können heute nachmittag weiter darüber diskutieren. ({26}) Die europäische Menschenrechtskommission hat sich ebenfalls mit dem Fall befaßt. ({27}) Sie werden erleben, wie wir diese Dinge absolut klären. Ich stelle hier fest, unser Bundesinnenminister hat sich in dieser Sache absolut korrekt verhalten, und es besteht überhaupt keine Veranlassung, ihm einen Vorwurf zu machen. ({28}) Ich möchte hier ein weiteres als meine persönliche Meinung klipp und klar zum Ausdruck bringen. Wenn jetzt über die Probleme des Asylrechts und des Auslieferungsverfahrens gesprochen wird, dann darf es meines Erachtens nicht dahinkommen, daß Straftäter von irgendwoher unter dem Vorwand, hier bei uns in der Bundesrepublik Asyl zu suchen, ihrer Strafverfolgung entzogen werden können. ({29}) - Herr Schily, hören Sie jetzt einmal zu und reden Sie nicht immer dazwischen. ({30}) Wir lehnen es in der Bundesrepublik Deutschland ab, politische Auseinandersetzungen mit Gewalt und mit Morden zu führen. ({31}) Wir lehnen es auch ab, daß im Ausland mit diesen Mitteln gearbeitet worden ist. ({32}) Ich stelle hier ganz eindeutig klar, diese Aussage bezieht sich nicht auf den konkreten Fall. Hier sind endgültige Feststellungen nicht getroffen worden. Wir wenden uns aber dagegen, daß jetzt bei uns Verhältnisse geschaffen werden, daß sich möglicherweise Straftäter aus der ganzen Welt mit der Schutzbehauptung, Asyl zu suchen, zusammenfinden. ({33}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte unserem Bundesinnenminister ausdrücklich Dank dafür sagen, daß er im Bereich des Umweltschutzes vom ersten Tag seiner Tätigkeit an mit Energie und Erfolg vorgegangen ist. ({34}) Die Damen und Herren von den GRÜNEN fürchten vielleicht, daß ihnen hier eines ihrer Hauptgebiete verlorengeht und sie dann gar nicht mehr wissen, wohin sie greifen müssen, um wieder Publizität zu haben. ({35}) Es ist j a ein merkwürdiger Vorgang, daß GRÜNE und einzelne Automobilbosse Arm in Arm versuchen, unseren Bundesinnenminister an etwas Notwendigem zu hindern. ({36}) Es ist doch eine großartige Sache, daß sich alle Unkenrufe, es werde dem Bundesinnenminister nicht gelingen, den Weg zu einer Entgiftung unserer Autoabgase gemeinsam in Europa zu gehen, allmählich als illusorisch herausstellen. Hier zeichnet sich einer der größten Erfolge dieser Bunderegierung und des Bundesinnenministers ab. ({37}) - Seien Sie ein bißchen vorsichtig, sonst wird man Ihnen vielleicht vorhalten, daß auch diese Ihre Erwartungen, dieses Programm könnte scheitern, danebengehen. Sie sollten vielleicht den Bundesinnenminister in seinen Bemühungen, diese umweltfreundlichen Maßnahmen durchzuführen, ein bißchen unterstützen. ({38}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf abschließend feststellen, daß der Bundesinnenminister in seiner Arbeit das volle Vertrauen der Fraktion der CDU/CSU hat, und ich darf ihm zusagen, daß wir ihn weiterhin nachdrücklich unterstützen werden, wenn es um die wichtigen Aufgaben geht, die er zu bewältigen hat. - Ich danke Ihnen. ({39})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Althammer, wenn Herr Roth den Grabstein gesetzt hat und ich den Nachruf geschrieben habe, hat Herr Albrecht wahrscheinlich das Jahresgedenken geliefert. ({0}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir - Parlament und Regierung - sind uns darüber einig, daß die Fülle erdrückender Probleme es manchmal außerordentlich schwierig macht, einen klaren Weg einzuhalten, ja, einen klaren Weg auch nur zu beschreiben und sich in einer Fülle von Problemen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das gilt ganz sicherlich dann, wenn eine Regierung am Anfang ihrer Tätigkeit steht und zu Beginn einer Legislaturperiode arbeitet. ({1}) - Ich sage ja: diese Regierung. Meine Damen und Herren, wir haben, wenn ich es recht sehe, drei Bereiche, die unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern und die auch schnelle Entscheidungen erfordern. Das ist die Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen - das wird das Thema der Parlamentsdebatte der nächsten Woche sein -, das ist die Frage der äußeren Sicherheit, und das ist die Frage der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Wenn ich hier in Abwesenheit des Bundesaußenministers - ich füge hinzu: des Parteivorsitzenden der Freien Demokraten - einige Worte auch zum Thema der äußeren Sicherheit sage, dann auch deswegen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß alles das, was wir wirtschaftlich, beschäftigungspolitisch und sozialpolitisch zu schaffen trachten, nichts nützt und nicht viel wert ist, wenn wir unsere äußere Sicherheit gefährden lassen und nicht für sie eintreten. ({2}) Wir haben vor der Bundestagswahl am 6. März gesagt, daß die Sozialdemokratische Partei nach unserer Auffassung nicht mehr willens ist, nicht mehr in der Lage ist, nicht mehr die Kraft hat, die Politik fortzusetzen, die sie selbst entwickelt hat und die früher vertreten worden ist. Wir haben gesagt: Welches Ergebnis auch immer in Genf herauskommen wird, die sozialdemokratische Partei wird zu einem Ja zur Stationierung unter welchen Bedingungen auch immer nicht mehr die Kraft aufbringen. Wir fühlen uns durch die Entwicklung der letzten Monate in dieser Überzeugung, in dieser betrüblichen Erkenntnis - wir sind darüber keineswegs erfreut -, bestätigt. Seit der Rede des Kollegen Bahr vom 15. Juni hier in diesem Hause, in der mit einem hohen Maß von Intelligenz, aber ich muß schon sagen - ich bitte mir den Ausdruck zu verzeihen -, mit fast diabolischer Intelligenz ({3}) die Geschäftsgrundlagen des NATO-Doppelbeschlusses nachträglich in Frage gestellt worden sind, ({4}) seit diesem Tage, meine Damen und Herren, wissen wir, ({5}) daß in der Frage der äußeren Sicherheit mit Ihrer Unterstützung und mit einer Zusammenarbeit nicht mehr gerechnet werden kann. ({6}) Von diesem Platz aus, Herr Kollege Apel - und Ihre Position ist ja der meinen durchaus nahe -, hat Hans-Dietrich Genscher am 13. Oktober vergangenen Jahres nüchtern festgestellt, es sei in der sozialliberalen Koalition schließlich aussichtslos geworden, tragende Elemente unserer Sicherheitspolitik noch durchzusetzen. ({7})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Nein, ich will keine Zwischenfragen beantworten. Wir sind mit der Redezeit so beschränkt, Herr Präsident, daß ich das heute leider nicht kann. Meine Damen und Herren, wir wollen den Erfolg der Genfer Verhandlungen. Wir wünschen eine Vereinbarung, die es dem Westen erlaubt, in der Bun1258 desrepublik keine neuen Raketen aufzustellen. Aber wir wissen, daß allein die Andeutung einer Terminverschiebung den Druck aus diesen Verhandlungen nimmt, den wir brauchen. Ich stelle jedenfalls für meine Freunde und mich fest, daß die Haltung der Sozialdemokratischen Partei - ich will hier gar nicht Herrn Lafontaine usw. erwähnen oder einführen - zur Sicherheitspolitik die Richtigkeit der Wählerentscheidung vom 6. März Tag für Tag bestätigt. ({0}) Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Herr Kollege Apel hat gestern eine Rede gehalten, zu der der Bundesfinanzminister Klage geführt hat, daß fünf Spiegelstriche das einzige seien, was sich - wenn auch mit zu wenig - konkreten Inhalten beschäftigen. Es ist leicht, das aufzufüllen, wenn man sich die Vorschläge, die Sie, Herr Roth, und Ihre Kollegen in den vergangenen Wochen zur Wirtschafts- und zur Beschäftigungspolitik gemacht haben, vor Augen führt. Herr von Dohnanyi hat von Zinssubventionen der Bundesbank gesprochen. Sie haben die Vorschläge von Herrn Ehrenberg erwähnt. Herr Scherf hat für die SPD-regierten Länder ein beschäftigungspolitisches Programm mit jährlichen Ausgaben bis zu 45 Milliarden DM vorgestellt; das ist ein Fünftel des Bundeshaushalts. Es wird eine Diskussion über die 35Stunden-Woche geführt, aber nicht mit so differenzierter Lohnausgleichsbetrachtung; draußen im Lande klingt das anders, Herr Roth. Auch Sie haben kürzlich im Fernsehen festgestellt, 35 Stunden seien wahrscheinlich auch noch zuviel, es müsse noch kürzer werden. ({1}) Und es wird eine Diskussion geführt, die zwangsläufig auf immer mehr Steuern, immer mehr Schulden, immer mehr Abgaben hinausgeht, die staatliche Intervention und Regulierung fordert. Der Wähler hat Ihnen, meine Damen und Herren - das war wohl die Hauptgrundlage der Wahlentscheidung vom 6. März -, gerade die wirtschaftspolitische Kompetenz abgesprochen. Es sieht nicht so aus, als wollten Sie daraus Folgerungen ziehen. Was wir brauchen, ist - ich wiederhole es, wie ich es im vorigen Jahr formuliert habe - eine in sich widerspruchsfreie Wirtschaftspolitik. Das bedeutet nicht nur den eng begrenzten Bereich der Wirtschaftspolitik, wie sie normalerweise verstanden wird, sondern eine in sich widerspruchsfreie Wirtschafts-, Haushalts-, Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. ({2}) Das ist der Kern dessen, was notwendig ist. Es darf nicht der eine Politikbereich dem anderen widersprechen. Hier stelle ich fest: Die neue Koalition geht mit gleichen Grundauffassungen, mit parallelen Denkansätzen an diese Aufgaben heran. Es wird am selben Strick gezogen, und zwar am selben Ende. Das ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß wir die Probleme lösen können. ({3}) Wenn Herr Kollege Apel gestern feststellte - ich zitiere diesen einen Satz wörtlich -, von konjunktureller Wende könne nicht die Rede sein, dann setze ich dem entgegen: Der wirtschaftliche Aufwärtstrend nach dreijähriger Stagnation bestätigt die Richtigkeit des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurses. ({4}) - Herr Ehrenberg, Sie können die Zahlen ebenso gut lesen wie ich. Wir sind im Jahr 1983 aus den roten Zahlen herausgekommen, in denen wir 1982 beim Bruttosozialprodukt noch mit minus 1,8% gesessen haben. Das ist eine deutliche Verbesserung. Das ist zwar noch längst nicht zufriedenstellend, aber Sie können doch nicht sagen, es sei keine Besserung eingetreten. Sie können doch nicht das mühsam entstehende Vertrauen und die Zuversicht durch solche Argumentation zerreden und kaputtmachen. ({5}) Die Entwicklung des Jahres 1983 ist besser, als sie erwartet wurde. Es ist unerhört, Herr Roth, wenn Sie sagen, wir hätten die Wahlbevölkerung belogen. Im Jahreswirtschaftsbericht sind die Zahlen, die jetzt vorliegen, geringer angegeben worden. Wir haben vor der Wahl geringere Prognosen gestellt, als es die Zahlen heute ausweisen, und zwar beim Bruttosozialprodukt, bei den Preisen, bei der Leistungsbilanz und beim Arbeitsmarkt. ({6})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Nein, Herr Präsident, ich habe vorhin gesagt, daß ich heute keine Zwischenfragen beantworte. Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die Lage auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor völlig unbefriedigend ist. Daran besteht gar kein Zweifel. - Herr Roth, ich wiederhole auch hier: Ich bin der Überzeugung, daß wir trotz aller Anstrengungen bis Ende der 80er Jahre leider mit zu hohen Arbeitslosenzahlen werden leben müssen. ({0}) - Herr Westphal, ich komme noch darauf zurück, welche Wege wir gehen werden. Wir haben diesen wirtschaftlichen, konjunkturellen Aufschwung des Jahres 1983 - wie jedermann weiß - durch die verstärkte Binnennachfrage erreicht. Das widerspricht allem, was Sie uns vorgeworfen haben: Wir zerschlügen die Nachfrage, die Binnennachfrage könne überhaupt nicht funktionieren. Aber ich füge gleich hinzu: Im Export gibt es sehr viele Fragezeichen, gibt es Löcher. Den sich selbst tragenden dynamischen Wirtschaftsaufschwung, das Rad, das dann von selber weiterrollt, haben wir noch nicht erreicht, kann ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit seiner Exportabhängigkeit nicht erreichen, wenn es im Auslandsgeschäft nicht besser anläuft und nicht besser läuft, als das zur Zeit der Fall ist. Es gibt zwar bessere Zahlen im Juni und im Juli, aber die eine Schwalbe macht noch keinen dauerhaften Sommer. Meine Damen und Herren, die Aussichten für das Jahr 1984 - das Jahr 1983 ist konjunkturpolitisch sicher im wesentlichen gelaufen - sind ungewöhnlich schwer zu beurteilen. Wir übersehen die Risiken, die es dort gibt, nicht. Ich will nur ein paar nennen: immer stärker interventionistische EG-Politiken; Regionalpolitik; Strukturpolitik - alle diese Ansätze wirken gegenläufig zu dem, was wir hier für richtig halten -; die Wechselkurse, den hohen Dollarkurs, der sich bei den importierten Gütern auch auf die Preise auswirkt - jedermann weiß das -; die Verschuldungsprobleme vieler unserer Kundenländer; wachsender Protektionismus und auch das, was Herr Apel gestern gesagt hat: die US-Konjunktur, aber mehr noch das US-Haushaltsdefizit und die US-Zinsen. Meine Damen und Herren, wer uns vorwirft, wir hätten dies nicht deutlich genug zur Sprache gebracht, den hätte ich eingeladen, am Konferenztisch in Williamsburg dabeizusitzen und mithören zu können, mit welcher Deutlichkeit und wie drastisch wir dieses Problem angesprochen haben. Aber ich gebe ja Herrn Apel recht, der auch gesagt hat: Bis zu den Präsidentschaftswahlen in den USA werden wir leider keine Änderungen erwarten können. Das heißt nicht, daß wir uns hinsetzen und nur klagen könnten; das heißt, wir müssen eigene Anstrengungen unternehmen, um unseren Manövrierspielraum gegenüber der Zinsentwicklung in den Vereinigten Staaten durch bessere Grundtatsachen unserer Wirtschaft so groß zu gestalten, wie das nur irgend möglich ist. Abkoppeln - darin bin ich mit Herrn Apel einig - geht nicht. ({1}) Die objektive Lage und die notwendige Festigung des Vertrauens erfordern eine konsequente Fortsetzung unserer Politik. Daß die Aufgaben, die uns gestellt sind und gestellt waren, nicht in wenigen Monaten gelöst werden können, weiß jeder. Wir befinden uns in einer Langstreckendisziplin und nicht in einem 100- oder 200-Meter-Sprint. ({2}) Das Kabinett hat vorgestern noch einmal einmütig die Grundtatsache bestätigt, daß wir an dieser Politik festhalten. Die Rede des Bundesfinanzministers gestern hat völlig klargemacht, an welchem Kurse wir festhalten und daß wir diese Politik fortsetzen. Das Kabinett hat auch noch einmal gesagt - ich halte das angesichts der Diskussion in unserem Lande für wichtig -: Arbeitslosigkeit, Wiederherstellung besserer Beschäftigungsverhältnisse ist das zentrale Problem, ist das Problem Nr. 1, mit dem wir uns zu beschäftigen haben; es ist das vorrangige Problem. Aber dann fordere ich auch alle auf zu erkennen, daß, wenn es ein vorrangiges Problem gibt, die anderen Probleme nachrangig sind, nachrangig sein müssen und sich am Erreichen dieses Hauptziels zu orientieren haben. ({3}) Die Antwort auf unsere Beschäftigungsprobleme muß lauten: Stärkung von Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft, ({4}) Steigerung von Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, Fortsetzung der Konsolidierung der Haushalte, Verringerung der Abgabenbelastung auch im steuerlichen Bereich, Verbesserung der unternehmerischen Ertragsperspektiven auch durch eine Lohnpolitik, die beschäftigungspolitische Mitverantwortung trägt, und eine Vertiefung des sozial- und wirtschaftspolitischen Dialogs mit Gewerkschaften und Arbeitgebern. Meine Damen und Herren, zu einigen Problembereichen in aller gebotenen Kürze ein paar Anmerkungen. In der Haushaltspolitik bestätigt uns jedermann national und international, daß beachtliche Konsolidierungsbeschlüsse gefaßt worden sind. Die Öffentlichkeit hat das erkannt, sie hat es verstanden, und das ist ein Vertrauen schaffendes Moment. Das hat auch Folgen für die Zinsentwicklung. Wir sind nicht glücklich darüber, daß die Zinsen in den letzten drei Monaten wieder gestiegen sind. Aber übers Jahr gesehen sind sie eben gesunken, obwohl die amerikanischen Zinsen nicht nur nicht gesunken, sondern sogar etwas heraufgegangen sind. Aber es ist dann auch notwendig, daß wir das, was die Bundesregierung haushaltspolitisch vorgeschlagen hat, ohne Abstriche umsetzen. Auf Sicht gesehen, wissen wir und haben wir gesagt: Die Zuwachsrate der Haushalte muß auch in Zukunft deutlich unter der nominalen Zuwachsrate des Bruttosozialproduktes bleiben. Auch dies ist eine Aufgabe, die nicht mit einem oder zwei Bundeshaushalten gelöst werden kann. Ich füge hinzu: Wir sparen nicht als Selbstzweck oder aus Selbstzweck. Es wäre unsinnig, zu glauben, dieses Sparen in sozialpolitischen Bereichen machte uns Spaß, machte uns Vergnügen. Wir sparen, meine Damen und Herren, weil nur eine solide Haushaltspolitik eine Basis für die Besserung der Beschäftigungslage schaffen kann. ({5}) Herr Apel, es ist nicht richtig, zu sagen, wie Sie es gestern getan haben, der Haushalt nehme Arbeitslosigkeit gelassen hin. Das Gegenteil ist richtig: Eine Staatsquote von mehr als 50 % ist das größte Hindernis für arbeitsplatzschaffende Investitionen. ({6}) Hier, meine Damen und Herren, liegt der methodische und politische Unterschied: Sie glauben, daß Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff Staatsintervention hilft. Aber Sie sind damit beim Wähler am 6. März gescheitert, und Sie würden auch in der Praxis scheitern. Wir glauben ebenso an die Verantwortung des Staates, wir sind nicht für den Rückzug des Staates aus beschäftigungspolitischer Verantwortung. ({7}) Aber seine Verantwortung ist nicht, Bevormundung, Gängelei, Intervention zu schaffen, sondern Freiraum für Initiative, für Leistung von Arbeitnehmern und Unternehmern. ({8}) Deshalb, meine Damen und Herren, wird die Bundesregierung in der Steuerpolitik die Tarifreform angehen. Sie wird Anfang 1984 Zeitpunkt, Umfang und Bedingungen, so wie z. B. das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut es heute von uns erbeten hat, festsetzen. Dabei scheinen mir generelle Entlastungen notwendig zu sein, vor allem bei dem überproportional gewachsenen Anteil des Lohnsteueraufkommens und der Lohnsteuerbelastung, auch deshalb, um künftige Tarifverhandlungen noch in vernünftigen Grenzen halten zu können. Ich glaube, daß das Priorität vor gezielten Entlastungen haben muß. Über zwei Bedingungen wird man sich, hoffe ich, verständigen können: daß eine solche Tarifreform eine familiengerechte Besteuerung befürworten und stärken muß und daß es eine Entlastung der mittleren Einkommensschichten geben muß, der Leistungsträger der deutschen Wirtschaft. Um nicht mißverstanden zu werden: nicht etwa nur des gewerblichen Mittelstandes, nicht nur der Unternehmen, sondern auch der freien Berufe, der Facharbeiter, der Angestellten, der Selbständigen. Und wenn Sie wieder rufen, es sei eine Phrase: Leistung soll und muß sich in der Bundesrepublik Deutschland lohnen, wenn wir die Menschen bewegen wollen, Initiative zu entfalten und anzupacken. ({9}) Alles in allem: Wir wollen eine Politik, die Wachstumskräfte freisetzt. Wir sind - Herr Verheyen hat uns das gestern vorgeworfen - trotzdem nicht wachstumsgläubig. Ihr Vorschlag, Herr Verheyen, läuft darauf hinaus, die Industriegesellschaft abzuschaffen. Sie kommen mir vor wie ein Arzt, der einen erkrankten Patienten zu Heilzwecken umbringen will; das wird nicht funktionieren. ({10}) Wir wissen, daß unsere Probleme nicht konjunktureller, sondern struktureller Art sind. Wir wissen, daß die Wachstumsraten eben nicht 5 %, 6 % erreichen werden, Herr Roth - da sind wir uns ja ganz einig -, sondern daß wir darunterliegen werden. Deswegen wissen wir auch, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht über Wachstum allein möglich ist, sondern daß ein Bündel von Maßnahmen erforderlich ist. Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts. ({11}) Deshalb eben eine in sich widerspruchsfreie Wirtschaftspolitik. Dazu gehört auch die schwierige Aufgabe, die sozialen Sicherungssysteme weiter an das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen anzupassen; der Kollege Blüm wird morgen dazu etwas sagen. Es gehören aber auch flexiblere gesetzliche Regelungen zum Abbau ausbildungs- und beschäftigungshemmender Vorschriften dazu. Die Schutzbestimmungen, meine Damen und Herren, aus Vollbeschäftigungszeiten wenden sich heute in vielen Fällen gegen die, die man schützen wollte; sie wenden sich vor allem gegen die Arbeitslosen. Und dann muß eben gemeinsam überlegt werden, was hier zur Verbesserung getan werden kann. ({12}) Wir müssen uns über eine Korrektur solcher gesetzlichen Vorschriften unterhalten, die durch die Rechtsprechung zu vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnissen geführt haben. Der § 16 des Betriebsrentengesetzes, den wir hier in 2. und 3. Lesung noch im Jahre 1974 geändert haben, ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Rechtsprechung aus einer Gesetzgebung etwas anderes gemacht hat, als es der Gesetzgeber gewollt hat. Wir müssen uns darüber unterhalten, ob man das korrigiert. ({13}) Meine Damen und Herren, wir müssen eine vertiefte Diskussion - ich habe das in der Aussprache zur Regierungserklärung versucht, heute verbietet es mir die begrenzte Zeit - über Produktivitätsfortschritt, Rationalisierung, Arbeitsplatzverluste und deren Zusammenhang führen. Wir müssen uns gegen den falschen Denkansatz wehren, daß Produktivitätszuwachs, der über der Rate des Bruttosozialproduktszuwachses liegt, automatisch Arbeitsplätze kostet. Produktivitätszuwachs hilft uns, stärkt unsere Leistungsfähigkeit, unsere Wettbewerbsfähigkeit. Und, meine Damen und Herren, Produktivitätszuwachs, wenn er erst erarbeitet worden ist, kann ja auch verteilt werden, und zwar auch in Freizeit, nicht nur in Geld. ({14}) Bei der Freizeit geht es um die Frage der Arbeitszeitverkürzung; jawohl, meine Damen und Herren. Der Bundesregierung brauchen Sie nicht vorzuwerfen, daß sie Tabuhaltungen verteidige. Deutlicher als ich hat niemand andere aufgefordert, die Schützengräben der Tabuhaltung zu verlassen. ({15}) Ich bin auch nicht der Auffassung, daß der hundertjährige Trend zu kürzerer Arbeitszeit abgebrochen werden muß. ({16}) Ich bin jedoch ebensowenig der Auffassung, daß man ausgerechnet in unserer Lage mit Brachialgewalt und abrupt einen Riesenschritt tun und diese Verkürzung zwangsweise über alle Bereiche stülpen kann. Das wird nicht funktionieren. ({17}) Arbeitszeitverkürzung bleibt eine Angelegenheit der autonomen Tarifpartner. Sie kann Beiträge zur Lösung unseres Problems leisten, aber sie kann das Problem nicht lösen. Wer sich gegen Tabus wendet - da bin ich mit Ihnen einig, meine Damen und Herren von der Opposition -, der darf seine eigenen Forderungen nicht zur Glaubenslehre hochstilisieren. Sehen wir uns - ich muß das offen ansprechen - die Kampagne der IG Metall zur 35-Stunden-Woche an, lesen wir, was Herr Jansen in Sprockhövel auf der Tagung der IG Metall gesagt hat: Wir brauchen den Kampf um die 35-Stunden-Woche zur Erhaltung der gewerkschaftlichen Aktionsfähigkeit! Hier geht es um den Kampf und nicht mehr um das Ziel. Das ist nicht Interessenpolitik im Interesse der Arbeitnehmer. ({18}) Ich begrüße, daß der IG-Metall-Vorsitzende Loderer gesagt hat: Verrammeln wir uns bei unseren Positionen nicht. Ich begrüße auch, daß es im Rahmen des DGB andere Gewerkschaften gibt, die einen anderen Ansatz wählen. ({19}) Es muß eine offene Diskussion geführt werden, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung ist wie in der Vergangenheit dazu bereit. Die Flexibilität der Arbeitszeitgestaltung ist nötig, die Erweiterung bereits praktizierter Regelungen. Aber wichtig ist auch, daß es keine globalen Zwangsregelungen gibt, daß individuelle Wahlmöglichkeiten durch betriebliche und tarifvertragliche Vereinbarungen erhalten werden. Generell muß gewußt werden, meine Damen und Herren: Wer Arbeitsplätze teilen will, muß auch bereit sein, Einkommen zu teilen. ({20}) Ich will einige ganz kurze Bemerkungen zu den drei angesprochenen Problembereichen machen, die im Mittelpunkt des Interesses stehen. Herr Blüm - Entschuldigung, Herr Roth - ({21}) - Wie ich sehe, habe ich mit diesem Versprecher beide erfreut. Da bin ich sehr zufrieden. Meine Damen und Herren, der Stand der Entwicklung bei der Lösung der Probleme der Stahlindustrie kann wahrlich niemanden befriedigen. Dennoch können wir sagen, daß die letzte Sitzung des Ministerrates mit der Quotenverlängerung - zwar nur um sechs Monate, aber mit der Festschreibung des traditionellen deutschen Produktionsanteils - für uns, für die Industrie, auch für die Gewerkschaften, einigermaßen zufriedenstellend verlaufen ist. Es ist entscheidend für uns, daß der deutsche Produktionsanteil gesichert wird. Es ist auch entscheidend für uns, daß ein Zusammenhang zwischen Kapazitätsabbau und Subventionsgewährung akzeptiert und von der Kommission anerkannt wird. Das ist wichtig im Verhältnis zu unseren europäischen Partnern. Die Bundesregierung hält ihre Zusage selbstverständlich aufrecht - sie ist im Haushalt vorgesehen -, gemeinsam mit den Ländern der Stahlindustrie 3 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen. Wir wünschen uns, daß die Verhandlungen zwischen den Unternehmen zügiger vorankommen. Wir bemühen uns selbstverständlich darum - das ist keine Abstinenz, Herr Roth; aber es hat keinen Sinn, diese Dinge auf dem Marktplatz auszuhandeln; bitte begnügen Sie sich heute mit dieser Bemerkung -, Anschub zu geben und zu helfen, damit Verständigung zwischen den Unternehmen möglich ist. Auch wir wissen, daß die Probleme drängen, allein vom europäischen Fahrplan des Subventionskodex her. Zur Kohle kann ich mich heute, so wichtig das Thema ist und so gerne ich zu einer intensiveren Debatte zur Verfügung stehe, kurzfassen; denn jedem von Ihnen ist die Erklärung der Bundesregierung nach der Kabinettssitzung vom vergangenen Dienstag bekannt. Wir stehen vor dem Problem, meine Damen und Herren, daß die Förderkapazitäten, Förderhöhen und der Absatz nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind und daß die Kohlehalden in ganz unerfreulicher und bedrückender Weise wachsen. ({22}) - Nein, die sind nicht in Einklang zu bringen. Das heißt also, daß wir die Förderung an den Absatz anpassen müssen und daß die Förderung zurückgeführt werden muß. Wir werden uns in der Kohle-Runde vom 29. September mit allen Betroffenen, so wie bisher, zusammensetzen. ({23}) - Ich habe gesagt: Ich kann keine Ausnahmen machen, Herr Wolfram. Wenn ich allen sage „keine Zwischenfragen", darf ich auch bei Ihnen keine zulassen. ({24}) Meine Damen und Herren, wir werden uns mit allen Betroffenen, insbesondere mit der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie und dem Unternehmensverband, aber auch den Bergbauländern, am 29. September zusammensetzen. Wir haben diese Themen immer einvernehmlich lösen können. Und ich bin überzeugt: Wir werden das auch diesmal schaffen; denn wir gehen bei den Bergbau- und Kohlesubventionen von einer Grundposition aus, die für keinen anderen Wirtschaftszweig, in diesem Umfang jedenfalls, gilt. Die politische Entscheidung ist getroffen worden, die deutsche Steinkohle als die einzige Primärenergie, über die wir selbst verfügen, nicht absaufen zu lassen, sondern zu erhalten, auch aus sicherheitspolitischen Gründen. Das ist ein anderer Ansatz als in allen anderen Fällen. Aber, meine Damen und Herren, das subventionierte Exportieren von solcher deutschen Steinkohle ist schwer mit dem Gebot der Sicherung der eigenen Energiepolitik in Einklang zu bringen. Hier wird, auf Dauer jedenfalls, nicht abrupt, eine Änderung eintreten müssen, weil die daraus entstehenden Belastungen des Bundeshaushalts und der Länderhaushalte so nicht weiter getragen werden können. Wir haben noch einmal versichert - ich will auch das hier sagen -, daß wir selbstverständlich die Kokskohleförderung aufrechterhalten. Nur, wenn keine Kokskohle verkauft werden kann, weil die Stahlindustrie keine braucht und keine abnimmt, kann auch die Bundesregierung dies nicht ersetzen. ({25}) - Zur Verringerung der Importe will ich gern etwas sagen, Herr Wolfram. Ich bin gegen eine Verringerung der Importe, weil die Importe und die Importpolitik die Grundlage für revierferne Kraftwerke sind, vor allem aber, meine Damen und Herren, die politische Grundlage für die Zustimmung der revierfernen Länder zum Jahrhundertvertrag. Wer so wie Sie darauf drängt, die Importpolitik zu ändern, gefährdet den Jahrhundertvertrag und damit das wirkliche Standbein des deutschen Steinkohlenbergbaus. ({26}) Letzter Punkt, die Werften: Der Bürgermeister von Bremen ist hier anwesend. Herr Koschnick, ich begrüße die Art und Weise, wie Sie dieses Thema heute morgen in Ihrem „Deutschlandfunk"-Interview behandelt haben. Ich glaube, das wird der Sache gerecht. Ich biete Ihnen noch einmal für die Bundesregierung an, daß wir dieses Problem so einvernehmlich wie möglich angehen, trotz gelegentlicher Auffassungsunterschiede etwa im Bereich der Auftragshilfe. Der angestrebte Auftragseingang für das Jahr 1983 wird nach den Zahlen, die uns heute vorliegen, erreicht werden. Im Inlandsgeschäft sind auf der Basis von 12,5 % Reederhilfe, nicht 17,5 %, für 573 Millionen DM Anträge beim Bundesverkehrsminister gestellt worden. Da ist Luft drin, da sind auch vorsorgliche Anträge drin. Aber daß die 230 Millionen DM, die wir haben, abfließen, ist bei dieser Antragslage mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen. Die Entwicklung verläuft jedes Jahr fast parallel. Wir werden für 1984 - das steht im Haushalt - mehr Geld zur Verfügung stellen. Wir sind, trotz schwerer Bedenken - ich bin dem Bundesfinanzminister dankbar, daß er diese Bedenken überwunden hat -, großzügiger geworden in der Beurteilung der Risiken bei Exportbürgschaften, gerade im Schiffbau. Und wir haben, meine Damen und Herren, mit der Gemeinschaftsaufgabe einen wesentlichen Schritt aus unserer Initiative und erstmalig ohne die vorherige Zustimmung aller betroffenen Bundesländer auf Bremen zu getan. Es wird notwendig sein, daß wir im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe die Mehrheit dafür finden. Ich verstehe die Bedenken norddeutscher Küstenländer, Nachbarländer von Bremen. Das ist immer dasselbe bei Regionalpolitik, daß in der Bevorzugung einer Region andere eine eigene Benachteiligung sehen. Ich verstehe nicht ganz, Herr Bürgermeister, wie Ihr Hamburger Kollege, der sich so massiv überall für Sie ausgesprochen hat, als erster ausgerechnet für sein Land Nein erklären konnte. ({27}) Und ich sage auch, Herr Bürgermeister - lassen Sie mich das in aller Offenheit sagen -: Investitionszulage und Investitionsanreiz sind ein Ding, um Industrieansiedlungen zu bekommen. Ein unternehmensfreundliches - ich unterstreiche: nicht „unternehmerfreundlich" habe ich in Bremen gesagt, sondern „unternehmensfreundlich" - Klima ist eine zweite Sache. Und da allerdings, Herr Bürgermeister, muß ich Ihnen sagen: Es ist hinter Ihrem Rücken - nicht durch Sie selber; aber da sind Sie nicht nur Bote - in den letzten zwölf Jahren der Alleinherrschaft Ihrer Partei einiges in Bremen entstanden, was nicht viele Unternehmen nach Bremen lockt. ({28}) Und beinahe hätten Bürgerinitiativen mit kräftiger Unterstützung von Ihrer Partei, Gruppen Ihrer Partei - nicht der offiziellen Partei - auch noch die Daimler-Benz-Ansiedlung in Bremen verhindert. Und wie Sie dann aussähen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, Herr Bürgermeister. ({29}) Schließlich die Werftenfusion. Herr Roth, es ist nicht zutreffend, daß wir den Senat aufgefordert hätten, ein Konzept zu entwickeln. Das ist wahrlich nicht seine Aufgabe. Insoweit er Eigentümer einer der Großwerften ist, muß er mitwirken. Es ist die Aufgabe der Werftunternehmen, ein Konzept vorzulegen und die Entscheidung zu treffen, wo die Kapazitätsstillegungen erfolgen sollen. Daß man das auf den Tisch der Bundesregierung packen wollte - solche Ansätze waren zu spüren -, dagegen allerdings haben wir uns zur Wehr gesetzt. Ich glaube nicht, daß man Ihnen, Herr Bürgermeister, einen persönlichen Vorwurf daraus machen kann, welches Chaos da inzwischen entstanden ist. Mal ist die Werftenfusion gesichert, mal ist sie wieder nicht gesichert. Ich brauche Ihnen das alles nicht zu sagen. Aber eines ist klar. Sie haben heute morgen völlig korrekt zitiert: Die Bundesregierung hat Prüfung zugesagt. Wir werden prüfen. Aber wir müssen ein prüffähiges Konzept auf dem Tisch haben. Und das ist nun eine Bremer Bringschuld - von Werften und Senat gemeinsam -, sicher nicht eine Bringschuld der Bundesregierung. Ich will zum Schluß als Fazit meiner Betrachtung zusammenfassen: Die wirtschaftspolitische Weichenstellung war richtig. Das Vertrauen ist gewachsen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist bisher günstiger verlaufen als erwartet, wenn auch noch längst nicht zufriedenstellend. Erreichtes darf nicht zerredet werden. Es muß offensiv nach außen vertreten werden. DefensivBundesminister Dr. Graf Lambsdorff strategien, Skeptizismus, Verunsicherung helfen nicht weiter. ({30}) - Nein. Unsere Politik der Wende muß konsequent und überzeugend fortgeführt werden: für einen sich selbst tragenden dynamischen Wachstumsprozeß und für bessere Beschäftigungschancen für die Arbeitslosen und die Jugend. Wir brauchen die Stärkung der Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft. Wir brauchen die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und der sozialen Sicherungssysteme, die Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs. Wir brauchen den Abbau vielfältiger Verkrustung in Verwaltung und Wirtschaft. Dies müssen die Eckpunkte künftiger Wirtschaftspolitik in der Definition, die ich gegeben habe, bleiben. Die notwendige Fortführung der Anpassung des Sozialsystems an das volkswirtschaftliche Leistungsvermögen wird auch künftig lautstarke Kritik hervorrufen, wie wir sie ja hören. Aber dem Vorwurf unsozialer Politik entgegne ich, daß die schlimmste soziale Unausgewogenheit im erzwungenen Ausschluß vieler Menschen vom Arbeitsleben liegt. ({31}) Die zentrale Aufgabe ist es, den von Arbeitslosigkeit Betroffenen und Bedrohten, vor allem der Jugend, wieder Perspektiven für ihre materielle und soziale Zukunft zu geben. Herr Roth, Sie haben es für richtig gehalten, hier zu sagen, der Bundeskanzler sei der Kanzler der Geldbesitzenden, er sei nicht der Kanzler der Betroffenen. Ich sage Ihnen: Der Bundeskanzler, diese Regierung und die Koalition sind Kanzler, Regierung und Koalition der Mitte, des Vertrauens und der Hoffnung. ({32}) Und wir werden alles tun, um das Vertrauen zu rechtfertigen und die Hoffnungen zu erfüllen. - Ich bedanke mich. ({33})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Das Wort hat der Herr Ministerpräsident des Landes Hessen, Börner. Ministerpräsident Börner ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Bundesregierung gestern und heute ihre haushalts- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen in diesem Hohen Hause erläutert hat, hat sich meine Sorge weiter verstärkt, daß ihre Politik weder unsere Wirtschaft beleben noch zur Sanierung der öffentlichen Haushalte führen wird. ({1}) Ich befürchte im Gegenteil, daß dadurch eine Lawine von zusätzlichen Lasten und Kosten auf die Länder und Gemeinden zurollt. Damit werden nicht nur unsere eigenen Bemühungen in den Ländern erschwert, eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu betreiben, sondern es wird darüber hinaus auch der soziale Friede in unserer Gesellschaft gefährdet. ({2}) Meine Damen und Herren, nach einem Jahr konservativer Politik wächst in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Ungerechtigkeit. ({3}) Ihr so bewußt zur Schau getragener Optimismus, Herr Bundeskanzler, ist angesichts der tatsächlichen Lage völlig fehl am Platze. ({4}) Der von Ihnen beschworene Aufschwung hat sich bisher nur bei den Banken, bei den Mieten und bei den Zinsen eingestellt. ({5}) 2,2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind arbeitslos, d. h. 400 000 mehr als vor einem Jahr. 100 000 Jugendliche - vielleicht sind es auch mehr - haben noch keinen Ausbildungsplatz, und sie sind von Ihrer persönlichen Lehrstellengarantie enttäuscht, Herr Bundeskanzler. ({6}) Der von Ihrer Bundesregierung vorangetriebene Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Wirtschaft gefährdet die soziale Stabilität unserer Landes. ({7}) Das neue Haushaltsbegleitgesetz ist ein Gesetz gegen Rentner, gegen Arbeitslose, gegen Sozialhilfeempfänger, gegen Behinderte, gegen Kranke und berufstätige Mütter. ({8}) Das in Ihrem Auftrag, Herr Bundeskanzler, erarbeitete Albrecht-Papier soll offenbar die Richtung aufzeigen, wo die Union unseren Sozialstaat noch weiter zugunsten der Unternehmerinteressen abbauen will. ({9}) Im Mai dieses Jahres hatte ich den Bundeskanzler von dieser Stelle aus um eine konkrete Antwort auf drei Fragen gebeten, die Millionen von Menschen in unserem Lande bewegen. Ich habe damals gefragt: Was werden Sie konkret gegen die Arbeitslosigkeit tun? Wie sichern Sie die Ausbildungs- und Ministerpräsident Börner ({10}) Lebenschancen der jungen Generation? Und was tun Sie, um das Vertrauen der älteren Generation in unseren Sozialstaat zu erhalten? Wenn das, was gestern und heute dazu hier ausgeführt wurde, die Antwort auf diese Fragen darstellen soll, dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, das Vertrauen von Millionen von Arbeitnehmern in unserem Lande tief enttäuscht. ({11}) Besonders betroffen macht mich die Art und Weise, wie Sie mit dem Problem der Arbeits- und Lebenschancen der jungen Generation umgehen. Ich will jetzt nicht noch einmal ausführlich darüber diskutieren, daß Sie im Bundestagswahlkampf jedem Jugendlichen eine Lehrstelle versprochen haben. Ihre Anzeigen haben wir noch alle in guter Erinnerung. Dieses Wahlkampfversprechen haben Sie nicht gehalten, und das können Sie jetzt auch nicht mit statistischen Tricks wegdiskutieren. ({12}) Herr Bundeskanzler, Sie haben vor zwei Wochen in der Bundespressekonferenz erklärt, Sie freuten sich, dieses Thema im Bundestag eingehend zu diskutieren. ({13}) Wörtlich haben Sie hinzugefügt: „Viele von denen, die Verbalinjurien in die Luft werfen, sollen dann einmal nachweisen, was sie außer Häme in dieser schwierigen Zeit für junge Leute übrig gehabt haben". ({14}) Ich habe mich nicht auf diese Debatte gefreut. Für mich ist es eine bittere Stunde des Deutschen Bundestages, über die Existenzprobleme der jungen Generation und über leichtfertige Versprechen des Bundeskanzlers diskutieren zu müssen. ({15}) Betroffen, Herr Bundeskanzler, macht mich auch Ihr Umgang mit dem politischen Gegner. ({16}) Sie können doch die Kritiker Ihrer Politik nicht mit dem Vorwurf der Häme mundtot machen wollen, wenn sie die Berufsnot der Jugend aus ernster Sorge zum zentralen Thema der Innenpolitik machen. Wie denn sonst kann die Regierung zum Handeln und zum Einhalten von Versprechungen gezwungen werden als durch eine Parlamentsdebatte?! ({17}) Die Beschäftigungsprobleme der jungen Generation erfordern langfristig orientierte arbeitsmarktpolitische Entscheidungen und finanzielle Opfer bei allen Gruppen. Ich weiß, Herr Bundeskanzler, daß Sie dabei mit politischen Freunden und Gruppen in Konflikt geraten können, die eine aktive Rolle des Staates in der Beschäftigungspolitik ablehnen. Im Interesse der arbeitslosen Jugendlichen, meine ich, müssen Sie diesen Konflikt aber riskieren. Mir selbst sind in Hessen, wie Sie wissen, beim Durchsetzen arbeitsmarktpolitischer Entscheidungen bittere Erfahrungen nicht erspart geblieben. So werden die Hauptnutznießer des Frankfurter Flughafenausbaus die jungen Menschen sein, ({18}) deren große berufliche Ängste und Sorgen dadurch verringert werden können. Gerade diese jungen Menschen haben seinerzeit am heftigsten gegen den Flughafenausbau protestiert. Aber so etwas muß man auf sich nehmen, wenn man konsequent Zukunftsinvestitionen schaffen will. ({19}) Ihr Amt, Herr Bundeskanzler, fordert jetzt auch von Ihnen, daß Sie handeln, auch wenn es Ihren Parteifreunden und Koalitionspartnern nicht paßt, die die Lösung aller Probleme den Selbstheilungskräften der Wirtschaft überlassen wollen. Wir haben das eben durch die Darlegungen des Bundeswirtschaftsministers noch einmal bestätigt bekommen. Wir in Hessen haben seit Jahrzehnten eine langfristige Strukturpolitik betrieben, der wir es jetzt verdanken, daß die hessischen Arbeitslosenzahlen deutlich geringer sind als der Bundesdurchschnitt. So haben wir es auch bis 1981 immer geschafft, im engen Zusammenwirken mit den gewerblichen Betrieben und den Kammern, die ich hier ausdrücklich für ihre Zusammenarbeit mit der Landesregierung loben möchte, ({20}) für alle Jugendlichen eine Lehrstelle zu finden. Das heißt, bis 1981 hat das immer geklappt. Ich bin insbesondere dem hessischen Handwerk dafür dankbar. ({21}) Nachdem jedoch die Jugendarbeitslosigkeit - nicht zuletzt aus demographischen Gründen - im letzten Jahr massiv angestiegen war, haben wir es für notwendig gehalten, mit gezielten Förderungsprogrammen Hilfe zu leisten. Durch zwei Sofortprogramme ist es uns in diesem Jahr gelungen, weit mehr als 4 000 zusätzliche Ausbildungsplätze in den unterschiedlichen Ausbildungsberufen der gewerblichen Wirtschaft, bei Sozialeinrichtungen und Kommunen sowie auch bei Dienststellen des Landes zu schaffen. ({22}) Dies ist nicht billig, das kostet in drei Jahren 100 Millionen DM; damit jeder weiß, daß so etwas teuer ist! Aber es ist billig im Verhältnis zu den Lasten, die der Staat auf sich nehmen müßte, wenn wir die Jugendlichen mit ihren Problemen allein lassen. ({23}) Ministerpräsident Börner ({24}) In den Genuß dieser Förderung sind vor allem Jugendliche gekommen, die sich zuvor lange Zeit vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht hatten. Darunter sind besonders viele Jugendliche aus strukturschwächeren Regionen und überdurchschnittlich viele Mädchen. Wie sehr bereits unser erstes, im Januar aufgelegtes Sofortprogramm der Nachfrage entsprach, hat sich daran gezeigt, daß es im Gegensatz zu den Befürchtungen voreiliger Kritiker bereits nach wenigen Wochen ausgebucht war. Die hessische Wirtschaft - dies gilt insbesondere für die vielen kleinen Handwerksbetriebe, die sich stets überdurchschnittlich an der Berufsausbildung beteiligen - hat sehr wohl verstanden, daß unser Lehrstellenprogramm auch ihren Interessen nutzt, und sie hat mit uns gemeinsam diesem Programm zu einem großen Erfolg verholfen. Da auch 1983 wieder ein besonders starker Jahrgang die Schulen verlassen hat, hat die hessische Landesregierung im Sommer ein zweites Ausbildungsplatzprogramm aufgelegt, das im Augenblick gerade umgesetzt wird und das ebenfalls erheblich zur Entlastung der Lehrstellennachfrage in unserem Land beiträgt. ({25}) Ich kann - deshalb habe ich mich hier gemeldet, meine Damen und Herren - der Bundesregierung auf Grund unserer hessischen Erfahrungen nur den dringenden Rat geben, sich unserem Beispiel anzuschließen und dem Lehrstellenversprechen des Herrn Bundeskanzlers nun endlich Taten folgen zu lassen. ({26}) Ich möchte aber hier auch noch einen Gesichtspunkt ergänzen, der mir persönlich außerordentlich wichtig ist. Es geht bei der Frage der Ausbildungsplätze für die junge Generation heute nicht allein um die Lösung der sehr ernsten Beschäftigungsprobleme. Mit Ihrem Wahlversprechen, Herr Bundeskanzler, haben Sie das Lehrstellenthema zu einem Thema der Glaubwürdigkeit des Staats, zu einer Frage des Vertrauens der jungen Generation in unseren demokratischen Staat gemacht. ({27}) Ich empfehle Ihnen, um die Tragweite des Problems zu erkennen, die genaue Lektüre des Berichts der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, in der Ihr Parteifreund Wissmann den Vorsitz geführt hat. In ihrem Bericht wird festgestellt, „daß das Vertrauen der protestierenden Jugendlichen in Politiker und Parteien erheblich darunter gelitten hat, daß diese sich in den Augen vieler zur Bewältigung der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme als mehr oder weniger unfähig erweisen". Es heißt dort weiter „Die Glaubwürdigkeit von Politikern und Parteien ist für die protestierenden Jugendlichen von besonderer Bedeutung, da sie ein im Kern moralisch-idealistisches Politikverständnis besitzen." Wenn Sie der Jugend gegenüber daher unglaubwürdig werden, Herr Bundeskanzler, dann ist das nicht nur Ihr Problem, sondern dann ist das ein Problem unserer ganzen Demokratie. ({28})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer? Ministerpräsident Börner ({0}): Herr Präsident, ich möchte den Gedankengang jetzt gern fortsetzen. Sie wissen ja, Herr Fischer, daß ich Ihre Fraktion für politikunfähig halte. Es hat keinen Sinn, diesen Dialog hier fortzusetzen. ({1}) - Ich nehme den Zwischenruf von rechts gern auf, meine Damen und Herren. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich bitte doch um ein bißchen Mäßigung und um Aufmerksamkeit für den Redner. ({0}) Ministerpräsident Börner ({1}): Meine sehr geehrten Damen und Herren, da kommen einige von Ihnen nach Hessen und reden vom „rot-grünen Bündnis". Wenn ich das gewollt hätte, wären am 25. dieses Monats in Hessen keine Wahlen. ({2}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich war mit Ihnen in der Koalition hier vor 15 Jahren, und ich war mit den Freunden von Herrn Lambsdorff in einer Koalition. Ich sage Ihnen: Was wir jetzt brauchen, sind klare Entscheidungen des Wählers zwischen konservativer Politik und Reformpolitik. Deshalb will ich in Hessen klare Verhältnisse. ({3}) Meine Damen und Herren, zurück zum Thema Lehrstellen. Herr Bundeskanzler, tun Sie alles, um Ihre Versprechen zu halten. Ich sage Ihnen hier zu, daß die von mir geführte Landesregierung Sie dabei unterstützen wird. ({4}) Meine Damen und Herren, noch mehr steht die Glaubwürdigkeit der Politiker und des demokratischen Staats insgesamt auf dem Spiel, wenn es um die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geht. Ministerpräsident Börner ({5}) Ich möchte Sie in dieser Frage, Herr Bundeskanzler, nicht nur als Ministerpräsident eines Bundeslandes ansprechen, ({6}) das in diesem Jahr mit einem eigenen Beschäftigungsprogramm immerhin über 28 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen oder gesichert hat, sondern auch als jemand, der selbst aus der Arbeiterschaft stammt und der selbst einmal arbeitslos gewesen ist. Sie werden mir sicher zustimmen, wenn ich sage, daß die Arbeitslosigkeit die größte innenpolitische Herausforderung unserer Zeit ist. Wenn Ihre Regierung auf diesem Gebiet weiterhin untätig bleibt und statt dessen ihre Politik der Umverteilung von unten nach oben fortsetzt, ({7}) müssen Sie sich darüber im klaren sein, daß Sie damit den Grundkonsens zwischen Kapital und Arbeit, der sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hat und der die Grundlage unseres Sozialstaates ist, zu zerstören drohen. ({8}) Gefährdet ist nicht nur die wirtschaftliche Stabilität, sondern auch die soziale und politische Stabilität unserer Gesellschaft. Ich beobachte die wachsenden Anzeichen für eine solche Entwicklung mit allergrößter Sorge. Ihr Gespräch, Herr Bundeskanzler, vor einer Woche mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund hat Ihnen, wie ich hoffe, vor Augen geführt, daß ein weiterer Abbau des Sozialstaates nicht nur auf den Widerstand einiger Minderheiten stoßen, sondern von der gesamten Arbeitnehmerschaft und ihrer Interessenorganisation, den Gewerkschaften, als Kampfansage empfunden wird. ({9}) Herr Bundeskanzler, bitte täuschen Sie sich nicht über den Ernst der Lage. