Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat wird vorgeschlagen, in der Sitzungswoche ab dem 5. September 1983 - dies ist die erste Sitzungswoche nach der Sommerpause - mit Rücksicht auf die für diese Woche vorgesehenen Haushaltsberatungen keine Fragestunde durchzuführen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Lehrstellensituation in der Bundesrepublik Deutschland
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Lehrstellensituation in der Bundesrepublik Deutschland" verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Wer wünscht das Wort? - Bitte sehr, Herr Abgeordneter Vogelsang.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Akutelle Stunde aus drei Gründen beantragt.
Erstens. Der Deutschen Bundestag kann nicht in eine längere Sitzungspause eintreten, ohne über die - Originalton des BMBW - schlimmen Zahlen im Bereich der beruflichen Bildung zu diskutieren und Konsequenzen zu ziehen. Es kann nicht sein, daß im Deutschen Bundestag ausführlich über Jugendprotest im demokratischen Staat beraten wird und wir uns anschließend über eine der Ursachen ausschweigen.
({0})
Zweitens. Die Bundesregierung muß an die gegebene Ausbildungsplatzgarantie erinnert werden. Ich verweise dabei - ich will das meinem Nachfolgeredner gern hierlassen - auf eine Anzeige der CDU aus der Zeit des Wahlkampfs. Das heißt: In diesem Jahr müssen 685 000 Ausbildungsplätze bereitstehen.
Wir wollen im Interesse der jungen Menschen und ihrer Eltern die Bundesregierung daran hindern, ihre Geschäftsgrundlage der Ausbildungsgarantie weiter zu verlassen.
({1})
Denn bei der Garantieerklärung war nicht die Rede vom Abbau des Jugendarbeitsschutzgesetzes, des Schwerbehindertengesetzes und einer Änderung der Arbeitszeitordnung zu Lasten der Betroffenen.
({2})
Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, haben eine Bringschuld gegenüber den jungen Menschen.
({3})
Auf einen möglichen Einwand, es sei noch nicht die Zeit, eine Bilanz zu ziehen, sage ich Ihnen: Wir wollen auch verhindern, daß Sie im Herbst eine Bilanz vorlegen müssen, die das Unternehmen Ausbildungsplatzgarantie als konkursreif ausweist.
({4})
- Ich denke, bei der Verhinderung müssen Sie doch interessiert sein!
Wir wollen aber auch verhindern, daß Sie der Versuchung erliegen, die Bilanz zu verschleiern. Die jungen Bürger dürfen nicht verkohlt werden.
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Fehlende Ausbildungsplätze dürfen nicht dazu führen, daß die jungen Menschen, die dann auf der Straße stehen, einfach zu Ausbildungsunwilligen oder Ausbildungsunfähigen erklärt, also gewissermaßen abgebucht werden.
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Erinnern darf ich Sie auch daran, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: In Ihrer Großen Anfrage zur Ausbildungsplatzsituation vom 2. Juni 1982 - und das ist j a noch keine graue Vorzeit - haben Sie ein ausreichendes Angebot wohnortnaher und geeigneter Ausbildungsplätze verlangt.
({7})
Von mehr Mobilität der Jugendlichen - Wohnort: Flensburg; Ausbildungsplatz: Rosenheim - war da noch nicht die Rede.
Drittens. Wir machen Ihnen aber auch ein Angebot - meine Kolleginnen und Kollegen werden Ihnen dieses Angebot vortragen -, nämlich ein Angebot, der Misere um der jungen Menschen willen zu entgehen.
({8})
Es liegt dann an Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, kleinlich an diesen Vorschlägen herumzunörgeln oder mit anzupacken, wie der Bundeskanzler es in der Regierungserklärung j a von allen erwartet hat, wahrscheinlich dann j a auch von Ihnen.
({9})
Das System der dualen Berufsausbildung darf nicht zu einem System mit beschränkter Zulassung oder die Ausbildungsgarantie darf nicht zu einer Situation mit beschränkter Haftung verkümmern.
({10})
Wir wollen mit unseren Vorschlägen, die wir gleich zu machen haben, Ihre Bereitschaft wecken, daß Sie auch Ihrerseits Vorschläge machen, um einer Ausbildungsplatzmisere im Herbst dieses Jahres zu entgehen. Der Zustand ist sehr ernst. Wenn wir hierin übereinstimmen, dann, denke ich, müssen auch Sie Vorschläge machen, um dem Ernst dieser Lage gerecht zu werden.
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Das Wort hat der Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut mir leid, daß ich dem Vorsitzenden unseres Ausschusses sagen muß, daß ich das, was er gesagt hat, fast als makaber empfinde, denn ich frage mich, Herr Vogelsang: Wollen Sie eigentlich den jungen Leuten helfen, oder wollen Sie dem Bundeskanzler Kohl ans Leder?
({0})
Es war doch offensichtlich, daß Sie hier einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.
({1})
Sie wollen in Wahrheit überhaupt nicht die Probleme lösen, sondern Sie wollen hier eine politische Diskussion am falschen Ort vom Zaune brechen.
({2})
Sie haben gesagt, Sie hätten uns gleich ein Angebot zu machen. Ich denke, das Angebot, das Sie uns machen werden, besteht darin, daß Sie uns den Antrag, den Sie eingebracht haben und von dem wir schon in der Zeitung lesen konnten, hier noch einmal erläutern. Dann darf man doch vielleicht fragen: Was haben Sie denn von den Maßnahmen, die Sie jetzt hier noch einmal vorschlagen, in den letzten 13 Jahren alles verwirklichen können?
({3})
Weshalb haben Sie das, was Sie jetzt in Ihrem Antrag vorschlagen, in den letzten 13 Jahren nicht getan?
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Es muß doch so sein, daß Sie auf irgendeinem Planeten herumgemacht haben, aber Sie waren doch hier in Bonn und haben regiert. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, weshalb Sie jetzt mit diesem Antrag kommen, und warum Sie das, was Sie jetzt vorhaben, nicht schon damals geleistet haben.
({5})
Ich möchte im übrigen noch eine dritte Bemerkung zu dem machen, was Sie vorschlagen. Wir Unionsabgeordneten laufen nun von Nord bis Süd herum und versuchen, den Ausbildungsmarkt in Bewegung zu halten.
({6})
- Entschuldigen Sie einmal, da machen Leute Ausbildungsmarktkonferenzen und Ausbildungsbörsen, und Sie lachen darüber. Sie sitzen hier und reden und machen überhaupt nichts! Das müssen Sie sich doch einmal sagen lassen.
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Daß der Ausbildungsmarkt in Bewegung ist, ist doch wohl nicht zu bestreiten. Ich will Ihnen einmal meine Heimatzeitung vom Dienstag, dem 21. Juni mitbringen. Da hat das Arbeitsamt - zusammen mit dieser Zeitung; übrigens kostenlos - auf einer halben Seite abgedruckt, welche Lehrstellen jetzt noch angeboten werden.
Nun helfen Sie doch einmal, den Betrieben, die Sie in den letzten Jahren beschimpft haben, wieder Mut zu machen, damit sie mithelfen, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Ich bin doch selbst Einzelhändler, und ich kann mich gut daran erinnern, was Sie uns alles vorgeworfen haben. Sie haben gesagt, wir seien Ausbeuter. Sie haben die Lehrlinge gegen uns aufgehetzt,
({8})
und Sie haben systematisch dafür gesorgt, daß manche, die das noch konnten, gesagt haben: Jetzt werfe ich die Kelle weg; jetzt macht doch euren Dreck alleine. - So ist es doch gewesen.
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Jetzt wundern Sie sich über das, was nach 13 Jahren passiert ist.
({10})
Dann haben Sie doch auch die demographische Welle kommen sehen. Weshalb haben Sie denn da nicht rechtzeitig gegengesteuert? Sie haben gesehen, daß es eine Pleitewelle gab. Sie haben in der Regel den großen Betrieben geholfen; Sie haben nicht den Kleinen geholfen, die die Ausbildung in diesem Land leisten.
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Deshalb verstehe ich Ihre gesamte Aufregung jetzt nicht. Sie haben im übrigen im Ausschuß auch noch zugestimmt, daß wir uns im Herbst über die Bilanz unterhalten werden.
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Nun möchte ich ganz gerne etwas zu dem sagen, was auch wir tatsächlich als Problem sehen. Meine Damen und Herren, es gibt ein Problem bei zwei Gruppen von jungen Leuten, und deshalb, meinen wir, sollten wir über diese beiden Gruppen in den nächsten Monaten reden. Wir sollten versuchen, vom Bund aus Mittel bereitzustellen, um ihnen zu helfen.
({13})
Die eine Gruppe sind die jungen Leute, die ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind, die aber in Gegenden wohnen, wo es nicht genug Ausbildungsplätze gibt, weil es dort die Firmen nicht mehr gibt, die ausgebildet haben. Die sind weg. Die sind von der Pleitewelle weggespült worden.
Die zweite Gruppe sind diejenigen,
({14})
die als Mädchen, die als junge Ausländer, die mit einem Handicap versehen
({15})
- mangelnde Schulabschlüsse, liebe Frau Beck, Sie sind doch Lehrerin, Sie wissen das doch alles besser -,
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die nicht weiterkommen, weil sie von anderen verdrängt werden. Für beide Gruppen sollten wir Sonderprogramme entwickeln. Wir wollen die Bundesregierung darin unterstützen, damit sie für diese Gruppen mehr tun kann, daß sie mehr überbetriebliche Ausbildung einrichtet.
Darin sind wir uns doch übrigens mit Ihnen einig. Im Unterschied zu Ihnen werden wir das jetzt auch tun. Ich bitte Sie, uns in den nächsten Wochen und Monaten dabei zu unterstützen, diese Politik einzuleiten. Im übrigen sind wir uns doch vielleicht einig, wenn ich einem 16jährigen oder 17jährigen nach seiner Schulausbildung -
Herr Abgeordneter Daweke, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es für etwas verfehlt, wenn im Zentrum unserer heutigen Auseinandersetzung um die Lehrstellensituation wirklich stehen sollte, einander mit verharmlosenden oder dramatisierenden Mitteilungen zu bombardieren. Jeder von uns weiß, auf welch schwankenden Grundlagen die Zahlen beruhen, mit denen wir uns immer beschäftigen. Das fängt schon an mit den Modellrechnungen, es fängt an mit den sehr mangelhaften Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit, es fängt auch an mit den Zahlen, die aus den Kammerbezirken gemeldet werden.
Meine Damen und Herren, jeder weiß, daß sich hinter der einen wie hinter der anderen Zahl Dunkelziffern verbergen. Das brauchen wir uns hier nicht mitzuteilen. Es ist überhaupt nicht zu leugnen, daß z. B. die Zahlen der Bundesanstalt - auch wenn man sie wie ich nur als Indikatoren verwendet - keinerlei Anlaß zu irgendeiner Beruhigung oder Entwarnung bieten.
Meine Damen und Herren, es geht mir auch um die methodische Reinheit unserer Auseinandersetzung. Aber andererseits dürfen natürlich auch die positiveren Zahlen nicht unberücksichtigt bleiben. Es ist eine Tatsache, daß bis Ende Mai nach den Angaben des DIHT die Zahl der neu registrierten Ausbildungsplätze gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres um rund 10 % gestiegen sind. Immerhin sind dabei 56 von 69 Kammerbezirken erfaßt. Aus dem Bereich der Handwerkskammern hört man ähnliches.
Man kann das alles natürlich positiv oder negativ interpretieren. Man kann die Frage stellen, ob sowohl die natürlich alarmierenden Vergleichszahlen der Bundesanstalt im Verhältnis zum Vorjahr als auch die positiveren der Kammern darauf zurückzuführen sind, daß die Meldungen der Jugendlichen bei den Arbeitsämtern angesichts der drängenden Situation in diesem Jahr sehr viel früher erfolgt sind und damit natürlich auch die Abschlüsse der Ausbildungsverträge. Dann spielt die sogenannte Einschaltquote eine Rolle. Ich brauche das alles nicht zu wiederholen, höchstens für die, die es nicht wissen. Es ist komplizierter, als es sich in Ihren plakativen Darstellungen ausmacht.
Aber, meine Damen und Herren, die Ehrlichkeit gebietet es natürlich zu sagen, daß wir heute nicht in der Lage sind, das Ergebnis so oder so vorauszusagen. Da gebietet es die Sorge, die wir natürlich um das gemeinsame Ziel haben, eher mit Vorsicht und auch mit Skepsis als mit Euphorie an die Prognosen heranzugehen. Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, daß wir nicht zu Buchhaltern der Ausbildungsstellenbilanz verkümmern sollten.
Meine Damen und Herren, bei allen Diskussionen heute abend - heute morgen, Entschuldigung - ({0})
Wenn man sich gründlich vorbereitet, meine Damen und Herren, dann denkt man die ganze Nacht über die Zahlen nach.
({1})
Bei allen Diskussionen spielt natürlich die Zusage der deutschen Wirtschaft, zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, eine große
Rolle. Mit Recht; denn damit hat die deutsche Wirtschaft eine neue Bewährungsprobe übernommen. Ich zweifle nicht an den Anstrengungen, die in dieser Hinsicht unternommen werden. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, welch großes Verantwortungsbewußtsein hier unter Beweis zu stellen ist. Aber eine globale Zusage kann natürlich regionale, sektorale und sonstige besondere Schwierigkeiten nicht ohne weiteres ausgleichen. Das ist ja sonnenklar. Deshalb müssen in dieser Hinsicht alle Vorschläge sehr gründlich geprüft werden.
({2})
- Ich empfehle, auf das zu hören, was ich so sage: daß alle Vorschläge gründlich geprüft werden sollen. Wenn ich ein Auszubildender wäre, der keine Stelle hat, und ich hätte die Gelegenheit, Sie von vorne zu sehen, dann wäre ich doch sehr um Ihren Ernst besorgt.
({3})
Wenn in dieser Aussprache - was ich Herrn Vogelsang abnehme - das Ziel verfolgt wird, noch einmal die Gelegenheit wahrzunehmen, auf dieses wirklich - ich betone es - bedrängende und bedrückende Problem aufmerksam zu machen, dann bin ich sehr dafür, daß wir hier in allem Ernst sprechen. Aber ich bin nicht dafür, daß wir diese Debatte zum Schauplatz von Witzen machen, mit denen kein Ziel verfolgt wird.
({4})
Was der Arbeitgeberverband Lüneburg in einem Brief an seine Mitglieder geschrieben hat - ich zitiere das nur beispielsweise -, gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern das gilt natürlich auch für Bund, Länder und Gemeinden. Er schreibt:
Setzen Sie Ihre bisherigen Ausbildungsanstrengungen fort. Prüfen Sie, ob nicht eine Bereitstellung weiterer Ausbildungsplätze möglich ist. Die Hoffnung der Jugendlichen darf nicht enttäuscht werden. Denken Sie auch daran, daß in wenigen Jahren die geburtenschwachen Jahrgänge nachrücken. Lehrlinge werden dann fehlen. Helfen Sie jenen, die es besonders schwer haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Meine Damen und Herren! Ich finde es geradezu schamlos, wenn davon gesprochen wird, daß Lehrlinge in der letzten Zeit aufgehetzt worden seien;
({0})
denn das sind junge Leute, die sich mit bitteren Erfahrungen herumschlagen müssen, mit dem Gefühl der Nutzlosigkeit, nämlich in dem Moment, wo sie keine Lehrstelle bekommen.
In den vergangenen drei Monaten hat Herr Lambsdorff grundlegende Verbesserungen der wirtschaftlichen Wachstumsbedingungen beschworen, und Herr Kohl wirbt um eine „Jugend mit Selbstvertrauen". Herr Strauß steuert dazu bei - ich zitiere -: „Wir brauchen eine Jugend, die mit der ihr zustehenden Fröhlichkeit j a sagt zum Leben, zur Zukunft und zur Geschichte."
({1})
Wie diese Fröhlichkeit dann in der Realität aussieht, das wissen Sie, wenn Sie mit jungen Leuten zu tun haben.
Ich möchte jetzt nur einen Aspekt herausgreifen, der seltsamerweise - vielleicht auch bezeichnenderweise - immer nur in Halbsätzen angesprochen wird, nämlich daß sich die Chancen für junge Mädchen und Frauen auf dem Arbeitsmarkt nach einer EG-Untersuchung zunehmend verschlechtern.
({2})
Ich habe Zahlen des Arbeitsamtes Pforzheim. Das Verhältnis von Lehrstellen zu Ausbildungssuchenden sieht folgendermaßen aus: für Jungen 1 : 3,5 bis 4 und für Mädchen 1 : 12. 1 : 12!
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Das heißt, wir haben wieder die alte Situation: eine Hierarchie setzt sich durch, frei nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, nämlich zuerst kommen die Herren der Schöpfung, und dann kommt das schwache Geschlecht.
Dazu wird die entsprechende Ideologie von Herrn Kohl geliefert, dem Wendekanzler, der geistig-moralisch erneuert, und zwar in dem Sinne: Wir haben wieder das traditionelle Bild von der Frau, Hausfrau und Mutter, körperlich schwach und schonenswert, natürlich ein bißchen weniger leistungsfähig, vielleicht auch ein bißchen weniger intelligent.
({4})
Also kein so rechter Partner. Deswegen kann man die Frauen bei der Ausbildungswahl auch hintanstellen.
Es hätte dem Kanzler, wenn er die geistige Führung beschwört, gut angestanden, seiner Klientel einmal zu sagen: Wir brauchen Ausbildungsplätze vor allen Dingen für Mädchen und Frauen; denn wir leben in einer Zeit, in der Mädchen und Frauen berufstätig sind und in der man sie nicht mehr in die Küche zurückschicken kann.
({5})
Statt dessen werden Mädchen in minderqualifizierte Bereiche abgeschoben, und zwar in den Dienstleistungssektor und in kaufmännische Berufe. Die gewerblich-technischen Berufe bleiben gemäß dieser Ideologie den Männern vorbehalten, denn sie sollen ja später einmal die Ernährer der Familie sein.
Hier setzt auch der Teufelskreis ein: Zu dieser ideologischen Benachteiligung kommt eine durch wirtschaftspolitische Entwicklung bedingte Benachteiligung hinzu; denn die von Herrn Lambsdorff beschworene Wachstumsideologie zieht einen Investitionsschub besonders im Bereich der neuen Technologien nach sich. Dadurch werden gerade in frauFrau Beck-Oberdorf
entypischen Bereichen Arbeitsplätze wegrationalisiert. Das heißt auch, daß die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen gerade in diesen Bereichen - Mikroelektronik, EDV und ähnliches mehr - abnimmt. Daher kommt zunehmend dieses erschreckende Mißverhältnis von 1 : 12.
Insofern sind in der Tat bei dieser Politik die Mädchen die doppelten Verlierer: zum einen durch die Ideologie „Geht wieder nach Hause!", zum zweiten durch die wirtschaftspolitische Entwicklung, die gerade im kaufmännischen Bereich und im Dienstleistungsbereich Arbeitsplätze wegrationalisiert.
Ich denke, daß man, wenn man wirklich ernsthaft an die Beseitigung dieser Misere für die jungen Frauen und Mädchen gehen will, auf der einen Seite die ideologischen Wurzeln solch einer Benachteiligung wirklich angehen muß - das erwarten wir von dieser Regierung nicht -, daß man auf der anderen Seite die wirtschaftlichen Strukturen ändern muß, die den Einsatz arbeitsplatzvernichtender Technologien bedingen. Zum dritten darf man die Ausbildung nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen,
({6})
sondern man muß Ausbildung genauso als ein Recht betrachten wie das Recht auf Schulausbildung. Das ist der wichtige Punkt, der angegangen werden muß.
Ich möchte von diesem Platz aus alle Mädchen aufrufen: Weigert euch, euch auf schlechte Ausbildungsplätze abzuschieben zu lassen, und weigert euch, euch zur Reservearmee für die Wirtschaft machen zu lassen!
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dieser frühen Stunde müssen wir des Bundeskanzlers entraten; er frühstückt offensichtlich.
({0})
- Ich finde das nicht so heiter. Dieser Bundeskanzler hat den Jugendlichen dieser Republik Hoffnung gemacht,
({1})
und er ist bei dieser Aussprache nicht da.
({2})
Wir werden uns erlauben, wenn er nicht bald kommt, auf § 42 der Geschäftsordnung zu rekurrieren. Wir werden ihn bitten, daß er erscheint.
({3})
Ich gebe ja zu, daß Frühstücken besser ist.
({4})
Seien wir ehrlich: Es ist sehr viel einfacher, einen Bäckerlehrling eine Stunde früher in die Backstube zu scheuchen, als hier im Plenum zu tagen!
({5})
Sie haben, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, heute eine Chance, nicht nur über die beklagenswerte Situation auf dem Ausbildungsmarkt zu lamentieren, sondern Sie könnten gemeinsam mit uns Schritte zu einer Besserung der Situation tun, rechenbare Schritte. Meine Fraktion hat sie in dem Sofortprogramm „Jugendarbeitslosigkeit" vorgelegt.
({6})
- Ja, 1,7 Milliarden DM. Das stimmt. Ich darf Ihnen die Eckwerte des Programms noch einmal in die Erinnerung heben. Mit diesen 1,7 Milliarden DM würden wir 150 000 Jugendlichen helfen, 150 000 Einzelschicksalen.
({7})
Da bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als einen dämlichen Zwischenruf zu machen.
({8})
Wir haben unser Programm Punkt für Punkt vorgestellt. Sie wissen - es ist eine Drucksache dieses Hauses -, wie das geschehen könnte. Wir haben unterstellt, daß ein gleichgeartetes Bemühen von Bund, Ländern und Gemeinden stattfinden müßte, um der Not der Jugendlichen in diesem Land gerecht zu werden. Wir hatten Sie gebeten, mit uns gemeinsam darüber nachzudenken, wie man 1,7 Milliarden DM vernünftig verwendet.
Wenn Sie fragen, woher wir diese Summe nehmen, sage ich Ihnen das: Dann verzichten wir doch darauf, den Reichen in dieser Republik 1,7 Milliarden DM über die Vermögensteuer in den Hintern zu pusten!
({9})
Wenden wir das Geld doch bitte für die Jugendlichen auf!
({10})
Aber vermutlich gibt es bei Ihnen ein paar, die meine Ausführungen „demagogisch" nennen.
({11})
Doch ich würde Sie um Verständnis dafür bitten, daß mich schön langsam die Bitterkeit übermannt. Wir haben ein Problem, das von Monat zu Monat wächst: Von Monat zu Monat steigt die Zahl der Arbeitslosen, und von Monat zu Monat hören wir von Ihnen,
({12})
das müsse - geordnet werden.
({13})
- Sie haben uns doch versprochen, daß durch den Machtwechsel am 6. März alles ganz anders wird!
({14})
Aber die einzige verläßliche Zuwachsrate Ihrer Regierung ist die der Zahl der Arbeitslosen.
({15})
Und der Herr Bundeskanzler frühstückt noch immer!
({16})
Ich darf mit Bitterkeit dieses Podium räumen und hoffen, daß Sie darüber endlich einmal nachdenken.
({17})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört sicher zu den großen Herausforderungen dieser Zeit, jungen Menschen Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze zu verschaffen und ihnen damit Hoffnung zu geben.
({0})
- Ja, ich komme gleich dazu. - Dazu sind wir alle aufgerufen.
Meine Damen und Herren, die Jugendarbeitslosigkeit ist aber ein Teil der Arbeitslosigkeit, und wir müssen deutlich erkennen, daß - da beißt keine Maus den Faden ab - in den 70er Jahren viele Unternehmen wegen einer verfehlten Politik ihre Tore schließen mußten.
({1})
Sie, meine Damen und Herren, haben Betriebe und damit Ausbildungsplätze vernichtet!
({2})
Ich will nur die Zahlen der beiden letzten Jahre nennen: Im Jahre 1981 waren es 12 000 Unternehmen, 1982 waren es sogar 16 000, und nicht die schlechtesten; die hatten nämlich Ausbildungsplätze.
({3})
Es sind damit durch Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik Ausbildungsplätze verlorengegangen,
({4}) die Sie nicht mehr zurückholen können.
({5})
Dennoch, meine Damen und Herren, bemühen sich Wirtschaft, Handel und Handwerk, zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen. Allein im Handwerk - Stand: 31. Dezember 1982 - bestehen Ausbildungsverhältnisse von 666 523. Ich bringe bewußt diese Zahlen, um das einmal deutlich zu machen. Wie war es 1968 oder 1969? Ich bin seit Anfang der 50er Jahre in diesem Ausbildungsgeschäft, allerdings draußen als Meister.
({6})
- Ja, manchmal ist bei den Meistern der Blick nicht so verstellt, wie es hier der Fall ist. Das sage ich hier ganz offen.
({7})
Wir hatten 1968/69 ein Angebot von über 640 000 Ausbildungsplätzen. Durch Ihre verfehlte Politik, z. B. durch die ausbildungshemmenden Erlasse,
({8})
haben Sie dieses Angebot bis Mitte der 70er Jahre auf knapp über 300 000 heruntergedrückt. Das ist eine Tatsache!
({9})
Meine Damen und Herren, nur durch nachdrückliches Bemühen - auch das Bemühen dieses Kanzlers - ist es nun gelungen zu erreichen, daß die Wirtschaft bereit ist, zusätzliche Ausbildungsplätze anzubieten.
({10})
- Nun meckern Sie nicht über diesen Kanzler! Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich bin seit 1950 als Ausbilder tätig, und es hat in dieser Bundesrepublik Deutschland noch keinen Kanzler gegeben, der sich so um die Auszubildenden bemüht, der sich so um die Jugendlichen bemüht, der sogar jedem einzelnen Fall nachgeht. Das hat es noch nicht gegeben!
({11})
Nun wäre j a - ({12})
- Herr Lutz, lassen Sie das doch mit dem Frühstücken, falls das der Fall ist. - Sie operieren mit der Statistik und machen damit Stimmung. Meine Damen und Herren, wie ist es denn nun wirklich? Das, was bei der Arbeitsverwaltung gemeldet ist, liegt doch weit unter dem, was als Angebot wirklich vorliegt. Nur 78 % waren 1980/81 registriert, nur 72% waren es 1982, und nur 70% lassen sich überhaupt bei der Ausbildungsberatung informieren; die anderen gehen unmittelbar zu den Unternehmen. Konkretiesierte Zahlen werden wir erst im September vorliegen haben. Meine Damen und Herren, was soll die Panikmache, wo Hoffnung am Platze wäre?
({13})
Wir haben Wege beschritten. Sie haben nichts getan. Sie tun nichts zu Hause, Sie tun nichts in Ihren Wahlkreisen.
({14})
Wir haben hier Modelle aufgebaut. Wir bemühen uns permanent. Auch Herr Fraktionsvorsitzender Dregger hat hier noch einmal nachdrücklich jeden einzelnen Abgeordneten aufgefordert. Ich weiß, was dort erwirkt wird. Wir müssen im Einzelfall helfen. Jeder einzelne Jugendliche ist wichtig, meine Damen und Herren. Es geht hier nicht um Hunderttausende, es geht um jeden einzelnen Fall, und darum müssen wir uns kümmern.
({15})
Meine Damen und Herren, ich erinnere an CDU-Maßnahmen wie das Mühlheimer Modell, ich erinnere an unsere Ausbildungsplatzbörsen. Eben weil die Arbeitsverwaltung das nicht schafft, nicht alles packt, müssen wir mit einstehen.
({16})
Meine Damen und Herren, hier hilft nicht die Kritik der Opposition, hier hilft nur das gemeinsame Anpacken. Meine Damen und Herren, ich habe manchmal das Empfinden, Sie sind gar nicht daran interessiert, daß diese Frage geregelt wird. Sie wollen nur den Kanzler vorführen.
({17})
Und das, meine Damen und Herren, wird Ihnen nicht gelingen. Das werden wir bis Ende des Jahres regeln. Nachdem die endgültigen Zahlen vorliegen, werden wir entsprechende Maßnahmen weiter einleiten. Wir werden auch die ausbildungshemmenden Vorschriften beseitigen - das nehmen Sie zur Kenntnis -, damit endlich wieder die in den Stand versetzt werden, auszubilden, die in der Vergangenheit leider das Handtuch geworfen haben, weil Sie eine überzogene Gesetzgebung aufgezäumt haben.
({18})
Das Wort hat Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausbildungsstellensituation bietet zur Zeit ein sehr kontroverses Bild. Das wird auch nicht klarer, wenn Sie so laut schreien wie heute morgen. Vielleicht liegt das an der sommerlichen Hitze.
Wie wir alle wissen, geben die neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit über die Ausbildungsplatzsituation - in der Form der Geschäftsstatistik - nur ein sehr, sehr grobes Bild der tatsächlichen Situation. Wir wissen, daß sich fast alle Jugendlichen bei der Arbeitsverwaltung melden, wir wissen, daß sich die Jugendlichen zum größten Teil nicht mehr abmelden, wenn sie Arbeitsverträge geschlossen haben, und wir wissen, daß sich die Betriebe fast überhaupt nicht mehr bei der Arbeitsverwaltung melden.
({0})
In zunehmendem Maße zeigen sich dadurch sehr unterschiedliche Einschätzungen der derzeitigen Situation; denn neben den negativen Arbeitsamtsgeschäftsstatistiken stehen positive Meldungen über die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Kammerbereich. So hat z. B. eine Ifo-Untersuchung über die Ausbildungsplatzsituation ergeben, daß es offensichtlich noch ein großes Potential für mobilisierbare Ausbildungsplatzreserven gibt. Steigerungsraten von 5 % sind zu erwarten. Die Spitzenorganisationen der Wirtschaft erklären bis zum heutigen Tag, daß durch erneute Mobilisierungsanstrengungen die Zusage der Wirtschaft eingehalten wird. Die Bundesregierung hilft bei dieser Mobilisierungskampagne durch die Anregung und Durchführung von regionalen Ausbildungsplatzkonferenzen; denn unser Ziel muß sein - im Gegensatz zu Ihren Ambitionen -, alle Beteiligten in der Region an einen Tisch zu bekommen. Nur miteinander ist die schwierige Aufgabe hinsichtlich der Ausbildungsplatzsituation zu erledigen, nicht durch billige Polemik.
({1})
Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft hat in den letzten Tagen Einzelumfragen bei den Kammern gemacht. Ich darf Ihnen sagen, daß bei allen Kammerbezirken die Zahl der abgeschlossenen Verträge bis zum heutigen Zeitpunkt über der Zahl der abgeschlossenen Verträge im Vorjahr liegt. Nehmen Sie das bitte doch endlich mal zur Kenntnis!
({2})
So liegt z. B. ausgerechnet im Ruhrgebiet, einer unserer schwierigsten Regionen, die Zahl der heute abgeschlossenen Ausbildungsverträge bereits um 14,23 % über der Zahl des Vorjahres.
({3})
Die Kammer Duisburg, die Kammer Köln liegen mit ihren Zahlen über 20 % höher als im Vorjahr. Die Kammern des Landes Schleswig-Holstein liegen mit ihren Zahlen um 16% über der Zahl der Ausbildungsverträge im vergangenen Jahr.
({4})
Frau Bundesminister, ich darf bitten, daß die Damen und Herren ihre Aufmerksamkeit diesen Ausführungen widmen. Frau Abgeordnete, bitte nehmen Sie Platz.
Ich bitte fortzufahren.
Wenn man sachlich über die Dinge redet, findet das anscheinend kein Interesse.
({0})
Vielleicht darf ich auch noch sagen, daß der gesamte Bereich der Industrie- und Handelskammern damit rechnet, daß wir zu einer 10%igen Steigerung kommen. Der Handwerksbereich hat uns durch seinen Präsidenten Schnitker wissen lassen, daß man eine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze um zehntausend, d. h. um weit über 5 %, für realistisch und machbar hält. Meine Damen und Herren, nehmen wir doch endlich einmal auch diese Bemühungen zur Kenntnis! Es ist unsere Aufgabe sowohl als Bundesregierung als auch als einzelne Abgeordnete als auch als Fraktion - ich denke, auch als Oppositionsfraktion -, daß wir die Wirtschaft hier in ihren Bemühungen unterstützen.
({1})
Wenn Sie immer nur - das haben Sie in früheren Jahren auch schon gemacht und damit dazu beigetragen, daß in vielen Jahren die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zurückging ({2})
Negativzahlen vor sich hertragen, dann tragen Sie damit - ({3})
Entschuldigen Sie, Frau Bundesminister! - Herr Abgeordneter Egert, ich bitte, diese Zwischenrufe nicht in der Form zu machen, daß sie für den Redner als störend empfunden werden müssen und die Verhandlungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden können. Ich bitte Sie.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist einfach so, und das ist auch ein Punkt der politischen Psychologie: Wenn Sie nur Negativzahlen vor sich hertragen, tragen Sie damit zur weiteren Verunsicherung der Jugend bei.
({0})
Sie helfen der Jugend nicht, sondern Sie verunsichern sie, Sie bringen sie weiter in eine Angstpsychose hinein, statt - auch durch viele Einzelaktionen - zu helfen, daß wir das schwierige Problem lösen.
({1})
Erlauben Sie mir hier auch eine Bemerkung zu Ihrem Antrag, den Sie gestern hier eingebracht haben. Ihre Maßnahmen sind in vielen Punkten überhaupt nicht präzise beschrieben,
({2})
sie sind in ihrer Quantifizierung und Qualifizierung sehr, sehr willkürlich und punktuell und lassen einen Gesamtrahmen vermissen. Wichtig ist - das wissen Sie auch, und die Fachleute unter Ihnen wissen das -, daß man durch die Annoncierung von
bestimmten Maßnahmen, durch die Erweckung des Eindruckes, man könne nur mit staatlichen Maßnahmen zum Ziel kommen, die Wirtschaft zum Attentismus verführt, und das ist genau das Falsche, das brauchen wir nicht.
({3})
Ich bedanke mich sehr herzlich bei der Fraktion der CDU/CSU, bei der FDP und bei vielen, vielen einzelnen Kollegen, die durch mühsame, aber sehr erfolgreiche Einzelmaßnahmen versuchen, den einzelnen Jugendlichen Chancen zu geben, die Beteiligten an einen Tisch zu setzen und durch gezielte Hilfen der Probleme Herr zu werden.
