Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen der Antrag der Fraktion der SPD betreffend Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" - Drucksache 10/1722 -, der in der 108. Sitzung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an einige andere Ausschüsse überwiesen wurde, sowie der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP betreffend Eigenkapitalhilfeprogramm und Ansparförderprogramm - Drucksache 10/2549 -, der in der 112. Sitzung zur federführenden Beratung dem Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an einige andere Ausschüsse überwiesen wurde, nachträglich auch dem Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung überwiesen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Pershing-Raketen-Unfälle in Baden-Württemberg
Die Fraktion der SPD hat gemäß in Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Pershing-Raketen-Unfälle in Baden-Württemberg" verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es waren amerikanische Soldaten, die in Heilbronn zu Tode gekommen sind. Die SPD drückt deren Familien und den amerikanischen Streitkräften ihr tiefes Beileid aus.
Der Tod der Soldaten sollte uns und die amerikanischen Verbündeten veranlassen, über die Ursachen aller bisherigen Pershing-Unfälle und über die damit zusammenhängenden Probleme nachzudenken. Wir wollen keine schrille Debatte. Ängste, wie sie in den letzten Tagen wieder aufgeflammt sind,
sollten von niemandem durch vordergründige Schuldzuweisungen politisch ausgebeutet werden.
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Die erste Frage ist die nach dem tatsächlichen Entwicklungsstand dieses Waffensystems. Wie steht die Bundesregierung zu Äußerungen kompetenter amerikanischer Experten, daß dieses Waffensystem aus rein politischen Gründen ab dem November 1983 stationiert wurde, obwohl es keineswegs fertig entwickelt war? Da seinerzeit keiner sagen konnte, daß die Sowjetunion den Verhandlungstisch verlassen hätte, wenn die Stationierung aufgeschoben worden wäre, kann jetzt auch keiner sagen, daß die inzwischen neu vereinbarten Verhandlungen gestört würden, wenn auf Grund des technischen Entwicklungsstands nun wenigstens vorläufiger Stationierungsstopp veranlaßt würde. Es ist nicht zu viel verlangt, wenn die Bundesregierung und die amerikanische Regierung darüber einmal ernsthaft nachdenken würden, schon um der Vertrauensbildung bei den eigenen Bürgern willen.
Wir stellen zweitens auf Grund der Übungs- und Unfallerfahrungen die Frage, ob die Konzeption des Pershing- II-Waffensystems überhaupt tragfähig ist. Diese Konzeption steht und fällt mit der Beweglichkeit dieser Waffe, damit in Spannungszeiten ihr tatsächlicher Standort unbekannt ist und somit keine Präventivschläge der gegnerischen Seite möglich macht. Tatsache ist aber, daß ein großräumiges Waffensystem mit breiten Spezialfahrzeugen durch eine dicht besiedelte Landschaft fährt, dabei jedermann auffällt, sodann auf engen Feld- und Waldwegen kaum noch vorankommt und gar, wie vor einigen Wochen im Welzheimer Wald, an einem Waldhang umkippt. Ist dies der Grund, warum in Heilbronn ständig neun dieser Raketen in fester Stellung abschußbereit stehen? Von einsatzfähiger Beweglichkeit kann offenbar nicht wirklich die Rede sein. Wenn sich diese Vermutung weiter erhärtet, dann wäre die Einsatzkonzeption der Pershing II ein Fehlschlag. Selbst die Urheber dieser Waffenkonzeption müßten sich dann' für einen Abzug dieser Waffe einsetzen, weil sie nicht einmal die Grundvoraussetzung erfüllt, mit der die Einführung der Pershing II für verantwortbar erklärt wurde.
Es würde sich dann erweisen, was schon 1958 Adenauer sagte: daß die Bundesrepublik für strategische Nuklearwaffen zu klein ist.
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Ich habe die starke Vermutung, daß selbst bei einer Waffe, die seit Jahren im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht, die politische Kontrolle über die eigene Rüstungsentwicklung versagt hat. Diese Feststellung bezieht sich nicht allein auf die jetzige Bundesregierung. Helmut Schmidt hat am 21. November 1983 hier im Bundestag selbst darauf hingewiesen, daß die Politik bei dem Element Pershing II im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses nicht aufgepaßt habe. Wenn nun unübersehbare Ereignisse eine strengere politische Kontrolle dieses Waffensystems aufdrängen, sollte sich keiner scheuen, etwa nur, um keine Fehler zuzugestehen, daraus alle notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hauser.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Brand eines Raketenmotors auf dem Stützpunkt Waldheide bei Heilbronn der US-Armee hat drei US-Soldaten das Leben gekostet. Sechzehn weitere wurden zum Teil sehr schwer verletzt.
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Dieses Unglück erfüllt uns mit Trauer. Unser Mitgefühl gilt den Betroffenen des Unglücks und deren Angehörigen.
Ich bin Ihnen dankbar, Kollege Scheer, daß Sie Ihre Rede hier so moderat begonnen und geschlossen haben und daß Sie sich sehr deutlich von denjenigen distanzierten, die daraus eine Hetzkampagne in unserem Lande machen. Für bestimmte Leute in unserem Lande war dieses Unglück kein Anlaß zur Trauer, sondern der Startpfiff zu einer rücksichtslosen Kampagne.
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Der Tod und die Verletzungen der Soldaten waren nur Gegenstand einer Meldung. Die Seiten der Blätter und die Sendeminuten von Rundfunk und Fernsehen füllten jedoch wahre Horrorvisionen.
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So wurde in einer Fernsehsendung weniger von Tatsachen als vielmehr von umlaufenden Gerüchten berichtet, z. B. davon, bei dem Brand sei Radioaktivität freigeworden. Die Reifenpanne eines Transportfahrzeugs für Raketenteile mußte dafür herhalten, daß die Fernsehredakteure das Waffensystem Pershing insgesamt als nur bedingt einsatzfähig einstuften.
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Es ist kein Wunder, meine Damen und Herren, daß bei solcher Panikmache die Bevölkerung besonders in meiner Heimat in Nordwürttemberg zutiefst verunsichert ist, daß sich Angst und Schrecken breitmachen. Kein Zweifel: Dies sollte das Ergebnis der vereinten Bemühungen der Gegner der Verteidigungspolitik der Bundesregierung und der NATO sein.
In dieser Situation müssen wir von der Union aber darauf bestehen, daß die objektiven Fakten die öffentliche Diskussion bestimmen und nicht verdrehte Panikmeldungen.
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Es ist sehr bedauerlich, daß die Soldaten der 56. USFeldartilleriebrigade neben den Belastungen, die sie durch Dauerdemonstranten zu tragen haben, nun auch noch die Last dieses Unglücks mit dem Tod von drei Kameraden mittragen müssen. Es ist aber sicher, daß weder die Zivilbevölkerung des Heilbronner Raumes noch die Soldaten auf dem Stützpunkt durch diesen Unfall einer nuklearen Gefahr ausgesetzt waren. Atomsprengköpfe werden bei Übungen nicht mitgeführt und auch nicht übungshalber auf- und abmontiert. Herumfliegende brennende Teile des Raketenmotors konnten deshalb keine Sprengköpfe treffen. Entscheidend ist, daß der Mensch Gefährdungen in Grenzen hält und Ansatzpunkte findet, möglichen Gefahren zu begegnen. Das gilt für zivile und militärische Technik gleichermaßen.
Was die Verteidigungspolitik angeht, so können wir sagen, daß durch die Verteidigungsanstrengungen der freien Bündnispartner das Risiko, in einen Krieg verwickelt zu werden und die Freiheit zu verlieren, entscheidend gesunken ist.
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Das war und ist unser Preis für die Freiheit. Der Unfall bei Heilbronn sollte uns auch für den Gedanken empfänglich machen, daß die Bevölkerung der USA seit mehr als 35 Jahren bereit ist, mit Raketen im eigenen Lande zu leben. Manès Sperber hat in seiner Frankfurter Preisverleihungsrede geschrieben, der Friede werde uns nicht geschenkt; er müsse stets und immer neu erkämpft werden. Seit Gründung der NATO leben wir in Frieden.
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Kämpfen brauchten wir dafür nicht. Aber wachsam mußten wir sein, damit uns die Freiheit erhalten blieb. Ohne eigene Anstrengungen bekamen wir dieses Geschenk nicht.
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Meine Damen und Herren, nach dem Unglück von Heilbronn-Waldheide gibt es eigentlich nur eine angemessene Reaktion: den Toten und VerletzHauser ({8})
ten unseren Respekt und unsere Anteilnahme zukommen zu lassen.
Ich appelliere an alle sachlich Denkenden in unserem Lande, sich nicht an hysterischer Panikmache zu beteiligen, solange die wirklichen Ursachen des Unfalls nicht bekannt sind. Panikmache nützt letztlich niemandem, auch denjenigen nicht, die meinen, aus diesem Unfall politisches Kapital schlagen zu können.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogt ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als im November 1982 in Waldprechtsweier bei Karlsruhe ein Pershing-I-Transporter mehrere Pkws überrollte, einen Autofahrer tötete, zwei Menschen schwer verletzte und schließlich an eine Hanswand donnerte, da behauptete der Sprecher des Bundesverteidigungsministers, Oberst Reichardt, steif und fest, der Treibstoff solcher Raketen könne durch mechanische Einwirkungen nicht gezündet werden. Am 11. Januar 1985 wurde er möglicherweise auf grausame Art widerlegt. Durch den Aufprall der tonnenschweren ersten Raketenstufe einer Pershing II auf die Erde entzündete sich der feste Brennstoff. Es entstand ein Feuerschweif mit Temperaturen zwischen 1 000 und 2 000 Grad. Drei Menschen wurden getötet, 16 verletzt.
Wir trauern, wie auch Sie, um diese Toten. Den Verletzten gelten unser Mitgefühl und unsere Genesungswünsche. Ebenso hat die regionale Friedensbewegung, was in den USA, Herr Hauser, durchaus als Geste registriert worden ist, den Verletzten und Angehörigen entsprechende Wünsche überbracht.
Zu dem Entsetzen aber über die Gefahren, die offenkundig von diesen Raketen schon allein auf Grund ihrer technischen Beschaffenheit ausgehen, gesellt sich bei vielen Menschen die Konsterniertheit über eine Regierung, die sich weigert, aus diesen makabren Vorfällen die angemessenen Lehren zu ziehen. Für sie bleibt auch das Geschehen auf Waldheide ein Lehrstück ohne Lehre. Sie übt sich in einer neuen Variante von „Biedermann und die Brandstifter".
Herr Hauser, es ist schamlos, wenn Sie dieses makabre Geschehen ausnutzen, um in der Diffamierung der Friedensbewegung noch einen Zahn zuzulegen.
Außer Durchhalteparolen und Beschwichtigungsformeln war von Regierung und Koalition auch im Verteidigungsausschuß nichts zu vernehmen. Fragen, die über die offizielle Beschwichtigungsversion hinausgehen, werden abgewürgt, vor allem dann, wenn sie sich dem nuklearen Gefahrenpotential der Plutoniumladung der Pershing-II-Sprengköpfe nähern.
Inzwischen wissen wir aus mehreren Quellen, wie nahe der Unfall an der Möglichkeit lag, in eine Plutoniumkatastrophe auszuarten. Hätte nämlich die Hitze des Feuerschweifs auch nur einen der tatsächlich in der Nähe in Bereitschaft gelagerten Atomsprengköpfe erfaßt und die Plutoniumbehälter zum Schmelzen gebracht, dann wäre eine mit Plutoniumoxidstaub angereicherte Rauchsäule hochgejagt worden. In und um Heilbronn wäre ein Areal - größer als Frankfurt - verseucht worden, ein Teil davon auf Jahrtausende hinaus für Menschen nicht mehr bewohnbar.
Meine Damen und Herren, es ist hinzuzufügen, daß diese Rakete mit einem Sprengsatz von 5 kg Plutonium ausgerüstet ist. Noch brisanter wäre der Fall, wenn es zu einem ähnlichen Unfall mit Cruise missiles käme. Da sind nämlich in dem gepanzerten Werfer jeweils vier Atomsprengköpfe mit zusammen 20 kg Plutonium. Bei einem Unfall der geschilderten Art käme es zu einem Kompaktbrand. Bei den Sprengladungen der Cruise missiles handelt es sich nicht um Fissions-, sondern um Fusionsbomben, also Wasserstoffbomben, die zu ihrer Zündung Tritium benötigen. Wird aber Tritium freigesetzt, dringt es in den Erdboden ein und verseucht irreversibel, also in einer Weise, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, das Grundwasser.