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der vielfältigen Strukturprobleme, mit denen unsere Wirtschaft in diesem Jahrzehnt noch fertig werden muß, dürfen Sie keine Politik betreiben, die in unserem Lande zu einem neuen Klassenkampf führt. ({10}) Meine Kollegen aus der SPD-Fraktion haben in dieser Debatte bereits überzeugend dargelegt, ({11}) daß die haushaltspolitischen Beschlüsse der Bundesregierung weder zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit taugen noch geeignet sind, den angestrebten Konjunkturaufschwung herbeizufühen. ({12}) Das allein ist schon schlimm genug. Als Provokation aber müssen es die Arbeitnehmer in Deutschland empfinden, wenn die schon 1983 von Ihnen durchgesetzten Einschnitte in das soziale Netz nun noch einmal erheblich erweitert und vertieft werden sollen. ({13}) Während Sie an die Unternehmer Steuerentlastungen in der Größenordnung von 3,5 Milliarden DM ausschütten wollen, sollen die sozial Schwachen zur Kasse gebeten werden. Das ist der Kern dieses Haushalts. ({14}) Ich nenne nur beispielhaft: erstens die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe, die einen großen Teil der Arbeitslosen längerfristig zu Sozialhilfeempfängern machen wird mit allen Konsequenzen für die Gemeindehaushalte in der ganzen Republik; ({15}) zweitens die Verringerung der Rentenanpassung, die mit der Eigenbeteiligung der Rentner an ihrer Krankenversicherung zu einem empfindlichen Kaufkraftverlust führen wird; drittens die Beitragspflichtigkeit des Krankengeldes, die bei längerfristig Kranken eine Kürzung des Krankengeldes bewirkt; viertens die weitere Begrenzung der ohnehin unzureichenden Regelsätze bei der Sozialhilfe, die die Ärmsten in unserem Lande trifft; fünftens die unvertretbaren Einschränkungen bei der Freifahrtberechtigung für Schwerbehinderte und die familien- und frauenfeindlichen Kürzungen des Mutterschaftsgeldes, die selbst innerhalb der Union zu einem Ausbruch der Entrüstung geführt haben. Die Liste dieser sozialpolitisch einseitigen Sparmaßnahmen ließe sich fortsetzen. Das heißt nichts anderes als: Die soziale Ungerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland wächst; ({16}) denn gleichzeitig werden weder, wie vor dem Regierungswechsel lautstark gefordert, die Subventionen an die Wirtschaft drastisch gekürzt noch werden durchgreifende Maßnahmen gegen das Unwesen der Verlustzuweisungsgesellschaften und Bauherrenmodelle vorgeschlagen, ({17}) die zugunsten der Besserverdienenden zu erheblichen Steuermindereinnahmen führen. ({18}) Da den sozialpolitisch einseitigen Sparmaßnahmen eine massive steuerliche Begünstigung der gewerblichen Wirtschaft gegenübersteht und Nutznießer dieser Steuervergünstigungen wieder überwiegend die Großbetriebe und die ertragsstarken Unternehmen sein werden, laufen die Beschlüsse der Bundesregierung auf nichts anderes als auf eine massive Umverteilung von unten nach oben hinaus. So wird erneut den Großen gegeben und den Kleinen genommen. ({19}) Ministerpräsident Börner ({20}) Wo, Herr Bundeskanzler, liegt eigentlich der Beitrag der Besserverdienenden zu der von Ihnen vorgeschlagenen Haushaltskonsolidierung? ({21}) Die Zwangsanleihe ist kein solcher Beitrag. ({22}) Diese Anleihe belastet die Besserverdienenden nur mit einer rückzahlbaren Abgabe. Sie trifft wegen des umfassenden Investitionsprivilegs für Unternehmer und Freiberufler nur einen Teil der Besserverdienenden. Warum können Sie sich nicht dazu durchringen, statt der Zwangsanleihe endlich eine echte Ergänzungsabgabe zu erheben, die allen höheren Einkommensgruppen einen spürbaren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung abverlangt? ({23}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe die Sorge, daß diese Politik der wachsenden Ungerechtigkeit erst am Anfang steht, wie neueste Vorschläge aus dem Lager der Union zeigen. Nach dem Albrecht-Papier sind j a angeblich die Unternehmensgewinne viel zu gering, die Löhne viel zu teuer, die Mitbestimmungs- und Jugendschutzvorschriften zu bürokratisch und das soziale System eine Zentnerlast auf den Schultern der Wirtschaft. Nahezu nichts in unserem Sozialstaat scheint mehr in Ordnung zu sein. Es sieht ganz so aus, als ob bestimmte Kräfte der Union den ausschließlich an den Interessen des Kapitals ausgerichteten Staat zum neuen Leitbild ihrer Politik erheben wollen. ({24}) Wenn Sie, meine Damen und Herren, eine solche andere Republik wollen, dann kann ich nur sagen: ohne uns. Wir werden den Sozialstaat verteidigen, den wir mit unserer politischen Kraft und der der Gewerkschaften in über 30 Jahren ausgefüllt haben. ({25}) Ich fordere Sie, Herr Bundeskanzler, deshalb noch einmal eindringlich auf: ({26}) Bleiben Sie nicht bei der bloßen Verwaltung der Arbeitslosigkeit, sondern gehen Sie endlich über zur aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({27}) Wir müssen die Arbeit finanzieren und nicht die Arbeitslosigkeit. ({28}) Notwendig sind nicht Kürzungen bei den beruflichen Bildungsmaßnahmen z. B. der Bundesanstalt für Arbeit, sondern Beschäftigungsprogramme mit umwelt- und energiepolitischen Schwerpunkten und Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage der Arbeitnehmer sowie die Einführung eines Vorruhestandsgeldes, wie es die hessische Landesregierung im Bundesrat vorgeschlagen hat, und eine zeitgemäße Änderung der Arbeitszeitordnung. Das gehört zusammen. ({29}) Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit - sowohl Herr Lambsdorff als auch Herr Albrecht sind Kronzeugen für diese auch von Ihnen für lange Zeit so eingeschätzte Entwicklung - dürfen wir nicht einseitig wegen steuerlicher Begünstigungen der Wirtschaft den Abbau des Sozialstaates betreiben und im übrigen in Hoffnung und Wirtschaftsoptimismus verharren. Es muß vielmehr schnell und entschieden auf den von mir aufgezeigten Wegen gehandelt werden. Nur so läßt sich den Betroffenen helfen und die politische und soziale Stabilität in unserem Vaterland erhalten. ({30})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident Börner, Ihr kämpferischer, Ihr einsatzbereiter Auftritt zeugt davon, daß Ihr persönlicher Kampfgeist ungebrochen ist. ({0}) Aber leider waren Sie von der Realität so weit entfernt, ({1}) daß Sie mit Kampfgeist und Optimismus die Fakten, die ich Ihnen gleich entgegenhalten werde, nicht wegwischen können. ({2}) Sie wissen - das ist nicht zu leugnen -, wir haben mit Ihnen über eine lange Zeit sehr gut zusammengearbeitet. Als Sie jetzt davon sprachen, bis 1981 habe z. B. bei der Bereitstellung der Lehrstellen, der Ausbildungsplätze in Hessen immer eine sehr gute Zusammenarbeit stattgefunden, wurde ich daran erinnert, daß in diese Zeit der tragische Tod, die Ermordung meines Freundes Heinz-Herber Karry fällt, der gerade in dieser Zeit derjenige war, der in Hessen in Zusammenarbeit von Regierung und Wirtschaft genau das erreicht hat, von dem Sie sprachen, was aber im letzten Jahr in Hessen total abgebrochen worden ist. Das ist doch der entscheidende Unterschied! ({3}) Herr Ministerpräsident, wenn Sie hier davon sprechen, in Hessen sei gerade in der Frage der Beschäftigungspolitik, bei der Zurverfügungstellung von Arbeitsplätzen und von Ausbildungsplätzen, Besonderes geschehen, dann denken Sie doch bitte daran: Die Hunderte von Millionen öffentlicher Investitionen, die nicht getätigt werden können, weil es keine handlungsfähige Regierung gibt, haben viel mehr Arbeitsplätze gefährdet, als Sie überhaupt erhalten konnten. ({4}) Herr Ministerpräsident, wenn Sie ausgeführt haben, mit Sonderprogrammen habe man dafür gesorgt, daß zusätzliche Ausbildungsplätze für junge Menschen geschaffen worden sind, frage ich Sie: Ist Ihnen nicht bekannt, in wie vielen Handwerksbetrieben man sich natürlich die Frage gestellt hat: Warum stellen wir eigentlich kontinuierlich Ausbildungsplätze zur Verfügung, wenn andere, die das nicht getan haben, es aber jetzt plötzlich tun, dafür eine Prämie erhalten? ({5}) Besteht dann nicht die Gefahr, daß daraus für die Zukunft bei anderen Zurückhaltung entsteht? ({6}) - Warten Sie doch einmal ab, was ich sage. - Ich gehe mit Ihnen völlig darin einig, daß man, wenn Ende September oder Mitte Oktober spürbar ist, daß eine relevante Zahl nicht in Ausbildungsplätzen untergebracht werden kann, für diesen Zeitpunkt überlegen muß, was für zusätzliche Maßnahmen sinnvoll sein können. Niemand hat etwas dagegen, sie vorzubereiten; aber wenn Sie damit hineinplatzen, zeigt das, daß Sie nicht begriffen haben, welcher Attentismus bei anderen damit ausgelöst werden kann. ({7}) Ein weiterer Punkt: Herr Ministerpräsident, Sie haben - und zwar mit Recht - davon gesprochen, daß man, wenn man der jungen Generation Zusicherungen gibt, wenn man der jungen Generation Hoffnung macht, sie nicht enttäuschen darf. Da sind wir völlig einer Meinung. Aber gehört dazu nicht auch, daß man dann das, was tatsächlich geschehen ist und was geschieht, nämlich mehr Ausbildungsplätze als im vergangenen Jahr zur Verfügung zu stellen, nicht miesmacht, sondern anerkennt? Das unterstützt doch die Bereitschaft, etwas zu tun. ({8}) Dieses kleinliche Wegwischenwollen von vielen - zugegebenermaßen nur partiell wirkenden - persönlichen Initiativen trägt nicht dazu bei, weitere persönliche Initiativen zu mobilisieren. Ich hätte allerdings gern auch ein Wort dazu gehört, daß wir nach wie vor eine hohe Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze haben, weil ein Teil der Auszubildenden nicht bereit ist, von den Wunschberufen abzugehen, die sie sich vorgenommen haben. ({9}) Auch dazu muß man den Mut haben. Wenn sie rufen: „Wo denn?", dann liefern Sie mir für einen Bundestagsabgeordneten einen wirklich erschrekkenden Beweis der Unkenntnis darüber, was auf diesem Sektor noch vorhanden ist. ({10}) - Dann gehen Sie doch z. B. einmal in die Bauwirtschaft. Dort wird Ihnen bestätigt werden, daß im Bundesgebiet und auch in Hessen - in Hessen Hunderte, im Bundesgebiet Tausende - Ausbildungsplätze unbesetzt sind. ({11}) Dann reden Sie doch mit denen, die die Plätze zur Verfügung stellen. Behaupten Sie doch nicht einfach, man müsse fragen, wo es noch offene Ausbildungsplätze gebe. Die gibt es. Ich habe nicht gesagt, daß die zur Zeit offenen Plätze zahlenmäßig voll ausreichen. ({12}) Ich habe aber darauf hingewiesen, daß Ihre Behauptung, es gebe keine, falsch ist. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich halte mich an die heutige Gepflogenheit, keine Fragen zu beantworten. Das ist zwar gegen meinen sonstigen Stil, aber ich halte es heute einmal durch, weil das für die Zeiteinteilung besser ist. ({0}) - Oh weh, so billig war das selten aus Ihren Reihen, wie es eben war. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte allerdings noch einmal, und zwar nicht nur vor diesem Haus - ich glaube, hier weiß es jeder -, sondern mehr vor der Öffentlichkeit, darauf hinweisen, daß viele Ausbildungsplätze in Gefahr sind verlorenzugehen, weil man nicht den Anstand besitzt, rechtzeitig mitzuteilen, daß man natürlich nur einen Platz besetzt, also den zweiten, den man auch zugesagt bekommen hat, nicht besetzt. Auch dies ist eine leider erhebliche Zahl. Es wäre gut, wenn Sie alle mitwirken würden, daß tatsächlich jeder Ausbildungsplatz besetzt werden kann und nicht über Gebühr blockiert wird. Es ist eine Aufgabe der Politiker, aber auch der Eltern, hier mit dafür zu sorgen, daß die Kinder diesen Anstand, diese Kameradschaftlichkeit, die Solidarität mit den anderen Jugendlichen besitzen und nicht unnötig Ausbildungsplätze blockieren. Wenn Sie darüber reden würden, würden Sie viel mehr erreichen als mit solchen Programmen, mit denen Sie die Probleme lösen zu können glauben. Herr Ministerpräsident, ich habe mit großem Interesse Ihre Reaktion auf die Wortmeldung aus den Reihen der GRÜNEN verfolgt. Ich bescheinige Ihnen gern, daß Sie persönlich immer dieser Auffassung waren. ({1}) - Doch, ich bescheinige ihm gern, daß er persönlich dieser Auffassung war. ({2}) Aber als Landesvorsitzender, als Ministerpräsident sind Sie doch immer wieder in eine schwierige Situation gekommen - innerhalb Ihrer Landtagsfraktion, innerhalb Ihrer beiden Parteiverbände in Hessen -, und zwar im Hinblick auf die Notwendigkeit, etwas zu prüfen, auszuprobieren und einmal zu versuchen, ob man mit den GRÜNEN im Hessischen Landtag kann oder nicht. Und das ist das Ergebnis: ein ganzes Jahr verlorene Politik in Hessen, weil Sie sich nicht entschließen konnten, mit diesem Schnell-Techtelmechtel Schluß zu machen! ({3}) Sie haben mit Recht beklagt, daß wir in der gesamten Arbeitsmarktpolitik noch nicht weiter sind. Dazu hat mit beigetragen, daß in Ihrem Bundesland, in unserem Hessen, die. Hunderte von Millionen von den Gemeinden nicht investiert werden konnten. Dies hat mit dafür gesorgt, daß heute mit den Nullbescheiden null Investitionen durchgeführt werden. ({4}) Sie müssen dann auch den Mut haben, diese Punkte zu sehen. Sie haben zu spät die Entscheidung getroffen, Neuwahlen in Hessen durchzuführen. Dieser Sommer schon hätte auch in Hessen das allgemeine konjunkturelle Klima weiter verbessern können, wie das in anderen Ländern ebenfalls der Fall gewesen ist. ({5}) Herr Ministerpräsident, Sie haben hier dann noch etwas - wenn auch nicht sehr viel - in Richtung auf eigene Initiativen aus Hessen bezüglich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - ich denke an den Umweltschutz und die Arbeitszeitordnung - vorgetragen. Wir sind uns einig, daß Umweltschutz Arbeitsplätze schafft; wir sind uns einig, daß hier ganz klare Prioritäten für die Zukunft gesetzt werden müssen. Herr Ministerpräsident, Sie haben aber auch darauf hingewiesen, wie notwendig es ist, getroffene Entscheidungen auch durchzuhalten. Sie haben auf die Startbahn West hingewiesen: Durchhalten der Entscheidung. Sie haben - bewußt - natürlich nicht auf die Entscheidung bezüglich Biblis C hingewiesen, wo von Durchhalten keine Rede sein kann. Nun können wir darüber streiten, wie hoch in Hessen das Angebot an Kernenergie bereits ist, ob man es erhöhen soll oder nicht. Nur: Wenn man es aber mit der Schaffung von Arbeitsplätzen auch in bezug auf Umweltschutz ernst meint, dann muß man in der Kernenergie auch eine Möglichkeit sehen, Umweltschutz zu betreiben. Andere Kraftwerke, die umweltschädlicher sind, könnte man dadurch vermeiden. Beides muß man dann in aller Nüchternheit betrachten. ({6}) Herr Ministerpräsident, Sie haben davon gesprochen, daß die Arbeitszeitordnung geändert werden müsse. Wenn ich Ihren Gesetzentwurf richtig im Gedächtnis habe, dann geht es in einem wichtigen Punkt um die Frage, wie die Möglichkeit, Überstunden zu machen, verringert werden kann. Ich bestreite nicht, daß das ein wichtiges Thema in der Diskussion über künftige Beschäftigungsmöglichkeiten ist. Ich kann mich allerdings daran erinnern, daß Mitte der 60er Jahre, als wir in der Bundesrepublik eine Überbeschäftigung hatten, die Freien Demokraten vorschlugen - als wir schon sahen, wie viele ausländische Arbeitskräfte hereingeholt werden mußten -, für diese Zeit einmal die Überstunden von der Lohnsteuer zu befreien. Wir fanden damals keinerlei Resonanz in diesem Haus, obwohl das vielleicht ein bißchen dazu beigetragen hätte, den Zustrom einzuschränken. Wenn Sie heute diesen Weg gehen wollen, dann muß ich Ihnen offen sagen, daß mir viele Diskussionen, die ich beispielsweise mit Betriebsratsvertretern geführt habe, deutlich gemacht haben, wie schwierig es ist - selbst in den Betrieben, in denen Überstunden langfristig zwischen Betriebsleitung und Betriebsräten vereinbart worden sind -, Verständnis dafür zu gewinnen, ob es nicht sinnvoll wäre, neue Arbeitskräfte einzustellen, statt Überstunden zu leisten. Durch eine gesetzliche Einschränkung der Überstunden würde nach meiner Überzeugung aber kein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen, sondern es bestünde die Gefahr, daß gerade Exportaufträge, die zeitgebunden sind, verlorengehen. Dies wäre genau die gegenteilige Wirkung von der, die Sie beabsichtigen. ({7}) Deshalb wäre es besser, wenn Ihre nicht so ganz geringen Beziehungen zu den Gewerkschaften, Ihre Verbindungen in die Gewerkschaften hinein einmal dazu benutzt würden, dieses Thema mit den Betriebsräten ausführlich zu diskutieren. Es soll doch nicht etwa heißen, daß man das jetzt gesetzlich ändern müsse, weil die Mitbestimmung nicht funktioniere und der Gesetzgeber bei der Bewilligung oder Nichtbewilligung etwa von Überstunden Nachhilfeunterricht erteilen müsse. Meine Damen und Herren, sowohl in der Rede von Herrn Ministerpräsident Börner als auch in der von Herrn Roth ist von dem breitangelegten, wie Sie sagten, Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus den Reihen der Sozialdemokraten gesprochen worden. Das waren alles - mehr oder weniger - alte Bekannte, deren Negativwirkungen hier oft diskutiert worden sind. Wenn ich es einmal auf einen kurzen Nenner bringe, so ist davon ge1270 sprochen worden, daß die SPD 45 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ({8}) zur Verfügung gestellt sehen will. Was heißt das? In Kurzfassung heißt das: neue Schulden, Steuererhöhungen, daraus höhere Zinsen, aus höheren Zinsen weniger Investitionen, aus weniger Investitionen mehr Arbeitslosigkeit. Das ist die Kurzfassung dessen, was Sie hier in Wahrheit vorschlagen, sonst gar nichts. ({9}) Das ist der mühselige Weg, den wir gehen, natürlich schwieriger, aber erfolgversprechender und langfristig wirksamer, langfristig wirksamer deshalb, weil wir uns eben bemühen, die Gefahren, die in Ihren Vorschlägen stecken, auszuschalten, und dabei in Kauf nehmen, daß dies nicht im Handgalopp möglich ist, sondern eine längere Zeit braucht. Dafür aber ist unser Weg, wie gesagt, auf Dauer wirksamer. Nun ist bei der Auseinandersetzung über die Frage, wieweit Versprechungen eingehalten werden können oder nicht, immer wieder auch auf die Behauptung verwiesen worden, wir hätten den Aufschwung, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit für dieses oder das nächste Jahr angekündigt. Wir haben immer gesagt: Wir brauchen ein, zwei Jahre, um dies zu erreichen. Eines ist aber doch deutlich geworden: Das Vertrauen, das zu mehr Investitionen in bestimmten Bereichen geführt hat, ist unverkennbar. Wenn hier nun so getan wird, als würden die Beschlüsse, die zu diesem Vertrauen geführt haben, die Reichen reicher und die Armen ärmer machen, so ist das weiter nichts als der Versuch, mit einer solchen Primitivformel Stimmung zu machen. Aber mit den Tatsachen hat es absolut nichts zu tun. ({10}) Wer argumentiert, bestimmte steuerliche Entlastungen, die summenmäßig zu bestimmten Wirkungen führen, seien ein Beweis dafür, daß man überhaupt nicht an die mittleren und kleineren Unternehmen dächte, sollte sich doch wenigstens einmal daran erinnern, daß wir vor mehr als Jahresfrist - länger als ein Jahr ist es her - beispielsweise in der Diskussion um die Frage, was mit AEG wird, gerade das Problem der 15 000, 20 000 kleinen Zulieferbetriebe mit im Auge gehabt haben, um mit Ihrer Zustimmung - ganz klar - sicherzustellen, daß bei Gefährdung eines Großbetriebes nicht unendliche Folgewirkungen bei Klein- und Mittelbetrieben mit entstehen. Das gleiche gilt doch für die steuerpolitischen Entscheidungen, die wir jetzt getroffen haben. Das wirkt sich doch über die Zulieferbetriebe genauso in den mittelständischen Bereich aus. Dies sollten Sie doch nicht vom Tisch wischen. Sie wissen es doch, aber Sie wollen es nur nicht wahrhaben, weil es nicht in die Propagandathese paßt. Das ist doch der Hintergrund. ({11}) Meine Damen und Herren, es ist davon gesprochen worden, daß nun so viele Entscheidungen im sozialpolitischen Bereich getroffen würden, die gerade zu Lasten der Wenigerverdienenden, der sozial Schwachen gingen. Darf ich Sie nicht daran erinnern, daß viele dieser Entscheidungen im Grundsatz vor zwei und drei Jahren begonnen worden sind und jetzt fortgesetzt werden? Ich weiß, es hat manche Mühe gekostet, damals zu Entscheidungen zu kommen. Aber die Erkenntnis war zumindest bei einer Mehrheit bei Ihnen damals vorhanden: Wenn man die Konsolidierung fortsetzen will, muß sie breit angelegt sein; dann können auch die Sozialgesetze davon nicht verschont bleiben; es kommt nur darauf an, hier einen Weg zu finden, der sicherstellt, daß die Ausgewogenheit so weit wie möglich gewahrt wird. Daß Sie das wieder beklagen, macht doch erneut deutlich, wie recht wir hatten, als wir vor einem Jahr im Bund und in Hessen sagten: Es ist nicht mehr möglich, im wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Bereich die notwendigen Entscheidungen mit der SPD zu treffen, weil sie nicht mehr in der Lage ist, solche Dinge mitzutragen. ({12}) Wenn das so ist, dann sollte man jetzt nicht nachträglich so tun, als hätten andere das verbrochen, sondern eingestehen, daß die eigene Bereitschaft, dafür auch vor den Wähler zu treten und es zu verantworten, nicht mehr vorhanden ist, weil man es nicht tragen kann. Wir sind in der Lage, das zu tragen, weil wir den Mut zu diesen Entscheidungen haben. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn hier immer wieder davon gesprochen wird - oder in Anzeigen -, drei Millionen Arbeitslose stünden vor der Tür, und damit der Eindruck erweckt wird, als habe alles nichts genützt, dann mag das für den Augenblick ein wenig propagandistische Hilfestellung sein. Aber so wie die Verratslegende nur für eine einzige Wahl gereicht hat, so wird diese Legende diesmal nicht mehr reichen, weil die Leute wissen: Mit Legenden kann man keine praktische Politik machen. So wie Sie damals geglaubt haben mit einer Falschdarstellung der Entwicklung über die Runden zu kommen, werden Sie das diesmal nicht erreichen. Ich bedaure allerdings sehr, in wie vielen Bereichen das, was einmal gemeinsame Auffassung in diesem Hause war, inzwischen verlorengegangen ist. ({14}) - Wissen Sie, wenn Sie mir in der Sache selbst - in der Sache; bei Ihnen wird ja oft Sache und Koalition verwechselt - tatsächlich grundsätzlich andere Auffassungen nachweisen könnten, wäre ich sofort bereit, darüber mit Ihnen zu diskutieren. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, wo die Behauptungen, daß das so geschehen sei, falsch sind. Kollege Graf Lambsdorff hat hier das weite und schwierige Feld der Außen-, Ost- und Friedenspolitik angesprochen. Sehen Sie, meine Damen und Herren, ich war sehr froh darüber, daß nach dem Abschuß der koreanischen Maschine aus allen politischen Gruppierungen dieses Hauses - ich stelle ausdrücklich fest: aus allen Gruppierungen - eine gemeinsame Verurteilung kam. Ich wäre froh, wenn dann auch die Erkenntnis daraus erwüchse, daß man nicht nur, wenn ein solcher brutaler Abschuß erfolgt ist, sein Bedauern ausdrückt, sondern praktische Konsequenzen für die Sachpolitik zieht. ({15}) Dies scheint bisher nicht der Fall zu sein; denn es ist doch hochinteressant, daß man, wenn in diesen Tagen in Madrid die KSZE-Nachfolgekonferenz zu einem Abschluß gebracht wird - es ist durch das Bemühen gerade der Bundesrepublik Deutschland und hier vor allem des Bundesaußenministers gelungen, Folgekonferenzen für die europäische Sicherheit zustande zu bringen -, kein Wort der Zustimmung von denen hört, die sonst immer, wenn es um Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Abschaffung der Raketen geht, das große Wort haben. - Nur über den Weg der ständigen Verhandlungsmöglichkeit und Verhandlungsbereitschaft wird es gelingen, aus der heutigen Krisensituation herauszukommen. ({16}) Ich bin sehr froh darüber, daß im Gegensatz dazu, wie es in vergangenen Zeiten üblich war, nach einem solchen bitteren, makabren, verurteilenswerten Vorfall Verhandlungen eben nicht eingestellt wurden - denn das hat früher oft dazu geführt, daß es danach zu um so schärferen Auseinandersetzungen kam -, sondern die Verhandlungen mit dem Ziel, zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen, weitergeführt werden. ({17}) - Ich habe doch nicht von Ihnen gesprochen. Ich sprach von anderen. ({18}) Aber daß Sie sich da angesprochen fühlen, zeigt auch, daß diejenigen, die uns in der Frage der Verhandlungen von Genf immer wieder glaubten den Rat geben zu müssen, daß man, wenn es zu keinem Abschluß komme, weiterverhandeln, nachverhandeln könne und man das dann vielleicht schaffe, endlich einsehen sollten: Nur wenn wir jetzt, zu Beginn dieser neuen Verhandlungsrunde, konsequent an unserem Kurs festhalten, daß bis zum 15. November ein Ergebnis vorliegen muß und wir sonst gezwungen sind nachzurüsten, gibt es überhaupt eine Chance, in dieser Zeit noch zu einem Ergebnis zu kommen. ({19}) Wir müssen leider feststellen, daß sehr unterschiedliche Meinungen nicht nur aus dem Bereich der GRÜNEN Alternativen, sondern auch aus dem Bereich der Sozialdemokraten zu hören sind. Wenn Sie vorhin den Zwischenruf „Börner" machten, bin ich sicher, daß wir da völlig einer Meinung sind. Nur ist richtig, daß im hessischen Wahlkampf eine ganze Reihe gerade von den Sozialdemokraten - und Sie nehmen das Thema doch wieder auf - mit dem Gedanken Ihres Saarbrückener NATO-Außenseiters spielen, am liebsten aus der NATO auszutreten. Wenn ich an die Beschlüsse mancher Ihrer Bezirksparteitage denke, dann wird doch daran deutlich, ({20}) daß auch in diesem Bereich das, was noch vor einem Jahr aus den Worten von Helmut Schmidt als Grundlage der Politik der SPD klang, heute nicht mehr Allgemeingut der Sozialdemokraten ist, sondern nur noch von Teilen vertreten wird. Das ist im Interesse der deutschen Politik betrüblich; es kann sogar gefährlich werden, wenn daran von der einen Seite der Verhandlungspartner Illusionen geknüpft werden. ({21}) Ich sage das nicht aus Schadenfreude. ({22}) - Nein, ich sage das aus Sorge darüber, daß gerade die Kollegen unter Ihnen, die wie wir zu diesem NATO-Doppelbeschluß stehen, in eine Minderheit geraten könnten und morgen oder übermorgen feststellen müssen, daß damit für die Sozialdemokratische Partei als Ganze eine Situation entstanden wäre, die nicht im Interesse unserer deutschen Demokratie liegen kann. Das gilt für mich über alle Parteigrenzen hinaus. ({23}) Und es wäre gut, wenn Sie sich Klarheit darüber verschaffen würden, wie es um die Grundsätze steht, die j a gerade dazu geführt haben, daß wir heute durch ein Vertragsgeflecht beispielsweise in der deutsch-deutschen Politik eben nicht mehr die Sorge haben müssen, daß ein Schnupfen zwischen Washington und Moskau zu einer Lungenentzündung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR führt, sondern daß wir im Gegenteil heute in einer Situation sind, wo in beiden Teilen das Bemühen groß ist, Auswirkungen der Großwetterlage nicht unmittelbar durchschlagen zu lassen. Und gerade dies ist doch in einer langwierigen, manchmal zähen, manchmal sehr umkämpften politischen Arbeit erreicht worden. Und spüren Sie denn gar nicht, daß Sie auch das mit in Frage stellen, wenn Sie die Voraussetzungen dafür, nämlich die feste Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnis, in die NATO, in Frage stellen lassen und nicht mit aller Energie und Geschlossenheit auch gegen Ansätze, das in Frage zu stellen, vorgehen? Da genügen ein Präsidiums1272 beschluß oder Vorstandsbeschluß nicht. Denn sonst wäre es nicht möglich - ({24}) - Entschuldigung! Ich bestimme das selbstverständlich nicht. Ich erlaube mir nur, so wie Sie sich erlauben, über Meinungen in der FDP Ihre Auffassung zu sagen, meine Meinung über diese Beschlüsse zu sagen. ({25}) Weil ich es für notwendig halte, daß auch in diesem Haus und noch in dieser Debatte mit aller Klarheit und aller Deutlichkeit die gemeinsame Basis der deutschen Außen- und Ostpolitik in der Bündnispartnerschaft klargestellt und alle Zweifel daran ausgeräumt werden, weil gerade diese Zweifel die Chancen der eigenen Verhandlungsposition in Genf nicht festigen, sondern in Gefahr bringen, ({26}) deshalb sage ich das in diesem Zusammenhang mit aller Klarheit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist noch nicht bei bestimmten Fragen in die Tiefe gegangen worden, die in der weiteren Diskussion noch eine Rolle spielen werden. Aber ich will doch vorweg dazu eine Bemerkung machen, nämlich zu den Einsparungsgesetzen in den verschiedensten Bereichen. Hier ist immer von den Kollegen der SPD, aber auch aus den Reihen der GRÜNEN Alternativen die Vokabel gebraucht worden, man solle ' nicht Arbeitslosigkeit bezahlen, sondern man solle entsprechende Mittel nehmen, um Arbeit aus staatlichen Mitteln zu bezahlen. Das klingt sehr einleuchtend. Ich habe vorhin eine Rechnung aufgemacht, wie falsch das ist. Ich kann nicht umhin, Ihnen doch in die Erinnerung zu rufen, was am 30. Juni 1982 auf Ihrer, der SPD, Fraktionssitzung der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt gesagt hat. Er sagte wörtlich: Wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, noch viel tiefer in die Sozialleistungen reinschneiden. Das hat er doch nicht gesagt, weil er antisozial eingestellt ist. Das hat er doch nicht gesagt, weil er für soziale Unausgewogenheit ist. Das hat er nur aus der Erkenntnis gesagt, daß man sich bei diesen Entscheidungen nicht herausmogeln darf aus der Notwendigkeit, ({27}) auch im Bereich der Sozialpolitik wichtige Entscheidungen zu treffen. ({28}) Hier ist davon gesprochen worden. Dann muß auch die Solidarität untereinander entsprechend gesehen werden. Lassen Sie mich ein Beispiel wieder aufgreifen, das ich schon in der alten Koalition - leider vergeblich - vorgetragen habe. Ich hoffe, daß wir in der neuen Koalition zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich will nur einen Punkt aus der Arbeitslosenversicherung herausnehmen. Ich spüre bei den Diskussionen draußen immer wieder, wie sehr folgende Überlegung auf Zustimmung stößt: Ist es richtig, nach drei Jahren Arbeitslosenversicherungsbeitrag für ein volles Jahr Arbeitslosengeld zu bekommen, aber nach 30 Jahren Beitrag auch nur denselben Anspruch von einem Jahr zu haben? Ist es hier nicht notwendig, eine entsprechende Staffelung einzuführen, daß derjenige, der für zehn, zwölf Jahre Arbeitslosenversicherungsbeitrag gezahlt hat, gestaffelt bis zu einem Jahr Arbeitslosengeld bekommt, und daß derjenige, der über 15 Jahre Beitrag gezahlt hat, dann einen Anspruch für zwei Jahre haben soll, ({29}) weil sein Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung entsprechend höher war und er es im Alter viel schwerer hat, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, als das bei den anderen der Fall ist? Das wären doch Vorschläge, die Solidarität zu erhöhen, Vorschläge, über die man ernstlich nachdenken sollte, statt sie wegzuwischen. ({30}) - Entschuldigung, ich bleibe dabei, ich bevorzuge und benachteilige niemanden. ({31}) Unter dem Strich sparen Sie dabei etwas ein, und unter dem Strich werden Sie auch diejenigen dann mit treffen, die heute zum Leidwesen der Beitragszahler die Möglichkeit unserer sozialen Einrichtung gesetzlich legal, aber bis zum letzten auszunutzen wissen. Es ist auch ein Mittel, gegen Schwarzarbeit, gegen illegale Arbeit ein Stück mehr zu tun, wenn man hier die entsprechende Staffelung vornimmt. Lassen Sie mich zum Abschluß noch eine Bemerkung zur Gesamtarbeit in der Koalition und auch zu einem Punkt machen, der noch heute nachmittag eine Rolle spielen wird. Diese Freie Demokratische Partei ist angetreten, in dieser Koalition ihre liberale Politik durchzusetzen. Wir wissen, in einer Koalition bedarf es der Kompromisse, d. h. man muß sich verständigen. Diese Verständigung ist bei notwendigen Entscheidungen im Parlament. bisher immer gefunden worden. Ich gehe davon aus, daß das auch in Zukunft möglich sein wird. Das schließt nicht aus, daß es über bestimmte Fragen, die bis zur Entscheidung in der Diskussion stehen, auch öffentlich unterschiedliche Meinungsäußerungen gibt. Das war früher so, das ist so, und das wird so bleiben. Ich wende mich allerdings dagegen, daß dem Bundesjustizminister, der eine nach Recht und Gesetz getroffene Entscheidung nach außen vertritt, unterstellt wird, daß er damit etwas gegen das Gesetz getan oder daß er seine Liberalität nicht bewiesen habe. Wir werden im einzelnen über manche Fragen zu reden haben. Wenn es Gesetzeslükken gibt, die ausgefüllt werden müssen, muß man darüber diskutieren. Aber der Tatbestand, daß nicht ausgeliefert worden ist, kann nicht hinwegdiskutiert werden. Deshalb wäre ich dankbar, wenn man das, was an Sachdiskussion notwendig ist, nicht mit Emotionalisierung so zuschüttet, daß am Ende die Fragen, die möglicherweise einer Klärung zugeführt werden müssen, nur noch im Nebel zu sehen sind. Eine zweite Bemerkung dazu: Wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß wir in bestimmten Fragen eine andere Meinung als die Union haben, etwa wenn es um Demonstrationsrecht, Vermummungsverbot usw. geht. Ich bedaure es - dies möchte ich in diesem Zusammenhang hier einmal vor aller Öffentlichkeit sagen -, daß es bei allen Diskussionen über das Vermummungsverbot der breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt ist, daß jeder Polizeipräsident, jeder, der eine Demonstration genehmigt, ein Vermummungsverbot erlassen kann. ({32}) - Entschuldigung, ich sage das vor der gesamten Öffentlichkeit. Ich habe doch nicht nur zu Ihnen hingesehen, ich habe überall hingesehen; so ist das nicht. Ich bin nur etwas erstaunt, wie schnell Sie sich betroffen fühlen. Diese Möglichkeiten, die heute bestehen, müssen der Öffentlichkeit klargemacht und sollen auch angewandt werden. Das schließt doch nicht aus, daß eine Bereitschaft besteht, alle diese Fragen mit dem Für und dem Wider mit denjenigen, die dafür in der Öffentlichkeit als Richter, als Staatsanwälte, als Polizeipräsident oder als Polizeibeamte verantwortlich sind, immer wieder zu diskutieren, um festzustellen, wo Mängel sind, wo man vielleicht zusätzliche Entscheidungen treffen muß. Eine abschließende Bemerkung. Dieser Haushalt, der hier vorgelegt worden ist, hat, wie der Bundesfinanzminister mit Recht gesagt hat, positive Perspektiven eröffnet. Dabei wissen wir sehr wohl, daß wir noch manches für die Zukunft zusätzlich zu tun haben. Wir stehen hinter diesem Haushalt. Dieser Haushalt weist in die richtige Richtung. Wir werden alles tun, den Rahmen dieses Haushaltes zu erhalten, und bei jeder Einzelmaßnahme, wo Kritik aufkommt, sehr sorgfältig darauf achten, daß nicht etwa das Konzept dieses Haushaltes in Frage gestellt wird. Das heißt, es kann nicht darum gehen, mit zusätzlichen Ausgaben den Haushalt auszuweiten, es kann nur darum gehen, ihn eher einzuschränken und damit die Kreditnotwendigkeit geringer werden zu lassen. Dies ist der Ausgangspunkt für unsere gesamten Beratungen. Wir wissen, er schafft stärkere Anreize für Innovation, für Forschung und Entwicklung. Er wird die Investitionsbereitschaft steigern, wenn wir alle mithelfen, dieses Pflänzchen, das hier sichtbar wird, zu begießen, und nicht zu einer gemeinsamen Miesmacherfront in diesem Lande werden. Wir haben Miesmacher genug; die können wir nicht gebrauchen. ({33}) Wir brauchen die Bereitschaft, durch Einsatzwillen, durch Kooperationswillen, aber auch durch Verantwortungsbereitschaft das mitzutragen, was notwendig ist, um damit für die Bevölkerung vorbildlich zu sein. Nicht im Ablehnen, nicht im Neinsagen, nicht im Miesmachen liegt das Vorbild, sondern in der Verantwortungsbereitschaft und in der Leistungsbereitschaft liegt das Vorbild. Und das werden wir geben. ({34})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) - Herr Kollege, ich weiß gar nicht, ob eine Chance besteht, Sie noch zu erleuchten. Ich will mich aber redlich bemühen. Es ist Sinn einer Etatdebatte und es entspricht der Tradition der Parlamente, auch der Tradition des deutschen Parlamentes, alle wesentlichen Fragen anzusprechen, zu diskutieren und natürlich - wie es sich gebührt und wie es für eine lebendige Demokratie selbstverständlich ist - auch streitig zu diskutieren. Ich habe sehr aufmerksam mit meinen Kollegen auf der Regierungsbank in diesen Stunden Kritik und auch Anregungen gehört. Ich bin dankbar für beides. Denn es ist ganz selbstverständlich, daß nur aus einem vernünftigen Austausch von Argumenten, dem Hören und dem Ertragen von Argument und Gegenargument der richtige Weg in der Politik zu finden ist. Daß dabei am Vorabend von wichtigen Wahlen - auch das entspricht einer großen Tradition dieses Hauses über drei Jahrzehnte - Wahlkampftöne aufklingen, beklage ich überhaupt nicht. Das wäre ein Stück heuchlerisches Tun, denn jeder von uns in seiner Gruppe hat sich an solchen in der Vergangenheit beteiligt. Ich natürlich auch. Nur, meine Damen und Herren: Das Angebot, das gemacht wird, war in diesen Jahrzehnten unterschiedlich. Verehrter Herr Kollege Börner, verehrter Herr Ministerpräsident von Hessen, wissen Sie, Sie haben heute so richtig geistig die Dachlatte geschwungen, um es einmal so zu sagen. ({1}) Der Begriff „Dachlatte" ist j a nicht beleidigend gemeint. Sie sind ja zu Hause, in einem Teil Ihrer eigenen Landespartei, immer stolz auf diesen Begriff. Nur, denke ich, haben Sie das Manuskript verwechselt. Das war so eine Rede, die vielleicht noch ein paar müde Genossen im Unterbezirk Kassel von den Stühlen reißt, aber die Wähler in Hessen ganz gewiß nicht. ({2}) Ich kenne die Gründe nicht, warum Sie so zugelangt haben, ob es neue demoskopische Zahlen sind oder etwas anderes. Ich denke, unser Kollege Wolfgang Mischnick hat die Dinge hier wieder zurechtgerückt. Ich kann mich darauf beschränken, einige wenige Bemerkungen zu Ihren Fragen, wie Sie es genannt haben, zu machen. ({3}) Meine Damen und Herren, wenige Ereignisse haben die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus in weiten Teilen der Welt so betroffen gemacht und zur Bestürzung veranlaßt wie der Abschuß einer koreanischen Zivilmaschine vor wenigen Tagen. Es ist ganz selbstverständlich, daß der deutsche Bundeskanzler und die Bundesregierung in dieser Debatte über das hinaus, was der Herr Präsident des Hauses zu Beginn der Debatte zum Ausdruck gebracht hat, einige Bemerkungen zu diesem Thema machen will und machen muß. Die Sowjetunion trägt die Verantwortung und Schuld für den Tod von 269 wehrlosen Menschen. Die Sowjetunion hat mit dem Abschuß der koreanischen Linienmaschine gegen die elementaren Regeln im Zusammenleben der Völkergemeinschaft verstoßen. Dieses Verhalten wird und muß von der ganzen Völkerfamilie mit Abscheu verurteilt werden. ({4}) Die Sowjetunion hat in der Charta der Vereinten Nationen und in der KSZE-Schlußakte feierlich jeglicher Androhung und Anwendung von Gewalt entsagt. Sie selbst hat in der Prager Erklärung den Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrags zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt vorgeschlagen. All dieses hindert sie jetzt nicht daran, diesen Akt hemmungsloser Gewalt zu verüben. Ich fordere von dieser Stelle aus die sowjetische Führung eindringlich auf, unverzüglich die Zusammenhänge dieses schrecklichen Vorgangs aufzuklären und die Verantwortung klarzustellen. Hier stehen - das ist ein wichtiger Vorgang - Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit einer Weltmacht auf dem Prüfstand. Dies gilt um so mehr, meine Damen und Herren, als sich dieser Vorgang in einer Zeit ereignet, da Vertrauen im Ost-West-Verhältnis notwendiger denn je ist. Unsere Reaktion ist bei aller Betroffenheit besonnen, und sie wird es auch bleiben. Besonnenheit tut not, damit auch und gerade in dieser sehr kritischen Situation der Weltpolitik der Dialog über die Lebensfragen von Ost und West erhalten bleibt. Daß dies auch die Linie der amerikanischen Regierung ist, ist in einer eindeutigen Weise in der Erklärung des amerikanischen Präsidenten vom 6. September 1983 zum Ausdruck gekommen. Wir sollten diesen Vorgang auch hier bei uns angesichts einer tumben antiamerikanischen Propaganda in unserem Lande dankbar erwähnen. ({5}) Die Bundesregierung steht in engen Konsultationen mit unseren Verbündeten und mit den befreundeten Staaten. Gestern haben die Außenminister der KSZE-Staaten weiterführende Gespräche begonnen. Ein ganz wesentliches Ziel dieser Kontakte besteht darin, die Sicherheit des weltweiten zivilen Luftverkehrs ebenso zu garantieren wie eine unbeeinträchtigte und friedliche Aufrechterhaltung der internationalen Verkehrs- und Handelsverbindungen. Die Bundesregierung wird sich an geeigneten Maßnahmen, die wir gemeinsam mit unseren Freunden abstimmen, beteiligen, um dieses Ziel durchzusetzen. Die Ereignisse beweisen mehr denn je die Notwendigkeit von Dialog und Rüstungskontrolle. Gerade in einer solchen Periode der Erregung und Erhitzung darf das Netz sicherheitspolitischer Kommunikation nicht reißen. Wie bereits in der Grundsatzerklärung über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen vom 29. Mai 1972 festgestellt wurde, tragen alle Länder und nicht nur die Weltmächte eine besondere Verantwortung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit es nicht zu Konflikten oder Situationen kommt, die zur Erhöhung internationaler Spannungen führen würden. Wir fühlen uns darin bestärkt, daß wir in den Verhandlungen mit der Sowjetunion mit größter Sorgfalt unsere Sicherheitsinteressen sowie die Grundsätze der Gleichheit und die Belange des Gleichgewichts wahren müssen. Nach vielen Zugeständnissen des Westens ist jetzt nicht die Zeit für weitere Vorleistungen und einseitiges Vorangehen. Es ist vielmehr die Zeit des geduldigen und des zähen Ausarbeitens von Kompromissen auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils. Am Dienstag sind in Genf die amerikanischsowjetischen Verhandlungen über Mittelstreckensysteme wieder aufgenommen worden. Sie sind somit in die entscheidende Runde eingetreten. Ich habe in diesen Tage unmittelbar vor diesen Verhandlungen - aber nicht nur in diesen Tagen - mit dem amerikanischen Verhandlungsführer Botschafter Nitze wiederum intensive Gespräche geführt. Diese Gespräche und Konsultationen sind in diesen Monaten eine feststehende Übung geworden. Die amerikanische Seite hat mir erneut versichert, daß die amerikanische Regierung auch angesichts der jüngsten Ereignisse entschlossen ist, die Rüstungskontrollverhandlungen mit dem Ziel eines baldigen Abschlusses eines Abkommens zu führen und mit der notwendigen Flexibilität in die neue Verhandlungsrunde zu gehen. Jetzt wird es darauf ankommen, daß auch die Sowjetunion über die Versuche öffentlicher Beeinflussung hinausgeht und einen wirklichen Verhandlungsschritt in Richtung auf einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiß unternimmt. Dieser Kompromiß kann nicht von den Grundsätzen des Gleichgewichts abweichen und auf die Grundlage eines ungleichen Ergebnisses mit den Vereinigten Staaten gestellt werden. Die Sowjetunion blockiert mit ihrer Forderung nach der Einbeziehung der französischen und britischen Systeme die Genfer Verhandlungen. Der jüngste Vorschlag von Generalsekretär Andropow zeigt das doch noch einmal ganz deutlich. Lassen Sie mich gerade zu diesem Vorschlag ein paar Anmerkungen machen. Erstens. Wir begrüßen die Präzisierung der sowjetischen Position, eine Präzisierung, die längst überfällig war. Zweitens. Die Sowjetunion hat aber kein neues Element in die Verhandlungen eingeführt, das den Weg für einen Kompromiß freimachen kann. Drittens. Die sowjetische Erklärung würde von uns positiver aufgenommen, wenn die Sowjetunion zugleich angeboten hätte, die Zerstörung ihrer SS 20 wirksam verifizieren zu lassen. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wir werden in der gegenwärtigen Situation kein Ergebnis erzielen können, wenn wir unsere Verhandlungssubstanz aus der Hand geben. Wir werden keinen Kompromiß erzielen, wenn wir vor dem möglicherweise entscheidenden Durchbruch auf die wesentlichen Elemente unserer Position verzichten und so den notwendigen Verhandlungsdruck von der sowjetischen Seite nehmen. ({6}) Das gilt für die Pershing II, das gilt für den Waffenmix ebenso wie für den Zeitplan der möglicherweise erforderlich werdenden Stationierung. Was wir in dieser entscheidenden Phase der Genfer Verhandlungen brauchen, wird auf unserer Seite eine Mischung aus Festigkeit und Flexibilität sein. Den Rahmen für diese Flexibilität haben wir in engster Abstimmung mit den Vereinigten Staaten auch durch die persönlichen Kontakte mit dem Präsidenten geschaffen. Diese Position ist eine tragfähige Grundlage für Kompromisse und für eine Anpassung an eintretende Entwicklungen in den Verhandlungen. Die Festigkeit, die wir brauchen, wird die Geschlossenheit des Bündnisses sein und die Kraft, die Sowjetunion angesichts ihrer Vorrüstung nicht aus ihrer Verantwortung in den Verhandlungen zu entlassen. Uns werden in diesen Tagen auch aus den Reihen dieses Hauses manche Vorschläge für die Verhandlungen gemacht, die diesen Kriterien nicht entsprechen und die mit Sicherheit nicht zu einem vernünftigen Verhandlungskompromiß führen werden. Wir sehen den engen sachlichen Zusammenhang zwischen INF und START. Die westliche Verhandlungsposition in der Genfer Verhandlung trägt auch diesem Zusammenhang durchaus Rechnung. Wer aber in diesem Augenblick und in dieser Phase - das muß deutlich gesagt werden - der Zusammenlegung von START und INF das Wort redet, der spekuliert auf eine Verschiebung des Stationierungsbeginns, der nimmt den Verhandlungsdruck von der sowjetischen Seite, der entläßt die Sowjetunion aus der Verantwortung für die Lösung eines Problems, das sie, die Sowjetunion, selbst geschaffen hat, der versucht, sich aus innenpolitischen Opportunitätsgründen der eigenen Verantwortung für den NATO-Doppelbeschluß zu entziehen, und der gefährdet die Durchsetzung unserer Sicherheitsinteressen. ({7}) Die Probleme der Genfer INF-Verhandlungen sind keine Zeitfrage - das weiß jeder, der sich ernsthaft damit beschäftigt -, sondern letztlich eine Frage der Kompromißwilligkeit. Wenn die Sowjetunion bereit ist, ihre starre Haltung aufzugeben, kann in Tagen ein Vertrag entwickelt werden. Was mich aber, meine Damen und Herren, in der Reihe der erteilten Ratschläge am meisten beunruhigt und was mich mit Sorge über den notwendigen sicherheitspolitischen Kurs unseres Landes erfüllt, ist just in dieser Stunde der Vorschlag, daß die Bundesrepublik Deutschland aus der militärischen Integration der NATO ausscheiden soll. Ich würde dieses Thema nicht zur Sprache bringen, wenn es irgendein Vorschlag wäre. Das ist ein Vorschlag, der in einer logischen Folgerichtigkeit eine totale Veränderung der politischen Grundlagen unseres Landes in Gang setzen will, jener Grundlagen, die wir doch immerhin nach manchem Hin und Her seit 1949 gemeinsam erarbeitet haben. Aber, meine Damen und Herren, dieser Vorschlag kommt von einem führenden Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, und dieser Vorschlag hat inzwischen in wichtigen Bereichen, Konferenzen und Tagungen der Sozialdemokratischen Partei Zustimmung und Mehrheiten gefunden. ({8}) - Schauen Sie doch nach Hessen! ({9}) Dieser Vorschlag kommt von einem Vorstandsmitglied. Ich weiß, Herr Kollege Vogel, daß Ihnen das wehtut. Sie sind gefordert, ein klares Wort zur Sicherheitspolitik Ihrer Partei zu sagen. ({10}) Herr Kollege Vogel, das Bestürzende an diesem Vorschlag ist doch die Tatsache, daß er aus Ihrer Partei kommt, Ihrer Partei, die die Bundesregierung bis vor einem Jahr getragen hat. Es war die von Ihnen geführte Bundesregierung, die den NATO-Doppelbeschluß in diesem Hause vorgetragen hat. ({11}) Wir, FDP, CDU und CSU, stehen doch heute in der absurden Situation, daß wir eine Politik, die Sie wesentlich entwickelt und mitbestimmt haben, verteidigen, während Sie von der Fahne gegangen sind. ({12}) Damit das klar ausgesprochen wird - ich nehme hier ein Wort von Wolfgang Mischnick auf -: Dies alles macht uns keine Freude. Meine Damen und Herren von der SPD, Herr Kollege Brandt, wir haben genug streitige Fragen. Ich wäre glücklich, wenn wir in den Grundfragen der nationalen Sicherheitspolitik wieder zu einer gemeinsamen Linie finden könnten. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brandt?