Ich möchte von dieser Stelle auch noch einmal an die Betriebe der Wirtschaft appellieren, ihre Bemühungen zu verstärken, zusätzliche Angebote bereitzustellen, und ich möchte noch einmal an die Jugendlichen appellieren, nicht zu verzweifeln, wenn es beim ersten Ansturm und bei der ersten Bemühung nicht klappt, und flexibel zu sein.
({4})
- Ich weiß, wovon ich spreche, vielleicht besser als Sie.
({5}) Junge Leute müssen flexibel sein.
Ich bitte von dieser Stelle die jungen Menschen auch, daß sie sich sofort beim Arbeitsamt abmelden, daß sie Mehrfachbewerbungen zurückziehen, wenn sie mit einem Betrieb einen Vertrag abgeschlossen haben, damit wir eine klare Sicht der Dinge bekommen.
Wir werden im Laufe des Herbstes, zum 30. September, nicht eher und nicht später, festzustellen haben, wo noch Probleme sind, in den Regionen, bei Benachteiligten, bei Mädchen, und dann kann man überlegen, ob und wie von Bund, Ländern und Gemeinden noch zusätzliche Maßnahmen möglich und notwendig sind. Eher ist dieses, wenn man es realistisch anpackt, nicht möglich. - Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Frau Minister, irgendwie habe ich j a noch Mitgefühl mit Ihnen. Sie versuchen, von der schwankenden Treppe, die Sie unfreiwillig bestiegen haben, irgendwie wieder herunterzukommen.
({0})
Weil Sie die Verpflichtung, die der Bundeskanzler übernommen hat, ja nicht einlösen können, versuchen Sie auch heute morgen, statt konkret etwas vorzuschlagen, hier noch einmal Appelle auszusprechen, von denen wir wissen, daß sie längst nichts mehr nützen.
({1})
Ich will einmal positiv annehmen, daß die Zusage nicht nur eine Wahlkampfaktion war. Dann möchte ich aber mal wissen, wie Sie die 30 000 Ausbildungsplätze, die Sie zusätzlich zugesagt haben - eine Garantie haben Sie j a gegeben -, schaffen können.
({2})
- Sehen Sie, da kommt es: Jetzt wollen Sie plötzlich nur eine relative Garantie gegeben haben.
({3})
Jedenfalls gibt die derzeitige Situation zu Pessimismus - um es nicht härter auszudrücken - größten Anlaß. Da nützt es nichts, daß Sie Statistiken anzweifeln, dann aber schließlich doch von „schlimmen Zahlen" sprechen.
Sie haben von den Problemen vor Ort gesprochen. Ich mache vor Ort sehr viel; ich bin Berufsschulausschußvorsitzende und kann Ihnen aus der Praxis einiges erzählen, welche Schwierigkeiten die Wirtschaft mit dem Ideologiesschild „duale Ausbildung" macht.
({4})
Ich habe mich auch über die neuesten Zahlen informiert. In meiner Region haben von 4 000 Schulabgängern 900 noch keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, und davon sind 600 Mädchen. Die Schulbesucher, die die Schule nur als Parkstation benutzen, sind hier noch nicht erwähnt. Da gibt es keine Beschönigung und Bezweiflung der Statistik: Hinter jeder Zahl steckt ein persönliches Schicksal.
({5})
Wir haben uns in der Vergangenheit bemüht, Ausbildungsplätze für Mädchen zu bekommen. Hier gibt es einen Rückwärtstrend in die 50er Jahre, sowohl was die Zahl angeht, als auch was die Berufe angeht, die sie erlernen wollen.
({6})
Hier findet eine Verdrängung der Abgänger der Hauptschule durch Jugendliche von Gymnasien und Realschulen statt, erst recht aber auch von Mädchen durch Jungen.
({7})
Da kann man sich nicht darauf verlassen, daß sich das in den nächsten Monaten schon regeln wird, sondern da muß man sich der Verantwortung stellen. Man kann auch nicht nur die Verantwortung der Wirtschaft unterstreichen, die sie im dualen System ja tragen will. Wir haben sehr oft versucht, hier mit Verantwortung zu übernehmen. Sie haben das, nebenbei gesagt, abgelehnt.
Es nützt alles nichts, wir müssen die Jugendlichen aus der Hoffnungslosigkeit der nächsten Wochen schon jetzt befreien, nicht erst am 30. September.
({8})
Das ist auch der Sinn unseres Sofortprogramms: daß zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen und angeboten werden. Hier müssen alle schon vorhandenen Ausbildungsplätze genutzt werden. Ich bin sehr bedrückt darüber, daß man nicht erkennt, daß in Bundesbetrieben noch Ausbildungsstellen unbesetzt sind, die aber mangels Masse nicht besetzt werden dürfen,
({9})
weil der Haushalt im Augenblick keine Möglichkeit dazu gibt. Wir alle müssen uns diesen Problemen stellen.
Insbesondere müssen wir auch das Problem der Benachteiligten sehen. Sonst dürfen wir uns nicht wundern, daß wir keine Einsteiger, sondern nur Aussteiger haben. Wir dürfen auch nicht bis zum Herbst warten. Dann ist es zu spät. Sie haben gesagt: Jeder, der ausbildungswillig und -fähig ist, kriegt einen Ausbildungsplatz. Wir stempeln die jungen Menschen also heute schon ab, daß sie nicht ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind. Wir stempeln sie zu Außenseitern - eine ganz gefährliche Eingruppierung!
({10})
Ich denke, Frau Minister Wilms, es geht auch um Ihren Stellenwert. Denn sonst werden auch Sie hier unter Umständen abqualifiziert.
Wie ich höre, will sich der Kanzler im Herbst diesem Problem widmen. Er hätte trotz seines, wie ich erfahren habe, Termins in Nürnberg in dieser Situation heute hier bei dieser wichtigen Debatte anwesend sein können. Und wenn ich vom Pressesprecher am Wochenende hörte, er schliefe gut,
({11})
dann weiß ich nicht, ob er auch über den Sommer gut schlafen kann, ob er überhaupt seinen Urlaub in Ruhe verleben kann.
({12})
Und wenn ich von Mitgliedern der Regierungsparteien noch heute morgen höre, wir hätten gar kein Interesse, dann muß ich mich dagegen verwahren. Das ist eine Beleidigung. Wir haben sehr viel auf diesem Gebiet getan und werden es auch weiterhin tun.
({13})
Frau Dr. Wilms, wir bieten Ihnen die Hand zur Gemeinsamkeit an. Wir sind bereit, mit Ihnen schnellstens nach Lösungen zu suchen. Suchen Sie die Gemeinsamkeit, geben Sie der Jugend eine Chance für die Zukunft.
Frau Abgeordnete Steinhauer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dazu gehört, daß Sie die Dinge nicht verharmlosen, sondern zielstrebig nach
Lösungen suchen. Praktisches schnelles Handeln ist gefragt.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn diese Diskussion heute morgen tatsächlich dazu beitragen soll, daß zusätzliche Ausbildungsplatzreserven mobilisiert werden, dann sollten wir sie wirklich mit dem gebotenen Ernst führen.
({0})
Ich habe - vor allen Dingen aus den Beiträgen des Kollegen Lutz und - leider - auch der Frau Kollegin Steinhauer - mehr herausgehört, daß es sich hier eher um einen Schauantrag der SPD
({1})
als um eine ernsthafte Diskussion um die Probleme junger Menschen handelt.
({2})
Herr Lutz, ein Frühstück kann ungeheuer beruhigend sein. Es wäre sicherlich besser gewesen, Sie hätten heute morgen auch ausreichend gefrühstückt.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, wir alle wissen, daß die Ausbildungsplatzsituation letztendlich noch nicht beurteilt werden kann, weil es - das ist hier ja auch schon gesagt worden - immer noch Jugendliche gibt, die sich natürlich um mehrere Lehrstellen bewerben, die natürlich für sich erst einmal das Beste aussuchen wollen und natürlich erst dann, wenn sie einen Ausbildungsplatz gefunden haben, die anderen Lehrstellen freimachen. Ich appelliere hier noch einmal, daß dies möglichst schnell geschieht. Nur, alles das führt dazu, daß eben letztendlich nicht gesagt werden kann, wie die Situation im Herbst sein wird.
Aber eins möchte ich auch feststellen, Herr Kollege Daweke: Es hat noch niemals so viele Ausbildungsplätze gegeben wie im Moment. Das spricht eine sehr deutliche Sprache dafür, daß Handel, Handwerk und Industrie ihrer Verantwortung gegenüber der jungen Generation nachgekommen sind und daß sie sich bemühen und alles daran setzen werden, dieser Verantwortung auch weiterhin gerecht zu werden.
({4})
Wir müssen, meine Damen und Herren, natürlich auch selber unseren Beitrag leisten und uns prüfen, was wir noch zusätzlich tun können. Wir müssen zusätzlich mobilisieren in Regionalkonferenzen, wir können Ausbildungsplatzbörsen organisieren. Wir können natürlich die öffentliche Hand auf allen Ebenen auffordern und selbst dazu beitragen, daß zusätzliche Ausbildungsplätze vor allen Dingen in den Berufen zur Verfügung gestellt werden, die dann auch außerhalb des öffentlichen Dienstes gebraucht werden können. Aber - ich sage auch das hier in aller Deutlichkeit - wir können als öffentliche Hand damit natürlich keine Einstellungsgarantie verbinden.
({5})
Ich möchte nur daran erinnern, daß das Benachteiligtenprogramm bereits einmal aufgestockt worden ist. Ich bitte die Bundesregierung zu prüfen, ob es nicht möglich wäre, hier noch einmal aufzustokken.
({6})
Wir bitten die Bundesregierung, Hilfen vorzubereiten, vor allen Dingen bei regionalen Problemen, die im Herbst auf uns zukommen können. Wir bitten die Bundesregierung, Hilfen vorzubereiten, die dann einsetzen, um die wirklich Benachteiligten, nämlich Mädchen und Ausländer, auch tatsächlich in einem ausreichenden Maße in Ausbildungsplätze vermitteln zu können.
({7})
Frau Beck-Oberdorf, daß Frauen und Mädchen benachteiligt sind, ist überhaupt keine Frage. Daß sie besondere Schwierigkeiten haben, eine Ausbildungsstelle zu finden, ist auch keine Frage. Allerdings muß ich in aller Deutlichkeit feststellen - das ist auch im Bericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" nachzulesen -, daß alle Fraktionen dieses Hauses das Problem gleichermaßen sehen und dazu beitragen wollen, daß gerade Frauen und Mädchen nun endlich die Chancen bekommen, sich selbst auszusuchen, wo sie ihr Leben tatsächlich verbringen und wie sie es gestalten möchten. Dann muß man allerdings auch sagen, daß das, was sich an Schutzvorschriften und an ausbildungsplatzhemmenden Vorschriften entwickelt hat und aus anderen Zeiten noch übriggeblieben ist, jetzt endlich angegangen werden muß. Man darf sich dann nicht dagegen wehren, daß alles das überprüft wird, was sich bisher als ein Hemmnis dargestellt und letztlich verhindert hat, daß Frauen und Mädchen Ausbildung und Arbeit finden.
({8})
Meine Damen und Herren, wir wollen, daß die junge Generation - so schwierig das wird - auch diesen Herbst tatsächlich als einen Einstieg in ihr Leben, in diese Gesellschaft empfinden kann. Deshalb werden wir alles tun, damit allen Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden können.
({9})
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Lutz ({0}), der Herr Bundeskanzler befindet sich auf dem Flug zur Luther-Feier nach Nürnberg.
({1})
Es wäre Ihnen durch eine Nachfrage bei Ihrem Geschäftsführer Porzner leicht möglich gewesen, zu erfahren, daß dies bereits in der letzten Woche zwischen den Geschäftsführern abgesprochen war.
({2})
Beginnen Sie die Debatte über die Lage der Auszubildenden, über die Lage der Lehrlinge, nicht mit billigen Gags, meine Damen und Herren.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte in wenigen Worten unsere Position zu dieser uns alle bewegenden Frage deutlich machen.
Erstens. Wir setzen in dieser Frage auf Ermutigung und nicht auf Entmutigung.
({4})
Zweitens. Wir setzen auf Freiwilligkeit und nicht auf Zwang,
({5})
weil wir glauben, freiwillig entsteht immer mehr Initiative, mehr Kreativität, mehr Mitmachen. Ich glaube nicht, daß die Anklagebank der bevorzugte Platz ist, auf dem wir die Betriebe dazu bringen, mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir wollen hier die Ansteckungsgefahr der guten Beispiele vorführen, die von vielerorts zu liefern sind: Da machen 21 Mitarbeiter des Arbeitsamtes Bad Kreuznach einen ganzen Samstag Überstunden, einen Tag der offenen Tür, vermitteln kostenlos, ohne dafür durch Freizeit wieder etwas entschädigt zu werden. Das sind die guten Beispiele der Initiative, der Freiwilligkeit, des Mitmachens.
({7})
Da spenden die Priester des Bistums Essen einen Solidaritätsbeitrag, um 15 Lehrlingen einen Ausbildungsplatz zu schaffen. Das ist mehr als Ihr gesamtes Gerede.
({8})
Mit Worten ist keinem Lehrling geholfen. Taten wollen die jungen Leute sehen.
({9})
Deshalb geht mein Appell an alle, da darf sich niemand vom Spielfeld - ({10})
- Ich sage Ihnen gleich, was die Bundesregierung gemacht hat, sie hat nämlich mehr gemacht als Sie, Herr Egert. Wir haben ein Sonderprogramm für jugendliche Arbeitslose aufgelegt, das in diesem Jahr 205 Millionen DM und auch im nächsten Jahr 205 Millionen DM umfassen soll. Herr Abgeordneter Egert, wissen Sie, was Ihre Regierung in der mittelfristigen Finanzplanung für das nächste Jahr vorgesehen hat? 35 Millionen DM!
({11})
Das ist nur ein Sechstel. Kehren Sie vor Ihrer Tür, bevor Sie bei uns nachsehen.
({12})
Ich fürchte, auch dieser Vergleich interessiert die jungen Leute nicht. Sie wollen wissen, wie ihnen jetzt geholfen wird. Ich appelliere an jeden.
({13}) - Ja, das wollen sie.
Mein Beitrag richtet sich in erster Linie an diejenigen, die helfen können: die Arbeitgeber. Jedem Handwerker, der einen mehr ausbildet, als er ursprünglich vorhatte, sollten wir hier von diesem Pult aus unsere Anerkennung und unser Dankeschön sagen.
({14})
Die Politik besteht aus Kritik und Forderung. Sie muß allerdings auch aus Respekt, Dank und Anerkennung für die bestehen, die etwas tun. Das sollte heute morgen auch gemacht werden.
({15})
Die Bundesregierung hat ihren Beitrag geleistet. Obwohl sie unter dem Zwang knapper Geldmittel, leerer Kassen steht - was sie selber nicht verursacht hat -, hat sie dennoch die Mittel zum Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit erhöht.
({16})
Wir haben die ausbildungshemmenden Vorschriften beseitigt. Dabei sind wir - ({17})
Meine Damen und Herren, ich halte es in der Tat für ausbildungshemmend, wenn ein Tierpflegerlehrling erst um 7 Uhr am Ausbildungsplatz erscheinen kann, die Tiere richten sich nämlich nicht nach der deutschen Arbeitszeitordnung, sie werden schon ein bißchen früher wach.
({18})
Wenn der 16jährige im Krankenhaus erst um 7 Uhr erscheinen kann, sind manche Patienten schon im zweiten Schlaf.
({19})
Gott sei Dank haben wir Krankenhäuser, in denen dies möglich ist.
Unsere Philosophie ist: Lernen durch Mitarbeit. Das ist das ganze Erfolgsgeheimnis der deutschen Berufsausbildung.
({20})
Ich weiß, daß es andere gibt, die glauben, gelernt werde nur auf der Schulbank. Unser Erfolgsgeheimnis ist: Lernen durch Praxis. Das wollen wir uns auch durch Gerede nicht zerstören lassen.
({21})
Meine Damen und Herren, ein Maurerlehrling, der erst um 7 Uhr anfangen kann, während die Monteure schon um 6 Uhr von dem Sammelplatz weggefahren sind, kann doch nicht mit dem Taxi nachgeschickt werden.
({22})
Wir machen hier kein Programm, das wir in den ideologischen Lehrbüchern nachschlagen müssen. Wir machen ein Programm, das aus dem Leben, aus den Erfahrungen gespeist ist. Deshalb ist unsere Politik praxisnah, und sie soll es bleiben.
({23})
Meine Damen und Herren, auch die Gewerkschaften müssen mitarbeiten, und sie haben mitgearbeitet. Ich sage mit großem Respekt - darf man das nicht anerkennen? -, daß die IG Chemie einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, in dem die Lehrlingsvergütung eingefroren wurde. Das halte ich für einen Beitrag, der in diese Situation paßt.
({24})
Ich appelliere auch an Eltern und Jugendliche, nicht aufzugeben. Ich appelliere auch an jene, die schon einen Ausbildungsplatz haben, nicht weiter auf der Suche zu bleiben. Ausbildungsplätze zu hamstern ist eine Form von Kameradendiebstahl.
({25})
- Meine Damen und Herren, ich weiß auch, daß manche die Vorstellung haben, nur in dem von ihnen erwünschten Beruf sei ihr Glück zu finden. Aber mancher Beruf, der als Traumberuf ersehnt wird, ist nur ein Modeberuf. Deshalb ist mein Appell an unsere jungen Mitbürger: Einen Beruf zu erlernen, ist immer noch besser, als keinen Beruf zu erlernen.
({26})
Ich unterstütze den Appell, alte Schablonen, die die Beschäftigung, die Ausbildung von Mädchen behindern, Schablonen, die nicht nur in den Gesetzen, sondern auch in den Köpfen der Menschen bestehen, zu beseitigen. 60 % der unvermittelten Bewerber sind Mädchen. Von zehn der am meisten gesuchten Berufe auf der Seite der Mädchen sind vier Berufe solche mit einer Ausbildungszeit von zwei und weniger Jahren. Auf der Seite der Männer sind alle zehn Berufe Facharbeiterberufe. Hier ist das Stellwerk der Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben. Hier im Ausbildungssystem werden die Plätze verteilt. Kein Gesetz der Gleichbehandlung verhindert anschließend die Folgen dessen, was bei der Ausbildungsgrundlage falsch eingestellt wurde.
({27})
Meine Damen und Herren, vielleicht ist dieser letzte Tag vor der Sommerpause - deshalb bin ich Ihnen, Herr Vogel, und der Opposition dankbar - auch geeignet, daß wir zusammen, Opposition und Regierung, alle hier in diesem Hause, zu einem großen Schlußspurt aufrufen.
({28})
Die wenigen Monate, die wenigen Wochen bis zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres sollten durch Anstrengungen der Regierung, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber genutzt werden. Ich gehe davon aus, daß wir alle daran interessiert sind, daß jeder seinen Ausbildungsplatz findet. Deshalb: Dieser Tag muß zu einem großen Appell der Ermutigung genutzt werden. Jeder junge Mann, jedes junge Mädchen sollte einen Ausbildungsplatz finden. Das ist unser gemeinsames Ziel.
({29})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler steht bei den Jugendlichen nach wie vor im Wort. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, daß er sich heute morgen auf dem Flug zur Luther-Feier in Nürnberg befindet. Von seiner ursprünglich so genannten Lehrstellengarantie scheint j a nun sehr wenig übriggeblieben zu sein,
({0})
wenn jetzt nur noch davon gesprochen wird, daß es eine relative Ausbildungsgarantie gibt. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir können Sie nur davor warnen, dieses durchsichtige Spiel mit den Hoffnungen und Ängsten der Jugend so weiter zu treiben.
({1})
Denn so vergrößern Sie doch nur die Staatsverdrossenheit junger Menschen,
({2})
die Sie sonst so häufig beklagen.
Wir können Sie nur davor warnen, das Lehrstellenangebot dadurch erhöhen zu wollen, daß angebJung ({3})
lich ausbildungshemmende Vorschriften beseitigt werden. Denn das läuft doch darauf hinaus, daß zusätzliche Ausbildungsplätze, wenn überhaupt, nur in den Bereichen geschaffen werden, in denen billige Arbeitskräfte, deren Zukunft in höchstem Maß ungewiß ist, sozusagen zum Ausbildungstarif gebraucht werden.
({4})
Was wir brauchen, sind nicht irgendwelche Lehrstellen. Wir brauchen qualifizierte Ausbildungsstellen, die in zukunftsträchtige Berufe hineinführen.
({5})
Und wir erwarten von der Regierung, daß die Zusage eingehalten wird, 30 000 Ausbildungsplätze über den Bedarf hinaus zur Verfügung zu stellen.
({6})
Wir können die Wirtschaft und den Staat nicht aus der Verantwortung entlassen.
({7})
Investitionen in die Bildung sind Investitionen in unsere Zukunft. Der Fehlbedarf an qualifizierten Ausbildungsplätzen heute ist der Fehlbedarf an qualifizierten Arbeitskräften morgen.
({8})
Wenn wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht aufs Spiel setzen wollen, dann können wir es nicht wenigen Betrieben überlassen, für die Zukunft auszubilden, während sich die Mehrheit der Betriebe dieser Verantwortung entzieht.
({9})
Darum führt nach meiner Auffassung kein Weg daran vorbei, zwischen den Betrieben, die ausbilden, und solchen Betrieben, die ihrer Ausbildungspflicht nicht genügen, einen Finanzausgleich zu schaffen.
({10})
Und da hilft es sehr wenig, wenn Herr Bundesminister Blüm, der sich j a seiner gewerkschaftlichen Herkunft immer rühmt, von Freiwilligkeit der unternehmerischen Leistung spricht.
({11})
Aber so wichtig der Abbau von Bildungsdefiziten und die Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen auch sind, dies wird nicht ausreichen, um dem Problem der Jugendarbeitslosigkeit beizukommen, wenn nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Die Jugendarbeitslosigkeit, so schlimm sie auch im einzelnen ist, ist eben nur e in Aspekt der Massenarbeitslosigkeit.
Wie die Bundesregierung diesem Problem beikommen will - nicht nur in unserem Land, sondern auch auf internationaler Ebene -, ist ja gerade in den letzten Tagen in diesem Haus wieder deutlich gemacht worden: nämlich ganz offenbar durch Nichtstun! Es gibt kein Programm der Bundesregierung zur gezielten Förderung von Wachs-turn und Beschäftigung.
({12})
Jeder Gedanke an eine soziale Beherrschung der technologischen Entwicklung ist ihr fremd, und die Bundesregierung macht auch keine Anstalten, die Gewerkschaften bei ihrem Kampf um eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit zu unterstützen.
({13})
Das haben die Regierungsparteien gerade mit ihrer Haltung zu unseren Entwürfen für ein Arbeitszeitgesetz und eine Regelung des vorgezogenen Ruhestands zur Genüge bewiesen. Weder auf dem europäischen Gipfel in Stuttgart noch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg hat die Bundesregierung Anstrengungen unternommen, um eine gemeinsame beschäftigungspolitische Strategie zu entwickeln.
({14})
Entgegen den Ankündigungen der vorangegangenen Gipfeltreffen in Kopenhagen und Brüssel beschäftigten sich die Regierungschefs nur am Rand mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen.
Ich berufe mich hier auf eine völlig unverdächtige Quelle, nämlich „Die Welt":
({15})
Das Gipfelversprechen aus dem Vorjahr, jedem Jugendlichen in der Gemeinschaft in den kommenden fünf Jahren eine Berufsausbildung zu ermöglichen, wird in den Schlußdokumenten von Stuttgart überhaupt nicht mehr erwähnt.
Ich glaube, das spricht für sich.
({16})
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Ihr Glaube an die Selbstheilungskräfte des Markts Sie blind macht für die nüchternen Tatsachen, mit denen wir es heute zu tun haben.
({17})
Tatsache ist doch schon heute: Der Bundeskanzler wird seine Lehrstellengarantie nicht einhalten können. Tatsache ist auch: Die Arbeitslosigkeit wird bei der von Ihnen zu verantwortenden Wirtschaftspolitik nicht abnehmen, sondern allen ernst zu nehmenden Prognosen zufolge weiter steigen.
({18})
Tatsache ist schließlich: Die Wirtschaft, die Gesellschaft und vor allem die jungen Menschen in unserem Land werden einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, wenn die Bundesregierung weiter untätig bleibt.
({19})
Jung ({20})
Wir fordern Sie daher auf: Ergreifen Sie endlich konkrete Maßnahmen. Es ist besser für uns alle, zusätzliche Mittel für eine wirksame Ausbildungs- und Beschäftigungspolitik zur Verfügung zu stellen, als die wachsende Arbeitslosigkeit mit zunehmendem Mitteleinsatz finanzieren zu müssen. - Schönen Dank.
({21})
Das Wort zu einer Erklärung nach § 30 erteile ich Herrn Abgeordneten Porzner.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Es ist vorhin gesagt worden - auch von Herrn Blüm -, mit mir sei besprochen worden, daß der Bundeskanzler zu dieser Stunde nicht im Bundestag sein kann. Davon ist nicht die Rede.
({0})
Ich wußte, daß der Bundeskanzler heute vormittag in Nürnberg
({1})
bei der Festveranstaltung in der Lorenzkirche ist, zu dem wir mittelfränkischen Abgeordneten auch alle eingeladen sind.
({2})
Es ist nicht an mir, zu bewerten, welche Pflichten man vorzieht, aber ich glaube, meine verehrten Damen und Herren, daß es durchaus vereinbar ist, um 8 Uhr an einer Aktuellen Stunde teilzunehmen - bei diesem Thema! - und um 10.30 Uhr in Nürnberg bei einer Jubiläumsveranstaltung zu sein.
({3})
- Nein, hier ist behauptet worden, es sei mit mir vereinbart, daß der Bundeskanzler jetzt nicht hier sein kann. Und das stimmt nicht.
({4})
Als wir besprochen hatten, wann der Antrag der SPD-Fraktion auf Entlassung des Bundesministers Geißler auf die Tagesordnung gesetzt werden sollte, ist mit mir besprochen worden, wann der Bundeskanzler anwesend sein kann und wann nicht. Darunter war der Freitagvormittag wegen der Nürnberger Veranstaltung.
({5})
Ich brauche mich nicht zu wiederholen, wenn ich sage, daß die Transportmöglichkeiten für den Bundeskanzler so sind, daß er, wenn er will, beide Termine wahrnehmen kann.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben anstrengende und aufregende Tage und Wochen hinter uns.
({0})
Ich finde, wir sollten nichts dramatischer machen, als es ist. Erlauben Sie mir diese Bemerkung vorweg.
Herr Kollege Porzner, es ist völlig unstreitig - Sie haben das auch gesagt -, daß wir beide - das ist unsere Aufgabe - bei der Festlegung der Tagesordnung dieser Woche darüber gesprochen haben, daß der Herr Bundeskanzler heute vormittag in Nürnberg bei der Eröffnung der Luther-Ausstellung ist. Dies war der SPD-Fraktion bekannt; es ist ihr mitgeteilt worden. Es macht j a wohl keinen Unterschied, bei welchem Tagsordnungspunkt man über diese Frage spricht. Er kann ja nur einmal in Nürnberg sein, und wenn er heute vormittag in Nürnberg ist, kann er nicht hier sein. Dies, meine Damen und Herren, war der SPD-Fraktion bekannt.
({1})
Wir fahren in der Aktuellen Stunde fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, über dieses Thema brauchen wir in der Zwischenzeit nicht mehr viel zu sprechen. Aber es verwundert mich sehr, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, daß wir seit zehn Jahren immer wieder in regelmäßigen Abständen eine Diskussion über das Ausbildungsgeschehen führen, in der nun nicht gefragt wird, wie wir für die Jugendlichen und für diejenigen, die Ausbildung betreiben - Handwerksmeister und die in der Industrie für die Ausbildung Verantwortlichen -, sorgen, wie wir mehr Ausbildungsplätze erhalten können, sondern in der eine Politik nur nach dem Motto betrieben wird: Wie kann ich dieses Geschehen dramatisieren? Wie kann ich in diese Debatte künstlich ein qualitatives und ein quantitatives Moment mit einschalten?
Diese Diskussionsrunde war ein beredtes Beispiel dafür, daß Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wenig Interesse daran zeigen, den jungen Leuten tatsächlich zu helfen, sondern ein größeres Interesse daran haben, heute wieder eine polemische Attacke gegen die Regierung Kohl zu reiten.
({0})
Kein Mensch bestreitet, daß wir auch in diesem Jahr durch regionale und strukturelle Engpässe eine Belastung und eine Schwierigkeit im Ausbildungsgeschehen haben. Wir wissen aber genauso, daß wir auch in diesem Jahr wieder über 600 000 jungen Menschen eine Lehrstelle werden beschaffen können und daß - das möchte ich noch einmal betonen - am Ende dieses Jahres jeder ausbildungswillige und ausbildungsfähige Jugendliche eine Lehrstelle haben wird. Das werden auch Sie mit Ihrer Polemik nicht verhindern.
Ich will mich mit dem einen Thema an sich nicht mehr befassen. Von Sozialisten war ich sehr viel gewöhnt. Daß sie einem aber das Frühstück noch mißgönnen, das war mir eine ganz neue Komponente.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wir wollen nicht verkennen, daß es Problemgruppen gibt, natürlich auch in diesem Sektor. Wenn Sie, Frau Steinhauer, heute wiederum so beredt den Verdrängungswettbewerb beklagen, dann muß ich Sie natürlich fragen: Wer hat denn diesen Verdrängungswettbewerb mit in Gang gesetzt?
({1})
Das waren doch Sie. Das müssen Sie sich hier noch einmal sagen lassen. Sie haben durch Ihre Politik Betriebe permanent zum Konkurs getrieben.
({2})
Sie haben eine Hochschulpolitik betrieben, die dazu geführt hat, daß heute hunderttausend Akademiker vor dem Nichts stehen. Der junge Abiturient oder die Abiturientin fragt: Was kann ich denn eigentlich noch studieren? Sie wenden sich dem Lehrstellensektor zu, weil sie wissen, daß sie im Hochschulbereich keine Situation mehr vorfinden, die ihnen die Zukunft sichern könnte.
Ich möchte ganz kurz die Problemgruppen anreißen. Das sind - erstens - die Jugendlichen ohne Schulabschluß, die natürlich bei den jetzt hochgeschraubten, vertheoretisierten Berufsausbildungsordnungen vor dem Nichts stehen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben dafür gesorgt, daß hier die Lehrstellen verlorengingen, die auch für diesen Personenkreis noch in Frage gekommen wären.
Zweitens haben die Mädchen noch Schwierigkeiten auf dem Lehrstellensektor. Keiner von uns wird das je bestreiten oder hat es je bestritten. Wir sind leider trotz aller Bemühungen - und dafür tragen Sie mit Verantwortung - nicht dazu gekommen, den Mädchen zu helfen, von sich aus die Initiative zu ergreifen, und bei ihnen den Gedanken zu verstärken, daß für sie nicht allein ein kleiner Bereich von Ausbildungsberufen in Frage kommt, vor allem im kaufmännischen Bereich, sondern daß auch in der Technik für Mädchen die Ausbildung möglich ist.
Die Ausländer bilden die nächste Problemgruppe. Wir wissen das. Wir haben Möglichkeiten zur Lösung geschaffen. Minister Blüm und Frau Minister Wilms haben das angesprochen. Wir können nur durch sachliche Diskussion miteinander dafür Sorge tragen, daß die momentane schwierige Situation überwunden wird. Ich rufe noch einmal alle hier im Haus und auch die Regierung auf, den Betrieben und allen Jugendlichen zu helfen. - Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burgmann.
Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde!
({0})
Ich denke, ich bin im Walde, wenn ich den Herrn Blüm hier so laut pfeifen höre, um seine Angst zu vertreiben.
({1})
Ich mag zwar fröhliche Menschen, Herr Blüm, aber ich glaube, daß in dieser Angelegenheit etwas mehr Ernst angebracht wäre.
({2})
Faktum ist, daß, wenn wir aus dem Urlaub zurückkehren
({3})
und den Berg Aufgaben hier wieder vor uns haben, dann 240 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz haben. Sie müssen sich also dem Heer der zweieinhalb Millionen Arbeitslosen zugesellen. Die Regierung - Frau Dr. Wilms, Herr Kohl und andere - appelliert dann an die Unternehmer und verkauft hier ihre Ideologie. Sie legt die Verantwortung in die Hände der Unternehmer und Vorstände, über die es keinerlei demokratische Kontrolle gibt. Damit ist das Problem der Kontrolle dieses Parlaments entzogen.
({4})
Und noch mehr: Sie nutzen die Not von hunderttausend jungen Menschen aus, nicht nur, um mit billigen Versprechen die Wahl zu gewinnen, sondern auch, um den Jugendschutz durch sogenannte ausbildungshemmende Vorschriften abzubauen. Meine Damen und Herren, alles, was die Arbeiterbewegung in über hundert Jahren erkämpft hat - ob Jugend- und Arbeitsschutz, ob Lohn und Tarif, ob Arbeitszeitverkürzung und Urlaub -, alles das muß nach Ihrer Ideologie letzten Endes arbeitshemmend und ausbildungshemmend sein, weil all das j a die Gewinne und die Willkür der Unternehmer einschränkt.
({5})
Die SPD aber, die dieses Sofortprogramm vorgelegt hat, hat damit sicher der aktuellen Situation Rechnung getragen. Aber wenn Sie vor zwei bis drei Jahren, als die Gewerkschaften diese Entwicklung ziemlich exakt vorausgesagt hatten, das Sofortprogramm vorgelegt hätten - genauso wie Sofortprogramme gegen Waldsterben, Nachrüstung und Arbeitslosigkeit -, wenn Sie so aktiv gewesen wären, als Sie in diesem Hause noch die Mehrheit hatten, dann hätten Sie diese Mehrheit wahrscheinlich heute noch. Sie tragen mit die Verantwortung dafür, daß heuer eine Viertelmillion Jugendliche keinen Ausbildungsplatz bekommen. Genauso tragen Sie Mitverantwortung für die zweieinhalb Millionen Arbeitslosen.