Der Unfall wirft noch eine Reihe anderer Fragen auf, beispielsweise nach dem Kriseninformationssystem zwischen der Sowjetunion und den USA in einem ähnlichen Fall. Wir haben diese Frage konkret gestellt, inwieweit die Bundesregierung in diesem Fall informiert worden ist, und haben leider nur sehr allgemeine Antworten bekommen, nämlich den Hinweis, der wohl mehr staatsbürgerlich zu verstehen ist, daß es ein entsprechendes Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion gebe. Herr Rühl, Staatssekretär, geübt als seinerzeitiger Pressesprecher der Bundesregierung, hat das in dieser abwimmelnden Form im Verteidigungsausschuß gebracht.
Meine Damen und Herren, was die Forderungen angeht, so werden wir natürlich immer, aber nicht unter Ausnutzung einer solchen Gelegenheit, auf die Richtigkeit unserer Forderung hinweisen, solche hochgefährlichen Waffen, die nicht nur militärstrategisch gefährlich sind, abzubauen. Wir werden um so mehr darauf hinweisen, als wir auch den Genfer Verhandlungen oder neuen Abrüstungsoder Rüstungskontrollverhandlungen nur eine Chance geben, wenn Signale gesetzt werden, wenn ein Stopp dieser Raketen verfügt wird und wenn die vorhandenen Raketen abgebaut werden. Herr Hauser, dies ist nicht nur eine Forderung der GRÜNEN oder eine Forderung der Friedensbewegung, die Sie hier wieder diffamiert haben, sondern diese Forderung hat sich - wie ich gehört habe - gestern auch der Gemeinderat von Heilbronn in allen Dimensionen einstimmig zu eigen gemacht.
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Ich meine, die Bürger und die Gemeinden in der Bundesrepublik sollten die Opfer dadurch ehren, daß sie aufwachen, daß sie eine Politik betreiben, die künftig Opfer vermeiden hilft.
Danke schön.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages hat die Anteilnahme am Tod dreier amerikanischer Soldaten und am Schicksal der Verletzten bereits ausgesprochen. Die Sprecher des heutigen Morgens haben es wiederholt. Schon aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß es hier und heute nicht um eine Bagatellisierung irdendeines Unfalles gehen kann, daß es nicht darum gehen kann, irgend etwas zu vertuschen. Genau dies, Kollege Vogt, ist bisher weder hier heute morgen noch im Verteidigungsausschuß geschehen.
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Herr Kollege Vogt, Sie haben hier gesagt, es seien Fragen abgewürgt worden. Ich bin in der Sitzung des Verteidigungsausschusses gewesen. Ich kann Ihnen sagen: Dies war nicht der Fall.
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Und ich kann Ihnen darüber hinaus sagen: Wir haben vier Stunden über diesen Vorgang debattiert, und wir haben exakte Informationen aus dem gegenwärtigen Wissensstand heraus bekommen. Natürlich ist die Untersuchung, die im Gange ist, noch nicht abgeschlossen. Die Untersuchungskommission ist an der Arbeit. Ein deutscher Offizier ist beteiligt; er ist nicht nur beteiligt, sondern er wird über alle Details bis ins letzte informiert. Uns ist der Abschlußbericht dieser Untersuchungskommission im Verteidigungsausschuß bereits angekündigt worden.
Kollege Vogt, lassen Sie mich jedoch genauso deutlich sagen: Genau das, was heute morgen hier vermieden werden sollte, nämlich ein Aufputschen von Emotionen, ein Darstellen möglicher Gefahren, von denen wir nach dem exakten Ablauf dieses Hergangs wissen, das sie nicht bestanden haben, haben Sie heute morgen versucht. Ebensowenig ist hier heute morgen irgendeine Äußerung gefallen, die die Friedensbewegung diffamiert hätte. Wir sollten zu der Sachlichkeit zurückkehren, die in den ersten Wortmeldungen des heutigen Tages erkennbar war.
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Dazu ist zu sagen, daß bisher bei den Untersuchungen über die Pershing II und die bisherigen Unfälle nicht das erkennbar war, was als eine Serie von Unfällen bezeichnet werden könnte, denn dieser Ausdruck wäre ja nur dann gerechtfertigt, wenn man etwa eine gemeinsame, in einem grundsätzlichen technischen Fehler des Systems liegende Ursache für bisherge Unfälle nachweisen könnte. Genau dies ist bisher eben nicht der Fall. Deswegen bin ich dafür, daß wir mit aller Sachlichkeit und mit aller Energie darauf drängen, daß diese Untersuchungen angestellt werden.
Ich füge hinzu: Sollte das Ergebnis der Untersuchungen tatsächlich ein Systemfehler sein oder - ich gehe noch einen Schritt weiter - sollte es nur einen begründeten Verdacht auf einen Systemfehler geben, dann müßten natürlich Konsequenzen gezogen werden. Das ist überhaupt außerhalb jeder Diskussion.
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Von Krieg aus Versehen ist die Rede gewesen. Ich will die technischen Einzelheiten hier in der Kürze der Zeit nicht wiedergeben. Ein solcher Krieg konnte nach aller Schilderung nicht ausgelöst werden, und zwar deshalb, weil doch wohl darauf hinzuweisen ist, daß ein unbeabsichtigter Start, Herr Kollege Vogt, nach der Schilderung über den Ablauf rein technisch nicht möglich war.
Lassen Sie mich eines hinzufügen. Welche Veranlassung haben wir eigentlich, anzunehmen, daß irgend jemand in der Welt oder auch in der Sowjetunion auf einen Unfall dieser Art hektischer reagieren sollte, als es die NATO getan hat und als es Norwegen getan hat, als ein sowjetischer Flugkörper sowjetisches und NATO-Gebiet überflogen hat? Wir wissen doch, daß auf beiden Seiten Sicherheitsvorkehrungen in diesem Sinne getroffen sind.
Deswegen spielt hier auch die Frage keine Rolle, ob der Beginn der Durchführung des Doppelbeschlusses richtig war. Die Frage danach in diesem Zusammenhang zu stellen, halte ich für völlig falsch, denn die Frage nach der politischen Richtigkeit des Beginns der Stationierung von Mittelstrekkenwaffen auf westlicher Seite kann nur mit einem Blick auf Genf, mit einem Blick auf die Ergebnisse der Außenministergespräche Anfang Januar
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und mit einem Blick auf die Hoffnungen gestellt werden - Kollege Jungmann -, die sich auf den Wiederbeginn dieser Verhandlungen stützen.
Uns braucht niemand aufzufordern, für den Abbau von Waffen einzutreten. Wir versuchen es auf eine Weise, die unsere Sicherheit und die Sicherheit des Friedens nicht gefährdet.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als erstes möchte ich auch hier vor dem Deutschen Bundestag das Bedauern der Bundesregierung über dieses Unglück zum Ausdruck bringen. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer und den verletzten amerikanischen Soldaten.
Die Bundesregierung wie, glaube ich, jeder von uns nimmt diesen Unfall sehr ernst. Wir verstehen die Sorgen der Bürger und fühlen uns, wie es unsere Pflicht ist - aber nicht nur aus diesem Grund -, für ihre Sicherheit verantwortlich. Wir haben deswegen von Anfang an mit Nachdruck auf eine lückenlose Aufklärung der Unfallursache hingewirkt. Wir werden für eine umfassende UnterBundesminister Dr. Wörner
richtung der Öffentlichkeit über die Untersuchungsergebnisse sorgen, sobald sie vorliegen. Ich sage hier ganz klar: Sobald die Unfallursachen eindeutig geklärt sind, muß und wird alles geschehen, um eine Wiederholung des Unfalls zu verhindern und gegebenenfalls zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen in die Wege zu leiten.
Ich habe sofort, nachdem der Unfall passiert war, im Einvernehmen mit den Amerikanern einen militärischen Sachverständigen der Bundeswehr als Beobachter zu den Untersuchungen entsandt. Er begleitet und unterstützt die amerikanische Expertenkommission und befindet sich im Augenblick mit den Experten in den Vereinigten Staaten. Ich möchte dankbar anerkennen, daß uns die Amerikaner, was in gewisser Weise natürlich auch selbstverständlich ist, voll informieren und uns wirklich in alle Karten dieses Unfalls und des Systems schauen lassen, was ich für ganz wichtig halte.
Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Erst wenn ihre Ergebnisse vorliegen, können endgültige Schlußfolgerungen gezogen werden.
Unbeschadet der Untersuchungsergebnisse, die wir abwarten müssen, läßt sich aber zu einigen Punkten schon folgendes feststellen.
Erstens. Bei dem Unfall am 11. Januar 1984 in Waldheide bei Heilbronn war die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt in Gefahr, weder in der Nähe noch im weiteren Umkreis des Unfallortes. Nukleare Gefechtsköpfe waren von diesem Brandunfall nicht betroffen.
Die in der Sendung „Monitor" aufgestellte Behauptung, es habe die Gefahr einer Verstrahlung des Großraums Heilbronn bestanden, trifft nicht zu. Das ist eine grobe Irreführung und gezielte Verunsicherung unserer Bevölkerung. Eine solche Gefahr hat zu keiner Zeit und in keiner Weise bestanden. Herr Kollege Vogt, Sie täten gut daran, diese Behauptung nicht in der Weise aufzugreifen, wie Sie das eben getan haben.
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Unabhängig von diesem Unfall ist allgemein festzustellen:
Erstens. In der Bundesrepublik Deutschland ist noch niemals ein Unfall mit einem nuklearen Sprengkörper, also dem nuklearen Teil von Waffen geschehen.
Zweitens. Die Nuklearwaffen sind unter strengsten Sicherheits- und Schutzvorkehrungen gelagert. Auf Straßentransporten und bei Übungen werden nukleare Gefechtsköpfe nicht mitgeführt. Ich möchte hier auch unterstreichen, was der Kollege Ronneburger soeben gesagt hat: Ein Krieg aus Versehen, d. h. ein unbeabsichtigter Start, ist durch technische Vorkehrungen ausgeschlossen.
Drittens. Die Behauptung, das Waffensystem Pershing II sei nicht hinreichend erprobt, ist unrichtig. Tatsächlich wurde das System einem umfassenden Versuchsprogramm unterzogen. Von den 22 Flugtests verliefen 18 technisch erfolgreich,
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insbesondere die der letzten Versuchsgruppe. Darüber hinaus ist das Waffensystem am Boden zahlreichen Erprobungen unter äußersten Belastungen ausgesetzt worden, darunter extremer Kälte.
Natürlich ist es bedauerlich, daß gelegentlich Verkehrsunfälle passiert sind; ich habe das im übrigen bei den Pershing I zum Anlaß genommen, mit meinem Kollegen Weinberger ein sehr deutliches Wort zu reden. Daraufhin ist das sehr viel besser geworden. Wir drängen darauf, daß die Verkehrssicherheit ständig überprüft und, soweit es irgend geht, noch weiter verbessert wird. Allerdings ist es sachwidrig, Verkehrsunfälle, die im Grunde genommen nie völlig auszuschließen sind, in Verbindung mit der Einsatzbereitschaft oder der Zuverlässigkeit des Waffensystems als solchem zu bringen.
Was die Zusammenarbeit des amerikanischen Verbandes mit Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten angeht, so hat der Staatssekretär im Innenministerium von Baden-Württemberg Ruder bereits die Behauptung, ein Katastrophenschutz sei für diese amerikanischen Militäranlagen in Waldheide nicht vorgesehen, als unrichtig zurückgewiesen. Der Ablauf der Lösch- und Rettungsaktionen beweist das auch; die ständige Zusammenarbeit hat sich am 11. Januar 1985 bewährt. Ich darf diese Gelegenheit nützen, auch einmal den deutschen Feuerwehrleuten und auch den Angehörigen des Rettungsdienstes und der Polizei für diesen Einsatz sehr herzlich zu danken.
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Natürlich - das möchte ich auch mit dem Ernst betonen, der diese Debatte seither kennzeichnet - stellen wir jetzt schon intensive Überlegungen an, wo etwas verbessert werden kann. Und vorbeugend hat die amerikanische Armee Ausbildungs- und Bedienungsvorschriften im Sinne zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen schon jetzt geändert.
Lassen Sie mich also zusammenfassen: Aus diesem Unfall können erst dann endgültige und richtige Schlußfolgerungen gezogen werden, wenn das Untersuchungsergebnis ausgewertet vorliegt. Wer, ohne die Untersuchungsergebnisse abzuwarten, bereits jetzt Spekulationen anstellt oder vorschnell Sach- und Werturteile fällt, handelt unseriös.