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Nein.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es tut mir leid, Herr Brandt; der Bundeskanzler gestattet keine Zwischenfrage. ({0})

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Meine Damen und Herren, wer jeden Tag im Wahlkampf in Hessen Ihre Parolen zu diesem Thema sieht, der sieht, wie von Ihnen und Ihren Freunden draußen im Land die Stimmung angeheizt wird. ({0}) Wir alle wissen, daß Sicherheit und Stabilität in Europa entscheidend vom Verhältnis der konventionellen Streitkräfte auf beiden Seiten abhängen. Auch hier sind wir angesichts der Aufrüstung der Staaten des Warschauer Paktes mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und anderen Waffen vor schwerste Probleme gestellt. Deshalb bedarf es auch im Bereich der Kontrolle der konventionellen Rüstung verstärkter politischer Anstrengungen. Wir begrüßen, daß bei den Wiener Verhandlungen über Truppenabbau in Mitteleuropa Spielraum für neue Bewegungen gegeben ist, und wir werden diesen Spielraum entschieden nutzen. ({1}) - Herr Kollege Ehmke, wenn Sie unsere Bemühungen weniger mit Häme und mehr mit Unterstützung versehen hätten, wären wir vielleicht gemeinsam ein Stück weitergekommen. ({2}) Ich bin davon überzeugt, daß Fortschritte möglich sind, wenn sich auch die östliche Seite in den offenen Kernfragen, insbesondere der Datenfrage und der Frage der Verifikation, kompromißbereit zeigt. Mit Beginn des kommenden Jahres wird ein weiteres Forum für ein auf ganz Europa ausgeweitetes Rüstungskontrolldialogprogramm zur Verfügung stehen. Mit der Einberufung der Konferenz für Abrüstung in Europa durch das Madrider KSZE-Folgetreffen hat der mit der Schlußakte von Helsinki eingeleitete Prozeß des Dialogs und der Zusammenarbeit in Europa eine neue bedeutsame Etappe erreicht. Meine Damen und Herren, wir haben die KAE mit Nachdruck angestrebt, und wir haben auch entscheidende Beiträge zu ihrem Zustandekommen geleistet. In der ersten Konferenzphase wird es nunmehr darum gehen, vertrauensbildende und sicherheitsbildende Maßnahmen zu vereinbaren, die in ganz Europa - vom Atlantik bis zum Ural - anzuwenden sind. Die Konferenz stellt damit eine dringend erforderliche Ergänzung der MBFR-Verhandlungen dar. Sie bietet allen Staaten Europas und Nordamerikas die Möglichkeit, gemeinsam Vertrauen aufzubauen und die von unseren Mitbürgern besorgt beobachtete Spannung zwischen Ost und West abzubauen. Wir als Bundesregierung - und ich hoffe, wir als Bundesrepublik Deutschland - wollen unseren Beitrag dazu erbringen, in dieser besonders kritischen Phase der Weltpolitik einen Dienst am Frieden zu leisten. Unser Ziel bleibt Abrüstung und Entspannung unter Wahrung des Gleichgewichts, unser Ziel bleibt, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen. ({3}) In diesen Tagen und Wochen demonstrieren viele Mitbürger in unserem Lande für Frieden und Abrüstung. Deshalb habe ich vor einigen Tagen - auch im Blick auf ein geschichtliches Ereignis - an die Bürger unseres Landes einen Appell gerichtet, den ich heute vor dem Deutschen Bunde tag wiederholen möchte. Alle Deutschen wollen Frieden. Sehnsucht nach einer friedlichen Welt haben nicht nur jene, die ihre Friedensgesinnung auf den Straßen zeigen. Wir alle bekennen uns zu Frieden und Freiheit, wollen Frieden schaffen mit immer weniger Waffen, verzichten auf Gewalt und Krieg. Alle Deutschen sind Mitglieder einer großen gemeinsamen Friedensbewegung. Wir haben die Lektion der Geschichte gelernt. Sie hat uns und andere Völker gelehrt, daß wir Frieden und Freiheit nur dann bewahren können, wenn wir bereit und fähig sind, sie zu verteidigen. Den Frieden aber, meine Damen und Herren, den wir zwischen den Völkern schaffen wollen, müssen wir zuallererst im eigenen Lande bewahren. Es wäre verhängnisvoll, wenn ausgerechnet die politische Auseinandersetzung über den richtigen Weg zum Frieden Leidenschaften wecken und eine Minderheit zu gewalttätigen Aktionen verführen würde. Deshalb appelliere ich noch einmal nachdrücklich an alle Bürger unseres Landes: Tragen Sie bitte mit dazu bei, daß der innere Frieden in unserem Lande gewahrt bleibt, daß Demonstrationen, die ein wichtiges Grundrecht freiheitlicher Ordnung sind, gewaltfrei bleiben, daß unsere Republik und die Gemeinsamkeit der Demokraten keinen Schaden nehmen! Gewalt und Rechtsbruch, ziviler Ungehorsam und Widerstand sind kein glaubhafter Ausdruck friedlicher Gesinnung. ({4}) Niemand hat das Recht, und niemandem darf es gestattet werden, für sich in Anspruch zu nehmen, er sei entschiedener, bewußter und leidenschaftlicher für den Frieden als andere. Ich wiederhole: Alle Deutschen wollen den Frieden. Das in Jahrzehnten angesammelte Rüstungspotential und das Mißtrauen zwischen den Völkern können durch Demonstrationen und Aktionen nicht einfach aus der Welt geschafft werden. Dazu bedarf es ernsthafter und mit Festigkeit geführter Verhandlungen. Das wissen auch diejenigen, die zwar nicht demonstrieren, aber deswegen nicht weniger leidenschaftlich für Frieden und Freiheit eintreten und für Abrüstung kämpfen. Dies sollte niemand in den nächsten Wochen und Monaten vergessen. Friedensliebe wird durch Lautstärke nicht glaubhafter und überzeugender. ({5}) Denn Frieden wollen nicht nur jene, die vor Kasernentoren demonstrieren, sondern auch jene, die in den Kasernen ganz selbstverständlich als Soldaten unserer Bundeswehr ihren Dienst tun. ({6}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist ganz natürlich, daß in der schwierigen wirtschaftspolitischen Lage, in der sich unser Land befindet, die Themen Arbeitslosigkeit, Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik einen besonderen Schwerpunkt unserer Debatte darstellen. Viel ist dazu bereits gesagt worden. Ich will dazu ein paar kurze Bemerkungen machen und mich dann vor allem der Frage der Chancen der jungen Generation zuwenden. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nach wie vor bedrückend. Niemand von uns hat etwas anderes gesagt. Daß die jüngsten Zahlen, gemessen an anderen, erfreulicher sind, bedeutet überhaupt nicht, daß damit das Problem gelöst wäre; auch das hat niemand anders gesagt. Die Zahl von 2,2 Millionen Arbeitslosen ist bedrückend, weil sie nicht nur irgendeine statistische Zahl ist, sondern weil wir in die Gesichter der Betroffenen blicken müssen, in das Gesicht des Stahlkochers, des Bergarbeiters oder des Mannes irgendwo auf dem Bau. Das gleiche gilt vor allem auch für deren Familien. Von verschiedenen Seiten ist hier auch richtig gesagt worden: Bei allem, was uns in dieser Frage trennt, müssen wir erkennen, daß eine neue Dimension sozialer Konflikte auf uns zukommt, nämlich der Konflikt zwischen dem Arbeitsplatzbesitzenden und dem Arbeitsplatzsuchenden und die Gefahr der Auflösung der Solidarität, die gerade in einer Demokratie Voraussetzung für gute Zukunft ist. Die Zahlen sind Ihnen bekannt. Ihnen ist auch bekannt - auch wenn es von seiten der Opposition bezweifelt wird -, daß diese Regierung mit dem klaren Ziel angetreten ist: Das erste wichtige Anliegen deutscher Innenpolitik müssen Bekämpfung, Stopp und Abbau der Arbeitslosigkeit sein. ({7}) Ich bin etwas erstaunt über die Art und Weise, wie ausgerechnet Redner der Opposition mit diesem Thema umgehen. Wenn ich Sie draußen reden höre, meine Damen und Herren, dann muß ich in der Tat sagen: Man hat gelegentlich den Eindruck, ein Großteil von Ihnen sei vor 13 Jahren aus der Bundesrepublik ausgewandert und kehre jetzt von einem fernen Archipel zurück, um die Lage hier zu beurteilen. ({8}) Ich habe in diesen Tagen im Wahlkampf in Bremen gesprochen. Ich habe in Bremen nicht dem dortigen Senat und dem dortigen Bürgermeister eine Rechnung für all das aufgemacht, was da in der Vergangenheit getan oder auch nicht getan worden ist. Ich finde, es gibt keinen großen Sinn, im Blick auf den Arbeitslosen, den einzelnen, den persönlich Betroffenen jetzt Schuldzuweisungen etwa über Standortbestimmungen bei der Stahlindustrie, bei den Werften, in der Hochseefischerei in Bremen und bei anderen zu suchen. Uns geht es darum, daß wir diesem Land, dem kleinsten Bundesland, in dem sich sozusagen im Mikrokosmos die ganzen Probleme der Republik wiederfinden, aus der Solidarität des ganzen Landes heraus helfen. Darin sehe ich meinen Auftrag und nicht darin, jetzt im Wahlkampf billige Parolen zu finden. Herr Kollege Brandt, ich könnte es mir leicht machen, denn Sie waren viel länger Kanzler der Bundesrepublik; der Kollege Schmidt war viel länger Kanzler; ich bin gerade 11 Monate im Amt. Herr Kollege Brandt, dies ist aber keine politisch überzeugende Antwort. Wir müssen uns mit den vorhandenen Problemen auseinandersetzen, und genau dies tun wir. ({9}) - Herr Kollege Ehmke, in all Ihren Beiträgen in diesen Jahren dazu war außer Häme nichts. Man muß es einmal offen aussprechen. ({10}) Herr Börner, wenn Sie - ich unterstelle, Sie haben das getan - aufmerksam die Rede des Bundesfinanzministers, die er ja im Namen der Bundesregierung, auch in meinem Namen als Bundeskanzler, hier vorgetragen hat, gelesen haben, dann werden Sie feststellen, daß alle Fragen, die Sie gestellt haben, dort natürlich beantwortet sind; ({11}) ich gebe zu, Herr Kollege Börner, nicht in einer Weise, wie Sie sie für wünschenswert halten. Darüber müssen wir miteinander streiten. Aber, meine Damen und Herren von der SPD, darüber haben wir auch im Januar und Februar gestritten. Das war doch das Thema des Wahlkampfs, und wir haben doch den Wählerauftrag bekommen und nicht Sie. ({12}) Das heißt also, um das klar auszusprechen: Die Konsolidierung des Haushalts, die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, das ist nach unserer Überzeugung eine Grundvoraussetzung, um die dauerhafte Wiederbelebung der Wirtschaft zu erreichen. ({13}) Sie wissen das auch; anderes haben wir oder ich nie gesagt. Wir haben den Wählern vor der Wahl gesagt: Das ist ein schwieriger Weg. - Wir haben im Gegensatz zu Ihnen keine Versprechungen gemacht. ({14}) Wir haben gesagt: Ihr werdet Opfer bringen müssen. ({15}) Wir haben unseren Mitbürgern gesagt: Wir werden Opfer bringen müssen. Herr Roth, wir sind deswegen gewählt worden, weil wir vor der Wahl die Wahrheit gesagt haben. ({16}) Sehen Sie, Herr Kollege Roth, das, was wir jetzt in diesen Monaten getan haben - es sind ja nur wenige Monate, in denen wir wirklich arbeiten konnten; das wissen Sie so gut wie ich -, waren überwiegend Aufräumungsarbeiten. Wir sind uns doch völlig einig - ich hoffe, zumindest im Ziel -, daß wir im Blick auf unsere Volkswirtschaft, auf die Entwicklung unserer Wirtschaft, auf die Entwicklung unserer Unternehmungen vor schwersten Strukturproblemen stehen. Schauen Sie doch einmal nach Bremen! Ob Sie dort die Luftschiffahrt nehmen, ob Sie Werften nehmen oder den Stahlbereich nehmen - um nur drei wichtige Bereiche zu nennen -: Das sind doch alles Entwicklungen, denen nicht mit Patentlösungen beizukommen ist, sondern hinsichtlich derer man Gemeinsamkeit finden muß, beispielsweise zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. Wir versuchen das, ich tue dies. Ein Großteil meiner Arbeitszeit geht ja genau in diesen Sektor, damit wir zu einem gemeinsamen Weg finden, so kritisch und kritisierbar das einzelne sein mag. Jetzt einmal ein offenes Wort zu dem, was Sie so vollmundig als vielstimmigen Chor kritisieren. Sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn man mittel- und langfristig vor so schwerwiegenden Entscheidungen steht, wie sich die Struktur unserer Volkswirtschaft bei der Umstrukturierung von Stahl und Kohle, bei der Entwicklung neuer Technologien angesichts der japanischen Herausforderung entwickeln sollte - ich nenne nur diese Stichworte -, dann muß es doch selbstverständlich so sein, daß man in einer großen Volkspartei - das konzediere ich Ihnen doch auch - miteinander darüber diskutiert. Wenn dann einer aus dieser Partei im Rahmen der Parteiführung ein Papier für eine Diskussion vorlegt, dann, meine Damen und Herren, hat dieses Papier noch niemand in dieser Partei genehmigt oder abgesegnet. Aber es ist ein Diskussionsanstoß, und andere machen das auch. ({17}) - Aber, meine Damen und Herren, ich habe Ihnen doch noch nie vorgeworfen, daß Sie diskutieren. Was wir Ihnen vorwerfen, ist doch, daß Sie Ihre eigenen Beschlüsse nicht ernst nehmen. Das ist doch etwas ganz anderes. ({18}) Ein erfahrener Zeitgenosse und Mitglied dieses Hauses sagte vor zwei/drei Jahren: Wenn das offene Wort, das eine lebendige, demokratische Partei in ihren Reihen führt, sachbezogen ist, gefährdet es in einer Republik unserer Art keine Regierung. Der Verzicht darauf aber könnte eine demokratische Partei auslaugen und in ihrer Substanz gefährden. In Lebensfragen der Nation kann man gar nicht ernsthaft genug um den richtigen Weg ringen. ({19}) - Herr Kollege Vogel, wenn das Zitat Willy Brandts richtig ist, was geben Sie dann für törichte Presseerklärungen zu dieser Diskussion ab? ({20}) Natürlich, in einer Volkspartei - lassen Sie mich das als Vorsitzender der CDU hier sagen -, die wirklich alle Schichten der Bevölkerung anspricht und mit umfaßt, wird in Einzelfragen der Politik immer miteinander zu ringen sein. Das ist ja auch der Grund dafür, warum wir in so vielen Ländern und Gemeinden die absolute Mehrheit haben und im Bund knapp an die absolute Mehrheit herangekommen sind. ({21}) Also, Sie mögen das in Ihrer Wahlpropaganda als billigen Erfolg verbuchen, wir gehen unseren Weg weiter. Wir haben eine klare Position, die vor allem deswegen klar ist, weil wir so offen und fair miteinander diskutieren, auch wenn die Diskussionen manches Mal hart sind. Herr Kollege Börner, jetzt komme ich zu dem Thema, das Sie auch angesprochen haben und das ich in der Tat für mit das wichtigste halte - zumindest halte ich es für eine der wichtigsten Fragen -, das im Augenblick zur Diskussion steht: die Lage der jungen Generation im Blick auf Ausbildungsstellen. Ich gehe jetzt nicht auf den propagandistischen Teil Ihrer Ausführungen ein, aber Sie sind dann im zweiten Teil bei dem Thema etwas ruhiger geworden und haben auch Kooperationen angeboten, ein Angebot, das ich gern annehme. Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß der Stichtag für die Arbeitsamtsstatistik über die Bewerberzahlen der 30. September ist. Sie wissen auch - das ist keine Erkenntnis des Jahres 1983 -, daß die Auswertung dieser Zahlen in der Vergangenheit immer fünf bis sechs Wochen dauerte, daß also abschließende Zahlen erst Ende Oktober/Anfang November vorliegen. Dennoch, meine Damen und Herren, ist es durchaus am Platze und auch richtig, daß wir über dieses Thema heute sprechen. Ich selbst will zu diesem Thema aus der gleichen Überzeugung sprechen, mit der ich für dieses Thema in diesen Wochen und Monaten auch gegenüber der Öffentlichkeit eingetreten bin. Ich halte es für eine der wichtigsten Fragen in unserer Gesellschaft, daß wir jungen Leute die Chance geben, eine bestmögliche Ausbildung zu erfahren. Ich halte es für einen wichtigen Akt staatspolitischer Überzeugung, daß ein junger Mann, der die Schule verläßt, die Chance für seine Ausbildung erhält, wenn wir von dem gleichen jungen Mann zwei/drei Jahre später erwarten, daß er seinen Dienst in der Bundeswehr tut. Er muß diese Republik als eine Gesellschaft, als eine Republik erfahren, die auch für sein persönliches Glück die notwendigen Tore öffnet. ({22}) Das war der Sinn unserer Gespräche, unserer Anregungen, unseres Kampfes. Wenn einige von Ihnen - ich sage bewußt: einige, weil auch viele Kollegen aus der SPD - so wie wir - wirklich um jeden Platz gekämpft haben - in dem Punkt weniger Propaganda im Parteiischen gemacht und sich mehr um junge Leute gekümmert hätten, dann wäre die Lage hinsichtlich der Ausbildungsstellen für junge Leute noch besser. ({23}) - Herr Ehmke, der Beitrag, den Sie zu diesem Thema geleistet haben, ist wiederum null und nichtig; das ist Ihr Schicksal, das ist wirklich Ihr Schicksal. -({24}) Die Anzeichen und die jetzt vorliegenden Zahlen deuten darauf hin, daß unsere Aktivität - ich füge hinzu: Gott sei Dank - erfolgreich ist. ({25}) Der Ausbildungsmarkt ist auch nach dem Stichtag des 30. September in Bewegung, nicht zuletzt deswegen, weil Lehrstellen neu angeboten werden, deren Inhaber die Stelle nicht angetreten oder die Ausbildung nach kurzer Zeit wieder abgebrochen haben. Ich habe darauf hingewiesen, daß die endgültigen Zahlen erst ab November/Dezember seriös beurteilt werden können. Aus diesen Gründen halte ich es für wichtig, daß wir die Zeit nutzen: nicht um Angst und Sorge unter jungen Leuten zu verbreiten, sondern um möglichst viele in Ausbildungsverhältnisse zu bringen. ({26}) Meine Damen und Herren, zunächst ist festzustellen, daß die von der deutschen Wirtschaft in all ihren Bereichen zugesagte Zahl, daß das Angebot vom Januar dieses Jahres, insgesamt 685 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen zu wollen, realisierbar ist. Die 30 000 Stellen mehr, die zugesagt wurden, sind da. ({27}) Dafür sprechen alle bereits vorliegenden Meldungen. Wenn der Ministerpräsident von Hessen hier eben den Kammern und den Verbänden besonders gedankt hat, kann ich mich dem nur gern anschließen. Ich finde, wir sollten rühmend erwähnen, daß auf dem Wege freier Vereinbarungen und ohne gesetzlichen Zwang so etwas möglich war. Es war möglich, daß Industrie und Handel einen Zuwachs von insgesamt 6 % Ausbildungsstellen gegenüber dem Vorjahr melden, daß das Handwerk ein Plus von 5 %, die Landwirtschaft ein Plus von 5%, der öffentliche Dienst ein Plus von 5% und die freien Berufe ein Plus von 3 % erreichten. Das ergibt umgerechnet eine Steigerung der Ausbildungsplätze von knapp über 35 000 gegenüber dem Vorjahr. Diese Zahl stand im Januar dieses Jahres zur Debatte. ({28}) - Meine Damen und Herren von der SPD, es hat doch keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu sprechen, daß wir uns ernsthaft darum bemühen, wenn Sie sich nicht einmal den Satz anhören, der hier gesprochen wird. Sie können ihn ja bestreiten. Aber es ist doch nur vernünftig, das nachher zu tun und nicht zu versuchen, den Redner niederzuschreien, zumal es ja ziemlich sinnlos ist in diesem Saal, wie Sie wissen. ({29}) Meine Damen und Herren, bereits im Juli dieses Jahres waren mehr als 25 000 Lehrstellen mehr an Jugendliche vermittelt als im Juli 1982. Der Ausbildungsmarkt ist in Bewegung geraten. Viele haben geholfen, auch viele Zeitungen, nicht nur eine. Dafür bin ich dankbar; das will ich deutlich sagen. ({30}) Diese Anstrengungen wurden im Laufe des Monats August noch intensiviert. Das zeigt weitere positive Wirkungen. Nach der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit waren im Juli 1983, also vor ein paar Wochen, 175 000 Lehrstellenbewerber unversorgt. Im August betrug diese Zahl nach einer Veröffentlichung vom vergangenen Dienstag noch 96 000. Das ist also in einem Monat eine gewaltige Verminderung, wie Sie erkennen können. In keinem Jahr zuvor in den letzten Jahrzehnten konnte im Monat August eine so hohe Zahl von Lehrstellen vermittelt werden. Das heißt: es ist eine Bewußtseinsänderung in breiten Schichten der Bevölkerung, nicht zuletzt bei den Handwerksmeistern, in vielen Klein- und Mittelbetrieben, aber auch in den Großbetrieben bei der Unternehmensführung wie bei den Betriebsräten eingekehrt, daß dies eine zentrale Frage unserer Gesellschaft geworden ist. Die Bundesanstalt für Arbeit weist gleichzeitig noch 27 000 unbesetzte Lehrstellen aus. Wenn sich alle Beteiligten im September zu einer neuen großen Anstrengung bereitfinden, vor allem, wenn dies noch in sehr viel größerem Umfang für junge Frauen und Mädchen getan wird, dann können wir wirklich das Ziel erreichen, das wir uns gesetzt haben, und zwar weit über die vorliegenden Zahlen vom Januar hinaus. Es muß aber auch gesagt werden, daß zwei Voraussetzungen notwendig sind. Es müssen die nicht angetretenen Lehrstellen - ich nehme das auf, was der Kollege Mischnick dazu gesagt hat - für andere Bewerber angeboten werden. Es darf keine Verunsicherung von jungen Leuten betrieben werden. Meine Damen und Herren, ich denke, wer sich um junge Leute bemüht - wir tun das alle -, hat auch das Recht, jungen Leuten zu sagen, daß es eine völlig unverständliche Grundeinstellung ist, wenn man sich aus vielleicht verständlichen Gründen für mehrere Lehrstellen bewirbt, eine akzeptiert und die schon gegebene Unterschrift bei einem anderen Lehrherrn nicht zurückzieht, ihn nicht benachrichtigt und damit die Stelle nicht freimacht für einen Kollegen aus dem gleichen Alter. Ich finde, dieser Mangel an Solidarität sollte als solcher auch gebrandmarkt werden. Wir wollen jungen Leuten, wenn wir ihnen helfen, auch sagen, daß auch ihre Beiträge zur Hilfe kommen müssen. Meine Damen und Herren, wie immer man diese Zahlenentwicklung im einzelnen interpretieren mag, sie zeigen eines: Der Lehrstellenmarkt ist, wenn alle, die guten Willens sind, sich beteiligen, nicht statisch. Viele Betriebe haben sich inzwischen entschlossen, ihre ohnehin schon große Ausbildungsleistung in diesem Jahr noch einmal zu verstärken. Ich habe bereits davon gesprochen: Es waren große wie kleine. Deswegen freue ich mich, daß die gegebene Zusage der deutschen Wirtschaft vom Frühjahr eingelöst wurde. Wir alle, die wir uns bei diesem Thema besonders bemühen, sollten in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Wir sollten auch noch einen anderen wichtigen Punkt mit in unsere Betrachtung einbeziehen, nämlich daß sich diese Zahlen im Vergleich zu den Ausgangspositionen im vergangenen Januar auch deswegen verändert haben, weil im Bereich der akademischen Ausbildung eine erhebliche Bewegung dadurch in Gang gekommen ist, daß sich unter den sich verändernden Bedingungen für Hochschulabsolventen im Hinblick auf ihre Berufschancen viele junge Leute - junge Männer und junge Frauen - jetzt die Frage stellen, ob sie aus dem Bereich der akademischen Ausbildung ausscheiden, ob sie in das duale System gehen sollen, weil das für sie Zukunft verspricht. ({31}) - Ich weiß, das ist für Sie kein Thema, weil Sie glauben, wir müßten die Themen des Tages diskutieren, ohne die mittel- und langfristigen Probleme mit aufzunehmen. Ich bin beispielsweise, so sehr uns das in der konkreten Situation die Sache erschwert, sehr damit zufrieden, daß sich ganz offensichtlich seit 1981 die Zahl der Lehramtskandidaten, insbesondere der weiblichen Lehramtskandidaten, ganz erheblich verringert hat. Manche Statistiken sprechen davon, daß sie sich halbiert habe. Das erschwert zwar jetzt in der konkreten Lage die Versorgung mit Ausbildungsstellen im dualen System. Aber zum Nachdenken will ich Ihnen eine Zahl mit auf den Weg geben, die mich bewegt. Wir haben gegenwärtig in der Bundesrepublik in allen Schulgattungen rund 565 000 Lehrer. Die Gesamtzahl der eingeschriebenen Lehramtsstudenten und -kandidaten für alle Schultypen - die letzte Statistik, die vorliegt, bezieht sich auf das Wintersemester 81/82 - beträgt 214 000. Meine Damen und Herren, wer wirklich für junge Leute eintritt, wer sensibel für ihre Probleme ist, der muß doch sagen, daß sich in diesem Jahrzehnt im Bereich der Pädagogikstudenten - das gilt übrigens auch für andere Bereiche, z. B. für Juristen - eine totale Fehlentwicklung angebahnt hat und jetzt fortsetzt. ({32}) Herr Kollege Börner, wir sind stolz auf den Kulturföderalismus. Wir sind stolz darauf, daß die Länder hier eine besondere Hoheit haben. Ich hätte gern gesehen, was Sie - das gilt aber auch für andere - getan haben, damit wir aus einer Entwicklung herauskommen, die letztlich eine Bankrotterklärung bedeutet. Wenn eine junge Frau mit 18, 19 Jahren nach dem Abitur ihr Pädagogikstudium in der sicheren Erkenntnis beginnt, daß sie zwar mit 26 Jahren in der Ausbildung ihr Berufsziel erreicht haben wird, daß sie aber angesichts der Entwicklung der Schülerzahlen, der demographischen Entwicklung und allem, was dazu beiträgt, praktisch kaum eine Chance haben wird, eine Stelle zu bekommen, dann muß uns das doch mindestens genauso bewegen wie die Probleme des aktuellen Jahrgangs, der jetzt in Lehrverhältnisse gehen soll. Wenn - ich füge das hinzu - solche jungen Männer und jungen Frauen jetzt aus dem Studium ausscheiden und eine Ausbildung im dualen System suchen, sollten wir alles tun, um sie zu ermutigen. Die Akademisierung der Berufswelt in der Bundesrepublik hat in den letzten Jahren nicht mehr Glück über unser Land gebracht. ({33}) Das hat alles mit dem vielzitierten Prinzip der Solidarität zu tun. Ich will noch einmal an alle appellieren, die Verantwortung tragen - auch an die Eltern im Gespräch mit ihren eigenen Kindern -, daß junge Leute, die einen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben und ihn dann, aus welchen Gründen auch immer, nicht antreten, unverzüglich von diesem Vertrag zurücktreten sollen. Wir wissen, daß das eine Zahl in der Größenordnung von 20 000 bis 30 000 ist. Allein bei der Firma Hoechst AG haben in diesem Jahr 20 % - das ist eine sehr genau fixierbare Zahl - der Bewerber, die bereits eine feste Zusage hatten, ihren Vertrag wieder zurückgegeben. Und das sind erstklassige Ausbildungsplätze, die für den Zukunft verheißen, der diese Ausbildung auf sich nimmt. Deswegen ist es wichtig, daß jeder von uns im Rahmen seiner Möglichkeiten das Nötige tut, damit wir auch auf diesem Feld vorankommen. Und ich appelliere an alle Ausbildungsbetriebe, trotz mancher negativer Erfahrungen, wie ich sie eben beschrieben habe, solche Lehrstellen nicht unbesetzt zu lassen, sondern anderen Jugendlichen ihre Chance für eine qualifizierte Berufsausbildung zu geben. Ich appelliere noch einmal an die Eltern, die oft vorhandene, ja, von den Eltern sozusagen vorgelebte mangelnde Mobilität und Flexibilität vieler junger Leute zu bekämpfen, damit in wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft, in denen es sehr wohl noch Ausbildungsplätze gibt, im Baugewerbe, Einzelhandel, Hotel- und Gaststättengewerbe - ich bringe bloß diese wenigen Beispiele -, die AusbilBundeskanzler Dr. Kohl dungsstellen völlig in Anspruch genommen werden. Ich denke, wir werden in den nächsten Wochen noch sehr viel intensiver über dieses Thema miteinander zu sprechen haben. Ich wollte heute nur schon eines sagen. Ich bin für all die Hilfe dankbar, die wir in diesen Monaten aus allen Bereichen der Wirtschaft erhalten haben. Ich bin dafür dankbar, daß die Zusage der 30 000 zusätzlichen Stellen eingelöst werden konnte. Und ich bin zuversichtlich, daß wir - der Staat, die öffentliche Hand, Bund, Länder und Gemeinden und die Wirtschaft - mit unserem gemeinsamen Bemühen dieses Problem im großen und ganzen lösen werden. Als letzten Punkt möchte ich in diesem Debattenbeitrag beim jetzigen Stand der Diskussion ein Wort zu den Vorgängen um den Tod des Türken Kemal Altun sagen. Dieser Tod hat viele Menschen auch in unserem Land bewegt. ({34}) Wir sind betroffen von dieser Verzweiflungstat eines Bürgers, der hier bei uns gelebt hat und der für sich selbst offensichtlich keinen anderen Ausweg als diese Tat der Verzweiflung sah. Aber ich denke: Wer sich ernsthaft und ohne den Willen und die Absicht, Propaganda mit diesem tragischen Fall zu machen, mit diesem Thema beschäftigt, muß vor allem bereit sein, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat wie die Türkei und zahlreiche andere Staaten das Europäische Auslieferungsübereinkommen aus dem Jahr 1957 ratifiziert. Einen Auslieferungsverkehr mit der Türkei unterhält nicht nur die Bundesrepublik Deutschland. Ich will das einmal bei dieser Gelegenheit sagen. Das tun viele Staaten, die zu Recht ob ihrer Liberalität gerühmt werden, ob das die Niederlande sind, ob das Schweden ist, ob das die Schweiz ist, um nur wenige zu nennen. Selbst Frankreich, das nicht Partner dieses Übereinkommens ist und den Vertrag seinerzeit nicht abgeschlossen hat, hat die Auslieferung in die Türkei nicht generell eingestellt. Nach dem Übereinkommen besteht grundsätzlich eine Pflicht zur Auslieferung, wenn sich der Auslieferungsantrag nicht auf politische Straftaten bezieht. Kemal Altun wurde von den zuständigen türkischen Justizbehörden vorgeworfen, den Mörder eines früheren Ministers dieses Landes verborgen und die Tatwaffe aufbewahrt und beseitigt zu haben. Das in seinem Fall zuständige Kammergericht in Berlin - das ist also das zuständige Oberlandesgericht -, dem die umfassende rechtliche Prüfung obliegt, hat am 16. Dezember 1982 die Auslieferung für zulässig erklärt. Es hatte festgestellt, daß Altun keine politische, sondern eine kriminelle Tat vorgeworfen wurde. Die Bundesregierung hat sich nach dieser Entscheidung um die erforderlichen Zusicherungen der Türkei bemüht, die gewährleisten, daß auch die Türkei ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag nachkommt und sie einhält. Nach dem Übereinkommen hat das die Auslieferung verlangende Land vor allem die Verpflichtung, den Betroffenen wegen keiner anderen Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen. Alle dazu erforderlichen Zusicherungen wurden seitens der Türkei der Bundesregierung gegeben. Darüber hinaus hat uns die Türkei am 8. Juli 1983 versichert, daß ein Vertreter der deutschen Botschaft in Ankara Herrn Altun nach seiner möglichen Auslieferung im türkischen Gewahrsam selbstverständlich besuchen dürfe. Diese Zusage war übrigens einer der maßgeblichen Gründe für die Entscheidung der Menschenrechtskommission in Straßburg vom 14. Juli 1983, ihr ursprüngliches Verlangen, die Auslieferung bis zur ihrer endgültigen Entscheidung auszusetzen, nicht aufrechtzuerhalten. Zwar haben, wie wir wissen, mehrere europäische Staaten vor der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg Klage gegen die Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen erhoben. Dieser Klage haben wir uns jedoch wie die Mehrzahl unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft und im Europarat nicht angeschlossen. ({35}) Neben diesem Auslieferungsverfahren waren noch andere Verfahren anhängig, in denen Kemal Altun Rechtsschutz begehrte. Gegen die Bewilligung der Auslieferung hatte Altun am 14. März 1983 die Menschenrechtskommission in Straßburg angerufen. Gleichzeitig schwebte wegen seines Asylantrags vom 7. September 1981, den das zuständige Bundesamt im Juni 1983 zunächst anerkannt hatte, ein gerichtliches Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in Berlin. Außerdem - um das Bild abzurunden - hat sich das Bundesverfassungsgericht zweimal mit diesem Fall befaßt und die Anträge jeweils zurückgewiesen. ({36}) Diese beiden Verfahren hinderten nicht den Vollzug der Auslieferung. Im Einvernehmen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist durch das Asylverfahrensgesetz vom Juli 1982 noch einmal ausdrücklich bekräftigt worden, daß Asylentscheidungen für das Auslieferungsverfahren nicht verbindlich sind. Dem Oberlandesgericht - das ist das Berliner Kammergericht -, das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidet, obliegt nach dieser Norm, die hier gesetzt wurde, vielmehr die umfassende Prüfung, ob auch das Grundrecht auf Asyl gewahrt ist. Dies ist in diesem Fall ausdrücklich geprüft worden und so geschehen. Nach der Entscheidung des Kammergerichts Berlin vom 16. Dezember 1982 lagen, wie dargelegt, die rechtlichen Voraussetzungen für die Auslieferung vor. Die Bundesregierung hat aber dennoch keine Entscheidung über den Vollzug der Auslieferung getroffen. Ihre Meinungsbildung dauerte immer noch an, und wir hatten mehrere Dis1282 kussionen, in denen gerade auch die menschliche Seite dieses Falles immer wieder diskutiert wurde. Obwohl wir rechtlich nicht dazu verpflichtet waren, haben wir berücksichtigt, daß die Verfahren vor der Menschenrechtskommission in Straßburg und vor dem Verwaltungsgericht in Berlin noch nicht abgeschlossen waren. Jedermann kann also erkennen, daß sich die beiden für das Verfassungsrecht, das Auslieferungsrecht und die Ausländerpolitik zuständigen Minister entsprechend ihrem Amtseid, der Rechtsordnung unseres Landes und der ständigen Staatspraxis verhalten haben. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß seit 1980, d. h. auch in den Jahren, in denen ich nicht die Regierungsverantwortung trug, ({37}) in 15 Fällen ebenso verfahren wurde. So hat im Jahre 1981 der damalige Justizminister Dr. Jochen Vogel in einem ähnlich gelagerten Fall, der einen jugoslawischen Asylbewerber betraf, folgende grundsätzliche Ausführungen gemacht - ich zitiere -: Unabhängig von diesem Einzelfall halte ich es auch aus grundsätzlichen Erwägungen für bedenklich, die Entscheidung über ein Auslieferungsersuchen im Hinblick auf ein anhängiges Asylverfahren über einen längeren Zeitraum hinauszuschieben. Bei einer solchen Verfahrensweise ist nämlich zu befürchten, daß Verfolgte in zunehmendem Maße um Asyl nachsuchen, um sich ihrer Auslieferung - in diesem Fall nach Jugoslawien und damit der strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Die Folge wäre, daß der vertraglich vorgesehene Auslieferungsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien letztlich zum Erliegen kommen könnte, ein Ergebnis, das nicht erwünscht sein könnte, und das auch das Problem der Vertragstreue der Bundesrepublik Deutschland aufwerfen würde. Ich darf Sie bitten, dieses Zitat im Kontext mit dem zu würdigen, was ich soeben hier vorgetragen habe. Ich füge aber hinzu: Wenn die Weiterführung der Beschwerde Altuns bei der Europäischen Menschenrechtskommission rechtlich möglich ist und die Kommission dies feststellt, wird sich die Bundesregierung wie schon bisher selbstverständlich bereitwillig diesem Verfahren stellen und alles tun, was sie selbst tun kann, um eine Klärung des Falles und der darin erhobenen Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland durch Straßburger Organe zu erreichen. Wir sind fest davon überzeugt, daß uns keine Menschenrechtsverletzungen angelastet werden können. Meine Damen und Herren, der menschlich tragische Fall von Kemal Altun sollte niemanden zu einer vordergründigen und vorschnellen Polemik verleiten. Wer die intensiven und sorgfältigen Bemühungen unserer staatlichen Organe, den rechtsstaatlichen Garantien unserer Rechtsordnung gerecht zu werden, mit Vorgängen aus der Zeit des Nationalsozialismus vergleicht - wie dies geschehen ist -, verläßt die Basis einer redlichen Diskussion. ({38}) Ich sage dies auch im Blick auf die für mich unerträgliche und unverständliche Äußerung, die der Bundesgeschäftsführer der SPD zu diesem Thema gemacht hat. Ich weiß, daß zwischen dem Asylrecht und der Auslieferungsverpflichtung oft ein schwer zu lösendes Spannungsverhältnis besteht. In vielen Gesprächen mit den zuständigen Kollegen im Justiz- und im Innenministerium, die hier ganz einfach ihre Pflicht getan haben, in Gesprächen mit dem Bundesaußenminister und mit anderen haben wir dieses gerade in diesem Fall ausgelotet. ({39}) Der einzelne kann in schwere Konflikte geraten. Die einzige Gewähr, klare Maßstäbe für derartige menschliche Verstrickungen, die auch den internationalen Verkehr berühren, zu gewinnen, ist die Garantie unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Ihr Wesenszug ist es, daß alle Entscheidungen durch unabhängige Gerichte in objektiven Verfahren kontrolliert werden. Wir haben uns als Bundesregierung streng an diese Verfahren gehalten. Deswegen bitte ich Sie, meine Damen und Herren, heute nachmittag bei der Abstimmung die Anträge der Fraktionen der GRÜNEN und der SPD, die die Kollegen Zimmermann und Engelhard betreffen, abzulehnen. ({40})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt. Der nächste Redner ist dann Herr Vogel. Wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Wir fahren in der Aussprache über die Tagesordnungspunkte 1 und 2 fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der bisherigen Debatte sind zwischen Ihnen und uns, zwischen Regierung und Opposition, eine Vielzahl von Gegensätzen zutage getreten, und es sind harte Auseinandersetzungen geführt worden. Ich werde weitere Themen behandeln, bei denen wir in scharfem Widerspruch zueinander stehen. Ich werde mich auch mit Ihrer Speziallogik, Herr Bundeskanzler, auseinandersetzen, die kontroverse Diskussion in Ihrer eigenen Partei als belebendes Element der Demokratie darzustellen und KontroDr. Vogel versen in meiner Partei als eine angebliche Schädigung nationaler Interessen anzuprangern. ({0}) Das ist nicht nur Häme, Herr Bundeskanzler, die Sie uns neuerdings so gern vorwerfen; das erweckt den Eindruck der Heuchelei. Lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen. ({1}) Da machen Sie nicht nur aus der Not eine Tugend. ({2}) Ich sagte: Wir werden harte Auseinandersetzungen zu führen haben. Aber in einem wichtigen Punkt - den möchte ich an den Anfang stellen - stimmen wir überein, nämlich in der Beurteilung des empörenden Abschusses einer zivilen Luftverkehrsmaschine nördlich der japanischen Insel Hokkaido. Das war ein Akt brutaler Inhumanität, der schärfste Verurteilung erfordert; ein Akt, der die Sowjetunion mit schwerer Verantwortung belädt. ({3}) Der Vorgang, meine sehr verehrten Damen und Herren, macht aber auch schlaglichtartig deutlich, zu welchen Folgen Reaktionen führen, bei denen sich übersteigertes Sicherheitsbedürfnis in irrationaler Weise mit pseudomilitärischer Borniertheit vermischt. ({4}) Es ist nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn Reaktionen dieser Art nukleare Waffensysteme mit einbezögen. Neben die Verurteilung, neben den Protest und neben die Empörung muß deshalb ein weiteres treten, nämlich die verstärkte Anstrengung, dem Rüstungswahnsinn ein Ende zu machen. ({5}) Wir begrüßen die vom amerikanischen Präsidenten erklärte Bereitschaft, die Verhandlungen in Genf ohne Aufschub und ohne Unterbrechung fortzusetzen. Wir begrüßen auch, daß der amerikanische Präsident in der Sache maßvoll reagiert hat. Wir haben Ihren Ausführungen entnommen, Herr Bundeskanzler, daß auch die Bundesregierung sinn- und maßvolle Reaktionen beabsichtigt. Für die Opposition begrüße ich das. Über Einzelheiten wird zu reden sein, wenn die Prüfung durch die Bundesregierung zum Abschluß gekommen ist. In diese Prüfung werden sicher auch Erfahrungen mit früheren Sanktionen einbezogen werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren seit gestern vor allem über die finanzielle und die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik. Die Redner der Regierung und der Koalition werden in dieser Debatte nicht müde, von der wirtschaftlichen Wende zu sprechen, die seit dem 1. Oktober 1982 eingetreten sei. Aber keine Behauptung, keine noch so spitzfindige Beweisführung, keine unverbindlichen Allgemeinplätze und keine Polemik schaffen die Tatsachen aus der Welt. Diese Tatsachen lauten auch heute, am zweiten Tag der Diskussion, folgendermaßen: Erstens. Die Zahl der Arbeitslosen ist seit dem 1. Oktober 1982 um nahezu 400 000 auf 2,2 Millionen angestiegen und steigt vor allem bei den Frauen weiter. Zweitens. Über 200 000 Jugendliche sind ohne Arbeitsplatz. Nahezu 100000 junge Menschen - genau: 97 000 - sind ohne Ausbildungsplatz. All das sind amtliche Zahlen. Drittens. Die Zinsen steigen. Die Zahl der Pleiten, die bei Ihren Diskussionen während der Oppositionszeit eine so große Rolle spielte, war nie höher als seit Ihrer Amtsübernahme. ({6}) Viertens. Der Wert der D-Mark sinkt, und zwar nicht nur im Verhältnis zum Dollar; gleichzeitig geht das Volumen unserer Exporte zurück. Daran, meine Damen und Herren der Regierung und der Koalition, haben Ihre breiten Darlegungen nicht ein Jota geändert. Geändert hat sich auch nichts daran, daß Sie selbst einen Jahresdurchschnitt von 2,5 Millionen Arbeitslosen erwarten und Ihren Berechnungen zugrunde legen, ja daß Sie Spitzenzahlen von 3 und 3,5 Millionen Arbeitslosen nicht ausschließen. Wir begrüßen das nicht, wir freuen uns nicht darüber - wir bedauern das -, aber wir stellen das als Tatsache in den Mittelpunkt der Diskussion. ({7}) Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und von der Koalition, erklären das noch immer mit der angeblichen Erblast. Aber was haben Sie denn nach Ihrer Amtsübernahme versprochen, Herr Bundeskanzler? Womit haben Sie denn vor dem 6. März 1983 um Stimmen geworben? Etwa mit den Zahlen und Fakten, die ich eben nannte? Nein. Sie haben den Aufschwung versprochen, und Sie haben jedem jungen Menschen eine Lehrstelle garantiert. Jetzt, Herr Bundeskanzler - und das überrascht mich eigentlich -, tun Sie etwas, was ein Bundeskanzler nicht tun sollte. Sie versuchen, sich herauszureden. In besonders peinlicher Weise haben Sie das heute morgen getan. Es geht doch nicht um die Zusage der Industrie und des Handwerks, 30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Es geht um Ihre in Großbuchstaben erklärte Garantie: Für jeden ist eine Lehrstelle da, wenn Kohl Bundeskanzler wird. Darum geht es. ({8}) Diesen Satz aus Ihrer Wahlanzeige können Sie nicht abschütteln. Herr Bundeskanzler, dieser Satz, der neben Ihrem Konterfei in Millionenauflage verbreitet worden ist, steht: Für jeden ist eine Lehrstelle da. Diese Versprechungen waren leichtfertig. Sie haben diese Versprechungen nicht halten können, und Sie wußten das wohl, als Sie Ihre Versprechungen gaben. Sie haben viele enttäuscht - nein, ich glaube, es ist in Erinnerung an dieses Dokument korrekt zu sagen: Sie haben viele nicht nur enttäuscht, Sie haben sie getäuscht. ({9}) Was hätten sich wohl - nun spreche ich den Parteivorsitzenden Kohl an - Herr Geißler und seine bewährte Abteilung für semantische Kriegsführung einfallen lassen, wenn Sozialdemokraten ein solches Stück gewagt hätten? ({10}) „Lehrstellenlügner", „Aufschwungsbetrüger" - das wären wohl die mildesten Schlagworte gewesen, die Herr Geißler in diese Debatte bei umgekehrter Verteilung der Rollen eingeführt hätte. ({11}) Ich mache mir die Sprach- und Kriegsübungen Ihrer Abteilung Semantik nicht zu eigen. Dieser Vorwurf ist in keiner Weise entkräftet. Wir halten ihn aufrecht, wir wiederholen ihn. Aber, Herr Bundeskanzler - ich bedaure, daß Sie das nicht verstehen wollen -, das ist doch gar nicht der zentrale Vorwurf. Das ist schlimm genug. Mein Freund Börner hat gesagt, was das für die Glaubwürdigkeit bedeutet. Der zentrale Vorwurf, Herr Bundeskanzler, ist, daß Sie nicht das Mögliche getan haben, um Ihr Versprechen zu erfüllen. ({12}) Sie haben auf den Selbstlauf der Dinge vertraut, Sie haben Falsches getan. Sie haben unsere Vorschläge abgelehnt, zumeist ohne sie überhaupt zu prüfen. ({13}) - Wir machen doch nicht mies. ({14}) - Ich freue mich, daß der Ausdruck Häme, der Herrn Feilcke aus Berlin so wohlbekannt ist, jetzt in das Vokabular des Bundeskanzlers und dann folgend auch in Ihres Eingang gefunden hat. Aber das ist nicht der Punkt. ({15}) Wir machen doch nicht mies, was Wirtschaft, Handwerk und Gewerkschaften an Anstrengungen unternommen haben. Es wäre übrigens gut gewesen, wenn Sie bei diesen Anstrengungen heute auch die Gewerkschaften und die Ausbilder erwähnt hätten, Herr Bundeskanzler. ({16}) Sie reden doch immer von Gemeinsamkeit. ({17}) - Da setzen Sie sich einmal mit den Gewerkschaften auseinander. Für die Vermehrung der Zahl der Ausbildungsplätze haben auch die Gewerkschaften ihren entscheidenden Beitrag geleistet. Das ist überhaupt keine Frage. ({18}) Wir machen nicht mies, was Wirtschaft, Handwerk und Gewerkschaften zur Vermehrung der Zahl der Ausbildungsplätze getan haben. Es sieht so aus, als wenn die eben Genannten ihre Zusage, nämlich 30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, einhalten würden. Das unterscheidet sie aber von dem Herrn Bundeskanzler, der sicher aus einem zwingenden Grund schon nach der ersten Attacke den Saal verlassen hat. ({19}) Aber er wird sicherlich zurückkehren. ({20}) Aber jeder wußte doch, das unterscheidet ihn - ({21}) - Nein, ich halte mich an Beispiele, die Ihre Regierung gegeben hat, und möchte keine Zwischenfrage zulassen. ({22}) Ich halte es auch für merkwürdig, daß wir uns dann immer gegenseitig der Feigheit zeihen. Ich glaube, wir sollten einfach gewisse Regeln für gewisse Debatten einführen. Wenn wir hier alle im Zusammenhang reden, mache ich es auch so. ({23}) - Ich habe ja gesagt, es ist sicher ein zwingender Grund. ({24}) - Ich habe eine Menge Zeit. Ich habe ja gesagt, es ist sicher ein zwingender Grund. Also das unterscheidet Handwerk und Wirtschaft und Industrie vom Bundeskanzler. Ich danke im Namen der Sozialdemokraten allen, die sich in Wirtschaft und Handwerk engagiert und nicht nur billige Versprechungen aus Wahlgründen gemacht, sondern etwas getan haben. ({25}) Das ist im übrigen auch kein völlig neuer Vorgang. Die haben auch schon Helmut Schmidt geholfen, als er in einer ähnlichen Situation war. Allerdings hat sich da das große Massenmedium nicht so unmittelbar, sondern eher distanziert helfend einDr. Vogel geschaltet. Das ist das einzige, was man da anmerken kann. Jeder wußte aber, daß diese Anstrengung nicht reichen würde. ({26}) - Ja, und daraus kann man dann auch seine Schlüsse ziehen, Herr Feilcke. Deshalb haben wir ein konkretes Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit und zur Überwindung des Mangels an Ausbildungsplätzen vorgelegt. Holger Börner hat allein in Hessen mit vergleichbaren Maßnahmen 4 200 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Ihre Kritik, Herr Kollege Mischnick, ändert nichts daran, daß diese Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen und junge Menschen ausgebildet werden, die sonst nicht ausgebildet worden wären. ({27}) Meine Damen und Herren, hätte sich der Bund - da spreche ich auch Herrn Blüm an, der heute für Herrn Lambsdorff mit Herrn Roth infolge einer Verwechslung auswechslungsfähig erschien - in gleicher Weise engagiert, stünden mindestens 40 000 weitere Ausbildungsplätze zur Verfügung, die jetzt fehlen. Das haben Sie zu verantworten, und diese Verantwortung werden Sie nicht los, auch wenn Sie jetzt die Statistik bereinigen lassen oder Bewerber jetzt als „vermittlungsunfähig" oder „vermittlungsunwillig" deklarieren. Dies ist nicht der Ausweg, der hier gegangen werden kann. Wir stehen übrigens mit dieser Kritik an Ihrer Untätigkeit nicht allein. Wir sind mit den Thesen des Herrn Albrecht, wie noch auszuführen sein wird, nicht einverstanden. Wir halten sie in den wesentlichen Punkten sogar für gefährlich. Einer Feststellung stimmen wir aber ausdrücklich zu, daß nämlich mit den bisher eingeleiteten Maßnahmen allein weder ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung noch ein Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen sei. Wenn Herr Kohl gemeint hat, daß diese Feststellung ein belebendes Element der Demokratie sei, dann stimme ich ihm allerdings für diesen Satz ausdrücklich zu. ({28}) Sie, Herr Kollege Dregger, haben diese Meinung kurzerhand zur Privatmeinung des Herrn Albrecht erklärt. So schnell werden Sie aber den Herrn Albrecht nach meinen Erfahrungen nicht los. Es ist immerhin die Meinung Ihres Vier-Wochen-Kanzlerkandidaten aus dem Jahre 1980, und es ist immerhin die Meinung Ihres stellvertretenden Parteivorsitzenden. Ich sagte, Sie waren untätig oder haben unzureichende, ja, falsche Maßnahmen ergriffen. An diesem Urteil hat sich durch die bisherige Debatte nichts geändert. Sie sind zu den meisten - ich sage nicht: allen - unserer Fragen und Feststellungen die Antwort schuldig geblieben. Herr Posser, von dem ich gerne höre, daß er hier bei der Koalition eine so breite Zustimmung gefunden hat, hat an dem vergangenen Wochenende im Bundesrat Ihnen, Herr Kollege Stoltenberg, nachgewiesen, daß die Unternehmensbelastung nicht gestiegen, sondern von 1965 bis 1981 deutlich gesunken ist, daß die Lohnsteuer seit 1970 auf das Zweieinhalbfache, die Vermögensteuer aber nur um dreiviertel ihres Aufkommens gestiegen ist. Herr Posser hat nachgewiesen, daß eine niedrige Vermögensteuer nur den ertragstarken Großbetrieben, nicht aber den Klein- und Mittelbetrieben und schon gar nicht den Stahlwerken und Werften hilft, weil durch die Gegenrechnung der Schuldverpflichtungen in vielen Fällen überhaupt kein steuerpflichtiges Vermögen da ist. Dennoch senken Sie die Unternehmenssteuern, gerade die Vermögensteuer, um insgesamt 3,5 Milliarden DM. Hans Apel hat gestern für uns dargetan, wie Ihre verfehlte Haushaltsanlage konjunkturelle und strukturelle Krisenerscheinungen in unserem Lande nicht dämpft, sondern verschärft. Sie halten daran fest. Wolfgang Roth hat heute vormittag aufgezeigt, wie wenig Sie nach unserer Auffassung der Verantwortung für die Überwindung der Probleme bei Stahl, Kohle und Werften gerecht werden. ({29}) Eine Änderung ist nicht erkennbar. Holger Börner hat heute vormittag an Hand konkreter Zahlen überzeugend nachgewiesen, was eine Regierung zu leisten vermag, wenn sie entschlossen handelt und ihre Möglichkeiten tatsächlich nutzt. ({30}) Die Debatte hat ein Weiteres gezeigt. Sie hat gezeigt, daß Sie - das sage ich eher leise, weil es einen ganz ernsten Punkt berührt - die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit mißachten. Meine Damen und Herren, da spreche ich einige von Ihnen, die sich schon zu Wort gemeldet haben, ganz besonders an: Sie senken die Vermögensteuer und kürzen gleichzeitig das Mutterschaftsgeld; Sie scheuen sich noch immer, über Absichtserklärungen hinaus die hohen Gewinne zu beschneiden, die wenige hoch Verdienende aus den Abschreibungsgesellschaften ziehen, aber Sie kürzen sogar die Rentenansprüche der Behinderten, die in beschützenden Werkstätten arbeiten, also einer Gruppe, die weiß Gott Anspruch auf unser aller Solidarität hat. ({31}) Wir lassen es nicht bei dieser Kritik bewenden. Anders als der Prophet von Sonthofen, der Verkünder der Katastrophenphilosophie, wollen wir nicht, daß alles noch viel schlechter wird, weil dann vielleicht unsere Chancen steigen. Wir wollen, daß Sie handeln. Aber Sie werden scheitern, wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, und die Zeche für dieses Scheitern wird unsere Gemeinschaft, wird unser Volk zu zahlen haben. ({32}) Wir haben unsere Alternativen, haben unser Programm vorgetragen. Ich wiederhole seine wesentlichen Elemente: Erstens: Verkürzung der Arbeitszeit auf allen drei Ebenen. Dazu haben wir Gesetzentwürfe vorgelegt, die das erleichtern. Jetzt sind Sie am Zuge. Beraten Sie unsere Entwürfe, kommen Sie zu Entscheidungen. ({33}) Ich lasse keinen Zweifel daran: Wir respektieren die Entscheidungen der Gewerkschaften. Die Tarifparteien müssen selber wissen, wo sie den Schwerpunkt setzen wollen. Aber wir stehen an der Seite der Gewerkschaften, wir unterstützen das Ringen der Gewerkschaften, und zwar nicht nur aus Solidarität, sondern auch deshalb, weil das, was sie fordern, vernünftig ist und Unterstützung verdient. ({34}) Zweitens: pfleglicher Umgang mit der Massenkaufkraft. Kein vernünftiger Unternehmer wird investieren, wenn er für die zusätzliche Kapazität keine ausreichende kaufkräftige Nachfrage erwarten kann. Drittens: wirksame Hilfe für Strukturen und Regionen, die unter der Krise besonders leiden. Dabei geht es gar nicht einmal in erster Linie - da greife ich einen Gedanken des Kollegen Roth auf - um das Geld. Es geht um die Orientierung, es geht um Konzepte, und es geht um Konsens. Es geht für diese Bereiche um das, was wir schon zu Beginn dieses Jahres den Solidarpakt der Betroffenen und Beteiligten und der öffentlichen Gebietskörperschaften genannt haben. ({35}) Es genügt eben nicht, wenn die Bundesregierung zuwartet und noch einmal zuwartet, prüft und noch einmal prüft und dann in letzter Minute - da ist das Beispiel der Arbed im Saarland immer besonders eindrucksvoll - gewisse Summen zur Verfügung stellt. Wenn es um Stahl, Kohle und Werften, wenn es um das Saarland, um Bremen und um das Ruhrgebiet - noch immer ein Kernstück unserer Wirtschaftsstruktur - geht, muß die Bundesregierung die Initiative ergreifen. Sie muß mit Konzeptvorschlägen hervortreten. Wir haben unsere Konzepte vorgelegt. Lassen Sie uns dann um die richtigen Konzepte wetteifern, aber gehen Sie von der Zuschauerbank in die Arena! Das ist unser Appell. ({36}) Viertens: gezielte Förderung für die kleinen und mittleren Unternehmen, deren Innovationskraft wir für die Modernisierung der Volkswirtschaft besonders benötigen. Wenn mich gerade in den schwierigen Verhältnissen Berlins etwas besonders beeindruckt hat, dann die Tatsache, daß dort dieser Bereich - gerade das Handwerk - die Zahl der Arbeitsplätze gehalten hat, während im Bereich der gewerblichen Wirtschaft insgesamt die Zahl der Arbeitsplätze rapide nach unten gegangen ist. Fünftens: staatliche Initiativen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze auf den Feldern, auf denen ein drängender gesellschaftlicher Bedarf vorhanden ist, der bisher nicht befriedigt wird, so insbesondere durch die Investitionen zum Schutz der Umwelt, zur Bekämpfung des Waldsterbens und zur Sicherung unserer Wasserversorgung. Wir wissen heute doch - da haben viele gelernt; ich sehe nicht nur in eine Richtung; wir alle haben gelernt, in diesem Haus und in diesem Volk -, daß das ökonomisch Vernünftige zugleich auch ökologisch sinnvoll ist und umgekehrt das ökologisch Sinnvolle auf längere Sicht auch das ökonomisch Notwendige und Sinnvolle darstellt. ({37}) Dieser künstlich aufgeputschte Gegensatz schwindet nach unserer Einsicht doch immer mehr dahin. ({38}) Wir sagen nicht, der Staat könne an die Stelle der Wirtschaft treten. Aber wir sagen: Der Staat muß das ihm Mögliche tun, und er muß zu diesem Zweck auch an Tabus rühren. Ich glaube, das ist der Hauptgegensatz zwischen uns, der in dieser Diskussion bisher deutlich geworden ist. Sie haben schließlich eingewendet - auch der Herr Bundesfinanzminister hat das getan -, unsere Vorschläge seien nicht finanzierbar. Es ist behauptet worden, wir seien gegen eine vernünftige Konsolidierung. Das wird durch ständige Wiederholung nicht richtig. Verzichten Sie auf die Senkung der Vermögensteuer! Führen Sie an Stelle des von Ihnen im Koalitionspingpong um die Wahlen herum erfundenen Wechselbalges der sogenannten Investitionsabgabe, an deren Bezeichnung wirklich aber auch nichts stimmt, eine wirkliche Ergänzungsabgabe ein! ({39}) Tun Sie das, was Sie vor der Wahl erklärt und versprochen haben! ({40}) Machen Sie mit den Privilegien der Abschreibungsgesellschaften endlich Schluß! Es ist doch nicht wahr, daß durch die Abschreibungsgesellschaften die Konjunktur belebt wird. Streichen Sie, Herr Bundesfinanzminister, wenigstens diejenigen Subventionen und die verfehlten Steuererleichterungen, deren Abbau Sie in der Opposition so lange angekündigt und gefordert haben! Wir sind doch nicht unvernünftig. Wir verstehen, daß Sie in der Regierungsverantwortung klüger werden, als Sie es in der Opposition waren; wir hoffen es jedenfalls. Aber Sie können doch nicht behaupten, daß alles, was Sie zum Thema Subventionen gesagt haben, dummes Zeug gewesen wäre; ({41}) das wäre doch schon von der Logik her schwer zu verstehen. Ziehen Sie die zusätzlichen Bundesbankgewinne heran! Das ergibt dann einen Deckungsbetrag, der sogar über die von uns genannten 7 Milliarden DM - sie sind vorsichtig berechnet - noch hinausgeht. Noch etwas zu den weltwirtschaftlichen Zusammenhängen, die Sie als Opposition stets bagatellisiert haben, zu weltwirtschaftlichen Zusammenhängen, zu denen die Partei, der ein Helmut Schmidt angehört, wahrlich keiner Belehrungen von außen bedarf. ({42}) Würden Sie meiner Kritik an dem von Ihnen so hoch gepriesenen Gipfel von Williamsburg auch heute, Herr Bundeskanzler, noch so euphorisch widersprechen wie in der Debatte am 9. Juni? Jetzt beruft sich doch Ihr ganzes Kabinett, Ihr Finanzminister, Ihr Wirtschaftsminister, ständig auf die schlimmen Auswirkungen der hohen Zinsen, die das Budgetdefizit der USA verursacht. Ich glaube, es war gut, in Williamsburg Liebenswürdigkeiten auszutauschen und zu schönen Gruppenfotos zu kommen. Es wäre aber noch wichtiger gewesen, den Vereinigten Staaten mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, was diese Budgetpolitik für ihre Verbündeten, für das gesamte Weltwirtschaftssystem bedeutet. ({43}) Ein anderes Thema, das uns heute nachmittag noch beschäftigen wird, sind die Liberalität unseres Gemeinwesens und die Bewahrung eines Klimas der Meinungsfreiheit und der Toleranz, eines Klimas, in dem die Rechte der Mehrheit zwar nicht in Frage stehen, in dem sich aber auch Minderheiten geborgen fühlen, eines Klimas, in dem auch Menschen, die bei uns Schutz vor Verfolgung suchen, ohne Angst leben können. ({44}) Das, Herr Bundeskanzler, sind keine Allgemeinplätze. Es sind, wie es Adolf Arndt einmal gesagt hat, konstitutive Elemente der Gesellschaftsordnung, auf die wir uns im Grundgesetz verständigt haben. ({45}) Sie reden gern, Herr Bundeskanzler, vor allem in Wahlversammlungen - hier weniger -, von einer anderen Republik, die infolge unserer Politik drohe, von einer andere Republik, die wir Sozialdemokraten angeblich anstreben. Eine Bundesrepublik, meine Damen und Herren, die der eben von mir genannten Elemente beraubt wäre, wäre eine andere Republik. ({46}) Sie wäre auch dann eine andere Republik, wenn kein Buchstabe eines Gesetzes geändert würde. Es kann schon genügen, wenn das Klima, wenn der Geist, in dem unser Staat seine Macht ausübt, wenn der Geist, in dem seine Repräsentanten reden und handeln, an Liberalität verlieren und Züge der Unduldsamkeit und der herrischen Bevormundung annehmen. ({47}) Sie haben bei Ihrem Amtsantritt und dann wieder in Ihrer Regierungserklärung versichert, Sie wollten die Liberalität unseres Staates hüten und bewahren, und als Rheinland-Pfälzer stünden Sie damit auch in einer großen Tradition. Sie haben sich j a wie andere auf das Hambacher Fest und die Freiheitsgedanken des Hambacher Fests berufen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben auch hier nicht Wort gehalten. In Wahrheit hat sich das Klima in unserem Lande schon jetzt nach 11 Monaten in bedenklicher Weise verändert. Sie haben dadurch die Spannungen in einer Zeit verschärft, in der auch im Inneren Entspannung das Gebot der Stunde wäre. ({48}) Damit wir uns da gut verstehen, Herr Bundeskanzler: Wir Sozialdemokraten stehen zu unserem Staat. Wir haben die Fähigkeit unseres Staates, unsere Ordnung zu schützen und zu bewahren, in der Zeit der schweren terroristischen Anschläge mit Entschlossenheit, aber auch mit Besonnenheit und ohne Einbuße an Liberalität behauptet. ({49}) Wir wissen, daß die Freiheit des einzelnen an der Freiheit aller anderen ihre Schranke findet. Wir wissen, daß diese Freiheit des Schutzes und der Einhaltung von Regeln bedarf. Auch unwürdige Exzesse wie den eines Abgeordneten der Landtagsfraktion „Die Grünen" anläßlich des Empfangs im hessischen Landtag lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab. ({50}) Wenn Sie die Liberalität bewahren wollen, Herr Bundeskanzler, warum wollen Sie denn das Demonstrationsrecht ändern und zu diesem Zweck einen Straftatbestand schaffen, der Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende zu potentiellen Straftätern macht, ({51}) ein Tatbestand, der dem Schuldprinzip widerspricht, weil er dem Angeklagten das Risiko der Unbeweisbarkeit seines tatsächlichen Verhaltens aufbürdet? ({52}) Warum bestehen Sie, Herr Bundeskanzler, auf einer Regelung, vor der der Richterbund, der Deutsche Anwaltsverein und die Gewerkschaft der Polizei, und zwar auch die Vorstandsmitglieder, die Ihrer Partei angehören, ausdrücklich warnen? Warum läßt Herr Bundesminister Zimmermann, wie wir heute lesen und hören, alle wesentlichen sicherheitspolitischen Entscheidungen seines Vorgängers Baum mit dem Ziel überprüfen, sie durch Entscheidungen zu ersetzen, die seinem Geist, dem Geist des Herrn Zimmermann, entsprechen? Darüber, welche antiliberale Wende uns hier bevorsteht, hat wohl niemand, der Herrn Zimmermann seit einiger Zeit kennt und in seiner Amtsführung beobachtet hat, den geringsten Zweifel. ({53}) War das die Wende, Herr Genscher, würde ich ihn fragen, wenn er da wäre, die Ihnen vorschwebte, als Sie der Ablösung des Herrn Baum durch Herrn Zimmermann zustimmten? Nein, ({54}) da geht es nicht um die Schutzfähigkeit des Staates. ({55}) Die Schutzfähigkeit des Staates wird durch die von Ihnen beabsichtigten Maßnahmen nicht gestärkt, sondern eher vermindert. Ihnen geht es vielmehr darum, vermeintlich populären Stimmungen Rechnung zu tragen, unbequeme Gruppen einzuschüchtern. Herr Zimmermann geht es wohl auch darum, in enger Übereinstimmung mit seinem Parteivorsitzenden die FDP, zumindest aber die dort noch verbliebenen Liberalen zu demütigen. Das mag ein weiteres Motiv sein. ({56}) Es geht Ihnen darum, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich Widerspruch gegen das, was Sie für richtig halten, schwerer oder eines Tages gar nicht mehr entfaltet. ({57}) Schon bemühen einige Ihrer Freunde wieder das gesunde Volksempfinden. Das alles ist nicht rechtsfreundlich, das ist nicht tolerant, ({58}) das ist antiliberal, das dient dem inneren Frieden nicht. ({59}) Warum fährt eigentlich Herr Geißler fort, den Pazifismus zu diffamieren, und Herr Spranger die Friedensbewegung insgesamt? ({60}) Weshalb ist in Ihren Reihen aufs neue von „entarteter Kunst" die Rede? ({61}) Herr Zimmermann steht ja auch hier an vorderster Front. Dafür zeigt sich der Bundesminister des Innern in Sachen HIAG großzügig und entlastet diese sattsam bekannte Vereinigung sogar ohne Zustimmung des Bundesamtes für Verfassungsschutz von dem Vorwurf der Verfassungsbedenklichkeit, mit dem er anderen gegenüber so freigiebig umgeht. ({62}) Ähnliches gilt für die Diskussion, die Sie über die Situation der ausländischen Mitbürger entfacht haben: für den Streit über das Nachzugsalter, für die Erschwerung des Aufenthalts durch kleinliche Schikanen, für die faktische Einengung der Asylgewährung. All das hat schon jetzt Einschüchterung bewirkt und den Nährboden für Verhaltensweisen geschaffen, ohne die der Fall des Türken Altun nicht ein so tragisches Ende hätte nehmen müssen. Mit den erschreckenden Umständen dieses Falles werden wir uns noch auseinandersetzen. Was immer Sie dann vorbringen werden, was Sie schließlich mit Ihrer Mehrheit entscheiden werden: Für Herrn Zimmermann und leider auch für Herrn Engelhard, für Ihre Regierung wog das Interesse an der guten Zusammenarbeit mit der Polizei eines Staates, in dem Gefangene nachweislich gefoltert werden, mit der Polizei eines Staates, den fünf Mitgliedsländer des Europarates, nämlich Dänemark, Frankreich, die Niederlande, Norwegen und Schweden, wegen gravierender Verletzungen der Menschenrechte vor der Europäischen Menschenrechtskommission angeklagt haben, schwerer als der Schutz eines Menschen vor Verfolgungen, bei denen Folterungen, j a selbst ein schlimmes Ende nicht ausgeschlossen werden können. ({63}) Das, Herr Bundeskanzler, ist der eigentliche Kern unseres Vorwurfs. ({64}) - Ich komme darauf. - Den haben Sie mit Ihren Ausführungen heute morgen in keiner Weise ausgeräumt. Die Auslieferung war nicht zwingend. Herr Genscher hat nach eigener Bekundung vor der Presse Bedenken gegen die Auslieferung erhoben, ({65}) die auf der Linie unseres Vorwurfs liegen. Dennoch schrieb Herr Zimmermann nach Rückkehr aus der Türkei jenen schwer glaublichen - nein: unglaublichen - Satz, den ich noch einmal wörtlich zitiere: Im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet - auf polizeilichem Gebiet! bitte ich Sie, die Bewilligungsentscheidung vom 21. Februar 1983 für vollziehbar zu erklären. ({66}) Und dann fügt er noch hinzu, um der Sache Nachdruck zu geben: Vor allem die andernfalls zu befürchtende Belastung des deutsch-türkischen Verhältnisses müßte allein vom Bundesminister des Auswärtigen verantwortet werden. In Kenntnis dieses Satzes bat der Bundesjustizminister um die rasche Zustimmung des Auswärtigen Amtes. Herr Bundeskanzler, das ist nicht die Handlungsweise einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, von der Sie gerne reden. ({67}) Was sich hier zeigt, werden viele als die kalten, abweisenden, gefühllosen Züge einer zum Selbstzweck werdenden Apparatur empfinden, der es gleichgültig ist, ob Menschen an ihr zerbrechen, wenn sie nur funktioniert. ({68}) Übrigens: Sonst, etwa wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, sind Sie doch mit der Kritik an diesen Apparaten, an der Bürokratie, wie Sie es nennen, stets besonders schnell und besonders laut bei der Hand. Warum nicht hier, in diesem Fall? ({69}) Was Sie heute morgen aus einem Text des Bundesjustizministeriums, den Sie dem Jahr 1981 - wenn Sie mich ansprechen: offenbar der Zeit bis zum 21. Januar 1981 - zuordnen, vorgelesen haben, geht doch an dem Kern unseres Vorwurfs völlig vorbei. ({70}) Sie können alle Archive des Bundesministeriums der Justiz auf den Kopf stellen, und Sie werden keine Zeile finden, daß ich mich dafür ausgesprochen habe, der Zusammenarbeit mit der Polizei der türkischen Militärdiktatur in dieser Zeit hohen Stellenwert für die Frage der Auslieferung einzuräumen. Einen solchen Satz werden Sie nicht finden. ({71}) Noch eine Frage an die Kolleginnen und Kollegen von der FDP: ({72}) Wie ist es eigentlich möglich, daß die Partei, der ein Theodor Heuss, ein Thomas Dehler, ein Karl-Hermann Flach angehörte, das alles nicht nur nicht verhindert, sondern mitträgt, ja, in der Person eines Ministers mitverantwortet? Warum, meine Damen und Herren von der FDP - ich frage dies ruhig -, sind Sie eigentlich überhaupt in dieser Regierung, ja, überhaupt in diesem Parlament, wenn Sie noch nicht einmal solche Fehlentwicklungen zu verhindern vermögen? ({73}) Auch auf dem Felde der Friedenssicherung und der Rüstungskontrolle messen wir Sie an Ihren eigenen Worten. Sie sagen bei jeder Gelegenheit - Sie haben es auch heute morgen von diesem Pult aus getan -, Sie wollten Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. Aber was tun Sie? Sie wissen, daß in den Vereinigten Staaten mit der Produktion der Neutronenbombe begonnen worden ist. Ebenso ist dort beschlossen worden, binäres Gas herzustellen. Wollen Sie, Herr Bundeskanzler, daß diese Waffen auch in der Bundesrepublik stationiert werden? Lagern noch nicht genug Giftgase in unserem Lande? Ich habe Sie dazu um eine klare Stellungnahme ersucht. Sie steht noch aus. Wenn Sie wirklich immer weniger Waffen wollen, kann doch die Antwort nur „nein" lauten. Auch die Fachleute sagen uns doch, daß diese Waffen bestenfalls überflüssig sind, nein, daß sie die Gefahren in Wahrheit erhöhen. ({74}) Die Genfer Verhandlungen - ich stimme Ihnen zu - sind zu Beginn dieser Woche in eine entscheidende Phase getreten. Es liegen dort verhandlungsfähige Vorschläge auf dem Tisch. Diese Vorschläge sind nicht zuletzt eine Folge der von uns, von Helmut Schmidt eingeleiteten Politik. Deren Ziel war und ist, den nuklearen Todeswettlauf anzuhalten, zum Stehen zu bringen. ({75}) Es