({6})
Die Folgen dieser Politik sind verheerend. In den Betrieben steigt der Druck auf die Jugendlichen. Die Shell-Studie sagt wörtlich: Jeder zweite Jugendliche befindet sich auf dem Weg zum Duckmäusertum. „Befriedigend" ist nicht mehr ausreichend, um eine Lehrstelle zu bekommen.
({7})
Die Jugendlichen werden rücksichtlos gegeneinander ausgespielt. In den Zeitungen sind schon Angebote zu Lesen, in denen Jugendliche auf jede Ausbildungsvergütung verzichten, um überhaupt einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
({8})
Die Zahl der Jugendvertreter in den Betrieben ist von 9 000 im Jahre 1972 auf heute 5 500 zurückgegangen. Aber vielleicht verstehen Sie das j a auch als einen Abbau von ausbildungshemmenden Maßnahmen, meine Damen und Herren von der FDP und der CDU/CSU.
Dabei gäbe es heute so viele dringende Aufgaben für die jungen Menschen. „Schwerter zu Pflugscharen" - ich meine, statt Raketen Entschwefelungsanlagen, alternative Energien, menschenwürdige Städte, eine biologische Landwirtschaft und Hilfe zur Selbsthilfe in der Dritten Welt. Das sind Aufgaben, die vor uns stehen. Dafür könnten Sie heute Jugendliche gewinnen. Das wäre eine echte Wende, die in Bonn notwendig wäre.
({9})
Dafür müßten die Haushaltsmittel umstrukturiert werden. Da ist unser Staat gefordert, der im Grundgesetz festgelegt hat, daß jeder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat. Dazu gehört doch wohl auch die Ausbildung. Wir sind der Meinung, daß der Staat hier in die Pflicht genommen werden muß, wenn die Betriebe, wenn die Unternehmen nicht in ausreichender Zahl Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Da kann man sich nicht darauf beschränken, an die Unternehmen zu appellieren.
Wir sind nicht unbedingt dafür, daß das alles vom Staat dirigiert werden muß.
({10})
Aber die Politiker müssen hier gestalten. Wir sind durchaus dafür, auch die Arbeitsloseninitiativen und die Alternativbetriebe und selbstverwaltete Ausbildungszentren zu unterstützen. Dafür ist allerdings Geld notwendig. Das ist hier aber besser angelegt als für Raketen. Für die Millionen jungen Menschen in diesem Land muß das Geld bereitgestellt werden.
({11})
Das Wort hat der Abgeordnete Strube.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich höre, daß ich noch zwei Minuten Redezeit habe. Darum stelle ich fest:
Erstens. Die SPD ist angeblich sehr besorgt darüber, daß der Bundeskanzler sein Wort nicht einhalten kann. Wir stellen fest: Die gesamte CDU/CSU und viele gesellschaftliche Schichten fühlen sich mit uns zusammen in der Pflicht.
({0})
Wir werden dafür sorgen, daß dieses Wort eingehalten wird.
Zweitens. Heute kann man allenfalls eine Zwischenbilanz ziehen; denn im Juni, Juli werden noch sehr viele Lehrverträge abgeschlossen. Da auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, das wissen, möchte ich feststellen, daß diese Debatte heute zur Effekthascherei geführt wird.
({1})
Drittens. Der Unterschied zwischen den Unionsparteien und den Oppositionsparteien besteht darin, daß wir uns ernsthaft um Ausbildungsplätze bemühen, Sie aber, meine Damen und Herren von der SPD, die Hände in den Schoß legen.
({2})
Sie leisten sich viele verbale Kraftakte, ohne konkrete, seriöse Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
({3})
Ansonsten empfinden Sie hämische Freude, wenn Schwierigkeiten auftreten.
({4})
Viertens. Ich möchte Ihnen sagen, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Sie an dieser schwierigen Lage ein gerütteltes Maß an Schuld mittragen; denn denken Sie an Ihre verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die viele Tausende Konkurse herbeigeführt hat. Davon waren Betriebe betroffen, die in der Vergangenheit auch ausgebildet haben.
({5}) Die fallen nunmehr auch aus.
Fünftens. Meine Damen und Herren von der Opposition, es waren auch Ihre ideologisch verklemmten Bildungspolitiker, die altbewährte Ausbilder auf die Schulbank zwingen wollten, damit sie dort den Nachweis ihrer Ausbildungsfähigkeit erbringen.
({6})
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende. Das ist bedauerlich; zwei Minuten Redezeit sind sehr kurz. Zwei Minuten sind nur beim Zahnarzt sehr lang.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist schon eine Unverfrorenheit, Herr Kollege Rossmanith und Herr Strube, zu unterstellen, daß nur Sie sich um Ausbildungsplätze bemühen; denn jeder einzelne auch meiner KolleFrau Odendahl
1 gen tut in seinem Wahlkreis im Rahmen seiner Möglichkeiten dasselbe.
({0})
Wir haben Ihr Muster nicht übernommen. Wir betreiben keine Sonthofen-Strategie und genießen heute nicht, wie Sie in Schwierigkeiten geraten, die Ausbildungsgarantie zu erfüllen.
({1})
- Ich kann es auch lieb, wenn es Ihnen lieber ist.
Herr Blüm hat schon ganz entschieden differenziert. Er hat vorhin gesagt, jeder soll einen Ausbildungsplatz „finden". Der Herr Bundeskanzler hat gesagt, jeder soll einen Ausbildungsplatz „bekommen". Man achte doch darauf.
Sie haben heute nichts dazu gesagt, was Sie unter „ausbildungswillig" und „ausbildungsfähig" verstehen. Sie haben sich nur bemüht, diese Begriffe auf eine höhere Ebene zu heben, damit sie weit nach außen dringen und damit man das Wort „jeder" inzwischen verdrängen kann.
({2})
Wir haben den Ausführungen entnommen, daß Sie nichts tun wollen, sondern bis Herbst hoffen. Wir meinen aber: Das reicht nicht. Sie müssen jetzt etwas tun. Deshalb haben wir konkrete Maßnahmen auf den Tisch gelegt.
({3})
Sie wollen auch die Statistik frisieren. Zu dieser Befürchtung sind wir heute gekommen; denn Sie haben einige Maßnahmen aufgezeigt, die dazu dienen.
Hauptsache ist, daß heute außer Reden nichts gewesen ist. Es wäre dienlicher gewesen, Sie hätten nicht einzelne Punkte angesprochen, was man tun sollte, sondern Sie hätten hier und heute konkret gesagt, was Sie sofort tun werden, denn im Herbst wird es zu spät sein.
({4})
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({0})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahre 1982
- Drucksache 9/2389 Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Berger.
({1})
- Einen Augenblick, Frau Abgeordnete Berger. Wir wollen abwarten, bis eine Beruhigung nach der Aktuellen Stunde eingetreten ist.
Frau Abgeordnete Berger, Sie haben die volle Aufmerksamkeit der Damen und Herren des Hauses.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgangen sein, daß der Ausschuß den Bericht über seine Tätigkeit im Jahre 1982 diesmal bereits zwei Wochen nach Ablauf des Berichtsjahres vorgelegt hat. Dies zeigt u. a., daß eine zeitnahe Berichterstattung möglich ist und wie leistungsstark das Ausschußbüro sein kann. Insoweit gilt mein Dank unserem Büro und seinem neuen Leiter, Herrn Ministerialdirigenten Dr. Schick.
Erstens. Meine Damen und Herren, unsere Arbeit im Jahre 1982 war dadurch gekennzeichnet, daß die Zahl der Eingaben von 11 000 im Vorjahr auf beinahe 14 000 gestiegen ist. Das ist eine Steigerung von über 20 %.
Dies ist in erster Linie eine Folge der vielfachen Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt. Ich nenne hier das 2. Haushaltsstrukturgesetz, das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz und das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz, die sich fast alle im Jahre 1982 für den Bürger auswirkten.
Zum Ende des Jahres 1982 gingen bereits Eingaben zum Haushaltsbegleitgesetz 1983 ein, das ja u. a. vielfältige Änderungen von Steuergesetzen, eine Investitionshilfeabgabe sowie Änderungen beim Kindergeld, bei den Renten, beim Wohngeld, bei der Arbeitsförderung und bei der Sozialhilfe brachte.
An der Spitze der Eingaben liegt wiederum - wie schon in den Vorjahren - das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Hier haben wir im ersten Halbjahr 1983 einen Anstieg von 22 auf etwa 35 % aller Eingaben zu verzeichnen. Dabei geht es vor allem um Beschwerden gegen Arbeitsämter wegen zu langer Bearbeitungsdauer oder wegen zu niedriger Leistungen, aber auch um Hilfegesuche bei der Arbeitsvermittlung und der Berufsförderung.
Viele Rentner haben sich an uns gewandt, weil sie ab 1. Januar 1983 Beiträge zur Krankenversicherung zahlen müssen, und dies auch aus ihren sonstigen Einkünften.
In jüngster Zeit wird häufig auch die Härteregelung bei Bagatellarzneimitteln angesprochen, die jetzt im Regelfall nicht mehr von der Krankenkasse übernommen werden. Hier wird der Ausschuß bei der Regierung vor allem auf eine einheitliche Handhabung bei allen Krankenkassen hinwirken müssen. Es darf nicht so bleiben wie zur Zeit, daß z. B. die eine Krankenkasse Abführmittel für einen querschnittgelähmten oder an multipler Sklerose
Frau Berger ({0})
leidenden Rollstuhlfahrer als Härtefall anerkennt, die Nachbarkasse dies aber nicht tut.
Ein anderer Schwerpunkt bleibt das Verteidigungsministerium. Dort ist das Hauptanliegen nach wie vor die Zurückstellung vom Wehrdienst oder die vorzeitige Entlassung, um eine Arbeitsstelle erhalten oder behalten zu können. Mit Recht hat ein Kommentator in der Zeitung „Das Parlament" Nr. 15/16 vom 16./23. April 1983 zu unserem Jahresbericht 1982 bemerkt:
Im Hinblick auf die immer schwierigere Arbeitsmarktsituation werden künftig noch vermehrt Härtefälle auftreten, in denen bereits vereinbarte Ausbildungsverhältnisse zum Zeitpunkt der Einberufung noch nicht begonnen werden konnten und daher auch nicht unter den Schutz des Arbeitsplatzschutzgesetzes fallen.
Immerhin konnte der Ausschuß in einigen gravierenden Fällen eine Zurückstellung bis nach Beendigung der Ausbildung erreichen.
Meine Damen und Herren, in einer Zeit, in der der Arbeitsplatz ein kostbares Gut geworden ist und in der viele arbeitslose Wehrpflichtige den Wehrdienst ableisten wollen, muß die Güterabwägung zwischen Wehrpflicht und Arbeitsplatzrisiko im Verteidigungsministerium teilweise zu anderen - flexibleren - Entscheidungen führen als bisher. Auf dieses die Bürger außerordentlich bedrängende Problem hat auch der Wehrbeauftragte in seinem letzten Jahresbericht eindringlich hingewiesen.
Zweitens. Lassen Sie mich jetzt auf die Anwendung der dem Petitionsausschuß zustehenden besonderen Befugnisse zu sprechen kommen. Es handelt sich dabei um unser Recht, uns Akten vorlegen, Auskunft erteilen und Zutritt gewähren zu lassen sowie Petenten, Zeugen und Sachverständige zu hören. Wie Sie dem schriftlichen Bericht entnehmen können, haben wir davon auch im Jahre 1982 nur maßvoll Gebrauch gemacht.
Im Jahresbericht 1982 sind auf Seite 5 drei Ortstermine erwähnt. Dabei haben die Ausschußmitglieder die Erfahrung gemacht, daß es beim Bürger nicht ohne Eindruck bleibt, wenn Abgeordnete sich unmittelbar und bei genauer Kenntnis der Einzelheiten an Ort und Stelle mit den Sorgen der Bürger beschäftigen. Das wirkt vertrauensbildend.
Bei den Anhörungen von Regierungsvertretern im Ausschuß hat sich häufig bestätigt, daß sich auf diese Weise in kurzer Zeit sehr viel mehr klären und vieles schneller regeln läßt als in monatelangem Schriftwechsel. Wir wollen und wir können unsere Befugnisse immer nur dann anwenden, wenn wir im Einzelfall anders wirklich nicht weiterkommen. Die Erfahrung zeigt aber, daß wir auf den heilsamen Präventiveffekt dieser Befugnisse durchaus vertrauen können.
Wir haben zwar mehr Rechte als andere Ausschüsse; dennoch ist eines völlig klar: Der Petitionsausschuß ist kein Oberausschuß. Er ist auch kein ständiger Untersuchungsausschuß, und er will dies auch nicht sein.
Drittens. Wir debattieren heute über eine Drucksache aus der 9. Wahlperiode. Das Grundrecht nach Art. 17 des Grundgesetzes überdauert in seiner Wirkung das Kommen und Gehen der Wahlperioden. Der Bürger kann also sicher sein, daß sein an den Bundestag herangetragenes Problem solange bearbeitet wird, bis wir ihm geholfen haben oder letztlich feststellen müssen, daß wir ihm nach Sach- und Rechtslage eben leider nicht helfen können.
Viertens. Die Kontinuität der Petitionen hat beim Übergang von der 9. auf die 10. Wahlperiode auch die Vorsitzende des Ausschusses mit erfaßt. Alle Fraktionen dieses Hauses haben es für richtig angesehen, dieses Amt erneut in meine Hände zu legen. Ich weiß dieses Vertrauen sehr wohl zu würdigen.
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- Ihnen danke ich besonders, Herr Kollege Kirschner -, zumal vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Meinung, daß der Vorsitz des Petitionsausschusses der Opposition zufallen sollte. Ich lasse dahingestellt, welche guten Gründe dafür sprechen könnten. Für mich gilt weiterhin, daß ich meine Aufgabe in diesem Amt wie in den vergangenen zehn Jahren ohne Ansehen der Person und der Parteien als Fürsprecherin der Bürger sehe. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
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Fünftens. Ich komme nunmehr zu einigen Verfahrensfragen. Der Ausschuß handelt nach dem Prinzip: Wir prüfen regelmäßig, ob das, was wir getan haben, auch für die Zukunft richtig ist. Von dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht" oder dem, „Das haben wir noch nie so gemacht, und da könnte ja jeder kommen", halten wir überhaupt nichts. Also haben wir zu Beginn dieser Wahlperiode auch die bisher geltenden Grundsätze für die Behandlungen von Bitten und Beschwerden überprüft und völlig neu bearbeitet. Diese Grundsätze sind eine eigenartige Mischung von Geschäftsordnung für den Ausschuß und von quasi Dienstanweisung für das Ausschußbüro. § 110 der Geschäftsordnung des Bundestages schreibt zwingend vor, solche Verfahrensgrundsätze zu Beginn jeder Wahlperiode neu zu beschließen.
a) Bei der Überarbeitung sind wir auf einige Probleme gestoßen, die wirklich nicht einfach zu behandeln sind. Sie liegen z. B. darin, daß 1968 ein Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 des Grundgesetzes beschlossen wurde, ein Gesetz, welches auch Beschwerdeinstanzen vorsieht. 1975 kam dann der Art. 45 c ins Grundgesetz, der dem Petitionsausschuß die alleinige Zuständigkeit für die Behandlung von Petitionen zuweist. 1978 schließlich kam das Gesetz über die Parlamentarische Kontrollkommission.
Es ist notwendig, unsere Zuständigkeit im Verhältnis zu diesen Stellen zu klären. Angesichts der genannten Daten und Fakten kann uns wirklich niemand unparlamentarische Hast vorwerfen, wenn wir solchen Fragen nachgehen. Es wäre dem Bundestag nicht angemessen, abzuwarten, bis wir
Frau Berger ({3})
von einem Petenten mit einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht vorgeführt werden.
Diese Eventualität ist gar nicht so theoretisch, wie es dem Außenstehenden vielleicht erscheinen möchte. Erst vor zwei Jahren hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Petitionsverfahren zu beschäftigen. Als Kriterium für die Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens war es für das Gericht entscheidend, daß das Ausschußbüro vom Petitionsausschuß durch die Verfahrensgrundsätze Arbeitsanweisungen erhalten hat, die klar und für juristisch geschulte Mitarbeiter ohne weiteres anwendbar sind.
b) Ferner geht es um die Zuständigkeit des Ausschusses bei Beschwerden gegen Bundesbehörden, die nicht Bestandteil der Bundesregierung sind. Dazu gehören vor allem das Bundespräsidialamt und das Sekretariat des Bundesrates. Es fällt schwer anzunehmen, daß es für das exekutive Handeln solcher Behörden keine zuständige Volksvertretung geben soll, die Petitionen entgegennehmen kann. Über alle diese Fragen möchten wir Klarheit und Sicherheit hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit unseres Vorgehens haben. Der Ausschuß hat daher beschlossen, ein wissenschaftliches Gutachten hierzu einzuholen.
c) Zu keinem Zeitpunkt war übrigens bestritten, daß der Petitionsausschuß auch zuständig ist für die Behandlungen von Beschwerden über die Verwaltung des Deutschen Bundestages. Nur habe ich den Eindruck, daß diese oberste Bundesbehörde noch nicht in allen ihren Teilen voll verstanden hat, daß für sie keine Extrawurst gebraten werden kann.
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Wenn also z. B. der Bundesminister des Auswärtigen oder der Bundesminister der Verteidigung damit leben müssen und durchaus auch damit leben können, daß der Sachbearbeiter XY im Auftrage des Ausschusses eine Stellungnahme mit Vordruck anfordert und Fristen setzt, so gilt dies auch und selbstverständlich gegenüber der Verwaltung des Bundestages. Wir haben dies kürzlich in einem Obleutegespräch klargestellt.
d) Schließlich haben wir bei der Neufassung der Verfahrensgrundsätze auch die Zusammenarbeit mit dem Wehrbeauftragten auf eine neue Grundlage gestellt. Die alte Vereinbarung aus dem Jahre 1975 war von den beiden damaligen Bürochefs unterzeichnet. Da in dieser Vereinbarung die Tätigkeit des Petitionsausschusses bei Soldatenpetitionen angesprochen ist, haben wir - nach Abstimmung mit dem Wehrbeauftragten - die Regelung in die vom Ausschuß beschlossenen Grundsätze mit aufgenommen.
Unverändert gilt weiterhin, daß das Anliegen eines Soldaten, das er beim Wehrbeauftragten und beim Petitionsausschuß vorbringt, zunächst vom Wehrbeauftragten behandelt wird. Allerdings muß sich der Petitionsausschuß, je nach den Umständen des Einzelfalles, ein gleichzeitiges Tätigwerden vorbehalten. Dies folgt unmittelbar aus dem Grundrecht nach Art. 17 des Grundgesetzes, das durch eine Eingabe an den Wehrbauftragten nicht konsumiert wird.
Wir hatten z. B. einen Fall, wo der Wehrbeauftragte seine Prüfung bis zum Abschluß eines Wehrbeschwerdeverfahrens ausgesetzt hatte. Da auch wir nach der bisherigen Regelung nicht hätten tätig werden können, wäre der Petent zwischen zwei Stühlen gesessen. In derartigen Fällen muß dem Ausschuß ein Tätigwerden möglich sein.
An dieser Stelle möchte ich mich auch für die gute Zusammenarbeit mit dem Wehrbeauftragten, Willi Berkhan, und seinen Mitarbeitern ausdrücklich bedanken.
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Die wenigen hier erwähnten Punkte zeigen, daß bei der Neufassung der Grundsätze über die Behandlung der Petitionen allerlei Ungereimtheiten auszuräumen waren. Was der Ausschuß jetzt beschlossen hat, ist übrigens meines Erachtens ein gutes Beispiel für klare, transparente Vorschriftensprache und Vorschriftentechnik. Ich danke den Mitarbeitern des Ausschußbüros, an der Spitze dem neuen Bürochef, daß sie sich dieser Aufgabe in überzeugender Weise angenommen haben.
Sechstens. Nun ein paar Bemerkungen zu Problemen des Arbeitsalltages, die letztlich den Bürger treffen und die dem Ansehen des Parlaments aber abträglich sind: Es kommt leider immer wieder vor, daß sich die Bundesregierung nicht an die gesetzten Fristen für die Abgabe von Stellungnahmen oder Berichten hält. Das sind in der Regel sechs Wochen. Durch die Fristüberschreitung wird das Verfahren entsprechend verzögert.
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Dem Ausschuß liegen leider zu oft Fälle vor, deren Bearbeitung fast ein Jahr und zuweilen noch länger gedauert hat. Dies kann besonders in den Fällen nicht hingenommen werden, in denen die Zeit gegen den Bürger gearbeitet hat. Ich habe dafür kein Verständnis, und der Ausschuß hat dafür kein Verständnis.
Eine Mitbürgerin hatte sich z. B. darüber beschwert, daß sie fast zwei Jahre vergeblich auf eine Entscheidung einer Behörde gewartet hatte. Als wir dann eine Stellungnahme der Bundesregierung angefordert hatten, erhielten wir endlich nach vier Monaten die Erklärung, daß eine Bearbeitungsdauer von zwei Jahren nicht entschuldigt werden könne. Dies, meine Damen und Herren, wußten wir von vornherein.
Siebtens. Für das Protokoll muß ich zum Jahresbericht 1982 noch eine Berichtigung anbringen, um die der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft ausdrücklich gebeten hat.
In Abschnitt 2.16.1 auf der Seite 21 dieses Berichtes ist die Rechtslage zum Teil unzutreffend dargestellt. Richtig ist folgende Fassung:
Nach § 21 Abs. 1 Nr. 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ist die Absetzung für Ab1126
Frau Berger ({7})
nutzung nach § 7 b Einkommensteuergesetz nur für ein selbstgenutztes Einfamilienhaus oder eine selbstgenutzte Eigentumswohnung berücksichtigungsfähig und somit einkommensmindernd. Die 7 b-Abschreibung für ein unechtes Einfamilienhaus oder ein Zweifamilienhaus bleibt auch für den selbstgenutzten Teil des Hauses förderungsrechtlich unberücksichtigt und vermindert das Einkommen im Sinne des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nicht.
Soweit die Berichtigung.
Achtens. Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich nach vielen Seiten Dank sagen. Zunächst den Mitgliedern des Petitionsausschusses, die übrigens keine ungestörte Parlamentspause kennen und die jedes Jahr viele Hunderte von Petitionen in den Urlaub nachgeschickt bekommen. In den letzten Sommerferien waren es über 500 Akten, die wir in die Ferienorte nachzuschicken hatten. - Jetzt kommt kein Beifall, weil das natürlich niemandem so recht gefallen möchte.
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- Herr Abgeordneter Bötsch, in die Sahara wird nichts verschickt, weil wir das Risiko nicht eingehen wollen, daß der Abgeordnete eventuell nicht dort, sondern woanders zu finden ist.
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Besonders möchte ich auch die Kollegen erwähnen, die nicht mehr dem Parlament oder dem Ausschuß angehören. Es sind dies vor allem der frühere stellvertretende Vorsitzende des Petitionsausschusses, Richard Müller ({10}), es sind dies die Kollegen Obleute Otto Regenspurger, Rainer Funke und der stellvertretende Obmann Horst Ginnuttis. Sie alle haben - ebenso wie die anderen ausgeschiedenen Ausschußmitglieder - die Last dieser Arbeit über Jahre hinweg gerne auf sich genommen. Sie haben viel zum Wohle der Bürger bewegt.
Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern des Ausschußbüros, das mit seinen nicht einmal 60 Beschäftigten dem Riesenheer der vereinigten obersten Bundesbehörden gegenübersteht.
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Aber auch dieses Riesenheer der Regierungsbeamten und Angestellten soll und darf nicht ohne Dank bleiben für die Mühe, die sie mit uns hatten, und für die zusätzliche Arbeit, die sie im Interesse der Bürger auf sich nahmen.
Ich schließe mit den Worten meiner Rede aus dem Jahre 1980 von dieser Stelle aus:
Wir danken den Bürgern für das Vertrauen, das sie uns entgegenbringen. Wir meinen: Der Bürger ist gut beraten, wenn er sich mit seinen Sorgen an das von ihm gewählte Parlament wendet; denn er kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß sein Anliegen ernst genommen wird. Wir sind sein verlängerter Arm. Wir sind Anwälte des Bürgers.
Das wollen wir auch in Zukunft so halten. ({12})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Petitionsausschusses, der dem Bundestag vorliegt und über den wir heute diskutieren, betrifft einen Zeitraum der 9. Legislaturperiode des Bundestages. Deshalb ist es zu begrüßen, daß wir noch vor der Sommerpause die Gelegenheit haben, über diesen Bericht zu beraten. Allerdings lassen Sie mich - auch selbstkritisch - eines feststellen. Das Interesse von seiten der Bundesregierung hat sich, zumindest wenn man die Anwesenheit auf der Regierungsbank betrachtet, nicht sehr gesteigert.
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- Die frühstücken? Na, wollen wir ihnen einen guten Appetit wünschen!
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Meine Damen und Herren, insgesamt sind im Jahre 1982 rund 3 600 Petitionen eingegangen, wobei wir, was die Zahl der eingehenden Petitionen aus den einzelnen Bundesländern betrifft, ein deutliches Nord-Süd-Gefälle feststellen können. So kommen aus Berlin auf 1 Million Einwohner 546 Eingaben, die an den Deutschen Bundestag gerichtet sind, aus Bayern dagegen nur 105. Ich will dies jetzt nicht so werten, als ob die Dinge im Süden unserer Republik besser im Lot seien als im Norden.
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- Sehr richtig. - Ich glaube vielmehr, das hängt auch mit einer kritischeren und wachsameren Einstellung des Bürgers gegenüber dem Staat insgesamt zusammen.
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Petitionen, die an uns gerichtet werden, sollten als das gewertet werden, was sie sein sollen: Bitten zur Änderung der Gesetzgebung und Beschwerden des Bürgers dort, wo er sich ungerecht behandelt fühlt. Petitionen sind wichtige Gradmesser für uns. Einzel- und Massenpetitionen machen deutlich, wo den Bürger der Schuh drückt, wo er Veränderungen wünscht und wo er bestehende Gesetze und Rechtsverordnungen als veränderungsbedürftig ansieht.
Meine Damen und Herren, ich möchte an Hand einiger Einzelpetitionen, die in dem Ihnen vorliegenden Jahresbericht aufgeführt sind, versuchen, deutlich zu machen, wo wir helfen konnten, wo wir als Sozialdemokraten in der Konsequenz auch Handlungsbedarf sehen.
So konnte der Petitionsausschuß erreichen - erst durch eine Eingabe sind wir auf dieses Problem aufmerksam geworden -, daß deutschstämmige Aussiedler aus der Sowjetunion ihre dort zuKirschner
rückgelassenen Geldguthaben bzw. auf einem Sammelkonto der deutschen Botschaft hinterlegten Rubel in der Bundesrepublik nun im Gegenwert von D-Mark erhalten. In Verhandlungen mit der Regierung der Sowjetunion konnte eine Regelung dahin gehend erreicht werden, daß die deutsche Botschaft diese Rubel in ihrem allgemeinen Geschäftsbereich verwendet und der entsprechende Gegenwert hier in der Bundesrepublik an die Berechtigten ausgezahlt wird. Immerhin betraf und betrifft dies rund 380 Aussiedler. Bisher konnten davon rund 370 Fälle mit einem Gesamtvolumen von 1 650 000 abgewickelt werden. Dies ist der Erfolg einer einzigen Petition, die der Bundestag auf Vorschlag des Ausschusses dann mit dem Votum „zur Berücksichtigung" an die Bundesregierung weiterreichte. Dazu möchte ich auch noch feststellen: Dies ist auch ein Teil der Entspannungspolitik, die diese kleinen Schritte - für die Betroffenen sind es große - ermöglicht.
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Meine Damen und Herren, ich komme zu weiteren, aus meiner Sicht sehr markanten Petitionsfällen: Wie schon in der 8. Wahlperiode, so wandten sich auch in der 9. Soldaten an den Petitionsausschuß, weil sie, da sie keine Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit entrichteten, nach Abschluß ihrer Dienstzeit keine finanziellen Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz bei Umschulung, beruflicher Weiterbildung oder Arbeitslosigkeit erhalten. Hier wird an Hand konkreter Fälle, die an das Parlament herangetragen werden, ein Handlungsbedarf deutlich. Ich darf an dieser Stelle an die von unserem letzten Münchener Parteitag im Jahre 1982 erhobene Forderung nach einem allgemeinen Arbeitsmarktbeitrag erinnern. Ein solcher würde solche Härtefälle gar nicht aufkommen lassen. Der damalige und jetzige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff hat unserer damaligen Beschlüsse als „Marterwerkzeuge aus der sozialistischen Rumpelkammer" diffamiert. Die betroffenen Soldaten können sich ob einer solchen Einstellung, die eine Verhöhnung ihres ganz konkreten Problems ist, bei dem Bundeswirtschaftsminister bedanken. Das ist die politische Konsequenz einer Politik, die sich solchen Anliegen letzten Endes verweigert.
Meine Damen und Herren, Sparbeschlüsse - das wissen wir - sind in der Regel wenig populär. Wenn sie jedoch sein müssen, sollten sie sozial ausgewogen sein. Daß darüber, was soziale Ausgewogenheit ist, die Meinungen nicht erst seit der Wende erster Teil und dem nachfolgenden zweiten Teil zwischen uns Sozialdemokraten und den anderen Parteien weit auseinandergehen, ist bekannt. Im Zuge des 2. Haushaltsstrukturgesetzes wurde von den CDU/CSU-regierten Bundesländern über den Bundesrat, durch den Vermittlungsausschuß u. a. durchgesetzt, daß das Zusatztaschengeld für Heimbewohner stark gekürzt wird und Eltern bei der Unterbringung ihrer behinderten Kinder in Heimen erheblich mehr belastet werden. Wir als Ausschuß haben - wie auch die meisten Kolleginnen und Kollegen aus ihren Wahlkreisen - zu diesen einschneidenden Änderungen im Bundessozialhilfegesetz etliche Petitionen erhalten, die zu Recht Mißmut und Verärgerung der Betroffenen beinhalteten. Dieser Protest - dazu waren uns, das sage ich ganz offen, die Petitionen eine willkommene Unterstützung - hat mit dazu beigetragen, daß diese Maßnahmen letzten Ende zurückgenommen wurden.
Auf Initiative der unionsgeführten Bundesratsmehrheit erfolgte im 2. Haushaltsstrukturgesetz eine erhebliche Einschränkung des Personenkreises, der zum Bezug des sogenannten Zusatztaschengeldes berechtigt war. Wer nicht mindestens 680 DM zu den Kosten seiner Heimunterbringung beitragen konnte, so war in diesem Gesetz formuliert, sollte des bis dahin gezahlten Zusatztaschengeldes in Höhe von 25% des eigenen Einkommens, jedoch höchstens 20% des Sozialhilfe-Eckregelsatzes, verlustig gehen. In dem dann folgenden Vermittlungsverfahren zum 2. Haushaltstrukturgesetz konnte auf Initiative meiner Fraktion nach zähen Verhandlungen die jetzt geltende Regelung durchgesetzt werden, daß jeder Heimbewohner eine monatliche Barleistung zur persönlichen Verfügung in Höhe von 30 % des Eckregelsatzes der Sozialhilfe - das sind zur Zeit rund 100 DM - erhält. Zusätzlich erhält jetzt derjenige, der in der Lage ist, überhaupt einen Eigenanteil zu seinen Heimkosten beizusteuern, zusätzlich 5% seines Einkommens bis höchstens 15% des Eckregelsatzes, also einen Zuschlag bis ca. 50 DM. Durch die Anbindung an den Eckregelsatz konnte eine gewisse Dynamisierung der Barleistung erreicht werden.
Die politischen Vorstellungen der unionsregierten Bundesratsmehrheit über Einschnitte in das soziale Netz waren viel weitgehender, als die Union heute noch wahrhaben will. Ein Beispiel dafür ist die im Protokoll festgehaltene Äußerung des bayerischen Finanzministers Streibl aus der 507. Bundesratssitzung vom 18. Dezember 1981, wo er stolz von den von der Union durchgesetzten Minderausgaben bei der Sozialhilfe spricht.
Nun, diese Maßnahme konnte im Interesse der Heimbewohner rückgängig gemacht werden. Was jedoch jetzt wieder von Planungen der Bundesregierung in der Sozialhilfe zu hören ist, hat mit dem Bedarfdeckungsprinzip, auf dem die Sozialhilfe aufgebaut ist, nichts zu tun. Man kann allerdings bis jetzt nur vom Hörensagen ausgehen, weil die Regierung hierzu noch nichts Konkretes sagt, offenbar weil sie den Kommunen den Schwarzen Peter für weitgehende Einschnitte zuschieben will. Das, was damals in dem 2. Haushaltstrukturgesetz von den Ministerpräsidenten Späth und Stoltenberg durchgesetzt wurde, war kein zu entschuldigender einmaliger Ausrutscher. Dahinter ist viel mehr System. Es geht um die Durchsetzung dieser berühmten Wende zur Umverteilung von unten nach oben, gerade auch in der Sozialpolitik. An der Sozialhilfe und in der Behindertenpolitik wird es für jedermann deutlich sichtbar.
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- Herr Kollege Eigen, wir bekommen doch diese
Petitionen. Wir arbeiten doch nicht im luftleeren
Raum. Das wissen Sie doch selber. Sie waren doch
in der letzten Wahlperiode auch in unserem Ausschuß.
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- Entschuldigen Sie bitte, wir haben doch über Petitionen zu reden, die bei uns eingehen. Das sind doch konkrete Fälle.
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- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Herr Kollege, Sie sind doch jetzt auch im Petitionsausschuß. Sie werden damit auch noch genügend zu tun bekommen. Bekennen Sie sich doch einmal zu Ihrer eigenen Politik. Ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht.