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- Nein, ich habe mich in meinen Urteilen auf Dinge begrenzt, die bereits jetzt auch nach Auffassung unseres eigenen Experten und nach unserer gesicherten Erkenntnis eindeutig feststehen.
Ich möchte auch vor dem Versuch warnen, diesen Unfall zum Vorwand für eine Neuauflage der Kam8754
pagne gegen die Stationierung dieser Waffen zu nehmen,
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und ich erkenne dankbar an, daß zumindest seitens der SPD dieser Versuch nicht unternommen wurde. Denn inzwischen ist der Bundesregierung und mir persönlich klar, daß erstens die Stationierung dieser Waffen nicht zu Kriegsgefahr geführt hat, wie das einige befürchtet und an die Wand gemalt hatten. Sie hat die Stabilität in Europa erhöht und damit den Frieden sicherer gemacht.
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Zweitens. Die Verwirklichung der Nachrüstung hat mit - ich sage: mit - dazu beigetragen, die Sowjets an den Verhandlungstisch zu bringen.
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Wer an dieser Stationierung rüttelt, macht Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen aussichtslos.
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Daher werden wir an der Stationierung festhalten, aber andererseits alles tun, was irgend in unseren Kräften steht und erforderlich ist, um die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Spöri.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich spreche hier als Abgeordneter meines Wahlkreises Heilbronn, speziell der Stadt Heilbronn, in deren Naherholungsgebiet sich am vorletzten Freitag dieser Unfall ereignet hat, über den wir heute reden.
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- Ich komme dennoch aus Heilbronn. Ich finde, das ist ein bißchen billig; kleine Münze.
Herr Minister Wörner, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß das nicht etwa der erste Unfall mit Pershing-Raketen in der Region sei, aus der wir beide kommen, nämlich in Baden-Württemberg. Nein, vier Pershing-Unfälle in den letzten zwei Jahren markieren eine kontinuierliche Unglücksspur, die nunmehr mit dem Unfall in Heilbronn ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat.
Herr Wörner, zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich auch durchaus schon gewisse Schlüsse ziehen. Es ist ja so, daß die Vorgeschichte dieser Unfälle ganz deutlich zeigt: Eine zentrale Gefahrenquelle des Pershing-Systems liegt in der notwendigen regionalen Bewegungsfähigkeit, was auch der Kollege Scheer schon angesprochen hat. Diese Beweglichkeit ist nicht auf die geographischen Verhältnisse im Stationierungsland Baden-Württemberg abgestimmt.
Was bei diesem Unglück in Heilbronn jetzt hinzukommt, ist eine ganz neue Dimension. Dieses Mal ist Ursache des Unglücks nicht etwa die Gefahr im Straßenverkehr oder schlechte Wartung von Fahrzeugen, wie das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Nein, wenn während einer Übung - übrigens streng nach Vorschrift, wie das der kommandierende General Haddock betont hat - die erste Stufe einer Pershing II von selbst entzündet wird, und zwar mitten im Naherholungsgebiet der Großstadt Heilbronn, wo sonst in einer Entfernung von wenigen 100 Metern im Rahmen der Stadtranderholung Kinder in einem Waldheim spielen, dann zeigt das die große Gefahr, die allein schon aus der technischen Störanfälligkeit dieses Systems resultiert.
Wer das bestreitet, Herr Wörner, sollte einmal nachlesen, was ein amerikanischer Untersuchungsausschuß im März letzten Jahres zu dieser Störanfälligkeit festgestellt hat: daß die Ergebnisse bisheriger Pershing-Tests wegen schwerwiegender Einschränkungen nur bedingt aussagekräftig, weil stark geschönt seien. Genau deshalb, Herr Wörner, war die hektische Stationierung der Pershing II verantwortungslos.
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Wir wollen die Kampagne jetzt nicht neu führen und alte Schlachten schlagen. Wir wollen das Unglück nicht billig instrumentalisieren. Aber eines verlangen wir von Ihnen in ganz pragmatischem Sinn. Wir gehen nicht davon aus, daß Sie Ihre Grundsatzposition zur Stationierung ändern. Wir verlangen von Ihnen - auch im Interesse der lokal betroffenen Bevölkerung -, daß Sie endlich diese unsinnige Praxis der Geheimhaltung der Pershing-Standorte aufgeben.
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Diese Praxis führt z. B. in Heilbronn dazu, daß es seit 1984 einen Katastropheneinsatzplan gibt, in dem die Waldheide als Raketenbasis und damit als möglicher Unglücksort überhaupt nicht berücksichtigt werden darf, einfach deswegen, weil das offiziell nicht bekannt sein darf, obwohl jeder weiß, daß es diese Raketen auf der Waldheide gibt.
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Dennoch müssen und mußten, wie Sie das geschildert haben, Rotes Kreuz, Samariterbund, Polizei, deutsche Rettungseinheiten auf improvisierter Basis bei Unglücksfällen arbeiten. Das ist nicht richtig.
Lockern Sie im Hinblick auf eine ernst zu nehmende Planung des Unfall- und Katastrophenschutzes wenigstens die Geheimhaltung. Was Sie hier als Verteidigungsminister mit der bisher widersinnigen Geheimhaltungspraxis treiben, Herr Wörner, führt in der Praxis wirklich zu absurden Ergebnissen beim Katastrophenschutz vor Ort. Da können Sie auch Ihre CDU-Parteifreunde in Heilbronn fragen. Das sind kafkaeske Verhältnisse.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wilz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie auch mich noch einmal vorab den Angehörigen der bei dem Unfall getöteten drei amerikanischen Soldaten unsere Anteilnahme aussprechen. Diese Soldaten sind in Pflichterfüllung auch und gerade für unsere Sicherheit gestorben.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß das Gedenken an diese Soldaten angebrachter ist als jedwede Form einer Panikmache.
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Diese Panikmache haben wir leider in den letzten Wochen des öfteren gehört. Ich war heute morgen positiv davon angetan, daß der Kollege Scheer versucht hat, versachlichend in die Diskussion einzugreifen.
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Von dem, was ich soeben vernehmen mußte, habe ich allerdings den Eindruck, daß hier mit dem Versuch, die Bevölkerung zu verunsichern, Wahlkreispropaganda betrieben werden sollte.
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- Meine Damen und Herren von der SPD, Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen. Ich empfehle Ihnen: Hören Sie damit auf, das gute deutschamerikanische Verhältnis zu belasten und die deutsche Öffentlichkeit zu verunsichern.
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Ich lege großen Wert auf die Feststellung, daß wir nicht in Hektik stationiert haben, sondern dies ist ausgewogen und überlegt durchgeführt worden.
Was den Katastrophenschutz angeht, den Sie angesprochen haben, so sollten Sie sich bei den wirklich zuständigen Stellen informieren.
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Dann werden Sie das Gegenteil erfahren können.
Ich möchte auch von dieser Stelle aus noch einmal den Soldaten, die sich noch im Krankenhaus befinden, unsere besten Genesungswünsche aussprechen und sie unserer Sympathie versichern.
Wir sollten an dieser Stelle auch den Hunderttausenden amerikanischer Soldaten und ihren Familien hier in Europa danken. Wir sollten ihnen Dank dafür sagen, daß sie nicht zuletzt mit ihrer Präsenz und Verteidigungsbereitschaft besonders auch unsere Freiheit mit schützen und garantieren.
Wie eigentlich muß es in den Herzen der amerikanischen Ehefrauen und Kinder aussehen, wenn ihre Männer weit weg von ihrer Heimat bei der Erfüllung dieses Friedensauftrags oft genug von Krawallmachern und Randalierern gewaltsam behindert werden, wenn dann teilweise sattsam bekannte Politiker dazu anstiften oder feixend am Rande stehen und Sendungen wie „Monitor" sich in Agitation gefallen?
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Wer so handelt, Herr Kollege Ehmke, hat, wie ich meine, moralisch das Recht verwirkt, unseren Verbündeten den Weg der vermeintlichen Tugend zeigen zu wollen oder sie gar zu diskreditieren.
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- Das sollten Sie sich überlegen. Ich weiß, hei Ihnen ist das Überlegen oft schwierig, das Beherrschen noch mehr.
Bei aller Tragik eines jeden Unfalls mit Toten und Schwerverletzten hat das Anschlußgeschehen im Zusammenhang mit diesem Vorfall eine überaus beruhigende Seite deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit gezeigt, die wir gar nicht hoch genug bewerten können. Ich meine damit die sich anschließende sofortige Unterrichtung der deutschen Seite ebenso wie die gegenseitige Abstimmung und Kooperation. Dies war, wie ich gleich nachweisen werde, in der Tat vorbildlich. Ich glaube, Sie hätten früher froh sein können, wenn Sie in der Abstimmung mit den Vereinigten Staaten ein ähnlich gutes Ergebnis hätten erreichen können.
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Ich will das Geschehen noch einmal Revue passieren lassen. Eine Minute nach Ausbruch des Feuers wurde die deutsche Feuerwehr alarmiert. Sie traf nach 13 Minuten am Unfallort ein und hatte das Feuer bereits nach 10 Minuten unter Kontrolle. Fast gleichzeitig mit der Feuerwehr traf der deutsche Rettungsdienst ein. Kurz danach wurde das Verteidigungsministerium durch die US-Botschaft umfassend informiert. Im Anschluß daran hat die amerikanische Seite die deutsche Öffentlichkeit auf Bitten des Ministeriums ebenfalls zügig informiert.
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Auf Wunsch unseres Verteidigungsministers wurde einem Experten der deutschen Luftwaffe von den Amerikanern unverzüglich die Möglichkeit eingeräumt, sich vor Ort einzufinden und die Untersuchungen begleitend zu unterstützen.
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- Nun hören Sie doch zu. Sie können doch durch Ihre Zwischenrufe die Wahrheit nicht hinwegdiskutieren. - Gleichermaßen haben die Amerikaner zugesagt -
Herr Abgeordneter, ich muß Sie bitten, Ihre Rede zu beenden; Ihre Redezeit ist abgelaufen.
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Lassen Sie mich deshalb - 8756
Nein, nein, sie ist wirklich im Moment abgelaufen. Es tut mir furchtbar leid, Ihre Redezeit ist zu Ende.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, mit unserer guten Zusammenarbeit haben wir einen richtigen Schritt in die richtige Richtung getan.
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Herr Abgeordneter Ehmke, ich muß Sie wegen eines beleidigenden Zwischenrufs zur Ordnung rufen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die Sorge um Menschen im Wahlkreis als Propaganda abzutun, ist wirklich hochgradiger Zynismus.
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Das, was Sie uns soeben geliefert haben, Herr Wilz, ist eine gelungene Lektion in unsachlicher Polemik. Bitte, kommentieren Sie andere Redner nicht immer so polemisch, sondern betrachten Sie einmal Ihre eigene Redeweise.
Ich befürchte, daß nach den Worten des Ministers heute morgen immer noch mehr Fragen offen als beantwortet sind. Leider wissen wir, obwohl nun schon zwei Wochen vergangen sind, noch nichts über die Unfallursachen, außer der lapidaren Auskunft im Verteidigungsausschuß: „Die Rakete hat Feuer gefangen."
Welche Ursachen, Herr Minister, halten Sie selber für möglich? Kann der Brand durch mechanische Einwirkungen von außen entstanden sein? Kann es sein, daß der Raketentreibstoff durch Wärmeeinwirkung gezündet wurde? Wissen Sie eigentlich, daß es mit diesem Treibstoff, der auch in der amerikanischen Trident-Rakete verwendet wird, schon mehrere ähnliche Vorfälle bei Tests gegeben hat? Der Pershing-General Haddock hat gesagt: „Die Übung war eine reine Routineübung zu Ausbildungszwecken, genau nach Vorschrift und überwacht durch einen erfahrenen Hauptmann."
Wenn das so ist, wie konnte es dann zu einem Unfall kommen? Die Vermutung liegt doch nahe: Entweder ist die Pershing II technisch nicht ausgereift oder das Personal ganz offensichtlich überfordert - oder eben beides! Gut die Hälfte der Pershing II ist mittlerweile stationiert, und schon hat es innerhalb der letzten vier Monate drei Unfälle gegeben.
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Im Ausschuß hieß es, Atomsprengköpfe würden auf diesen Raketen nicht montiert. In der „International Herald Tribune" war zu lesen, daß in den „Combat alert sites" - das sind die Kampfbereitschaftsräume - ständig neun Pershings mit Sprengstoff startbereit stünden.
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Stimmt das, Herr Minister, oder stimmt das nicht?