ist gut, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Sowjetunion zu weiteren Bewegungen drängen - und Sie haben unsere Unterstützung. Aber wenn Sie wirklich immer weniger Waffen wollen, warum drängen Sie dann nicht auch darauf, daß unser Verbündeter, daß die USA auf die vorliegenden Vorschläge mit einem weiterführenden Vorschlag antwortet, und zwar bald? Und warum lassen Sie dann zu, daß Herr Dregger, immerhin der Fraktionsvorsitzende Ihrer Partei, die USA öffentlich vor einem Kompromiß in Genf warnt, also vor weniger Waffen warnt? ({76}) - Ich freue mich, daß ich durch dieses Stichwort hier ein förderliches Zwiegespräch in Gang gebracht habe. Verständigen Sie sich darüber, was Sie wirklich sagen wollten und was Sie gesagt haben. Dann hat das schon seinen Zweck erfüllt. ({77}) In Genf - da stimme ich Ihnen wieder zu, Herr Bundeskanzler - geht es jetzt insbesondere um das Problem der französischen und der englischen Systeme. ({78}) - Lieber Herr Stoltenberg, wenn ich dem Wort Kompromiß nicht die von Herrn Dregger jeweils für richtig gehaltenen Adjektive hinzufüge, dann ist das doch kein Zitat. Außerdem habe ich doch nicht behauptet, es sei ein wörtliches Zitat. ({79}) Er warnt davor, daß sich die USA bewegen. ({80}) - Über Stil reden wir nachher noch. Da kommt noch ein interessanter Punkt meine Herren. Bewahren Sie es sich auf. Wir kommen noch zu diesem Stichwort. Da Sie sich so aufführen: Der Herr Bundeskanzler sagt in solchen Fällen immer, man darf im Parlament niemanden niederschreien. Also, so billig mache ich es mir gar nicht. Sie könnten das auch gar nicht. ({81}) In Genf geht es jetzt insbesondere - und da stimme ich dem Bundeskanzler zu - um das Problem der französischen und englischen Systeme. Dieses Poblem ist nicht unlösbar. Gewiß, es ist nicht lösbar durch die gebetsmühlenartige Wiederholung des Wortes vom sowjetischen Raketenmonopol. Der Satz ist übrigens auch von der Sache her anfechtbar; ({82}) denn wenn nicht nur ein, sondern vier Unternehmen über ein bestimmtes Produkt verfügen - in Europa allein drei -, dann spricht doch niemand von einem Monopol. Das ist jedenfalls ein neuer Begriff des Monopols. ({83}) Die Lösung könnte durch eine Verknüpfung der INF- und der START-Verhandlungen erleichtert werden. Wir haben dazu einen konkreten Vorschlag gemacht. Warum greifen Sie ihn nicht auf? Richard Löwenthal, auf den Sie sich sonst so gerne berufen, hat erst kürzlich die Forderung nach Anrechnung der Drittstaatensysteme als das stärkste Argument der Sowjetunion bezeichnet. Ein so besonnener und sachkundiger Publizist wie Theo Sommer rät dazu, Andropows Vorschläge auszuloten und ihn darauf festzunageln. ({84}) Das niederländische Parlament - und Sie zitieren doch so gern ausländische Stimmen und ausländische Äußerungen - hat erst vorgestern mit den Stimmen Ihrer Freunde, mit den Stimmen der dortigen Christkameraden ({85}) - Christkameraden paßt auch -, mit den Stimmen der dortigen Christdemokraten die Vereinigten Staaten dazu aufrufen - ich glaube übrigens nicht, daß Ihre Christdemokraten in Holland Pappkameraden sind; das haben Sie gesagt -, die britischen und französischen Mittelstreckenwaffen bei den Genfer Verhandlungen zu berücksichtigen. Herr Bundeskanzler - und ich sage dies mit Ruhe und mit Ernst -, Sie tragen hier vom Amt her eine schwere Verantwortung. Deshalb spreche ich Sie auch ganz persönlich an. Die Sorge, wir könnten am Ende dieses Prozesses zwar an Vernichtungspotential reicher, aber an Hoffnung auf die Bewahrung des Friedens und auf die Vermeidung einer Katastrophe ärmer geworden sein, wurzelt tief in unserem Volk und breitet sich weiter aus. ({86}) Jede seriöse Umfrage bestätigt, was ich über diese Sorge und ihre Ausbreitung sage. Und auch Sie wissen das ganz genau. Die beiden Mitmenschen, eine Deutsche und eine Amerikanerin, die nicht weit von hier seit über einem Monat hungern, geben dieser Sorge einen besonders sinnfälligen Ausdruck. Ich kann es aus meiner persönlichen Überzeugung nicht gutheißen, daß man sein Leben zur Erreichung eines noch so wichtigen Ziels instrumentalisiert, daß man über sein Leben als Mittel zum Zweck verfügt. Aber ich respektiere, was sich hier ausdrückt. Das ist eine Mahnung von leiser und gerade deshalb elementarer Eindringlichkeit. ({87}) Und ich appelliere deshalb auch von dieser Stelle an Johanna Jordan und Andrea Elukovich, es bei dem Zeichen bewenden zu lassen, das sie schon jetzt gesetzt und das viele verstanden haben, und dem Hungern ein Ende zu machen. ({88}) Eindringlich war auch die Mahnung von Mutlangen, gerade deshalb, weil beide Seiten das Gerede von dem angeblich heißen Herbst widerlegt, weil sich beide Seiten entgegen scharfmacherischen Parolen vernünftig verhalten haben, so vernünftig, daß sich jede künftige Aktion dieser Art bei beiden Seiten an diesem Beispiel wird messen lassen müssen. ({89}) Darum fordere ich Sie auf, Herr Bundeskanzler: Nutzen Sie den Einfluß, der der Bundesrepublik als dem exponiertesten Stationierungsland zukommt und den Helmut Schmidt in beiden Richtungen so eindrucksvoll und erfolgreich ausgeübt hat - wohlgemerkt: in beiden Richtungen. Dabei geht es nicht um die Zugehörigkeit zum Bündnis. Die, und zwar auch die Zugehörigkeit zur militärischen Integration des Bündnisses, steht für uns nicht zur Diskussion oder gar zur Disposition. ({90}) Einer abweichenden Einzelmeinung ist das Präsidium meiner Partei ausdrücklich entgegengetreten. Und jetzt kommen wir zu Fragen des guten Stils: Die Behauptung, Gremien der SPD hätten den Austritt aus der NATO beschlossen oder gutgeheißen, die Sie heute morgen von diesem Pult aufgestellt haben, ist unwahr. Und Sie wissen das auch. ({91}) Und wenn Sie wirklich an Gemeinsamkeit und an einem anständigen Umgangston in diesem Hause interessiert sind, dann unterlassen Sie solche Unwahrheiten, die nur geeignet sind, das Klima zu vergiften und die Emotionen anzuheizen! ({92}) Das ist eines Bundeskanzlers unwürdig. ({93}) Sie haben es heute vormittag für notwendig gehalten, Herrn Börner vorzuwerfen, er habe die geistige Dachlatte geschwungen. Sie, Herr Bundeskanzler, haben mit dieser Behauptung heute eine Giftspritze bedient, und zwar eine verleumderische Giftspritze in Richtung unserer Partei. ({94}) Wir Sozialdemokraten wissen, ({95}) daß unsere Republik im Bündnis mehr Sicherheit genießt und auf die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen den Paktsystemen mehr Einfluß nehmen kann, als wenn sie isoliert für sich allein stünde. Wir wissen, daß unsere Bundeswehr ein wesentliches Element unserer Bündnis- und unserer Schutzfähigkeit ist. Wir fühlen uns denen verbunden, die in der Bundeswehr Dienst leisten. Wir respektieren diejenigen, die als Wehrpflichtige in der Bundeswehr dienen, nicht weniger als diejenigen, die sich auf Grund ihres Gewissens für den Ersatzdienst entschieden haben. ({96}) Wir wissen auch, daß das eigentliche Fundament des Bündnisses Übereinstimmung darüber ist, wie eine freiheitliche Gesellschaft verfaßt und wie die Machtausübung des Staates gegenüber seinen Bürgern gestaltet sein soll. Und wir brauchen auch nicht über den Unterschied belehrt zu werden, der in den Gesellschaftsordnungen beider Weltmächte in diesem Punkt besteht. Noch einmal: Es geht nicht um unsere Zugehörigkeit zum Bündnis. Es geht um das optimale Ergebnis der Genfer Verhandlungen für das Bündnis und für uns, um ein Ergebnis, bei dem die Sowjetunion die Zahl ihrer Systeme so drastisch reduziert, daß die Aufstellung neuer Systeme auf unserer Seite überflüssig wird. Das, und nur das, ({97}) schafft, wenn Worte einen Sinn machen, ({98}) ein Stück „mehr Frieden mit weniger Waffen". Alles andere vermehrt die Waffen. ({99}) Stehen Sie zu Ihrem Wort, Herr Bundeskanzler! Beschränken Sie sich nicht auf dem Umweg über Interviews in den Vereinigten Staaten auf zaghafte und versteckte Andeutungen, ({100}) die dann zu Meinungsumfragen des amerikanischen Auswärtigen Amtes hier bei uns führen! Handeln Sie! Bringen Sie das Gewicht, das wir haben - das wir nicht überschätzen, das aber vorhanden ist -, zur Geltung, um Ihre Ankündigung „Frieden schaffen mit weniger Waffen" nicht eine Redensart bleiben, sondern Realität werden zu lassen! Und wir unterstützen Sie. ({101}) Auch in der Deutschlandpolitik klaffen Wort und Tat auseinander. Sie haben uns eine Politik ruhiger und besonnener Gelassenheit, ohne Hektik und ohne spektakuläre Aktivitäten, angekündigt. Erlebt haben wir das Gegenteil, nämlich ein Spektakel erster Ordnung. Ich meine die deutschlandpolitische Wende des Herrn Strauß. Das war schon eindrucksvoll, wie da der Mann, der 13 Jahre lang jeden Kredit für die DDR, ja schon jede wirtschaftliche Vereinbarung mit der DDR aus bitterste bekämpft und als Teufelswerk verworfen hatte, plötzlich beflissen und insgeheim einen Milliardenkredit einfädelte, zwar nicht den Schalk im Nacken, aber in der Staatskanzlei sich als Verhandlungspartner gegenüber. Und noch eindrucksvoller, Herr Bundeskanzler, war, wie sich Herr Strauß dabei unentwegt auf Sie berief, wo doch jeder weiß, daß Herr Strauß stets nur auf einen Wink von Ihnen wartet, daß er Ihnen eigentlich jeden Wunsch in der Politik vom Mund abliest, um ihn schnell erfüllen zu können. ({102}) Und es war auch eindrucksvoll, wie sich der gleiche Mann, der noch im April der DDR die Ermordung eines Transitreisenden vorgeworfen und dabei geschmackvollerweise an die Vernehmungsmethoden des Gestapo-Schergen Barbie erinnert hatte, wie sich der gleiche Mann, der deshalb ungeniert der Staatsanwaltschaft ins Handwerk gepfuscht hatte, im Juni und Juli danach drängte, vom Staatsratsvorsitzenden eben dieser DDR empfangen zu werden. Das Märchen, daß er erst an der Grenze, von Polen kommend, nachdem er dort seine besonders erleuchtenden Ausführungen gemacht hatte, von einer Einladung überrascht wurde, der er nicht ausweichen konnte, können Sie jemand anders erzählen. ({103}) Wir tadeln die neue deutschlandpolitische Einstellung des Herrn Strauß nicht. Den Tadel überlassen wir Ihrer Basis, weil Sie immer so viel von Basis reden. Wir begrüßen diese neue Einstellung. Denn er hat sich jetzt auf eben die deutschlandpolitische Linie begeben, die er früher immer so beharrlich bekämpft hat. Und was wir für richtig halten, wird für uns nicht dadurch falsch, daß ein Gegner zur Einsicht kommt. Allerdings - und da richtet sich mein Blick auch auf die Kollegen der FDP, die das mit uns gemeinsam getragen haben -: Was wäre unserem Volk an innerer Vergiftung erspart geblieben, wenn Herr Strauß schon vor fünf, sieben oder zehn Jahren zu dieser besseren Einsicht gekommen wäre! ({104}) Was wäre uns, die wir diese Deutschlandpolitik gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt haben, erspart geblieben, wenn er schon früher damit aufgehört hätte, die Deutschlandpolitik der Kanzler Brandt und Schmidt mit den gleichen Verdächtigungen und Verleumdungen zu bekämpfen, mit denen Sie heute unverdrossen unseren Kollegen Egon Bahr und unsere Politik der Friedenssicherung so lange diffamieren, bis dann mit einer Verzögerung von sieben, neun oder zehn Jahren auch wieder die Wende bei Ihnen stattfindet?! ({105}) Und - es kann niemanden freuen, dies auszusprechen - was hätte zusätzlich für die Menschen in beiden deutschen Staaten erreicht werden können, wenn die Deutschlandpolitik schon früher, schon vor fünf oder sieben Jahren, gemeinsam getragen worden wäre? ({106}) Noch einmal: Wir wenden uns nicht gegen die Korrektur eines Irrtums, nicht gegen bessere Einsicht. Darauf hat jeder Demokrat ein legitimes Recht. Aber warum ist Herr Strauß eigentlich nicht an dieses Pult getreten und hat hier seinen Auffassungswandel dargelegt und begründet? Da gibt es gute Beispiele, die in der Geschichte dieses Parlaments ihren Platz einnehmen. Aber die Unfähigkeit des Herrn Strauß - da werden mir innerlich sogar viele hier nicht widersprechen, wenn sie es auch äußerlich tun -, einen Irrtum einzugestehen, ist schon eine fast abstoßende Spielart von Rechthaberei, und die hat sich auch in diesem Fall gezeigt. ({107}) Schärfste Kritik verdient auch die mangelnde Sachkompetenz und die lärmende Geschwätzigkeit, mit der sich der Privatmann Strauß auf dem ihm im Detail offenbar völlig fremden Feld der Deutschlandpolitik bewegt hat. Was sagen eigentlich die Zuständigen und Verantwortlichen, was sagen Herr Windelen, Herr Jenninger - lassen wir die Beamten einmal außen vor - zu diesen Eskapaden? Sind Sie vorher um Rat gefragt oder hinterher unterrichtet worden? Unsere Kritik richtet sich aber auch hier nicht nur gegen Herrn Strauß, sie richtet sich wiederum gegen Sie, Herr Bundeskanzler. ({108}) - Das hatten Sie doch wohl auch erwartet, Herr Geißler. ({109}) Ich verstehe ja, Herr Kohl, Ihr persönliches Vergnügen daran, daß Herr Strauß neuerdings ausgerechnet bei Ihnen Schutz vor eigenen CSU-Freunden sucht. ({110}) Aber, Herr Bundeskanzler, hier geht es nicht um ihr privates Vergnügen, hier geht es um ein wichtiges und besonders sensibles Feld unserer Politik. Ich werfe Ihnen vor, daß Sie die Deutschlandpolitik einem in jedem Sinne des Wortes Unzuständigen und schon deshalb Unverantwortlichen überlassen haben, ({111}) einem Mann, dessen Unberechenbarkeit und Maßlosigkeit Sie ganz genau kennen und für dessen Handlungen Sie auch in diesem Fall haften. ({112}) Außerdem: Warum sind Sie, Herr Bundesskanzler, zu all diesen Fragen nicht mit einer Regierungserklärung vor das Parlament getreten? Sie haben heute morgen nicht ein Wort dazu verloren. Sie schulden diesem Haus Rechenschaft. Dieses Haus hat Anspruch darauf, aus Ihrem Mund zu hören, was eigentlich gilt. Sie können uns als Opposition doch nicht zumuten, daß wir uns mit dem Wortgewölle zufriedengeben, das Herr Strauß nach seiner Rückkehr von sich gab, oder mit dem Koalitionsgezänk, das sich daran entzündete, ein Gezänk, in das jetzt die CSU-Landesgruppe zu allem Überfluß auch noch den Leiter der Ständigen Vertretung in OstBerlin ohne jeden vernünftigen Grund und Anlaß hineinzieht. Deshalb fordere ich Sie auf: Schaffen Sie Klarheit, nutzen Sie die Chancen einer breit angelegten und gemeinsam getragenen Deutschlandpolitik! Wir sind bereit - es ist nicht nur eine Phrase, wenn ich hier von der ausgestreckten Hand zur Gemeinsamkeit auf diesem Gebiet rede -, unseren Beitrag zu leisten. Sie finden unsere Unterstützung, wenn Sie konkret werden, wenn Sie die Frage der Elbegrenze mit dem Willen zur Verständigung anpakken. ({113}) wenn Sie die wirtschaftlichen Beziehungen mit der DDR ausbauen, wenn Sie auf die Korrektur des Mindestumtausches drängen ({114}) und außer Krediten auch Maßnahmen zur Unterbindung des illegalen Handels mit der Währung der DDR in Aussicht stellen. Wenn dieses Drängen wirklich zum Erfolg führen sollte, was wir im Interesse der Menschen dringend wünschen - der Tag, an dem die Mitteilung kommt, dies habe Erfolg gehabt, ist für uns Sozialdemokraten ein Tag der Freude -, dann werden wir diesen Erfolg begrüßen; denn dieser Erfolg wird nur möglich sein, weil Sie in dieser Frage auf unsere Linie eingeschwenkt sind und nicht die fortführen, ({115}) die Sie als Opposition so lautstark vertreten haben. ({116}) Sie finden unseren Beifall, Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Widerstand von Teilen Ihrer Fraktion gegen offizielle Kontakte zwischen dem Deutschen Bundestag ({117}) und der Volkskammer ausräumen. Sie finden unseren Beifall, wenn Sie gerade jetzt die Bestimmung des Art. 5 des Grundlagenvertrages mit Leben erfüllen und mit der DDR-Führung in Konsultationen darüber eintreten, was beide deutsche Staaten innerhalb ihrer Bündnisse tun können, damit der atomare Wettlauf zum Stehen kommt. Es genügt nicht, daß Sie durch einen stellvertretenden Vorsitzenden Helmut Schmidt loben lassen, weil er dies Notwendige dieser Tage bei seinem Besuch in Ost-Berlin getan hat. Aber die Straußsche Sommer-Gala, seine Sommerreise war nur der Höhepunkt einer viel umfassenderen Darbietung. Es war der Höhepunkt des von Ihrer Koalition im Juli und August veranstalteten Sommertheaters. Sie haben als Oppositionsführer bei vielen Gelegenheiten kritisiert, daß die sozialliberale Bundesregierung immer wieder ein Bild der Uneinigkeit und Zerstrittenheit geboten habe, daß sie ihre Kraft in solchen Auseinandersetzungen verbraucht habe. Sie haben Ihrerseits im Sommer 1981 und 1982 von einem Theater geredet, und Sie haben versprochen, daß eine von Ihnen geführte Bundesregierung, eine von Ihnen geführte Koalition einig, geschlossen und ohne Reibungsverluste zum Wohle der Bundesrepublik arbeiten werde. Ob Sie da den Mund nicht etwas voll genommen haben, Herr Bundeskanzler? Nein, ich gehe weiter. Ich gestehe es neidlos: In Sachen Sommertheater sind Sie uns weit über, da haben Sie wirklich einen Aufschwung zu verzeichnen. ({118}) Gegenüber dem, was Sie uns in diesem Sommer schon nach 13 Wochen an Theater geboten haben, waren unsere vergleichbaren Veranstaltungen selbst nach 13 Jahren eher bescheiden. ({119}) Und das, Herr Bundeskanzler, obwohl Sie ja einen Hauptdarsteller und weiteres Bühnenpersonal übernommen haben, aber die Herren haben sich eben erst bei Ihnen richtig entfalten können. ({120}) Es gab doch eigentlich kein Thema, Herr Bundeskanzler, über das in Ihrer Koalition in den letzten Wochen nicht erbittert gestritten wurde. Die Art und Weise, in der Herr Zimmermann und Herr Engelhard oder Herr Blüm und Herr Albrecht miteinander umgehen und Herr Zimmermann mit Frau Funcke umspringt, wird nur noch von der Tonart übertroffen, in der Herr Strauß und Herr Lambsdorff sich gegenseitig ihre Szenen machen. ({121}) Manche meinen, das sei auch nur Theater. Aber wenn Franz Josef Strauß dem Wirtschaftsminister, also der eine Garant Ihrer Koalition dem anderen Garanten bescheinigt, seine Behauptungen seien an Sinnlosigkeit, Unwahrhaftigkeit und Unanständigkeit kaum zu überbieten, dann, verlassen Sie sich darauf, meint Franz Josef Strauß das ernst. Das meint er so, wie er es sagt. ({122}) Herr Bundeskanzler, so reden eben Männer miteinander, die unter Ihrer Führung zur geistig-moralischen Erneuerung der Bundesrepublik aufgebrochen sind. ({123}) Des großen Erfolges des Sommertheaters wegen wird es jetzt sogar in den Herbst hinein fortgesetzt. ({124}) Es geht nämlich weiter. Erst gestern hat Herr Wiesheu, einer der bekannten Sekretäre des Herrn Strauß, Herrn Lambsdorff einen „hysterisch anmutenden Quertreiber" genannt. ({125}) Nun, ich muß Ihnen sagen, diese Art der Erneuerung ist kaum steigerungsfähig. Ich lehne es ab, daß wir uns an einem solchen Sprachgebrauch beteiligen. ({126}) - Haben Sie heute einen von uns gehört, der den Grafen in dieser freundlichen, koalitionsgemäßen Art und Weise angeredet hat? Ich nicht. ({127}) Meine Damen und Herren, für den Umgang innerhalb einer Koalition ist der öffentliche Austausch solcher Beschimpfungen jedenfalls ein bundesrepublikanisches Novum. Da sind in der Tat unter Ihrer Verantwortung, Herr Kohl, Maßstäbe gesetzt worden, zu denen man Ihnen gratulieren kann. ({128}) Ihre Rolle in diesem Sommertheater bleibt weitgehend unklar. Ich möchte annehmen: Das Textbuch stammt nicht von Ihnen; der Regisseur sind Sie wohl auch nicht. Das Sie der Souffleur seien, will ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite annehmen. Sie waren ein schweigender Zuschauer. Diese Rolle mag jedem gebühren; für einen Bundeskanzler einer Koalition ist die Rolle des schweigenden Zuschauers unangemessen, mehr noch: Sie ist für die Funktionsfähigkeit der Regierung schädlich und für die Lösung der großen Probleme, vor denen wir stehen, eine ernste Belastung. ({129}) Wenn Ihre verantwortlichen Männer so miteinander umgehen, dann ist das nicht ihre Privatsache, sondern eine Sache, die unser Volk angeht und unserem Volk auch im äußeren Ansehen Schaden zufügt. ({130}) Ich verstehe ja, daß Sie Ihre Fähigkeit des Totschweigens von solchen Problemen auch hier heute wieder praktiziert haben. Aber Sie können doch von uns nicht verlangen, daß wir zu solchem Theater schweigen und Sie bei Ihrer Schweigephilosophie noch unterstützen. ({131}) Herr Bundeskanzler, hier und auf allen Feldern stellt sich die Frage nach Ihrer Führungsfähigkeit und danach, was Sie eigentlich wollen. Was Sie versprochen haben, vermögen Sie - ich formuliere vorsichtig - auf wichtigen Feldern, das steht schon jetzt fest, nicht zu halten. Der Vertrauensvorschuß, der Ihnen auch von uns nach den Regeln der Demokratie eingeräumt worden ist, schwindet dahin. In dem Punkt hat Herr Albrecht doch recht. Er versteht doch etwas davon, wenn er wörtlich sagt - jetzt kommt ein wörtliches Zitat; Herr Bundesfinanzminister, gut aufpassen -: ({132}) Der durch den Regierungswechsel und den Wahlsieg der Union in der Wirtschaft ausgelöste psychologische Aufschwung erschöpft sich. Auch Ihre getreuesten publizistischen Begleitbataillone, Herr Bundeskanzler, fangen doch schon an, ungeduldig zu werden und sich zu räuspern - nein, mehr noch, zu fragen: Was wollen Sie eigentlich? ({133}) Verbirgt sich hinter Ihrer angeblichen Gelassenheit nicht in Wahrheit in wichtigen Fragen auch Ratlosigkeit? ({134}) Verbirgt sich nicht hinter Ihrer angeblichen Selbstgewißheit da und dort auch mangelnde Sensibilität für die Probleme, die es zu lösen gilt? ({135}) In einer angesehenen Wochenzeitung ({136}) - ich bin in der Vergabe solcher Prädikate sehr sparsam, noch sparsamer als Sie mit dem Geld -, die von Zeit zu Zeit erscheint, alle acht Tage, hieß es kürzlich: Nachdem Helmut Kohl 90 Minuten lang vor der Bundespressekonferenz Rede und Antwort gestanden hatte, ging ein Raunen durch die Runde: Was hat er eigentlich gesagt? Das ist es, Herr Bundeskanzler! ({137}) Andere in Ihren Reihen wissen ziemlich genau, was sie wollen, Herr George und Herr Albrecht beispielsweise. So, wie Herr Zimmermann der Liberalität den Kampf angesagt hat, so haben diese Herren die Auseinandersetzung um den Sozialstaat, um seine elementaren Schutzvorschriften, ({138}) die Auseinandersetzung um die Stellung und die Rechte der Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft und um die Mitbestimmung eröffnet. Wenn Worte einen Sinn machen, dann ist dies der Inhalt der Papiere. Herr Dregger hat genau gewußt, warum er sich von diesen Papieren zu distanzieren versuchte. ({139}) Damit wir uns hier gut verstehen, Herr Bundeskanzler: Solche Versuche werden schon in den Anfängen auf unseren härtesten Widerstand stoßen. Hier auf diesem Gebiet wie auch auf dem Friedensgebiet geht es um einen geschichtlichen Auftrag der deutschen Sozialdemokratie, um einen Kernbereich unseres politischen Engagements. ({140}) Sie sprachen einmal - am 4. Mai vormittags - vom Tor der Zukunft, das jetzt offenstehe. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wenn Sie jetzt das Tor zur Vergangenheit öffnen wollen, dann werden wir das zu verhindern wissen, Seite an Seite mit den deutschen Gewerkschaften, ({141}) Seite an Seite auch mit allen, die sich der katholischen Soziallehre oder der evangelischen Sozialethik verbunden fühlen. Mit Genugtuung haben wir zur Kenntnis genommen, auf welcher Seite Ihre eigenen Sozialausschüsse in dieser Auseinandersetzung Partei erDr. Vogel greifen wollen. Sie sind uns als Bundesgenossen willkommen, wenn sie zu dieser Sache stehen. ({142}) Ich rate Ihnen, Herr Bundeskanzler, von solchen Versuchen abzulassen. Eine Erschütterung des sozialen Friedens und der sozialen Stabilität ist das letzte, was wir jetzt brauchen können. Verwenden Sie Ihre konzeptionelle Kraft darauf, den Arbeitslosen, aber auch den Werftarbeitern, den Stahlarbeitern, den Bergleuten, allen, die um ihre Arbeitsplätze bangen, zu sagen, welche Zukunft sie zu erwarten haben. Wir haben unsere Konzepte vorgelegt, wir haben unsere Antworten gegeben. Gegen Sie endlich die Ihren, und lassen Sie uns dann demokratisch darum ringen, wessen Antworten die besseren sind. Erkennen Sie endlich, daß es nicht genügt, zu den Maximen der frühen 50er Jahre zurückzukehren, daß es nicht ausreicht, den Dingen ihren Lauf zu lassen und auf eine mehr oder weniger starke Belebung der Konjunktur und des Wachstums zu hoffen, die zu vernünftigen Bedingungen und Preisen ja auch wir wollen; daß es hoch an der Zeit ist, Strukturen in einem geordneten Prozeß zu ändern, bevor sie unter dem Druck einer weiter wachsenden Arbeitslosigkeit zu brechen und zu zersplittern beginnen. Darum geht es. ({143}) Und vor allem: Werden Sie endlich konkret, damit wir uns in Zukunft nicht mehr in erster Linie mit Ihren Ankündigungen, mit Ihren wohlmeinenden Absichten, mit Ihren Versprechungen und Unterlassungen auseinandersetzen müssen, sondern mit dem auseinandersetzten können, was Sie getan, was Sie konkret bewirkt haben. Das ist die Auseinandersetzung, die unserem Volk nützt, die ihm bei der Bewältigung seiner Probleme hilft. Das ist die Auseinandersetzung, die dem Sinn der parlamentarischen Demokratie gerecht wird. Wir Sozialdemokraten sind zu dieser Auseinandersetzung gerüstet. Wir werden unsere Pflicht als Opposition erfüllen. Tun Sie die Ihre als Bundeskanzler und als Regierung. ({144})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wollte Sie nicht in die peinliche Situation bringen, DIE GRÜNEN zu beklatschen. Noch sind Sie ja wohl nicht so weit. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gerade die Friedensbewegung gewesen, die ihre Empörung über den Flugzeugabschuß vor einigen Tagen sofort zum Ausdruck gebracht hat; denn gerade sie nimmt die Charta der Vereinten Nationen sehr ernst, ({1}) nach der jegliche Androhung oder Anwendung von Gewalt verboten ist. Nur darf dieser Vorfall jetzt nicht ausgenutzt werden, um wiederum eine Politik zu begründen und zu rechtfertigen, die auf dem Gedanken der Drohung aufbaut. Es ist j a gerade die Politik der Abschreckung, die Politik der Stärke, die auf diesem Gedanken der Drohung basiert. In diesem Zusammenhang, Herr Vogel, möchte ich mich auch an die SPD wenden. Das, was Sie eben zu der Nachrüstung gesagt haben, ist j a auch ein Politikkonstrukt, das auf diesem Drohungsgedanken basiert. Auch dem Verhandlungsangebot liegt ein Drohungsgedanke zugrunde. Sie haben sich bis zum heutigen Tage von diesem Gedanken nicht klar distanziert. Wenn Herr Kohl hier von der Politik des Dialogs und von Friedensliebe spricht, aber gleichzeitig wieder begründet, daß man von dem Doppelbeschluß nicht abrücken könne, weil wir auf diesen Druck nicht verzichten könnten, hat er damit auch eine Politik der Drohung formuliert. Insofern ist das einfach eine Heuchelei. Seit 34 Tagen fasten in mehreren Ländern zwölf Menschen, weil sie sich dieser Politik der Drohung und der tödlichen Gefahr, die von ihr ausgeht, entgegenstellen wollen. Sie sind bereit, ihre ganze eigene Existenz dafür einzusetzen. Sie setzen sich selbst gegen diese Politik des Drucks, weil sie sagen, daß sie kommen sehen, daß diese Welt in einen Feuerball verwandelt wird, weil sie verzweifelt sind und weil sie dies als das letzte Mittel ansehen. Diese Art von Friedenssicherung, die nun auch dieses Land in große Auseinandersetzungen geführt hat, schlägt sich aber auch in ganz anderen Dingen nieder, auch in dem, was sich hinter diesem Haushalt verbirgt. Was bedeutet denn diese Art von sogenannter Friedenssicherung schon heute? Ich bin vor einiger Zeit in dem vielbeschworenen Vorbild USA gewesen. Herr Bundeskanzler, Herr Finanzminister, Sie sollten auf einer Ihrer vielen Reisen nach New York einmal nicht ins RockefellerCenter, sondern nach South Bronx gehen. Das dort kann unsere Zukunft sein. Schauen Sie sich die Ruinen dort einmal an, die verfallene Infrastruktur, die es dort schon gibt. Herr Apel hat gestern davon gesprochen. Dort sieht es doch schon so aus, als sei der Krieg ausgebrochen, als sei die Bombe schon gefallen. Dort wird gehungert, dort sind das menschliche Elend, die Armut, die Arbeitslosigkeit schon kaum mehr zu begreifen - und das im reichsten Land der Erde. Amerika entscheidet sich, lieber Bunker und Raketen zu bezahlen, als vielen seiner Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. ({2}) Auch diese Bundesregierung entscheidet sich, große Teile ihres Haushalts in die Aufrüstung zu stecken, die uns in tödliche Unsicherheit bringt. Gestern wurde von einem Ihrer Kollegen über unseren Vorschlag gespottet, den Kriegshaushalt um ein Drittel zu kürzen: Wir seien mit solchen utopischen Forderungen schon „losgelöst von der Erde". Wer in South Bronx steht, dem drängt sich auf, daß es rationale und einfache Lösungen für dieses Elend gäbe. Denn wieviel bräuchte es, um Handwerker zu bezahlen, dort die Häuser instand zu setzen und gleichzeitig Menschen Arbeit und Hoffnung zu geben? Wie wenig ist das im Vergleich zu den zig Milliarden, die diese Tötungsmaschinen, z. B. die neue MX, oder das, was bei uns im Haushalt steht, kosten. ({3}) Auch bei uns wachsen Armut und Elend, das Elend von Menschen ohne Arbeitsplatz, von hoffnungslosen Jugendlichen, von gedemütigten Sozialhilfeempfängern. Dazu vollzieht sich das lautlose Sterben der Wälder. Das ist keine apokalyptische Drohung, sondern eine traurige Realität. Mein Kollege Verheyen hat hier gestern ein soziales und ökologisches Sofortprogramm dargestellt. Wir benennen mit diesem Programm die Richtung, in die es unserer Meinung nach gehen soll. Jetzt wäre es Ihre Aufgabe, in diese Richtung zu gehen. Sie sind doch die Regierung. Sie haben doch Hunderte von Beamten und Rechenkapazitäten. Lassen Sie doch unsere Anregungen einmal prüfen und durchrechnen, greifen Sie doch einmal etwas auf, was aus der Debatte dieses Parlaments kommt. ({4}) Ihre Regierung erscheint mir wie ein Hamster, der aus dem Laufrad nicht mehr herausfindet. Das Laufrad heißt: Arbeitslosigkeit, Forderung nach mehr Wachstum, nach mehr Investitionen mit der Folge von Rationalisierungen und mehr Arbeitslosen. Obwohl der Herr Wirtschaftsminister heute früh gezeigt hat, daß er um das joblose Wachstum weiß, rennt diese Regierung trotzdem globalen Wachstumszielen hinterher. Herr Kohl, wenn Sie heute morgen von Lehrstellen gesprochen haben, dann müssen Sie dazu sagen, daß gerade viele junge Mädchen jetzt in Lehrstellen geschickt werden, z. B. in kaufmännische Berufe, von denen man ganz genau weiß, daß sie in der nächsten großen Rationalisierungswelle zur Streichung anstehen. ({5}) Wie wollen Sie denn die hohen Produktivitätszuwächse auffangen, wenn Sie wissen, daß Sie so viel Wachstum gar nicht erreichen können? Also nehmen Sie doch die Arbeitslosigkeit in Kauf. So machen Sie uns und sich weiterhin von Atom-, Chemie-, Stahl- und Automobilgiganten und von der Rüstungsindustrie abhängig. Wenn dort an Mensch und Natur gedacht wird, dann deshalb, weil man Material für seine Unternehmenszwecke sucht. Sie wollen das Laufrad laufenlassen, weil sie heute daran verdienen. Dieser Trend wird sich nicht durch das umkehren, was sich in diesem Haushalt manifestiert; er wird sich nicht umkehren, weil Sie entschlossen sind, Maschinen statt Menschen zu fördern. Dieser Haushalt hält Geld für den Abbau von Überkapazitäten und Rationalisierungen bereit, wobei Menschen ihre Arbeit verlieren. Dieser Haushalt hält gleichzeitig schon wieder Geld für den Aufbau neuer Überkapazitäten bereit. Auch die Automobilindustrie wird von dem Steuererleichterungsgesetz des Herrn Bundesfinanzministers Gebrauch machen. Haben Sie in Ihrer „weitsichtigen" Finanzplanung auch schon vorgesehen, welche Gelder in diese Industrie dann, wenn sie - wie jetzt die Werft- und die Stahlindustrie - zusammenkracht, hineingepumpt werden sollen? ({6}) Wir lehnen Ihren Haushalt nicht nur deswegen ab, weil wir den von Ihnen behaupteten Zusammenhang von Haushaltskonsolidierung, Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen für eine Irrlehre halten. Wir lehnen ihn auch nicht nur deshalb ab, weil wir einen großen Teil der Investitionen, die möglicherweise getätigt werden, für ökologisch und sozial unvertretbar halten. Wir lehnen diesen Haushalt auch deshalb ab, weil wir die Fortführung einer Wachstumspolitik, die auf riesige technische Innovationsschübe setzt, für eine Gefahr für die Demokratie halten. Meine Damen und Herren von der Mehrheit, haben Sie sich schon einmal Rechenschaft darüber abgelegt, was an demokratischer Substanz bei den Versuchen, das Atomprogramm durchzusetzen, zerstört worden ist? Haben Sie sich schon einmal verdeutlicht, welche Folgen die riesigen Datenbänke und Informationssysteme, die jetzt mit neuen Technologien aufgebaut werden, in den Händen von Bürokratie und mächtigen Wirtschaftsgruppen haben? Haben Sie sich eigentlich einmal die Folgen der neuen Medien für die politische Kultur in diesem Land klargemacht? Haben Sie sich übrigens auch einmal klargemacht, was es eigentlich für die Demokratie bedeutet, wenn ein Minister in einem Presseinterview äußert, daß er amerikanische Raketen auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung stationiert sehen will? So hat er sich nämlich geäußert, der Herr Familienminister, der bekanntlich in dieser Regierung für historische und politische Umdeutungen zuständig ist. ({7}) Als Begründung, warum sich an der Haltung der Bundesregierung, die Raketen zu stationieren, auch dann nichts ändern wird, wenn eine Mehrheit dagegen ist, hat er folgendes abgeliefert: ({8}) „Demokratie bedeutet auch Führung, kontrollierte Führung." ({9}) Diese autoritäre Umdeutung des Demokratiebegriffs entmündigt die Bürger. ({10}) Wenn ich Herrn Geißler so höre, verstehe ich auch die Jugendlichen, die nicht mehr begreifen können, daß es noch Sinn macht, sich an demokratische Spielregeln zu halten. Wie sollten sie denn auch, wenn ein Minister ihnen sagt, daß die deutlich sichtbare Mehrheit gegen die Raketenstationierung nicht zählt? ({11}) Können Sie sich nicht vorstellen, daß die wiederholt geäußerte staatliche Forderung nach Gewaltlosigkeit diesen Jugendlichen immer fragwürdiger erscheint, wenn - wie in Krefeld - die Schützer der Verfassung Provokateure in die erste Reihe von Nachrüstungsgegnern stellen? ({12}) Statt über irreales Wachstum sollte man im Zusammenhang mit Massenarbeitslosigkeit und Massenentlassungen mehr über Demokratie reden. Wo war die Chance für eine demokratische Beteiligung der Menschen, die nun die Folgen der Schließung der Werften zu tragen haben? Wo sind die Menschen beteiligt, die die kurzsichtige Wachstumspolitik der Stahlkonzerne mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bezahlen müssen? In diesem Land beginnt ein neuer Darwinismus einzukehren. Während Sie sich bemühen, immer und immer wieder das Werfen eines Pflastersteins oder das Blockieren eines Zaunes zum Thema zu machen und über Gewalt zu klagen, werden sehr gewalttätige, sehr unmenschliche Entscheidungen durchgezogen. Diese Regierung bezieht die Mehrheit der Bürger in ihre angeblichen Problemlösungen vor allem als Objekte, als Financiers von Zwangsabgaben ein, oder sie sieht die Bürger überhaupt nur als Störenfriede, die mit angeblich überzogenen Ansprüchen an das Sozialsystem ein an und für sich funktionierendes Staatssystem gefährden. Natürlich wissen wir, daß der Staat, daß Politik, auch die Ihrer Regierung, weder an allem schuld ist noch alles bewirken kann. Aber Aufgabe staatlichen Handelns wäre es, eine Reihe von Rahmenbedingungen für eine neue, ökologisch orientierte und ökologisch sinnvolle Gesellschaft zu schaffen. ({13}) Politische Gestaltung hieße Zukunftsaufgaben wahrnehmen, von denen hier immer gesprochen wird. Ein Teil dieser Zukunftsaufgaben wäre eine grundlegende Änderung dieses Industriesystems, eine Reorganisation bis hin zu einer solidarisch abgefederten und gesellschaftlich getragenen Schrumpfung von Industrieanlagen, die der heutigen Zeit nicht mehr angemessen sind. Umbau der Gesellschaft - das wird eben nicht allein von oben gehen, nicht allein durch Zahlenwerke, die von Bürokraten erstellt, von Ministern präsentiert und durch Gesetz verordnet oder zwischen Konzernspitzen und Senatsvertretern - wie jetzt in Bremen - ausgehandelt werden. ({14}) Der Umbau braucht Demokratie, braucht Einverständnis und Mitwirkungswillen von Menschen. Für uns bedeutet das Ausdehnung der Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten auf allen politischen Ebenen. Wir sind für die Stärkung der Bürger gegenüber den Parlamenten und für die Stärkung der Parlamente gegenüber den Regierungen. Der Hinweis auf die Möglichkeit einer demokratischen Erneuerung gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Wirtschaft. Ihre Wachstumspolitik, technische Innovationen und Massenentlassungen berühren das Leben von Millionen von Arbeitnehmern. Sie müssen deshalb über ihr Schicksal mitreden können, und zwar nicht nur paritätisch in Aufsichtsräten, sondern auf allen Ebenen der betrieblichen Entscheidungen. ({15}) Ich füge hinzu: Produktionsumstellungen, öffentlich finanzierte Programme für sinnvolle Arbeit oder die 35-Stunden-Woche sind ohne den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitenden über Organisation, Formen und Ziele ihrer Arbeit nicht denkbar. Politische Umorientierung - das hieße mit den Arbeitern aus den Werften zu überlegen, wie sie ihr Know-how, ihre Maschinen für neue nützliche Güter verwenden können. Es gibt in diesem Bereich Pläne. Solidarische Politik hieße den Betrieben, die eigene Initiativen entfaltet haben, steuerliche Erleichterungen zu geben, damit sie mithalten können, eine Chance haben, eine Chance in diesem unerbittlichen Konkurrenzkampf. Das hieße auch, den Konzernen unsere Luft, unsere Erde und unser Wasser nicht zu Billigtarifen zu überlassen, während die Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. ({16}) Der Herr Finanzminister hat in seiner Rede folgenden löblichen Satz gesagt: Wir dürfen nicht weiter unsere Tagesaufgaben auf Kosten der Generation unserer Kinder lösen wollen. Ihre wachsweiche Umweltpolitik, die vor notwendigen Lösungen - auch in der Frage des Waldsterbens - bis heute zurückweicht, Ihre Förderung risikoreicher Technologien mit unübersehbaren Folgen, Ihre Förderung des Wachstums auf Kosten ökologischer Kreisläufe werden noch unsere Kinder und Kindeskinder beschäftigen. Damit belasten Sie doch die kommenden Generationen. ({17}) Haben Sie schon einmal von Ihren Beamten ausrechnen lassen, was die Bewachungsheere für die strahlenden Atomruinen, für die Plutoniumanlagen und die Datenfestungen kosten werden? Haben Sie schon einmal berechnen lassen, was die Beseitigung der Folgeschäden der heutigen Industrialisierung kosten wird, über welche Zeiträume diese Kosten in zukünftigen Haushalten auftauchen werden? Haben Sie schon berechnen lassen, was es kosten wird, die umkippende Nordsee wieder zu einem Gewässer zu machen, nur weil Sie heute nicht einmal durchsetzen können und wollen, daß die Verklappung von Dünnsäure aufhört? ({18}) Wenn Sie 1990 noch einen Haushalt zu machen haben, werden Sie wahrscheinlich überlegen müssen, ob genug Geld da ist, um den Import von Trinkwasser in dieses Land zu subventionieren. ({19}) Solange Sie nicht die allgemeine Richtung Ihrer Politik, die Qualität Ihrer Ausgaben grundlegend ändern, grenzt die Sorge um die nachfolgende Generation an Demagogie. ({20}) Wir haben versucht, ein Sofortprogramm vorzulegen, aber solange Sie mit Ihrem Haushalt die Politik Ihrer Regierung - wie vor einem halben Jahr vorgestellt - fortsetzen wollen und nicht bereit sind, die Richtung zu ändern, haben wir die Pflicht, unsere Oppositionsrolle durch eine systematische Kritik sowohl der finanziellen Details als auch der geistigen Grundlagen Ihrer Politik auszufüllen. ({21})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Präsident des Senats und Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen. Präsident des Senats Koschnick ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es mag die Gefahr bestehen, daß Sie meinen, ich spreche nur, weil am 25. September in Bremen eine Wahl ist. ({2}) Ich schlage vor, daß Sie diese Position erst am Ende beurteilen, weil ich hier eine vom Wahlkampf abgesetzte Position zu vertreten habe. Diese Position halte ich auch in Bremen durch. Es geht nämlich im Augenblick darum, über die Strukturfragen zu sprechen und nach Lösungen für schwierigste Industriefragen zu suchen - wenn die Probleme überhaupt einvernehmlich lösbar sind - sowie nach Wegen zu suchen, wie man betroffenen Menschen, Arbeitnehmern und ihren Familien, neue Chancen gibt. Niemand mehr als ein Regierungschef von der Küste würde es begrüßen, wenn der seit Jahresanfang beschworene Aufschwung käme und wenn sich die Finanzen von Bund, Ländern und Gemeinden so konsolidieren würden, daß nicht jede neue Haushaltsrunde nur von Kürzungen und Einsparungen diktiert wird. Ich habe Verständnis für das Streben des Bundes, seinen Haushalt zu entlasten, und gleichzeitig für das Bemühen, Mittel freizusetzen, die als Initialzündung für neue Investitionen gedacht sind. Allerdings bin ich höchst unsicher, ob die von der Bundesregierung konzipierte Form der Steuererleichterungen tatsächlich zu einem Investitionsschub führt. Ich vermute vielmehr, daß sie als Steuergeschenk von denjenigen mitgenommen wird, die sowieso Investitionsvorhaben realisiert hätten. Da dies heute in der Regel Modernisierungsinvestitionen sind, wird unter dem Strich die Ausbeute an Arbeitsplätzen nur höchst mager ausfallen. Hier hätte ich ein gezieltes Beschäftigungsprogramm für wirkungsvoller gehalten. ({3}) Wenn ich hier heute zu Ihnen als Mitglied des Bundesrates spreche, so tue ich dies nicht in erster Linie, um Ihnen meine Skepsis im Hinblick auf das Gelingen der Pläne der Bundesregierung kundzutun, sondern ich möchte das Augenmerk des Hohen Hauses vielmehr darauf richten, in welcher Weise der Bund seine finanzielle Situation zu Lasten der Länder und Gemeinden ordnet. Die Besonderheit für Bremen liegt doch darin, daß das Land mit der geringsten finanziellen Ausstattung und den größten wirtschaftlichen Problemen in unserer Republik bei der Neuverteilung der Belastungen am schlechtesten wegkommt. In den neuen Gesetzen sehen wir keine Hilfe für unsere Probleme, sondern aus den Steuerentlastungsgesetzen resultieren zunächst einmal Ausfälle, die wir angesichts unserer Aufgabenfülle und Haushaltsenge kaum auffangen können. Wir reden in Bremen nicht von einem Aufschwung, sondern wir bemühen uns, eine Sturzfahrt von wichtigen Teilen unserer heimischen Wirtschaft aufzufangen, denn wo sich bei anderen die Talsohle abzeichnen mag, erfolgt bei uns der Fall in die Bodenlosigkeit. Rund ein Drittel aller Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe entfallen in Bremen auf Krisenbranchen, vor allem auf Schiffbau, Stahlindustrie, Fischerei und Fischverarbeitung. Ein solcher Prozentsatz wird von keinem anderen Bundesland erreicht. Selbst wenn ich den Krisenfaktor „Kohle" mit einbeziehe, so sind die gefährdeten Branchen bei uns stärker vertreten als im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen. ({4}) Wir haben den Bund gebeten, uns bei der Überwindung der strukturellen Verwerfungen unserer heimischen Wirtschaft zu helfen. Wir sind dabei nicht allein Bittsteller, sondern haben auch den Appell an den Bund gerichtet, seinen Verfassungsauftrag wahrzunehmen und die notwendigen regionalpolitischen und sektoralen Strukturentscheidungen zu treffen. Wir sehen in der Entscheidung der Bundesregierung, Bremen in ein Sonderprogramm der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur aufzunehmen und im Präsident des Senats Koschnick ({5}) Laufe der nächsten vier Jahre dafür 80 Millionen DM bereitzustellen, einen wichtigen Schritt in Richtung auf flankierende Maßnahmen zur Reduzierung der überproportionalen Arbeitslosenzahl in der Unterweser-Region; es trifft ja nicht Bremen allein, sondern das umliegende Gebiet von Niedersachsen mit. Dieses Sonderprogramm entlastet uns aber nicht unmittelbar von den bei uns vorhandenen wirtschaftlichen Problemen bei Werften und Stahl. Ich hoffe, daß es eine Mehrheit unter den Bundesländern gibt, die dieser Entscheidung des Bundes zustimmt, und beteilige mich nicht an polemischen Auseinandersetzungen über eine versagte Unterstützung durch andere Bundesländer. Ich setze bis zur Entscheidung auf Einsicht, und Solidarität. ({6}) Meine sehr geehrten Damen, meine Herren, in unserer privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaft entscheiden die Eigentümer, die Vorstände der betroffenen Gesellschaften über das Schicksal von Betrieben. Die Verantwortung auch dafür, in welchem Umfange Investitionen, Rationalisierungen oder eben Entlassungen vorgenommen werden, also welche Unternehmenspolitik betrieben wird, steht in der Entscheidungsbefugnis derjenigen, die in guten Zeiten eines Unternehmens auch die Beschlüsse faßten, wohin die gemachten Gewinne fließen. Weder Bund noch Länder haben hierauf in unserem Wirtschaftssystem einen unmittelbaren Einfluß. Bund und Länder werden jedoch in wirtschaftlich schwierigen Tagen von Unternehmen wie von Arbeitnehmern häufig in eine Pflicht genommen, die marktwirtschaftlichen Prinzipien widerspricht. Vielleicht scheint gerade deshalb die Politik in Krisenzeiten gut geeignet zu sein, den Prügelknaben der Nation zu spielen. Zugegeben: Möglicherweise haben wir alle - ich nehme mich jedenfalls nicht aus - in Zeiten der Umverteilung des wirtschaftlichen Zuwachses die Möglichkeiten staatlichen Einflusses auf die Unternehmen in marktwirtschaftlichen - oder darf ich sagen: kapitalistischen - Systemen überschätzt, zumindest aber Erwartungshaltungen zugelassen, die den wirklichen Einflußmöglichkeiten nicht standhalten. Dennoch ist unsere Wirtschaftsordnung nicht so ausgerichtet, daß sich der Staat mit der Rolle eines neutralen Beobachters begnügen kann, den im Grunde alles nichts angeht. ({7}) Es kann sich wohl niemand auf unsere Verfassung berufen, wenn sich Industriepolitik lediglich auf das Begrüßen erfreulicher Entwicklungen und auf das Bedauern von Zusammenbrüchen reduziert. ({8}) Vielmehr fordert unsere Verfassung von jeder Regierung, sich um einheitliche Lebensverhältnisse in allen Teilen der Republik zu kümmern. Darunter fällt vor allem die Verpflichtung, im Interesse des gesamten Staates eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und bei der Ausbildungsplatznot zu spielen. ({9}) Es gilt, den arbeitsfähigen und arbeitswilligen Bürgern dieses Staates eine faire Lebenschance und eine faire Berufschance zu ermöglichen. Es genügt nicht, allein darauf zu setzen, daß aus den Unternehmen herausgezogene höhere Unternehmensgewinne reinvestiert werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist doch wirklich nicht als Arbeitsmarktpolitik auszugeben. Zur Aufgabe des Gesamtstaates, so meine ich, gehört nicht zuletzt, regionale Defizite und strukturelle Verwerfungen anzugehen und gegenzusteuern, soweit die vorhandenen Ressourcen dies zulassen. Natürlich ist es bei unserer Wirtschaftsordnung für alle Verantwortlichen im Bund wie in den Ländern eine unlösbare Aufgabe, wenn man von ihnen verlangen wollte, daß sie an Stelle der Unternehmen und ihrer Kapitaleigner handeln und ihnen ihre ureigene Entscheidung abnehmen. Der Staat ist aber verpflichtet, Fehlentwicklungen zu bremsen, Anreize für bruchlose Übergänge zu neuen Strukturen zu geben, um abwendbare Arbeitslosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen. Strukturkonzepte für gefährdete Branchen sind zu entwikkeln; diese Aufgabe ist vom Bund zu erfüllen. ({10}) Hier geht es dann auch um die Beantwortung der Frage, ob ein gesamtstaatliches Interesse da ist, bestimmte Industriesektoren vorzuhalten und in Krisenzeiten zu stützen. Es steht die Frage nach einer nationalen Energie- und Kohlekonzeption, nach einer nationalen Schiffahrts- und Werftenpolitik, nach einer meinetwegen in Europa zu verzahnenden Stahlpolitik. Es muß entschieden werden, ob es Kapazitäten - und welche - in einem bestimmten Industriesektor aus gesamtstaatlichem Interesse geben soll und ob diese aus Gründen der Wirtschaftsentwicklung oder der nationalen Sicherheit auch unter begrenzbaren Verlusten vorgehalten werden sollen. Lassen Sie mich als Vertreter der norddeutschen Küste in diesem Zusammenhang etwas zu den Werften sagen. Als nach der Ölpreiskrise 1974 die ersten größeren Einbrüche bei der nach 1950 wieder entstandenen Schiffbauindustrie eintraten und wir schon damals in knapp vier Jahren rund 30% Personalreduzierung hinzunehmen hatten, griff die damalige Bundesregierung Schmidt/Genscher ein und stoppte die Entwicklung. Sie stoppte sie mit einer kombinierten Reeder- und Werftenhilfe einschließlich einer Auftragshilfe für den Export. Sie stoppte so bruchartige Entwicklungen und Verwerfungen. Sie haben uns die Chance gegeben, Stabilisierung an der ganzen Küste möglich zu machen. Die norddeutschen Länder haben sich damals ihrer sektoralen Mitverantwortung nicht entzogen und sich absprachegemäß mit 25% an den Auftragshilfen beteiligt. ({11}) Präsident des Senats Koschnick ({12}) Doch diese Haltung des Bundes ist nicht durchgehalten worden. Seit 1982 stehen Auftragshilfen zur Hereinnahme von Exportaufträgen nicht mehr zur Verfügung. Seit dieser Zeit kämpfen unsere Werften gegen Billiglohnländer und staatlich subventionierte Werften im internationalen Schiffbaumarkt mit der Folge, daß Aufträge ohne kostendeckende Preise bzw. Unterbeschäftigung die Substanz der Werften erheblich angeschlagen und zum Teil aufgezehrt haben. Das war der Grund, daß wir Regierungschefs der Küstenländer am 21. April dieses Jahres uns in Hamburg auf ein gemeinsames Werftenhilfeprogramm verständigten und den Bund eindringlich gebeten haben, uns an der Küste nicht allein zu lassen. Die Antwort ist bekannt. Außer der Aufstokkung der Reederhilfe war in Bonn kein Blumentopf zu gewinnen. Ob Frau Breuel als Vorsitzende der Wirtschaftsministerkonferenz der Küstenländer heute mehr Glück haben wird als meine Kollegen Dr. Albrecht und Dr. Barschel - von Klaus von Dohnanyi und mir will ich besser schweigen -, ist höchst ungewiß. Meine Damen, meine Herren der Koalition, ist es nicht bezeichnend, daß Christdemokraten und Sozialdemokraten an der Küste hier an einem Strang ziehen? Spüren Sie nicht die Not, die sich bei uns in Schleswig-Holstein wie in Niedersachsen, in Hamburg wie in Bremen ausbreitet? Ja, wir Regierungschefs der Küstenländer sind nicht nur beim Bund aufgelaufen mit unserer Forderung, wir sind auch von den Gewerkschaften kritisiert worden, weil wir einen Kapazitätsabbau von weiteren 30 % im Schiffneubau hinnehmen würden und dabei Arbeitsplatzverluste akzeptiert hätten. Ich sage Ihnen: Die Angebots- und Nachfragesituation auf dem Weltmarkt verlangt eine realistische Beurteilung. Es sind nicht genügend Schiffe zu akquirieren, um alle Werftkapazitäten auszulasten. Wir kommen an Reduzierungen nicht vorbei. Ich trage das hier Unausweichliche mit. Aber ich bin nicht bereit, die Verantwortung für eine ungeklärte nationale Schiffbaupolitik mit deren Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien zu tragen. ({13}) Wir brauchen Klarheit. Wir in Bremen sind, wie gesagt, noch vor dem Saarland das Bundesland mit den meisten von den weltwirtschaftlichen Verwerfungen betroffenen Industrien und liegen aus diesem Grunde an der Spitze der Arbeitslosenquote. Deshalb erhoffen wir von der Bundesregierung Unterstützung bei der Förderung betriebsübergreifender Maßnahmen bei den Werften. Bei Alleingängen der Werften im Lande Bremen stehen wesentlich mehr Arbeitsplätze als heute auf dem Spiel. Während bei den Werften das Wasser immer höher stieg und die Gefahren für den Wirtschaftsbereich an der ganzen Küste immer deutlicher wurden, war noch Anfang Dezember 1982 der Bundeswirtschaftsminister der Auffassung, daß von einer Krise der Werften in Norddeutschland nicht zu sprechen sei. ({14}) Selbst als der Herr Bundeskanzler im Februar die Lage der Werftindustrie als krisenhaft erkannte, hat sich das in den öffentlichen Erklärungen des Bundeswirtschaftsministeriums nicht niedergeschlagen. Noch im Juni hat das Bundeswirtschaftsministerium, nachdem aus der Sicht der norddeutschen Küste deutlich war, daß sich die Auftragsbücher der deutschen Werften in katastrophaler Weise leerten, die Auffassung vertreten, daß für ein Strukturanpassungsprogramm keine Notwendigkeit gesehen werde. Nur für Bremen könne es regionale Flankierungshilfen geben. Erst ab Juli erfahren wir vom Bundeswirtschaftminister, daß die deutsche Werftindustrie vor einer schweren Bewährungsprobe stehe. Und dann müssen wir heute von ihm hören, daß eine verbesserte Förderung der Reeder- und Neubauhilfe nicht in Frage komme und daß Export- und Auftragshilfen für die Bundesregierung nicht zur Diskussion stünden. - Was das für die Werften in Schleswig-Holstein, in Hamburg, in Niedersachsen und in Bremen bedeutet, will ich hier nur andeuten. Ich sehe, und zwar wie meine christdemokratischen Kollegen, bruchartige Entwicklungen vorprogrammiert. Zurück nach Bremen: Wir werden den Bund beim Wort nehmen, wenn die Werftvorstände nun doch noch zu einem Konzept kommen. Den Streit um ein einvernehmliches und dann wieder bestrittenes Konzept habe ich bisher ausgetragen und werde wohl noch eine geraume Zeit Prellbock zwischen Arbeitnehmern und Vorständen sein. Dabei steht die Forderung des Bundes - Graf Lambsdorff hat sie heute morgen noch einmal ausdrücklich wiederholt - nach einem Konzept der Unternehmen, der Vorstände also, und nicht, wie es im Wahlkampf behauptet wird, nach einem Konzept der Landesregierung. Wir wollen an einem Konzept für die Branche mitwirken, können aber nicht für jedes Unternehmen eigene Konzepte entwickeln. Alles wäre leichter gewesen, so glaube ich jedenfalls, auch zwischen Vorständen und Betriebsräten, wenn uns der Bund die Größenordnung einer möglichen Hilfe vorgegeben hätte. Er hätte dann einen Rahmen dafür vorgegeben, was überhaupt an realistischer Werftumstrukturierung mit öffentlichen Mitteln, des Bundes und Bremens, machbar wäre. Der Bund ist hierauf nicht eingegangen. Die Gründe hat vorhin Graf Lambsdorff gesagt. Wenn die Bundesregierung in ihrem Beschluß vom 20. Juli sagt, daß am Ende eine Werftenstruktur entstehen müsse, die ohne weitere öffentliche Hilfe voll wettbewerbsfähig am Markt Aufträge hereinholen könne, dann frage ich nur, warum der Bund seiner eigenen Werft unter die Arme gegriffen hat. ({15}) Die HDW, Howaldt-Werke Deutsche Werft AG, Kiel und Hamburg, erhielt doch zu Lasten des Bundes 270 Millionen DM und vom Lande Schleswig-HolPräsident des Senats Koschnick ({16}) stein 90 Millionen DM, um Betriebsverluste abzudecken und Umstrukturierungen möglich zu machen. Sie erhielt diese beachtliche Finanzspritze, weil HDW unter den heutigen Bedingungen nicht kostendeckend am Markt Aufträge akquirieren konnte. In Kenntnis dieses Umstandes bemüht sich die Werftindustrie in Bremen und Bremerhaven, ihre Stundensätze für Werftleistungen so weit herunterzudrücken, daß künftige öffentliche Hilfen so gering wie möglich ausfallen. Aber versprechen, daß es stets ohne öffentliche Hilfe gehe, kann keiner, der die Werftindustrie kennt. ({17}) Meine sehr geehrten Damen, meine Herren, nationale Werften und nationale Schiffahrt gehören untrennbar zusammen. Von je 100 Schiffen, die sich im Eigentum deutscher Reeder befinden, sind inzwischen 40 ausgeflaggt. Seit Beginn des Jahres 1983 ist für die deutsche Flagge ein Substanzverlust von rund 100 000 Bruttoregistertonnen festzustellen. Würde man diese Entwicklung linear fortschreiben, gäbe es in fünf Jahren keine deutsche Handelsflotte mehr. Auch wenn man diese Entwicklung nicht so unterstellt, hat die Ausdünnung des deutschen Schiffbestandes eine bedrohliche Dimension angenommen, eine so bedrohliche Dimension, daß man das Problem sich nicht dadurch lösen lassen kann, daß man gar nichts tut. Auch hier ist die Bundesregierung gefordert, konkret zu erklären, welche Handelsflotte sie für eine der größten Handelsnationen der Welt als notwendig erachtet, und wie sie eine notwendige Flotte sichern will. ({18}) Bei der '78er Krise von Werften und Schiffahrt wurde von der Regierung Schmidt/Genscher ({19}) eine begrenzte Hilfe durch eine pauschalierte Zinsbeihilfe in den Jahren 1979 bis 1981 an die Seeschiffahrt gegeben, um die Substanz der deutschen Reedereibetriebe zu erhalten. Diese Finanzbeiträge haben die Betriebskosten der Schiffe verringert. Sie waren darüber hinaus ein wesentlicher Anreiz, in Schiffsneubauten unter deutscher Flagge zu investieren. Bekanntlich sind die deutschen Werften zum überwiegenden Teil auf Aufträge deutscher Schiffahrtsunternehmen angewiesen. Deutsche Reeder sind jedoch trotz der gewährten Schiffbauzuschüsse von zur Zeit 12,5 % nur dann in der Lage, Schiffe zu bestellen, wenn die Ertrags- und damit die Finanzlage ihrer Reedereien perspektivisch gesichert erscheint. Und dies kann nach meiner Meinung zur Zeit am ehesten durch die Gewährung von Finanzbeiträgen gefördert werden. Nun kann man natürlich fragen: Alles nur für die Küste? Alles nur für Deutschland? Wie sieht es in Europa aus? In den einzelnen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft liegen die Schiffbau- und Schiffahrtssubventionen mindestens doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik: doppelt so hoch im untersten Fall - in den Niederlanden -, in einem Fall dreimal so hoch - in Italien -, und dazwischen bewegen sich Belgien, Dänemark, Frankreich und Großbritannien. Angesichts dieser Situation muß, meine ich, der Bund mehr tun, muß der Bund sich zu ähnlichen Stützungsmaßnahmen durchringen, wie es 1979 der Fall gewesen ist. ({20}) Eines ist jedenfalls sicher. Wenn die deutsche Handelsflotte immer weiter ausdünnt, erledigt sich auch das Problem der Werften von selbst. An der Küste besteht Übereinstimmung darüber, daß bei Werften und Schiffahrt dringend etwas passieren muß. Es reicht nicht aus, ein verbales Bekenntnis zu den deutschen Werften und zur deutschen Flotte abzulegen. Wir brauchen Klarheit über die Dimension dieses Bekenntnisses, nämlich wieviel Schiffbaukapazität und wie viele Schiffe aus gesamtstaatlicher Sicht abgesichert werden sollen. Jedermann muß sich aber auch klar sein, daß bei abgeschwächter Weltkonjunktur und weltweiter Wettbewerbsverzerrung in diesen Wirtschaftsbereichen ein solches Bekenntnis dann nicht mehr aus Worten, sondern aus realen Zahlen zu bestehen hat. Ich leugne nicht, sondern weiß, wie schwer es ist, diese Forderung bei der ganzen Problematik der Investitionen und Subventionen im Bundeshaushalt zu erfüllen. Aber ich sage Ihnen: Wenn hier nicht geholfen wird, werden die Folgen für den Bund und für die Küstenländer viel dramatischer und schlimmer, als es im Augenblick vorstellbar ist. Daher denke ich da anders. ({21}) Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich glaube, wir sind uns alle darin einig, daß die heutige problembeladene Wirtschaftssituation in der Bundesrepublik mit bloßem Warten nicht gelöst werden kann. Die wirtschaftlichen Probleme finden sich in Bremen in besonderer Konzentration und in einer Schärfe, die durch unsere besondere Wirtschaftsstruktur bedingt ist. Wir sind in unserem Bundesland nicht in der Lage, Negativwirkungen politischer Entscheidungen aufzufangen, die in Brüssel getroffen werden. Ich denke hier an den Stahlsektor oder an die katastrophale Handhabung des Fischereiproblems durch die EG. Ich appelliere hier an die Bundesregierung, im Interesse der strukturgefährdeten Region unseres Landes dieselbe Unbeugsamkeit zu zeigen, wie wir sie von anderen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft gewohnt sind, wenn diese ihre Interessen verfechten. ({22}) Seit Mitte der 70er Jahre haben unsere EG-Partnerländer zusammengerechnet rund 80 Millionen DM an Subventionen in ihre Stahlindustrie gesteckt. Länder wie Großbritannien und Italien subventionieren heute die Tonne Stahl mit Beträgen, die weit über 200 DM liegen. Das heißt, der Subventionswert liegt dort bei 30 % des Umsatzwertes. Die Bundesregierung aber verhielt sich bisher nach streng marktwirtschaftlichem Muster. Abgesehen von Forschungs- und Technologieprogram1302 Präsident des Senats Koschnick ({23}) men mit vergleichsweise geringen Beträgen und abgesehen von den Hilfen für die saarländische Stahlindustrie gibt es bisher keine direkten Subventionen für die deutsche Stahlindustrie. Ich meine, die Stahlindustrie hat zu Recht die Frage gestellt: Welcher andere deutsche Wirtschaftszweig kann von sich behaupten, er habe Krisenjahre gegen die Konkurrenz der europäischen Steuerzahler und der Finanzminister Europas durchstehen können? Die deutschen Stahlunternehmen haben dies nur mit Substanzverlusten in Milliardenhöhe geschafft. Die Bundesregierung arbeitet weiter auf Marktwirtschaft, obwohl selbst die FAZ festgestellt hat, daß die europäische Stahlentscheidung mit einem marktwirtschaftlichen System nichts mehr zu tun hat. Die Subventionszurückhaltung der Bundesregierung hat dazu beigetragen, daß die bundesdeutschen Stahlwerke ihren internationalen Vorsprung bei der Produktivität nahezu eingebüßt haben. Der Technologievorsprung, den die deutsche Stahlwirtschaft im Bereich der modernen Oxygen- und Elektrostahlverfahren oder beim Stranggußverfahren noch 1974 aufwies, ist nicht zuletzt durch die Subventionspolitik unserer Nachbarn in Frage gestellt. Alle Gespräche über die Zukunft der deutschen Stahlindustrie enden derzeit in der resignativen Erwartung, daß nur noch der Staat die Krise abwenden könnte. Von dem noch im letzten Frühjahr so hoch gelobten, auch von der Bundesregierung gelobten, Moderatorenkonzept ist nur ein Scherbenhaufen übriggeblieben. Vielleicht darf ich aber erinnern, daß nur ein einziger Stahlkonzern bereit war, das Konzept der Moderatoren zu akzeptieren. Das waren die Klöckner-Werke, deren Wirkungen wieder unmittelbar nach Bremen hereinstrahlen. ({24}) - Nein. Nicht nur. Ich sagte: „nach Bremen hereinstrahlen". Wir haben Georgsmarienhütte in Niedersachsen. Wir haben 6 000 Beschäftigte allein in Nordrhein-Westfalen. Wir haben das Problem der Maxhütte in Bayern. Ich sage einfach: Es ist ein Problem, das in diese Region hereinstrahlt. Ich weiß genau, wovon ich rede. Ich möchte auch nicht den Konzern plötzlich als bremischen Konzern bezeichnen. Es ist ein Konzern, der über vier Länder hin arbeitet und in Nordrhein-Westfalen sitzt. Meine Damen und Herren, mir fällt auf, daß der Bund beispielsweise bei den Fusionsplänen von Thyssen und Krupp in der Stahlwirtschaft andere Antragsvoraussetzungen als bei den Werften fordert. Bei uns hetzt man die Arbeitnehmer der einzelnen Betriebsstätten aufeinander, ohne eine Zusage für eine konkrete Hilfe bei realistischen Konzepten zu geben. Prüfung wurde zugesagt, und zugleich wurden Bedenken wegen der möglichen Wettbewerbsverzerrung angemeldet. Bei der Krupp/Thyssen-Konzeption überläßt man zu Recht die Detail- und Betriebsstättenlösung mit ihren personellen Folgen dem neuen Vorstand und einer gemeinsamen neuen Betriebsvertretung. Nur bei den Werften an der Unterweser soll das alles anders sein. Ich frage: warum? Zurück zur Stahlproblematik an der Weser. Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich den Entwurf einer Richtlinie für die Gewährung von Strukturverbesserungshilfen an die Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie vorgelegt. Danach wird Klöckner bei Realisierung des Richtlinienentwurfs kein Geld erhalten, solange das Quotenproblem nicht gelöst ist. Die Situation von Klöckner ist bedrohlich. Bei weiterer Überschreitung der Quoten werden Beihilfen verweigert, und bei Einhaltung der Quote soll die Tragfähigkeit des erzwungenen Alleingangkonzeptes von Klöckner trotz Beihilfen nicht mehr gegeben sein. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier nicht weiter zu warten. Sie muß mit der EG zu einer die Überlebenschancen von Klöckner sichernden Entscheidung kommen, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, eine moderne, technologisch am weitesten entwickelte, aber natürlich auch am stärksten mit Kapitaldiensten belastete Hütte zugunsten der von anderen Regionen betriebenen Modernisierung alter Hütten in Europa preiszugeben. ({25}) Mir fällt auf, meine Damen und Herren, daß der Montanvertrag bei der ganzen Diskussion nicht mehr beachtet wird. Dort war es einmal gemeinsamer Wille aller Vertragschließenden, die Stahlindustrie zu modernisieren und mit modernen Betriebsstätten die Zukunft zu erreichen. Heute stelle ich in Europa fest, daß die alten Klamotten aufrechterhalten werden und daß die modernen Industriebereiche heute in Gefahr geraten, wegen ihrer Kapitalkostenbelastung geschlossen zu werden. ({26}) Vielleicht darf ich abschweifend sagen: Wenn ich mich recht erinnere, war es auch ein Grundkonsens bei der NATO, nicht nur für Verteidigung und Sicherheit zu sorgen, sondern auch für die Wohlfahrt der Bevölkerung und der Länder zu sorgen. Auch hier steht die Frage: Sollte das nicht in einem Zusammenhang gesehen werden, wenn Kapital von uns wegfließt, um Haushaltsdefizite für Rüstungsaufgaben in Amerika zu finanzieren, Kapital, das an sich hier eingesetzt werden müßte, um Struktursicherungsmaßnahmen durchzuführen? ({27}) Jedenfalls sage ich: Mit der endgültigen Vorenthaltung der Mittel wird die Lage der KlöcknerWerke gegenüber den konkurrierenden Stahlwerken aussichtslos. Bräche allein in Bremen die Klöckner-Hütte zusammen, brächen die Werften ein, und unsere Arbeitslosenquote müßte auf weit über 25 % explodieren. Lassen Sie es nicht zu, daß wir mit den Krisenbranchen in einen Teufelskreis geraten, wie wir ihn bei der Hochseefischerei bitter erleben mußten! Die deutsche Hochseefischerei hat die Zeche für die Uneinigkeit in der EG, für den nationalen Egoismus bezahlt, der sich ohne Rücksicht auf legitime Interessen der deutschen Küste durchsetzte. LeidtraPräsident des Senats Koschnick ({28}) gende waren nicht nur die Unternehmen der Hochseefischerei, sondern auch und ganz besonders die Fischereiproduktionsstätten in Cuxhaven und Bremerhaven. Nicht nur die Unternehmen, die Arbeitnehmer in diesen Betrieben zahlten den Preis ungenügender europäischer Verständigung. ({29}) Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, noch ist es Zeit, durch nationale Maßnahmen und europäische Standfestigkeit ein weiteres Ausbluten der Küstenregion zu verhindern. Was in unseren Kräften steht, werden wir an der Küste dazu beitragen. Wir brauchen aber den Willen des Gesamtstaates zur Abfederung der notwendigen Strukturveränderung, zur Verhinderung bruchartiger Entwicklungen bei den Krisenbranchen und vor allem zur aktiven Arbeitsmarktstützung der bedrohten Regionen. Wenn ich vom Willen des Gesamtstaates spreche, meine ich nicht Deklamationen, sondern die Wahrnehmung der Verpflichtung zur regionalen und sektoralen Wirtschaftspolitik durch den Bund. Konkrete Maßnahmen sind geboten, Absichtserklärungen langen nicht. Wir vier Länder in Norddeutschland werden unseren Beitrag leisten. Nun bitte hilf auch, Bund! ({30})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Metz.