Meine Damen und Herren, ich will noch einige weitere Probleme ansprechen, die uns regelungsbedürftig erscheinen. Mehrere Petitionen machten den Ausschuß auf folgendes Problem aufmerksam. Wenn Kinder zu Vollwaisen werden und jemand zum Vormund ernannt wird oder das älteste Kind zum Haushaltsführer - so nennt man dies - bestellt wird, geht das Kindergeld verloren. Das jetzige Recht sieht die Zahlung von Kindergeld an alleinstehende Vollwaisen, das angeblich nicht in die Systematik des Familienlastenausgleichs paßt, nicht vor, weil hier - so die Begründung - weder eine Familie noch eine familienähnliche Gemeinschaft vorliege. Wir werden uns mit dieser Begründung jedenfalls nicht zufrieden geben - darin war sich der Ausschuß einig -, sondern wir sollten die nächste Gelegenheit nutzen, um dies zu einer wirklich befriedigenden Lösung zu führen. Von einer solchen Regelung dürften ca. 12 000 Personen betroffen sein.
Ebenfalls unbefriedigend ist der jetzige Zustand, wonach ein Arbeitnehmer, der wegen Frühinvalidität aus dem Erwerbsleben ausscheidet, seine staatlichen Sparprämien nach dem Vermögensbildungsgesetz verliert, wenn er dieses Geld vorzeitig anfordert, es sei denn, seine Minderung der Erwerbsfähigkeit ist höher als 90 %, was in der Praxis 100 % bedeutet. Ein Arbeitsloser kann dagegen ohne prämienschädliche Wirkung über seine Sparzulagen nach dem Spar-Prämiengesetz verfügen, was auch richtig ist. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, daß ein Arbeitnehmer bei Frühinvalidität über sein angespartes Geld, und zwar ohne Prämienverlust, sofort verfügen können sollte. Die Frühinvalidität - das wissen wir - hat viele Ursachen. Nicht zuletzt auf Grund der Arbeitsplatzbedingungen scheiden immerhin rund 56 % der Arbeiter vor dem Erreichen des 60. Lebensjahres aus dem Arbeitsleben aus. Dies zeigt die Statistik der LVAs. Dies sollte uns allen zu denken geben. Wenn wir uns die Frühinvaliditätszahlen und Risiken anschauen, wissen wir, daß die Arbeitnehmer für Frühinvalidität die geringste Schuld tragen. Deshalb sollten die Betroffenen nicht noch mit dem Verlust der staatlichen Sparprämie bestraft werden. Wir werden hier ebenfalls auf gesetzliche Änderungen drängen.
Meine Damen und Herren, Petitionen - ich sagte es schon - sind wichtige Gradmesser für anstehende Probleme. Lassen Sie mich von dieser Stelle des Parlaments die Arbeitnehmer, die Betriebsräte, die Personalräte, die hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften auffordern, uns über ihre Probleme zu unterrichten. Der öffentliche Dienst ist sich in diesem Zusammenhang seiner Rechte viel mehr bewußt. Aus der Privatwirtschaft, in der wir auch unzählige Probleme haben, wird, so meinen wir, aus dem Bereich dieser Probleme viel zu wenig an uns herangetragen, ob es nun das Kündigungsschutzrecht, den Schwerbehindertenbereich, den Arbeitsschutz oder auch die ausländischen Mitbürger betrifft. Es ist eine Vielzahl von Fragen vorhanden, die wir aufzugreifen haben, um sie im Interesse der Mehrheit unserer Bürger einer Lösung zuzuführen. Wir Sozialdemokraten sind dazu jedenfalls bereit.
Lassen Sie mich zum Schluß vor allen Dingen an die Mitarbeiter, aber auch an die Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses einen Dank für die Zusammenarbeit trotz unterschiedlicher Auffassungen richten. Dieser Dank gilt vor allen Dingen auch den Mitarbeitern des Ausschußbüros, die uns bei vielen Eingaben wichtige Helfer auf dem Weg zu gerechten Entscheidungen sind. - Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht ganz unproblematisch, hier heute einen Beitrag zur Aussprache über den Jahresbericht 1982 des Petitionsausschusses leisten zu sollen und zu wollen, weil meine Fraktion den Kollegen Dr. Rumpf und mich erst ganz neu in diesen Ausschuß entsandt hat und wir zudem auch nicht von einem Kreis erfahrener Kollegen umgeben sind, die uns auf der Grundlage ihrer eigenen Beteiligung im Jahre 1982 an den Ausschußberatungen über die Schwerpunkte unterrichten könnten. Meine Damen und Herren, ich bekenne außerdem, daß mir in der letzten Legislaturperiode über das hinaus, was man natürlich theoretisch weiß, über die Einzelheiten des praktischen Verfahrens, der praktischen Arbeit im Petitionsausschuß nicht viel mehr bewußt war als das Gefühl großer Hochachtung für die Kollegen, die ich zu früher Morgenstunde zur Sitzung eilen sah, oft offenbar ein wenig hungrig und außerdem meist mit umfangreichen Akten versehen, die Obleute jedenfalls mit umfangreicheren Akten versehen, als ich es bei der Mitarbeit in anderen Ausschüssen erlebt habe.
Meine Damen und Herren, ich sage das deshalb ganz offen, weil ich mich rückblickend ebenfalls ein wenig dem Bedenken - und zwar zu Recht - ausgesetzt fühle, das sich, wie ich bei der Lektüre der Niederschriften über die Debatten zu den Tätigkeitsberichten der Vorjahre festgestellt habe, in vornehmer Form wie ein roter Faden durch die Ausführungen der Kollegen hindurchzieht, dem BeNeuhausen
denken nämlich, wie es denn um das Verständnis für die Aufgaben und die Bedeutung des Petitionsausschusses, auch um den Bekanntheitsgrad seiner Arbeit in der Öffentlichkeit und ebenfalls hier im Hause aussieht oder aussehen sollte. Meine Damen und Herren, vielleicht ersetzt deshalb die Neuigkeit der Beteiligung, der ersten Bekanntschaft ein wenig die Autorität längerer Erfahrungen und erlaubt ein paar unbefangene, wenn auch grundsätzlich gemeinte Bemerkungen.
Tatsächlich besteht ja immer die Gefahr, daß angesichts großer und bewegender politischer Auseinandersetzungen über aktuelle Themen, die Denken und Gemüt nicht nur der Akteure, sondern auch der Bürger in Anspruch nehmen und im Mittelpunkt des Interesses stehen, manche Einzelsorge, manches Einzelproblem in den Hintergrund tritt, das aber für den oder die Betroffenen von ebenso drängender, vielleicht sogar von noch drängenderer Bedeutung sein kann wie das, was die allgemeine politische Diskussion beherrscht. Es besteht auch die Gefahr, daß das Bemühen um die Lösung dieser Einzelfragen und Einzelprobleme im Bewußtsein der Öffentlichkeit und auch der politisch Handelnden nicht den Rang einnimmt, der ihm entspricht.
Das erkennt man nicht deshalb, weil man jetzt selber in dieses Arbeitsgebiet einbezogen ist und natürlich seine Wertschätzung fördern möchte. Man erkennt das, weil man nun praktisch oder, wie man heute sagt, hautnah mit einer Fülle von Einzelfragen konfrontiert wird, die ehestens als ein Stück Erfolgs- oder auch Mißerfolgskontrolle hinsichtlich der Art der gesetzgeberischen Arbeit und deren Durchführung angesehen werden könnte. Sie zeigen tatsächliche oder vermeintliche schwache Stellen auf. Sie machen vermeintliche oder tatsächliche Widersprüche, Ungerechtigkeiten oder Härten deutlich. Sie stellen über das hinaus, was man ohnehin in den Wahlkreisen hört, eine Art institutionalisierten Test auf Effizienz, Zweckmäßigkeit und auch auf den Einzelfall bezogene Angemessenheit und Gerechtigkeit dar.
Ich nehme an, daß jeder, der an der Erarbeitung vieler den Alltag unserer Bürger bestimmender gesetzlicher Regelungen beteiligt oder für deren Durchführung verantwortlich ist, an einem solchen Test, an einem solchen Barometer, an einem solchen Gradmesser, wie Herr Kirschner gesagt hat, oder gar an einem solchen Seismographen interessiert sein müßte. Schon deshalb ist die gründliche Arbeit des Petitionsausschusses auch von allgemeiner Bedeutung. Und schon deshalb ist eine stärkere Verankerung des ihm zugrunde liegenden Rechts, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen an das Parlament zu wenden, im Bewußtsein der Öffentlichkeit, durch Aufklärung und Einbezug etwa auch in schulische Inhalte, wünschenswert und notwendig.
Für mich bietet die Behandlung solcher Bitten und Beschwerden, solcher Petitionen, eigentlich immer wieder die Probe aufs Exempel, wie ernst wir es mit dem Gedanken des Vorrangs des Individuums vor der Institution meinen und wie nachhaltig wir uns dessen bewußt bleiben, daß Politik den
Rahmen für das Leben einzelner Menschen mit ihren ganz individuellen Verhältnissen, Möglichkeiten, Rechten und Pflichten bestimmt, wo aber auch die Grenze zwischen allgemeinem Regelungsbedarf und persönlicher Lebensgestaltung und Verantwortung verläuft, wo Solidarität und Gerechtigkeit gefordert sind, wo aber auch der einzelne sein persönliches Risiko zu tragen hat.
Ein Blick in die Übersicht des Tätigkeitsberichts zeigt, auf wie viele und wie verschiedene Bereiche sich die Arbeit des Petitionsausschusses bezieht. In den wenigen, kargen Wochen meiner Mitarbeit habe ich doch den sehr nachhaltigen Eindruck gewonnen, daß diese Mitarbeit den wohltätigen Zwang ausübt, sich von der ja niemals auszuschließenden Verengung des Blicks auf ein bestimmtes Fachgebiet einmal zu lösen. Und wenn, wie ich bisher gelernt und erlebt habe, die Zusammenarbeit nicht so sehr vom Pro und Contra parteipolitischer Auseinandersetzungen beeinträchtigt ist, sondern bei aller Unterschiedlichkeit der Denkansätze auf die Klärung, Beratung und auch Lösung eines ganz konkreten Problems bezogen ist, also eine wirkliche Zusammenarbeit darstellt, so ist das, finde ich, von nicht zu unterschätzender Auswirkung auch auf das gegenseitige Verständnis über die eigentliche Arbeit in diesem Ausschuß hinaus.
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Dazu kommt die ebenso energische wie freilassende Verhandlungsführung der Frau Vorsitzenden, der ich auch im Namen der im Jahr 1982, dem der Bericht ja gilt, in ihrem Ausschuß tätig gewesenen früheren Kollegen meiner Fraktion zu danken habe.
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Dazu kommt die vorbildliche Unterstützung durch die Mitarbeiter des Ausschußbüros.
Eigentlich könnte man fast von parlamentarischparadiesischen Verhältnissen reden, wenn die Fülle der Akten nicht so groß wäre, wenn sich nicht aus ihrer Lektüre auch mancher bedrückende Einblick in Einzelschicksale oder Problembereiche ergäbe.
Es kommt auch vor, daß das Petitionsverfahren, wie ich sehe, als Forum der Fortführung politischer Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln, mit den Mitteln des Petitionswesens, benutzt wird - nicht von Abgeordneten, sondern von Petentengruppen. Das gilt z. B. für eine durch eine Unterschriftensammlung unterstützte Petition, die sich gegen das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung richtet. Natürlich ist auch sie wie jede andere in ihrem Anliegen und in ihrer Argumentation sehr ernst zu nehmen. Aber sie gerät in das Spannungsverhältnis allgemeiner unterschiedlicher politischer Beurteilungen. Anderes kann man wohl nicht erwarten.
Es gibt aber Punkte auch im Rückblick und bei Nichtbeteiligung, die auf brennende Probleme aufmerksam machen. Ein solcher ist neben anderen im Jahresbericht 1982 auf Seite 10 unter 2.4.2 enthalten. Er betrifft eine Petition, die ein gesetzliches Verbot der Gewalt gegen Kinder fordert. Weil ich
zur Zeit der Beratungen im Ausschuß noch nicht dort tätig war, kann ich, obwohl mir die Unterlagen zu diesem Komplex zur Verfügung gestellt wurden, auf die Einzelheiten natürlich nicht eingehen. Das wäre zu theoretisch.
Aber ich möchte doch - wenn auch nur aphoristisch - diese Gelegenheit dazu benutzen, auf ein wirklich bedrückendes Problem hinzuweisen, das, wie ja auch Presseberichte der letzten Wochen und Monate noch einmal zeigen, seine Aktualität nicht verloren hat und leider so schnell auch nicht verlieren wird. Man liest jetzt wieder, daß etwa 30 000 Kinder in Deutschland jedes Jahr von ihren Eltern mißhandelt werden und etwa 1 000 Kinder an den Folgen solcher Mißhandlungen sterben müssen. Zu Recht schrieben die „Stuttgarter Nachrichten", daß sich hinter diesen nüchternen statistischen Zahlen noch sehr viel mehr Leid verberge, als reine Ziffern es ausdrücken können. Aber Gewalt gegen Kinder, meine Damen und Herren, meint ja mehr als ausgesprochene Mißhandlungen; die Grenze ist fließend. Ich möchte nicht im Sinne einer schlüssigen Kausalität, aber doch unter Berücksichtigung eines Zusammenhanges auf die ebenfalls genannte Zahl von 300 000 Schulunfällen jährlich hinweisen, die, wie es heißt - ich kann das nicht überprüfen -, durch aggressive Schulkinder verursacht werden. Hinter diesen aggressiven Schulkindern steht natürlich das zuerst genannte Problem.
Meine Damen und Herren, Politik, die sich um Frieden bemüht, die heranwachsenden jungen Menschen im Rahmen des nur irgend Möglichen ein angstfreies Leben sichern möchte, Politik, die wirklich den einzelnen meint und nicht mit anonymen Massen rechnet, Politik, die weiß, daß unsere Gesellschaft auf diese jungen Leute ja angewiesen sein wird, Politik also, in der wir, wie ich glaube und hoffe, alle übereinstimmen, muß solche Symptome als eine schmerzende Wunde empfinden, und sie weiß natürlich auch, daß mit Gesetzen nur ein Bruchteil zu regeln ist, vor allem wenn physische und psychische Gewalt zusammenfließen. Aber Aufklärung und Hilfe ist doch eine ihrer wichtigsten Aufgaben.
Meine Damen und Herren, unversehens - das gilt nicht nur für diesen Punkt - führt also die Arbeit im Petitionsausschuß an Grundfragen, die einen persönlich berühren. Trotz des damit verbundenen Ernstes und trotz der Fülle an Arbeit und Akten, meine ich, ist gerade aus diesem Grund die Arbeit in diesem Ausschuß befriedigend, weil sie nicht nur den allgemeinen Anspruch erheben kann, dem Bürger zu dienen, sondern dies auch im konkreten Einzelfall unter Beweis zu stellen hat. - Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Nickels.
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in
Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.
So bestimmt es Art. 17 des Grundgesetzes seit 1949. Das Petitionsrecht gehört somit zu den unveräußerlichen Grundrechten.
({0})
Um diesem Recht einen noch größeren Nachdruck zu verleihen, erhielt 1975 auch der Petitionsausschuß Verfassungsrang. In Art. 45 c des Grundgesetzes heißt es - ich zitiere -:
({1}) Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuß, dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.
({2}) Die Befugnisse des Ausschusses ... regelt ein Bundesgesetz.
Dieser doch erstaunlich hohe Rang wird dem Petitionsrecht aus der Einsicht heraus zugebilligt, daß auch in einem demokratischen Staat staatliches Handeln immer menschliches Handeln ist und somit zwangsläufig auch Fehler und Mängel produziert, unter denen andere Menschen zu leiden haben. Wenn also alle Stricke reißen und der einzelne nicht mehr weiß, was er machen soll, kann er sich in ganz bestimmten Fällen an die Volksvertreter wenden. Ein Stückchen direkter Demokratie also, von den immer mehr Menschen Gebrauch machen.
1982 hatte das Ausschußbüro einen erheblichen Anstieg der Zahl der Eingaben zu verzeichnen, was hier auch von allen Vorrednern schon hervorgehoben worden ist. Von 11 386 Eingaben im Vorjahr stieg die Zahl 1982 auf 13 593 an. Je nachdem, wo man sich im Augenblick befindet - auf der Regierungsbank oder auf der Oppositionsbank -, kann man diese Zunahme der Zahl der Eingaben einmal der Tatsache zuschreiben, daß die Politik dem Bürger im Augenblick etliche unverdauliche Brocken zu schlucken gibt, oder aber dem zunehmenden Rechtsbewußtsein des einzelnen. Die jungen Leute würden es vielleicht noch anders ausdrücken; sie würden vielleicht sagen: Je mehr das „Raumschiff Bonn" von der Basis abhebt, desto mehr machen die Bürger von ihrem Petitionsrecht Gebrauch.
({3})
Wahr ist wohl, daß schmerzhafte Einschnitte die Leute wacher machen. Wer keinen Grund zum Klagen hat, der tut es meistens auch nicht.
Ein Blick auf die Verteilung der Petitionen auf die verschiedenen Sachgebiete zeigt darum auch sehr früh, wo den Leuten der Schuh drückt und wo Gesetze offenkundig viele Menschen zu Härtefällen werden läßt. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn die Regierung öfter einen Blick in die Ausschußvorlagen riskieren würde. Vielleicht wäre dann manches wissenschaftliche Gutachten überflüssig.
({4})
Der Petitionsausschuß ist so eine Art Fieberthermometer, der anzeigt, wo die Volksseele kocht oder anfängt zu kochen. Aber er sollte auch - und das vor allen Dingen - der verlängerte Arm des BürFrau Nickels
gers sein - wie Sie, Frau Berger, das früher auch schon einmal gesagt haben - und seinen berechtigten Beschwerden zum Erfolg verhelfen. Das ist allerdings ein sehr hoher Anspruch. Die Wirklichkeit sieht in vielem leider ganz anders aus.
Trotz der steigenden Zahlen von Eingaben wissen z. B. sehr viele Bürger immer noch nicht, was sie mit dem Begriff Petitionsausschuß überhaupt anfangen sollen. Sie wissen nicht, daß „jedermann" - und übrigens auch „jedefrau" - ganz gleich, ob Gastarbeiter, Ausländer, Staatenloser, Strafgefangener oder Minderjähriger das Petitionsrecht besitzt. Ein Blick in den Jahresbericht 1982 zeigt, daß auffallend viele Angehörige des öffentlichen Dienstes, aber nur 28 % Frauen von ihrem Petitionsrecht Gebrauch machen. Im übrigen - ich möchte das hier anmerken - entsprechen sich Petenten und Ausschußmitglieder: Wenn es um beamtenrechtliche Belange geht, kann man im Ausschuß nachgerade leidenschaftliche Debatten erleben, denen Sabine Bard und ich nur staunend folgen können.
Aber nicht nur Unkenntnis, manchmal ist es auch die Angst vor Nachteilen, die Menschen davon abhält, sich an den Petitionsausschuß zu wenden. Nach Aussagen von Behindertenvertretern ist das vor allen Dingen bei Behinderten und Heimbewohnern der Fall. Diesen Menschen dauert auch das Ausschußverfahren oft zu lang. Vor allen Dingen schreckt sie aber die Tatsache ab, daß die Voten des Petitionsausschusses - Verfassungsrang hin, Verfassungsrang her - keine bindende Wirkung haben, daß heißt, daß sich die zuständigen Stellen durchaus über ein Votum des Ausschusses hinwegsetzen können. Und das geschieht doch relativ häufig. So hat z. B. der Petitionsausschuß 1982 bloß in 52 von über 13 000 Fällen von seinem Recht Gebrauch gemacht, der Bundesregierung Petitionen zur Berücksichtigung und zur Erwägung zu übermitteln. Davon waren bis zur Drucklegung des Jahresberichts 17 noch nicht abgeschlossen, 13 positiv beschieden, und in immerhin 10 Fällen ist die Regierung dem Votum des Ausschusses nicht gefolgt.
Ich denke, daß hier eine der Ursachen dafür liegt, daß im Gegensatz zum hohen rechtlichen Rang und der moralischen Legitimation, die dem Ausschuß j a zugebilligt wird, eine Geringschätzung seiner Arbeit oft bei vielen Behörden, aber unter der Hand auch beim Parlament, zu spüren ist.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich gut an die erstaunten Blicke, die wir GRÜNEN von den anderen Fraktionen hier geerntet haben, als wir uns bei der Beschlußfassung über die beiden letzten Sammelübersichten der Stimmen enthalten haben. Wir hatten damals das Gefühl, diese Petitionen nicht richtig genug zu kennen. Aus Respekt vor den einzelnen Menschen, die doch hinter diesen Sammelübersichten stehen, entschlossen wir uns zur Stimmenthaltung. Fast hat es aber den Anschein, als sei die Beschlußfassung über die Sammelübersichten im Plenarsaal zu einem nutzlosen Ritual verkommen, dem man sich eben aus Pflichtbewußtsein unterzieht. Wenn das tatsächlich so ist - ich weiß es nicht genau -, dann sollten wir dieses Verfahren ändern.
({5})
Schon im vergangenen Jahr hat Herr Funke von der FDP von dieser Stelle aus auf die zunehmende Ohnmacht des Bürgers vor „anonymen Einrichtungen wie Banken, Versicherungen oder großen Konzernen" sowie anderen „nichtstaatlichen Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen" hingewiesen. In allen diesen Fällen hat der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages bis heute keine Einwirkungsmöglichkeiten.
Die von Herrn Funke angeregte Weiterentwicklung des Petitionsrechts ist aber bis heute noch nicht angegangen worden. Sie wäre doch so wichtig, einmal im Interesse des Bürgers, zum anderen aber auch, um die Schere zu schließen, die zwischen der verfassungrechtlichen Stellung und den tatsächlichen Möglichkeiten des Petitionsausschusses klafft.
Einbeziehen sollte man meiner Meinung nach hier auch die Erfahrungen, die Mitglieder des baden-württembergischen Petitionsausschusses in der vorletzten Woche in Skandinavien gemacht haben. Sie waren sehr beeindruckt von der starken und unabhängigen Stellung und Autorität der Ombudsleute, die etwa im Rang eines Ministers unabhängig neben Parlament und Regierung stehen und aus eigener Initiative dort eingreifen können, wo immer sie es für nötig halten. Das ist hier nicht möglich.
Die Realität im Petitionsausschuß sieht heute so aus, daß seine Wirksamkeit als Bürgeranwalt steht und fällt mit dem persönlichen Engagement seiner Mitarbeiter und Mitglieder. Dabei sind ihm folgende Tätigkeitsfelder zugewiesen. Der Ausschuß soll versuchen, für die Probleme eine Lösung zu finden, die im Verantwortungsbereich des Bundes entstehen oder durch Ämter und Einrichtungen verursacht werden, die von Bonn beaufsichtigt werden. Daß auf diesem Arbeitsfeld doch relativ viel erreicht wird, ist vor allem - das ist so gemeint, wie ich es sage; denn Lobhudelei liegt uns nicht - Ihr Verdienst, Frau Berger. Ich denke, Sie sollten auch nicht traurig sein, wenn Sie die leeren Bänke hier sehen. Die Leute, denen Sie geholfen haben, wissen das schon zu schätzen.
({6})
Ein zweiter wichtiger Tätigkeitsbereich umfaßt Vorschläge zur Gesetzgebung, die Bürger dem Ausschuß übermitteln, der dann über die - das ist ein Ausdruck der Verwaltung - Berechtigung des Anliegens zu entscheiden hat. Diese Arbeit erleben meine Kollegin und ich als ziemlich spannungsreich. Einmal unterliegen die Mitglieder des Petitionsausschusses der begründeten Forderung, ihren Ausschuß nicht zum Oberausschuß über alle anderen werden zu lassen. Das ist aber nur machbar durch Selbstbeschränkung in der inhaltlichen Diskussison. Andererseits hat das aber auch zu der Legende geführt, der Petitionsausschuß sei ein politisches Neutrum, so etwa nach der Devise: Im Peti1132
tionsausschuß sind die Abgeordneten weder rechts noch links, sondern vorn am Puls des Volkes.
Dabei spiegelt unser Ausschuß nicht bloß die Ungereimtheiten und Härten wider, die oft in der Folge von Gesetzen im Leben auftauchen, sondern ganz genau auch die politische Wirklichkeit. Gesetze werden eben nicht im luftleeren Raum gemacht, sondern sie entstehen auf dem Boden politischer Realitäten und Interessen. Eben darum ist auch die Entscheidung darüber, ob die Bitte zur Änderung eines Gesetzes ein berechtigtes Anliegen und - wie es so schön heißt - der Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen oder aber nach Sach- und Rechtslage als erledigt anzusehen ist, eine politische Entscheidung. So werden gerade die Gesetze, die von der Regierungsmehrheit gemacht und dann beim Petitionsausschuß von Bürgern beanstandet werden, von eben dieser Mehrheit im Petitionsausschuß oft auch als nach Sach- und Rechtslage erledigt erklärt.
Ein konkretes Beispiel dafür liegt Ihnen heute in der Sammelübersicht 5, Drucksache 10/160, zur Beschlußfassung vor. Es ist die Petition Nr. 103, Stichwort Zivildienst, und zwar ist es die zweite Petition auf der letzten Seite oben der Sammelübersicht. Der Bittsteller wendet sich zusammen mit 422 anderen gegen das Gesetz zur Neuordnung der Kriegsdienstverweigerung, weil er die Verlängerung des Zivieldienstes auf 20 Monate für verfassungswidrig hält. Die Neuregelung verstößt seiner Meinung nach gegen Art. 12 a des Grundgesetzes, nach dem die Dauer des Zivildienstes die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen darf. Außerdem kritisiert er, daß dieses Gesetz eine weitere Benachteiligung von Kriegsdienstverweigerern und Zivildienstleistenden mit sich bringt.
In der Stellungnahme, die der Petitionsausschuß vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit zu dieser Petition einholte, führte dieser aus, daß die Eingabe unbegründet sei. Der Petitionsausschuß schloß sich mit Mehrheit der Auffassung des Ministers an und schlägt heute dem Bundestag vor, diese Petition als nach Sach- und Rechtslage erledigt anzusehen. Eine wirkliche Würdigung der Argumente des Petenten konnte aber im Petitionsausschuß nicht stattfinden, eben mit der Begründung, eine inhaltliche Diskussion dieser Problematik sei dem entsprechenden Fachausschuß vorbehalten.
Jeder hier weiß, wie umstritten die übereilige Novellierung des Kriegsdienstverweigerungsrechtes in juristischen Fachkreisen, aber auch in breiten Teilen der Öffentlichkeit war und ist. Eine Dauerdiskussion über diese Gesetzesnovelle bahnt sich an. Aus diesen Gründen und weil wir das Anliegen des Bittstellers für voll berechtigt halten - und weil ich auch denke, daß nicht nur in beamtenrechtlichen Belangen Petitionen der Regierung zur Berücksichtigung vorgelegt werden sollten -, machen wir heute von unserem Recht Gebrauch, die getrennte Abstimmung über diese Petition zu verlangen.
({7})
Namens meiner Fraktion stelle ich hiermit gemäß § 47 der Geschäftsordnung den Antrag, über die im Antrag 4, lfd. Nr. 103, Sammelübersicht 5, genannte Petition getrennt abzustimmen. Ein weitergehender Antrag zu dieser Petition liegt Ihnen als Drucksache vor.
({8})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Will-Feld.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kirschner, ich kann mich nicht enthalten, einiges zu Ihnen zu sagen. Ich meine, wir sollten im Petitionsausschuß und auch hier im Plenum kein Wahlkampfforum eröffnen. Wir bemühen uns im Petitionsausschuß quer durch die Fraktionen um Hilfen und die Vermeidung von Härten. Es ist keine Umverteilung von unten nach oben. Sparen ist eine sehr schmerzliche Angelegenheit. Ich habe immer wieder festgestellt, Herr Kollege, daß sich alle anderen Mitabgeordneten im Petitionsausschuß darum bemühen, Hilfe zu leisten.
({0})
Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Berger hat dankenswerterweise schon die Begründung dafür gegeben, warum die Zahl der Petitionen so sehr zugenommen hat. Ich will mich darauf beschränken zu sagen, daß das Steuerrecht auch immer noch Anlaß gibt, Petitionen einzureichen, und daß das Ehe- und Familienrecht in seinen Auswirkungen auf das Steuerrecht und in seinen Auswirkungen auf das Scheidungsfolgenrecht zu zahlreichen Petitionen führt. Betroffen sind einzelne Bürger, Gruppen von Bürgern und auch gesellschaftliche Gruppen.
Die Petitionen - das sage ich jetzt auch einmal an die Anschrift der Frau Kollegin Nickels - beinhalten echte Härten, aber auch - dies habe ich in langjähriger Erfahrung festgestellt - solche Anliegen, die individuell als Härten empfunden werden. Aus diesem Grunde ist es so schwierig, im Petitionsausschuß zwischen echten, objektiven Härten und subjektiv empfundenen Härten zu unterscheiden.
Aus diesen Gründen wundert es mich eigentlich gar nicht, daß der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 21,87 % Anteil an den Petitionen hat. Das Finanzministerium folgt in weitem Abstand mit 8,66 % Anteil. Auch bei den Petitionen im Bereich der Finanzen wird sehr deutlich, wie hart der einzelne Bürger von den Auswirkungen betroffen werden kann. Es wird aber auch deutlich, daß der Bürger immer schneller auf Gesetze reagiert, die wir hier im Bundestag verabschieden, und zwar nicht nur der einzelne Bürger, sondern auch ganze Gruppen von Bürgern. Das haben wir in der letzten Zeit feststellen können. Meine Damen und Herren, das ist ein beachtenswerter Umstand, durch den vor allen Dingen auch die Bedeutung des Petitionsausschusses unterstrichen wird.
Ich darf aus der Fülle der Beratungen im Petitionsausschuß drei Fälle herausgreifen. Es sind
Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode - 17. Sitzung. Bonn, Freitag. den 24. Juni 1983 1133
keine typischen Beispiele, sondern es ist einfach eine Materialsammlung.
Der erste Fall behandelt das sogenannte Realsplitting, die Anerkennung von Unterhaltsleistungen für geschiedene Eheleute. Ein Bürger beklagte sich, in der Praxis sehe es so aus, daß der geschiedene Ehegatte seine Zustimmung oft deshalb verweigere, um nicht selbst steuerpflichtig zu werden. Leider verweigere er die Zustimmung aber auch - das sagt der sich beklagende Bürger -, um „alte Rechnungen" zu begleichen und den Unterhaltspflichtigen nicht in den Genuß der günstigeren Regelung kommen zu lassen.
Der Petitionsausschuß hat diesem Bürger allerdings antworten müssen, daß bei einer ersatzlosen Aufhebung des Zustimmungserfordernisses dieser Nachteil zwar entfiele, die Last, im Wege der Klage vorzugehen, dann aber den Unterhaltsberechtigten träfe. Das heißt also, wir konnten keine Abhilfe schaffen, weil wir den einen Bürger zwar entlastet, dafür den anderen Bürger aber in eine zusätzliche Pflicht genommen hätten.
Ein zweites Beispiel. Es werden auch Regelungen angegriffen, die unbedingt geändert werden müssen, weil der Bürger sie unter den Bedingungen der 80er Jahre als unerträglich empfindet, beispielsweise die Ungleichheit der Besteuerung der Altersversorgung. Ein Bürger sagte uns, Altersrente sei nicht gleich Altersrente; der Privatrentner werde für seine Eigeninitiative bestraft, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sei nicht mehr gegeben.
Wir konnten dem Bürger mitteilen, daß das Bundesverfassungsgericht am 26. März 1980 den Gesetzgeber verpflichtet hat, die Besteuerung der Alterseinkünfte neu zu regeln, konnten also Hilfe in Aussicht stellen.
Ein drittes Beispiel soll zeigen, daß manches Wünschenswerte, mit dem dem Bürger geholfen werden könnte - was wir auch gern sehen würden -, im Zeitalter der leeren Kassen eben nicht mehr machbar ist. Da beschwert sich beispielsweise ein Bürger, der Schwerbehinderter ist, er erhalte in seinem Schwerbehindertenausweis sofort den Befreiungsstempel sowohl für Rundfunk- und Fernsehgebühren als auch für Telefongebühren, aber bei der Kfz-Steuer und der Kfz-Versicherung sei dies alles viel schwieriger, denn er bekomme - so sagt der betroffene Bürger - diese Befreiung nicht, wenn auch seine Frau das Auto, für das er die Befreiung begehrt, benutze. Er führt weiter aus, seine Frau höre doch auch mit ihm zusammen Rundfunk, sehe mit ihm fern und benutze mit ihm das Telefon.
Wir mußten dem Bürger allerdings sagen, wir müßten an dieser Regelung, wie sie im Augenblick normiert sei, festhalten,
({1})
sonst bestünde die Möglichkeit, ein Fahrzeug nur
mit dem Ziel der Steuerersparnis auf den Namen
des Behinderten zuzulassen, es aber tatsächlich nur
oder doch teilweise für andere Zwecke zu benutzen. Eine andere Regelung sei wünschenswert, aber in Anbetracht der Tatsache, daß wir leere Kassen haben, nicht zu verwirklichen.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich eine Anregung geben, von der ich allerdings sicher bin, daß sie nur schwer in die Tat umzusetzen oder sogar kaum zu verwirklichen ist. Aus den Ministerien, vor allen Dingen aus dem Finanzministerium und aus dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, erhalten wir hervorragende Stellungnahmen. Die Umsetzung dieser Stellungnahmen in die Bescheide an die einzelnen Bürger könnte ich mir anders vorstellen, nämlich im Text schlichter, in der Darstellung einfacher und im Ton ein wenig wärmer, denn der Bürger erhält eine Fülle von Bescheiden von der Verwaltung und von allen möglichen anderen bürokratischen Instanzen, und er fühlt sich zu sehr als Objekt und zu wenig als Mensch behandelt. Ich meine, hier wäre noch ein weites Feld, auf dem wir einiges tun könnten, denn der Petitionsausschuß sollte sich eines anderen Tones, eines anderen Stils befleißigen. - Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Meininghaus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der Petitionsausschuß unter dem Stichwort „Familienzusammenführung" in seinem Tätigkeitsbericht für das Jahr 1982 schlicht feststellt, daß er mit großer Sorge den Rückgang der Zahlen der Aussiedler aus der UdSSR, aus Polen und aus Rumänien betrachtet, wenn dann mit wenigen nüchternen Sätzen einige Probleme angesprochen werden und festgestellt wird, daß Ausreisewillige lange Wartezeiten, vielfach jahrelange Wartezeiten, hinnehmen müssen, und wenn es heißt, verstärkt klagten Ausreisewillige über berufliche und persönliche Nachteile während des Ausreiseverfahrens, kann das nicht die ganze Tragik deutlich machen, die in den Ostblockländern den Menschen widerfährt, die nichts anderes wollen, als mit ihren Familien in Frieden und Freiheit leben, die nichts anderes wollen als ihre Menschenrechte wahrnehmen.