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Was wäre passiert, wenn die Trümmerteile diese oder die in geringer Entfernung gelagerten Sprengköpfe getroffen hätten?
({4})
Wie lange wollen Sie Ihre Behauptung aufrechterhalten, daß die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen sei? Immerhin enthält der Sprengkopf einer Pershing II vier bis fünf Kilo Plutonium 239. Was passiert denn bei einem Raketenbrand, wenn der Sprengkopf montiert ist oder in der Nähe liegt? Fachleute wie der Direktor des Schwerioneninstituts in Darmstadt, Professor Armbruster, sagen: In einem solchen Fall verbrennt das Plutonium, und es kann in die Atmosphäre geschleudert werden. Entscheidend ist dabei, daß dieser verschleuderte Plutoniumruß genauso radioaktiv ist wie das Plutonium selbst, das bekanntlich eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren hat. Erst dann ist die Hälfte des strahlenden Materials zerfallen, und die Strahlung wirkt über die Luft, das Wasser und die Nahrung.
In der „Monitor"-Sendung am letzten Dienstag ist doch lediglich festgestellt worden, daß das Plutonium von einem Sprengkopf ausreicht, rund um die Heilbronner Waldheide ein Gebiet radioaktiv zu verseuchen, in dem mehr als eine halbe Million Menschen leben. Wollen Sie dem widersprechen, Herr Minister, und wollen Sie wirklich ausschließen, daß ein solcher Unfall einen Start aus Versehen auslösen kann? Der ehemalige US-Admiral Laroque und der Raketeningenieur Aldridge sind da anderer Auffassung. Sie schließen dies nicht aus. Sie schließen auch nicht aus, daß es so aus Versehen zu einem Atomkrieg kommen kann. Ich habe die Regierung danach im Verteidigungsausschuß gefragt. Die Antwort war: Das sei unmöglich, da Rakete und Startlafette fest verklammert seien und kein Schub ein Abheben der Rakete bewirken könne.
Ich kann nur sagen: Welch eine groteske Aussage! Haben Sie eigentlich nicht wahrgenommen, daß nach der Treibstoffexplosion einer amerikanischen „Titan" der Sprengkopf mit Teilen des Silos weit in die Luft geschleudert wurde? Würden Sie bitte noch diese Fragen beantworten? Denn dieser Unfall kann sich täglich wiederholen.
Wie lange will die Bundesregierung Pläne eines völlig verfehlten Zivilschutzes verfolgen, nach denen jeder Neubau einen Atombunker haben muß, während schon heute, mitten im Frieden, die Gefahr der atomaren Verseuchung ganzer Landstriche nicht auszuschließen ist? Was ist das für eine Schizophrenie, Bunker gegen den Atomkrieg bauen zu
Frau Fuchs ({5})
wollen, während es nicht einmal im Frieden Schutz vor Atomunfällen gibt? Ich meine, der einzig sichere Katastrophenschutz ist der Abzug dieser Pershing-Raketen.
({6})
Dafür sollte sich die Bundesregierung einsetzen; dann tut sie etwas, was die große Mehrheit der Bevölkerung will, in Heilbronn und in der ganzen Bundesrepublik.
({7})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Francke ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem deutschen Zeitungskommentar heißt es: „Ein Unglück ist stets auch ein Prüfstein des Charakters. Auf die Politik übertragen verführen Unglücksfälle immer auch dazu, neben dem Bedauern an dem Geschehen und für die Opfer zugleich auch zu versuchen, Honig für die eigene Sache daraus zu saugen." An anderer Stelle desselben Kommentars: „SPD und GRÜFTE wollen nun den Raketenvorfall vor das Parlament bringen, wohl auch in der heimlichen Absicht, so erneut Stimmung gegen die NATO-Nachrüstung
({0})
mit dem Sicherheitsrisiko Pershing-Raketen machen zu können."
Wenn es noch eines Beweises in dieser Bewertung bedurft hätte, dann ist eigentlich die Rede von Frau Kollegin Fuchs der klassische Beweis dieser bereits vorgenommenen Kommentierung, der ich mich im übrigen voll anschließe.
({1})
Es handelt sich um einen Unfall, den wir alle ernst nehmen. Insofern danke ich auch für die abgewogenen Bemerkungen des Kollegen Scheer. Es müssen - dies ist unsere Meinung - alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um Ursachen und Ablauf des Unglücks aufzuklären. Die Identifizierung der Unfallursachen muß uns in die Lage versetzen, Unfälle dieser Art künftig zu vermeiden. Der Bundesverteidigungsminister hat dazu in dankenswerter Klarheit das Notwendige gesagt.
Ein zweites. Eine Bagatellisierung dieses Unfalles wäre genauso unverantwortlich wie eine Dramatisierung. Wer aber dem anderen eine Verniedlichung unterstellt, während er gleichzeitig eine maßlose Ausbeutung des Unglücks zu politischen Zwecken betreibt, scheidet als glaubwürdiger Diskussionspartner aus.
({2})
Ich möchte ausdrücklich die Feststellung der Bundesregierung unterstreichen: Bei dem Unfall am 11. Januar in Waldheide bei Heilbronn war die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise in Gefahr, weder in der Nähe noch in weiterem Umkreis des Unfallortes.
({3})
Zu zwei Bemerkungen: Herr Scheer, die Konzeption der Aufstellung der Pershing II ist richtig. Sie ist politisch richtig. Sie hat die Verhandlungen in Genf zu einem neuen Anfang bringen können. Sie hat den Frieden und die Freiheit sicherer gemacht. Von daher Herr Kollege Vogt, gibt es für uns keine Veranlassung, Ihrem Petitum zu folgen, einen Stationierungsstopp zu fordern.
({4})
Der Opposition in diesem Hause möchte ich sagen: Es ist ihr Recht, und es ist natürlich auch ihre Pflicht, öffentliche Vorkommnisse zu hinterfragen und, wo nötig, zu kritisieren. Aber es ist auch ihre Pflicht, dies so zu tun, daß die Bevölkerung nicht grundlos in Angst und Schrecken versetzt wird.
Herr Kollege Spöri, das, was Sie behauptet haben, ist falsch: Der Staatssekretär im Innenministerium von Baden-Württemberg hat ja bereits mehrfach die Behauptung, die Sie hier wiederholt haben, zurückgewiesen. Es gibt für die US-Militäranlagen in Waldheide einen Katastrophenschutzplan.
Ein Letztes: Bei aller verständlichen Aufregung über das Unglück - die Ergebnisse der Untersuchungen, die noch durchgeführt werden, werden Sie im Ausschuß genauso extensiv vorgetragen bekommen, wie es bereits in der vergangenen Woche der Fall gewesen ist - sollte die Opposition allerdings nicht vergessen, worauf es vor allem ankommt, nämlich darauf, daß sie für Klarheit und Berechenbarkeit ihrer Sicherheitspolitik sorgt. Die sehr unterschiedlichen Stellungnahmen, die wir hier heute morgen aus der SPD-Fraktion hören konnten, bestätigen, daß es keine klare Position gibt. Darum sollten Sie sich mehr kümmern.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Antretter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den mehrfach angesprochenen schweren Verkehrsunfällen, die durch amerikanische Raketentransporter in den letzten Jahren verursacht wurden, kam es nun zu dem tragischen Unfall mit der Rakete, bei dem drei amerikanische Soldaten ihr Leben lassen mußten und zahlreiche schwer verletzt wurden.
Ich habe in der Weihnachtszeit ein Gespräch mit dem Kommandeur der 56. Feldartillerie-Brigade, die in meinem Wahlkreis Schwäbisch-Gmünd stationiert ist, geführt. Brigadegeneral Haddock hat mir dabei zugesichert, er werde mehrere hundert
neue Lkw kaufen, damit das Risiko auf unseren Straßen, das amerikanische Armeefahrzeuge erhöht haben, beseitigt wird. Diese Nachricht hat die Bürger unseres Raumes, in dem die Raketen stationiert sind, wenigstens ein Stück weit beruhigen können.
Nun wissen wir durch das Heilbronner Unglück, daß eine noch viel größere Gefahr durch die Rakete selbst droht, entweder weil sie - wie ernsthafte Wissenschaftler und Militärs auch aus Amerika ja immer wieder betonen - noch nicht ausgereift ist oder weil mit dem hochgefährlichen Gerät fahrlässig umgegangen wird.
Ich will darstellen, wie dies aus der Sicht der Stadt aussieht, in der zwei amerikanische Kasernen mitten in einer zusammenhängenden Bebauung liegen, nämlich aus der Sicht von Schwäbisch Gmünd. Die Transporte vom und zum Militärgelände Mutlangen führen durch dieses Gebiet, und die Menschen, die dort leben, können sich vorstellen, was passiert wäre, wenn ein Brand, wie er auf der Waldheide ausgelöst wurde, in der Inennstadt von Schwäbisch Gmünd entstünde. Es käme, wie der Gmünder Oberbürgermeister in einem Schreiben an Sie, Herr Verteidigungsminister, formuliert hat, zu unabsehbaren Folgen. Ich zitiere aus dem Brief des Oberbürgermeisters.
Dabei möchte ich sogar unterstellen, daß der Atomsprengkopf während des Transports nicht mitgeführt wird. Jedoch ist allein schon die ungeheure Hitzeentwicklung beim Ausbrennen der Rakete eine zur Zeit offensichtlich nicht ausreichend beherrschbare Gefahr.
Sie, Herr Minister, sollten in Ihrem Antwortbrief mitteilen, was Sie nun mit Ihrem amerikanischen Kollegen Weinberger hinsichtlich der Sicherheit der Menschen, die mit diesen Raketen leben müssen, wirklich erreicht haben. Die stets wiederkehrende Floskel, daß alles getan werde, um in Zukunft Unfälle zu vermeiden, reicht nicht mehr aus; sie wirkt eher makaber.
({0})
Wir wollen einen umfassenden Bericht über den Hergang der Entzündung, über den Ablauf der Hilfsaktion und darüber, inwieweit die Bevölkerung durch den Raketenbrand gefährdet war. Außerdem bitten wir Sie, zusammen mit unseren Verbündeten ein Gutachten zu erstellen, das Auskunft darüber gibt, ob der unzureichende Entwicklungsstand dieser Rakete Ursache für eine zusätzliche Gefährdung der Bevölkerung ist. Wenn sich heraustellen sollte, daß die Pershing technologisch nicht ausgereift ist und eine Gefahr für deutsche Mitbürger und amerikanische Soldaten darstellt, ist jedes Kaschieren der Realität verantwortungslos.
({1})
Um jegliche Gefährdung der Bevölkerung auszuschließen, bitten wir Sie, darauf hinzuwirken, daß bis zur vollständigen Aufklärung der Unfallursachen keine weitere Pershing-Stationierung stattfindet und keine Transporte mehr durchgeführt werden.
({2})
Die Entwicklung in Baden-Württemberg zeigt, daß es sich bei der Stationierung von Atomwaffen sehr wohl auch um eine kommunale Frage handelt. Meine Damen und Herren, wir können doch nicht erwarten, daß in den Gemeinderäten darüber diskutiert wird, ob die Rathausuhr einen neuen Blattgoldbelag bekommt, und daß gleichzeitig die eigentlichen Sorgen, die die Bürger in Atomstationierungsgemeinden heute haben, einfach ignoriert werden.
({3})
Hier hilft nur die offene Diskussion. Alles andere ist nicht zu verantworten.
Die Diskussion in den Kommunalparlamenten im Anschluß an den Pershing-Unfall hat außerdem gezeigt, daß unsere Katastrophenschutzpläne - Herr Spöri hat es erwähnt -, die Atomgefahren einfach außer acht lassen, geradezu lächerlich sind. Wir können doch nicht ernsthaft weiterhin davon ausgehen, daß wir einerseits Katastrophenschutzpläne für Waldbrände und Hochwasser haben und andererseits die Gefahr in den Wohngemeinden mit Atomwaffen ausklammern. Auch hier darf es keinen Nebel geben, sonst bliebe für uns nur noch der Wunsch, daß wir die Regierung nie aus dem Handeln des Vernebelns und des Kaschierens in die Pflicht nehmen müssen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Krone-Appuhn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Kollege Peter Petersen hat vor Weihnachten ein sehr interessantes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Sind wir noch zu retten?". Es befaßt sich mit der Nachrüstungsdebatte. Angesichts der Tatsache, daß die Experten des Sicherheitszentrums der Amerikaner und des Raketenkommandos der Amerikaner zusammen mit einem Luftwaffenoffizier des deutschen Verteidigungsministeriums sofort vor Ort untersucht haben und nun in den USA mit noch weiteren Institutionen weiter untersuchen, frage ich mich allerdings auch, ob wir noch zu retten sind, weil wir hier eine Aktuelle Stunde machen,
({0})
obwohl wir im Verteidigungsausschuß am 16. Januar von der Bundesregierung ausführlich informiert worden sind und sehr lange diskutiert haben.