Reinhard Metz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001487, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht damit beginnen, daß ich Ihnen sage, was Herr Grobecker gerne möchte. ({0}) Herr Bürgermeister - der lacht auch -, zunächst freue ich mich, daß Sie das Plenum des Deutschen Bundestages eben nicht so hemmungslos zur Tribüne eines Landtagswahlkampfes gemacht haben, wie es Ihr Kollege Herr Börner heute morgen hier getan hat. ({1}) Ich finde es auch gut, daß Sie nicht so wie eben Herr Dr. Vogel auf vordergründige Effekthascherei ausgewesen sind. Vielleicht, Herr Bürgermeister Koschnick, haben Sie sich heute an einen Ihrer Aussprüche erinnert, den Sie, als Sie ihr Bürgermeisteramt antraten, vor vielen Jahren einmal getan haben. Ich zitiere: Bundestreue wird in einem besonderen Maße Anliegen des Senats der Freien und Hansestadt Bremen sein. - Ich finde die Politik Bremens immer dann gut, unabhängig davon, wer wann wo gerade regiert, wenn dieses kleine Bundesland sich an diesen richtigen Ausspruch erinnert. Ich finde es auch gut, was Sie heute im Deutschlandfunk gesagt haben, als Sie den guten Willen des Bundeskanzlers Dr. Kohl bestätigt haben und sagten, ich, Hans Koschnick, muß im Augenblick sagen, daß der Bundeskanzler bisher bereit ist, die Probleme des Landes Bremen zu sehen und zu würdigen. Wenn sich der bremische Bürgermeister hier moderat äußert, dann hängt das sicher auch damit zusammen, daß wir uns - in einem umfassenden Sinne - immerhin in einer Haushaltsdebatte befinden. Sie haben das Bund-Länder-Verhältnis angesprochen. Ich will noch einmal sagen: Wenn ein Bundeskanzler auch in föderativen Kategorien denkt, dann ist es doch dieser Bundeskanzler dieser Regierung, der nicht nur in historischen Perspektiven denkt, sondern auch jahrelang Ministerpräsident eines Landes gewesen ist. Es ist auch so, daß dieser Bundesfinanzminister, ebenfalls langjähriger Ministerpräsident eines Bundeslandes, ({2}) vom ersten Tage seiner Tätigkeit in Bonn als Finanzminister peinlich genau und verantwortungsvoll auf die Auswirkungen der hiesigen Bonner Entscheidungen auf die Finanzen von Ländern und Gemeinden geachtet hat. ({3}) Die konkreten Entscheidungen der Bundesregierung sowohl im Herbst 1982 als auch zu diesem Haushalt 1984 sind in hohem Maße länderfreundlich und sparen den einzelnen Bundesländern viel Geld. Der Bundesfinanzminister hat in der Bundesratssitzung vor einigen Tagen erneut darauf hingewiesen, daß der Bund die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Haushalte von Ländern und Gemeinden sehr genau im Auge behält, und zwar sowohl bei der Mittelverteilung als auch bei den notwendigen Entscheidungen auf der Ausgabenseite. Das heißt, Länder und Gemeinden sind durch die bisherigen Bundesinitiativen erheblich entlastet worden, vor allen Dingen auch im Bereich der Personalkosten. Aus der Antwort der Bundesregierung auf Fragen des Kollegen Esters geht hervor, daß eine Gegenüberstellung der Steuermindereinnahmen und der gesamten Entlastungswirkungen für die Bundesländer insgesamt zu einem positiven Saldo von weit über 4 Milliarden DM im Jahre 1984 führt. Für Bremen beispielsweise, Herr Bürgermeister, bedeutet das ein Plus für 1984 von 59 Millionen DM. Der Bremer Finanzsenator, Herr Thape, kann sich über dieses Plus freuen, denn er ist der Finanzsenator eines Landes, das Ende dieses Jahres eine ProKopf-Verschuldung seiner Bürger von über 12 500 DM haben wird. Wenn Sie mir diese kleine Bemerkung erlauben: Ich mag Herrn Thape gerne leiden. Aber es ist schon eine Ironie der Geschichte, wenn ein langjähriger Bildungssenator anschließend noch Finanzsenator werden muß. Wäre es anders herum gewesen, wäre es sicher billiger geworden. Mit den Stichworten Stahl, Schiffahrt, Schiffbau, Flugzeugbau, Fischerei - Sie haben sie alle genannt - sind nicht nur spezifisch bremische Probleme angesprochen, sondern Probleme, die den gesamten norddeutschen Raum und auch den Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland bewegen. Im Falle Bremens ergibt sich eben die Besonderheit, daß sich alle diese Problembranchen auf dem engen Raum der beiden Städte Bremen und Bremerhaven und dés niedersächsischen Umlands zusammendrängen. Das heißt, knapp 40% aller indu1304 striellen Arbeitsplätze des Landes entfallen auf diese Problembranchen. Wenn ich richtig unterrichtet bin, liegt der Bundesdurchschnitt bei etwa 6 % Problembranchen. ({4}) Die Bremer Zahlen sind natürlich mehr als besorgniserregend. Die bremische Verschuldung ist seit 1970 um 738% gestiegen. ({5}) Die eigenen Möglichkeiten des Landes sind begrenzt. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat ja heute vormittag von der Notwendigkeit eines unternehmensfreundlichen Klimas überall, auch in Bremen, gesprochen. In diesem Zusammenhang geht es eben nicht nur um Gelände- und Strompreise. Meine Damen und Herren, wer prüft, ob er beispielsweise nach Bremen kommen soll oder ob er in Bremen bleiben soll, fragt sich vielleicht auch, auf welche Schulen seine Kinder in Bremen denn gehen. Das gehört ja auch alles zur Attraktivität eines Standorts. ({6}) Vor diesem Hintergrund gilt die klare Aussage des Bundeskanzlers - heute wiederholt -, daß Bremen vom Bund nicht im Stich gelassen wird. Wenn der Bundeskanzler in Bremerhaven vor zwei Tagen gesagt hat - ich zitiere - „So, wie wir den Bergbau und die Kohle brauchen, brauchen wir die Werften, die Stahlindustrie, die Hochseefischerei, die Luft- und Raumfahrtindustrie, und nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern aus nationalen Gründen", dann begrüße ich diese Aussage erneut und bedanke mich auch für Bremen herzlich für diese Aussage und Zusage. ({7}) Der Beschluß des Bundeskabinetts vom letzten Dienstag in Sachen Sonderprogramm zur regionalpolitischen Flankierung des Anpassungsprozesses in der Schiffbau- und Stahlindustrie in Bremen unterstreicht diese Aussage. Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß nicht nur der Bund, sondern daß auch die Mehrheit der Länder dem Antrag des Landes Bremen zustimmen. Erlauben Sie mir, sehr verehrter Herr Bundeswirtschaftsminister, daß ich in diesem Zusammenhang eine Bitte an Ihre Adresse äußere. Auf das Thema Werften komme ich gleich. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mit diesem Kabinettsbeschluß kein endgültiger Schlußpunkt hinsichtlich jeder Strukturhilfe für Bremen gesetzt ist. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Ziffer 5 des Kabinettsbeschlusses. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Gelegenheit benutzen, einige Bemerkungen zur Seeschiffahrt und zum Schiffbau zu machen. Die öffentliche Diskussion über so oder anders geartete Hilfen ist ja noch in vollem Gange, obgleich der Entwurf der Bundesregierung zum Haushalt 1984 hier klare Eckwerte enthält. Die öffentliche Diskussion geht eben deswegen weiter, weil kein Thema die deutsche Küste so sehr beschäftigt wie das Schicksal der Werften. Es gibt u. a. weitergehende Forderungen der vier norddeutschen Länder an die Adresse des Bundes. Ich gehe davon aus, daß bei den Beratungen im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestags dieses Thema noch eine Rolle spielen wird, daß hier noch keine letzten Worte gesprochen worden sind. Der Kollege Echternach hat gestern abend während einer kurzen Debatte über den Schiffbau bereits darauf hingewiesen. Heute, während der ersten Lesung dieses Bundeshaushalts, möchte ich ein paar Bemerkungen zur Ausgangslage dieser Beratungen machen. 1982 wurden von deutschen Werften neu gebaute Handelsschiffe für 3,4 Milliarden DM abgeliefert. 1983 wird der Umsatz etwa 4,2 Milliarden DM betragen. Diese 4,2 Milliarden DM entsprechen ja einer bestimmten Kapazität. Als die Regierungschefs und die Wirtschaftsminister und -senatoren der vier norddeutschen Küstenländer sich am 21. April dieses Jahres zur Werftenkonferenz in Hamburg trafen, machten sie sich eine Zielvorstellung von etwa 3 Milliarden DM Jahresumsatz für die Jahre 1984 ff. zu eigen, nachdem sie die Überlegungen der Gewerkschaften und der am Schiffbau und der Schiffahrt beteiligten Verbände angehört hatten. Seither wird in der öffentlichen Diskussion davon ausgegangen, daß vom damaligen Stand noch etwa 6 000 bis 9 000 Arbeitsplätze abgeschmolzen werden müßten. Dem liegt die Annahme von etwa 20 Millionen Fertigungsstunden zugrunde. ({8}) Herr Bürgermeister, Sie waren dabei, ich nicht. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Unrichtiges sage. Ihr Hamburger Kollege, Herr von Dohnanyi, der sich jetzt lautstark zu diesem Abschmelzungsprozeß äußert, war auch dabei. Diese 3 Milliarden DM Umsatz als angestrebte Kapazität wurden grob unterteilt in 2 Milliarden DM Inlandsaufträge und 1 Milliarde DM Auslandsaufträge. Wenn man nicht nur aus der Opposition, sondern verantwortlich über zusätzliche Hilfen für den deutschen Handelsschiffbau diskutieren will, muß man sich die Frage stellen: Wie realistisch sind die Annahmen, die davon ausgehen, daß 1983 und in den kommenden Jahren Jahresbestellungen von 3 Milliarden DM auf deutsche Werften gelenkt werden können? Lassen Sie mich mit den Auslandsaufträgen beginnen. Ich verhehle nicht, daß ich gegenüber den ersten Hochrechnungen aus dem Bundeswirtschaftsministerium in diesem Jahr sehr skeptisch war und diese ersten Hochrechnungen für mich auch heute noch in sich nicht schlüssig sind; denn man kann natürlich nicht einen größeren Auftrag, den eine einzige Werft im ersten Quartal dieses Jahres hereingeholt hat, einfach auf das ganze Jahr hochrechnen. Von daher ist die Forderung nach Exporthilfe von seiten der norddeutschen Regierungschefs sehr verständlich. Nun will ich hier im Parlament nicht über konkrete Aufträge und Auftragslagen sprechen, aber ich will nicht verhehlen, daß sich im Rahmen des 8-E-Programms in den letzten Tagen Hoffnungen ergeben haben. Vielleicht haben wir in einigen Wochen realistische Unterlagen, auf deren Grundlage nochmals über das Stichwort Exporthilfe nachgedacht werden kann. - Ich sehe, Sie nicken, Herr Bundesminister. Eine große Sorge bleibt in diesem Zusammenhang auf jeden Fall, nämlich das völlige Ausbleiben von Exportaufträgen in Industrieländer. Das ist einer der schwachen Punkte. Nun zu den 2 Milliarden DM Umsatz aus Inlandsaufträgen. Es kann ja kein Zweifel darüber bestehen - diese Vorbemerkung sei erlaubt -, daß jede öffentliche Diskussion über staatliche Hilfen auch die Gefahr von Attentismus in sich birgt. Man darf auch nicht die formlose Anmeldung zur sogenannten Reederhilfe, die j a aus Fristgründen vorgenommen wird und nicht mehr als 80 Pfennig, nämlich den Preis einer Briefmarke, kostet, mit wirklich vorhandener Investitionsneigung verwechseln. Wenn wir nach dem Abfluß des 230-MillionenDM-Programms dieses Jahres fragen, wird allgemein davon ausgegangen, daß die den 230 Millionen DM Seeschiffahrtshilfen entsprechende Umsatzzahl von 1,9 Milliarden DM in diesem laufenden Jahr 1983 erreicht wird. Dabei darf aber nicht übersehen werden - wenn ich Sie noch einmal ansprechen darf, Herr Minister -, daß diese 230 Millionen DM in diesem Jahr wohl nur deswegen völlig abfließen werden, weil sie in einem beträchtlichen Umfange durch Vorgriffe, Bestellungen aus dem Jahr 1982, in Anspruch genommen worden sind. Mit anderen Worten: Wenn Sie die zukünftige Entwicklung des Inlandsmarktes prognostizieren und vergleichbar machen wollen, müssen Sie davon ausgehen, daß auch in diesem Jahr Vorgriffe auf das Programm 1984 in Höhe von knapp 1 Milliarde DM vorgenommen werden würden. Fazit also: Die Zielgröße 2 Milliarden DM wird wohl erreicht. Aber man muß von diesen 2 Milliarden DM praktisch 800 Millionen DM abziehen. Erst dann haben Sie die wirklich realistische Entwicklung im Inlandsbereich. Wir wissen, daß im Bereich Schiffahrt, Schiffbau die unterschiedlichsten Forderungen an den Bundeshaushalt herangetragen werden. Das reicht von Exporthilfen über allgemeine Neubauhilfen, über Bund-Länder-Programme bis hin zur Forderung nach Finanzbeiträgen, also direkten Betriebssubventionen bei den Reedern, und einer Aufstockung der Fördersätze. Auch als bremischer Abgeordneter sage ich: Es ist völlig unmöglich, alle diese Wünsche zu erfüllen. Ich finde, wir sollten den Leuten nichts vormachen. Es mag auch sein, daß sich mancher in seinen Forderungen daran orientiert, daß in der Vergangenheit etwa 7 Milliarden DM Steuergelder in diesen Bereich geflossen sind. Ich sage Ihnen: Ich hätte mir gewünscht - ich nehme an, nicht nur ich -, daß die Hilfen in der Vergangenheit in einem größeren Maße an Strukturveränderungen gekoppelt gewesen wären. ({9}) Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht. Mir geht es manchmal so, daß ich versucht bin, an die Adresse mancher Vorstände in manchen Großunternehmen - das gilt auch für andere Branchen - zu sagen: Meine Herren, es reicht nicht aus, einerseits die Hand aufzuhalten und andererseits die Strukturen nicht zu verändern. ({10}) Wir müssen verhindern, daß das Bereitstellen von Steuergeldern hochbezahlte Manager am Nachdenken hindert. Ich meine nicht die Art von Nachdenken, die sich in Überlegungen erschöpft, wie man an öffentliche Mittel herankommt. Nun bin ich beim nächsten Punkt. Er hat wieder viel mit Bremen zu tun. Da ist die Frage, ob der Bund sogenannte Strukturhilfen leisten soll, wenn entsprechende betriebsübergreifende Anpassungsvorschläge, die den erforderlichen Prüfungen standhalten - in diesem Fall ein gefordertes Konzept -, auf dem Tisch liegen. Ich sage mit Blick zur Regierungsbank auf diese Frage: Ja, der Bund soll in diesem Falle helfen. Jetzt schaue ich zu Bürgermeister Koschnick und sage ebenso klar: Die Bundesregierung hat es nicht zu vertreten, wenn in Bremen keine prüffähigen Unterlagen in Richtung Bonn auf den Weg gebracht werden. - Sie sind derselben Meinung. - Zu glauben, meine Damen und Herren, daß am Rhein noch jemand versteht, was an der Weser passiert, zeugt von unverbesserlichem Optimismus. Ich muß sagen, Versuche in der Vergangenheit, den Schwarzen Peter in Richtung Bundeshauptstadt zu schieben, müssen mitlerweile als total gescheitert angesehen werden. Das SPD-Präsidium hat vor einigen Tagen die Bundesregierung erneut zu einer sofortigen Hilfe für die Bremer Werftindustrie aufgefordert. Das Präsidium sagt in Richtung Bonn, die Schwierigkeiten der Bremer Werften hätten vermieden werden können, wenn die Bundesregierung entsprechend den Forderungen des Bremer Senats rechtzeitig ihre Hilfsbereitschaft erklärt hätte. Meine Damen und Herren, das Präsidium der SPD hat nicht den geringsten Schimmer von den Forderungen des Bremer Senats. Der Bremer Senat erklärt nämlich zum wiederholten Male, daß er nicht in der Lage ist, irgendwelche konkreten Entscheidungen zu treffen, da bisher kein Antrag auf Umstrukturierungsbeihilfen vorliegt. Voraussetzung - so der Bremer Senat - für öffentliche Hilfen aus Bremen und aus Bonn bleibe ein konkreter Antrag, dessen Tragfähigkeit durch die Wirtschaftsprüfer der Treuarbeit bestätigt worden sei. Das SPD-Präsidium polemisiert hier aus der Ferne. Je weiter die Entfernung, desto geringer die Ahnung, meine Damen und Herren. ({11}) In diesem Zusammenhang lassen Sie mich einen Moment abschweifen. Ich würde Herrn Dr. Vogel überhaupt empfehlen, ab und zu einmal bremische Zeitungen zu lesen. ({12}) - Er hat einen ausländischen Besucher. Ich halte das nicht für einen Kritikpunkt. - Ich empfehle ihm, bremische Zeitungen zu lesen. Wenn er das täte, dann könnte er beispielsweise nachlesen, was seine Fraktionskollegen in Sachen Sicherheit im Lande so erzählen. Neulich war der Kollege Duve in Bremen. Da gab es ein Friedensfest. Da hat der Herr Kollege Duve gesagt - und jetzt zitiere ich -, wenn der Atlantische Pakt aber die vorgesehene Stationierung der amerikanischen Raketen in der Bundesrepublik wie bisher gutheiße, dann müsse auch die NATO von uns in Frage gestellt werden. Das widerspricht dem, was Ihr Fraktionsvorsitzender hier eben erklärt hat.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe?