Da lesen wir in den Petitionen von Schikanen der Behörden und der Parteiorgane, wenn bekannt wird, daß jemand in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen will. Anfeindungen am Arbeitsplatz und Verlust einer qualifizierten Tätigkeit sind oftmals die Folge. Fachkräfte werden zu Hofreinigern degradiert oder müssen andere - nach unseren Vorstellungen unzumutbare - Arbeiten verrichten, und dies über Jahre hinweg, in denen der Ausreiseantrag immer wieder in Frage gestellt wird und neu eingereicht werden muß. Not und Verzweiflung für die gesamte Familie sind doch wohl die Folge dieses unwürdigen Verfahrens.
Der Petitionsausschuß verweist hier mit allem Nachdruck auf die Verträge von Helsinki, in denen sich die Teilnehmerstaaten verpflichteten, Gesuche
zur Familienzusammenführung zu genehmigen und so zügig wie möglich zu behandeln.
({0})
Die Bundesregierung sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zu helfen. Der Bundeskanzler sollte bei seinem Besuch Anfang Juli bei Herrn Andropow in Moskau die humanitären Probleme der Familienzusammenführung nachdrücklich gegenüber den sowjetischen Gesprächspartnern ansprechen und dabei auch konkrete Einzelfälle vortragen, wie das in der Vergangenheit durch andere Bundeskanzler schon geschehen ist.
Während 1978 noch 8 455 Aussiedler die UdSSR verlassen konnten, waren es 1982 nur noch 2 071 Personen. Bei gleichbleibender Entwicklung wird 1983 nicht einmal mehr diese Zahl erreicht werden.
Diesen Zahlen steht eine immer bedrückendere Situation der Ausreisewilligen gegenüber, die das eben geschilderte Schicksal erleiden müssen.
Eine Vielzahl von Petitionen zur Familienzusammenführung bezog sich in der vergangenen Zeit auch auf Polen. Dabei häufen sich die Fälle, in denen die Petenten im Rahmen einer Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland kamen und nicht wieder zu ihren Familien nach Polen zurückkehrten. Die polnischen Behörden haben in solchen, wie sie es nennen, illegalen Fällen für die in Polen verbliebenen ausreisewilligen Angehörigen bisher nur in einer relativ kleinen Zahl Ausreisegenehmigungen in zumutbarer Zeit erteilt. Sie vertreten nämlich den Standpunkt, daß ein in ihren Augen illegales Verbleiben im Ausland nicht vorrangig zum Nachzug der Familienangehörigen führen dürfe.
Das polnische Außenministerium lehnt daher die Annahme von Interventionsnotizen unserer Botschaft entschieden ab. Die Polen betrachten dies als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
Der Petitionsausschuß erwartet von der Bundesregierung, daß sie trotzdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit diese Ausreiseanliegen fördert.
({1})
Der Ausschuß rät den Angehörigen, den Ausreiseantrag bei den zuständigen polnischen Behörden beharrlich weiterzuverfolgen und unsere Botschaft in Warschau über die Entwicklung des Ausreiseverfahrens auf dem laufenden zu halten.
Wenn die Antragsteller allerdings Personen mit unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit sind, können sie sich auf das von einer Familienzusammenführung unabhängige originäre Antragsrecht nach Nr. 2 Abs. 1 der fortgeltenden „Information" der polnischen Regierung vom Dezember 1970 berufen und über diesen Weg unter Umständen auch Erfolg haben.
In den letzten Wochen und Monaten sind uns allen die Schwierigkeiten der Ausreisewilligen aus Rumänien bekanntgeworden. Der rumänische Staatsrat erließ im Oktober 1982 ein „Dekret über die Pflichten der Personen, die sich für immer im
Ausland niederlassen wollen". Damit wurde den betroffenen Personen die Rückzahlung von Ausbildungskosten in Devisen auferlegt, wenn Sie so wollen: ein Lösegeld. Eine solche Regelung bedeutet einen Stopp jeglicher Ausreise, einen schweren Schlag für die ausreisewilligen Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben.
Der Petitionsausschuß hat es begrüßt, daß mit Rumänien jetzt allerdings in dieser Angelegenheit vernünftigere Regelungen vereinbart werden konnten. Danach soll das Dekret seit dem 21. Mai 1983 nicht mehr angewandt werden. Wie man der Presse entnehmen konnte, wird die Bundesregierung eine pauschale Entschädigung an Rumänien zahlen, die sich nach der Zahl der Ausreisenden bemißt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Aussiedler aus den Ostblockländern nach vielen Mühen und den geschilderten Entbehrungen endlich die Bundesrepublik erreicht haben, beginnen für sie die Schwierigkeiten der Eingliederung. Es schien dem Petitionsausschuß daher notwendig, daß eine ausreichende Sprachförderung für Aussiedler aufrechterhalten wird. In vielen Petitionen hatten sich Aussiedler gegen eine Änderung der Sprachförderung gewandt. Darin war als Bemessungsgrundlage ein pauschaliertes durchschnittliches Arbeitseinkommen festgesetzt und das Unterhaltsgeld von 80 auf 68 % gekürzt worden. Der Ausschuß kam zu der Auffassung, daß diese Regelung insbesondere jugendliche Aussiedler hart treffe, da ihnen ohne Sprachförderung eine angemessene berufliche Eingliederung außerordentlich erschwert wird. Er hat daher die Eingabe dem Bundesminister zur Erwägung überwiesen.
Die Reaktion war jedoch nicht erwartungsgemäß. Am 28. Dezember 1982 schrieb der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung dem Petitionsausschuß:
Die Bundesregierung hat u. a. auf Grund des Beschlusses des Petitionsausschusses geprüft, ob die Sprachförderungsverordnung erneut überarbeitet werden sollte. Sie sieht danach leider keine Möglichkeit, die vom Petitionsausschuß für wünschenswert gehaltenen Leistungsverbesserungen im Bereich der Sprachförderungsverordnung zu verwirklichen.
Einige Tage später mußten wir dann feststellen, daß nicht nur keine Leistungsverbesserung, sondern sogar eine Leistungsverschlechterung folgte; denn im Zusammenhang mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 hat die Bundesregierung durch Verordnung erneut eine Verschlechterung der Sprachförderung durchgeführt. Das Unterhaltsgeld wurde für die Förderung des Deutschunterrichtes wiederum gesenkt, und zwar diesmal auf 58 % - also um weitere 10 % - des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgeltes. Darüber hinaus wurde ab 1983 nur noch ein Ehepartner unterhaltsgeldberechtigt, auch wenn beide Ehegatten an der Sprachförderung teilnehmen mußten. Mit diesen Maßnahmen wurde die wirtschaftliche Lage dieses förderungswürdigen Personenkreises in einem solchen Maße eingeschränkt, daß die Eingliederung erheblich behindert wird, und wir bedauern dies.
Lassen Sie mich nun, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein ganz anderes, aber sicher ebenso brisantes Gebiet ansprechen, mit dem wir auf Grund von 353 Eingaben im Petitionsausschuß zu tun hatten. Es ist der Bereich des Ministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Es war schon der Presse zu entnehmen, daß wegen der Wirtschaftkrise und der damit verbundenen Einkommensschwäche immer mehr Mietrückstände zu verzeichnen sind und die Räumungsklagen sich häufen. Auch die Petitionen zeigen uns, daß es nach wie vor an preiswerten Mietwohnungen fehlt und daß der soziale Wohnungsbau zukünftig ein bedeutungsvolle Aufgabe hat.
In diesem Zusammenhang sind besonders die Gesetze zur Milderung sozialer Härten wichtig, das soziale Mietrecht und das Wohngeldgesetz. Es ist meine persönliche Meinung, daß in diesem Bereich die soziale Absicherung der Mieter erhalten bleiben und verbessert werden muß. Dieser meiner Forderung kommen die Haushaltsbegleitgesetze 1983 der neuen Bundesregierung, nämlich schlechtere Bedingungen im Wohngeldgesetz und bessere Bedingungen für Mieterhöhungen, eigentlich nicht entgegen. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen werden wir in den zukünftigen Petitionen nachlesen können, nämlich dann, wenn sich die Härten dieser Gesetze voll ausgewirkt haben.
Lassen Sie mich zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein paar Worte zur Drucksache 10/204 mit dem Änderungsantrag zur Wehrdienstverweigerung sagen. Ich darf Ihnen hier mitteilen - das ist vorhin bereits vorgetragen worden -, daß diese Petition im Petitionsausschuß unter Hinweis auf die Sach- und Rechtslage mit Mehrheit als erledigt betrachtet wurde. Die Fraktion der Sozialdemokraten hat sich dafür ausgesprochen, daß in diesem Fall die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen werden sollte.
({2})
Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß die SPD-Fraktion in der letzten, der 9. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages bereits einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der von der Mehrheit dieses Hauses abgelehnt worden ist. Aus diesem Gesetzentwurf ging bereits hervor, daß auch wir der Auffassung sind, daß das von CDU/CSU und FDP vorgelegte Gesetz nicht verfassungsgemäß ist.
({3})
Wir - die SPD-Fraktion - werden dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/204 zustimmen. - Ich danken Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich darauf beschränken, etwas zu dem Antrag der Fraktion der
GRÜNEN und zu den Ausführungen zu sagen, die Herr Meininghaus dazu gemacht hat. Die SPD hatte in der Tat schon im Ausschuß den dort wie hier untauglichen Versuch gemacht, über diese Petition einen Weg zu finden, die Neuregelung der Wehrdienstverweigerung wieder auszuhebeln. Wir werden diesen Versuch nicht mitmachen, wir werden ihm energisch entgegentreten, weil nach sechsjähriger Untätigkeit und Unfähigkeit der früheren Bundesregierung in dieser Frage die Koalition der Mitte jetzt endlich in wenigen Monaten eine Neuregelung zustande gebracht hat, mit der das förmliche Anerkennungsverfahren abgeschafft wurde.
({0})
Alle Beteiligten, auch hier im Hause, haben immer erklärt, dieses förmliche Anerkennungsverfahren sei unwürdig,
({1})
sei ungeeignet, wirklich eine Wehrdienstverweigerungsregelung zu erreichen. Nur, meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben als Regierungsfraktion in dreizehn Jahren keine verfassungsmäßige Neuregelung zustande gebracht. Herr Meininghaus hat hier zwar erwähnt, daß Sie hier im Bundestag einen Antrag eingebracht haben, nachdem Sie aus der Regierung ausgeschieden waren. Nur, in Ihrer Regierungszeit waren Sie nicht in der Lage, einen Kompromiß zustande zu bringen,
({2})
und man weiß - man hat es aus vielen Veröffentlichungen gehört -, daß dieser Kompromiß an Ihnen gescheitert ist. Wir haben doch den Beweis erbracht, daß bereits in kurzer Zeit ein Kompromiß gefunden werden konnte, eine Neuregelung, mit der wir genau dieses Ziel, das unwürdige, ungeeignete Anerkennungsverfahren abzuschaffen, erreichen konnten.
({3})
Meine Damen und Herren, weil Sie das nicht überwinden können,
({4})
daß die Koalition der Mitte innerhalb von wenigen Monaten das auf den Weg gebracht hat, versuchen Sie nun auf dem Weg über eine Petition, das wieder auszuhebeln.
({5})
Sie haben diesen Versuch doch hier nur angestellt, weil Sie ganz genau wissen, daß der Kompromiß, der hier in Gang gesetzt worden ist, sich letztlich im Kern von dem, was Ihren Gesetzesantrag ausmacht, nur durch vier Wochen unterscheidet. Sie behaupten, diese Neuregelung sei verfassungswidrig - mit dem Argument,
({6})
der Zivildienst sei mit 20 Monaten zu lang, und
beantragen selbst 19 Monate, als könnte der ent1136
scheidende verfassungsrechtliche Unterschied in vier Wochen bestehen. Das glauben Sie doch selbst nicht!
({7})
Ich darf Sie daran erinnern, daß noch zur Zeit der alten Bundesregierung das Bundesjustizministerium und das Bundesinnenministerium ein Gutachten erstellt haben, in dem gesagt wurde, daß bei Abschaffung des formellen Anerkennungsverfahrens eine Anhebung des Zivildienstes auf 20 Monate - so damals die alte Bundesregierung - nicht nur verfassungsgemäß, sondern auch angemessen sei. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen, heute behaupten Sie, dies sei verfassungswidrig.
({8})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur „Postkarten-Verweigerung" deutlich gemacht, daß eine Verlängerung des Zivildienstes auf bis zu 24 Monate in Betracht komme, wenn man das förmliche Anerkennungsverfahren abschaffe.
({9})
Die eigentliche Begründung der Verlängerung des Zivildienstes ist doch darin zu sehen, daß man dann, wenn das Anerkennungsverfahren entfällt, eine Möglichkeit haben muß, die Erklärung, den Wehrdienst zu verweigern, neben einer schlüssigen Antragsbegründung als hinreichendes Indiz für eine Verweigerung aus Gewissensgründen zu werten.
Sie behaupten nun - die Fraktion der GRÜNEN wie die der SPD -, tatsächlich sei aber das Anerkennungsverfahren, so wie es vorher gewesen sei, gar nicht abgeschafft worden.
({10})
- Sie bestätigen das mit Ihrem Zwischenruf noch einmal. Herr Kollege, dann würde ich Ihnen wirklich sehr empfehlen, noch einmal sorgfältig nachzulesen, was gefordert ist. Es ist nur eine schlüssige, widerspruchsfreie Antragsbegründung gefordert. Dann ist das Bundesamt für den Zivildienst verpflichtet, den Antragsteller als Wehrdienstverweigerer anzuerkennen.
({11})
Nun wollen Sie hier doch wohl nicht ernsthaft fordern, daß der Staat gegenüber jemandem, der mit anderen Gründen als solchen, die Gewissensgründe darstellen, seine Anerkennung als Wehrdienstverweigerer begehrt, diesem Begehren entsprechen sollte. Wenn beispielsweise jemand seinen Antrag damit begründet, daß er diesen Staat ablehne und deshalb nicht Wehrdienst leisten könne, dann ist das keine Begründung,
({12})
die nach der Verfassung, Herr Kollege, eine Wehrdienstverweigerung rechtfertigt, weil es kein Gewissensgrund ist.
({13})
Was die Einwendungen der Fraktion der GRÜNEN mit der besonders interessanten Begründung, daß sie sich hier auf Art. 12 a der Verfassung berufen, angeht, so ist das, meine Damen und Herren, nun allerdings etwas seltsam: Sie wollen doch im Kern politisch gerade das, was der Verfassung entgegensteht, nämlich die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht.
({14})
Bei dieser Forderung nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht können Sie sich aber nicht auf Art. 12 a berufen. Es ist zwar politisch konsequent, daß jemand, der die Abschaffung der Wehrpflicht fordert, selbstverständlich auch sagt: keine Verlängerung des Zivildienstes. Aber es ist gegen die Verfassung. Deshalb sollten Sie wenigstens so ehrlich sein und sich in diesem Punkt nicht auf die Verfassung berufen, meine Damen und Herren.
({15})
Ich finde, daß das, was hier an Gründen angeführt wird, in verfassungsmäßiger Hinsicht wirklich vorgeschobene Gründe sind. Man hört ja, daß es eine Verfassungsbeschwerde geben soll. Da das Verfassungsgericht selber in seinem Urteil einen Rahmen von bis zu 24 Monaten vorgeschlagen und dem Gesetzgeber anheimgestellt hat, innerhalb dieses Rahmens eine Regelung zu treffen, wird es eine Erhöhung des Zivildienstes auf 20 Monate ganz sicherlich für verfassungsmäßig erklären.
Meine Damen und Herren, Sie wollen durch Ihren Antrag zu dieser Petition eine Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung erreichen. Die CDU/CSU-Fraktion wird diesen Antrag ablehnen, weil die neue gesetzliche Regelung ein entscheidender Fortschritt auf dem Weg zu mehr Wehrgerechtigkeit ist und auch bleiben soll.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal, Herr Dr. Göhner: Vorhin war davon die Rede, im Parlament keine Wahlkampfreden zu halten. - Ich finde die politische Auseinandersetzung um Petitionen legitim. Von daher finde ich es auch richtig, daß die Frau Kollegin Nickels hier eine der Petitionen herausgegriffen hat, an der deutlich wird, was eine nicht unbedeutende Gruppe von Jugendlichen in unserem Lande bewegt; das finde ich gut. Ich finde auch gut, daß sich diese Petenten in der jetzt laufenden Debatte wiedererkennen.
({0})
Herr Dr. Göhner, Sie haben die Streitpunkte j a deutlich angesprochen. Die ganze Frage ist keine Frage des Zeitraums, in dem man zu einer Einigung kommt. Man kann sehr schnell zu einer Einigung kommen, wenn man einer Mehrheit angehört, die bereit ist, die Interessen derjenigen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, mit Füßen zu treten; dann kann man sehr schnell zu einer Einigung kommen.
({1})
Peter ({2})
Wir allerdings haben jahrelang darum gerungen, einen Kompromiß zu finden, der die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen voll berücksichtigt, aber eben an die Untergrenze geht. Wir meinen, daß Ihr Gesetz über die vom Verfassungsgericht festgelegten Rahmenbedingungen und Grenzen hinausgeht und daß es nicht verfassungsgemäß ist. Deshalb wird sich die SPD-Fraktion höchstwahrscheinlich den Verfassungsklagen der sozialdemokratisch regierten Länder anschließen. In Karlsruhe wird dann zu überprüfen sein, was Sie hier in Ihrer Exegese als verfassungsmäßig darzustellen versucht haben.
Der Kernpunkt ist dabei der Wegfall der Gewissensprüfung. So wie Sie es geregelt haben, ist es ein Abiturientenprivileg. Es trifft die vielen Kriegsdienstverweigerer, die möglicherweise nicht in der Lage sind, das so schlüssig zu formulieren, wie es Ihren Vorstellungen entspricht, negativ. Deshalb halten wir die Regelung so, wie Sie sie vorgesehen haben, nicht für einen Wegfall der Gewissensprüfung.
Das zweite ist die Dauer des Zivildienstes. Da sind vier Wochen nicht ohne Bedeutung. Wir haben in unserem Gesetzentwurf die Auflage des Verfassungsgerichts an der unteren Grenze zu erfüllen versucht, während Sie - bzw. die CSU - versucht haben, 24 Monate in die Debatte zu bringen. Dann ist bei Ihnen so etwas wie eine Tarifverhandlung abgelaufen. Tarifverhandlungen finde ich zwar gut, aber in der Frage, eine politische Begründung für die Zeitdauer zu finden, finde ich das ein bißchen abenteuerlich.
Ich wollte mich aber eigentlich mit dem Thema Sammel- und Massenpetitionen auseinandersetzen; denn dazu bedarf es meines Erachtens einiger kritischer oder, besser gesagt, auch selbstkritischer Anmerkungen. Schon immer waren Massenpetitionen oder Sammelpetitionen ein politischer Gradmesser für die Auswirkungen von Gesetzesänderungen. Sie haben schon oft auf Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten aufmerksam gemacht, die uns Parlamentariern bei der Diskussion und Verabschiedung oft nicht aufgefallen sind. Das gilt insbesondere für Verschlechterungen von Leistungsgesetzen, da die Betroffenen die Auswirkungen direkt am eigenen Leibe erfahren und naturgemäß dazu neigen, sich zu beschweren. Von daher erklären sich die vielen Eingaben zu den Begleitgesetzen zum Haushalt 1982, die übrigens im Bericht detailliert dargestellt sind, und zu den Begleitgesetzen zum Haushalt 1983, die im Bericht weniger detailliert dargestellt sind - woher das wohl kommt? -, aber teilweise noch gravierendere Belastungen gebracht haben. Ich nenne zu den im Bericht angesprochenen Kürzungen im Bundesausbildungsförderungsgesetz zusätzliche - natürlich ausschließlich aus Gründen der Ausgewogenheit - die weitere Verschlechterung im Arbeitsförderungsgesetz, die Selbstbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten und Kuren, das neue Kriegsdienstverweigerungsrecht, die Mietrechtsänderungen und die Verschiebung der Rentenanpassung. Die Liste der Verschlechterungen durch die neue Bundesregierung ließe sich durchaus noch fortführen.
({3})
Die bisherigen und noch weiter laufenden Eingaben sind oft geeignet, Anregungen für künftige Novellierungen der Gesetze zu geben, da sie meist auf besondere Härten, Kumulierung von Belastungen oder Ungereimtheiten hinweisen. Deshalb ist keine dieser Eingaben umsonst, auch wenn sie nicht zum Erfolg geführt haben.
Meine Damen und Herren, betrachten wir einen anderen Aspekt. Betrachten wir die Petenten einmal nach ihrer sozialen Stellung, werden wir auf ein Problem aufmerksam, das uns nachdenklich machen sollte. Offensichtlich neigen Betroffene, die auf Grund von Bildungsstand, beruflichem Selbstbewußtsein oder durch Mitgliedschaft in einer Interessenorganisation gewohnt und in der Lage sind, ihr Schicksal selbst gestaltend in die Hand zu nehmen, eher dazu, auch das Instrument der Petition zur Interessenwahrung einzusetzen. Die zahlreichen Petitionen zum sogenannten Abbau der Doppelversorgung bei Beamten nach § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes durch Anrechnung von Renten auf die Versorgungsbezüge sind ein Beispiel dafür. Unser Problem ist, wie wir die Betroffenen, die nicht gewohnt sind, sich zu wehren, und dazu neigen, zu resignieren, ermutigen, von ihrem Petitionsrecht Gebrauch zu machen. Die Öffentlichkeitsarbeit durch die Vorsitzende des Petitionsausschusses versucht dies meines Erachtens in vorbildlicher Weise. Das Anliegen bedarf aber der Ergänzung durch uns alle in unseren Wahlkreisen und in unseren Wahlkreissprechstunden, damit das Petitionsrecht bei den Betroffenen, die ermutigt werden sollen, auch bekannt wird.
({4})
Ein anderer, zunehmend an Bedeutung gewinnender Gesichtspunkt im Zusammenhang mit Masseneingaben ist die Tatsache, daß immer mehr Bürger bereit sind, über Eingaben an den Bundestag auf die Willensbildung des Parlaments Einfluß zu nehmen. Wir haben eben über ein Beispiel diskutiert. Masseneingaben im Berichtszeitraum betrafen Gegenstände wie Tier- und Artenschutz, das Verbot des Imports von Robbenfellen, die Verhinderung von Großprojekten wegen deren negativen Auswirkungen auf Natur und Umwelt, das Verbot von Gewalt gegen Kinder, weil es einer humanen Gesellschaft ins Gesicht schlägt, wenn sie körperliche Züchtigung von Schwächeren akzeptiert. Jetzt kommen - mit stark ansteigender Tendenz - Eingaben, die sich gegen die Stationierung neuer Atomwaffen und für andere Aktivitäten in diesem Bereich aussprechen, etwa für die Steuerverweigerung im Blick auf Rüstungsausgaben oder die Einführung atomwaffenfreier Zonen. So ging beispielsweise vorgestern durch die Presse, daß eine Initiative „Richter und Staatsanwälte für den Frieden" dem Herrn Bundestagspräsidenten am Dienstag
Peter ({5})
eine Petition gegen die Stationierung der neuen US-Raketen übergeben habe.
({6})
Die wachsende Zahl dieser Petitionen, die Politisierung der Inhalte sind meines Erachtens Ausdruck einer wachsenden Bereitschaft, sich über die eingefahrenen Wege der Teilhabe an der Politik hinaus zu engagieren. Engagement von Bürgern ist aber in der Demokratie, besonders in der parlamentarischen Demokratie erwünscht. Deshalb sollten wir ausdrücklich begrüßen, daß sich Bürger in den sie bewegenden Fragen auch in dieser Form an den Deutschen Bundestag wenden.
({7})
Viele Bürger glauben schon nicht mehr, daß die Politiker und die Parlamente von selbst ihre Sorgen und Nöte aufgreifen wollten oder könnten. Sie suchen deshalb nach Möglichkeiten, ihre Interessen auf andere Weise durchzusetzen, oder verfallen in Resignation.
Die Masseneingaben zu aktuellen politischen Fragen stellen an uns alle und an den Petitionsausschuß eine große Herausforderung dar. Offensichtlich sehen diese Bürger in Eingaben an den Petitionsausschuß die Chance, die Mauer, oder besser: die Gummiwand zwischen Diskussionen im Parlament, in denen sie sich oft nicht wiederfinden, zu durchstoßen. Sie sehen offensichtlich die Möglichkeit, über Petitionen auch zwischen den Wahlterminen und an den Parteien, die sie oft „etablierte" nennen, vorbei direkt an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Sie beschreiten offensichtlich diesen Weg und hängen noch nicht der Forderung an, über konsultative Volksbefragungen die plebiszitären Elemente unserer Staatsordnung auszuweiten. Werden wir Parlamentarier dieser Hoffnung nicht gerecht, besteht die realistische Gefahr, daß bei diesen Petenten Staats- und Parteienverdrossenheit zunimmt und eben andere Formen der Interessenwahrnehmung gesucht werden. Wir müssen uns fragen, ob wir diesen Erwartungen gerecht geworden sind oder ob wir neue Wege des Umgangs mit diesen Petenten finden müssen.
Der Bericht enthält in diesem Zusammenhang eine kritische Anmerkung. Unter Ziffer 1.4 heißt es:
Auch die Erfahrungen des Jahres 1982 zeigen, daß in den Fachausschüssen Petitionen nicht unmittelbar in die Beratungen einbezogen werden.
Der Bericht schlägt von daher vor, zu prüfen, ob eine Änderung der Geschäftsordnung angeregt werden soll. Ich meine, daß in eine solche Diskussion auch die Frage einbezogen werden müßte, welche geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten bestehen oder geschaffen werden müßten, wichtige Fragen, die in Massenpetitionen oder Einzelpetitionen angesprochen werden, auch im Bundestag direkt diskutieren zu lassen.
({8})
Ich sehe hier deshalb Änderungsbedarf, weil der Petitionsausschuß diesem Anliegen allein nicht genügen kann. Ich nenne drei Beispiele.
Erstens. Verbot von Gewalt gegen Kinder. Hier hätte beispielsweise eine öffentliche Diskussion oder eine öffentliche Anhörung von Experten das Anliegen der Petenten angemessen aufnehmen können. Es gibt j a schließlich Gewalt gegen Kinder. Und das gehört ins öffentliche Bewußtsein und nicht in die abgeschlossene Beratung eines Ausschusses unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Zweitens. Abschaffung von Tierversuchen; Massentierhaltung; Verbot der Einfuhr von Robbenfellen. Hier hätte der Zielkonflikt zwischen ökonomischer Verwertungslogik und der Ethik des humanen Umgangs mit dem Leben einmal öffentlich aus der interessenbezogenen Diskussion der unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagenden Fachausschüsse herausgeholt werden können. Dann wäre zumindest der Wahlkampfstreit, wer denn nun der bessere Tierschützer sei: Genscher, Ertl oder Zimmermann, nicht so interessant gewesen. Die vielen Tierschützer hätten sich in einer Diskussion um ihr Anliegen im Parlament wiedererkannt.
({9})
Drittens. Ausbau des Frankfurter Flughafens. Der Versuch mehrerer Petenten, durch eine nachträgliche Prüfung nach den Grundsätzen der Bundesregierung zur Umweltverträglichkeit die Diskussion um die Startbahn West zu entkrampfen, mußte zu einem Votum „nach Sach- und Rechtslage erledigt" führen, ohne daß unsere im Ausschuß intensiv geführte Diskussion in irgendeiner Form politisch zur Entkrampfung der Lage beitragen konnte.
Wie wird sich der Petitionsausschuß verhalten, wenn die bereits vorhandenen Petitionen gegen die Raketenstationierung beraten werden? Wird es dann auch heißen: „nach Sach- und Rechtslage erledigt"?
Ich wollte mit meinen Ausführungen einen Denkanstoß geben. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker ({0}).
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der parlamentarischen Demokratie hat der Petitionsausschuß als Institution eine besondere Rolle, wenn es gilt, Unrecht auszuschalten oder zu unterbinden oder offensichtliche Mängel zu beseitigen. Da ein noch so ausgefeiltes Gesetz und eine noch so gut durchdachte Verordnung immer Mängel in der Praxis zeigen, kommt gerade diesem Ausschuß als Notrufnummer für den Bürger eine besondere Bedeutung zu.
Ich bin allerdings der Meinung, daß wir in diesem Ausschuß so wenig wie möglich Parteitaktik und so
Dr. Becker ({0})
viel wie möglich Politik für den Bürger machen sollten.
({1})
Ich bin auch der Meinung, daß dieser Ausschuß nicht ein Untersuchungsausschuß im Sinn der übrigen Ausschüsse des Parlaments ist, der irgendwelche Dinge aufspüren soll, sondern daß er eben nur dem Bürger helfen soll.
Ich begrüße es deshalb, daß wir heute im Plenum die Gelegenheit haben, dem Bürger die Ergebnisse unserer Bemühungen darzustellen.
Ich greife einige Beispiele heraus, die über die Wirkung des Ausschusses hinaus weiter fortwirken können.
Zunächst: Lieber Kollege Meininghaus, Sie haben bedauert, daß bei der Unterhaltsgeldregelung für die Sprachförderung nur noch ein Ehegatte beteiligt wird. Ich darf Ihnen mitteilen, daß heute mit Ablauf 12.00 Uhr das Bundeskabinett auf Vorschlag des Bundesarbeitsministers im Umlauf beschlossen hat, daß im Rahmen der Sprachförderung rückwirkend vom 1. April 1983 an wieder beide Ehegatten Unterhaltsgeld erhalten. Wir sind erfreut, daß wir dies heute bereits als eine schnelle Wirkung erreichen.
({2})
- Wunderbar! Sie sehen: Wir arbeiten schnell und reden nicht zu lang. Auch dies will ich hier begrüßen.
Nach dem Inkrafttreten des Kostendämpfungsgesetzes von 1981 beklagten viele Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, daß sie sich an jeder Krankenfahrt mit 5 DM beteiligen müssen. Insbesondere wurde auf die starke finanzielle Belastung hingewiesen, die gerade bei chronisch Kranken eintritt. Da dieses Verfahren durch die Satzungen zu regeln ist, hatte der Ausschuß den Bundesarbeitsminister gebeten, möglichst rasche Festlegungen bei den einzelnen Krankenkassen zu erreichen. Sehr rasch konnte erreicht werden, daß der Krankentransport in Notfällen ohne Kostenbeteiligung durchgeführt wird und daß auch hier nicht im nachhinein noch eine Kostenbeteiligung nachgefordert wird. In den Satzungen der Versicherungsträger wurde präzisiert, daß ein Notfall überall dort vorliegt, wo ein Rettungswagen oder ein Rettungshubschrauber zum Einsatz kommt.
Es dauerte allerdings etwas länger, bis die übrigen Schwierigkeiten beseitigt werden konnten. Inzwischen gibt es bei den Krankenkassenverbänden Bundesempfehlungen. Danach können Freistellungen für chronisch Kranke für Schwerkranke mit Mehrfachfahrten in den Satzungen vorgenommen werden, wenn die Belastung eine bestimmte Höhe überschreitet. Zur Zeit fällt darunter eine Belastung von über 20 DM bis 25 DM im Monat. In der Praxis wird dies allerdings verschieden gehandhabt. Ein Teil der Versicherungsträger hat eine Freigrenze nach den Einkünften - zur Zeit 984 DM - eingeführt. Andere Versicherungsträger haben darüber hinaus die Bundesempfehlungen, wie soeben gesagt, übernommen.
Grundsätzlich halte ich es für wichtig, daß alle diese Dinge über die Selbstverwaltung geregelt werden können. Wir sollten die Selbstverwaltungen nicht zu sehr mit Gesetzesvorschriften einschränken, sondern ihnen die Möglichkeit geben, sich frei zu entfalten, um zugunsten ihrer Mitglieder dezentral rascher wirken zu können, als wenn dies zentral über irgendwelche von oben erlassenen Verordnungen gehen muß.
In einem anderen Fall hatte der Petitionsausschuß bereits 1981 auf erhebliche Bearbeitungsrückstände bei einer Berufsgenossenschaft hingewiesen. Auf Wunsch des Ausschusses hatte sich das Bundesversicherungsamt dort hinbegeben und eine Sonderprüfung vorgenommen, die erhebliche Struktur- und Organisationsmängel erkennen ließ. Bei einer Anhörung im Herbst des vergangenen Jahres konnten wir feststellen, daß die Bearbeitungsrückstände inzwischen durch organisatorische Maßnahmen, durch Überstunden und durch Hilfe anderer Berufsgenossenschaften abgebaut werden konnten. Auch wurden inzwischen Umorganisationen eingeleitet. Es ist dort auch eine personelle Konsolidierung eingetreten. Dies hat u. a. auch dazu geführt, daß über die bisherige Ausbildungskapazität hinaus zukünftig 42 Auszubildende in dieser Dienststelle sein werden.