({1})
Wir alle wissen, daß wir z. B. den Autopsiebericht
erst Mitte Februar bekommen werden. Wenn wir
heute in diesem Hohen Hause debattieren, ist das
reinster Aktionismus oder auch Populismus, um das neueste Wort eines nicht unbekannten Staatssekretärs aus der Münchener Staatskanzlei zu gebrauchen.
Die Amerikaner sind unsere wichtigsten Bündnispartner in der NATO. Es sind unsere Freunde. Das unterscheidet sie von unseren russischen Nachbarn, die russische Erde bis zum Atlantik sammeln möchten, nach einem uralten imperialistischen Prinzip.
({2})
Die Amerikaner haben die Raketen nicht aus eigenem Antrieb in dieses Land gestellt. Unser aller ehemaliger Bundeskanzler Helmut Schmidt hat auf zwei NATO-Ratssitzungen um diese Raketen gebeten, weil er wußte, daß unser Land durch sowjetische SS 20 bedroht ist. Wenn dann unter der Regierung Kohl die Raketen aufgestellt werden, ist das ein Stück Kontinuität, meine Damen und Herren.
Was wir heute zu diesem bedauerlichen Unfall mit einer Pershing-Il-Rakete sagen können, ist doch nur, daß uns unsere amerikanischen Freunde sehr, sehr leid tun. Denken wir doch bitte einmal an die Familien und an die Freunde der toten amerikanischen Soldaten! Denken wir an die 16 verletzten Amerikaner, an deren Schmerzen, an deren Ängste und auch an deren Zukunft! Denken wir auch einmal an den Kommandeur der Pershing-Brigade! Wir alle kennen doch amerikanische Offiziere. Welche Sorgen und vielleicht auch Vorwürfe macht sich dieser Mann!
Die Amerikaner haben alle deutschen Dienststellen sofort informiert, die deutsche Feuerwehr sofort gerufen, und sie ist auch gekommen. So furchtbar dieser Pershing-Unfall ist: Das, was über den Unfall in „Monitor" gebracht worden ist, ist wesentlich schlimmer. Da wird ein schreckliches Unglück bei unseren amerikanischen Bündnispartnern mißbraucht, um unsere Bevölkerung in Angst zu versetzen.
({3})
Es wird mit falschen Zahlen gearbeitet. Es werden unzutreffende Vorwürfe gemacht. Plutonium ist sicher sehr gefährlich. Das wissen wir alle.
({4})
Aber das, was das Fernsehen geschildert hat, kann mit Pershing-Il-Raketen nicht passieren.
({5})
Lassen Sie uns doch bitte alle vernünftig und ruhig und gelassen sein! Sonst geht dieser Staat noch zugrunde, weil wir uns von den Massenmedien
({6})
und daran interessierten Feinden unseres Staates in Hysterie haben versetzen lassen, und das darf nicht passieren.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem, was wir über den Unfall mit der Atomrakete bei Heilbronn bisher erfahren haben, nach den ernsten Kommentaren in führenden amerikanischen Zeitungen, nach den Verharmlosungen, die wir heute an Auskünften hier bekommen haben, war es um so wichtiger, als sich auch der Deutsche Bundestag mit diesem Thema befaßte.
({0})
Wir als deutsche Abgeordnete machen uns über einen Unfall mit einer Atomrakete auf deutschem Boden nicht weniger Sorgen als ein amerikanischer Kongreßabgeordneter über denselben Unfall bei in Deutschland stationierten amerikanischen Truppen. Das ist doch wohl selbstverständlich.
({1})
Hier geht es auch nicht um Panikmache oder um Angststimmung, Herr Minister. Angst kann man allerdings bekommen, wenn der Unfall mit einer Atomrakete verharmlost wird, und Panik kann das Ergebnis sein bei dem nächsten Unfall.
({2})
Hier geht es um verhütende Konsequenzen.
Ich will die Stationierungsdebatte nicht wieder aufrollen. Sie ist in diesem Parlament entschieden worden. Die Regierungsparteien haben die Stationierung dieser Raketen durchgedrückt. Trotzdem trägt der ganze Deutsche Bundestag Verantwortung für die nun stationierten Raketen.
({3})
Diese Verantwortung drückt uns. Wir fühlen uns für diese Unfälle mitverantwortlich, weil wir für Konsequenzen mitverantwortlich sind.
({4})
Aber Sie, meine Damen und Herren, gerade Sie, die Sie von der politischen Richtigkeit der Stationierung überzeugt waren, die Sie von der Perfektion dieser Waffe überzeugt waren, die Sie von der Kontrollierbarkeit überzeugt waren, müssen sich doch Sorgen über diese Unfälle machen. Gerade Sie müssen sich doch Fragen nach Konsequenzen stellen.
({5})
Das einzige, was wir bisher erfahren haben, ist: Wir wissen nicht genau, worauf der Unfall beruht, obwohl ein Brand im Triebwerk einer Atomrakete keine Kleinigkeit ist, weiß Gott nicht. Die einzige Konsequenz, die wir wissen, ist: Es werden die Ausbildungs- und Bedienungsanleitungen für die amerikanischen Truppen verbessert.
Meine Damen und Herren, wenn bei einem neu eingeführten Automodell vielleicht wegen eines Defekts an den elektrischen Leitungen ein Brand entsteht, wenn das Auto noch vor der Garagentür steht, dann gibt es eine Untersuchung, und weil es ein neues Modell ist, wird es zurückgerufen, wenn man die Fehler nicht findet, insbesondere in den USA. Aber ich habe noch nie gehört, daß die Autofahrer statt dessen die Auflage kriegen, noch mal zwei Stunden zur Fahrschule zu gehen.
Vielleicht, nein: sicher ist die Situation zu ernst, um sie zu ironisieren, denn hier geht es nicht um Pannen, hier geht es nicht um ein Pech, das die Pannenregierung ereilt hat. Nein, hier geht es um Unglück und womöglich um drohendes Unheil. Wir alle haben Interesse daran, daß niemals ein solches atomares Unheil eintritt.
Ich fasse aus dieser Diskussion für die SPD-Fraktion zusammen:
Wir fordern erstens eine lückenlose Aufklärung der Ursachen und des Unfallgeschehens.
({6})
Zweitens. Wir fordern Maßnahmen, die garantieren, daß sich ein solches Geschehen nicht wiederholen kann.
({7})
Wir wollen Garantien und keine Vertrauensappelle.
Drittens. Solange das nicht der Fall ist: Keine weitere Verbringung von Pershing II in die Bundesrepublik! Keine weiteren Übungen!
({8}) Keine Aufstellung zu Alarmzwecken!
({9})
Viertens. Wir fordern eine unzweideutige Erklärung der Bundesregierung, Herr Minister, daß in Friedenszeiten Trägersystem und Atomsprengkopf der Pershing II nicht in eine katastrophenträchtige Nähe zueinander gebracht werden.
({10})
Diese Antwort, diese Garantien, diese Maßnahmen sind jetzt erforderlich, bevor der Unfallbericht vorliegt, damit sich Schlimmes nicht wiederholt.
Der Irrflug des sowjetischen Marschflugkörpers über Skandinavien und die Triebwerksexplosion der Pershing II in der Bundesrepublik machen deutlich, daß wir auf einem Pulverfaß leben.
({11})
Wir haben hier allen Anlaß, so wie sich die NATO erklärtermaßen über den sowjetischen Marschflugkörper über Skandinavien Sorge gemacht hat,
({12})
uns über das Sorge zu machen, was mit der Pershing II auf deutschem Boden passiert ist.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gansel, Ihre Ausführungen haben im Gegensatz zu den Ausführungen des Kollegen Scheer deutlich gemacht, in welcher Zerrissenheit sich die SPD auch in dieser Frage befindet.
({0})
Denn die Erklärungen, die Sie hier abgegeben haben, und die Forderungen, die Sie gestellt haben, unterscheiden sich deutlich von den Forderungen, die in der Sitzung des Verteidigungsausschusses für Ihre Fraktion gestellt worden sind. Deswegen müssen wir uns natürlich fragen,
({1})
wer bei Ihnen eigentlich das Sagen hat, vor allen Dingen, wenn Sie solche Forderungen stellen, wie Sie das am Schluß getan haben, die auch gegen ein Prinzip sprechen. Was Ihre damalige Bundesregierung vereinbart hat, auch in der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Bündnispartner in Nuklearfragen, spricht dem Hohn, was Sie hier gefordert haben. Deswegen sollten Sie einmal bei Ihrem ehemaligen Außenminister Brandt nachfragen, was alles vereinbart worden ist und wie die Zusammenarbeit seither funktioniert hat.
({2})
Ich glaube, daß wir für uns eines feststellen müssen. Wir alle sind betroffen von jedem Unglücksfall, vor allen Dingen, wenn er Tote und Verletzte kostet. Denn das macht uns jedesmal deutlich, welchen Preis wir unsere Freiheit zu zahlen haben. Wir müssen uns immer fragen, ob dieser Preis gerechtfertigt ist. Die Bürger in unserem Lande beantworten diese Frage nüchterner, als es auch in den Ausführungen des Kollegen Antretter zum Ausdruck kommt. Auch die Bürger in Schwäbisch Gmünd, auch die Bürger in Heilbronn beantworten diese Frage nüchterner, als es hier von Ihnen zum Ausdruck gebracht worden ist.
Ich glaube, daß wir uns auch bei dieser Diskussion eine weitere Frage stellen müssen: Wer verfolgt bei dieser Diskussion welche Absicht, vor allen Dingen auch hier bei dieser Aktuellen Stunde? Denn es hat selten eine ausführlichere StellungWimmer ({3})
nahme seitens der Bundesregierung im Verteidigungsausschuß gegeben als zu dieser Frage. Wir haben uns vier Stunden über dieses Problem unterhalten. Wenn ich nach den Absichten frage, dann wird eines deutlich. Wir haben mit unserer Entscheidung zur Nachrüstung und mit der Rede des amerikanischen Präsidenten am 23. März 1983 erreicht,
({4})
daß die sowjetische Führung an den Verhandlungstisch zurückkommt.
({5})
Diesen Erfolg, der die Sicherheit auch unseres Landes garantiert, lassen wir uns nicht zerreden.
({6})
Wenn Sie jetzt versuchen, das über technische Probleme in Frage zu stellen, dann muß ich Ihnen eines sagen: Ihre damalige Bundesregierung hat im Verteidigungsausschuß Stunden und Stunden darauf verwendet, uns klarzumachen, und zwar begründet klarzumachen, daß es an der Pershing II keine technischen Probleme gibt. Wir haben Ihnen das abgenommen. Das war seriös, weil eine große Anzahl dieser Versuche auf ausdrückliche Weisung Ihrer damaligen Bundesregierung überhaupt erst durchgeführt worden sind.
({7})
Das muß in diesem Zusammenhang einmal gesagt werden.
({8})
Ein Weiteres, Herr Kollege Ehmke. Wenn Sie hier Geheimhaltungsvorschriften beklagen, dann will ich Sie auf eines ansprechen:
({9})
Diese Geheimhaltungsvorschriften und die Linie der Bundesregierung sind von der alten Bundesregierung übernommen.
({10})
Alles das, was in diesem Zusammenhang gesagt wird oder nicht gesagt wird, entspricht den Richtlinien, die unter Ihrer Bundesregierung zwischen 1969 und 1982 festgelegt worden sind.
({11})
Wir sind insoweit kontinuierlicher, als Ihnen das heute lieb ist.
({12})
Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Weiteres deutlich machen. Das muß auch einmal gesagt werden. Herr Kollege Vogt, Sie sind manchmal sympathischer, als Sie es hier zum Ausdruck bringen.
({13})
Wenn man sich über die Sicherheitsprobleme in diesem Zusammenhang unterhält - niemand tut das sorgfältiger als wir -,
({14})
dann müssen wir doch einmal auf eines hinweisen. Ich sage das auch einmal an die Adresse der UdSSR. Gerade im Zusammenhang mit nuklearen Waffen herrschen auf beiden Seiten strengste Sicherheitsvorkehrungen. Damit können wir zwar nicht beruhigt sein. Aber beide Seiten, die Vereinigten Staaten und die UdSSR befinden sich in einer Sorge, daß aus derartigen Vorfällen etwas werden könnte, was beide Seiten nicht wollen. Deshalb gibt es gerade auf diesen Gebieten die rigidesten Sicherheitsvorschriften. Das sollte uns zwar nicht beruhigen, aber doch in unserem Petitum bestärken, auf den Bericht der Bundesregierung zu vertrauen.