Reinhard Metz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001487, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ausnahmsweise eine.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Entschuldigen Sie, wenn ich Sie im Satz unterbrochen habe.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Metz, da Sie Herrn Vogel empfehlen, bremische Zeitungen zu lesen, trifft es dann zu, daß Sie aus einer bremischen Zeitung entnommen haben, daß diese Worte von Herrn Klose, der auch aus Hamburg kommt, am 6. August gesagt worden sind?

Reinhard Metz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001487, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, genau das habe ich doch eben gesagt. ({0}) - Herr Duve - wo ist er? -, ich bitte um Verzeihung. Das war Herr Klose, ich bedanke mich für diese Richtigstellung. ({1}) - Daß es der ehemalige Bürgermeister von Hamburg war, macht die Sache ja auch nicht besser. Ich weiß auch nicht, ob und wie oft Herr Dr. Vogel in dieser Frage schon mit Herrn Lafontaine diskutiert hat. Ich habe das schon getan; es ist kein reines Vergnügen. Jedenfalls wird deutlich, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch den Zustand der Sozialdemokratischen Partei nicht gewährleistet werden kann. Sie haben sehr viel über die Sommerpause und über das „Sommertheater" geredet. Wissen Sie, am Ende dieser Sommerpause liegt fristgerecht ein Haushaltsentwurf vor, auf den sich die Koalition geeinigt hat. Das, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie lange nicht erlebt! ({2}) Diese Regierung geht gestärkt in diese Haushaltsberatungen; die letzte Regierung ist über den Haushalt gestürzt. Das ist der Unterschied zwischen diesen Sommerpausen! ({3}) Sie träumen doch bloß von so einem Finanzminister, ({4}) und Sie träumen doch nur von einer Partei, die nach Diskussion im Sommer dann im Bundestag und im Bundesrat geschlossen wie ein Mann abstimmt und die Mehrheit hat und garantiert. ({5}) In Wirklichkeit kann sich doch niemand vorstellen, daß Sie heute Regierungsverantwortung hätten, denn jeder weiß, meine Damen und Herren: Unsere Sicherheit wäre dahin, und unsere verantwortliche Finanz- und Haushaltspolitik und damit die innere Stabilität wären auch verspielt. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Oder muß ich aufhören, Frau Präsidentin?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Eigentlich müßten Sie!

Reinhard Metz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001487, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gern, wenn ich darf, mit Genehmigung meiner Fraktion noch drei Minuten reden.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das geht natürlich von der Redezeit der anderen ab. Das muß man wissen.

Reinhard Metz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001487, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. Also zurück zu Bremen ({0}) und zum Präsidium der SPD. Ich stelle hier folgendes fest. Der Bremer Senat sagt: Ohne Antrag kein Geld, weder aus Bremen noch aus Bonn. Genau dasselbe sagt auch die Bundesregierung. Aber eines, Herr Bürgermeister, möchte ich doch auch sagen dürfen. Es zahlt sich nach meiner Beurteilung nicht aus, wenn man als Politiker in Sachen Strukturmaßnahmen verlangt, daß Gewerkschaften und Betriebsräte alles mitmachen. Wir alle sind in unserem demokratischen System mit einem Mandat und mit Unabhängigkeit auf Zeit ausgestattet, damit wir gegebenenfalls auch in der Lage sind, Lösungen durchzusetzen, deren Mittragen man eben nicht von allen Betroffenen verlangen kann. Ich sollte mich sehr täuschen, wenn hier nicht einer der tiefen Gründe für die chaotisch anmutenden Zustände in Bremen läge. ({1}) Ich bin sicher, man darf die Betriebsräte hier nicht überfordern. Sie haben Verantwortung für ihren betrieblichen Bereich, aber sie haben keine Gesamtverantwortung, wie die Politiker sie haben. ({2}) Zur aktuellen bremischen Diskussion über das Durcheinander um Konzepte, Prüfungen, Ankündigungen und zurückgenommene Ankündigungen will ich aus Nächstenliebe und natürlich auch, meine Damen und Herren, aus bremischem Patriotismus nichts weiter sagen. Um eines möchte ich alle Beteiligten - da schließe ich mich ein - bitten. Die Menschen an der Küste wissen, daß es keine Bestandsgarantien geben kann und daß nur eine moderne Schiffahrtsindustrie überleben kann. Aber sie möchten irgendwann Klarheit haben. Die technokratische Diskussion über Modelle, über die Ausgestaltung von Hilfen, das Drumherumreden mancher Verantwortlichen, aber auch manche Aussage der Vergangenheit, es gebe eigentlich gar keine Krise, das ist es, was die Menschen letzten Endes mehr verbittert als die am Ende vielleicht bittere Wahrheit. Herr Bürgermeister, je unklarer die Führung, desto größer die Unsicherheit der Menschen. Wäre in Bremen wirklich immer regiert worden, wir wären heute ein Stück weiter. - Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft, Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es würde mich - auch nach den Anmerkungen, die der Kollege Metz dazu gemacht hat, und nach dem, was der Bundeskanzler und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion heute ausgeführt haben - in der Tat reizen, noch ein Wort zur sicherheitspolitischen Diskussion der letzten Wochen und Monate zu sagen. Aber ich will mir das jetzt versagen. Ich glaube, es ist notwendig, ein paar klarstellende Bemerkungen - teilweise zustimmend, teilweise differenzierend - zu dem zu sagen, was Sie, Herr Bürgermeister, zum Thema Werften und Stahl gesagt haben. Ich finde in Ihren Ausführungen, Herr Koschnick, den bemerkenswerten Satz: Eine verbesserte Förderung der Reeder- und Neubauhilfe kommt nicht in Frage, hat der Bundeswirtschaftsminister heute morgen hier erklärt. - Ich habe das Gegenteil erklärt. Ich habe gesagt, daß wir den Ansatz für das Haushaltsjahr 1984 für die Reederhilfe erhöht haben. Dabei bleiben wir auch. Deswegen ist Ihre Feststellung nicht richtig. Zweitens haben Sie gesagt - ich zitiere noch einmal wörtlich -: Alles wäre leichter gewesen, auch zwischen Vorstand und Betriebsräten, wenn uns der Bund die Größenordnung einer möglichen Hilfe gesagt hätte. Es hätte dann einen Rahmen gegeben, was überhaupt an realistischer Werftumstrukturierung machbar wäre. Der Bund ist hierauf nicht eingegangen. Meine Damen und Herren, bei der vertieften Diskussion im Lande über Sinn und Unsinn von Subventionen frage ich Sie, Herr Koschnick: Halten Sie es wirklich für vertretbar, vom Bundesfinanzminister zu fordern - versuche hier niemand, einen Gegensatz zwischen dem Bundesfinanz- und dem Bundeswirtschaftsminister zu konstruieren; den gibt es in anderen Fragen nicht, auch nicht in diesen, mit der einen Ausnahme, daß er als Ministerpräsident mir zehn Jahre Küstenerfahrung voraus hat; ({0}) - auch, ich nehme das an; allerdings bin ich danach nicht gefragt worden und würde ich mich öffentlich nicht dazu äußern, wenn ich etwas anderes wüßte -, daß er für eine ungewisse Situation, deren finanziellen Rahmen und Größenordnung er noch gar nicht sehen kann, Beträge nennt? Denn, Herr Koschnick, das wissen Sie: Wenn Sie erst einmal Beträge nennen, werden Sie selbstverständlich Vorschläge bekommen, die diese Beträge beanspruchen. Es hat einmal jemand gesagt: Eher legt sich ein Hund einen Wurstvorrat an, als daß ausgelobte Zahlen öffentlicher Hilfe nicht in Anspruch genommen werden.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grobecker?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Ja, gerne.

Claus Grobecker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000730, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf ich Sie auf den Unterschied zwischen dem, was der Herr Bürgermeister gesagt hat, und dem, was Sie jetzt richtigzustellen versuchen, aufmerksam machen? Sie haben den Titel der Reederhilfe quantitativ zwar erweitert, aber die Reederhilfe nicht verbessert. Vielleicht darf ich eine zweite Frage nachschieben: Weshalb haben Sie eigentlich bei der Fusion MBB-VFW nur die Fusion gefordert, während Sie jetzt vorher ein Betriebsstättenkonzept fordern?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Oh, Herr Grobecker, das sollten Sie aus der Vergangenheit eigentlich wissen, daß ein Betriebsstättenkonzept bei der Fusion von VFW und MBB mit sorgfältiger Aufteilung und sorgfältiger Beantwortung der Frage, wo Arbeitsplätze verlorengehen, seinerzeit zum Inhalt der Fusionsverhandlungen und zum Fusionsergebnis gemacht worden ist. Das Betriebsstättenkonzept Hamburg-Bremen-München war eines der Hauptprobleme bei dieser Fusion. Ich bitte Sie, sich umzudrehen und sich bei dem hinter Ihnen sitzenden ehemaligen Hamburger Bürgermeister, zu dessen Amtszeit das, glaube ich, verhandelt wurde, zu erkundigen; der weiß das sehr wohl. Zu Ihrer zweiten Frage: Herr Grobecker, Sie können doch nicht ernsthaft sagen, daß die Reederhilfe nicht erhöht worden sei, wenn der Ansatz im Bundeshaushalt um 20 Millionen DM höher ist. Wenn Sie meinen, daß die Sätze nicht erhöht worden sind, dann müssen Sie das sagen. Sie können sich doch nicht hierherstellen und sagen - das sage ich auch dem Bremer Bürgermeister -, eine verbesserte Förderung der Reeder- und Neubauhilfe werde es nicht geben, wenn der Haushalt 1984 einen Ansatz ausweist, der deutlich, nämlich um 20 Millionen DM, höher liegt als der für 1983. Dies ist doch wohl eine Verbesserung im Sinne jedes vernünftigen Menschen. 20 Millionen DM mehr für einen solchen Zweck sind eine Verbesserung, doch wohl keine Verschlechterung. Wenn wir in der deutschen Sprache bleiben, meine Damen und Herren, scheint mir das klar zu sein. ({0}) Herr Metz hat hier mit vollem Recht die Hamburger Werftenkonferenz vom April 1983 eingeführt. Das Ziel - Herr Kollege Metz, auch das haben Sie richtig gesagt - waren für 1 Milliarde DM Exportaufträge und für 2 Milliarden DM Inlandsaufträge. Ich folge Ihrem guten Beispiel und nenne die Bestellerländer und die Werften, die die Aufträge bekommen, nicht; aber wir sind uns einig - so viel weiß natürlich Herr Koschnick -: Die Exportaufträge werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erreicht. Das Auftragsvolumen beträgt 1 Milliarde DM. Was die Inlandsaufträge anlangt, so ist Ihre Darstellung, daß ein Auftragsvolumen von 1,9 Milliarden DM im Jahre 1983 erreicht wird, daß darin aber Vorgriffe enthalten sind und daß sich die Frage stellt, ob ähnliche Vorgriffe a) von den Reedern gewollt und möglich sind und b) aus der Sicht des Bundes, sprich des Haushaltsausschusses, auf das Jahr 1984 vorgenommen werden können, ebenfalls zutreffend. Ich kann nicht vorweg für den Haushaltsausschuß entscheiden, aber dies ist jedenfalls keine zusätzliche Haushaltsbelastung, die unseren Rahmen sprengen würde. Ich denke schon, daß wir mit dem Bundesfinanzminister, den ich nicht präjudizieren kann und will, über diese Frage sprechen können. Die Schiffe im übrigen, die auf Grund von Inlandsaufträgen gebaut werden, Herr Bürgermeister, stärken die deutsche Handelsflotte; denn wo Reederhilfe gegeben wird, wird Flaggenbindung vorgeschrieben, kann nicht über Nacht ausgeflaggt werden. Zwei Dinge sollten aber in diesem Zusammenhang gesehen werden; auf einen Punkt hat der Kollege Metz ganz richtig hingewiesen. Wenn wir nicht endlich aufhören, die öffentliche Diskussion darüber zu führen, ob wir den Satz von 12,5% auf 17,5% erhöhen und ob wir Auftragshilfen geben können oder nicht, dann erzeugen wir einen zunehmenden Attentismus und jeder sitzt auf seinem zugeklappten Orderbuch und wartet darauf, ob er nicht vielleicht doch 5% mehr aus der Staatskasse mitnehmen kann wenn er einen solchen Auftrag erteilt. Es muß zu einem Ergebnis kommen, und nach meiner Überzeugung muß die schädliche, unseren gemeinsamen Zielen in der Werftenpolitik entgegenlaufende Diskussion sehr schnell beendet werden. Ein zweiter Punkt. Keine Bundesregierung, keine Subvention, auch kein Bremer Senat und keine Landesregierung kann in entscheidender Weise erfolgreich Einfluß darauf nehmen, wer von den konkurrierenden und anbietenden deutschen Werften denn nun Aufträge bekommt. Daß das Volumen, das sich die Hamburger Konferenz vorgenommen hat, nicht gleichmäßig auf alle Werften verteilt wird, was die Auftragseingänge anlangt, ist unvermeidlich.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Im Augenblick nicht, sofort, Herr Waltemathe. - Aber es muß die Frage gestellt werden - sie ist nicht ganz leicht zu beantworten -, warum denn die kleinen und mittleren Werften zu einem großen Teil - nicht alle, aber zu einem großen Teil - in der Lage sind, beim Akquirieren von Aufträgen auch unter so schwierigen Situationen wie heute erfolgreicher zu sein, und warum gerade bei den ganz großen Werften auch hier wieder mit Ausnahmen - die Pleite besonders groß ist. Das, meine ich, meine Damen und Herren, können und dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nicht übersehen. - Bitte sehr.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie haben soeben gesagt, Forderungen nach Auftragshilfe und Reederhilfe erzeugten Attentismus. Trifft es zu, daß die Bundesregierung und auch Sie die vier norddeutschen Küstenländer aufgefordert haben, ein gemeinsames Konzept für die Schiffbauindustrie vorzulegen, daß zu diesem Konzept, das die vier norddeutschen Küstenländer vorgelegt haben, Reeder- und Auftragshilfe gehörten, und halten Sie es für schädlich, wenn die vier norddeutschen Küstenländer dem Wunsch der Bundesregierung in diesem Sinne entsprochen und Vorschläge vorgelegt haben?

Dr. Otto Lambsdorff (Minister:in)

Politiker ID: 11001272

Nein, das ist selbstverständlich nicht schädlich, Herr Waltemathe. Nur muß man, wenn die Forderungen auf den Tisch gelegt werden und wenn die Bundesregierung sagt: Diese Forderungen können und werden und wollen wir in diesem Umfang aus vielen Gründen - aus welchen Gründen auch immer; darüber läßt sich streiten; ich nenne Ihnen gleich noch einen - nicht erfüllen, dann müßte eine solche Diskussion im Interesse der Werften, im Interesse der hereinkommenden Aufträge und im Interesse der Arbeitnehmer beendet werden. ({0}) Es ist im übrigen folgendes zu sehen: Gerade bei den Exportaufträgen - darum geht j a heute im wesentlichen die Diskussion: 5%, 10 % oder gar nichts -, bei den Auftragseingängen aus den Industriestaaten, deren Ausbleiben Herr Metz mit Recht festgestellt hat, weil der Schiffsbaumarkt in diesem Bereich nahezu nicht existent ist - was heute kommt, kommt aus Entwicklungsländern, und da gibt's auch Kapitalhilfemittel -, zeigt sich, daß sich der Anteil an Auftragseingängen und Auftragsbestand der deutschen Werften, obwohl andere euroBundesminister Dr. Graf Lambsdorff päische Länder zugegebenermaßen mehr subventionieren als wir - nicht die südostasiatischen -, gegenüber dem Anteil der übrigen EG-Länder überproportional entwickelt hat - alles auf einem sehr niedrigen, auf einem zu niedrigen Niveau. Aber dort, wo es insgesamt keine Aufträge gibt, ist es natürlich kaum möglich, in ausreichendem Maße Aufträge zu akquirieren. Daß es in diesem Jahr trotzdem zu einem Auftragsvolumen von 1 Milliarde DM kommen wird, kann uns nur befriedigen und zu der Feststellung veranlassen, die Herr Metz schon getroffen hat: Wir werden das Ziel der Hamburger Schifffahrtskonferenz erreichen. Herr Metz, Sie haben die Bemerkung gemacht, der Kabinettsbeschluß solle doch nicht das letzte Wort sein, und zwar insbesondere im Hinblick auf Ziffer 5. In Ziffer 5 heißt es - ich zitiere auszugsweise -: „Das regionale Sonderprogramm soll zugleich die notwendige Umstrukturierung der Bremer Großwerften erleichtern." Ich habe - ich habe Ihnen das schon gesagt, Herr Bürgermeister - heute von Ihrem Wirtschaftssenator einen Brief bekommen, in dem es heißt, er lese aus Ziffer 5 heraus, diese Entscheidung solle die finanzielle Unterstützung der Umstrukturierung in der Werftindustrie durch den Bund ersetzen. Davon ist kein Wort gesagt. Er sollte, wenn Sie das freundlicherweise mit nach Hause nehmen würden, den Beschluß noch einmal lesen. „Ersetzen" steht nicht drin; „erleichtern" steht drin, so wie Sie es, Herr Metz - ich glaube: richtig -, interpretiert haben. Ich will Ihnen aber auch noch einmal sagen: Bei der ganzen Diskussion um die Werftenfusion, um die Standortfrage, um den Kapazitätsschnitt können und werden wir in der Bundesregierung nicht übersehen, daß uns massive Einsprüche des Verbandes der kleinen und mittleren Werftunternehmer auf dem Tisch liegen, die sich darüber beschweren, daß ihnen von Großwerften Konkurrenz gemacht wird, die Verlustaufträge hereinnehmen, anschließend versuchen, ihre Verluste bei der Staatskasse abzuladen, und die kleinen und mittleren Unternehmen in eine ganz mißliche Lage bringen, weil sie deren Preisniveau auch herunterziehen. Das ist eine der schädlichsten Wirkungen von Subvention, dieser Droge Subvention, die Sie übrigens mit dem Vorstandsverhalten völlig richtig beschrieben haben. Es gibt heute Vorstandsmitglieder - nicht nur bei Werften -, die mehr Zeit und mehr Intensität darauf verwenden, Subventionstöpfe bei verschiedenen Bundesländern und bei der Bundesregierung aufzuspüren und bessere Beziehungen zu Hauptstädten zu entwickeln, als daß sie sich darum kümmern, wie sie Märkte, Produkte und Absatz finden. ({1}) - Ja, die gibt's da bei Ihnen. Wir wissen schon, von wem wir sprechen. Die haben sich alle schon bei Ihnen abgesetzt, Herr Grobecker; das wissen Sie auch. Meine Damen und Herren, wir werden diese Überlegungen und diese Einwände aus dem Bereich der Kleinen und Mittleren, bei denen es ja auch um Arbeitsplätze geht, bei unseren Entscheidungen ganz gewiß nicht unter den Tisch fallen lassen. Nun, Herr Bürgermeister, zum Stahl: Es ist ja nicht zu bestreiten: Sie leben wirklich wie in einem Mikrokosmos der Bundesrepublik, in dem sich die Problembranchen häufen, ansammeln. Sie sagen, die Bundesregierung setze bei der Lösung der Stahlfrage auf Marktwirtschaft. Das tut sie nun wahrlich schon lange nicht mehr, weil es marktwirtschaftliche Regelungsmechanismen in der Stahlindustrie seit Beginn des Montanunion-Vertrages mit hinterlegten Preislisten, Rabattverboten und ähnlichem nicht gibt und nicht gegeben hat. Marktwirtschaft ist hier seit langem eingeschränkt, später abgeschafft worden. Die Subventionspraxis unserer europäischen Nachbarn hat ein übriges getan. Es wäre gänzlich unsinnig zu glauben, man könne hier in marktwirtschaftlichen Kategorien denken und diese Probleme zu lösen versuchen. Wenn das der Fall wäre, hätten wir einer Quotenregelung niemals zustimmen dürfen, hätten wir uns auch nicht dafür einsetzen dürfen, daß die Quotenregelung verlängert wird. Jedermann in der Stahlindustrie meint heute - leider -, daß das unvermeidlich, notwendig ist und auf längere Frist hätte geschehen sollen. Sie fordern uns auf zu europäischer Standfestigkeit. Meine Damen und Herren, ich akzeptiere jeden Vorwurf und jede Kritik, gerade beim Thema Stahl, die da lautet: Ihr seid bei der Abwehr europäischer Subventionspraxis - und zwar muß man dazusagen: in der alten Regierung, nicht in der neuen; das hat sich vorher abgespielt, aber es setzt sich fort - nicht erfolgreich genug gewesen. Ich akzeptiere diese Bewertung uneingeschränkt, weil ich es selber so empfinde und weil es so auch richtig ist. Aber zu sagen: Ihr seid nicht hart genug gewesen, ihr seid nicht penetrant genug gewesen, ihr seid nicht standfest genug gewesen! - das kann ich nicht akzeptieren. Da empfehle ich, sich einmal bei unseren europäischen Partnern über die Umgangssprache und über den Umgangston bei der Behandlung dieser Themen über die Jahre hinweg im europäischen Ministerrat zu unterhalten. Eines allerdings ist nun einmal bewährte, wie ich sagen möchte, für den Wirtschaftsminister manchmal schwer zu tragende Praxis deutscher Politik in der Europäischen Gemeinschaft. In einer Situation 9 : 1 glauben wir nicht, daß der Rest Europas an der deutschen Meinung genesen kann und genesen sollte. Dann gibt es überragende und überwiegende europapolitische Gründe, die uns veranlassen, einen Standpunkt, den wir im nationalen Interesse einnehmen und eingenommen haben, aufzugeben. Dies kann man selbstverständlich diskutieren, man kann es auch kritisieren; aber es ist Praxis, europapolitische Praxis aus unserer Sicht seit vielen Jahren. Subventionszurückhaltung, Herr Bürgermeister, haben Sie gemeint. Aus der Sicht des Finanzministers, aus der Sicht des Steuerzahlers, auch aus der Sicht vieler in der öffentlichen Meinung ist eine Zusage von 3 Milliarden DM der öffentlichen Hände, nicht nur des Bundes, eigentlich schwer unter den Begriff „Zurückhaltung" zu bringen. Aber gemessen an dem, was andere in ihren Stahlindustrien gemacht haben, kann man es, wie ich zugebe, so bezeichnen. Von dem Moderatorenkonzept, so sagen Sie, von dem hochgelobten Moderatorenkonzept - auch von der Bundesregierung - sei nur ein Scherbenhaufen übrig geblieben. Ich gehe noch nicht so weit. Es wird sicherlich nicht in seiner Gänze, vielleicht noch nicht einmal mehr als die Hälfte davon durchzusetzen sein. Aber, Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren, die ersten, die sich gegen eine Anwendung des Moderatorenkonzepts gewandt haben, waren ja gar nicht einmal so sehr die Unternehmen, sondern die Landesregierungen, aus vielen einsichtigen, manchmal, wie ich finde, durchsichtigen Gründen. Aber die Landesregierungen - am wenigsten Ihre, das will ich gerne zugeben, weil die Probleme bei Ihnen anders liegen, weil Sie zwar ein Werk haben, aber nicht einen Firmensitz - waren doch wohl vornean bei der Ablehnung dieses Konzeptes. Es wird ein Teil des Moderatorenkonzeptes zustande kommen. Es waren nicht nur die KlöcknerWerke, die akzeptiert haben. Es sieht so aus, als ob die Gruppe Rhein zustande kommen könnte. Die Bemühungen laufen mit Intensität. Schließlich, Herr Bürgermeister, enthalten die Stahlrichtlinien, auf die wir uns verständigt haben, auch mit den Ländern so gut wie verständigt haben - wir sind in der Abstimmung -, eine Bestimmung, daß es keine Zuweisungen an das Unternehmen Klöckner geben kann, wenn keine Quotenregelung gefunden wird. Ich glaube nicht, daß Sie irgend etwas anderes tun könnten. Schon aus europarechtlichen Gründen ist es gänzlich ausgeschlossen, einem Unternehmen, das wegen ständiger Überziehung seiner Produktionsquote Geldbußen auferlegt bekommt, aus der deutschen Staatskasse Subventionen zuzusagen. Das ist gänzlich unmöglich, schon aus rechtlichen Überlegungen, aus wirtschaftlichen natürlich auch, denn wenn eines Tages wirklich diese Geldbußen bezahlt werden müßten, dann ist kein Halten mehr, dann sind diese Subventionen aus dem Fenster geworfen. Eine ganz andere Frage ist es, ob und wie wir diesem Unternehmen bei seiner nun endlich gefaßten Absicht helfen können, sich wieder in den Kreis derjenigen einzureihen, die das System akzeptieren, mit anderen Worten: ob es uns gelingen kann und ob es uns gelingen wird, ihm die notwendigen Quoten zu beschaffen. Das war Ziel unter anderem deutscher Verhandlungspolitik auf der letzten Ministerratssitzung. Das ist das Bestreben der deutschen Stahlunternehmen im Kreise von Eurofer. Und wir hoffen sehr, daß es uns möglich sein wird, wenigstens annähernd die Vorstellungen zu verwirklichen, die dann dieses Unternehmen in die Lage versetzen werden, wieder in dem Rahmen zu produzieren, den das europäische Quotensystem vorschreibt. Denn, meine Damen und Herren, eines müssen Sie sehen: Die deutsche Verhandlungsposition im europäischen Ministerrat ist seit Jahren in ganz ungewöhnlicher Weise dadurch erschwert worden, daß uns jeder vorhalten konnte: Aber einer der größten Überzieher seiner Produktionsquote sitzt doch bei euch. So haben auch wir ein Interesse daran und helfen deswegen dabei, daß dieser Zustand beendet werden kann. Eine Erfolgsgarantie kann keiner übernehmen. Die Erfolgsaussichten sind im Augenblick schwer zu beschreiben. Die Bemühungen darum sind intensiv. Und dies, Herr Bürgermeister, hat sicher ganz erhebliche Auswirkungen gerade auch auf den Standort Bremen. - Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat ,der Herr Abgeordnete Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Punkt 2 der Tagesordnung sprechen und mich wegen der besonderen Bedeutung dieses Tagesordnungspunktes auch darauf beschränken. Am 30. August 1983 während einer Gerichtsverhandlung über seinen Asylantrag stürzte sich der 23jährige Kemal Altun aus dem Fenster des sechsten Stocks des Gerichtsgebäudes zu Tode. Kemal Altun war nach dem Militärputsch vom September 1980 aus Angst vor politischer Verfolgung aus der Türkei geflohen und hatte bei seiner in West-Berlin verheirateten Schwester Zuflucht gefunden. Als er im September 1981 einen Asylantrag stellte, verlangte die Türkei kurz darauf, veranlaßt durch eine Rückfrage deutscher Behörden in Ankara, seine Auslieferung. Seit dem 5. Juli 1982 bis zu seinem Tode saß er ununterbrochen in Auslieferungshaft, fast 14 Monate lang. ({0}) Die Bundesregierung bewilligte am 21. Februar 1983 die Auslieferung. Seit dieser Zeit mußte Altun täglich mit dem Vollzug der Auslieferung rechnen. Gewiß hat sich Kemal Altun schon durch die über ein Jahr andauernde Haft in einem fremden Land in einem Zustand ständig steigender Zermürbung und Verzweiflung befunden. Zermürbt hat Altun gewiß zusätzlich auch, daß alle seine Anstrengungen und die Bemühungen anderer zur Verhinderung der Auslieferung zu einer Kette von Enttäuschungen wurden, zu einer Kette, in der zwischendurch aufkeimende Hoffnungen immer wieder jäh zerstört wurden. Das Kammergericht erklärte die Auslieferung für zulässig, bezeichnenderweise ohne Altun anzuhören. Klagen beim Bundesverfassungsgericht wurden nicht angenommen. Eine Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission wurde zwar für zulässig erklärt; über sie ist aber bis zum Tode Altuns nicht entschieden worden. Trifft es also zu, was Justizminister Engelhard und Innenminister Zimmermann nach dem Tode von Kemal Altun behauptet haben, daß nach Recht, Gesetz und Grundgesetz verfahren worden sei und daß alles, was vertraglich und gesetzlich möglich sei, geschehen sei? Kann akzeptiert werden, was der Bundesinnenminister vorträgt, nämlich der Freitod von Kemal Altun resultiere aus einer persönlichen Ausnahmesituation, einer Ausnahmesituation, die täglich vorkommen und gegen die unmöglich Vorsorge getroffen werden könne? Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion handelt es sich bei diesen Einlassungen der Bundesminister Engelhard und Zimmermann um bloße Schutzbehauptungen, mit denen das eigene Versagen verschleiert werden soll. ({1}) Wahr ist, daß den vertraglichen und gesetzlichen Regelungen allenfalls formal entsprochen worden ist, daß aber Grundprinzipien unserer Verfassung in grober Weise mißachtet worden sind. ({2}) Die Verantwortlichen haben, um die Auslieferung durchzusetzen, vorhandene Bestimmungen bewußt bürokratisch, Seelen- und gnadenlos angewendet und gehandhabt. ({3}) Belegt wird das vor allem durch das Schreiben des Bundesinnenministers Zimmermann an den Bundesjustizminister Engelhard vom 21. Juli 1983. In diesem Schreiben forderte der Bundesinnenminister im Interesse einer guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet die Auslieferungsbewilligung der Bundesregierung für vollziehbar zu erklären, damit die Auslieferung unverzüglich durchgeführt werden könne. Für den Bundesinnenminister steht bei Auslieferungsverfahren also die Sicherung einer guten Zusammenarbeit auf polizeilichem Gebiet im Vordergrund, selbst dann, wenn es sich um die Zusammenarbeit mit der Polizei einer Militärdiktatur handelt. Innenminister Zimmermann ist bereit, das persönliche Schicksal des von einer Auslieferung Betroffenen und seine unabdingbaren Grundrechte, also seine Freiheit, seinen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren, frei von Manipulation und Folter, der guten Zusammenarbeit mit einer solchen Militärdiktatur unterzuordnen. ({4}) Und als Kemal Altun in seiner hoffnungslosen Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr sah als den Freitod, da fand dieser Minister kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Betroffenheit, der Anteilnahme. Kaltschnäuzig und herzlos erklärte er, der Tod Altuns sei dessen Privatsache, nach dem Motto: Schuld ist das Opfer selbst. ({5}) Die Einstellung des Innenministers ist geprägt von einer nicht erträglichen Mißachtung der Menschenrechte ({6}) und von einer bedenkenlosen Mißachtung des einzelnen Menschen und seines Schicksals. ({7}) Wer wie Herr Zimmermann den einzelnen und seine Rechte vermeintlichen Staatsinteressen unterwirft, zeigt einen menschenverachtenden Zynismus, der ihn für politische Führungsaufgaben disqualifiziert. ({8}) Dieser Zynismus hat die Politik von Herrn Zimmermann stets bestimmt. Er kennzeichnet nicht nur seine Ausländerpolitik. Zunehmend bestimmt er auch die Innen- und Rechtspolitik. Wenn Herr Zimmermann Bundesinnenminister bleibt, dann ist eine andere Republik wahrscheinlich. ({9}) Wir Sozialdemokraten halten aber auch die Entlassung des Bundesjustizministers für erforderlich. Der Bundesjustizminister hat das Ansinnen des Bundesinnenministers, ein Menschenschicksal und die Grundrechte der Pflege guter Beziehungen zu einer Militärdiktatur unterzuordnen, bis heute nicht zurückgewiesen. Im Gegenteil, er hat, entsprechend dem Verlangen des Bundesinnenministers, den Bundesminister des Auswärtigen förmlich ersucht, nunmehr dem Vollzug der Auslieferung zuzustimmen. Bemerkenswert ist, wie kritiklos der Bundesjustizminister die Annahme des Kammergerichts übernommen hat, bei der Altun vorgeworfenen Straftat handele es sich weder um eine politische Tat noch um eine solche, die mit einer politischen Tat im Zusammenhang stehe. Täter und Teilnehmer der Erschießung des Vizepräsidenten der Nationalen Bewegungspartei sind durch ein türkisches Militärgericht bereits am 6. April 1983 in Ankara abgeurteilt worden. Auf dieses Urteil ist von der deutschen Botschaft in Ankara ausdrücklich mit der Bemerkung hingewiesen worden, es sei nunmehr zu befürchten, daß die türkischen Gerichte Schwierigkeiten bei der Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes bekommen würden. Der Bundesjustizminister hätte an Hand dieses Urteils die Möglichkeit gehabt, festzustellen, ob die Verurteilung wegen der Begehung von Staatsschutzdelikten erfolgt ist, ob also die Altun vorgeworfene Strafvereitelung mindestens im Zusammenhang mit einer politischen Straftat stand. In diesem Fall wäre eine Auslieferung unzulässig gewesen. Außerdem hätte der Justizminister aus der Anklage und aus dem Urteil zusätzlich Aufschluß darüber gewinnen können, ob der Vorwurf gegen Altun manipuliert war. Es gibt Hinweise, daß das Militärgericht einen anderen als Täter für die Tat verurteilt hat, die Altun im Auslieferungsverfahren zu Last gelegt wurde. Trotz des warnenden Hinweises des deutschen Botschafters hat der Bundesjustizminister entweder das Urteil des türkischen Militärgerichts nicht beigezogen oder aber er hat es ignoriert. In beiden Fällen hat er in unentschuldbarer Weise gegen seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verstoßen. ({10}) Der Bundesjustizminister hat ferner der Tatsache nicht die nötige Beachtung geschenkt, daß Al-tun durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 6. Juni 1983 Asyl gewährt worden ist. Dabei ging der Bundesjustizminister zusätzlich davon aus, daß das Verwaltungsgericht Berlin diese Anerkennung bestätigen werde. Gleichwohl hat er sich geweigert, den Vollzug der Auslieferung bis zum Abschluß des Asylverfahrens, zumindest bis zur Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts, auszusetzen. Dazu bestand aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Veranlassung. Nach dieser Rechtsprechung muß die Anerkennung als politischer Flüchtlinge als Beweisanzeichen für eine tatsächlich zu befürchtende politische Verfolgung angesehen werden. Der Bundesjustizminister hat es nicht nur unterlassen, die Asylgewährung durch das Bundesamt ausreichend zu berücksichtigen, er hat darüber hinaus versucht, wie seinem Schreiben an den Außenminister zu entnehmen ist, dem von ihm erwarteten positiven Abschluß des Asylverfahrens durch Vollzug der Auslieferung zuvorzukommen und ihn damit zu durchkreuzen. Gerade bei Auslieferungen in die Türkei ist besondere Vorsicht geboten. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Februar 1983 genügt - ich zitiere wörtlich - „nach den jüngsten Erfahrungen die Zusicherung der Spezialität" ({11}) „nicht, um derzeit im Auslieferungsverkehr mit der Türkei die Gefahr politischer Verfolgung auszuschließen". ({12}) Auch das Europäische Parlament hat in seiner einstimmigen - ich betone ausdrücklich: einstimmigen - Entschließung vom Februar 1983 zu türkischen Auslieferungsersuchen gefordert, daß diese mit besonderer Sorgfalt geprüft werden müßten, daß keine abschließende Entscheidung über die Auslieferung ergehen dürfe, bevor die Gefahr einer menschenrechtswidrigen politischen Verfolgung ausgeschlossen - ich wiederhole: ausgeschlossen - werden könne, daß insbesondere über die formale Anwendung des Auslieferungsrechts hinaus berücksichtigt werden müsse, wie das Auslieferungsersuchen zustande gekommen sei, ob politische Implikationen eine Rolle spielten und welche Folgen die Auslieferung für den Betroffenen voraussichtlich haben werde. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Bundesjustizminister diese Maßstäbe des Europäischen Parlaments seinen Entscheidungen nicht zugrunde gelegt hat, obwohl er dazu nach der Rechtslage durchaus in der Lage gewesen wäre. Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß sich der Bundesjustizminister statt dessen begierig auf eine formale Anwendung des Auslieferungsrechts zurückgezogen hat, um sein eigentliches Ziel, die Durchsetzung der Auslieferung, zu erreichen. Nun einige Bemerkungen zu dem Plädoyer des Bundeskanzlers für den Innenminister und den Justizminister. Der Bundeskanzler hat „Freispruch" beantragt, ohne die Begründung für unseren Antrag zu kennen und Gelegenheit gehabt zu haben, ({13}) unsere Begründung zu würdigen. Das macht deutlich, welches Verhältnis dieser Bundeskanzler zum Parlament, insbesondere zur parlamentarischen Opposition hat. ({14}) Die „Freispruchs"-Begründung des Bundeskanzlers nimmt auf das Verhalten des Bundesinnenministers Zimmermann nicht mit einem einzigen Wort Bezug. ({15}) Ich entnehme daraus, daß der Bundeskanzler zur Verteidigung des Bundesinnenministers kein Wort gefunden hat. Es gibt auch keine Verteidigungsmöglichkeit für dieses unglaubliche, skandalöse Schreiben. ({16}) Der Bundeskanzler hat auf ein Schreiben des Staatssekretärs Erkel an den Bundesjustizminister Bezug genommen, das zuvor im Entwurf dem früheren Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel zur Kenntnisnahme und zur Zeichnung vorgelegt war. Hans-Jochen Vogel hat deutlich gemacht, daß aus diesem Schreiben keine Vorwürfe der Art, wie sie gegen den Bundesinnenminister und gegen den Bundesjustizminister zu erheben sind, hergeleitet werden können. Darüber hinaus füge ich aber hinzu: Die Gleichstellung des Auslieferungsverfahrens Altun mit dem damaligen Auslieferungsverfahren, das auf ein Ersuchen der jugoslawischen Regierung an die deutsche Bundesregierung zurückging, ist unzulässig, und zwar im wesentlichen aus zwei Gründen. ({17}) Erstens. Dem von dem damaligen Auslieferungsverfahren Betroffenen war vom Bundesamt in Zirndorf Asyl nicht gewährt worden. Zweitens. Zwischen der derzeitigen Militärregierung in der Türkei und den damaligen und heutigen Verhältnissen in Jugoslawien gibt es keine Vergleichsmöglichkeit. ({18}) In der Türkei ist politische Verfolgung an der Tagesordnung. Mehr als 20 000 Personen befinden sich in der Türkei aus politischen Gründen in Haft, und in der Türkei wird täglich Folterung gegenüber den politischen Gefangenen angewandt. In der Türkei ist bei jedem politischen Gefangenen mit einer schwerwiegenden Verletzung elementarer Menschenrechte zu rechnen. Letzte Bemerkung zum Plädoyer des Bundeskanzlers. Der Bundeskanzler hat den Eindruck erweckt, als ob andere europäische Staaten auch bei behaupteter und naheliegender oder erwiesener politischer Verfolgung den Auslieferungsverkehr mit der Türkei fortsetzen. Ich habe in meinen Händen, Herr Bundeskanzler - er ist leider nicht da -, ein Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesjustizministerium, Klein, vom 6. September 1983, aus dem sich ergibt, daß der Bundesregierung derartige Fälle einer Auslieferung an die Türkei trotz behaupteter politischer Verfolgung nicht bekannt sind. ({19}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt also trotz der Verteidigungsrede des Bundeskanzlers dabei, daß der Bundesjustizminister im Gegensatz zu seiner Einlassung nicht alles getan hat, was möglich war. Er hat vielmehr bedenkenlos das unterlassen, wozu er verpflichtet war, nämlich den Menschenrechten und den Grundrechten im Auslieferungsverfahren Geltung zu verschaffen. ({20}) Dieser Bundesjustizminister hat nicht die politische und nicht die moralische Kraft, gegen kalte Machtinteressen und den gnadenlosen Schematismus bürokratischer Routine die Menschenrechte zu verteidigen. ({21}) Er ist der besonderen Verantwortung, die sein Amt ihm auferlegt, nicht gewachsen. ({22}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns Sozialdemokraten ist das Verhalten der Bundesregierung in Auslieferungsverfahren von ganz besonderer Bedeutung. Wir haben nicht vergessen und wir werden nie vergessen, wie viele Menschen in Europa nach 1933 aus dem Machtbereich Hitlers fliehen mußten, um sich politischer Verfolgung zu entziehen. Wir wissen, was diejenigen von ihnen zusätzlich erlitten haben, die von Auslieferung bedroht waren, und was denen widerfahren ist, die an die Nazis ausgeliefert worden sind. Das Verhalten der Staaten, die den Nazi-Verfolgten damals Zuflucht gewährt und Auslieferungsverlangen der Nazis abgelehnt haben, ist für uns eine bleibende Verpflichtung. ({23}) Ich möchte gerade heute daran erinnern, daß die Türkei Kemal Atatürks für viele Nazi-Verfolgte - z. B. Ernst Reuter - eine Zufluchtsstätte war, in der sie vor einer Auslieferung sicher sein konnten. Diese sich aus unserer Geschichte ergebende Verpflichtung bestimmt unsere Maßstäbe für das Verhalten deutscher Regierungen bei Auslieferungen. Wir können es nicht zulassen, daß Verfolgte und ihre Menschenrechte vermeintlichen Staatsinteressen in einem herzlosen und unmenschlichen Verfahren geopfert werden. ({24}) Deshalb fordern wir vom Bundeskanzler die Entlassung der Bundesminister Engelhard und Zimmermann. Für die SPD-Fraktion beantrage ich namentliche Abstimmung. ({25})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({0}).