({3})
Dies ist eine Steigerung um 100 %. Das ist auch eine Folgewirkung unseres Eingreifens. Es ist in Kürze mit dem Abschlußbericht zu rechnen. Hier konnte erreicht werden, daß den über 200 000 Mitgliedsunternehmen mit 1,5 Millionen Versicherten weitere Mißhelligkeiten erspart bleiben.
Die Aktivität des Ausschusses hat darüber hinaus einen anderen Effekt. Der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften machte seinen Mitgliedern die Situation deutlich und legte dar, daß Aufsichtsbehörden und politische Instanzen inzwischen sensibel auf solche Beschwerden über Verzögerungen bei der Bearbeitung reagieren. Er nahm die Geschäftsführer, die Selbstverwaltungsorgane in die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß auch Einzelfälle keinen Anlaß zu Eingriffen geben. Meine Damen und Herren, das ist eine der Fortwirkungen. Ich bin froh, dies heute sagen zu können. Vielleicht nehmen andere Organisationen das auch zum Anlaß, darauf aufmerksam zu werden, daß wir hier sensibel auf solche Beschwerden der Bürger reagieren und versuchen, dies abzuschaffen.
({4})
Zum Schluß möchte ich noch auf einige Petitionen eingehen, die die Forderung nach einem totalen Werbeverbot für Tabakerzeugnisse zum Inhalt hatten. Der Ausschuß hat sie an den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit als Material überwiesen, da dort eine Rechtsvorschrift vorbereitet wird, nach der künftig alle Tabakwaren und alle Tabakerzeugnisse einen Warnhinweis für die Verbraucher tragen sollen.
Dr. Becker ({5})
Wir sind uns allerdings darüber im klaren, meine Damen und Herren, daß es mit Warnungen und Verboten allein nicht getan ist, da Verbote in diesem Bereich nur eine verhältnismäßig geringe Wirkung haben. Einer modernen Gesundheitspolitik kommt hier vielmehr die besondere Aufgabe zu, durch eine bessere und vermehrte Aufklärung vor den gesundheitlichen Gefahren des Rauchens zu warnen. Der Staat ist dazu um so mehr verpflichtet, als er bei den Tabakerzeugnissen Milliarden von D-Mark an Steuern einnimmt, ohne aber gegen die Folgen des Mißbrauchs mehr zu tun, als nur Hinweise auf die Gefahren zu geben.
Gewiß ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit ihren Druckschriften hier aktiv. Doch ist dies alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Besonders zu loben sind auch die freien Initiativen, die durch ihre Aufklärung über die Gefahren bei der Jugend viel tun, so in Sportverbänden oder in Jugendverbänden. Hier ist insbesondere auch die Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung e. V. zu nennen.
Die Verantwortlichen in den Ländern, meine Damen und Herren, sollten darüber hinaus aber einmal nachdenken, ob es überhaupt sinnvoll ist, Raucherzimmer in den Schulen zu unterhalten, da wir wissen, daß die Gefährdungen um so schwerwiegender sind, je früher mit dem Rauchen begonnen wird. Hier kommt auch der Verbreitung der Programme zur Raucherentwöhnung eine besondere Bedeugung zu. Das Programm der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung z. B. ist sehr gut und sehr effektiv. Ich weiß auch, daß einige unserer Kolleginnen und Kollegen schon probiert haben, das zu nutzen. Aber es wäre auch darüber einmal nachzudenken, wie es beim Rauchen am Arbeitsplatz mit der Gesundheit steht.
Meine Damen und Herren, an solchen Beispielen läßt sich aufzeigen, wie unsere Arbeit im Ausschuß weiter fortwirken kann oder fortwirken soll. Wir bedauern es, daß wir sehr oft nur nach Sach- und Rechtslage entscheiden können und müssen. Dies, meine Damen und Herren, wird von allen Mitgliedern im Ausschuß im allgemeinen voll bedauert. Daß es Haltungen gibt, die unterschiedlich gewertet werden, ist völlig klar und soll auch nicht weggenommen werden. Fahren wir jedoch fort in dem Bemühen, meine Damen und Herren, uns dem Anliegen der Bürger zu widmen.
Danken möchte ich hier an dieser Stelle noch einmal allen Mitgliedern, vor allen Dingen der Vorsitzenden, aber auch den Beamten und Angestellten des Petitionsausschusses, die uns hier mit ihren Leistungen und ihren Diensten vielfach helfen. - Schönen Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Punkt der Tagesordnung nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich darf mir erlauben, eine ergänzende Bemerkung zu machen. Am Anfang dieser Debatte über den Bericht des Petitionsausschusses haben sich die Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen gegenseitig für ihr Engagement und ihre Arbeit gedankt und auch ihren Mitarbeitern den Dank ausgesprochen. Ich glaube, die vielen Kollegen, die zu diesem Zeitpunkt der Tagesordnung und seinem Abschluß erschienen sind, sollten die Gelegenheit nutzen, den Kollegen im Petitionsausschuß, an der Spitze seiner Vorsitzenden Frau Berger und dem stellvertretenden Vorsitzenden Herrn Meininghaus, einmal gemeinsam ein Dankeschön für ihre Arbeit zu sagen.
({0})
Ich rufe den Punkt 12 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 5 des Petitionsausschusses ({1}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 10/160 -
b) Beratung der Sammelübersicht 6 des Petitionsausschusses ({2}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 10/195 Meine Damen und Herren, die in der gedruckten Tagesordnung unter Buchstabe c aufgeführte Sammelübersicht 7 wurde noch nicht vorgelegt. Es kann also darüber noch nicht entschieden werden.
Zur Sammelübersicht 5 liegt auf Drucksache 10/204 ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN vor. Wird dazu, nachdem die Begründung j a schon erfolgt ist, noch einmal das Wort gewünscht? - Ich stelle fest: nein.
Dann kann ich zur Abstimmung kommen. Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/204 seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Ich stelle fest, der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses, die in den Sammelübersichten 5 und 6 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen mit Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion der GRÜNEN angenommen. Die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses sind damit angenommen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion GRÜNE
Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken"
- Drucksache 10/153 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({3})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen
Vizepräsident Westphal
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung verlangt? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weirich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zwischenbericht dieser Enquete-Kommission ist in den Medien außerordentlich unterschiedlich bewertet worden.
({0})
Einen Augenblick, Herr Kollege Weirich, ich möchte Ihnen gern etwas Ruhe verschaffen.
Eine Reihe von Kollegen sind zu einer sehr bestimmten Handlung erschienen, die relativ kurzfristig gemeistert werden konnte.
({0})
Wenn Sie die Absicht haben, sich nur auf diese Handlung zu beschränken, bitte ich Sie, gleich den Saal zu verlassen und Ihren anderen Tätigkeiten nachzugehen, weil die anderen zuhören möchten.
Ich bitte um Aufmerksamkeit für den Redner.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zwischenbericht dieser Enquete-Kommission des Bundestages ist in den Medien außerordentlich unterschiedlich bewertet worden. Der „Evangelische Pressedienst" sprach von einer wichtigen und umfassenden Dokumentation. Der frühere Sprecher der SPD und frühere Intendant des Senders Freies Berlin, Franz Barsig, hat in einer Zeitung kommentiert: Außer Spesen nichts gewesen.
Es ist nicht meine Aufgabe, Kritik in der Presse zu rezensieren; denn Sie alle kennen die Vorgeschichte dieser Enquete-Kommission. Die Union war gegen die Einrichtung dieser Enquete-Kommission, weil in der alten Regierung und in den früheren Regierungsparteien die Neigung bestand, bei allen gesellschaftspolitisch brisanten Fragen Kommissionen einzurichten, um die Probleme dann auf die lange Bank zu schieben nach der Devise: Es gibt viel zu tun, warten wir es ab. Aber wir haben dann konstruktiv in dieser Kommission mitgearbeitet.
Inzwischen liegt ein Bericht vor, aus dem die neue Bundesregierung Konsequenzen ziehen kann; denn die Wende in der Frage der Nutzung der Mikroelektronik ist bereits von Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung angekündigt worden, als er sagte: Wir werden den Weg freigeben für die Anwendung moderner Techniken und die Entwicklungen neuer Technologien vor allem im Kommunikationswesen. Er hat dabei auf die besondere Rolle der Deutschen Bundespost verwiesen.
Da es sich um keinen Endbericht, sondern nur um einen Zwischenreport handelt, möchte ich aus der Sicht der Unionsfraktion dem Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen einige Empfehlungen geben. Der entscheidende Aspekt dieser neuen Techniken ist, daß sich in Zukunft die Nachrichtentechnik der Sprache der Datenverarbeitung bedient. Informationen, gleich ob wir sie als Ton, Sprache, Schrift oder Bild auffassen, werden nach geschlossenen internationalen Vereinbarungen in digitalisierter Form übertragen werden. Die Digitalisierung des Telefonnetzes und sein Ausbau zu einem schmalbandigen schnellen Datenkommunikationsnetz sind daher die erste vordringliche Forderung, die wir an die Deutsche Bundespost stellen.
In Ergänzung zu einem digitalisierten Telefonnetz stehen als breitbandige Netze Satelliten und in sehr eingeschränktem Umfang noch Lichtwellenleiter in Form der Glasfaser zur Verfügung.
Die digitalisierte Übertragung von Informationen führt zu dem Ergebnis, daß immer größere Datenmengen in immer kürzerer Zeit übertragen werden können mit dem Ergebnis, daß die aus der Datenverarbeitung uns allen bekannte Innovationsgeschwindigkeit in die Nachrichtentechnik übergeht. Aus dem Zusammenwachsen von Nachrichtentechnik und Datenverarbeitung ergeben sich all die Chancen und Risiken, die wir heute mit dem Kürzel „neue Medien" bedenken.
Ich glaube im übrigen, meine Damen und Herren von der SPD, daß der Ausbau der neuen Informations- und Kommunikationstechniken gar nicht mehr so umstritten ist; denn der Bundesgeschäftsführer der SPD, Herr Glotz, hat auf der Hannover-Messe gesagt, die neue Bundesregierung müsse in diesem Bereich mehr tun, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
Nun muß ich sagen, meine Damen und Herren - ich kritisiere das gar nicht, obwohl man in 13 Jahren sehr viel hätte tun können -: Ich finde, daß eine späte Einsicht besser ist als gar keine Einsicht.
({0})
Wir bieten den Sozialdemokraten in dieser wichtigen und zentralen Frage unserer Gesellschaftspolitik und des Arbeitsmarkts der Zukunft ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an.
Ich füge hinzu: Die Deutsche Bundespost muß ihre Stellung als Auftraggeber, Innovator und Investor besonders auf diesem Wachstumssektor festigen und verbessern, ohne allerdings ihr Monopol zu mißbrauchen. Auch das ist die Aufforderung unserer Partei, die marktwirtschaftlich orientiert ist und die sich auch an der Medienprogrammatik orientiert, die sie vor dem Regierungswechsel deutlich gemacht hat.
({1})
Ich möchte ein weiteres hinzufügen. Der Bund ist nur zuständig für die Fernmeldekompetenz. Die Länder sind kompetent für die Rundfunkorganisationen. Deswegen möchte ich nur wenige Aussagen zu dem zweiten Punkt machen, weil wir hier im Bundestag diskutieren.
Nur: Ich möchte hier deutlich machen, daß die Union alle von ihr regierten Bundesländer ausdrücklich ermuntert, das öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol aufzulockern und durch freie und private Initiativen zu ergänzen. Wir wollen Vielfalt in der Rundfunklandschaft der Zukunft, meine Damen und Herren.
({2})
Ich meine, daß die neuen technischen Möglichkeiten die Chance geben, die Zeiten des Monopols zu beenden. Wie kämen wir eigentlich dazu, die Informationen von Staats wegen künstlich zu verknappen, da wir doch die Möglichkeit haben, den Verfassungsanspruch der Bürger offensiv zu sichern, nämlich sich aus allen in- und ausländischen Quellen ungehindert zu informieren? Politik und Regierungen dürfen nicht von einem Podest aus sozusagen eine Vorauswahl als Zensor über Informationen und Geschmack des Bürgers treffen.
({3})
Ich füge ein zweites hinzu. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk befindet sich in einer solchen Krise, daß Wettbewerb die Selbstheilungskräfte anregt und Konkurrenz eigentlich die beste Gesundungskur für die alte Tante „Deutsches Fernsehen" ist.
({4})
Ich füge ein letztes hinzu. Ich halte es mit dem Präsidenten des Bundeskartellamts, Herrn Kartte, der gesagt hat, er sei schon deswegen für privaten Rundfunk, damit die öffentlich-rechtlichen Monopolisten einmal lernen könnten, mit wie wenig Geld man auskommen kann.
({5})
Ich füge außerdem noch hinzu. Wir führen eine Spardiskussion auf allen Ebenen und werden von vielen Rundfunkjournalisten zum Sparen ermuntert. Deswegen sage ich: Die Spardiskussion darf nicht an den Monopolanstalten vorbeigehen.
({6})
Die Post darf keine Medienpolitik machen. Aber sie hat die Chance, eine technische Infrastruktur, eine Art elektronische Autobahn zu schaffen, auf der dann die Vielfalt möglich ist. Das geschieht bei uns wie in allen modernen Industrienationen im Augenblick mit der Kupfertechnik. Für die Kupfertechnik spricht, daß es sich um eine ausgereifte Technik handelt, daß nicht unwesentliche Teile der Haushalte in Deutschland bereits in dieser Technik verkabelt sind und daß die Kosten einer Verkabelung in Glasfaser zehnmal so hoch sind.
Gegen die Glasfaser spricht darüber hinaus, daß sie gegenwärtig für den Einsatz im Ortsnetz überhaupt nicht zur Verfügung steht, daß wir nur erste Versuchsprojekte machen. Mit der Digitalisierung des Telefonnetzes und der Verkabelung in der Kupfertechnik können wir sämtliche heute absehbaren Dienste vom Telefon bis zur schnellen Datenübertragung und der Verteilung von Rundfunk abwikkeln, mit Ausnahme von Videokonferenzen und Bildfernsprechen.
Ich füge hinzu: Deswegen ist es eine leicht dümmliche Argumentation, so zu tun, als sei die Union mit ihrer Position die veraltete Partei, die auf die Kupfertechnik setzt, während die anderen sozusagen in einer Vision auf das Jahr 2000 im Grunde auf den Einsatz der Glasfasertechnik warten. Das ist nur ein entscheidendes Argument für die Verzögerung, die wir in diesem wichtigen Bereich nicht wollen.
Wir begrüßen deshalb das Konzept der neuen Bundesregierung, daß die Digitalisierung des Telefonnetzes in Angriff genommen wird, im Ortsnetz die Verkabelung in Kupfertechnik vorangetrieben wird und ein Nachrichtensatellit für die Rundfunkübertragungen, für die Bewegtbildübertragungen und die Übertragung hoher Datenmengen eingesetzt wird.
Ein Wort zum Thema Arbeitsplätze. Meine Damen und Herren, wenn wir uns dem Zukunftsbereich Mikroelektronik zuwenden, dann liegt darin ein erheblicher arbeitsmarktpolitischer Impuls. Wenn Informationsverarbeitung als Rationalisierungsinstrument zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt wird, können natürlich Arbeitsplätze verlorengehen und andererseits neue geschaffen werden. Verweigern wir uns aber dieser technischen Entwicklung, wird - das ist der entscheidende Aspekt - die Überflutung des deutschen Marktes mit ausländischen Produkten den Effekt heraufbeschwören, daß wir ausschließlich Arbeitsplätze verlieren und keine neuen gewinnen.
({7})
Wenn die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich sein will - Herr Glotz hat j a erklärt, wir dürften nicht die gleiche Entwicklung eintreten lassen wie in der Unterhaltungselektronik und in anderen Bereichen neuer Medien, wo wir inzwischen international abgekoppelt sind -, wenn wir uns also im internationalen Wettbewerb erfolgreich behaupten wollen, müssen wir uns offensiv dem industriellen Wandel stellen. Deswegen sage ich: Viel Zeit ist verschlafen worden, und deshalb ist es eine große gemeinsame nationale und auch europäische Kraftanstrengung wert, sich diesem großen Zukunftsthema zu widmen.
({8})
Horrorvisionen von der Mikroelektronik als „jobkiller" sind vor allem von einäugiger Sichtweise,
({9})
statischem Denken und Phantasielosigkeit geprägt.
({10})
Es mangelt an der Vorstellungskraft, daß die Technik selbst nicht nur neue Produkte, sondern auch völlig neue Lösungen vieler Probleme hervorbringen kann.
Herr Kollege Weirich, ich muß Sie daran erinnern, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ich möchte mit einem Dank an alle schließen, an die Parlamentarier aller Parteien, die in dieser Kommission mitgewirkt haben. Wir hatten ein sehr buntes Bild: Zunächst war die Sozialdemokratische Partei Regierungspartei, dann waren wir es; die FDP war Koalitionspartner erst des einen, dann des anderen. Das war ein Stück Bonner Programmvielfalt. Aber alle haben konstruktiv zusammengewirkt, und dafür danke ich allen. In meinen Dank schließe ich ausdrücklich die Sachverständigen, die Gutachter und das Sekretariat, das uns der Deutsche Bundestag für diese Kommission zur Verfügung gestellt hat, ein.
Nutzen wir die neuen Medien, bewältigen wir diese Zukunftsaufgabe! - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Nöbel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es schickte sich gut, wenn der Deutsche Bundestag dem „Weltkommunikationsjahr" 1983 wenigstens in dessen zweiter Hälfte mehr als eine Kurzdebatte widmen würde. Hier steht nicht die Fachsimpelei einiger weniger an; hier ist eine revolutionäre Entwicklung in Gang gesetzt. Der Herr Kollege Weirich sagt: Lokomotivfunktion, also mit voller Fahrt voraus, wohin, werden wir dann schon sehen.
Meine Damen und Herren, ich stimme dem zu, was jetzt die UNESCO erklärt. Sie sagt: Diese Veränderungen versprechen derart tiefgreifend zu sein, daß spätere Historiker das gegenwärtige Jahrzehnt vielleicht einmal als jenes bezeichnen werden, in dem die Entwicklung der Menschheit eine entscheidende Wende erfuhr.
Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken haben Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche. Entsprechend war der Auftrag der Enquete-Kommission. Nur ist es völlig falsch, ausschließlich die medienpolitische Seite zu sehen. Es ist schlimm genug, daß sich das, was Informations-und Kommunikationstechniken beinhalten, in der öffentlichen Meinung im wesenlichen auf die Verkabelungsdiskussion verkürzt hat.
In den wenigen verbleibenden Jahren dieses Jahrhunderts wird ein Wandel stattfinden, durch den wir die Wohnung von heute, die Schule von heute, die heutigen Krankenhäuser, Büros, Betriebe, die Arbeitsbedingungen und überhaupt den Begriff der Arbeit nicht mehr wiedererkennen werden. Meine Damen und Herren, sehen Sie sich den Supermarkt von heute noch einmal an, der den Tante-Emma-Laden verdrängt hat; ihn wird bald schon der Bildschirmhandel verdrängen.
Auch wenn der Bericht leider ein Torso geblieben ist und wenn mit der Wende eine Menge an Konsens wieder gestrichen wurde, ist nach unserer Auffassung diese Arbeitsdokumentation doch eine Fundgrube für die weitere Diskussion über Chancen und Risiken, die mit den neuen Informations-und Kommunikationstechniken verbunden sind.
Ziel muß es sein, im magischen Viereck von Arbeitsmarkt, Medienpolitik, Datenschutz und Technologieentwicklung die Balance zu finden. Wir haben nie die Kompetenz der Länder und deren Rundfunkhoheit in Frage gestellt. Wir Sozialdemokraten sind doch die Hüter unseres bewährten Rundfunksystems, das nicht verändert, sondern verbessert werden muß.
({0})
Adenauer ist mit seinem Versuch, ein Regierungsfernsehen einzuführen, am Verfassungsgericht gescheitert. Heute versuchen es Albrecht und andere; wir haben hier eben die Bestätigung gehört. 1976 hat Herr Geißler festgestellt: Im Kopf-an-KopfRennen entscheidet das Fernsehen die Wahl, die Union muß 1980 den Wahlkampf im Fernsehen gewinnen. So hat er gesagt!
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Wir wollen dem gemeinwohlorientierten Rundfunk nicht dem Meinungsmonopol einiger weniger überlassen. Interessendruck und Rundfunkfreiheit vertragen sich nicht. Privatisierung oder, wie Sie so schön sagen, freies Spiel der Kräfte oder Recht des einzelnen insuggerieren, daß jeder Private Fernsehveranstalter sein könne. In Wahrheit sind es ganz speziell Privilegierte, die Eigentümer der Rundfunkfreiheit werden sollen. Ziel ist wirtschaftliche und politische Rentabilitätsorientierung. Dabei soll kommerzieller Rundfunk mit Hilfe öffentlicher Gelder in Milliardenhöhe stattfinden, ein Versuch einer Systemveränderung, meine Damen und Herren, die es in sich hat.
Uns wird der Vorwurf gemacht, wir problematisierten aber auch alles. Damit soll uns Technologiefeindlichkeit bis hin zur Maschinenstürmerei angehängt werden. Gestern vor zwei Wochen hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen, erstmals in einem Bundesland, ein Gesetz zum Bildschirmtext verabschiedet. Nordrhein-Westfalen war das erste Land, das Bildschirmtext erprobt hat.
Wir wollen eine moderne Volkswirtschaft, wir wollen z. B. eine zukunftsorientierte fernmeldetechnische Infrastruktur; aber wir wollen das alles in den Dienst des Menschen stellen. Die neuen Techniken können doch nur dafür gedacht sein. Da darf es nicht beim Status quo bleiben, schon gar nicht immens zum Status quo ante führen, sondern es muß der Förderung des sozialen Fortschritts dienlich sein. Nötig ist ein Mehr an Menschlichkeit, aber doch nicht zuerst einmal über die Vernichtung von Arbeitsplätzen, die sich in den nächsten Jahren bis zum Ende dieses Jahrzehnts allein im Dienstleistungs- und Bürobereich auf die Größenordnung der Gesamtarbeitslosenzahl von heute zubewegt, wobei in der Hauptsache Frauen betroffen sind. Da kann man nicht die Hände in den Schoß legen vor lauter Fortschrittsglauben. Da wird auch jede Garantie, falls wieder eine versprochen wird, zum Spuk. Hier steht ein Rationalisierungsschub ins Haus, mit dem vier Arbeitsplätze vernichtet werden und nur einer neugeschaffen wird.
Die Struktur der Arbeit, die Qualität der Arbeit werden sich völlig verändern. Wir müssen verhindern, daß sie unmenschlicher wird, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ergreifen. Politik ist doch nicht dazu da, meine Damen und Herren, Risiken zu verharmlosen. Wenn die beschäftigungspolitische Katastrophe verhindert werden soll, haben wir den dringenden politischen Handlungsbedarf zu erfüllen.
Und da geht es nicht nur um das Problem - so groß es ist - des Wegrationalisierens von Arbeitsplätzen, um die Frage der Humanisierung des Arbeitslebens. Das Problem Heimarbeit bzw. Fernarbeit stellt sich uns. Hier ist Lösungsbedarf im Unternehmensrecht, weil es um den Arbeitnehmerstatus geht. Hier besteht gesellschaftspolitischer Lösungsbedarf, weil Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft verhindert werden muß. Und ich sage hier ganz offen: Es ist doch Gaukelei, wenn Heimarbeit als traumhafter Zukunftsjob angeboten wird. Das ist doch Pseudoselbständigkeit, mit Werkvertrag und Stücklohn, ohne Urlaubsanspruch, ohne Sozialversicherung - eine unglaubliche Vision.
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Beim Problem der Pool-Bildung stellen sich wettbewerbsrechtliche Fragen. Und über allem halten wir, die Sozialdemokraten, die Erweiterung der Mitbestimmung für unerläßlich.
Brisante Verbraucherschutzfragen stellen sich. Und es wird mir doch niemand widersprechen, wenn ich das Kommerzbeispiel Video erwähne und dabei Jugendschutzregelungsbedarf feststelle.
Mir fehlt die Zeit, alles Erforderliche auch nur anzusprechen: internationale Fragen wie europäische Medienkonvention, Satelliten und deren Nutzung, Europaprogramme, die sich verbreiternde Schere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern wegen der dort fehlenden Infrastruktur und der mangelhaften Zugangsmöglichkeiten zu internationalen Datenbanken.
Bei uns stellen sich verfassungsrechtliche Fragen, Riesenprobleme im Bereich Bürger und Verwaltung, die Frage der Rolle der Kommunikation als Bildungs- und Kulturträger, die Frage, was auf Presse, Buchverlage und Film zukommt, das Problem, was zur Netzausbaustrategie zu sagen wäre, nämlich ob man 20 bis 50 Milliarden DM nicht besser anders investierte, anstatt sie so in einer innovatorischen Sackgasse zu binden, wobei doch eher die Amerikaner, Herr Weirich, mit ihren immensen elektronischen Ressourcen einen deutschen TVKommerzmarkt beherrschen würden und nicht wir. Machen wir uns doch da nichts vor. Es ist die Frage, ob der Bürger überhaupt den Bedarf so einschätzt wie der Postminister, wenn er erst einmal weiß, welche Kosten und wofür auf ihn zukommen. Wie soll er, wenn er, wie jetzt festgestellt wurde, Videorecorder, -kassetten und Bildplatten vorzieht, noch Geld für Kabel aufbringen?
Es wird nie gesagt, wer es finanzieren soll und wie. Ausländische Erfahrungen zeigen mittlerweile denjenigen, die hier auf schnelle Gewinne spekuliert haben, die Risiken auf. Die ständig angeführten Arbeitsmarkteffekte sind ja widerlegt; der Wirtschaftsminister hält die Fakten noch unter Verschluß. Man sollte endlich mit der Mär aufhören, der Verkabelungsimpuls ginge von der neuen Technologie aus. Er geht, abgesehen von den erwähnten Medienmachtinteressen, ökonomisch von alten Lagerbeständen aus. So einfach ist das.
({3})
Das hat nichts damit zu tun, daß sich Technik zudem so rasch entwickelt, daß, wenn wir heute vom Bildschirmtext reden, dieser in einigen Jahren bereits vom Personal Computer verdrängt sein könnte. Wenn wir aber Politik für den Menschen machen, haben wir ein ganz großes Problem zu bewältigen, das vielleicht alles andere in den Schatten stellen könnte. Deshalb erwähne ich zum Schluß, um die Dimension noch einmal zu verdeutlichen, den Datenschutz; denn der gläserne Mensch hat mit Menschenwürde aber auch nichts mehr gemein.
({4})
Ich halte gar nichts von einer Negativ-Utopie. Es geht um die Frage: Wie kann der Weg gestaltet werden? Wir müssen alles verhindern, was zu Entwürdigung führt. Wir müssen alles unternehmen, um die Entwicklung in die richtige Richtung zu führen. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte versuchen, es mit ein paar nüchternen Bemerkungen bewenden zu lassen. Wir haben keinen Bestseller geschrieben. Es ist ein Zwischenbericht, eine Zwischenlösung und keine Lösung unserer Probleme. Die Sprache des Berichtes reizt nicht gerade dazu, ihn zu lesen. Alle wesentlichen Streitfragen sind streitig geblieben. Die Sachverständigen waren in fast allen wichtigen Punkten außerordentlich unterschiedlicher Meinung. Eine Beteiligung der Länder an dem Unternehmen hat nicht stattgefunden. Ich bedauere das außerordentlich, weil sich damit die Medienlandschaft in der Bundesrepublik auseinanderzuentwickeln beginnt. Das muß kein Schaden sein, aber es enthüllt die Tatsache, daß hinter den meisten Problemen außerordentlich starke publizistische Machtfragen ebenso wie massive wirtschaftliche Interessen stehen, die unterschiedlich und streitig beurteilt werden.
Ich glaube, es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Entwicklung der neuen Medien nicht blokkiert werden darf, nicht blockiert werden kann und daß sie ein erhebliches Innovationspotential darstellen, dem sich die deutsche Wirtschaft technisch und wirtschaftlich nicht entziehen kann, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben will und wenn damit auf Dauer auch Arbeitsplätze erhalten bleiben sollen. Man darf dieses Problem nicht mit einem KampaiRuf übergehen, wie wir das in Japan manchmal gesehen haben, sondern man muß begreifen, daß die Mikroelektronik unsere Gesellschaft tiefgreiDr. Hirsch
fend, nachhaltig und irreversibel verändern wird: die Organisation der Arbeit, das Freizeitverhalten, das Bildungswesen.
Im technischen Bereich war die Frage streitig, die Herr Weirich hier eingeführt hat, nämlich die Alternative Kupferkoaxialkabel oder Glasfaser. Es kann für uns nicht ernsthaft bestreitbar sein, daß die Glasfaser leistungsfähiger ist und das Kupferkabel ablösen wird, weil die Glasfaser in einem entscheidenden Teil der neuen Technologie, nämlich der Text-, Bild- und Datenübertragung zwischen Einzelpersonen, auf Dauer unentbehrlich ist.
Es ist auch nicht ernsthaft bestreitbar, daß die neuen Medien für einen Zeitraum bis Ende dieses Jahrzehnts sehr problematische Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben werden. Man muß trotz der Streitigkeit dieses Themas mit großer Eindringlichkeit darauf hinweisen, daß die neuen Medien unmittelbar bis zum Ende dieses Jahrzehnts voraussichtlich mehr Arbeitsplätze überflüssig machen als neu schaffen, daß hier ein großer Umschichtungsprozeß bewirkt werden wird. Es werden vorwiegend Arbeitsplätze für un- und angelernte Tätigkeiten, aber auch Bürofachkräfte und andere Arbeitsplätze wegfallen, die im traditionellen Verständnis Frauenberufe sind, während Berufe mit höherwertigen fachlichen Qualitäten, mit Fach-hochschul- und Hochschulbildung positiv betroffen werden. Es wird eine Umschichtung geben, die mehrere Millionen Arbeitsplätze berühren kann. Daraus müssen für die Bildungs- und die Arbeitsmarktpolitik gerade dann rechtzeitig Folgerungen gezogen werden, wenn die Einführung der neuen Technologien gefördert und begünstigt wird.
Die öffentliche Diskussion hat sich ganz überwiegend auf den Bereich der Massenmedien bezogen, auf die Frage, welche soziologischen Auswirkungen die Ausweitung des Angebots haben wird. Ich stimme Herrn Weirich darin zu, daß private Anbieter zunehmen werden. Die Frage wird fast gegenstandslos durch die explosionsartige Ausdehnung des Video-Marktes.
Wir sind in der Tat der Überzeugung, daß es nicht Aufgabe des Staates sein darf, zu entscheiden, ein wie großes Angebot förderlich ist oder nicht. Aber man muß auch ebenso deutlich sagen, daß voraussehbar ist, Herr Kollege Weirich, daß der Einfluß der Werbeträger auf die Programmgestaltung auch in der Bundesrepublik wesentlich zunehmen wird. Auch das hat Auswirkungen, jedenfalls auf die Qualität des Programms.
Im Bereich der Massenkommunikation haben wir Liberalen seit Jahren eine unveränderte Zielsetzung. Die Organisation der Massenmedien darf nicht zu einer politischen Machtkonzentration führen. Die Zulassung privater, also kommerzieller Programmveranstalter darf nicht die Existenz der Print-Medien, insbesondere der Zeitungen, gefährden und ihre wirtschaftliche Basis schmälern. Der freie Fluß der Informationen über die Grenzen hinweg darf nicht organisatorisch oder technisch beeinträchtigt werden.
Ich kann für meine Fraktion die Frage, ob die Arbeiten der Enquete fortgesetzt werden sollen oder nicht, noch nicht beantworten. Darüber muß zwischen den Fraktionen beraten werden. Darum haben wir die Überweisung an den federführenden Innenausschuß mitbeantragt. - Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Reetz.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Von dem Mathematiker, Atomphysiker und Philosophen Max Bense stammt der Ausspruch, daß nicht die Atombombe die entscheidende technische Entwicklung unserer Epoche gewesen sei, sondern die Konstruktion der großen mathematischen Maschinen, sprich: der Computer, die zwar in ihrem räumlichen Ausmaß immer kleiner werden, dafür aber über nahezu unbegrenzte Speicherkapazität verfügen, auf die in minimalen Sekundenbruchteilen Zugriff genommen werden kann. Solche Vorstellungen rechtfertigen die Einsetzung einer Enquete-Kommission durch den Deutschen Bundestag.
Der Zwischenbericht, der mit einem Kostenaufwand von mehr als eineinhalb Millionen DM erstellt wurde, kann von uns, den GRÜNEN im Bundestag, allerdings nicht als eine Auseinandersetzung mit den entstehenden Problemen angesehen werden. Parteienproporz und ideologische Vorgaben bestimmten die Argumentation. Das Kommissionsmitglied Professor Hoffmann-Riem, sagte in einem Presseinterview, am Ende sei ein Ritual des Konflikts zelebriert worden, zu dem auch ein Zerreden und Relativieren von Befunden einschließlich von Kompromißformeln gehört habe. Mit dem Regierungswechsel habe sich die Möglichkeit zur Problemanalyse in der Kommission drastisch geändert, weil nun politisch etwas anderes erwartet worden sei, als es der Auftrag vorgab. Ein Wissenschaftler könne aber doch nicht seine Sicht des Problems und seine Art der Analyse nur deshalb ändern, weil sich die Regierung geändert habe.
Die Kommission selbst schreibt in ihrem Bericht, daß z. B. die Sachverhaltsaufnahmen und Prognosen in den Bereichen „Wirtschaft" und „Soziale Auswirkungen" von gesteigerter Unsicherheit seien. Es gebe hier große Wissenslücken und erst recht kontroverse Werthaltungen. So war es z. B. nicht möglich, über die umfassenden und außerordentlichen wichtigen Gebiete „Sozialer Bereich, insbesondere Kinder und Familie" oder „Gesellschaftliche Integration und politische Willensbildung" eine übereinstimmende Beurteilung der Kommissionsmitglieder der beiden großen Parteien zu erzielen.