({15})
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist zu Ende.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Nichtigkeit der Entscheidungen der als „Volksgerichtshof" und „Sondergerichte" bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
- Drucksachen 10/116, 10/2368 Berichterstatter:
Abgeordnete Fischer ({1}) Marschewski
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich höre und sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({2}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie schon bei der Einbringung unseres Antrags, so muß ich auch heute mit einem kritischen Wort an die Koordinatoren dieser Plenarsitzung beginnen. Wenn der Deutsche Bundestag 40 Jahre nach dem Ende der HitlerDiktatur einen parlamentarischen Schlußstrich unter das düsterste Kapitel der Nazi-Justiz zu ziehen versucht, dann hätte dieses Thema angesichts seines hohen politischen Ranges und angesichts der Aufmerksamkeit, die es vor allem auch im Ausland
Fischer ({0})
findet, sicherlich eine längere Debattenzeit verdient gehabt,
({1})
vor allem deshalb, weil sich die Problematik, über die wir heute hier zu reden haben, nicht in dem Thema Volksgerichtshof oder nationalsozialistische Sondergerichte erschöpft, sondern weil sie weit darüber hinausreicht. Vor dem Hintergrund wiederaufkeimender neonazistischer Tendenzen hätte es sicher nahegelegen, die Rolle und die Funktion der Justiz und der Juristen generell im nationalsozialistischen Deutschland umfassend und grundsätzlicher zu debattieren. Doch dazu fehlt dem Hohen Haus offenbar die Zeit. Ich bedaure dies sehr.
({2})
Um so mehr begrüße ich es, meine Damen und Herren, daß mit der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses nicht nur unserem Antrag und dem damit verbundenen politischen Anliegen entsprochen wurde, sondern diese Empfehlung einstimmig zustande gekommen ist. Dafür darf ich all denen, die dazu beigetragen haben, Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Ihnen von der Fraktion der GRÜNEN, aber auch Ihnen, Herr Minister Engelhard, herzlich danken. Diese Einstimmigkeit war, wie wir wissen, nicht leicht zu erreichen. Wenn die Koalitionsfraktionen schließlich doch unserem Antrag zugestimmt haben, dann wohl auch mit Rücksicht auf mögliche Reaktionen des Auslands. In der Tat hätte dort ein verheerender Eindruck entstehen müssen, wäre es zu dieser nun einvernehmlich getroffenen Entscheidung nicht gekommen.
Ich bin aber auch sicher, daß der eindrucksvolle, ja teilweise erschütternde Erfahrungsbericht der Herren Franz-Joseph Müller und Hans Hirzel über ihre Verfahren vor dem Volksgerichtshof seine Wirkung nicht verfehlt hat. Ich möchte deshalb nicht versäumen, diesen ehemaligen Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Weiße Rose" stellvertretend für viele ungenannte Opfer im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unsere Achtung und unser Mitgefühl auszusprechen und ihnen sehr herzlich für ihre Unterstützung bei der Aufarbeitung dieses Themas danken.
({3})
Der Beschluß von heute, meine Damen und Herren, ist aus mehreren Gründen nötig. Wenn man weiß, daß noch im Jahre 1982 das baden-württembergische Justizministerium einem vom Volksgerichtshof verurteilten Mitglied der „Weißen Rose" mitteilte, daß das gegen ihn ergangene Urteil nach wie vor Bestand habe, dann wird der Grad der Rechtsunsicherheit, die heute auch in höchsten Justizkreisen noch besteht, sehr deutlich, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß es 40 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur parlamentarischer Initiativen bedurfte, um die letzten Eintragungen von Verurteilungen durch den Volksgerichtshof im Strafregister zu tilgen.
({4})
Wir sind sicher, daß die heutige Entscheidung des deutschen Parlaments allen Behörden und Gerichten, soweit sie nach den einschlägigen Rechtsvorschriften zu Entscheidungen berufen sind, eine Hilfe sein wird. Dabei ist es für mich ohne Bedeutung, ob der Deutsche Bundestag seinen politischen Willen in einem förmlichen Gesetz oder nur in einer Entschließung zum Ausdruck bringt. Mit der heutigen Entschließung stellt der Deutsche Bundestag, das höchste Verfassungsorgan unserer Republik, ein für allemal klar, daß den Entscheidungen des Volksgerichtshofs keinerlei Rechtswirkung zukommt.
Diese Feststellung gilt für alle Entscheidungen des Volksgerichtshofs. Wir haben sehr gründlich darüber diskutiert. Es wurde die Frage gestellt, ob die Nichtigkeit lediglich solche Entscheidungen des Volksgerichtshofs erfassen sollte, die während der Kriegsjahre - d. h. im wesentlichen während der Präsidentschaft Roland Freislers - ergangen sind, oder ob sie sich gar nur auf die Entscheidungen des Freisler-Senats erstrecken sollte. Ich meine, wir haben recht daran getan, alle Entscheidungen für null und nichtig zu erklären.
({5})
Meine Damen und Herren, wer die Entstehungsgeschichte des Volksgerichtshofes kennt, wer vor allem den politisch-ideologischen Hintergrund ausleuchtet und die Goebbelssche Begleitmusik in den Ohren hat, der muß zu dem Ergebnis kommen, daß weder eine zeitliche Differenzierung noch eine Differenzierung nach einzelnen Spruchkörpern den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht würde. Der Volksgerichtshof war von Anfang an ein staatliches Terrorinstrument, das erklärtermaßen allein den Zweck hatte, den politischen Gegner zu vernichten. Hinter einer juristischen Fassade wurde staatlich sanktionierter Mord begangen. Wenn es gelegentlich auch Freisprüche gab, so wissen wir spätestens aus den Schilderungen der Herren Müller und Hirzel, wie und aus welchen Motiven es zu solchen Freisprüchen gekommen ist. Nicht das Recht, sondern blanker politischer Opportunismus war dafür bestimmend.
Der Beschluß ist aber auch aus einem anderen Grunde nötig. Die Justiz selbst hat es bis zum heutigen Tag nicht geschafft, aus eigener Kraft diese schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten. Wie kommt es eigentlich, daß dieses Thema erstmals im Jahre 1983 auf der Richterakademie in Trier diskutiert wurde - zehn Jahre nach der Schaffung dieser Akademie und 38 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes?
({6})
Wie kommt es eigentlich, daß in der Nachkriegszeit zwar eine große Zahl kleiner Gestapo-Spitzel verurteilt wurde, daß die Mörder in schwarzer Robe hingegen bis heute straffrei geblieben sind?
({7})
Wie kommt es eigentlich, daß Begründungen für
eigenes Fehlverhalten wie etwa die des früheren
Fischer ({8})
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger, daß das, was damals Recht war, doch heute nicht Unrecht sein könne, da und dort immer noch offene Ohren findet?
({9})
Wie kommt es eigentlich, daß Mitglieder des Volksgerichtshofes in unserer Republik in höchste Staats-, ja, Richterämter aufsteigen konnten?
Meine Damen und Herren, ich hoffe deshalb auch, daß es gelingt, die heutige Entscheidung des Bundestages ins Bewußtsein möglichst vieler Menschen zu tragen, draußen im Ausland, aber vor allem auch in unserem eigenen Lande und hier namentlich ins Bewußtsein derer, die dieses Regime nicht oder nicht politisch bewußt erlebt haben.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung anfügen. Heute hört man gelegentlich wieder, ein Richter müsse unpolitisch sein. Das ist eine geradezu unverständliche, j a, unverantwortliche Forderung. Wozu der sogenannte unpolitische Richter fähig ist, wozu ein derartiges Verständnis vom Richter führen kann, wird am Beispiel der Justiz im Dritten Reich sehr deutlich.
Deshalb sage ich: Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dann muß eine Erkenntnis auch aus dieser Debatte sein, daß wir, die wir politische Verantwortung tragen, uns darum bemühen müssen, daß Menschen auf den Richterstuhl kommen, die bereit sind, aus dem Elfenbeinturm herauszusteigen und sich aktiv für den demokratischen Rechtsstaat zu engagieren.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 22. Februar 1943 wurden Christoph Probst, Hans und Sophie Scholl durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tage hingerichtet sowie später weitere Mitglieder der Weißen Rose, wie die Widerstandskämpfer des 20. Juli, wie über 5 000 Frauen und Männer der Kirchen, der Gewerkschaften, der Politik unseres Volkes. Dabei war der Verfahrensablauf zumindest seit Mitte 1942 stets der gleiche: hastig gefertigte Anklageschriften, eine unwürdige Eile des Verfahrens, Abhängigkeit der Richter, eine analoge Anwendung des Strafrechts zuungunsten des Angeklagten, schwächliche Pflichtverteidigung bis hin zur Einschüchterung und Wehrlosmachung der später insbesondere dem Fanatismus Freislers ausgelieferten Angeklagten. Da war nicht mehr die Spur einer ordentlichen Rechtspflege. Hier ging es nur noch um den Vollzug eines der Abschreckung dienenden Racheaktes.
Der Volksgerichtshof, meine Damen und Herren - ich stelle dies eindeutig fest -, war als Schöpfung des nationalsozialistischen Staates Mittel zur Unterdrückung und Vernichtung politischer Gegner in Hüllen der Rechtspflege. Nicht der Täter, seine Tat und seine Schuld standen im Mittelpunkt des Verfahrens, sondern die Sicherung und Erhaltung des Regimes.
Diese Zielsetzung, nicht Recht zu sprechen, sondern die politischen Gegner zu vernichten, wurde eindeutig in den Kriegsjahren zur Wirklichkeit. Wenn es auch bis dahin - lassen Sie mich dies der historischen Wahrheit wegen sagen - insbesondere in der Anfangsphase zirka 1 000 Freisprüche gab und auch Urteile, bei denen nach rechtsstaatlichen Maßstäben eine entsprechende Strafe verwirkt gewesen wäre, aber so wie die Diktatur immer härter, immer drückender wurde, so wurde der Volksgerichtshof immer unduldsamer, immer unnachsichtiger, immer blutiger, insbesondere nachdem Goebbels 1942 vor Mitgliedern des Volksgerichtshofs ausführte, es gehe nicht so sehr darum, ob ein Urteil gerecht oder ungerecht sei, sondern um die Zweckmäßigkeit der Entscheidung.
Von da ab mühte man sich nicht mehr um eine juristische Fassade. Man folgte vielmehr der Forderung, es sei nicht vom Gesetz auszugehen, sondern von dem Entschluß, der Mann müsse weg. Daher, meine Damen und Herren, ist es eigentlich zwingend, daß der Rechtsausschuß einstimmig festgestellt hat, daß die als Volksgerichtshof bezeichnete Institution kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne war, daß seinen Entscheidungen keine Rechtswirkung zukommt.
Man mag da die Frage stellen, warum wir im Parlament erst heute, nach ungefähr 40 Jahren, diese Feststellung getroffen haben. Ich teile dabei nicht die zu allgemeine Auffassung, das es in der Vergangenheit keine hinreichende Aufarbeitung der Urteile des NS-Regimes gegeben habe, denn ich meine, seit Kriegsende ist das Erforderliche getan worden, um zu verhindern, daß ein Urteil des Volksgerichtshofs noch irgendwelche Wirkungen gegen die Betroffenen zeigt. Auf Grund der Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrates vom 20. Oktober 1945 wurden nämlich bereits in den einzelnen Besatzungszonen Vorschriften über eine Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts erlassen. Danach war es möglich, Urteile aufzuheben, entweder unmittelbar kraft Gesetzes oder auf Antrag, und so wurden auch die Urteile gegen die Mitglieder der Weißen Rose im Jahre 1946 kraft Gesetzes aufgehoben. Sie wissen, diese vorkonstitutionellen Regelungen sind heute auf Grund des Art. 125 des Grundgesetzes partielles Bundesrecht und heute noch gültig, so daß auch heute noch die Möglichkeit besteht, solche Unrechtsurteile aufzuheben.
Aber die sehr intensiv geführte Diskussion der unmittelbaren Vergangenheit hat keinerlei Hinweise auf existente Urteile des Volksgerichtshofes gegeben. Mein Dank gilt an dieser Stelle dem Herrn Bundesjustizminister, der veranlaßt hat, daß in den letzten Jahren, speziell vor zwei Jahren, die letzten drei Urteile im Bundeszentralregister getilgt worden sind. Dafür, Herr Justizminister, ganz herzlichen Dank!