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor 43 Jahren, am 27. September 1940, starb der Philosoph und deutsche Jude Walter Benjamin an der spanisch-französischen Grenze durch die eigene Hand. Benjamin, einer der herausragendsten Denker der Frankfurter Schule, nahm Gift, da er die Auslieferung an Hitlers Gestapo und Folter, Verstümmelung und qualvollen Tod im Konzentrationslager mehr fürchtete als den Selbstmord. Nach seinem Tod durften seine Gefährten - alles politische Flüchtlinge vor der Nazi-Diktatur - in Spanien bleiben. Sie wurden nicht ausgeliefert. Man muß hinzufügen, daß es sich dabei um das faschistische Spanien ein Jahr nach dem Ende des Bürgerkrieges gehandelt hat. Am 30. August dieses Jahres hat sich der politische Emigrant und Asylsuchende Kemal Altun aus dem sechsten Stockwerk des Berliner Verwaltungsgerichts gestürzt. Sein Tod bezeichnet den traurigen Höhepunkt einer seit Jahren - und das heißt: auch schon unter der sozialliberalen Regierung begonnenen - vollzogenen Aushöhlung und Verfälschung des Asylrechts in ein Asylverweigerungsrecht. ({0}) Die Verfasser des Grundgesetzes der Bundesrepublik, diese in feiertäglichen Ansprachen so sehr bemühten Väter unserer freiheitlichen Grundordnung, hatten aus guten und bisweilen am eigenen Leib erfahrenen Gründen ein die Menschenwürde achtendes Asylrecht in die Verfassung hineingeschrieben. Die Not, die Angst und die Qual der politischen Flüchtlinge aus dem Deutschland der Nationalsozialisten waren ihnen noch gegenwärtig gewesen und sind einzelnen Mitgliedern dieses Hauses lebensgeschichtlich wohl noch vor Augen. Willy Brandt hätte keine Chance gehabt, jemals Bundeskanzler zu werden, wenn man ihn damals nach denselben Regularien behandelt hätte, wie sie heute leider in der Bundesrepublik für politische Flüchtlinge gelten. ({1}) Man empfand damals zu Recht die Dankesschuld von Überlebenden. Sollten andere ein ähnliches Schicksal erleiden, so hat diese Republik ihnen Fischer ({2}) Schutz und Obdach zu gewähren. Das war für die Verfassungsväter selbstverständlich. Nunmehr, im Jahre 1983, enden auch in diesem Land Asylverfahren mit Selbstmord, enden mit Verzweiflungstaten von politischen Flüchtlingen, die den Freitod der Auslieferung an blutige Militärdiktaturen und deren Folterknechte vorziehen. Der Leidensweg Kemal Altuns durch die Gefängnisse, Gerichte und politischen Interessen der westdeutschen Demokratie, der dreizehnmonatige Leidensweg eines „Asylanten" - wie die abfällige und rohe Bezeichnung von Behörden und Stammtischen für politische Flüchtlinge hierzulande lautet, Herr Althammer - zeigt beispielhaft, wohin es mit dieser Dankesschuld, wohin dieses Land und wohin diese Demokratie gekommen ist. ({3}) Wer hier und heute Parteiengezänk befürchtet, der sei beruhigt. Hier wird vielmehr von der Scham und Schande zu sprechen sein, die man in Deutschland zu empfinden hat, wenn gewählte Regierungen und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtete Gerichte - Kammergerichte! - mehr oder weniger offen mit blutigen Militärdiktaturen paktieren ({4}) und ihnen politische Oppositionelle willfährig ans Messer liefern. ({5}) - Auch über die Willfährigkeit wird noch einiges zu sagen sein. Kemal Altun kam 1981 nach dem Militärputsch in der Türkei nach West-Berlin und stellte dort im September einen Asylantrag. Auf Grund der sogenannten „verfestigten Zusammenarbeit" zwischen deutschen und türkischen Geheim- und Polizeidiensten kam es zu der bei Asylanträgen üblichen Regelanfrage des Bundeskriminalamtes in Ankara. Prompt überreichten die türkischen Militärs einen Haftbefehl nebst Auslieferungsantrag wegen Verdachts der Anstiftung zum Mord an dem früheren türkischen Zoll- und Monopolminister Gün Sazak. Dieser Haftbefehl war zwei Jahre nach der Tat und erst nach der Anfrage des Bundeskriminalamtes erlassen worden. Kemal Altun kam daraufhin in West-Berlin in Auslieferungshaft. Da Kemal Altun auf Grund des ersten Auslieferungsantrages wegen Anstiftung zum Mord in der Türkei die Todesstrafe gedroht hätte und damit eine Auslieferung nur mit zusätzlichen Garantien möglich gewesen wäre, übergaben die türkischen Militärs den deutschen Behörden einen zweiten Auslieferungsantrag. Nunmehr hatten sich aber Inhalt, Daten und Aktenzeichen geändert. Man sprach fortan von Strafvereitelung, da Altun Waffen und am Attentat Beteiligte versteckt haben sollte, was Kemal Altun ebenso wie den ersten Vorwurf jedoch bestritten hat. Daraufhin erklärte der IV. Senat des Kammergerichts Berlin im Auslieferungsverfahren am 16. Dezember 1982 die Auslieferung durch Beschluß für rechtens, ohne Altun überhaupt einmal persönlich gehört zu haben oder gar ein später hinzukommendes Urteil eines türkischen Gerichts gegen einige Angeklagte im Mordfall Gün Sazak im weiteren Verlauf zu berücksichtigen, in welchem Aussagen, die Altun bislang belastet hatten, als Schutzbehauptungen der anderen Angeklagten eingestuft wurden. Zudem wurde in diesem Urteil der Fall Sazak als - ich zitiere wörtlich - „gewaltsamer Versuch, die Verfassung der Republik Türkei im gesamten zu verändern oder zu beseitigen" dargestellt. Dies ist das klassische politische Delikt. Auch deshalb hätte Kemal Altun niemals ausgeliefert werden dürfen. Ganz anders handelte jedoch die Bundesregierung. Sie bewilligte die Auslieferung mit Verbalnoten vom 21. Februar 1983. Ganze zwei Tage später entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem ähnlich gelagerten Fall eines politischen Emigranten aus der Türkei, daß nach den jüngsten Erfahrungen die allgemeine Zusicherung der Spezialität nach Artikel 14 des Europäischen Auslieferungsabkommens allein nicht ({6}), um derzeit im Auslieferungsverkehr mit der Türkei die Gefahr politischer Verfolgung hinreichend auszuschließen. Es bedarf daher zusätzlich einer Prüfung der Umstände des Einzelfalles. Eine solche Prüfung hat im Fall Kemal Altun weder durch das Kammergericht, gegen dessen Entscheidung wegen des Berlin-Status die Rechtsmittel zum Bundesverfassungsgericht nicht möglich sind, noch durch die Bundesregierung stattgefunden. In dem entlarvenden Brief des Justizministers vom 21. Juli 1983, von dem noch zu sprechen sein wird, werden im wesentlichen türkische Polizei- und Standgerichtsakten zitiert. Lassen Sie mich noch einiges aus der Begründung der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde in einem ähnlichen Falle verlesen; denn dadurch wird das ganze Ausmaß jener kaltschnäuzigen Umgehung von Verfassung und Verfassungsgericht ersichtlich werden. Man wird jenen Verfassungsbruch erkennen, dessen sich die Bundesminister der Justiz und des Innern schuldig gemacht haben. Das war, wie gesagt, etwa zwei Tage nach der Entscheidung der Bundesregierung: Es ist in der Vergangenheit anscheinend vorgekommen, daß türkische Behörden mit manipulierten strafrechtlichen Vorwürfen versucht haben, im Wege des Auslieferungsverfahrens politischer Gegner habhaft zu werden ... Auch ein manipuliertes Strafurteil kann aber ein Instrument politischer Verfolgung sein ... Sollten sich irreführende Manipulationen bei den Tatvorwürfen feststellen lassen, so könnte der Schutz des Spezialitätsgrundsatzes kaum als ausreichend angesehen werden. Er würde jedenfalls bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines politisch manipulierten Urteils versagen. In diesem Falle bestünde die politische Verfolgung gerade darin, den Verfolgten die unberechtigte Freiheitsstrafe verbüßen zu lassen, Fischer ({7}) wobei selbst ordnungsgemäße Haftverhältnisse nichts am Tatbestand der politischen Verfolgung ändern könnten. Soweit also diese Begründung des Verfassungsgerichts. Diese Urteilsbegründung wäre es wert, hier als Ganzes verlesen zu werden. Allein, es fehlt die Zeit dazu. Sie wollen sie offensichtlich auch nicht zur Kenntnis nehmen. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich im weiteren auf „amnesty international", dessen Appelle an die Bundesregierung im Falle Altun ungehört verhallt sind, spricht von der Folter unter dem Regime der Generäle in der Türkei, weist darauf hin, daß die Bundesregierung über keine völlig sicheren Informationen über die Menschenrechtslage in der Türkei verfügt, und bezieht sich auf verschiedene Entschließungen des Europaparlaments aus den Jahren 1981 bis 1983 über die Folter in der Türkei und einen notwendigen Verzicht auf die Auslieferung politisch Verfolgter. Schließlich wird auch noch die in Straßburg anhängige Staatenklage von Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen und Schweden bezüglich der Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung herangezogen. Es war also alles bekannt. Jeder, der wissen will, weiß auch, was in der Türkei der Generäle seit September 1980 geschieht: ({8}) 21000 politische Gefangene in den Kerkern; ein Gedicht schon wird mit mehrjähriger Haft bestraft; der Gebrauch der kurdischen Sprache ist verboten; Gefangene sterben unter der Folter, werden hingerichtet oder sind wie der politische Flüchtling und asylsuchende Levent Begen einfach verschollen. Levent Begen wurde noch unter der Regierung Schmidt am 30. Juni 1980 mit der Lufthansa in die Türkei ausgeflogen, wurde dort entgegen allen Zusicherungen gefoltert und zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt und gilt seitdem als verschollen. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich in der oben angeführten Entscheidung ausdrücklich auf diesen Fall. Der Justizminister war jedoch noch am 21. Juli 1983 der Ansicht, daß - ich zitiere - „kein begründeter Anlaß für die Befürchtung besteht, Kemal Altun könnte nach seiner Auslieferung einer unmenschlichen Behandlung unterworfen werden". Man wußte also - und die Regierung und vor allem der Justizminister mußten wissen -, was die politisch Verfolgten in der Türkei erwartet. Spätestens seit der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde von Ibrahim Sen im Februar 1983 hätte Kemal Altun als freier Mann die Auslieferungshaft verlassen müssen. ({9}) All die Appelle und Petitionen von Menschenrechtsorganisationen, vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, von Gewerkschaften und zahlreichen Persönlichkeiten und Politikern verhallten ungehört. Der Justizminister wollte nichts hören, wollte nichts zur Kenntnis nehmen, denn sein Bestreben war offensichtlich ein anderes: Entgegen dem Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, welcher jedermann das Recht auf Asyl gewährt, und entgegen dessen konkreter Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Regime in der Türkei, sollte die gute Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich mit den Generälen erhalten bleiben. Die Verfassung sollte umgangen werden, und sie wurde auch umgangen; ja, ein entscheidender Menschenrechtsartikel wurde dabei außer Kraft gesetzt. Man nennt dies, Herr Engelhard, gemeinhin Verfassungsbruch, Verfassungsbruch auf kaltem Wege, begangen von einem liberalen Justizminister und unterstützt von einem entschlossenen Helfer, auf den wir hier auch noch zu sprechen kommen. Wir halten diesen Justizminister für untragbar! ({10}) Gefragt nach seiner Reaktion auf den Selbstmord Altuns, antwortete Herr Engelhard in einem Interview: Ich bin tief getroffen. Der Tod ist besonders tragisch, weil wir alles Menschenmögliche unternommen haben. Hören wir dagegen den Justizminister in seinem Brief vom 21. Juli 1983, einen Monat vorher: Ferner ist aus der bekannten Einstellung der 19. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin ... nicht zu erwarten, daß das Verfahren mit der am 25. August 1983 zu erwartenden Entscheidung ... beendet werden könnte. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Kammer die Klage des Bundesbeauftragten abweist. Dieser hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache bereits angekündigt, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Eine Entscheidung, den rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens abzuwarten, würde aber praktisch zur Unmöglichkeit der Auslieferung führen. ({11}) besteht ({12}) keine Sicherheit mehr, die Auslieferung auch vollziehen zu können. ({13}) Gefordert wird dann schnelles Handeln. ({14}) Ins reine gesprochen heißt dies doch, Herr Engelhard: Wir müssen uns mit der Auslieferung beeilen, bevor Altun sein Recht bekommt und als politischer Flüchtling anerkannt wird. ({15}) Die „Süddeutsche Zeitung" überkam angesichts dieses Briefes das kalte Grauen. Es ist das kalte Grauen, welches die unbarmherzige Logik von Schreibtischtätern hinterläßt. ({16}) Fischer ({17}) Es wurde also alles Menschenmögliche unternommen, Herr Justizminister? Wir meinen: alles Menschenmögliche, um Altun an seine Henker auszuliefern oder in den Freitod zu treiben; das hätten Sie der Ehrlichkeit wegen noch hinzufügen müssen. Sprechen wir nun von jenem entschlossenen Helfer des Justizministers im Kabinett. Sprechen wir von Innenminister Zimmermann, der sich die Vertreibung der in der Bundesrepublik lebenden Türken - gerade auch der unpolitischen - zu einer Herzensangelegenheit gemacht hat. ({18}) Ihm war der Justizminister noch zu zögerlich. Verfassung, Menschenrechte und Menschlichkeit kommen in seinen Erwägungen nicht mehr vor. ({19}) Noch am Tage seiner Rückkehr aus der Türkei - er konnte keine 24 Stunden warten - verfaßte er einen Brief an den Justizminister, in welchem er persönlich darüber Klage führt - ich zitiere wörtlich -: ... entgegen der Ankündigung von Staatssekretär Dr. Kinkel ... das Kabinett mit dem Fall Altun zu befassen, mit dem Ziel, der Auslieferung zuzustimmen, eine Beratung im Kabinett am 20. Juli - Herr Zimmermann, am 20. Juli, an dem sich das Attentat auf Hitler zum 39. Male jährte! nicht stattgefunden ({20}). ({21}) Der Innenminister fährt in seinem Schreiben fort - ich zitiere -: ({22}) Im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit ({23}) - Daß Sie das nicht hören und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, ist mir klar. Sie werden es sich trotzdem anhören müssen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Einen Augenblick! Meine Damen und Herren, es ist ein sehr schwieriges Thema. Damit hier jeder seine Ausführungen machen kann, bitte ich, dem Redner die Möglichkeit zu geben, weiterzusprechen. ({0})

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Innenminister fährt also fort: Im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet, aber auch im Interesse der Glaubwürdigkeit des Auslieferungsverkehrs mit der Türkei insgesamt bitte ich Sie, die Bewilligungsentscheidung vom 21. Februar 1983 für vollziehbar zu erklären, damit die Auslieferung unverzüglich durchgeführt werden kann. ({0}) Den Zeitungen war zu entnehmen, daß Innenminister Zimmermann von seinem türkischen Amtskollegen auf den Fall Altun angesprochen und um beschleunigte Auslieferung gebeten worden war. Welcher Handel, Herr Zimmermann, wurde da in Ankara eigentlich verabredet? Heißt das Geschäft: türkische Oppositionelle aus der Bundesrepublik gegen die Zusage der Türkei, nicht weiter auf der drohenden Freizügigkeit entsprechend dem Assoziierungsabkommen mit der EG zu bestehen? ({1}) Wie weit geht die Zuarbeit für die türkischen Folterknechte im NATO-Land Türkei? Zumindest schlafen Sie noch ruhig, Herr Innenminister Zimmermann, wie man einem Interview entnehmen durfte. Seiner eigenen Meinung nach hat sich Herr Zimmermann nichts vorzuwerfen, weder rechtlich noch moralisch. Denn - ich zitiere ihn - „Selbstmorde geschehen immer in einer Ausnahmesituation". Das war seine lapidare Bemerkung zum Tod Kemal Altuns. Freilich, das mag richtig sein. Nur selten jedoch helfen dabei der Bundesjustizminister und der Bundesinnenminister so kräftig nach. ({2}) Kemal Altun saß 13 Monate in Auslieferungshaft. Täglich und auch in der Nacht mußte er dabei mit seiner Auslieferung rechnen. Er wußte: Die Generäle in Ankara wollten ihn haben. Er wußte von ihren mächtigen Helfern in der Bundesregierung. Er kannte die NATO-Interessen dieses Landes, und er erlebte die bürokratische Vertreibungspolitik gegenüber den Türken. Kemal Altun hatte Angst. Wovor er Angst hatte, lassen Sie mich mit einem Zitat aus einem Brief seines Neffen belegen, der die Folter bereits erlebt hatte - ich zitiere -: Als es dann Nacht wurde ... haben sie mich wieder in einen Raum gebracht und dort meine Hände und Füße an eine Latte gebunden .. . und mich an die Decke gehängt. Danach fuhren sie mit dem Verhör fort. Sie wollten von mir, daß ich alles über meinen Onkel Kemal, über meinen Vater - mein Vater war, wie Sie wissen, vor dem Militärputsch Parlamentarier - und meine Freunde detailliert erzähle. Trotz meines Bitten und Flehens haben sie an meine Hände und diesmal auch meinem Geschlechtsorgan elektrische Stromschläge versetzt. Diese grauenhaften Schilderungen ließen sich endlos und monoton fortsetzen. Fischer ({3}) Aber lassen Sie mich noch etwas direkt zur Person von Herrn Zimmermann sagen: Er genießt den Ruf, der harte Mann in der Regierung zu sein, hart vor allem gegenüber jenen 1,7 Millionen Türken in der Bundesrepublik, die über keinerlei politische Rechte verfügen und deren allgemeiner Grundrechts- und Menschenrechtsschutz, den unsere Verfassung garantiert, mehr und mehr ausgehöhlt und in sein Gegenteil verkehrt wird. ({4}) Die Türken verfügen über keine einzige Wählerstimme hier; man kann sich daher ungefährdet an ihnen als harter Mann profilieren, selbst wenn es dabei - wie im Fall Altun - Tote gibt. Herr Zimmermann, ich finde Ihr Verhalten diesen Menschen gegenüber politisch verhängnisvoll und in einem sehr persönlichen Sinne moralisch verkommen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, den Redner ausreden zu lassen. Es kommen noch andere Redner. ({0}) - Meine Damen und Herren, Sie müssen mir das überlassen. ({1})

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Deutschen Bundestag, ganz einfach! Da hat man immer noch das Recht, so etwas zu sagen. ({0}) - Sie werden es sich gefallen lassen müssen, auf Ihre Verantwortung hingewiesen zu werden, meine Herren von der CDU/CSU, das können Sie mir glauben. ({1}) Es reicht jetzt, es reicht damit, daß die Verfassung und Menschenrechte angesichts der politischen Verfolgung in der Türkei weiterhin von verantwortlichen Ministern mit Füßen getreten werden; ({2}) es reicht, daß wir weiterhin politisch rechtlosen Menschen auf dem Verwaltungswege die Grundrechte und die Menschenrechte nehmen und sie mit bürokratischen Zwangsmaßnahmen zum Gehen zwingen. ({3}) Ich nehme dieses Wort aus guten Gründen selten in den Mund, Herr Zimmermann; aber heute muß ich Ihnen sagen, daß ich mich als Deutscher, als Ihr Landsmann, wegen dieser Politik schäme, ({4}) eine Politik, für die Sie zwar nicht das Grundgesetz bemühen können, sicher aber eine Mehrheit an deutschen Stammtischen finden. Der Tod Kemal Altuns darf nicht umsonst gewesen sein. Wir verlangen nicht viel. Wir wollen nur die Achtung von Verfassung und Menschenrechten, mehr nicht. Deshalb bitten wir Sie, den beiden Entlassungsanträgen heute zuzustimmen. Zum Schluß möchte ich noch ein persönliches Wort an den Bundeskanzler richten: Herr Bundeskanzler, Sie entscheiden letztendlich, ob politische Oppositionelle an die Türkei ausgeliefert werden oder nicht. Sie verfügen über die Richtlinienkompetenz im Kabinett. Ich appelliere an Sie, j a, ich bitte Sie, lassen Sie keine weiteren Auslieferungen an die Türkei zu. Sie sollten dies Ihrem Amtseid, Ihrer christlichen Grundüberzeugung, aber auch der Menschlichkeit schuldig sein. - Ich bedanke mich. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Erhard ({0}).

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte darf und sollte zu keinem Zeitpunkt vergessen werden, daß ihr Anlaß der Tod eines jungen Menschen ist. ({0}) Ich gehe davon aus, daß sich jeder in diesem Saale von dem persönlichen Schicksal des Kemal Altun betroffen fühlt. Es wäre deshalb der Bedeutung und der persönlichen Tragik dieses Menschen angemessen gewesen, wenn die zugrunde liegende Problematik verantwortungsbewußt und ohne das als typisches Parteiengezänk ({1}) anzusehende Element hier im Parlament verhandelt worden wäre. ({2}) Leider haben sich die Fraktionen der GRÜNEN und der SPD nicht gescheut, diesen Fall in einer Art von grün-rotem Schulterschluß für Parteipolitik auszuschlachten. ({3}) Sie meinen offensichtlich, mit dem Tod eines jungen Mannes auch noch Geschäfte machen zu können. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt noch nicht, später. Meine Damen und Herren, bei dem Verständnis der GRÜNEN von Politik und Recht ist dies j a eigentlich nicht einmal überraschend. ({0}) Wenn man bedenkt, was der grüne Landtagsabgeordnete bei uns in Wiesbaden, Schwalba-Hoth, an Menschenverachtung bewies, als er den amerikanischen Gast und Soldaten mit Blut besudelte und beleidigte, ({1}) dann -kann man den vorliegenden Antrag kaum als ernst gemeint ansehen. ({2}) Man ist versucht, über ihn zur Tagesordnung überzugehen. Betroffen muß es aber jeden Nachdenkenden, jeden Demokraten - ich wiederhole: jeden Demokraten - machen, daß sich die Sozialdemokratische Partei mit ihrer langen parlamentarischen und rechtsstaatlichen Tradition eilfertig bemüht hat, das fünfte Rad am grünen Wagen zu sein. ({3}) Kaum schien die Gelegenheit zur Verunglimpfung der Bundesminister des Rechts und des Inneren geeignet, da hüpfte man gleichsam im Kreise. ({4}) - Abwarten, Frau Däubler-Gmelin! ({5}) Die SPD hat nicht nur einen im Wortlaut fast gleichlautenden Entlassungsantrag wie die GRÜNEN gestellt, sondern zahlreiche sozialdemokratische Politiker, woran der Herr Fraktionsvorsitzende, Dr. Vogel, und der Herr Geschäftsführer der SPD, Dr. Glotz, haben auch gemeint, sie müßten die GRÜNEN in der Öffentlichkeit an Polemik und, wie ich meine, Bosheit noch übertreffen. ({6}) Herr Glotz beispielsweise hat sich nicht geschämt, die Ausländerpolitik mit der Behandlung der Juden in der NS-Zeit zu vergleichen ({7}) und eine entsprechende Mahnung an die CDU/CSU zu richten - an uns, an uns! ({8}) Was, glauben Sie - Sie, die ich, jedenfalls einige, an Hand Ihrer Gesichter und aus dem Handbuch als noch recht jung kenne -, geht in jemandem vor, der zur CDU/CSU gehört und selbst zu den Verfolgten des Nazi-Regimes gehört hat? Haben Sie sich so etwas einmal vorgestellt? ({9}) - Wenn ich Sie sehe, weiß ich nur das eine: Wenn Sie die Macht hätten, wäre es schlechter als bei den Nazis. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheyen?

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Frau Präsidentin.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Verehrter Herr Kollege, das Haus ist zwar erregt, aber fahren Sie bitte fort. ({0})

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Vogel, Herr Fraktionsvorsitzender Vogel warf dem Justizminister und dem Innenminister eine extrem menschenfeindliche Einstellung vor. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Einen Augenblick. - Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. Sie merken selbst, daß es außerordentlich schwierig ist, den jeweiligen Redner bei politisch bewertbaren Äußerungen eventuell zur Ordnung zu rufen. Bitte seien Sie verständnisvoll, damit diese Sache hier so über die Bühne geht, daß auch draußen noch erkennbar ist, worum es geht. Ich bitte fortzufahren. ({0}) - Sie haben die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Ich bitte Sie, sich wieder hinzusetzen, damit die Verhandlung weitergeführt werden kann.

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Herr Fraktionsvorsitzende Vogel warf dem Justizminister und dem Innenminister eine extrem menschenfeindliche Einstellung vor, und er beklagte einen vorläufigen Höhepunkt des angeblich besorgniserregenden Verlustes an Liberalität. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, ich muß Sie noch einmal fragen, ob Sie Herrn Dr. Vogel - Erhard ({0}) ({1}): Ich habe gesagt, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. ({2}) - Ja, was heißt das? Er sprach auch hier in diesem Hause heute von den kalten, abweisenden und gefühllosen Zügen einer zum Selbstzweck gewordenen Apparatur. Es sei offenbar gleichgültig, ob Menschen an ihr zerbrechen! Und das solle der Bundeskanzler zu vertreten haben. In diesem Kontext ist das gesagt worden. ({3}) Wie viele Menschen begingen eigentlich Selbstmord bei uns in der Bundsrepublik in den Haftanstalten oder ähnlichen Einrichtungen, als Sie, Herr Vogel, Justizminister waren? ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, bitte, nehmen Sie Platz. Es ist üblich, daß im Saal hier gesessen wird. ({0}) Wer das nicht tut, der möge bitte den Saal verlassen. ({1}) - Ich bitte Platz zu nehmen. Jeder hat die Möglichkeit, auf die Reden des Redners zu antworten. Das wird mit Sicherheit gebührend geschehen. Ich bitte doch, dieses so wie im Parlament üblich zu verstehen. - Fahren Sie bitte fort. - Nehmen Sie bitte Platz, meine Damen und Herren. ({2}) - Ich kann nicht anders als Sie aufzufordern. Ich bitte Sie, Herr Fischer, Frau Beck-Oberdorf, nehmen Sie Platz, damit die Verhandlungen hier weitergeführt werden können. Im übrigen bitte ich auch die Herren von der SPD, Platz zu nehmen.

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nach Ihrer Logik, Herr Vogel, wären dann eigentlich Sie der Typ, der die Apparaturen zum Selbstzweck entwikkelt hätte. Ihre Vorwürfe sind reine Demagogie. ({0}) Herr Kollege Emmerlich, „menschenverachtender Innenminister" haben Sie gesagt. Wozu versteigen Sie sich? Wo ist denn bei Ihnen die letzte Achtung vor dem Menschen Dr. Zimmermann? ({1}) Die ganze Kampagne wird auf ihre Urheber zurückfallen. Herr Vogel weiß genau, daß die beiden Minister, die er und seine Fraktion heute gerne an den Pranger stellen möchten, korrekt und verantwortungsbewußt gehandelt haben. Er weiß es deshalb, weil er j a lange Justizminister war. ({2}) Die Tatsachen belegen eindeutig, daß die den Ministern zustehenden und ihnen aufgegebenen rechtlichen Möglichkeiten bis an die Grenze des rechtlich Zulässigen ausgeschöpft worden sind, um dem Menschen Altun nicht Unrecht zu tun. ({3}) - Zuhören ist natürlich auch eine Kunst. ({4}) Bundesjustizminister Engelhard und Bundesinnenminister Dr. Zimmermann haben getreu ihrem Amtseid gehandelt. Sie haben ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt. Sie haben das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes gewahrt, wie es der Amtseid sagt. Sie haben unser, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, volles Vertrauen. ({5}) Wir sprechen ihnen für ihr pflichtbewußtes, am Recht orientiertes Handeln unseren Dank aus. ({6}) Die Daten und die Entscheidungsgründe, die heute in der Debatte, auch in der öffentlichen Diskussion erläutert wurden, lassen keinen Zweifel, daß weder den beiden Ministern noch einem anderen Mitglied der Bundesregierung auch nur ein leiser Schuldvorwurf gemacht werden könnte. Der Herr Bundeskanzler hat heute die Tatsachen genau gesagt. Es ist niemand ausgeliefert worden. Die Bundesregierung hat die Auslieferung nicht beschlossen. Wer sich aber schon gegen rechtsstaatliche Verfahren vor deutschen Gerichten wendet und das schon zum Terror erklärt, der stellt die Ordnung auf den Kopf. ({7}) Ich stelle sechs Punkte fest: Erhard ({8}) Erstens. Nach den geltenden nationalen und völkerrechtlichen Vorschriften war die Bundesregierung rechtlich verpflichtet, Herrn Altun an die Türkei auszuliefern. Dieser Tatbestand ist vom Kammergericht in Berlin und, indirekt, vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Übrigens, um politisches Asyl hat der leider durch Selbstmord Tote erst nachgesucht, nachdem er bereits neun Monate in der Bundesrepublik war. ({9}) Zweitens. Der Vorwurf, die Bundesregierung habe sich an Paragraphen geklammert und den zugrunde liegenden menschlichen Fall vernachlässigt, ist falsch. Das Gegenteil ist richtig. Bereits am 22. Juli 1982 hatte das Kammergericht in Berlin die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet. Wenn das alles so böse gewesen sein soll: Wer war denn eigentlich im Juli 1982 Justizminister? Ich sehe ihn doch da sitzen. Das war doch der Herr Schmude! ({10}) Am 21. Februar 1983 war der Beschluß zur Auslieferung im Auswärtigen Amt getroffen worden, nachdem der Fall unter allen Gesichtspunkten von den Gerichten geprüft worden war. Trotzdem ist wegen der bestehenden menschlichen Bedenken seitens der Bundesregierung keine Entscheidung über die Auslieferung getroffen worden. In einem peniblen und quälenden internen Abstimmungsprozeß wurde die endgültige Entscheidung vertagt, weil den menschlichen Problemen der Vorrang vor den rechtlichen und staatspolitischen Notwendigkeiten gegeben wurde. Drittens. In keinem anderen Fall wurde die Öffentlichkeit in vergleichbarer Weise unterrichtet und über die Problematik der Auslieferung informiert. Viertens. Auch die Menschenrechtskommission hatte ihre Bitte an die Bundesregierung, Altun vorerst nicht an die Türkei auszuliefern, in ihrer Sitzung am 14. Juli 1983 nach eingehender Beratung und in Kenntnis der Asylentscheidung des Bundesamtes in Zirndorf nicht weiter aufrechterhalten. - Wollen Sie vielleicht zum Ausdruck bringen, auch die Menschenrechtskommission sei Beihelfer zu dem Geschehen, das später unsere große Sorge ausgelöst hat? Fünftens. Herrn Altun war bekannt, daß seine Auslieferung nicht aktuell bevorstand. Das war ihm am Tage seines Selbstmordes bekannt. Er wußte nämlich von seinem Rechtsanwalt, der mit Vertretern der Bundesregierung gesprochen hatte, daß seine baldige Auslieferung nicht zu erwarten war. Der Anwalt hatte dies nämlich schon am 9. August schriftsätzlich dem Verwaltungsgericht vorgetragen. Ihm, Altun, war auch weiter bekannt, daß das Verwaltungsgericht Berlin in seiner Sache voraussichtlich positiv entscheiden würde. - Es stellt sich deshalb die Frage, was denn nun das wirkliche Motiv für den Freitod war. ({11}) Sechstens. Der Vorwurf, der Bundesinnenminister habe den Bundesjustizminister unter Druck gesetzt, um ihn zur Auslieferung zu veranlassen, ist abwegig und leicht widerlegbar. Und auch die Vertreter der SPD wissen das, weil ihnen die Unterlagen vorgelegt worden sind. Das Ganze ist ein Hirngespinst der Opposition, die sich offensichtlich nicht vorstellen kann, daß es in einer Koalition eben ohne Streit abgeht. ({12}) Beide Minister haben korrekt und unabhängig voneinander im Juli 1983 jeweils mit unterschiedlichen Schreiben die Rechtslage wiedergegeben, ohne daß der eine von der Existenz des Schreibens des andern wußte. Das ist aus den unterschiedlichen Absende- und Eingangsdaten und dem Inhalt eindeutig nachweisbar. In der Presse ist der Inhalt der Briefe leider meist nur verkürzt und entstellt wiedergegeben worden. Daß beide Minister zu dem gleichen Ergebnis gelangt sind, kann angesichts der eindeutigen gesetzlichen Bestimmungen niemanden verwundern. Trotzdem haben die zuständigen Stellen der Bundesregierung noch weitere Gespräche geführt, und trotzdem ist die Auslieferung dann immer noch nicht erfolgt, was ja auch der Anwalt Altuns wußte und worüber er seinen Mandanten unterrichtet hatte. Jeder der beiden Minister kann der namentlichen Abstimmung heute guten Gewissens entgegensehen. Denn sie haben ihre von der Verfassung und den Gesetzen vorgegebenen Pflichten erfüllt. ({13}) Dieses gute Gewissen können hingegen der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der Opposition, und seine ganze Fraktion wohl kaum haben. ({14}) Herr Dr. Vogel ({15}) und Herr Dr. Schmude leiden doch sicher nicht an Gedächtnisschwund. Wie haben Sie, die früheren sozialdemokratischen Justizminister, sich in vergleichbaren Fällen verhalten? ({16}) - Wenn ich das nicht wüßte, würde ich das gar nicht erst in den Raum stellen! ({17}) Seit der Machtübernahme der Militärs in der Türkei sind unter Berücksichtigung von § 18 des Asylverfahrensgesetzes neun Personen an die Türkei ausgeliefert worden, und zwar in der Zeit vom Erhard ({18}) September 1980 bis zum Oktober 1982. Und in der Zeit waren Herr Vogel und dann Herr Schmude Justizminister und Herr Baum Innenminister. ({19}) Auch danach wurden weitere Personen ausgeliefert. Bekanntlich war Herr Dr. Vogel ja Justizminister bis zum Januar 1981. Ich sagte bereits: Herr Schmude war sein Nachfolger. In einem Schreiben an den Bundesminister des Auswärtigen hat der damalige Bundesminister der Justiz, Dr. Hans-Jochen Vogel, in einer Auslieferungsangelegenheit eines jugoslawischen Staatsbürgers folgendes ausgeführt. ({20}) - Hören Sie gut zu! Ich zitiere: Unabhängig von diesem Einzelfall halte ich es aus grundsätzlichen Erwägungen für bedenklich, die Entscheidung über ein Auslieferungsersuchen im Hinblick auf ein unabhängiges Asylverfahren über einen längeren Zeitraum hinauszuschieben. Bei einer solchen Verfahrensweise ist nämlich zu befürchten, daß Verfolgte in zunehmendem Maße um Asyl nachsuchen, um sich ihrer Auslieferung nach Jugoslawien und damit der strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. ({21}) - O ja. Jeder, der die Praktiken des jugoslawischen Geheimdienstes und den Zustand der jugoslawischen Gefängnisse kennt, weiß, welche Behandlungen mißliebigen jugoslawischen Staatsbürgern, die ausgeliefert werden blühen. ({22}) Und handschriftlich - handschriftlich; nicht von einem Beamten gemacht; handschriftlich! ({23}) haben Sie, Herr Vogel, als Bundesjustizminister auf einem Aktenstück vermerkt - ich zitiere wörtlich -: Bindungswirkung kann dahingestellt bleiben, weil selbst eine deutsche Asylentscheidung einer Auslieferung nicht entgegenstünde. Mit dieser Begründung bitte ich der Verfassungsbeschwerde entgegenzutreten. ({24}) Das war die Weisung an das Amt. Es ging dabei um die Verfassungsbeschwerde eines Jugoslawen, der in Frankreich politisches Asyl gewährt bekam, gegen die Entscheidung über seine Auslieferung an Jugoslawien. Damals wußten Sie also noch, Herr Vogel, daß Asyl- und Auslieferungsverfahren unterschiedliche Funktionen haben und deshalb das eine das andere nicht präjudizieren kann. Wie kalt und bürokratisch waren Sie damals? Wie kann man nur so gegen sich selbst argumentieren, wie Sie das heute von dieser Stelle aus getan haben?! ({25}) Glauben Sie wirklich, daß da etwas von Glaubwürdigkeit übrigbleibt? ({26}) Ein anderes Geschehen: In der Zeit von 1968 bis 1974 wurden an Griechenland, das damals eine Militärdiktatur hatte, insgesamt sieben Personen ausgeliefert, obwohl seitens der Betroffenen in mehreren Fällen die Gefahr der politischen Verfolgung vorgetragen wurde. Bekanntlich ist die SPD seit dem Jahre 1967 mit in der Regierungsverantwortung gewesen. Sie hat seit diesem Zeitraum immer den Bundesjustizminister gestellt. Ich wäre dankbar, wenn Herr Dr. Vogel hier darlegen könnte, ob er auch die von ihm und den SPD-Justizministern praktizierte Auslieferung an Diktaturen als extrem menschenfeindlich qualifiziert und ob er auch, wie sein Parteifreund Dr. Glotz, der Meinung ist; daß diese wie die Juden im Dritten Reich von der Schweiz behandelt worden seien, zumal ein Unterschied zum Fall Altun besteht, der j a schließlich nicht ausgeliefert wurde. ({27}) Es kann doch vielen Sozialdemokraten hier im Hause nicht das Gedächtnis abhanden gekommen sein. ({28}) Seit April 1965 enthält das vom Bundestag beschlossene Ausländergesetz eine Schutzvorschrift für Asylbewerber, die aber kraft ausdrücklicher Bestimmung nicht für das Auslieferungsverfahren gilt. Im Gesetzentwurf der SPD/FDP-Fraktionen eines neuen Asylverfahrensgesetzes in der letzten Wahlperiode, Bundestagsdrucksache 9/875, war die gleiche Ausnahme in dem vorgesehenen § 13 wortgleich wieder enthalten. Das war kein Versehen, sondern die Begründung dazu lautete: Die Ausnahme in Satz 2 beruht auf dem Sondercharakter des Auslieferungsverfahrens als einer Form der internationalen Rechtshilfe. Die Anerkennung eines Ausländers als Asylberechtigter durch das Bundesamt schützt ihn daher als solchen grundsätzlich noch nicht im Auslieferungsverfahren, wenn der um Auslieferung ersuchende Staat zusichert, der Verfolgte werde ausschließlich wegen des angegebenen nichtpolitischen Delikts zur Verantwortung gezogen .... Insoweit ist nach § 13 Satz 2 die Asylentscheidung für das Auslieferungsverfahren gerade nicht bindend. So begründet die Fraktion der SPD im Jahre 1981 ihren Gesetzgebungsantrag. Das war zu einer Zeit, als die Generale in der Türkei längst die Macht übernommen hatten. Nur der Rechtshilfefonds für Ausländer hat damals dem Rechtsausschuß gegenüber Einwendun1322 Erhard ({29}) gen erhoben. Aber der Rechtsausschuß hat damals im April 1982 diese Vorschrift einstimmig beschlossen. Vorsitzender des Rechtsausschusses war Frau Dr. Däubler-Gmelin; auch sie hat keine Einwendungen erhoben. ({30}) Sollen denn die Bundesminister der Justiz und des Innern dieses auch von der SPD vorgelegte und beschlossene Gesetz nicht beachten, nur weil die SPD jetzt in der Opposition ist? ({31}) Diese wenigen Tatsachen verdeutlichen die Fadenscheinigkeit der Argumentation der Sozialdemokraten. ({32}) Es wäre für Sie und für das ganze Parlament besser gewesen, Sie hätten geschwiegen oder Sie würden den Antrag noch jetzt zurücknehmen. ({33}) - Ich bitte um eine Verlängerung der Redezeit um drei Minuten. Von seiten der SPD ist auch der Eindruck erweckt worden, als liefere die Bundesrepublik Deutschland als einziger westeuropäischer Staat noch an die Türkei Menschen aus. Nach den mir vorliegenden Unterlagen haben in jüngster Zeit beispielsweise Schweden, die Niederlande, Frankreich und die Schweiz an die Türkei ausgeliefert. Allein diese Tatsache macht deutlich, daß die Problematik der Auslieferung nicht der Stoff ist, der in Verantwortung zur Aufheizung der Gemüter und zur Fehlinformation der Öffentlichkeit benutzt werden darf. ({34}) Auch in künftigen Fällen wird - davon sind wir überzeugt - die Bundesregierung darauf achten, daß der grundgesetzlich garantierte Schutz der politischen Flüchtlinge in vollem Umfang gewährleistet bleibt, daß andererseits aber die Bundesrepublik Deutschland nicht zu einem Zufluchtsland für Gewalttäter und Kriminelle werden darf. ({35}) Die Entscheidung muß in jedem Einzelfall unter sorgfältiger Abwägung der oft gegenläufigen Aspekte getroffen werden. Ich bin zuversichtlich, daß die Verantwortlichen in den Behörden, in der Bundesregierung, aber auch die Richter, die die Entscheidung zu treffen haben, das Recht richtig anwenden, verantwortungsbewußt und mit politisch offenen Augen ihre schwere Aufgabe bewältigen werden. Bundesjustizminister Engelhard und Bundesinnenminister Dr. Zimmermann haben bewiesen, daß sie dieses in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird den Anträgen der GRÜNEN und der SPD die gebührende Antwort erteilen und damit den beiden Ministern ihr Vertrauen aussprechen. ({36})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Diskussion ist besonders deshalb so unglaublich schwer, weil der Tod eines jungen Menschen Veranlassung für sie gegeben hat. Das ist aber noch kein Grund, den Tod, das tragische Schicksal, hier zu einem zusätzlichen Gewicht in der Keule der Auseinandersetzung über rechtspolitische Fragen zu machen. Ich werde, wenn Sie gestatten, auf einige Einzelheiten eingehen. Wir werden uns darum bemühen, diese Frage wegen des auslösenden Anlasses mit besonderem Respekt zu behandeln, aber wir dürfen uns durch den auslösenden Anlaß, durch diesen tragischen Tod, nicht den Blick verstellen lassen für das, was in dieser Republik rechtlich wirklich Sache ist. ({0}) Gott sei Dank in einer langen Kette von Justizministern geschaffen als rechtsstaatliche Wirklichkeit dieser Republik, an der alle drei, wenn ich so sagen darf, klassischen Fraktionen des Hauses mit Anstand und Erfolg beteiligt waren. Dafür müssen wir erst einmal dankbar sein. Und dann kommt einem in den Sinn, daß hier erstmals das eingetreten ist, was die Bibel verlangt, daß jemand nämlich den Splitter im eigenen Auge viel deutlicher wahrnimmt als den Balken im Auge des Nächsten. ({1}) Diese Bewegung ist in unserem Lande neu und erfreulich. ({2}) Ich sage ausdrücklich, daß diese Bewegung auch ihr Gutes hat, aber ich möchte zugleich sagen - und das wird j a den meisten nicht entgangen sein -, ({3}) daß dies ein einmaliger Fall ist: daß man bei sich selbst so sorgfältig nach den zweifellos immer noch sehr beklagenswerten Mängeln sucht und nicht sieht, daß wir es glücklicherweise und mit vereinten Kräften zu einem so hohen Maß an Rechtsstaatlichkeit gebracht haben, daß eine Reihe der hier erhobenen Vorwürfe die Frage aufwirft, in welchem Lande sich die Vorwerfenden eigentlich zu befinden glauben. ({4}) Das ist jedenfalls nicht diese Republik. Ich habe hier von Herrn Fischer das Wort von „willfährigen Gerichten" gehört. Es wäre auch eine weitere Überlegung wert, ob man hier in einer solchen Debatte unseren Richtern, statt ihnen Vorwürfe im Sinne von Willfährigkeit zu machen, nicht für ihr hohes Maß an Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit Kleinert ({5}) danken sollte, wenn auch zugegebenermaßen manchmal lästige und von den natürlichen menschlichen Eigenschaften beeinflußte Fehlsamkeit zu verzeichnen ist. ({6}) Dieses Maß an Rechtsstaatlichkeit hat es wie in vielen anderen Fällen auch im vorliegenden Fall gegeben. Die hier angezogenen Vergleiche sind sehr, sehr unpassend; denn tatsächlich hat Herr Erhard recht, wenn er sagt: Dieses Verfahren lief. Ich komme noch auf die eine oder andere Einzelheit. Jedenfalls ist dieses Verfahren trotz der Aufmerksamkeit, die es durch den tragischen Tod gefunden hat, außerordentlich rechtsstaatlich gelaufen, übrigens einschließlich zweier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, um die in dieser Sache nachgesucht wurde. Damit ich es Ihnen gleich vorab noch etwas leichter, weil klarer mache: Wir sind der Meinung, daß das, was hier geschehen ist, äußerste Anstrengungen in dem Bemühen erfordert, etwa noch vorhandene Mängel des Verfahrens abzustellen. ({7}) Wir werden uns darüber zu unterhalten haben. Aber das muß mit der nötigen Sachlichkeit geschehen. Da ist gar kein Raum für Emotionen und für Verwirrungen des Tatbestands wegen der Art, wie die Sache an uns herangekommen ist. Das muß man sachlich machen. Vielleicht haben wir ja falsch entschieden, als wir 1981 mit der damaligen Koalition aus SPD und FDP ein neues Asylverfahrensrecht verabschiedet haben. Vielleicht hätten wir j a damals auf den Gedanken kommen sollen zu prüfen, ob es gut ist, zwei Verfahren nebeneinander zu haben. Das haben wir nicht getan, gemeinsam nicht getan. Wir haben jetzt das geltende Recht mit der Folge, daß die beiden Verfahren völlig voneinander getrennt sind. Es besteht Anlaß zu der Annahme, daß dadurch dieser tragische Fall eingetreten sein könnte. Aber dann muß man sich rechtspolitisch ganz sachlich der Frage stellen und darf hier nicht die Verantwortlichen dafür in Anspruch nehmen wollen, daß sie sich dieser Rechtslage entsprechend einwandfrei verhalten haben. Weil Sie gerade so gucken, Herr Schröder: Das ist auch nicht diese Art von „einwandfrei", die man hier mir nichts, dir nichts als „seelenlos" und „bürokratisch" bezeichnen kann, ({8}) sondern das ist die Art, die der Justizminister Jochen Vogel in Erfüllung der Aufgaben seines Hauses genauso praktiziert hat wie Justizminister Engelhard auch. ({9}) Da ich gerade bei Vergleichen bin, möchte ich Ihnen folgendes sagen. Ich glaube, daß bei denjenigen, die schauen und hören können, die Gabe noch nicht ganz ausgestorben ist, aus der Art, wie ein Mensch sein Anliegen vorträgt, ({10}) aus der Art, wie jemand sein Anliegen hier, z. B. gerade auch hier vor diesem Hause, vertritt, Schlüsse auf seine Persönlichkeit ziehen zu können. ({11}) Meine Vergleiche halten sich da sehr im Rahmen des Menschlichen, was Sie gnädige Frau, in besonderem Maße für sich in Anspruch nehmen. Ich sage Ihnen nämlich: Nach der Art, wie Herr Fischer vorhin ein in weiten Teilen - das wird von uns ja überhaupt nicht bestritten - berechtigtes Anliegen der Prüfung - nur um die Prüfung ging es - vorgetragen hat, ist mir der Justizminister Hans Engelhard in der ganzen Art, wie er sich wägend, überlegend und sorgend für das Recht in unserem Staat einsetzt, unglaublich viel lieber als der von Ihnen hier zur Vertretung Ihrer rechtspolitischen Ziele entsandte Herr Fischer. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schröder ({0})?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Herr Schröder, Sie wissen, wir streiten gern und wir streiten nicht immer ausschließlich. Ich kenne die Art, wie so etwas zerfasert. Ich möchte das Haus auch nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Die Sache ist mir ernst genug, so daß ich jetzt ohne Unterbrechung zum Ende kommen möchte. ({0}) Es ist übrigens das erste Mal, daß ich eine Zwischenfrage abgelehnt habe. Aber meiner Ansicht nach gehört es nicht zu dieser Art von Debatte, sich in der Darstellung seiner Gedanken so unterbrechen zu lassen, daß man nicht weiß, worauf das hinausgeht. Deshalb bitte ich um Ihr Verständnis. Ich möchte Ihnen folgendes sagen. Wir haben unsere Bedenken, und wir sind auch bereit, ihnen in anständiger Form nachzugehen, ohne die Prüfung durch diesen Anlaß in falscher Weise zu belasten. Aber nach der Art, wie hier vorgetragen worden ist - auch z. B. von seiten des von mir, wie er weiß, so hochgeschätzten Herrn Jochen Vogel -, muß ich auch einmal auf einige Kleinigkeiten hinweisen dürfen, was die Vorgeschichte anlangt. Vorhin ist von dem früheren Bundesjustizminister gesagt worden, der Bundeskanzler - wie soll ich es höflicher ausdrücken, als Sie das getan haben?; das ist an sich leicht ({1}) sei vielleicht mit seinen Äußerungen ein klein wenig neben dem, was er in Wirklichkeit denke. So ähnlich glaube ich Sie an der einen oder anderen Stelle verstanden zu haben. Wenn ich dann in Ihren Ausführungen lese, daß für Herrn Zimmermann Kleinert ({2}) und „leider auch" für Herrn Engelhard dies und das gelte, dann muß ich sagen, ist das schon der Duktus, der in genau dieselbe Richtung geht, die Sie anderen vorwerfen zu müssen geglaubt haben. Das mit dem „leider auch" ist nicht in Ordnung. Aber es wird noch viel schlimmer, Herr Vogel. Sie sagen: „In Kenntnis dieses Satzes bat der Bundesjustizminister um die rasche Zustimmung des Auswärtigen Amtes." Sie wissen ganz genau so gut wie ich, daß der Bundesjustizminister nicht die geringste Kenntnis von diesem Satz hatte, als sein Brief am selben Tage herausgegangen ist. Sie wissen viel besser als ich, wie lange ein Ministerium braucht, um einen einmal geäußerten Gedanken auch in die Post zu bekommen. ({3}) Deshalb wissen Sie, daß zwei Briefe vom selben Tage aus zwei Ministerien nicht nur nicht bedeuten, daß der eine von dem anderen Kenntnis hatte, sondern mit Sicherheit bedeuten, daß keine Kenntnis vorhanden war. ({4}) Das ist etwas, was mich bei solchen Ausführungen stört: anderen ein leicht larmoyantes Verhältnis zur Aufrichtigkeit vorwerfen und dann solche Sprüche machen. ({5}) Ich habe hier einen Brief mit Ihrer Unterschrift, Herr Vogel. ({6}) So ist das ja mit den Ministerien. Der Brief stammt vom 17. Oktober 1979: Ich habe die vom Auswärtigen Amt vorgetragenen Argumente zur Kenntnis genommen, vermag mich ihnen jedoch nicht anzuschließen. Der Bundesminister des Auswärtigen hat damals gesagt: Wir wollen nicht ausliefern. Das ist übrigens unser Parteivorsitzender, Herr Genscher. Sie machen sich doch immer Sorgen über die Liberalität in diesem Lande. Herr Genscher war dagegen; Sie haben aber gesagt: Ich bin dafür, daß ausgeliefert wird. ({7}) Das war die Frontstellung. ({8}) Das war Ihre Stellungnahme zu der seinerzeitigen Verfassungsbeschwerde. Aber wir haben ja auch noch den Staatssekretär Hans de With gehabt. ({9}) - Der betrifft Jugoslawien. Die Feinsinnigkeit, mit der Sie im nachhinein wissen, wie das wo zugeht, dies steht leider bedauerlicherweise in diesen Gesetzen nicht drin. Wenn es nach meiner persönlichen Meinung ginge, dann würden wir mit keinem Land ein Auslieferungsabkommen haben, in dem gefoltert wird, in dem die Rechtsstaatlichkeit nicht korrekt eingehalten wird. Dann würden wir das alles nicht haben. ({10}) Aber mit Unterstützung einer großen Zahl derjenigen, die hier eben freundlicherweise Beifall gespendet haben, haben wir diese Auslieferungsabkommen geschlossen - aus wohlerwogenen Gründen. ({11}) Deshalb müssen wir uns an diese Abkommen halten. Im Falle der Türkei ist die Sache ganz besonders schlimm, und das ist meiner Ansicht nach auch in der deutschen Presse in den letzten Tagen nicht richtig zum Ausdruck gekommen: Wir haben überhaupt kein bilaterales Abkommen mit der Türkei, wir haben es nie gehabt. Wir können deshalb als Bundesrepublik auch kein Abkommen, das wir geschlossen haben, wegen irgendwelcher vermuteter oder tatsächlicher Vorkommnisse dort kündigen. Wir sind vielmehr an einem internationalen Abkommen beteiligt und sind international verpflichtet, dessen Vorschriften einzuhalten. ({12}) Das ist die Rechtslage, die da besteht. ({13}) - Herr Emmerlich, es besteht ein ganz schmaler Spielraum für ein gebundenes Ermessen, gerade bei solchen internationalen Abkommen. Immerhin hat das dazu geführt, daß das Bundesjustizministerium, was man nach der Aufgabe dieses Ministeriums gar nicht anders vermuten kann, eine sachliche Stellungnahme zu der Rechtslage im konkreten Fall abgegeben hat und daß das Auswärtige Amt, dessen Einvernehmen herbeigeführt werden muß, durch den Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gesagt hat: Die Stellungnahme haben wir zur Kenntnis genommen, wir halten sie für pflichtgemäß abgegeben, aber wir gebrauchen unser Ermessen dahin gehend, daß wir den Mann nicht ausliefern. - So ist entschieden worden. Das war die Sachlage, als dieser Selbstmord eintrat. Der Verteidiger des Betroffenen wußte es. Der Verteidiger hat einen Brief an das Kammergericht geschrieben, und in diesem Brief hat er den Sachverhalt zutreffend dargestellt, so daß der Betroffene wissen mußte, daß jedenfalls zu jenem Zeitpunkt - um es ganz genau zu sagen und mich an das selbstverordnete Gebot der besonderen Sachlichkeit zu halten - und während der Dauer des Prozesses eine Auslieferung überhaupt nicht in Frage kommen konnte. Der Verteidiger, Herr Wieland, hat in einem Brief Bezug darauf genommen, daß Herr Staatssekretär Kinkel, der vorher - übrigens in Urlaubsabwesenheit des Bundesjustizministers, Herr Vogel -, den anderen hier inkriminierten Kleinert ({14}) Brief unterschrieben hatte, sich hinterher hat überzeugen lassen, daß man der Sache vielleicht doch noch etwas genauer nachgehen sollte. Er hat dies dem Verteidiger, Herrn Wieland, erklärt, daß er Skrupel bekommen hat, und das ist sogleich mitgeteilt worden. Das ist aktenkundig in den Gerichtsakten. Herr Kinkel ist das gewesen. Sie greifen hier den Bundesjustizminister an, der sich, wie man das erwarten kann, nach klassischen Grundsätzen, die übrigens nicht überall so klassisch eingehalten werden, vor das gestellt hat, was sein Haus getan hat, obwohl er den Brief nicht unterschrieben hat ({15}) und bei der Gelegenheit nicht im Hause gewesen ist. Das hat er getan. Ich halte es für selbstverständlich. ({16}) - Gut, das hat er ja auch getan. Sie aber tun so, als hätte der Bundesjustizminister persönlich dies und das gewußt, während das Gegenteil richtig war und der unmittelbar mit der Sache befaßte Staatssekretär dem Verteidiger eine Änderung seiner Ansicht noch einmal ausdrücklich mitgeteilt hatte - dies, nachdem der Bundesaußenminister sein erforderliches Einvernehmen ohnehin nicht erklärt hatte. Ich möchte es mir ersparen - - nein, ich erspare es mir doch nicht - ich habe es inzwischen gefunden -, ({17}) vorzulesen, was Herr Staatssekretär Dr. de With am 24. Februar 1977 geschrieben hat. Er hat in klarer Erkenntnis der Rechtslage, wie es seines Amtes war, geschrieben: Im übrigen erlaube ich mir, auf § 45 des Ausländergesetzes in der Fassung vom 7. August 1972 hinzuweisen, wonach Entscheidungen im Anerkennungsverfahren für das Auslieferungsverfahren nicht rechtserheblich sind. Diese Bestimmung trägt u. a. dem Umstand Rechnung, daß im Auslieferungsverfahren wegen der Auslieferungshaft des Verfolgten alsbald eine Entscheidung über das Auslieferungsersuchen getroffen werden muß. So Herr de With. Klarer, als es in diesem Brief steht, kann man alles, was diesen Fall betrifft, nicht sagen. ({18}) Und jetzt soll das alles auf einmal anders sein? Nein, meine Herren! ({19}) Meine Damen und Herren, wenn Sie, statt mit sachlichen Erwägungen die Politik dieser Regierung anzugreifen, wieder an die Tradition anknüpfen wollen, sich an die Minister zu halten, wie Sie es 1950 mit dem Ersuchen um Entlassung eines „völlig unfähigen" Bundeswirtschaftsministers namens Erhard einmal begonnen haben, ({20}) wenn Sie also daran anknüpfen wollen, weil das publikumswirksamer ist, dann ist dies einer der allerschlechtesten Anknüpfungspunkte, die Sie sich ausdenken konnten. Der letzte, gegen den hier früher ein Antrag dieser Art gestellt worden ist, war Herr von Hassel. Das war im Jahre 1966. Es kam dann eine große Pause bis zu dem Antrag auf Entlassung des Bundesministers Geißler. Diese Pause zwischen 1966 und 1983 wird dadurch gekennzeichnet, daß Sie zu dieser Zeit der Bundesregierung angehörten ({21}) und die damalige Opposition andere Verfahren für sachdienlicher hielt. - Ich danke Ihnen. ({22})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich erteile nach § 30 der Geschäftsordnung dem Herrn Abgeordneten Erhard ({0}) das Wort. ({1})