Allein diese Diskrepanz müßte doch wohl jedem und jeder von uns klarmachen, daß wir es nicht verantworten können, die forcierte Entwicklung der IuK-Technik durch die Deutsche Bundespost gutzuheißen, ehe darüber nicht ein umfassender Dialog mit Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen geführt wird, z. B. der Universitäten, der Schulen und Volkshochschulen, der Kirchengemeinden, der
Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigung, der Ausländerverbände, der Frauenvertreterinnen und der Verbraucherorganisationen.
Charakteristisch für die neue Technik ist nicht die Faszination, die von den sogenannten Elektronengehirnen ausgeht, sondern die eigendynamische Macht dieser „nützlichen Idioten". Obwohl die Kommission die rasche, offensichtlich selbsttätige Entwicklung der IuK-Techniken erkannte, behauptete sie gleichzeitig, diese Entwicklung sei von den jeweils gegebenen politischen ökonomischen, sozialen und rechtlichen Bedingungen abhängig, d. h. steuerbar. Großtechnologische Entwicklungen entfalten sich aber eigengesetzlich - in der Kommunikationsindustrie ebenso wie in der Atomindustrie -, sogar so eigengesetzlich, daß eingeleitete Großprojekte wider jede wirtschaftliche Vernunft durchgezogen werden, so z. B. der Schnelle Brüter in Kalkar, der unter den hirnrissigsten Voraussetzungen eines kostenlosen Betriebes - die Großtechnologien Information, Kommunikation und auch Atom sind sich so ähnlich, daß ich dieses Beispiel hier wirklich anführen kann
({0})
- ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten; nur, lassen Sie mich in meinen Ausführungen wegen dieser blödsinnig kurzen Redezeit fortfahren ({1})
40 Jahre arbeiten müßte, und zwar unter Voraussetzungen, die praktisch überhaupt nicht möglich sind, ehe auch nur ein einziger Pfennig mit diesem Unternehmen verdient würde. Das heißt: Vorher ist es total unrentabel, es ist sozusagen eine technische Entropie.
Informationssysteme sind Instrumente der Macht. Diejenigen, die diese Macht handhaben, funktionieren die Grundrechte der individuellen Freiheiten, die den Staat begrenzen sollen, auf Grund der maßlos angesammelten Daten um zu Kompetenzen des Staates gegen die Individuen.
Die Ministerialbürokratie hatte die Kommission fest im Griff - das ist die bemerkenswerte Einschätzung von Professor Hoffmann-Riem; an dieser Unterordnung, so sagt er, sei die Kommission gescheitert. Offensichtlich hatte der Bundespostminister auch die Ministerialbürokratie fest im Griff. Er mißt, wie er sagt, heute getroffenen Prognosen nur geringen Stellenwert bei nach dem Motto: Wir Schafen gewissermaßen nur die Straßen, die elektronischen Autobahnen, wie Sie sagten; die Entscheidungen über die Autos allerdings, die darauf fahren sollen, können erst danach getroffen werden.
Und so haben wir hier auch gar nicht mehr zu entscheiden, ob Breitband- oder totalverkabelt wird, ob die Mikroprozessoren-Entwicklung mit staatlichen Investitionen gefördert wird, ob diese Elektronik bis zum Ende der 80er Jahre den gesamten Dienstleistungsbereich - Banken, Versicherungen, Reisebüros, Speditionen usw. - erfaßt haben wird und ebenso total auch in den Produktionsbereich eingedrungen ist; diese Entwicklung läuft. Der Enquete-Bericht ist ebenso wie diese Debatte ein Feigenblatt, aber er kann die Blöße nicht verdecken.
Der geschätzte Investitionsbedarf für die nächsten 20 Jahre beträgt 100 Milliarden DM. Forschungs- und Entwicklungsfinanzierung stammen aus Bundesmitteln. Die IuK-Herstellerindustrien beschäftigten 1980 1,4 % aller Arbeitnehmer bei überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten, aber stagnierenden und rückläufigen Beschäftigungszahlen. Für den Büro- und Verwaltungsbereich schätzt die Siemensstudie „Büro 1990", daß 10 v. H. der Personalkosten der Wirtschaft durch IuK-Technik eingespart werden könnten. 10%, das bedeutet den Verlust von 2 bis 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.
({2})
Die englische Zeitung „Business Week" spricht sogar davon, daß bis zum Jahre 2000 in den Industrieländern 45 % aller vorhandenen Arbeitsplätze verlorengingen. Von dieser Arbeitslosigkeit sind Frauen überdurchschnittlich betroffen.
Mit Hilfe des Systems Bildschirmtext soll dezentralisiert Arbeit in den Wohnungen unter Verlust der Qualität als Arbeitnehmer angeboten werden: Heimarbeit; ich nenne das einen Rückfall in frühkapitalistische Methoden.
({3})
Verkabelung bedeutet nicht nur die medienpolitische Veränderung, worauf es wohl immer hinauslaufen soll, durch die Zunahme der Fernsehzeit und negative psychische und soziale Auswirkungen auf die einzelnen und die Familie, sondern auch Rationalisierung und Gefährdung des Datenschutzes, was noch gefährlicher ist. Die sozialen Folgen der mit dem Geld der Bürger finanzierten zukünftigen Infrastruktur der Deutschen Bundespost sind unabsehbar. Überall wird die Produktivität außerordentlich steigen, sozusagen in eigener Regie, unabhängig von dem Verhältnis des Bedarfs zur Arbeit. Bei geringem Bedarf oder gestättigtem Markt muß der Wert der Arbeit immer kleiner werden, und zwar der menschlichen Arbeit; denn - leider muß ich das sagen - auch ein Chip ist ein Arbeitsplatz, aber eben nicht für Menschen, sondern für Roboter. Das ist sozusagen der Arbeitsmarkt der Zukunft, wie Sie es nannten.
Der Bürger wird zum Datenlieferanten, ohne auf die Verwendung Einfluß nehmen zu können. Großunternehmen speichern Daten über ihre Mitarbeiter, über die Arbeitsleistung, Entlohnung, Pünktlichkeit, aber auch gewerkschaftliche und politische Tätigkeit und familiäre Verhältnisse. Vielleicht werden Sie sich noch erinnern, daß im Jahre 1979 beim Bundeskriminalamt eine Datei gefunden wurde, in der 4 000 Bürger, die in Wohngemeinschaften lebten, auf bloßen Verdacht als soziale Gruppe in den Computer eingespeichert worden waren. Auf AnFrau Reetz
ordnung des damaligen Bundesinnenministers mußte diese Datei wieder vernichtet werden.
({4})
Die CDU-Mitglieder der Kommission bedauern nun, daß die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze ein Reizthema seien, ebenso wie die Einführung privatrechtlichen Fernsehens, und die Akzeptanz der neuen Technik erschwerten. Ja, wer verlangt denn eigentlich die totale Verkabelung der Bundesrepublik mit derzeit Kupferkoaxialkabeln und wenig später diesen haarfeinen Glasfasern? Wer will eigentlich an der gepriesenen Medienzukunft teilnehmen, die ja eine ganz schöne Stange Geld kostet? Der „stern" machte eine Rechnung für die komplette Grundausstattung eines Medienwohnzimmers in Höhe von 20 000 bis 25 000 DM auf. Hinzu kommen ca. 230 DM Betriebskosten für Rundfunkgebühren, Kabelfernsehanschluß, Bildschirmtext usw. usw. Der Bedarf muß auf alle Fälle erst produziert werden.
Im Bericht der bereits 1974 ins Leben gerufenen Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems hieß es, daß die Errichtung eines bundesweiten Breitbandverteilnetzes wegen des Fehlens eines ausgeprägten und drängenden Bedarfs heute noch nicht empfohlen werden kann.
Ich schlage mich immer wieder mit der fatalen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im August 1978 herum - es ging damals um den Schnellen Brüter -, in der es hieß, daß Ungewißheiten einer technologischen Entwicklung jenseits der Schwelle praktischer Vernunft - das heißt ja wohl: des Standes von Wissenschaft und Technik - unentrinnbar seien und insofern als sozial adäquate Lasten von allen Bürgern getragen werden müßten. Sozial adäquate Lasten - das ist die steil ansteigende Kurve, die alle unsere großtechnischen Entwicklungen begleitet. Sie treffen uns in der vergifteten Nahrung, in der verpesteten Luft, in verseuchtem Wasser
({5}) und im entlaubten Wald.
({6})
Frau Abgeordnete Reetz - Frau Reetz ({0}): Ich bin gleich fertig. - Sie werden uns auch durch die neue Informationstechnologie treffen.
({1})
- Ich erzähle es Ihnen nachher im einzelnen.
Ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Wir haben uns vorgenommen, strikt zu sein. Frau Reetz, bitte bringen Sie den Satz zu Ende.
Ich bringe meinen Satz zu Ende. - Ich möchte sagen: Wenn Sie etwas Gespür für Basisdemokratie haben, so merken Sie,
({0})
daß gegenüber diesen sozialen Lasten die soziale Abschreckung angesagt ist. Noch bestehen Initiativen aus dem Volkszählungsboykott. Soziale Abschreckung gegen sozial adäquate Lasten!
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Auf Drucksache 10/153 wird beantragt, den Zwischenbericht der Enquete-Kommission Neue Informations- und Kommunikationstechniken, Drucksache 9/2442, zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Forschung und Technologie, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen zu überweisen. Darüber hinaus schlägt der Ältestenrat vor, den Zwischenbericht auch dem Rechtsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Wer den Überweisungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann sind die Überweisungen so, wie ich sie vorgetragen habe, beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich muß noch eine Zwischenbemerkung machen. In der Aktuellen Stunde heute morgen hat der Herr Abgeordnete Seiters in einem Zwischenruf den Abgeordneten Lutz mit dem unparlamentarischen Ausdruck „Sie Flegel!" belegt.
({0})
Der amtierende Präsident hat diesen Zwischenruf nicht gehört. Das Protokoll ist andererseits eindeutig. Ich rufe Herrn Abgeordneten Seiters wegen dieses Zwischenrufs zur Ordnung.
({1})
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 zur Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung der Parteienfinanzierung ({2})
- Drucksache 10/183 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({3})
Finanzausschuß Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Herr Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorsitzenden der damals im Bundestag vertretenen Parteien haben am 22. Januar 1982 an den Bundespräsidenten einen Brief geschrieben, in dem sie ihn gebeten haben, eine unabhängige Kommission zum Thema „Parteienfinanzierung" einzusetzen. Der Brief trägt die Unterschriften der Herren Brandt, Kohl, Genscher und Strauß. Der Herr Bundespräsident ist der Bitte der Parteivorsitzenden dankenswerterweise nachgekommen und hat eine Sachverständigenkommission berufen, die uns am 18. April 1983 ihren Bericht zur Neuordnung der Parteienfinanzierung vorgelegt hat. Ich möchte den Mitgliedern der Kommission und ihrem Vorsitzenden Professor Fürst für die sorgfältige, umfangreiche und sachkundige Arbeit ausdrücklich danken.
({0})
Meine Damen und Herren, ich denke, daß die Vorgeschichte dieses Berichts der Sachverständigenkommission uns allen Veranlassung gibt, aus den Empfehlungen dieser Kommission nun auch Konsequenzen zu ziehen. Deswegen legen die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Ihnen heute den Entwurf eines Gesetzes über die Neuordnung der Parteienfinanzierung auf der Drucksache 10/183 vor. Die vom Herrn Bundespräsidenten eingesetzte Kommission hat uns ihre Empfehlungen - das war auch nicht ihre Aufgabe - nicht in der Form der Gesetzessprache vorgelegt, so daß wir mit dem Ziel, hier im Bundestag zu Entscheidungen zu kommen, einen Gesetzentwurf einbringen müssen. Nur so können wir in dem nach der Geschäftsordnung dieses Hauses vorgesehenen Verfahren in den Ausschüssen, im Plenum beraten. Wir bringen diesen Gesetzentwurf heute ein, um die Beratungen in diesem Hause zu eröffnen.
Ich will hinzufügen: Es hat im Vorfeld der Einbringung dieses Entwurfs eine Diskussion gegeben. Die Fraktion der GRÜNEN hat darüber Klage geführt, daß sie an einem Gespräch der Vorsitzenden der Parteien, die den Bundespräsidenten damals um die Einsetzung dieser Kommission gebeten haben, nicht beteiligt worden sind. Ich denke, daß dieser Beschwernis von jetzt an abgeholfen ist, denn dadurch, daß wir in diesem Hause beraten, sind alle Fraktionen dieses Hauses an der Beratung beteiligt.
({1})
- Aber nein! Gnädige Frau, Sie sind doch jetzt immerhin drei Monate im Parlament. Sie wissen, daß wir in den Ausschüssen nicht hinter verschlossenen Türen, sondern unter der Kontrolle der Öffentlichkeit tagen.
({2})
Ich möchte an eine Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen anknüpfen, die vor zwei Tagen in diesem Hause stattgefunden hat und in der zwei Mitglieder der Sachverständigenkommission, die Professoren Kaack und Schneider, über das Thema referiert haben. Bei dieser Veranstaltung ist in einem sachkundigen Kreis über die Problematik diskutiert worden. Herr Professor Kaack hat an diesem Abend einen Satz gesagt, den ich hier in diese Debatte einführen möchte.
({3})
Er hat gesagt: Die Parteien, die Fraktionen stehen bei dem Thema „Parteienfinanzierung" vor der sicherlich heiklen Aufgabe, quasi in eigener Sache entscheiden zu müssen. Aber dies ist nach dem Verständnis der parlamentarischen Demokratie nicht anders möglich. Er hat weiter gesagt: Weil das Parlament quasi in eigener Sache entscheiden muß, sei es zu empfehlen, daß das Parlament in sich möglichst einen Konsens finde; und es sei auch zu erwägen, daß man möglichst parlamentsunabhängige Institutionen in die Beratungen einführe.
Ich denke, indem wir diese Kommission des Bundespräsidenten hatten, deren Empfehlungen nun vorliegen, haben wir dem Rechnung getragen. Es ist eine parlamentsunabhängige Institution, die uns Empfehlungen gemacht hat,
({4})
die wir jetzt sehr ernst zu nehmen haben. Ich denke, daß wir uns alle in den in den kommenden Monaten stattfindenden Beratungen Mühe geben sollen und Mühe geben müssen, daß wir zu gemeinsamen Entscheidungen kommen. Wir, die CDU/ CSU, sind zu jedem Konsens in der Frage der Neuordnung der Parteienfinanzierung bereit.
({5})
Ich sage gleich dazu: Wir haben mit unserem Gesetzentwurf die Empfehlungen der Kommission - ich sage das noch einmal - in die Formulierung eines Gesetzentwurfs umgesetzt. Das bedeutet nicht, daß wir uns in all den Positionen festgelegt haben. Wir sind offen für alle Gespräche, für alle Beratungen.
Wir sind bei der Einbringung des Gesetzentwurfs von den Empfehlungen der Kommission in zwei Punkten abgewichen. Wir haben - und dies war j a wohl eine in der Öffentlichkeit sehr übereinstimmende Diskussion - geglaubt, daß das Institut der dritten Stimme, das die Kommission vorgeschlagen hat, nicht sehr praktikabel sein wird; wir haben deswegen davon abgesehen.
Und wir glauben als Koalitionsfraktionen, daß wir entgegen den Empfehlungen der Kommission, die staatlichen Wahlkampfkostenerstattungen entsprechend der eingetretenen Geldentwertung von 3,50 auf 50 DM rückwirkend ab 1980 zu erhöhen, eine solche Erhöhung der Mittel für die Parteien in der gegenwärtigen finanz- und haushaltspolitischen Gesamtlandschaft nicht beschließen können, obwohl das die Schatzmeister unserer Parteien überhaupt nicht freut. Deswegen schlagen wir vor - aber auch darüber wird in den Beratungen gesprochen werden -, daß wir die Erhöhung der staatlichen Mittel erst 1985 in Kraft setzen.
Sie sehen, meine Damen und Herren: Wir haben nicht etwa die angenehmen Seiten der Kommissionsempfehlungen herausgesucht, sondern wir haben alles, was die Kommission empfiehlt, mit Ausnahme dieser zwei Punkte in den Gesetzentwurf eingebracht.
Lassen Sie mich einige allgemeine Bemerkungen zum Thema Parteienfinanzierung in dieser ersten Lesung hinzufügen. Nach Art. 21 unseres Grundgesetzes kommt den politischen Parteien eine zentrale Rolle bei der politischen Willensbildung in unserem demokratischen Rechtsstaat zu. Dabei ist es immer noch ein verhältnismäßig geringer Teil unserer Mitbürger, der sich durch Mitgliedschaft in einer demokratischen Partei aktiv engagiert. Diesen Mitgliedern, die über ihren finanziellen Mitgliedsbeitrag hinaus viel Einsatz und Zeitaufwand für unsere Demokratie aufbringen, gebührt der Dank aller Demokraten.
({6})
Aber wir müssen unseren Mitbürgern auch klar sagen: Die Finanzierung der Parteien kann nicht allein durch Mitgliedsbeiträge erfolgen.
({7})
Es ist sehr die Frage, ob es angesichts der Aufgaben der Parteien richtig wäre, wenn allein die Minderheit von Mitgliedern die Finanzierung der Parteien tragen müßte.
({8})
Es gibt - man muß das einmal sagen - auch Grenzen für die Beitragsbelastung der Bürger, wenn wir nicht sozial schwächere Schichten von der Mitgliedschaft in Parteien ausschließen.
({9})
Die meisten Parteien haben einen Mitgliedsbeitrag von monatlich 5 DM. Das ist nicht unerheblich für Bürger, die sich häufig in vielen Vereinen engagieren und auch dafür Beiträge bezahlen.
({10})
- Sie haben es mit Vereinen nicht so sehr, Herr Fischer! Aber lassen Sie uns doch mal ein bißchen vernünftig miteinander umgehen. - Wir wissen, daß der Mitgliedsbeitrag von monatlich 5 DM für die Parteien nicht kostendeckend ist. Das heißt, die Parteien verdienen nicht an ihren Mitgliedern, sondern sie legen drauf, weil 5 DM nicht kostendekkend sein können.
({11})
Deswegen müssen wir es dankbar begrüßen, daß sich auch viele Mitbürger, die nicht Mitglieder einer Partei sind, dazu bereitgefunden haben und weiter bereitfinden, durch Spenden einen wichtigen und unerläßlichen Beitrag dazu zu leisten, daß die notwendigen finanziellen Mittel für die politische Arbeit der Parteien aufgebracht werden konnten und können. Ich danke allen, die durch Spenden an die politischen Parteien diesen Beitrag geleistet haben und auch in Zukunft leisten werden.
({12})
Meine Damen und Herren, wir wissen - das muß man offen bekennen -, daß die gesetzlichen Regelungen zur Finanzierung der Parteien unzureichend sind und daß alle Parteien in unterschiedlicher Weise Probleme haben. Die Kommission hat dies in ihrem ausführlichen Bericht ausdrücklich dargelegt. Keine Partei hat Anlaß, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen.
Auch die Partei DIE GRÜNEN sollte die Empfehlungen in dem Gutachten der Kommission doch sehr sorgfältig lesen. Sie haben mit Ihrer Finanzierung genauso Probleme, denn wir wissen, daß der Anteil staatlicher Mittel bei der Finanzierung der Parteien nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht überwiegen darf. Die Kommission führt aus - ich zitiere aus Seite 223 der amtlichen Drucksache -:
Um so extremer stellt sich ein Sonderfall dar, der aus Tabelle 27 nicht unmittelbar zu erkennen ist: Im Jahre 1979 erhielten Die Grünen 98,2 v. H.... ihrer gesamten Einnahmen aus der Wahlkampfkostenerstattung.
({13}) Ich zitiere weiter:
Die Entstehungsgeschichte der Partei Die Grünen
({14})
stellt somit einen in der Bundesrepublik bisher einmaligen Fall staatlich subventionierter Parteigründung dar, der deutlich zeigt ... usw.
({15})
Meine Damen und Herren, ich mache Ihnen dies nicht zum Vorwurf. Ich sage nur: Wir alle haben Probleme;
({16})
keiner werfe den ersten Stein. - Wir sitzen da alle miteinander ein bißchen im Glashaus. Deswegen müssen wir uns gemeinsam um eine Lösung bemühen. Aber dies heißt doch, daß wir zu Entscheidungen kommen müssen, denn sonst gibt es keine Lösungen.
Meine Damen und Herren, die Lösung muß erstens sein - ich will noch weniges aus den Thesen der Kommission aufgreifen; dies gilt für alle Parteien -: Das Gebot der Sparsamkeit und das Gebot der Ausgabenbeschränkung muß auch für die politischen Parteien gelten.
({17})
Ich denke, wir alle bekennen uns dazu.
Wir bekennen uns zweitens auch zu der These der Kommission, daß die Finanzierung der Parteien durch den Bürger absoluten Vorrang hat; das ist These 10 der Kommissionsempfehlung.
Wir bekennen uns schließlich drittens zu der These der Kommission, daß staatliche Leistungen zur Deckung der notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfes zulässig und unverzichtbar sind, wenn die Parteien die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen sollen.
Alle drei Punkte sind richtig, alle drei Komponenten einer Lösung müssen wir in dem berücksichtigen, was wir gemeinsam zu beraten und zu beschließen haben.
Ich denke, daß die Empfehlungen der Sachverständigen-Kommission eine gute Grundlage für unsere Beratungen und für die möglichst gemeinsam zu treffenden Entscheidungen bieten. Wir werden sorgfältig beraten müssen. Wir bewegen uns auf Neuland, bei dem wir sorgfältig prüfen müssen, wie wir eine Lösung finden, die allen verfassungsrechtlichen Bedenken standhält.
Ich will aber auch schon an dieser Stelle sagen: Die Kommission unter dem Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts hat sich ja sehr viel Mühe gemacht, nur Empfehlungen abzugeben, die verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Ich denke, Herr Kollege Ehmke, daß wir doch eine Umkehr der Beweislast in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Empfehlungen dieser Sachverständigen- Kommission haben. Aber wir werden natürlich den Sachverstand der Verfassungsministerien der Bundesregierung als Beratungshilfe für das Parlament erbitten. Ich hoffe, Herr Innenminister, Herr Justizminister, daß Ihre Häuser uns dabei helfen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns bei diesem Thema nicht verstecken. Wir sollten das nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern im vollen Licht der Öffentlichkeit und unter öffentlicher Kontrolle. Die Parteien haben keinen Grund, sich zu verstecken; sie haben allen Grund, unseren Bürgern offen zu sagen, welches unsere Probleme sind und was erforderlich ist, um diese Probleme zu lösen. Aber wir müssen auch sagen: ohne die Parteien und die Rolle der Parteien ist eine parlamentarische Demokratie nicht denkbar.
Meine Damen und Herren, je offener wir miteinander beraten und je rascher und zügiger nach sorgfältiger Beratung wir zu gemeinsamen Entscheidungen kommen, um so eher werden wir verhindern, daß das Thema Parteienfinanzierung zu einem Instrument der Diskreditierung des demokratischen Rechtsstaats wird. Dies gilt es zu verhindern. Dazu brauchen wir eine saubere und klare Neuregelung.
Der vorgeschlagenen Überweisung stimmen wir zu. Ich bitte Sie, das Gesetz zur Neuregelung der Parteienfinanzierung gemeinsam mit uns zügig zu beraten.
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Das Wort hat der Kollege Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Finanzen der Parteien sind ein leidiges Kapitel, aber in der parlamentarischen Demokratie ein absolut unverzichtbares Kapitel. In unserer Gesellschaft haben die politischen Parteien ganz besonders wichtige Aufgaben zu erfüllen. Sie haben deshalb auch ihren Platz im Grundgesetz, und sie haben ihren Platz in der Gesetzgebung.
Die Aufgaben der Parteien sind vielfältig, und das gilt keineswegs nur für die Führung von Wahlkämpfen. Parteien müssen Programme erarbeiten. Sie müssen ständig an der Lösung aktueller Probleme arbeiten und mitwirken. Sie müssen informieren und werten. Und sie müssen unterschiedliche Haltungen aufzeigen. Sie müssen Persönlichkeiten heranbilden, die für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes Aufgaben wahrzunehmen haben. Parteien müssen für die ständige lebendige Verbindung zwischen den Bürgern und den staatlichen Organen Sorge tragen. Und die Parteien müssen durch ihr Wirken für die Demokratie in unserem Lande arbeiten. Wenn unsere Parteien nicht funktionieren, dann besteht die Gefahr, daß die Demokratie darunter zu leiden hat.
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Heute gehen die Aufgaben der Parteien auch über die Grenzen unseres Landes hinaus. Die internationale Arbeit der politischen Parteien hat durch die europäische Entwicklung, aber auch durch notwendige Kontakte mit den Ländern in der Dritten Welt in ganz erheblichem Maße an Bedeutung gewonnen.
Für die Erfüllung ihres grundgesetzlichen Auftrags müssen die Parteien geeignete Organisationsstrukturen und Kommunikationsmittel unterhalten. Das kostet selbstverständlich Geld. Unbestritten sind auch hier in den letzten Jahren die Kosten nicht unerheblich angestiegen.
Seit zehn Jahren sind die Beträge für die Wahlkampfkostenerstattung nicht angehoben worden. Ich wäre dankbar, wenn alle diejenigen, die darüber Kommentare schreiben, auch das bei ihrer Kommentierung berücksichtigten.
In der 120jährigen Geschichte meiner Partei haben die Mitglieder viele materielle Opfer bringen müssen; und es waren nicht nur materielle Opfer. Auch heute leisten die Mitglieder meiner Partei den entscheidenden und größten Beitrag für die Finanzierung unserer politischen Arbeit.
Aber genauso wie mein Vorredner sage ich hier: Wir dürfen die Mitglieder nicht überfordern. Etwa zwei Millionen Menschen in unserem Lande gehören den demokratischen Parteien an. Diese zwei Millionen, die Mitglieder der demokratischen Parteien in unserem Lande sind, erfüllen Aufgaben für alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande. Diese zwei Millionen Menschen sind für unsere Demokratie von größter Bedeutung. Sie engagieren sich, sie opfern ihre Freizeit, sie erbringen ArbeitsWischnewski
leistungen. Sie leisten eine wesentliche Arbeit für die parlamentarische Demokratie in unserem Lande.
Auch die finanziell bestausgestattete Partei kann ohne diese aktiven Mitglieder ihre Aufgabe nicht erfüllen. Eigentlich haben alle Bürgerinnen und Bürger Anlaß, diesen zwei Millionen besonders dankbar zu sein.
({1})
Dabei sollten wir alle wissen, daß Parteien selbstverständlich nicht eine Versammlung von Heiligen sind, sondern daß Parteien ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind, auch mit allen Schwächen, die damit verbunden sind.
Wir sind dem Herrn Bundespräsidenten sehr dankbar für die Berufung der Kommission. Wir sind dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der Kommission für die geleistete Arbeit sehr dankbar. Wir werden darauf ja in intensiven Ausschußberatungen zurückkommen.
Die Koalitionsparteien haben in ihrem Entwurf eine Reihe von diesen Vorschlägen nicht berücksichtigt. Bei einem Teil habe ich dafür Verständnis, bei einem anderen Teil werden wir darauf sicher gemeinsam zurückkommen.
Aber wenn hier über Finanzen gesprochen wird, möchte ich gerne eine kleine Momentaufnahme der finanziellen Situation in meiner Partei machen. Ich nehme dabei das Jahr 1981 zur Grundlage, weil für das Jahr 1982 die endgültige Abschlußrechnung noch nicht vorliegt. Die Mitglieder unserer Partei - einschließlich der Fraktionsmitglieder - haben im Jahr 1981 85,2 Millionen DM an Beiträgen aufgebracht, eine ganz beachtliche Leistung für die parlamentarische Demokratie in unserem Lande. Sonstige eigene Einnahmen betrugen in diesem Jahr - eigene Einnahmen, d. h. nicht öffentliche oder Spenden, sondern andere eigene Einnahmen der Partei - 8,6 Millionen DM. Insgesamt 93,8 Millionen DM eigene Einnahmen.
Sie fragen, was das soll. Wenn wir die Bürger um eine Erhöhung der öffentlichen Mittel bitten, haben sie ein Anrecht darauf zu erfahren, wie die Finanzierung der Parteien im Augenblick aussieht.
({2})
Im selben Jahr hatte die Sozialdemokratische Partei Spendeneinnahmen von 8,2 Millionen DM. Die Wahlkampfkostenerstattung betrug 17,9 Millionen DM. Die Nettokreditaufnahme betrug 2,9 Millionen DM, wobei ich nicht bestreite, daß es Zeiten gegeben hat, in denen sie erheblich höher gewesen ist. Das muß auch in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Wenn ich diese Zahlen nenne, dann deshalb, weil es mir darauf ankommt aufzuzeigen, wie das Verhältnis zwischen den eigenen Leistungen der Partei und den öffentlichen Leistungen ist. Eigeneinnahmen bei uns in diesem Jahr 76 %, Spenden 7 %, Wahlkampfkostenerstattung 15 %, Kredite - ich sage ausdrücklich: in diesem Jahr; es ist keineswegs immer so günstig gewesen - 2 %. Das heißt, der weitaus größte Teil ist aus eigenen Mitteln aufgebracht worden. Ich glaube, an diesem Prinzip, daß das der weitaus größte Teil sein muß, müssen wir auch in der Zukunft festhalten. Wenn wir in den Ausschüssen beraten, sollten wir auch gemeinsam darüber nachdenken - ich hoffe, wir werden möglichst viel an Gemeinsamkeit erreichen -, ob es noch Möglichkeiten gibt, die Wahlkampfkosten in erheblichem Maße einzuschränken.
Wir haben in unserer Partei harte Sparmaßnahmen ergriffen. Wir haben uns von Mitarbeitern trennen müssen. Wir haben die Grenze dessen erreicht, was im Interesse einer vernünftigen Funktionsfähigkeit zu vertreten ist. Wir sind deshalb auch bereit, darüber in aller Offenheit zu reden, uns gemeinsam in aller Offenheit darum zu bemühen, Lösungen zu finden.
Herr Kollege Schäuble, zu drei Punkten müssen Bemerkungen gemacht werden, bei denen wir mit Sicherheit anderer Auffassung sind als Sie.
Erstens. Parteien sind in ihrer Aufgabenstellung nicht vergleichbar mit dem Roten Kreuz, mit dem Caritas-Verband oder mit der Arbeiterwohlfahrt. Deshalb kann die Gemeinnützigkeit für sie nicht gelten.
({3})
Sie sind selbstverständlich staatsbürgerlich förderungswürdig.
({4})
Aber da müssen feste Grenzen eingefügt werden. Ich hoffe, wir finden Wege, uns in diesem Bereich zu einigen.
Zweitens. Die Chancengleichheit der Parteien ist unverzichtbar. Es geht nicht, daß das, was Hunderttausende von Mitgliedern - 2 Millionen insgesamt - Mark für Mark mühsam zusammentragen, von Großunternehmen mit Milliardenumsätzen durch Millionenspenden ausgehebelt werden kann. Eine solche Möglichkeit kann nicht gegeben sein.
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Wir sind keineswegs gegen Spenden, aber es muß klare Grenzen geben. Politik darf nicht käuflich werden.
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Drittens. Wir werden keiner verdeckten oder offenen Amnestieregelung zustimmen. Es ist gesündigt worden. Wenn ich das richtig sehe, sind alle Parteien daran beteiligt. Wenn wir nach dem Bericht der Präsidentenkommission einen neuen Anfang machen wollen, dann können wir die Vergangenheit nicht unter den Teppich kehren.
({7})
Wir können das Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger in die Parteiendemokratie nur stärken,
wenn wir für Politiker keine Sonderrechte treffen.
Hier müssen alle Parteien gleich behandelt werden. Ich beziehe die meine ausdrücklich hier mit ein.
Wir stimmen der Ausschußüberweisung zu. Wir werden uns um eine konstruktive Zusammenarbeit bemühen. Wir würden es begrüßen, wenn in möglichst vielen Fragen Übereinstimmung erzielt werden kann.
In dieser Zusammenarbeit werden wir uns von zwei Grundsätzen leiten lassen.
Erstens. Unsere Parteien müssen unter Wahrung der unverzichtbaren Sparsamkeit, unter Wahrung der politischen Unabhängigkeit bei größtmöglicher Offenlegung der Finanzen der Parteien ihrem Auftrag gerecht werden können. Das liegt im Interesse unserer Demokratie.
Zweitens. Wir sollen unsere Verhandlungen so führen, daß die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für die Sorgen der Parteien das notwendige Verständnis aufbringen. Offenheit kann dabei behilflich sein. - Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort hat der Kollege Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mit Interesse feststellen, daß der Herr Bundeskanzler offenbar das Thema, das wir heute zu behandeln haben, nur im engen, vertrauten Kreis zu erörtern wünscht und nicht unter Beteiligung der GRÜNEN. Er hätte immerhin Gelegenheit gehabt, im Plenum sich die Meinung der GRÜNEN hier heute anzuhören.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble?
Später, wenn Sie gestatten. Ich habe mal wieder die kleinste Zeit.
({0}) - Gut, Herr Schäuble, bitte.
Herr Kollege Schily, sind Sie bereit zuzugeben, daß das, was Sie gesagt haben, wohl daran liegt, daß Sie selbst nicht im Plenum waren? Sonst hätten Sie gewußt, daß der Bundeskanzler für seine Abwesenheit heute entschuldigt ist und daß ich vorhin, als Sie auch nicht anwesend waren, gesagt habe, daß wir den Gesetzentwurf u. a. auch deswegen einbringen, damit die Fraktion DIE GRÜNEN an der Beratung beteiligt ist.
Herr Kollege Schäuble, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es vielleicht schlechter Stil ist, wenn man interfraktionelle Gespräche führt und die GRÜNEN grundsätzlich nicht beteiligt?
Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP legen heute, so möchte ich sagen, unter vernehmlichem Schmatzen der Schatzmeister ihrer Parteien einen Gesetzentwurf vor,
({0}) dessen Grundzüge in bedenklicher Hast in einigen interfraktionellen Vorgesprächen festgelegt wurden.