({0})
Und ohne Aufrechnung, Herr Kollege Fischer: nachdem über 10 Jahre Sozialdemokraten Justizminister gestellt haben.
Meine Damen und Herren, wenn nach menschlichem Ermessen keine Urteile des Volksgerichtshofs mehr vorhanden sind, warum dann eigentlich diese Beschlußempfehlung? Ich meine, sie ist notwendig, weil diese Fragen auch heute noch an unser Selbstverständnis rühren. Wir dürfen dieses Geschehen einfach nicht verdrängen,
({1})
wir müssen uns der Geschichte stellen, wir müssen sie erneut aufarbeiten mit dem Ziel, solche Tiefen der Verblendung, des Hasses und der Gewalt für alle Zeiten in diesem Lande unmöglich zu machen.
({2})
„Nicht wegsehen, sondern hinsehen" hat Theodor Litt 1948 gesagt, und ich folge ihm in dieser Auffassung.
Aufarbeiten der Geschichte, das ist auch Auseinandersetzung mit der Justiz im Dritten Reich. Es waren nämlich Juristen, die bestehendes Recht in nationalsozialistischem Geist anwandten, es waren Juristen, die nationalsozialistisches Recht formulierten. Zwar stellen unter der Vielzahl von Juristen, die während des Dritten Reiches tätig waren, die eingefleischten Nazis eine Minderheit dar. Die Mehrheit, wenn auch zum Teil Weimar nur formal folgend, hatte zunächst die trügerische Hoffnung, rechtsstaatliche Grundsätze würden bald wieder Geltung haben. Endgültig ist jedoch bedrückend, daß nur sehr wenige von ihnen ihre Unabhängigkeit bewahrten und sich dem Räderwerk dieses Unrechts widersetzten.
Niemand kann sich der Haftung entziehen, die die Geschichte der Gegenwart auferlegt. Dies ist unbestritten. Genauso unbestritten ist aber, daß, wie der Nationalsozialismus zur deutschen Geschichte gehört, auch der Widerstand Deutsche Geschichte bedeutet. Im Widerstand gegen das Terrorregime wurden alle Werte 'des freiheitlichen Geschichtsbewußtseins sichtbar. Diese Männer und Frauen repräsentierten das andere, ich meine, das eigentliche Deutschland, seine Werte, seine Tradition.
Wir bezeugen diesen Männern und Frauen - das sagt die Beschlußempfehlung - Achtung und Mitgefühl, das sind wir ihnen schuldig, das haben sie von uns erwartet und konnten sie verlangen. Aber ihr Handeln setzte auch ein bleibendes Beispiel: Es fordert Besinnung, es war ausschlaggebend für einen neuen sozialen und politischen Grundkonsens in unserem Volke, und dazu möge diese Diskussion, dieser Beschluß beitragen, wie es der Herr Bundeskanzler neulich formuliert hat: Gegenüber Verblendung und Verführung gebe er unverrückbare Maßstäbe, gegenüber der Dämonie der Gewalt und des Terrors eine persönliche und nationale Gewißheit, gründend in einer an positiven Vorbildern reichen Geschichte. Wie sagte doch Jacob Burckhardt: Alles Einzelne und wir mit ist nicht um seiner selbst, sondern um der ganzen Vergangenheit und der ganzen Zukunft willen vorhanden.
Die Unionsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich ist es nicht ganz leicht, mich in dieser Debatte zu äußern. Ich halte es dennoch für sinnvoll und notwendig.
Ich erinnere mich an einen Februartag vor 22 Jahren, an dem der damalige Verein Deutscher Studentenschaften in München eine Gedenkveranstaltung anläßlich des Todestages der Geschwister Scholl durchführte. Wir fanden es damals als Studenten notwendig, eine solche Veranstaltung durchzuführen, sowohl für die Öffentlichkeit als auch für uns selber.
Ich war dann überrascht, daß 1983 in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit dem Film „Die Weiße Rose" danach gefragt worden ist, warum denn dieser Film nicht in den Goethe-Instituten im Ausland gezeigt werden dürfe. Ich war deswegen überrascht, weil sich dabei herausstellte, daß der Stein des Anstoßes offenbar der Schlußsatz war, der in der ursprünglichen Fassung lautete:
Nach Auffassung des BGH bestehen die Urteile gegen die Weiße Rose zu Recht. Sie gelten noch heute.
Diese Auffassung, die im Film nachträglich auf Grund einer sehr umfassenden, weitreichenden politischen Diskussion verändert und sehr differenziert worden ist, besteht im Grundsatz immer noch. Das ist das eigentliche Problem, das mich, der ich hier reden muß, betroffen macht. Nachdem ich auf Grund des Schulunterrichts, der politischen Auseinandersetzung, des Films über den Prozeß nach dem 20. Juli angenommen hatte, es sei in der Bundesrepublik längst selbstverständlich, daß die Unrechtsprechung des Volksgerichtshofes nicht mehr Gültigkeit habe, muß ich durch die Auseinandersetzung um den Film „Die Weiße Rose" und durch diese Debatte erfahren, daß dem nicht so ist.
Dem ist deswegen nicht so, weil diese Kontrollratsbestimmungen, die dann, wie Sie sagten, - partielles Bundesrecht geworden sind, im öffentlichen Bewußtsein, aber offenbar auch im Bewußtsein von Gerichten gar nicht bekannt sind. Darauf wies vorhin Herr Kollege Fischer schon hin. Daß es notwendig ist, 40 Jahre nach dem staatlichen Ende des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes im Deutschen Reich im Bundestag noch über ein solches Problem zu befinden, trifft mich allerdings doch ziemlich stark bei dem Versuch, meine und die Vergangenheit meiner Eltern zu bewältigen.
1946, 1947, 1948 wurden diejenigen entnazifiziert, die einfache oder auch „kompliziertere" Parteigenossen waren, die damals in irgendeiner Weise an den Segnungen und an den Grausamkeiten dieses Regimes teilhatten. Diejenigen allerdings, die inDr. Jannsen
nerhalb dieses Systems auf der Basis von Rechtsprechung gearbeitet haben, wurden damals bei weitem nicht in der Form entnazifiziert. Ich erinnere an den Kammergerichtsrat Rehse in Berlin nach 1945, der auf Einspruch des Bundesgerichtshofs freigesprochen worden ist, obwohl er Mitglied des Volksgerichtshofes war.
Meiner Meinung nach macht es die Situation in der Bundesrepublik erforderlich - insofern ist diese Initiative der SPD zu begrüßen, und so ist auch die Entscheidung des Rechtsausschusses zu begreifen -, diese Entscheidung heute zu treffen, nämlich den Volksgerichtshof für ein Organ zu erklären, das nicht der Rechtspflege, sondern dem Terror gedient hat. Ich denke, das ist deswegen notwendig, weil das Bewußtsein von der Unrechtmäßigkeit dieses sogenannten Gerichts auch heute noch nicht bei allen - auch nicht bei allen Juristen - selbstverständlich ist.
Ich will zum Abschluß aus einem Brief zitieren, den Hans Hirzel, der hier schon erwähnt worden ist, vor etwa einem Jahr an die Mitglieder des Rechtsausschusses geschrieben hat. Diese Passage beginnt folgendermaßen:
Am 13. März, kurz vor der Anhörung vor Ihnen, führte ich ein Gespräch über die einschlägigen Fragen mit einem jungen, etwa 38jährigen Juristen, zugelassen bei einem unserer Landgerichte, ein keineswegs exaltierter, eher ruhig wirkender und wahrscheinlich in seinem Beruf erfolgreicher Mann.
Dieser Gesprächspartner hatte gegen die rechtlichen Verhältnisse im Hitler-Staat keine Einwände, insbesondere keine gegen den damaligen sogenannten „Volksgerichtshof". Auch die Morde, die Hitler anläßlich der sogenannten Röhm-Affäre veranlaßt hatte, waren für ihn kein Grund zur Beanstandung.
Um seine Auffassung unmißverständlich zu verdeutlichen, gab er nach eingehender Überlegung folgende Stellungnahme ab: Wenn heute Bundeskanzler Kohl oder an seiner Stelle ein anderer Kanzler einer anderen Partei geheimerweise Morde durchführen lassen würde und diese Morde dem Allgemeinwohl dienten, hätte er dagegen keinerlei Bedenken, sondern sei von Herzen damit einverstanden.
({0}) Es geht weiter:
Meine Herren! Dies also ist nun ein Produkt unserer Gymnasial- und unserer Universitätserziehung, die wir nach 1945 errichtet haben, sicher nicht ohne den guten Willen, es diesmal richtig zu machen. Dieser junge Anwalt ist nach 1945 geboren. Die aus Anlaß des NS-Regimes angestellten zeitkritischen Überlegungen gehen ihn seiner Ansicht nach deswegen nichts an. Von rechtshistorischen Studien hält er nichts. Er sagt: „Damit verdient ein Anwalt kein Geld". Womit er recht hat.
So weit das Zitat. Ich denke, dem ist nur hinzuzufügen, daß es hierbei um eine einzelne Beobachtung von Hans Hirzel geht.
Dem ist aber weiter hinzuzufügen, daß nicht klar ist, ob nicht die in dieser Einzelbeobachtung zum Ausdruck kommende Auffassung viel weiter verbreitet ist, als aus diesem einen Fall hervorgeht. Auf Grund der Tatsache, daß grausame Richter einer grausamen Justiz von damals heute noch in höchsten Ämtern gewesen sind, scheint es mir jedenfalls nicht zweifelsfrei zu sein, daß es sich hier um einen Einzelfall handelt.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist sehr gut, daß wir heute darüber sprechen. Ich kann nicht in dem Zustand unserer Gesellschaft - ich weiß nicht, ob ich Sie, Herr Dr. Jannsen, da ganz richtig verstanden habe - einen besonderen Anlaß erblikken, heute über die Verbrechen des Volksgerichtshofs zum wiederholten Male hier in diesem Hause zu sprechen. Ich bin der Meinung: Man muß es immer wieder tun; denn es hätte überhaupt keinen Sinn, zu glauben, man könne mit einer rechtlichen Maßnahme, welcher Art auch immer - es wäre ja ein Schlußgesetz statt des Beschlusses, den wir empfohlen haben, denkbar -, einen Strich ziehen, und dann wäre es gut.
Es ist wichtig, daß wir uns immer wieder vor Augen führen, was damals möglich gewesen ist und was perfiderweise noch unter dem Namen „Volksgerichtshof", also im Namen des Volkes, an Unrecht gesetzt worden ist. Es ist wichtig, über die Ursachen, die dazu geführt haben, immer wieder nachzudenken.
Herr Freisler war mit Sicherheit ein dem Recht völlig fremder Fanatiker, wie es eben hier schon beschrieben worden ist. Aber woher sind die ganzen Beisitzer gekommen? Wie haben sich die rekrutiert? Das ist doch eine Frage, der man bei der Gelegenheit einmal nachgehen sollte. Ich neige zu der Vermutung, daß in erster Linie scheinbar einfache und nüchterne Karriereerwägungen dazu geführt haben, zu sagen: Wenn man noch jemanden sucht und ich die Möglichkeit habe, da hinzugehen und eine besondere Robe anzuziehen, dann tue ich das - ohne den Filter der moralischen Verantwortung, der Verantwortung gegenüber dem Recht, auch der Überprüfung, die einem Juristen auf Grund seiner Kenntnisse an sich eher möglich sein sollte als anderen.
Ich teile übrigens auch nicht die in Ihrem Zitat zum Ausdruck gekommene Auffassung, daß ein Anwalt mit dem Studium der Geschichte des Rechts kein Geld verdienen könne. Vielmehr halte ich es - ganz im Gegenteil - für sehr wichtig, daß sich ein Anwalt genauso wie ein Richter das Recht jeden Tag in all seinen Beziehungen und Bedingungen
Kleinert ({0})
deutlich zu machen versucht. Nur dann wird er in der Lage sein, das, was seine Mandanten von ihm wollen, auch zu leisten. Das sind doch Überlegungen, die man bei dieser Gelegenheit anstellen muß.