Benno Erhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000485, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Hause eine Erklärung schuldig. Ich gehöre zu einer von den Nazis verfolgten Familie. Ich habe in meiner Kindheit Schlimmes erlebt. Ich habe als junger Soldat schwerste Entscheidungen treffen müssen, die unmittelbar mit meinem Leben zu tun gehabt haben. Aus diesem Grunde habe ich einen Augenblick gemüthaft auf Herrn Fischer reagiert. Ich bitte ihn um Entschuldigung und nehme meine Bemerkung zurück. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, wird jetzt dennoch das Wort zur Geschäftssordnung erbeten? - Das ist nicht der Fall. Somit liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. ({0}) - Bitte, das Haus muß darüber entscheiden, in welcher Entscheidungslage wir uns befinden. Wir hatten die Abstimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgesehen. ({1}) Das war im Ältestenrat vorgeschlagen worden. Eine Fraktion ist der Meinung, daß die Runde damit beendet ist. Wir könnten allerdings, Herr Schäuble, nach der Abstimmung fortfahren, aber ich hielte das nicht für sehr vernünftig. Die Frage Vizepräsident Frau Renger ist, ob wir nicht doch noch einen Redner zulassen sollten. ({2}) - Da müssen wir, da wir die Debatte ja nicht einfach abbrechen können - das war nicht vereinbart -, nach der Abstimmung damit fortfahren. ({3}) Können wir uns nicht doch dazu verstehen, daß nach den Ereignissen dieser Runde noch einmal das Wort erteilt wird? ({4}) Herr Abgeordneter Schmude, melden Sie sich noch zu Wort? ({5}) - Müssen wir deswegen eine Geschäftsordnungsdebatte führen? ({6}) - Meine Damen und Herren, dann entscheide ich, daß wir jetzt abstimmen und danach die Debatte fortführen, da weitere Wortmeldungen vorliegen. Es tut mir leid, diese Entscheidung müssen wir akzeptieren. Meine Damen und Herren, ich unterbreche jetzt die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 1 und schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 2. Wir kommen zur Abstimmung. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Dies wird entsprechend unterstützt. Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN Drucksache 10/333 ({7}) und der Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 10/342 stimmen im Ziel überein. Aus diesem Grunde ist es geboten, für beide Anträge nur eine Abstimmung durchzuführen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Wer den Anträgen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Ja-Karte, wer dagegen stimmen will, den bitte ich, die Nein-Karte, und wer sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die weiße Abstimmungskarte in die hier vorn aufgestellten Urnen zu werfen. Die Abstimmungskarten befinden sich im Pult. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. ({8})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, haben alle Gelegenheit gehabt, sich an der Abstimmung zu beteiligen? Ich brauche die Sitzung nicht zu unterbrechen, weil die Auszählung schnell vorangeht. - Meine Damen und Herren, ich wiederhole meine Frage, ob alle Gelegenheit gehabt haben, sich an der Abstimmung zu beteiligen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Die Abstimmung ist geschlossen. Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. Mir liegt das vorläufige Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Anträge der Fraktion der GRÜNEN und der Sozialdemokraten auf den Durcksachen 10/333 ({0}) und 10/342 vor. - Ich bitte Platz zu nehmen. Meine Damen und Herren, es wurden 494 Stimmen abgegeben; davon ungültig: keine. Mit Ja haben gestimmt: 217 Abgeordnete, mit Nein 277. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 493; davon j a: 216 nein: 277 Nein CDU/CSU Dr. Abelein Dr. Althammer Austermann Bayha Dr. Becker ({1}) Berger Frau Berger ({2}) Biehle Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Borchert Boroffka Braun Breuer Broll Brunner Bühler ({3}) Dr. Bugl Buschbom Carstens ({4}) Carstensen Clemens Conrad ({5}) Dr. Czaja Dr. Daniels Daweke Deres Dörflinger Dolata Dr. Dollinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehrbar Eigen Engelsberger ({6}) Eylmann Dr. Faltlhauser Feilcke Fellner Frau Fischer Fischer ({7}) Francke ({8}) Franke Dr. Friedmann Ganz ({9}) Frau Geiger Dr. Geißler Dr. von Geldern Dr. George Gerlach ({10}) Gerstein Gerster ({11}) Glos Dr. Göhner Dr. Götz Günther Haase ({12}) Dr. Hackel Dr. Häfele Hanz ({13}) Haungs Hauser ({14}) Hauser ({15}) Hedrich Freiherr Heereman von Zuydtwyck Frau Dr. Hellwig Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Dr. Hoffacker Frau Hoffmann ({16}) Dr. Hornhues Hornung Frau Hürland Dr. Hüsch Dr. Hupka Graf Huyn Jäger ({17}) Jagoda Dr. Jahn ({18}) Dr. Jenninger Dr. Jobst Jung ({19}) Kalisch Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Keller Kiechle Kittelmann Dr. Klein ({20}) Klein ({21}) Dr. Köhler ({22}) Dr. Köhler ({23}) Dr. Kohl Kolb Kraus Dr. Kreile Krey Kroll-Schlüter Frau Krohne-Appuhn Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({24}) Lamers Dr. Lammert Landré Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Link ({25}) Link ({26}) Linsmeier Lintner Dr. Lippold Löher Präsident Dr. Barzel Lohmann ({27}) Dr. h. c. Lorenz Louven Lowack Maaß Frau Männle Magin Marschewski Dr. Marx Dr. Mertes ({28}) Metz Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Mikat Dr. Miltner Milz Dr. Möller Müller ({29}) Müller ({30}) Müller ({31}) Nelle Frau Dr. Neumeister Niegel Dr.-Ing. Oldenstädt Dr. Olderog Pesch Petersen Pfeffermann Pfeifer Dr. Pinger Pohlmann Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rawe Reddemann Regenspurger Repnik Dr. Riedl ({32}) Dr. Riesenhuber Rode ({33}) Frau Rönsch Frau Roitzsch Dr. Rose Rossmanith Roth ({34}) Rühe Ruf Sauer ({35}) Saurin Sauter ({36}) Sauter ({37}) Dr. Schäuble Schartz ({38}) Schemken Scheu Schlottmann Schmidbauer Schmitz ({39}) von Schmude Dr. Schneider ({40}) Schneider ({41}) Freiherr von Schorlemer Schreiber Dr. Schroeder ({42}) Schröder ({43}) Schulhoff Dr. Schulte ({44}) Schulze ({45}) Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer Seehofer Seesing Seiters Dr. Freiherr Spies von Büllesheim Spilker Spranger Dr. Sprung Dr. Stark ({46}) Graf Stauffenberg Dr. Stavenhagen Dr. Stercken Dr. Stoltenberg Straßmeir Strube Stutzer Susset Tillmann Dr. Todenhöfer Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({47}) Vogt ({48}) Voigt ({49}) Dr. Voss Dr. Waffenschmidt Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff Dr. von Wartenberg Weirich Weiskirch ({50}) Weiß Werner Frau Will-Feld Wilz Wimmer ({51}) Windelen Frau Dr. Wisniewski Wissmann Dr. Wittmann Dr. Wörner Würzbach Dr. Wulff Zierer Dr. Zimmermann Zink FDP Frau Dr. AdamSchwaetzer Baum Beckmann Bredehorn Cronenberg ({52}) Eimer ({53}) Engelhard Ertl Dr. Feldmann Gallus Gattermann Grüner Dr. Haussmann Dr. Hirsch Hoffie Hoppe Kleinert ({54}) Kohn Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Mischnick Möllemann Neuhausen Paintner Ronneburger Dr. Rumpf Schäfer ({55}) Frau Seiler-Albring Dr. Solms Dr. Weng Wolfgramm ({56}) Wurbs Ja SPD Amling Dr. Apel Bachmaier Bahr Bamberg Becker ({57}) Berschkeit Bindig Frau Blunck Brandt Brosi Brück Buckpesch Büchler ({58}) Dr. von Bülow Buschfort Catenhusen Collet Conradi Curdt Frau Dr. Czempiel Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Delorme Dr. Diederich ({59}) Dreßler Duve Egert Dr. Ehmke ({60}) Dr. Ehrenberg Esters Ewen Fiebig Fischer ({61}) Fischer ({62}) Franke ({63}) Frau Fuchs ({64}) Frau Fuchs ({65}) Gansel Gerstl ({66}) Gilges Glombig Dr. Glotz Gobrecht Grobecker Grunenberg Dr. Haack Haar Haehser Frau Dr. Hartenstein Dr. Hauchler Hauck Dr. Hauff Heimann Heistermann Herterich Heyenn Hiller ({67}) Hoffmann ({68}) Dr. Holtz Horn Frau Huber Huonker Ibrügger Immer ({69}) Jahn ({70}) Jansen Jaunich Dr. Jens Jung ({71}) Junghans Jungmann Kastning Kiehm Kirschner Kisslinger Klein ({72}) Dr. Klejdzinski Klose Kolbow Dr. Kübler Kühbacher Lambinus Lennartz Leonhart Liedtke ' Dr. Linde Löffler Lohmann ({73}) Lutz Frau Luuk Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Matthöfer Meininghaus Menzel Dr. Mertens ({74}) Dr. Mitzscherling Müller ({75}) Müller ({76}) Dr. Müller-Emmert Müntefering Nagel Nehm Dr. Nöbel Frau Odendahl Offergeld Oostergetelo Paterna Pauli Dr. Penner Peter ({77}) Pfuhl Polkehn Porzner Poß Purps Rapp ({78}) Rappe ({79}) Reimann Reschke Reuter Rohde ({80}) Sander Schäfer ({81}) Schanz Dr. Scheer Schlaga Schlatter Schluckebier Frau Schmedt ({82}) Dr. Schmidt ({83}) Frau Schmidt ({84}) Schmitt ({85}) Dr. Schmude Dr. Schöfberger Schreiner Schröder ({86}) Schröer ({87}) Schulte ({88}) Dr. Schwenk ({89}) Sielaff Sieler Frau Simonis Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell Dr. Sperling Dr. Spöri Stahl ({90}) Dr. Steger Steiner Stiegler Stobbe Stockleben Dr. Struck Präsident Dr. Barzel Frau Terborg Tietjen Frau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak Vahlberg Verheugen Dr. Vogel Vogelsang Vosen Waltemathe Walther Wartenberg ({91}) Weinhofer Weisskirchen ({92}) Dr. Wernitz Frau Weyel Wieczorek ({93}) Wiefel von der Wiesche Wimmer ({94}) Wischnewski Dr. de With Wolfram ({95}) Würtz Zander Zeitler Frau Zutt DIE GRÜNEN Frau Dr. Bard Bastian Frau Beck-Oberdorf Burgmann Drabiniok Dr. Ehmke ({96}) Fischer ({97}) Frau Gottwald Frau Dr. Hickel Horacek Hoss Dr. Jannsen Frau Kelly Kleinert ({98}) Krizsan Frau Nickels Frau Potthast Reents Frau Reetz Sauermilch Schily Schneider ({99}) Schwenniger Stratmann Verheyen ({100}) Vogt ({101}) Frau Dr. Vollmer Damit sind die beiden Anträge, über die gemeinsam abgestimmt wurde, abgelehnt. ({102}) Meine Damen und Herren, wir fahren nun in der Aussprache fort. Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, Frau Dr. Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in Fortführung der Haushaltsdiskussion aus der Sicht des zuständigen Ressortministers einige Anmerkungen zu den Bildungs- und Ausbildungschancen der jungen Generation machen. Wir werden in der zweiten und dritten Lesung des Bundeshaushalts noch ausgiebig Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren, wie sehr auch der Einzelplan 31, Bildung und Wissenschaft, darauf ausgerichtet ist, auch die Zukunftschancen der jungen Generation zu verbessern. ({0})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren - verzeihen Sie Frau Minister -, ich bitte doch um die Liebenswürdigkeit, der Ministerin zuzuhören oder vielleicht anderswo Gespräche zu führen. Das Wort hat Frau Minister Dr. Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Die Kürzung des jetzt vorliegenden Einzelplans 31 ist, wie Sie, verehrter Herr Kollege Zander, am allerbesten wissen, bedingt durch die Umstellungen im Schüler-BAföG, ({0}) die wir ja bereits im Dezember vergangenen Jahres, also in der vorigen Legislaturperiode, hier so beschlossen haben und die sich erst in diesem Jahr voll bemerkbar machen. Lassen Sie mich nur in wenigen Punkten kurz erwähnen, daß dieser Haushalt in einer Vielzahl von Positionen sehr deutliche Akzente setzt, um die Zukunftschancen der jungen Generation zu verbessern. Die Bundesregierung hat beispielsweise die Ausgaben für den Hochschulbau gegenüber dem von der SPD-FDP-Regierung damals vorgesehenen Ansatz von 900 Millionen DM auf 1,2 Milliarden DM aufgestockt. Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung leistet einen echten Beitrag zur Offenhaltung der Hochschulen, nicht nur einen mit dem Mund, wie es die vergangene Bundesregierung getan hat. ({1}) Auch der Haushaltsansatz für die Deutsche Forschungsgemeinschaft wird um 3,5 % aufgestockt. Die Ausgaben für die Nachwuchs- und Begabtenförderung werden von 71 Millionen DM auf 77 Millionen DM erhöht. Die Mittel für Stipendien und Austauschmaßnahmen zur Förderung von internationalen Beziehungen junger Menschen sind um 10 % erhöht worden. Die sind Chancen, meine Damen und Herren, die nicht nur für Schüler und Studenten in Frage kommen, sondern auch für junge Auszubildende. Wir werden - ich sagte es schon - zu einem späteren Zeitpunkt Gelegenheit haben, diese und noch manche anderen Akzentsetzungen hier näher zu diskutieren, Akzentsetzungen, die jetzt in der Diskussion um die aktuelle Ausbildungsstellensituation nicht gesehen werden. Lassen Sie mich ergänzend zu dem, was der Herr Bundeskanzler heute morgen vorgetragen hat, noch einige Darlegungen zur aktuellen Ausbildungsstellensituation machen. Meine Damen und Herren, die Zusage der Wirtschaft, zusätzlich über 30 000 Ausbildungsplätze in diesem Jahr bereitzustellen, wird eingehalten. Wir können heute davon ausgehen, daß in diesem Ausbildungsjahr über 680 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen werden. Dies ist eine der höchsten Zahlen, die bislang in der Bundesrepublik erreicht wurden. Dies - und, meine Damen und Herren, das sage ich mit aller Deutlichkeit - war auch die von allen akzeptierte Zielvorstellung zu Beginn dieses Jahres. ({2}) Die bisherigen Vertragsabschlüsse aus dem Bereich der Kammern signalisieren, daß dieses Ziel erreicht wird. Auch nach Informationen der Bundesanstalt für Arbeit liegt die Zahl der versorgten Bewerber gegenwärtig deutlich höher als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Die von der Bundesanstalt für Arbeit jetzt gemeldete Zahl der sogenannten „unversorgten Bewerber", wie es in der Geschäftsstatistik heißt, liegt mit fast 97 000 um 79 000 unter der Zahl des Vormonats - also ein rapides Absinken der Zahl der sogenannten „unversorgten Bewerber". ({3}) Daneben meldet die Bundesanstalt noch 27 000 offene Ausbildungsstellen. Meine Damen und Herren, diese Zahlen zeigen, daß der Ausbildungsstellenmarkt anders als in den Vorjahren - Herr Zander, Ihre Erfahrungen reichen vielleicht etwas länger zurück, sind aber insoweit veraltet - jetzt im Herbst noch in voller Bewegung ist. ({4}) Auch nach Aufassung der Bundesanstalt für Arbeit werden sich die Bewerberzahlen im September noch kräftig reduzieren. Im übrigen - meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, daß ich darauf hinweise - muß vor dem Fehlschluß gewarnt werden, daß alle bei den Arbeitsämtern als noch nicht versorgt gemeldeten Jugendliche etwa arbeits- oder ausbildungslos wären. Vielmehr gehen viele junge Menschen in andere Bildungswege, etwa in Berufsfachschulen, wenn sie nicht sofort einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. ({5}) Die Zahl der Lehrstellenbewerber wird in diesem Jahre offensichtlich höher, als dies vor Monaten von den Fachleuten vorausgesehen werden konnte. ({6}) Dem liegt offensichtlich ein geändertes Bildungsverhalten junger Menschen zugrunde. Junge Menschen wählen sehr realistisch - und ich bewerte das im Grunde sehr positiv - ihre Bildungswege nach den Arbeitsmarktchancen. ({7}) Angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt entscheiden sich heute viele Jugendliche, die früher nicht unbedingt eine Lehrstelle suchten, für einen Ausbildungsplatz im dualen System. Der Bundeskanzler hat heute morgen bereits auf die vielen Abiturientinnen hingewiesen, die früher in den Lehramtsberuf drängten und die heute eine praktische Ausbildung suchen. Dies ist ein Beispiel für viele. Wir und auch die Arbeitsverwaltung stellen fest, daß sich auf der Bewerberseite erhebliche strukturelle Änderungen ergeben. 43 % der Bewerber für eine betriebliche Ausbildungsstelle haben heute einen höheren Abschluß als den Hauptschulabschluß, also Mittlere Reife und mehr. Und diese Jugendlichen konzentrieren sich besonders auf solche Berufsbereiche, die angeblich mit einem höheren Sozialprestige verbunden sind, etwa kaufmännische oder verwaltende Berufe. Die Angebotsseite ist dagegen relativ unverändert, und hier werden wir noch vor einem längeren Anpassungsprozeß stehen. Und mit Sonderprogrammen, etwa dem Benachteiligtenprogramm oder MBSE-Maßnahmen, wird man eben dieses Problem nicht lösen können; sondern hier müssen strukturell die Berufschancen, etwa gerade für die Mädchen mit Mittlerer Reife, weiter verbessert werden. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt, daß auch in den nächsten Wochen und Monaten und auch nach dem statistischen Stichtag 30. September die Anstrengungen weitergehen. Die Vermittlungsbemühungen - und hier bitte ich auch die Arbeitsverwaltung - dürfen auch danach nicht aufhören. Alle Beteiligten müssen aktiv bleiben. Und im frühen Winter - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - wird zu prüfen sein, ob und warum und gegebenenfalls welche jungen Menschen dann vielleicht noch nicht untergebracht wurden. Mit Pauschalurteilen ist den jungen Leuten überhaupt nicht geholfen. ({8}) Lassen Sie mich Ihnen noch kurz sagen, welche Maßnahmen die Bundesregierung im Rahmen ihrer ordnungspolitischen Möglichkeiten seit ihrem Amtsantritt unternommen hat, um die Ausbildungschancen im dualen System zu verbessern. Es sollte uns allen klar sein, und dies möchte ich hier auch betonen, daß ein Hauptmerkmal des erfolgreichen dualen Systems die Eigenverantwortung der Wirtschaft ist; der Staat kann und soll immer nur unterstützend eingreifen. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Wir haben intensiv und - das darf ich mit Stolz für diese Bundesregierung sagen - mit Erfolg eine Mobilisierung der Ausbildungsbetriebe und eine Stärkung der Ausbildungsbereitschaft wie nie zuvor erreicht. ({9}) Dies ist etwa erfolgt durch zahlreiche regionale Ausbildungskonferenzen. Unter Beteiligung der Bundesregierung haben allein 18 solcher großen Ausbildungskonferenzen stattgefunden. Es haben mehrfach Spitzengespräche mit dem Bundeskanzler und Mitgliedern der Bundesregierung, mit Gewerkschaften und Vertretern der Wirtschaft stattgefunden. Erst gestern hat ein Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden stattgefunden, in dem aufgezeigt wurde - und das ist konkret -, wie im Gesundheitswesen für Mädchen weitere Ausbildungsplätze geschaffen werden können. Derzeit finden gerade auf Wunsch der Bundesregierung allenthalben auf regionaler Ebene Ausbildungsbörsen für Jugendliche unter Beteiligung der örtlichen Arbeitsverwaltungen, der Kammerorganisationen und der Gewerkschaften statt. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß in großem Umfang Nachrückverfahren notwendig sind, weil Jugendliche in vielen Fällen den Ausbildungsplatz nicht angetreten haben, bei dem sie zugesagt hatten. Renommierte Ausbildungsfirmen sagen uns in diesen Tagen, daß bis zu 20 % der Ausbildungsplätze in diesem Moment nicht besetzt werden können, weil die jungen Leute nicht kommen. Hier muß also nachgeschoben werden. Das ist eine ganz wichtige Aktion. Aber die Bundesregierung hat ja auch finanziell erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt und wird dies weiterhin tun. ({10}) - Ich meine, daß gerade die Kollegen von der SPD bei diesem Punkt etwas ruhiger sein sollten. Wir haben die Mittel für das Benachteiligtenprogramm von 124 Millionen auf 144 Millionen aufgestockt. Damit können in diesem Jahr 5 000 Jugendliche zusätzlich in dieses Programm aufgenommen werden. Meine verehrten Kollegen, Sie wissen genau, daß die Mittelansätze unter Ihrer Ägide sehr viel geringer waren. Mit uns sind die Mittel um fast 300% gesteigert worden, und wir sind auch dabei, die Maßnahmen qualitativ zu verbessern, vor allen Dingen eine bessere Abstimmung des Benachteiligtenprogramms mit den Betrieben zu erreichen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({11}) Wir haben weiter - auch dies muß erwähnt werden - 180 Millionen DM investive Mittel für den weiteren Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten bereitgestellt, was gerade für das Handwerk eine große Hilfe bedeutet. Die Ausbildungsanstrengungen im öffentlichen Dienst bei den obersten Bundesbehörden werden erheblich verstärkt. Die Zahl der Ausbildungsplätze wird in den Berufen nach dem Berufsbildungsgesetz um 6% gesteigert, im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen eine erhebliche Summe. Ich darf hier schon - der Kollege Blüm wird es sicher später noch einmal breiter darstellen - darauf hinweisen, daß auch die Bereitstellung der Mittel im Bundesarbeitsministerium, die Mobilitätshilfen für Auszubildende, das 205-Millionen-Programm für die Ausbildung arbeitsloser Jugendlicher Maßnahmen sind, die dazu dienen, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft flankierend zu unterstützen. Lassen Sie mich auch das erwähnen: Korrekturen in der Arbeitsschutzgesetzgebung sind bereits vollzogen oder sind im parlamentarischen Verfahren, um den Schutz der Jugend und die Ausbildungsnotwendigkeiten der Betriebe besser als bisher in Übereinstimmung zu bringen. ({12}) Die vergangene deutsche Präsidentschaft in der EG hat uns und vor allen Dingen auch mir sehr deutlich gezeigt, daß wir im Ausland um das duale System beneidet werden. Wir werden um dieses nicht gesetzlich erzwungene Ausbildungsengagement der Wirtschaft beneidet. Dies ist auch mit ein Grund dafür, daß wir in diesem Jahr trotz aller Schwierigkeiten überhaupt eine so hohe Ausbildungsbereitschaft erzielen konnten. Es muß unser Ziel bleiben, diese freiwillige, aus sozialer Verantwortung und auch ökonomischer Vernunft begründete Ausbildungsbereitschaft weiter zu stärken. Wir werden alles dazu tun. Meine Damen und Herren von der Opposition, da hilft auch kein blinder Aktionismus, und da helfen auch keine sehr oberflächlichen und sehr schnell zusammengeschriebenen Programme, wie sie von der Opposition, von der SPD, vorgelegt werden. ({13}) Die Fachleute unter Ihnen wissen sehr genau, daß diese Vorschläge dort, wo sie vernünftig sind, zum Teil von uns durchgeführt worden sind. Teilweise sind sie überhaupt nicht zu finanzieren. Sie führen zu einem Attentismus der Betriebe; denn nichts ist verheerender, als jetzt mit Maßnahmen zu locken und den Betrieben, die jetzt große Ausbildungsleistungen vollbracht haben, das Gefühl zu geben, daß sie geradezu dumm seien, daß sie sich bisher angestrengt hätten, wenn man später dafür vielleicht auch Geld bekommt. Dies ist genau der falsche Weg. ({14}) Ich sage hier noch einmal - das ist wirklich keine Novität mehr -: Ausbildungsumlagen führen nur dazu, daß die ganze Ausbildung verbürokratisiert wird ({15}) und daß sich die Betriebe aus der Ausbildung zurückziehen. Dies wollen wir nicht. Meine Damen und Herren, bisher haben wir von Ihnen keine vernünftigen Vorschläge gehört. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß Sie versuchen, mit Katastrophenmeldungen noch mehr Unruhe in die jungen Menschen hineinzubringen. ({16}) Lassen Sie mich mit dem Dank an die Ausbildungsbetriebe, an die Ausbilder und an die vielen ehrenamtlichen Kräfte im Bereich der Kammerorganisationen und der Gewerkschaften schließen, daß sie in diesem Jahr viele Mühen und auch Opfer, persönliche Opfer, auf sich nehmen, um diese Ausbildungsleistung zu erbringen. Kein anderes Ausbildungssystem könnte das schaffen, was wir in diesem Jahr vorweisen können. Die Bundesregierung wird auch in den nächsten Wochen - dies hat der Bundeskanzler Ihnen heute morgen bestätigt - nicht nachlassen, diese Ausbildungsbereitschaft zu unterstützen, und wir werden prüfen, wieweit die Ausbildungschancen der jungen Generation noch weiter zu verbessern sind. - Vielen Dank. ({17})

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, darf ich sagen: Wir hatten vor, gegen 20 Uhr fertig zu werden. Es sieht so aus, als würden wir das gut erreichen. Das Wort hat Herr Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister Wilms, mit den Statistiken, die Sie hier vorgetragen haben, kann man natürlich eine Menge beweisen. Ich will deswegen nicht Zahlen an die Wand malen, ich will nur referieren, was Behörden des Bundes in Zeitungen veröffentlicht haben, nicht Zahlen, die Sie in der Schublade haben, die gegeneinander geschoben werden, wo Äpfel mit Birnen verglichen werden und am Ende der Eindruck entsteht, Sie schafften das doch noch. Man kann sich Hoffnung auch in die eigene Tasche lügen. Ich verstehe j a, daß Sie beim Gang durch den Wald gerne pfeifen, damit die Angst nicht zu groß wird, die Sie dabei überkommt. Aber, meine Damen und Herren, am 30. September pflegt Bilanz gezogen zu werden, und dann werden wir wirklich auf Punkt und Komma unter dem Strich wissen, ob der Bundeskanzler seine Zusage eingehalten hat oder ob er mit dieser Zusage eine „Lehrstellenlüge" im Wahlkampf verwendet hat. ({0}) - Wir sind für den Erfolg, das haben wir hier schon mehrfach gesagt. Wir werden uns auch gar nicht freuen, wenn das schiefgeht, ({1}) aber wir fürchten, daß das schiefgeht. Wir möchten Sie daran erinnern, daß Sie, Frau Minister Wilms, nach dem 30. September auch nicht mehr Pakete von Schülern und Lehrlingen hin und herschieben können, sondern daß Sie nach dem 30. September daran erinnert werden, daß die Zusage in dieser Anzeige hieß: „Für jeden ist eine Lehrstelle da. Kanzlerinitiative schafft 30 000 Ausbildungsplätze. Dieser Kanzler schafft Vertrauen." ({2}) - „Für jeden ist eine Lehrstelle da." Ich komme noch auf Ihr Argument. ({3}) „Für jeden ist eine Lehrstelle da", das ist für jeden, der einigermaßen Deutsch versteht, eine sehr klare Aussage. Da kann man nach dem 30. September nicht sagen, 30 000 waren vielleicht nicht willig genug oder vielleicht nicht fähig genug. Das heißt, für jeden ist eine da, wenn ich Deutsch richtig verstehe. ({4}) Das ist eine eindeutige Aussage, und der Bundeskanzler ist im Wort. ({5}) Da wird man sich auch nicht dahinter verschanzen können, daß die Jugendlichen vielleicht nicht mobil oder flexibel genug gewesen seien, etwa, daß ein 16jähriger aus Flensburg oder Aurich die Lehrstelle in Berchtesgaden nicht angenommen hat. Dann wird man sich auch nicht dahinter verschanzen können, daß die Jugendlichen ihre Plätze nicht ordnungsgemäß zurückgeben würden, wenn sie woanders einen Vertrag abgeschlossen haben. Ich bedaure auch, daß das passiert; das hat es aber früher auch gegeben. Wir haben auch immer darauf hingewiesen, die Jugendlichen sollten sich ihrer Pflicht in diesem Punkt bewußt sein. Bloß, Frau Minister Wilms: Wer rügt eigentlich die Arbeitgeber, die Jugendliche monatelang hinhalten, weil sie hoffen, noch einen tüchtigeren Bewerber zu bekommen? Wenn die Leute dann dort anrufen, heißt es: Fragen Sie in 14 Tagen noch einmal nach, es ist noch nicht endgültig entschieden. Diese Jugendlichen suchen sich keine anderen Plätze. Herr Kollege Rose, ich habe in der „Süddeutschen Zeitung" eine bedrückende Geschichte über die Sonderaktion gelesen, die dort beim Arbeitsamt stattgefunden hat, wo eine Mutter sicher gewesen war, daß ihr Sohn schon einen Ausbildungsplatz hat, der Sohn über Monate hingehalten worden ist und am Ende dann die Absage kam, weil der Platz mit einem anderen besetzt war. Dann kann ich Jugendliche verstehen, wenn sie sagen: Ich nehme auch nicht den ersten, sondern den besten Ausbildungsplatz, der mir angeboten wird.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Kuhlwein, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Daweke?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, gerne.

Dr. Rainer Barzel (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000102

Herr Kollege Daweke.

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wären Sie, da wir uns in der Beurteilung dieses Vorgangs einig sind, bereit, zusammen mit uns in Überlegungen einzutreten, ob ein Annahmekartenverfahren eingeführt werden sollte, was ja da, wo es existiert, diese Schwierigkeiten weitgehend ausschließt?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Daweke, ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber nachzudenken, wenn Sie auch bereit sind, mit uns über die Anwendung der Meldepflicht nachzudenken. ({0}) Durch solche Verfahren werden junge Menschen in Verzweiflung getrieben und mit ihren Hoffnungen wird Schindluder getrieben. Das Ziel ist noch lange nicht erreicht, auch wenn der Bundeskanzler heute morgen gemeint hat, er hätte seine Zusage schon erfüllt. Er hat das ja auf den heutigen Tag bezogen gesagt. Denn nach einer Presseerklärung, die Frau Wilms gemeinsam mit der Bundesanstalt für Arbeit auf Grund einer Sondererhebung abgegeben hat, waren Anfang der Woche noch fast 100 000 Bewerber ohne Lehrstelle, davon zwei Drittel Mädchen. Da kann man doch nicht ernsthaft behaupten, die Wirtschaft oder der Bundeskanzler hätten ihre Zusage bereits erfüllt. Frau Minister Wilms, Sie sagten, wir verbreiteten Katastrophenstimmung. Wenn 100 000 heute noch darauf warten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, dann ist das eine Katastrophe. ({1}) Im übrigen werden wir uns auch nicht darauf einlassen, daß der Schwarze Peter an die Wirtschaft weitergegeben wird. Der Bundeskanzler hat ein Wahlversprechen abgegeben. Wir werden Sie sich auch nicht darauf herausreden lassen, Frau Kollegin Wilms, Sie hätten sich in der Nachfrage verschätzt. ({2}) Es gab im Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung kritische Stimmen, die Ihren Ansatz, nur 655 000 Plätze würden in diesem Jahr nachgefragt, hinterfragt und gewarnt haben, es könnten auch mehr sein. Sie haben sich trotzdem auf die Zahl 655 000 versteift. Sie werden sich auch nicht darauf herausreden können, daß völlig unerwartet mehr Abiturienten Ausbildungsplätze im dualen System nachgefragt hätten. Für die Abiturienten, die jetzt zusätzlich als Nachfrager kommen, sind Sie durch den BAföG-Kahlschlag verantwortlich, den Sie im letzten Dezember veranstaltet haben. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn man jahrelang die akademische Ausbildung diffamiert, wie es der Bundeskanzler heute morgen noch einmal getan hat, dann braucht man sich über eine Mehrnachfrage nach Ausbildungsplätzen im dualen System wirklich nicht zu wundern. Man hätte das bereits in die eigene Kalkulation einbeziehen müssen. ({4}) Die jungen Menschen haben einen Anspruch darauf, daß die Bundesregierung etwas tut, wenn die Wirtschaft ihre Aufgabe nicht erfüllt. Im Haushalt, den Sie hier eben so mutig verteidigt haben, finden wir nichts davon. Die Ausgaben für die berufliche Bildung sinken ausgerechnet in diesem Jahr, das auch von Ihnen als besonders schwieriges Jahr angesehen wird, um etwas mehr als 10 %, nämlich um rund 50 Millionen DM. Zum Benachteiligtenprogramm, das Sie ins Feld geführt haben: Die Aufstockung von 1983 war schon zu unserer Amtszeit vorgeplant; das wissen Sie ganz genau. ({5}) Wir hätten angesichts dieser Situation ganz kräftig mehr zugelegt, als Sie das hier getan haben. ({6}) Jedenfalls können Sie nicht im Ernst behaupten, Frau Wilms, Sie hätten im Bereich der beruflichen Bildung einen Schwerpunkt gesetzt, wie Sie das draußen überall erzählen. ({7}) Wir setzen Ihrer Berufsbildungs- und Ausbildungsstellenpolitik unser Sofortprogramm entgegen. Wir werden das in den Einzelheiten in der nächsten Woche hier in diesem Hause behandeln. Dieses Programm würde ein Volumen von 1,6 Milliarden DM erfordern. Das ist ziemlich genausoviel, wie durch die von Ihnen geplante, mit der Gießkanne breit gestreute Vermögensteuersenkung verschenkt wird. Wir meinen, daß wir damit rund 150 000 Jugendliche in Ausbildung oder Arbeit bringen können. Wir meinen, daß das eine sehr deutliche Alternative zu Ihrer Tu-nix-Politik im Bereich der beruflichen Bildung ist. Sie haben vor einem Attentismus gewarnt, der sich aus unserem Programm ergeben könnte. Frau Kollegin Wilms, schlimmeren Attentismus als die jüngste Briefaktion der Bundesanstalt für Arbeit an die Landesarbeitsämter könnte wohl kaum ein sozialdemokratisches Programm erzeugen. Zu dem, was hier an Verwirrung gestiftet wurde, kann man nur sagen: Da muß jemanden im Bundesarbeitsministerium der Teufel geritten haben. Da wird tatsächlich angekündigt, daß alle diejenigen finanziell bestraft werden, die auf Grund Ihrer Appelle, auf Grund unserer Arbeit in den letzten Monaten noch Ausbildungsplätze angeboten haben. Oder es wird angekündigt, daß alle Arbeitgeber künftig mit ihren Angeboten an Ausbildungsplätzen bis zum 30. September warten müssen, weil sie ja vielleicht anschließend dafür subventioniert werden. Dabei wurde trotz der Bedeutung der Aktion die Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit ausgeschaltet. Durch einen Federstrich wird aus der einzelbetrieblichen Finanzierung der Berufsausbildung plötzlich eine Staatsfinanzierung. Mehr Verwirrung, als Sie da haben anrichten lassen, kann man doch im Bereich der Berufsausbildung überhaupt nicht mehr anrichten. ({8}) Dieser Vorgang ist so ungeheuerlich, daß man darauf eigentlich eine schlüssige Antwort der Bundesregierung hätte erwarten sollen. Vielleicht tut das ja der Bundesarbeitsminister noch. ({9}) Eines möchte ich allerdings der Bundesanstalt zugute halten: Dort wird wenigstens noch darüber nachgedacht, was man tun könnte. Die haben sich von der Tu-nix-Politik der Bundesregierung noch nicht ganz abschrecken lassen. Frau Kollegin Wilms, Sie haben die Aufstockung der Zahl der Ausbildungsplätze im öffentlichen Dienst, bei den nachgeordneten Bundesbehörden, erwähnt. Ich kann die Zahl jetzt nicht nachprüfen; wir werden das im Ausschuß tun. Ich möchte Ihnen nur folgendes aus einem Bericht des Hamburger Schulsenators Jost Grolle über den Abbau von Ausbildungsplätzen im Bereich der Bundesbahndirektion Hamburg vortragen. Dem Hamburger Senat ist von Verkehrsminister Dollinger mitgeteilt worden, daß sich die Zahl der im Bereich der Bundesbahndirektion Hamburg neu eingestellten Auszubildenden von 1982 auf 1983 wie folgt eintwickelt hat: 1982 568 Auszubildende, 1983 nur noch 351. Ein Verlust von 38 %, und das ausgerechnet in einer bestimmt strukturschwachen Region, deren Probleme in diesen Stunden im Hohen Hause sehr eingehend diskutiert worden sind. Auch die Vertreter der BundesreKuhlwein gierung haben gesagt, daß die norddeutschen Küstenländer unterstützt werden müßten. ({10}) - Die habe ich jetzt nicht da, Herr Kollege Rose. Aber wir werden im Bildungsausschuß und Sie werden im Haushaltsausschuß Gelegenheit haben, das noch einmal zu studieren. Was aber besonders erschreckend ist, ist die Erklärung, die die Deutsche Bundesbahn dafür abgegeben hat. Während wir uns gemeinsam darauf verständigt hatten, Unternehmen und Unternehmern zu sagen, sie sollten auch über den eigenen Bedarf hinaus ausbilden, erklärt die Deutsche Bundesbahn dem Hamburger Senat: Die von der Deutschen Bundesbahn vorzuhaltende Ausbildungskapazität ist langfristig von dem Personalbedarf des Unternehmens abhängig, für dessen Reduzierung aus wirtschaftlichen Gründen große Anstrengungen zu unternehmen sind. Es wird sich daher ganz allgemein nicht vermeiden lassen, daß die Zahl der Ausbildungsplätze der Deutschen Bundesbahn auf längere Sicht abnehmen wird. Die hat schon in diesem Jahr abgenommen, und das, obwohl die Deutsche Bundesbahn wissen müßte - und obwohl sie von Ihnen dazu aufgefordert worden ist -, daß man in diesem Jahr zusätzliche Anstrengungen unternehmen muß. Frau Wilms hat dann auch noch die Korrekturen beim Jugendarbeitsschutzgesetz angeführt, die die neue Bundesregierung eingeleitet hat. Da wir mitberatender Ausschuß sind, werden wir die Debatte darüber auch in unserem Ausschuß führen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie Sie bildungspolitisch begründen wollen - bildungspolitisch in dem Sinne, daß Jugendliche dabei mehr lernen; Sie haben j a die entsprechenden Gesetzentwürfe Entwürfe von Gesetzen „zur Verbesserung der Ausbildung" genannt -, daß junge Leute morgens schon um vier Uhr beim Bäcker antreten müssen, damit sie das Brötchen-Backen lernen können. Erstens backen die Bäcker heute den ganzen Tag Brötchen, und zweitens backen sie morgens die meisten Brötchen. Dann hat der Meister in aller Regel überhaupt keine Zeit, sich um den Auszubildenden zu kümmern. Vielmehr muß der dann da mitmalochen, und dafür wird er nicht besonders gut bezahlt. Deswegen ist das, was Sie vorhaben, pädagogisch und bildungspolitisch auch überhaupt nicht zu begründen. Die Begründung findet sich ganz woanders. Die Begründung finde sich in dem, was viele Ihnen nahestehende Verbände und viele Ihnen nahestehende kleine Unternehmer gesagt haben: Wir hätten die jungen Leute halt gerne dann, wenn bei uns am meisten gearbeitet wird, weil wir sie dann produktiv einsetzen können. Das ist mit Gedanken des Jugendarbeitsschutzes mit Sicherheit nicht zu vereinbaren. Es gab einmal eine Zeit, da waren wir uns über Jugendarbeitsschutz in diesem Haus einig. Ich bedaure sehr, daß wir davon abgekommen sind. Ich bedaure sehr, daß Sie die Zwangslage, in der sich junge Menschen heute befinden, dazu mißbrauchen, um Schutzgesetze für junge Menschen abzubauen. ({11}) Ein paar letzte Bemerkungen zur Bedeutung des Bundesministeriums für Bildung und Wisenschaft unter der neuen Leitung. Natürlich haben Sie recht, Frau Kollegin Wilms, wenn Sie sagen, daß die berufliche Bildung bei Ihnen noch besser wegkommt als der übrige Haushalt. Kollege Fred Zander hat ja schon mit einem Zwischenruf darauf hingewiesen, daß der Gesamthaushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft von 1983 auf 1984 um 14,7 % sinkt. Das ist die schlimmste Minusrate aller Haushalte in diesem Bundeshaushalt. ({12}) - Die Post hat noch mehr als 14,7 % Verlust? Da hat mich Fred Zander falsch unterrichtet. Aber wir werden das noch einmal untersuchen, Herr Kollege Rose. Aber Sie werden zugeben: 14,7 % ist schon schlimm genug und macht deutlich, welchen geringen Stellenwert diese Bundesregierung der Bildung einräumt. ({13}) - Ich weiß, daß das das BAföG ist. Aber für uns waren die BAföG-Mittel auch immer Bildungsausgaben. Es ist überhaupt nicht unzulässig, zu sagen: Wenn Sie BAföG streichen, dann sind das eben 14,7 % weniger, die Sie für die Bildung auszugeben bereit sind. ({14}) Aber Frau Minister Wilms kann einem ja auch beinahe leid tun, wenn man beobachtet, wo überall an ihren Kompetenzen gezerrt und gezogen wird. Da demontieren die CDU-Länder die Aktivitäten des Bundes im Schulbereich und sagen, der Bund dürfe dort keine Modellversuche mehr machen. Da demontieren die CDU-Länder die Bildungsplanung in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Da macht ihr der Arbeitsminister die Kompetenz für die Lehrstellen streitig. - Bei vielen Gesprächen mit dem Kanzler war ja nur Herr Blüm dabei und nicht Frau Wilms. -({15}) Da ist das BAföG für Schüler völlig verkümmert, wobei die delikate verfassungsrechtliche Frage zu prüfen wäre, warum der Bund eigentlich die Zuständigkeit hat für BAföG an Schüler, die außerhalb wohnen, aber keine Zuständigkeit für BAföG an Schüler, die zu Hause wohnen. Das eine ist im Bundesgesetz geregelt, das andere soll künftig in Landesgesetzen geregelt werden. Aber wir werden darüber ja noch einmal gesonderte Debatten in diesem Haus führen. Dann passiert es der Bundesbildungsministerin auch noch, daß im Haushaltsbegleitgesetz im Art. 22 - Herr Präsident, ich komme gleich zum Ende - die Zuständigkeit des Bundes für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses schlichtweg aufgegeben wird. Die Länder sagen dann in ihrer Stellungnahme: Wir wollen das gar nicht, weil wir ein Nachfolgegesetz haben wollen. Die Bundesregierung besteht in ihrer Gegenäußerung aber darauf, daß diese Bundeskompetenz im Art. 22 geändert, d. h. praktisch gestrichen wird, und das, obwohl viele Versprechungen in den letzten Monaten abgegeben worden sind, daß das GrAföG, d. h. die Graduiertenförderung, ein Nachfolgegesetz finden wird, und zwar wieder im Zusammenhang mit der Tatsache, daß Sie für eine solche Nachfolgeregelung im Regierungsentwurf des Haushalts keine müde Mark eingeplant haben. Daraus soll noch einer schlau werden! Da soll einer Vertrauen aus der Bildungspolitik von Frau Wilms schöpfen! Schließlich wird in CDU-Kreisen auch schon gemunkelt, daß man eigentlich auch auf die Kompetenz in der Hochschulrahmengesetzgebung verzichten und das Hochschulrahmengesetz eigentlich völlig streichen und das Ganze der Länderkompetenz überantworten könne. Meine Damen und Herren, einen solchen Umgang mit den Bundeskompetenzen in der Bildungspolitik hat die Bildungspolitik nicht verdient. Frau Kollegin Wilms, Sie erreichen durch laufendes Unterlassen, daß diese Kompetenz in wenigen Jahren auf Null gebracht werden wird. Die Folge wird sein: weniger Chancengleichheit, weniger gemeinsame Strukturpolitik, weniger vorausschauende Planung. Für die Eltern, Schüler, Studenten, Lehrer und für die Wirtschaft richten Sie damit ein bildungspolitisches Chaos zwischen Flensburg und Berchtesgaden an. Die betroffenen Gruppen merken Gott sei Dank nach und nach, daß die Bildungspolitik bei dieser Regierung abgedankt hat. Sie werden Ihnen auch bei nächster Möglichkeit dafür die Quittung erteilen. - Ich danke. ({16})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der Tatsache, daß viele der Kollegen sehr hungrig sein dürften und überhaupt die Verlockungen des Bonner Abends reichhaltig sind, weiß ich es um so mehr zu würdigen, daß Sie hier sitzen. Da mir aber meine Fraktion nur ein paar Minuten zur Verfügung gestellt hat, muß ich mich auf ein paar aphoristische Bemerkungen beschränken. Es hätte überhaupt keinen Sinn, den Rundumschlag nachzuvollziehen, den Herr Kuhlwein hier soeben ausgeführt hat. ({0}) - Das tue ich meistens, aber in diesem Fall nicht. Es hätte also keinen Sinn, das nachzuvollziehen. Ich möchte vielmehr in den Mittelpunkt meiner notgedrungenen kurzen Ausführungen das stellen, was eigentlich das Zentrale des heutigen Abends sein sollte. Sie haben darüber gesprochen, Frau Dr. Wilms hat darüber gesprochen: Es hat heute keinen Sinn, Herr Kuhlwein, bevor die Bilanz abgeschlossen ist über das, was an Ausbildungsplätzen vorhanden ist, was noch an ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen da ist, bereits davon zu sprechen, man solle die Hoffnung in die Tatsache stecken. Wir müssen die Hoffnung aus der Tasche herausholen, denn es geht hier nicht darum, wer recht hat, Frau Dr. Wilms oder Sie. Ich möchte bei der Gelegenheit sagen, daß ich mich immer eines skeptischen Realismus befleißigt habe. Es geht aber nicht darum, wer recht hat, es geht darum, daß in der noch verbleibenden kurzen Zeit jede Chance genutzt wird, um jeden jungen Menschen mit einem ({1}) Ausbildungsplatz, der irgendwie erreichbar ist, zu versorgen. Da nützt es auch nichts, zu sagen, diese Appelle an die jungen Leute hinsichtlich der Doppelbewerbungen, hinsichtlich der mangelnden Mobilität usw. usw. seien vorgezogene Entschuldigungen. Das kann man später kritisieren. Heute sind sie ausgesprochen wichtig. Sie haben die „Süddeutsche Zeitung" zitiert; ich tue das auch. Da heißt es u. a.: „Ein bißchen mehr. Beweglichkeit, weniger hochgeschraubte Ansprüche würden der Misere also eher ein Ende bereiten als jedes von oben angeordnete Reformpaket." Das ist sehr wichtig. Es ist auch wichtig, daß wir noch einmal an die Betriebe appellieren. Ich sehe mit großem Interesse Ihrem Sofortprogramm, was wir schon einmal vorgestellt bekommen haben, entgegen. Ich hoffe aber - ich habe nur noch zwei Minuten -, daß es dann in einem anderen Stil vorgestellt wird - auch zur Besprechung -, als damals ein Sprecher Ihrer Fraktion, der heute abend hier nicht sitzt, sagte: „Wenn Sie fragen, woher wir diese Summe nehmen, dann sage ich Ihnen das: Dann verzichten wir doch darauf, den Reichen in dieser Republik 1,7 Milliarden DM über die Vermögensteuer in den Hintern zu pusten." - Man hat damit manchem eine schallende Ohrfeige versetzt, auf dessen Hilfe bei der Beschaffung von Ausbildungsplätzen wir angewiesen sind. ({2}) - Ich habe Sie zitiert. Wenn Ihnen das nicht gefällt, fällt das auf den Sprecher, der das gesagt hat, zurück. Ich möchte eigentlich davor warnen, diese Dinge in diesem Stil zu behandeln. Meine Damen und Herren, leider habe ich nur eine kurze Redezeit. Nur noch dies: Bildungspolitik müßte natürlich langfristiger sein. Wir können uns nicht nur mit diesen Problemen befassen; wir werden über viele Dinge zu diskutieren haben. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, daß auch die Schwierigkeiten, die ich nicht leugne, ein Zeichen dafür sind, daß die von meiner Partei und Fraktion von jeher vertretene Meinung richtig ist, daß angesichts der wenigen Kompetenzen, die der Bund hat, auf Bundesebene aber auch jede gestalteNeuhausen rische Möglichkeit durch den Bund in Anspruch genommen werden muß. ({3}) Wir sind ebenso wie manche andere kritische Stimme in diesem Hause gegen jeden Rückfall in einen bildungspolitischen Provinzialismus. - Ich danke Ihnen. ({4})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jannsen.

Prof. Dr. Gert Jannsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001016, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ich brauche mich ja wohl über die Äußerungen der Kollegen von der CDU nicht mehr zu wundern. Bildungspolitik hat in der Haushaltsplanung der Bundesregierung etwa den Stellenwert, den sie bei den Beratungen in diesem Hause zu haben scheint. Ich danke allen, die trotz der Bildungspolitik und obwohl sie vielleicht andere Interessen als gerade Bildungspolitik - ({1}) - Das ist etwa ein Fünftel unserer Fraktionsstärke! Zählen Sie bitte bei sich nach, wieviel ein Fünftel ist; dann können Sie weiterreden. ({2}) - Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht hören wollen, können Sie auch noch gehen. Bildungspolitik in der Bundesrepublik - in diesem Haushalt - ist: kein Geld, dafür Gespräche, Kürzungen - wir haben hier vor nicht allzu langer Zeit über die BAföG-Problematik geredet; dazu will ich jetzt nichts sagen -, Erweiterung der Mittel für Forschung und Hochschulbau, Erweiterung für ein Benachteiligtenprogramm, das man braucht, weil es zu viele Leute gibt, die benachteiligt sind, Versuche, eine Elitebildung über Nachwuchsförderung, Heisenberg-Stiftung u. ä. herbeizuführen; was dazu zu sagen ist, wenn man an den Haushalt denkt, hat Herr Kuhlwein eben gesagt. Das alles wird getragen von einer Hoffnung, und zwar von der Hoffnung, daß all die jungen Menschen, die eine Ausbildung bekommen, auch die, die eine Berufsausbildung bekommen, in drei oder fünf oder sechs Jahren eine Arbeit bekommen, die sie mit ihrer Ausbildung auch wirklich ausüben können. Diese Hoffnung wird sich sehr wahrscheinlich als Illusion herausstellen. Schon heute machen viele Jugendliche, die in den letzten Jahren eine Berufsausbildung bekommen haben - seien es Schüler, seien es Studenten, seien es Lehrlinge, seien es Männer oder Frauen -, die Erfahrung, daß sie keine Arbeit in dem Beruf finden, in dem sie arbeiten wollten. Ein Beispiel will ich hier heranziehen, das des Lehramts. Wir wissen inzwischen aus vielen Untersuchungen und Äußerungen, daß nicht hunderttausend Lehrer und Lehrerinnen arbeitslos sein müßten, wenn nicht gleichzeitig die Finanzminister der Länder und die jeweiligen Schul- und Kultusminister gezwungen gewesen wären, massenhaft Planstellen einzusparen bzw. keine neuen zu schaffen, obwohl in allen Schulen, besonders in den Grundschulen und den Hauptschulen, die Klassenstärke für eine sinnvolle pädagogische Arbeit viel zu groß ist. ({3}) Das Problem, dies zu lösen, trifft natürlich nicht nur den Bereich der Lehrer, sondern auch den Bereich der übrigen Auszubildenden, die keinen Beruf finden. Ich komme noch einmal auf das Beispiel der Werften zurück. Das Konzept, Ausbildung und Arbeit dadurch zu sichern, daß man Arbeitsplätze vernichtet, führt auch dazu - in diesem Fall ganz sicher -, Ausbildungsplätze für zukünftige Berufe im metallverarbeitenden Gewerbe und in entsprechenden Gewerbezweigen, die in der Werftindustrie beheimatet sind, zu vernichten. Diese Ausbildungsplätze wird man nicht haben können. Da erinnere ich an den Vorschlag, den Dieter Burgmann von unserer Fraktion hier in der Debatte um die Werften gemacht hat, daß Ausbildungsplätze - das scheint mir das Entscheidende zu sein - auch und gerade bei einer alternativen, womöglich arbeitsintensiveren, weniger rationalisierbaren Produktion in diesen Bereichen geschaffen werden können. ({4}) Derartige Alternativen sollten überlegt und von der Bundespolitik entwickelt und unterstützt werden. Das wäre eine notwendige und sinnvolle Aufgabe über alle anderen Aufgaben hinaus. - Ich danke Ihnen. ({5})

Richard Wurbs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002576

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. September 1983, 9 Uhr ein. In der Aussprache wird morgen Tagesordnungspunkt 1 abgehandelt. Die Sitzung ist geschlossen.