({1})
- Viel Durchfall, kann sein! Ich hoffe es jedenfalls. - Es ist eine schnelle, aber schlimme Arbeit, die Sie hier im Bonner Treibhaus zustande gebracht haben.
Gewiß, der Gesetzentwurf wird bei vielen - und das ist ja dem Vernehmen nach kein kleiner Kreis -, die in den Parteispendenskandal verwikkelt sind, zu einem Gefühl der vorläufigen Erleichterung führen, weil der Kollege Schäuble - und ich denke, mit ihm alle Autoren des Gesetzentwurfes - mit diesem die Erwartung verbinden, daß die für die strafrechtlichen Verfahren zuständigen Behörden neue Rechtslagen bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigen.
({2})
Darüber wird noch zu sprechen sein.
Zu einer sehr endgültigen Erleichterung wird aber eine Neuregelung der Parteienfinanzierung, wie sie in dem vorliegenden Entwurf konzipiert ist, in anderer Hinsicht führen: zu einer drastischen Erleichterung der Staatskasse, und zwar in Millionenhöhe. Bevor ich darauf und auf weitere Auswirkungen des angestrebten Gesetzes eingehe, scheint mir aber eine Vorbemerkung notwendig zu sein.
Die Autoren des Gesetzentwurfes berufen sich zur Begründung ihrer Begehrlichkeiten auf den in diesem Jahr veröffentlichten Bericht der vom Bundespräsidenten eingesetzten Sachverständigenkommission.
({3})
Diese Kommission wird gern mit der Aura einer vermeintlichen Unabhängigkeit ausgestattet. Leider kann von Unabhängigkeit weder hinsichtlich der personellen Besetzung der Kommission noch hinsichtlich ihrer Arbeitsweise die Rede sein. Der Herr Bundespräsident - das sei hier mit allem Respekt und Verlaub gesagt - wäre besser beraten gewesen, wenn er sich aus dieser Sache herausgehalten hätte.
Herr Kollege, ich kann nicht zulassen, daß der Präsident der Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Bundestag Kritik erfährt.
({0})
Ich denke, daß es durchaus gestattet ist, mit allem Respekt und Verlaub einen solchen Ausspruch zu machen.
({0})
Ich kann das nicht zulassen.
Mindestens einige der Kommissionsmitglieder müssen selbst bei sehr toleranter Betrachtungsweise als befangen gelten, beispielsSchily
weise Herr Professor Maaßen, der seinerzeit als Prozeßbevollmächtigter des Landes Niedersachsen in einem Organklageverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betreffend die Abzugsfähigkeit von Parteispenden aufgetreten ist und damals bereits versucht hat, die verfassungsrechtlich unhaltbare Auffassung durchzustzen, die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden sei der Abzugsfähigkeit von Spenden an gemeinnützige Organisationen gleichzusetzen. Mit dieser Auffassung ist Herr Maaßen seinerzeit vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. - Unabhängig ist ein solcher Gutachter wohl kaum.
Bedauerlicherweise habe ich zeitlich - ich habe wieder nur zehn Minuten - nicht die Möglichkeit, auf viele andere Details der Kommissionsarbeit kritisch einzugehen. Ich muß mich daher auf ein weiteres Argument gegen die Arbeitsweise dieser Kommission beschränken.
Meine Damen und Herren, es gibt in dem Kommissionsbericht eine sehr aussagekräftige Passage, die besser als alles andere die Parteikassenfrömmigkeit der Kommissionsarbeit sichtbar werden läßt. Es heißt in dieser Passage:
Vor allem aber verleitet das „Gefälle" zwischen den steuerlichen Abzugsmöglichkeiten von Spenden zur Förderung gemeinnütziger und allgemeiner staatspolitischer Zwecke einerseits ... und von Spenden an politische Parteien andererseits ... in so hohem Maße zu „Umwegfinanzierungen", daß selbst schwerwiegende Sanktionen wie der Entzug des Gemeinnützigkeitsstatus parteinaher Organisationen oder gegebenenfalls ({0})strafrechtliche Konsequenzen Umgehungsversuche nicht zu verhindern vermochten. Es ist aber einer freiheitlichen Demokratie in höchstem Grade unwürdig, die sie tragenden politischen Parteien in eine Situation zu versetzen, die sie zwingt, entweder auf ihnen zugedachte Spenden zu verzichten oder stets am Rande der Legalität operieren zu müssen.
Ich betone: zu müssen.
({1})
Dieser Satz offenbart wirklich ein nahezu katastrophales Verfassungs- und Rechtsverständnis. Ich meine nicht so sehr den Sprachgebrauch - „die die Demokratie tragenden politischen Parteien" -, den man häufig auch anderswo findet, obwohl es der politischen Wirklichkeit wohl näherkommt, wenn man sagt, daß Parteien, die solche Gesetzentwürfe fabrizieren, die Demokratie mit solchen Vorhaben nicht tragen. Allenfalls könnte man sagen, daß die Demokratie nicht umhin komme, solche Parteien zu ertragen.
({2})
Seit wann aber kann es denn Recht und Verfassung zuträglich und mit der Würde einer freiheitlichen Demokratie vereinbar sein, daß Parteien, die sonst in Sonntagsreden hehre Worte für Rechtstreue und Gemeinsinn finden, für sich selbst in Anspruch nehmen wollen, die Staatskasse zu beklauen, wenn sie mit ihrem Geld nicht auskommen
({3})
und dann noch, meine Damen und Herren, die unglaubliche Unverfrorenheit besitzen, solche Praktiken nachträglich legalisieren zu wollen?
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert?
Es tut mir leid, ich kann keine Zwischenfragen mehr zulassen.
Nun soll nicht außer Betracht bleiben, daß der Kommissionsbericht sozusagen zur Verschönerung auch einige wenige positive Überlegungen enthält.
({0})
Von diesen positiven Überlegungen - und das ist wiederum charakteristisch für das Vorgehen der beteiligten Fraktionen - sind jedoch nur solche Vorschläge in den Gesetzentwurf übernommen worden, die den finanziellen Interessen der beteiligten Parteien nicht in die Quere kommen. So ist in dem Gesetzentwurf der Kommissionsvorschlag, die Kreditaufnahme der Parteien zu begrenzen, ausgespart worden. Desgleichen wurde der sinnvolle Kommissionsvorschlag eines Bürgerbonus gestrichen.
Wegen der Kürze der Zeit kann ich neben einer Fülle von kritischen Einwänden gegen den Gesetzentwurf, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können, nur drei Schwerpunkte nennen, die den Gesetzentwurf unannehmbar machen.
Erstens. Die vorgeschlagenen gesetzgeberischen Maßnahmen führen zu einer unverantwortlichen und unerträglichen Mehrbelastung der Staatsfinanzen zugunsten der Parteien. Es kann nicht hingenommen werden, daß gerade die Parteien, die nicht müde werden, den Bürgerinnen und Bürgern Bescheidenheit und Verzicht auf Anspruchsdenken zu predigen, sich selber aus der Staatskasse in Millionenhöhe bedienen. Mit 35 Millionen DM beziffert der Gesetzentwurf die durchschnittlichen jährlichen Mehrbelastungen für den Fiskus ab 1985. Davon ist schon jede Mark zuviel.
({1})
Aber nicht genug damit: Der Gesetzentwurf verschweigt, daß mit den vorgeschlagenen Neuregelungen erhebliche Einnahmenausfälle zu Lasten des Fiskus auf Grund der steuerlichen Begünstigung von Parteispenden verbunden sein werden. Nach Schätzungen des Karl-Breuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler ergab sich aus Parteispendenzahlungen im Jahre 1981 ein staatlicher Finanzierungsbeitrag in Höhe von 73 Millionen DM. Deshalb ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Belastung der Staatskasse durch die in dem Entwurf vorgesehenen Neuregelungen das Vielfache des genannten Betrages von 35 Millionen DM ausmachen wird.
Wer will denn allen Ernstes diese Plünderung der Staatskasse verantworten? Wer will das angesichts der Tatsache verantworten, meine Damen und Herren, daß Sozialrentnern, Arbeitslosen, Schülern und Studenten, die am Rande oder unterhalb des Existenzminimums leben, mitleidlos und hartherzig Mittelkürzungen zugemutet werden, daß überall die angeblich haushaltsmäßig unausweichlichen Kürzungen oder Streichungen von Steuermitteln vorgenommen werden, die sinnvollen Projekten entzogen werden, beispielsweise der Humanisierung der Arbeitswelt oder der Friedensforschung?
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stahl ({0})?
Es tut mir leid, ich habe wirklich zu wenig Zeit, um noch Zwischenfragen zulassen zu können.
Die unglaubliche Arroganz und Unverfrorenheit eines solchen Vorgehens wird - dessen können Sie sich sicher sein - ihre politischen Konsequenzen haben.
Zweitens. Die in dem Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge sind zu einem wesentlichen Teil verfassungswidrig. Es ist eine Herausforderung des Bundesverfassungsgerichts, wenn mit dem Gesetzentwurf der Versuch unternommen wird, die politischen Parteien hinsichtlich der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Spenden den gemeinnützigen Organisationen gleichzustellen.
({0})
- Der Chancenausgleich, Herr Schäuble, den Sie sicherlich meinen, kann das nur bemänteln. Lesen Sie nach, was das Gutachten des Bundes der Steuerzahler dazu gesagt hat, denn werden Sie erkennen, daß ich recht habe.
({1})
- Lesen Sie mal nach, was da drin steht, dann werden Sie wissen, daß der Chancenausgleich nicht in der Lage ist, diese Verfassungswidrigkeit in Frage zu stellen.
({2})
Im übrigen sehen wir uns notfalls beim Bundesverfassungsgericht wieder. Dann werden wir j a sehen, wer recht hat.
Drittens. Einer der wichtigsten Einwände gegen das Gesetzgebungsvorhaben ist die Tatsache, daß es - natürlich völlig „aus Versehen", Herr Schäuble
- die Gefahr einer Amnestie durch die Hintertür mit sich bringt. Denn ganz ohne Grund ist es j a wohl nicht, wenn sich einige von diesem Gesetz in dieser Richtung etwas versprechen, nachdem seinerzeit der Versuch einer Amnestie im Hand-streichverfahren am Widerstand der SPD-Fraktion
- das sei zu deren Ehre gesagt - gescheitert ist.
Herr Kollege Schäuble hat in einem Interview vor wenigen Tagen deutliche Worte gefunden - ich darf Sie zitieren, Herr Schäuble -:
Ganz sicher ist, daß, wenn der Gesetzgeber die Parteienfinanzen und die Frage der steuerlichen Behandlung von Spenden an Parteien neu regelt, dies Auswirkungen auf anhängige und nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren haben kann.
Dies ist nicht der Hauptzweck - also offenbar der Nebenzweck dieser Gesetzgebung. Es kann aber eine Folge sein - ich gehe davon aus -, daß die für die strafrechtlichen Verfahren zuständigen Behörden neue Rechtslagen bei ihren Entscheidungen mit berücksichtigen.
Also ein schöner goldener Nebenzweck, Herr Schäuble! Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, welche verheerenden Folgen es für das Rechtsbewußtsein der Bürgerinnen und Bürger haben muß, wenn hier Strafbefreiung im Do-it-yourself-Verfahren durchgesetzt werden soll?
({3})
Wie wollen Sie eigentlich einem Lehrling, der wegen einem simplen Ladendiebstahl sich vor Gericht verantworten muß, wie wollen Sie einer Ost-Berliner Rentnerin, die wegen des Vorwurfs des Diebstahls einiger Drogerie-Artikel in Untersuchungshaft genommen wird, wie wollen Sie einem Jugendlichen von 15 Jahren, der wegen einer kleinen sprachlichen Entgleisung sich einem hochnotpeinlichen Gerichtsverfahren unterziehen muß, wie wollen Sie vielen unglücklichen und sozial schwachen Menschen, die mit der Legalität in Konflikt geraten sind und für die die Gesellschaft nichts Besseres zu tun hat, als sie in Gefängnisse einzusperren, wie wollen Sie denen plausibel machen, daß das gesellschaftlich gerechtfertigt und notwendig sei, wenn Sie selber Gesetze und Verfassung als Makulatur behandeln, wenn Ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen?
({4})
Herr Kollege Schily, ich bitte Sie, sich zu mäßigen.
({0})
Und behaupten Sie bitte nicht wieder, ich hätte das Ergebnis von Ermittlungen vorweggenommen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Ermittlungsverfahren sollen unbeeinflußt, ohne Vorverurteilung und zügig zu Ende geführt werden. Aber es gibt einen guten alten rechtsstaatlichen Grundsatz: daß sich Legislative und Exekutive jeglicher Eingriffe in schwebende Verfahren enthalten sollen. Was anders ist es denn, was Sie hier propaSchily
giert haben, Herr Schäuble, mit Ihrem Gesetzentwurf?
({0})
Zwei abschließende Bemerkungen will ich machen.
({1})
Die vorgesehenen Regelungen führen zu einer beträchtlichen Ausweitung der direkten und indirekten Parteienfinanzierung aus der Staatskasse. Die Erhöhung der Wahlkampfkostenpauschale wird zu noch aufwendigeren Wahlkämpfen führen, ohne daß auch nur die Spur eines Gedankens darauf verwendet wird, ob Wahlkämpfe in der hergebrachten Form und mit dem bisherigen finanziellen Aufwand sinnvoll und bürgernah sind. Wenn auf dem Vorblatt des Gesetzentwurfs unter der Rubrik „Alternative" schlicht Fehlanzeige gemeldet wird,
Herr Kollege - SchIly ({0}): - scheinen die beteiligten Parteien vergessen zu haben, den Satz zu beherzigen, den ich an anderer Stelle gehört habe
({1})
- ich bin sofort am Schluß -, daß man nicht mehr Geld ausgeben kann, als man einnimmt. Das sollten Sie sich selber mal zu Gemüte führen.
Einen Ratschlag will ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. Wir haben ja zwei Wahlkämpfe vor uns, Hessen und Bremen. Sie haben ja vielleicht viel Rühmenswertes zu diesem Gesetzentwurf zu sagen. Dann empfehle ich Ihnen: versuchen Sie es doch, mit diesem Gesetzentwurf in den beiden Wahlkämpfen mal Reklame zu machen. Dann werden Sie ja sehen, was die Bürger von diesem Gesetzentwurf halten.
({2})
Das Wort hat der Kollege Kleinert.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
({0})
- Ich verstehe nicht so richtig, wieso Sie bei mir da schon vorher Bedenken anmelden. Es gibt Leute - wir müssen uns ja alle erst einmal kennenlernen -, bei denen sind solche Bedenken vielleicht angebracht. Ich bin tatsächlich etwas überrascht. Nützlich wäre es doch, sich sachlich über die Sache zu unterhalten.
Auch in der Pressekritik gefällt mir an der Diskussion - es gibt da sehr große Unterschiede in der Betrachtungsweise - eines nicht: daß kritisiert wird, hier werde schnell ein Gesetz eingebracht - Herr Schily hat das soeben auch beanstandet -, hier werde ein Schnellschuß gemacht, und andererseits verlangt wird, man sollte die Dinge möglichst offen diskutieren. Wie ist es denn anders möglich, möglichst offen, mit sämtlichen Verfahrensgarantien, die unsere Geschäftsordnung und das im Deutschen Bundestag eingebürgerte Verfahren geben, zu diskutieren, als dadurch, daß man einen von einer eben doch sehr unabhängigen Sachverständigenkommission unterbreiteten Vorschlag hier als Gesetzentwurf vorlegt und sich bereit erklärt, in den dafür zuständigen Gremien dieses Hauses in aller Offenheit darüber zu sprechen?
({1})
Man braucht keineswegs jeden Punkt dieser Vorlage schon von vornherein als unveränderbar zu bezeichnen. Da gebe ich Herrn Wischnewski recht. Wir haben uns lediglich bemüht, ganz nah an der Vorlage der Sachverständigenkommission zu bleiben, um hier in dieses offene Verfahren zu kommen, weil die Bürger tatsächlich Anspruch darauf haben, daß die Frage der Parteienfinanzierung - die nicht seit zwei oder drei Jahren und nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen Strafverfahren interessant ist, sondern die seit den 50er Jahren zu immer neuen Überlegungen, Anstrengungen, Beratungen und meistens sehr halbherzigen Ergebnissen geführt hat - hier offen beraten wird. Genau das wollen wir hier erreichen.
Wir bitten doch um die Freundlichkeit, das nicht so herum und so herum gleichermaßen zu verurteilen: Machen wir nichts, dann bleiben wir im „Geheimkabinett", in „interfraktionellen Absprachen"; machen wir etwas, dann haben wir einen „Schnellschuß" gemacht. Irgendwo muß man doch einsehen, daß irgendein Weg möglich sein muß. Wir meinen, daß der, den wir hier beschritten haben, der richtige ist.
({2})
Es gibt eine mindestens zehnjährige Diskussion um eine vernünftigere Gestaltung der Parteienfinanzierung. Es hat immer wieder Beratungen auf allen möglichen Ebenen, mehr oder weniger offiziell, darüber gegeben. Es hat Versuche gegeben, das Bundesverfassungsgericht zu neuen Stellungnahmen zu bewegen: in dem Prozeß, der mit dem Urteil von 1979 geendet hat, das im wesentlichen das Urteil von 1957 bestätigt hat. Es hat Versuche gegeben, das alles in einen anderen Rahmen zu stellen. Und diejenigen, die in den Parteien Verantwortung getragen haben, haben sich in all den Jahren sehr wohl Mühe gegeben, alles das, was hier als letzte und neueste Erfindung der Partei DIE GRÜNEN vorgetragen wird, auch zu bedenken.
Ich bin in meiner Partei - es heißt nun mal so in unserer Satzung - Landesschatzmeister. Ich habe da gar nichts zu verbergen. Deshalb stehe ich hier und sage Ihnen das. Ich glaube nämlich, etwas Einblick zu haben in die Sorgen - und zwar seit längerer Zeit -, die wir da zu bewältigen haben. Genau das, was Herr Wischnewski hier gesagt hat, weiß auch ich: wie viele Opfer unsere Parteimitglieder bringen, was alles ehrenamtlich gemacht wird, bevor das bißchen Bargeld aufgewendet werden muß, was man auch für eine politische Partei nun wirklich haben muß, wenn es für eine Fülle anderer
Kleinert ({3})
Veranstaltungen in diesem Lande ganz andere Geldbeträge gibt.
({4})
Weil ich das weiß, habe ich auch den Mut, zu sagen: Unterhalten wir uns einmal offen darüber! Wir sind die ersten, die dafür sind zu sparen.
Im übrigen glaube ich: Wenn in allen Institutionen, im öffentlichen, halböffentlichen und zum Teil auch nur scheinbar privaten Bereich so sparsam gewirtschaftet würde wie bei den politischen Parteien, wenn die Personalvermehrung, von 1950 an gesehen, sich in vielen anderen Bereichen auch in einem so bescheidenen Rahmen bewegt hätte wie bei den politischen Parteien, dann hätte dieser Staat überhaupt keine Schulden.
({5})
Und da reden wir über viele Milliarden, nicht über einige Millionen!
Wenn hier insbesondere die GRÜNEN eine offene Diskussion fordern und uns sagen, wie man Demokratie abzuhalten hat, dann darf ich mir allerdings, Herr Kollege Schily, im Interesse der Klarstellung zwei Anmerkungen erlauben.
({6})
- Genau das ist das, worauf ich in anderer Weise zu sprechen kommen wollte. Es ist wirklich ganz selten, wenngleich im Einzelfall durchaus verständlich, daß diejenigen, die hier in einer Debatte sprechen, den anderen Debattenbeiträgen vorher gar nicht zugehört haben,
({7})
um dann hier um so präziser darlegen zu können, warum die anderen Beiträge falsch waren; das ist schon wirklich sehr bemerkenswert.
({8})
Da wir uns das nicht aufgeschrieben haben - mit Sperrfrist oder sonstwie -, wäre eine Unterhaltung, die diesen Namen verdient - und wir wollen uns ja über das Thema unterhalten -, nur möglich gewesen, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, hier rechtzeitig anwesend zu sein und dann mit uns zu debattieren.
Dann ist mir noch ein Weiteres aufgefallen, Herr Schily: Wenn wir die Auseinandersetzungen schon in dieser Art und Weise führen, wie Sie sie einzuführen beliebt haben: Für einen namhaften Strafverteidiger, wie Sie es sind, ist es eine ungewöhnliche Außerung, zu sagen, ein Mann sei befangen, der eine Partei und deren Ansichten in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt nach bestem Wissen und Gewissen vor einem Gericht vertreten hat. Wenn wir davon ausgehen, dann würden sich j a eine Fülle von - meiner Ansicht nach geradezu beleidigenden, in jeder Weise rechtswidrigen und standeswidrigen - Fragen anschließen, in welchen Angelegenheiten Sie etwa befangen sein könnten.
({9})
Das ist wahrscheinlich nicht der richtige Weg, hier aufeinander einzugehen. Aber wir können dort, wo sich das ganz konkret anbietet, natürlich auch herausgeben.
Ich bin ungefähr 1960 Schatzmeister des Kreisverbandes Hannover der FDP - das ist eine Überlegung zu dem, was wir hier zu besprechen haben - geworden. Das Wort „Schatzmeister" ist ganz verkehrt; „Kassierer" wäre etwas besser, aber auch das wäre noch irreführend; „Rechnungsführer" wäre richtig,
({10})
weil das beide Seiten der Bilanz umfaßt. Aber nun heißt das einmal so. Zu der Zeit, als ich dieses Amt übernommen habe, war die interessante Frage, ob man sich eine Äußerung, die man dem potentiellen Wähler gegenüber abgeben wollte, von den Druckkosten her erlauben konnte oder nicht. Der Versand mit dem seinerzeitigen Drucksachenporto von 3 Pfennig war das geringere Problem.
({11})
Inzwischen spielen die Druckkosten für solche Äußerungen im Verhältnis zum Porto, zu einem staatlich regulierten und beeinflußten Preis, nicht mehr die geringste Rolle.
({12})
Das ist eine Entwicklung der letzten 20 Jahre, die nicht die Parteien veranlaßt haben und die auch Sie hier im Hause ja ganz offensichtlich - trotz einer Feriensondersitzung - nicht wesentlich haben beeinflussen können, die aber zeigt, wie dramatisch sich die Dinge gegenüber fast statisch gebliebenen Einnahmen entwickelt haben.
Herr Wischnewski hat das hier vorhin für die SPD dargelegt. Bei uns sieht das alles erheblich bescheidener aus. Deshalb haben wir auch gar keine Angst vor dem Sparen. Aber klären Sie doch auch einmal ein bißchen auf! Es ist demagogisch natürlich sehr interessant, sich über diese witzlosen Plakate, die nicht argumentativ sind und überhaupt nichts bringen können - eine Ansicht, die man getrost teilen kann -, über die Kugelschreiber, die so verschenkt werden, und über das, was es da sonst noch an Firlefanz gibt, zu verbreiten. Aber wenn Sie der Sache einmal nachgehen, dann stellen Sie fest, daß Sie in einer Stadt wie Hannover für den Preis, den Sie für eine Achtelseite, eine ganz kleine Anzeige unten, in den beiden dort erscheinenden Zeitungen zu bezahlen haben, die ganze Stadt mit Plakaten vollstellen können, wobei auch die Abschreibungskosten für die einige Male - mit
Kleinert ({13})
ständigem Schwund - zu verwendenden dazugehörigen Ständer berücksichtigt sind.
({14})
Wenn man solche Zahlen überhaupt nicht kennt und nicht bereit ist, sie zur Kenntnis zu nehmen, dann kann man zwar hervorragend polemisieren, aber man kann nicht darüber aufklären, wo im Ernstfall zu sparen wäre.
Wir sind bereit, die Zahl der Anzeigen, die Zahl von Fernseh-Spots usw. zu begrenzen. Ich glaube auch, daß der Entwurf in dieser Hinsicht sehr ausbaufähig ist und daß wir uns da große Mühe geben sollten. Wir haben den Entwurf vorgelegt, weil er wirklich ausgewogen ist. Wir wollen keineswegs - wie Sie geglaubt haben meinen zu müssen - das Verfassungsgericht beleidigen, sondern wir wollen aus dem, was das Bundesverfassungsgericht zur Chancengleichheit im Zusammenhang mit einer offenen und ehrlichen Parteienfinanzierung gesagt hat, die Konsequenz ziehen und lassen uns dabei die Vorschläge der Kommission dienen, die mit dem Chancenausgleich, mit zusätzlichen Vorschriften zur Nachprüfung der Parteifinanzen und zur Offenlegung auch der Ausgaben - alles Dinge, die darin stehen - dafür sorgen wollen, daß hier eine neue Gesamtlage entsteht, die uns sehr wohl schließlich dazu berechtigt, von einer Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit im Sinne der Verfassung zu sprechen. Was daran noch fehlt, wollen wir versuchen, in den Beratungen herauszufinden und im Entwurf entsprechend zu verbessern, damit wir endlich einmal davon wegkommen, daß hier geargwöhnt werden kann, im stillen Kämmerlein, im kleinen Kränzchen werde darüber geredet. Wir sollten vielmehr zu einer ehrlichen und offenen Finanzierung auch in dieser Frage kommen.
Ich darf mir abschließend erlauben, zur zahlenmäßigen Erhellung hier noch ein Beispiel vorzutragen. Daß Sie die 98,5-Prozent-Partei sind, was die Finanzierung angeht, haben wir schon gehört.
({15})
- Ich wiederhole doch nur, was ich hier gehört habe.
({16})
Ich frage mich bei der Parteienfinanzierung, wie weit man auf den Grund der Dinge gehen muß, damit die Diskussion die Attribute „offen" und „ehrlich" verdient. Im Haushalt der Landeshauptstadt Hannover sind das unabhängige Jugendzentrum Glocksee mit 245 000 DM, das unabhängige Freizeitheim Rastplatz-Pavillion mit 281 000 DM und die übrigen sieben städtischen Freizeitheime mit 2,76 Millionen DM für Personalkosten und 700 000 DM für Sachkosten veranschlagt. Man muß bedenken - Sie haben sicherlich Sachverständige, die Sie befragen können -, wer dort hauptsächlich seine Veranstaltungen abhält und wie diese verdienstvolle politische Aufklärungsarbeit auf diese
Weise finanziert wird. Wenn Sie das wissen, dann wissen Sie auch, daß sich neben dem hier ergebenden Gesamtbetrag von 3,9 Millionen DM die 50 000 DM, die ausschließlich aus den Mitgliedsbeiträgen - aus der eigenen Tasche der Mitglieder - des Kreisverbandes Hannover ({17}) für die gleiche Arbeit erbracht werden, sehr bescheiden ausnehmen. Da liegen weite Quellen indirekter Finanzierung in Größenordnungen, die Sie durch Multiplikation an Hand der eben genannten Beispiele leicht herausfinden können. Nur wenn Sie bereit sind, auch über solche Dinge - und zwar richtig: mit Zahlen, mit Roß und Reiter - mit uns zu reden, haben Sie das Recht, zu sagen, hier werde eine offene Diskussion geführt. Dann vermeiden Sie den Eindruck, daß Sie hier ausschließlich demagogisch tätig sind, und zwar in einer Frage, die dieses am allerwenigsten verträgt.
({18})
Das Wort hat Herr Kollege Stratmann zu einem Geschäftsordnungsantrag.
Liebe Bürger und Bürgerinnen! Liebe sogenannte demokratietragende Fraktionen der CDU/CSU und der FDP!
({0})
Angesichts der Bedeutung des vorgelegten Antrages und angesichts der Verantwortung dieses Hohen Hauses für eine Beschlußfassung und Überweisung dieses Antrags an die Ausschüsse bezweifelt die Fraktion der GRÜNEN die Beschlußfähigkeit dieses Hauses und beantragt, diese Beschlußfähigkeit festzustellen.
Meine Damen und Herren, der Antrag ist zulässig. Der Sitzungsvorstand beschließt, durch Auszählung die Beschlußfähigkeit des Hauses festzustellen.
Zur Geschäftsordnung bzw. zur Abstimmung hat Herr Kollege Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Ich bitte, von der Möglichkeit des § 45 Abs. 2 der Geschäftsordnung Gebrauch zu machen, wonach Sie die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen können.
Gut, dann beraume ich die Abstimmung für 13.15 Uhr an.
Die Sitzung ist bis dahin unterbrochen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Sitzung fort.
Wir kommen zur Abstimmung durch Auszählung der Stimmen. Bei dieser Abstimmung sind die Berliner Kolleginnen und Kollegen voll stimmberechtigt. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die für die Überweisung sind, durch die Ja-Tür, diejenigen, die dagegen sind, durch die Nein-Tür, und die anderen durch die Enthaltungs-Tür zu gehen. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. Ich bitte die Schriftfüh1158
Präsident Dr. Barzel
rer, an den Türen ihre Arbeit zu tun. - Ich bitte, die Türen zu schließen.
Ich eröffne die Auszählung. Ich bitte, die Türen zu öffnen.
Meine Damen und Herren, im allgemeinen Interesse bitte ich, die Zählung beschleunigt zu Ende zu bringen.
Meine Damen und Herren, ich bitte, mit der Auszählung zum Ende zu kommen.
Ich bitte die Schriftführer, mir mitzuteilen, ob die Abstimmung beendet werden kann.
Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. - Es haben sich an dieser Abstimmung beteiligt und mit Ja - für die Überweisung - gestimmt: 265 Kollegen.
({1})
Mit Nein gestimmt haben 23 Kollegen.
({2})
Enthaltungen: keine.
Damit ist der Gesetzentwurf nach erster Lesung zur federführenden Beratung an den Innenausschuß,
({3})
zur Mitberatung an den Finanz- und den Rechtsausschuß sowie gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen.
Meine Damen und Herren, ich bitte noch wenige Minuten um Ihre Aufmerksamkeit. Wir haben Flüge für die Nord- und die Südverbindungen bestellt. Abflug ist 45 Minuten nach Beendigung des Plenums. Busse stehen auf dem Parkdeck bereit.
Wir haben noch einige Beschlüsse zu fassen; ich bitte Sie um die Liebenswürdigkeit weniger Minuten.
Ich rufe die Punkte 14 und 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Zukünftige Entwicklung der Großforschungseinrichtungen
- Drucksache 10/158 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Forschung und Technologie
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Zukünftige Forschungspolitische Zielsetzung im Bereich der Großforschungseinrichtungen ({4})
- Drucksache 10/188 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Forschung und Technologie
Das Wort wird nicht gewünscht. Der Ältestenrat schlägt vor, die Anträge an den Ausschuß für Forschung und Technologie zu überweisen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Oktober 1982 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Arbeitslosenversicherung
- Drucksache 10/40 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5})
- Drucksachen 10/169, 10/184 Berichterstatter: Abgeordneter Pohlmann
({6})
Die Drucksache 10/184 enthält eine Berichtigung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung.
Wünscht der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf, und zwar mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Danke. Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? ({7})
Das Gesetz ist angenommen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. November 1979 über die Soziale Sicherheit der Rheinschiffer
- Drucksache 10/62 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 10/170 Berichterstatter: Abgeordneter Günther
({8})
Wünscht der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. - Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erhePräsident Dr. Barzel
ben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltung? ({9})
Das Gesetz ist angenommen.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({10})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 10/167 Berichterstatter:
Abgeordneter Sauter ({11})
Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? ({12})
Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist angenommen.
Ich rufe den Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1982 - Einzelplan 20 -- Drucksache 10/93 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Das Wort wird nicht gewünscht.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags an den Haushaltsausschuß vor. Sind Sie hiermit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 und 21 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({13}) zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs ({14})
- Drucksachen 10/19, 10/128 Berichterstatter:
Abgeordneter Jung ({15})
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
({16}) zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Anderung des Deutschen Teil-Zolltarifs ({17})
- Drucksachen 10/18, 10/129 Berichterstatter:
Abgeordneter Jung ({18})
Wünscht der Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Wird sonst das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Ausschusses auf den Drucksachen 10/128 und 10/129 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 10/177 Das Wort wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor wir gleich zum Schluß kommen, möchte ich für zehn Zeilen um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Ich halte es für richtig, uns in Erinnerung zu rufen, was der frühere Alterspräsident und ehemalige Reichstagspräsident uns einmal ins Stammbuch geschrieben hat:
Zum Schluß möchte ich noch besonders das unterstreichen, was einige Redner bezüglich der Toleranz im Hause gesagt haben. Sofern der Redner sich keine Verbalbeleidigungen zuschulden kommen läßt, muß man gegen jede, auch noch so verworfene andere Ansicht Duldsamkeit üben. Vor einem Jahr nahm es eine Anzahl von Abgeordneten übel, daß auf der anderen Seite des Hauses andere Ansichten als bei ihrer eigenen Partei vertreten wurden - sie fingen sofort an, Krach zu machen -, daß die Redner der Rechten ganz etwas anderes redeten als die der Linken. Sie hatten noch gar nicht begriffen, daß es die Aufgabe des Parlaments ist, sich gegenseitig zu überzeugen und gegenseitig zu antworten, daß in dieser freien Gegenrede unsere eigentliche Aufgabe besteht. Diese Toleranz müssen wir wahren. Gleichzeitig müssen wir die Energie aufbringen, die nötig ist, um diejenigen abzuweisen, die den demokratischen parlamentarischen Boden, auf dem wir stehen, unterwühlen.
Ich danke Ihnen nun, daß Sie meinen einfachen Ausführungen mit so großer Geduld gefolgt sind.
Präsident Dr. Barzel
Paul Löbe, meine Damen und Herren. ({19})
Die endgültige Vereinbarung über die nächste Sitzung wird in der Ältestenratssitzung am 1. September getroffen. Wahrscheinlich wird sie am Mittwoch, dem 7. September, morgens 10 Uhr mit der Einbringung des Haushalts stattfinden.
Meine Damen, meine Herren, ich wünsche uns gute Sommerferien. Ein bißchen Muße wird uns allen guttun. Auf Wiedersehen im September.