Wenn man heute in Diskussionen mit Jugendlichen etwas über die Möglichkeit hört, dieses Land durch passiven Widerstand zu verteidigen, dann offenbart das eine erschreckende Wirklichkeitsfremdheit. Es ist eben nicht so, daß die meisten von uns jeder Versuchung widerstehen könnten, daß sie für ihren Glauben, für ihre politischen Überzeugungen eintreten würden, wenn die Verhältnisse nicht so sind. Deshalb tun wir im Rückblick auf das, was im Volksgerichtshof geschehen ist, gut daran, uns zu überlegen, wie wir die äußeren Bedingungen möglichst so gestalten, daß die Versuchungen nicht in dieser Form an unsere Mitbürger herantreten, und wie wir durch das System des Wettbewerbs unter verschiedenen Parteien, unter unterschiedlichsten Institutionen, unter vielen Unternehmen, also unter vielen Trägern von Macht - möglichst dazu kommen, daß nicht einer alle Macht erreichen kann und damit wieder diese schreckliche Korrumpierung ermöglicht wird, die auch zu den Verbrechen des Volksgerichtshofs geführt hat.
Diese Bedingungen müssen wir setzen, und das ist die Lehre, die wir u. a. aus dem ziehen müssen, was hier immer noch auf dem Tisch liegt. Ich glaube allerdings, es helfen uns dabei nicht so sehr solche Beispiele wie das von Herrn Hirzel angeführte - Sie haben auf den exzeptionellen Charakter des zitierten Beispiels hingewiesen, aber Sie haben es eben doch gebracht -, diese Mischung von Menschenverachtung, von Amoralität und insbesondere von Dummheit - das ist ja das Erschrekkenste dabei; denn dagegen gibt es bekanntlich keine zuverlässigen Hilfsmittel -, eine Mischung, die nun doch sehr, sehr selten ist.
Ich kann zu meiner großen Freude darauf hinweisen, daß der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Herr Leonardy, auf der Jubiläumsveranstaltung, die vor einigen Monaten stattgefunden hat, eine Rede gehalten hat, in der er nicht die Verdienste der deutschen Richterschaft bei einem solchen Anlaß gewürdigt hat, sondern in der auf das Fehlverhalten der deutschen Richter in der Vergangenheit sehr nachdenklich eingegangen ist - unter großer Anteilnahme der Zuhörerschaft und anschließendem Beifall seiner Richterkollegen. Wenn das möglich ist, daß der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes auf einer Jubiläumsveranstaltung in dieser Weise vor seinen Kollegen auftritt, dann haben wir wenigstens einige Hoffnung, daß aus den Geschehnissen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Dafür möchte ich an dieser Stelle auch einmal Dank sagen. Ich bin der Meinung, man muß bei der Gelegenheit auch das positiv in die Zukunft Weisende ausdrücken dürfen.
Die Aufarbeitung dessen, was damals geschehen ist, ist zunächst nicht einmal durch uns selbst, sondern durch die alliierten Besatzungsmächte in Angriff genommen worden. Die ersten Gesetze gab es von seiten der Besatzungsmächte, und danach ist dieses Besatzungsrecht in Länderrecht umgesetzt worden. Es ist in vielen Einzelverfahren versucht worden, das aufzuarbeiten, was der Volksgerichtshof an Unrecht gesetzt hatte.
Man kann heute vermutlich erheblich unbefangener und deshalb auch ein wenig zu selbstgerecht - jedenfalls mit einer Versuchung zur Selbstgerechtigkeit - sagen: Hätte man doch damals gehandelt: Schluß, aus, Strich darunter! Das wäre richtiger gewesen. Aber ist es nicht vielleicht doch besser gewesen, daß in vielen Einzelverfahren immer wieder die Konfrontation mit dem Geschehen hervorgerufen und klar geworden ist, was damals wirklich geschah? Ich meine, auch diese Deutung einer Entwicklung, die wir ohnehin heute nicht mehr ändern können, hat etwas für sich.
Wir können nun, nachdem das alles rechtsförmlich so abgelaufen ist, nichts anderes tun als das, was Ihnen der Rechtsausschuß des Bundestages vorschlägt, nämlich ganz deutlich klarzumachen, daß wir diese Urteile für nichtig halten, weil es sich um ein Nichtgericht handelte und weil sich dieses Gericht selber in seinem Verhalten aufs äußerste disqualifiziert hat. Wir sollten es aber auch dabei belassen und nicht versuchen, am Recht selbst noch einmal nach diesen 40 Jahren herumzupraktizieren. Wir sollten uns lieber dazu stellen, daß man die Lehren beherzigen muß, und uns im übrigen auch darüber freuen, daß es ja auch in diesem Hause schließlich möglich geworden ist - wie Herr Fischer ausgeführt hat -, daß wir unsere Ansichten trotz gewisser formaler Schwierigkeiten, die sich uns entgegengestellt haben, so vereinigen und daß es in solchen Fragen jedenfalls nur eine geschlossene Meinung des Deutschen Bundestages gibt. Auch das ist ja etwas, was man mit der Erinnerung an die Schrecknisse, die der Volksgerichtshof verbreitet hat, mit ein wenig Hoffnung auf die Zukunft unseres Landes erwähnen darf.
Ich hätte gerne noch eine Bemerkung zu der Darstellung des Problems in der Ihnen vorliegenden Drucksache gemacht: Ich halte es für sehr ungewöhnlich - ich vermute, von uns allen hat es keiner gelesen; der amtierende Präsident hat es gelesen -, ein so wichtiges Thema in einer Form darzustellen, daß es sich rein sprachlich in sich selbst auflöst. Genau das ist es, was dieses Thema überhaupt nicht verträgt, was auch von niemandem gewollt ist. Wir sind uns einig, daß es sich um eine Sache handelt, die nicht mit dem heutigen Beschluß erledigt werden kann, sondern die auch in den kommenden Jahren immer wieder als ein Stück unserer Geschichte bedacht werden muß, aus dem wir lernen müssen, das wir immer wieder betrachten müssen und nicht verdrängen dürfen, damit sich Derartiges in unserem Lande nicht wiederholt. Wenn das so ist, ist dieser Beschluß 40 Jahre danach eine gute Sache. Ich danke all denen, die daran mitgewirkt haben.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beschlußvorlage, die Ihnen heute vorliegt, sind ausgedehnte und sehr gründliche Beratungen vorausgegangen. Ich meine, dies ist auch gut so, denn wir sollten bei dieser Problematik besonders wach und sensibel sein gerade in einem Jahr, in dem sich der Zusammenbruch des unheilvollen NS-Regimes zum 40. Male und die Gründung der „Volksgerichtshof" benannten Institution zum 50. Male jähren.
Es ist heute bereits zweimal erwähnt worden, daß ich, wenige Wochen im Amte des Bundesministers der Justiz, mit der Frage von Urteilen des Volksgerichtshofs im Bundeszentralregister konfrontiert wurde. Ich habe damals zunächst völlig ungläubig - ich habe dies nicht für möglich halten können -, dann aber mit tiefer Betroffenheit reagiert. Diese Urteile sind sofort gelöscht worden, und mit dieser Löschung sind die Spuren des „Volksgerichtshofs" im Bundeszentralregister nun endgültig getilgt.
Es ist ja überhaupt nicht zu leugnen, daß wir stellenweise immer wieder Schwierigkeiten bei der Bewältigung, bei der Aufarbeitung unserer jüngeren deutschen Geschichte hatten. Das ist die Frage nicht. Nur sollten wir immer bemüht sein, auch hier bei der Wahrheit zu bleiben, sollten wir bei der Aufarbeitung um die Wahrheit bemüht sein. Deswegen muß ich kraft Amtes, aber auch nach persönlicher Vergewisserung und aus persönlicher Überzeugung mit allem Nachdruck feststellen: Es gibt keine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, in der Entscheidungen des „Volksgerichtshofs" für rechtmäßig ergangen erklärt worden wären.
({0})
Dies nach Ihren Anmerkungen, Herr Dr. Jannsen, hier festzustellen ist eine Sache, die gerade in dieser Stunde gleichfalls dringend notwendig ist.
Heute spricht der Deutsche Bundestag allen Opfern der Terrorurteile des „Volksgerichtshofs" und ihren Familien Hochachtung und Mitgefühl aus. Die Opfer haben mit ihrem Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime ein Zeichen gesetzt, das uns als ständige Warnung, als Erinnerung und als Mahnung auf den Weg in die Zukunft mitgegeben ist.
Mein Dank gilt dem Rechtsausschuß, insbesondere den beiden Berichterstattern, die es nach den umfangreichen Beratungen möglich gemacht haben, zu einer gemeinsamen Beschlußvorlage zu kommen.
({1})
Nochmals wird heute vor der gesamten deutschen und internationalen Öffentlichkeit dokumentiert, daß das ganze deutsche Parlament sich einig ist im Abscheu vor der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und in der Verurteilung ihrer Terrormethoden.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich nehme an, ich spreche im Sinne des Rechtsausschusses, wenn ich auf die von Herrn Kleinert angesprochene Mißverständlichkeit auf dem Vorblatt der Drucksache 10/2368 hier noch einmal hinweise. Es geht nicht um die Beschlußempfehlung und nicht um den Bericht der Abgeordneten, sondern um das Vorblatt. Dort gibt es unter „A. Problem" in den zwei Sätzen wirklich eine Mißverständlichkeit, die aufgehoben wird, wenn man das Wort „Dieser" am Anfang des zweiten Satzes streicht und diesen Satz so formuliert:
Der Rechtszustand wurde als nicht angemessen angesehen.
({0}) Ich glaube, damit ist der Fehler korrigiert.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 10/2368 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses einstimmig angenommen worden ist.
({1}) Ich rufe Punkt 32 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Waltemathe, Müntefering, Conradi, Lohmann ({2}), Meininghaus, Menzel, Polkehn, Reschke, Schmitt ({3}), Dr. Sperling, Frau Weyel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von Wohngeldleistungen ({4})
- Drucksache 10/2140 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({5})
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat ein Gesetz zur Sicherung von Wohngeldleistungen eingebracht, das diesem Haus schon seit dem 18. Oktober 1984 als Drucksache 10/2140 vorliegt. Der Inhalt des Gesetzes ist ziemlich schnell dargestellt. Es geht darum, die Wohngeldleistungen im Jahre 1985, also im jetzt laufenden Jahr, nicht noch weiter absacken zu lassen. Es geht also darum, den Wohngeldberechtigten wenigstens ohne Kürzungen den Anspruch zu belassen, den sie bereits im Jahre 1984 gehabt haben.
So einfach das Gesetz ist, so unverständlich ist es auch, daß unsere Initiative nicht sofort von der Bundesregierung bzw. den Mehrheitsfraktionen dieses
Hauses aufgegriffen wurde; denn einen unbürokratischeren und einfacheren Gesetzesantrag dürfte es wohl in diesem Hause kaum geben, und zu diesem Thema schon gar nicht.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben versucht, das Gesetz schon eher auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen, damit etwaige haushaltsmäßige Auswirkungen, die wir auf 50 Millionen DM für den Bund und den gleichen Betrag für die Bundesländer für das Jahr 1985 schätzen, noch im Bundeshaushalt berücksichtigt werden konnten, damit die Bundesmittel also zur Verfügung stehen. Nun hat Staatssekretär Dr. Jahn vom Bundesbauministerium bei entsprechenden Beratungen in unserem Ausschuß erklärt, finanziell und haushaltspolitisch sei unser Wohngeldsicherungsgesetz überhaupt kein Problem, weil der Haushaltsansatz für das Wohngeld genügend Luft biete.
In der Tat, Herr Staatssekretär Dr. Jahn, Sie haben recht gehabt. Herr Minister Schneider, ich vermute, daß Sie, wenn Sie nicht dauernd mit Zeitungsinterviews beschäftigt wären, von der Haushaltsabteilung Ihres Hauses die gleiche Auskunft bekämen wie wir. Für 1984 wurden vom Bund Wohngeldausgaben von 1,335 Milliarden DM einkalkuliert. Tatsächlich wurden 1,206 Milliarden DM ausgegeben. Also sind 129 Millionen DM Bundesmittel - und der gleiche Betrag bei den Ländern - gar nicht ausgegeben worden, obwohl sie für das Wohngeld veranschlagt waren.
Das bedeutet: Entweder sind Sie, Herr Dr. Schneider, der Spartopf des Herrn Dr. Stoltenberg, oder es sind schon 1984 jedem einzelnen Wohngeldberechtigten ein Hundertmarkschein des Bundes und ein Hundertmarkschein der Länder im Jahr vorenthalten worden. Für 1985 gibt es mit Sicherheit ähnliche finstere Absichten, nämlich eine hohe Vorveranschlagung, und am Jahresende stellt man dann fest, es war viel zuviel veranschlagt. Haushaltspolitisch ist es also gar kein Problem, unser Gesetz zu beschließen.
Warum nun, meine Damen und Herren, ist es notwendig geworden, durch ein besonderes Gesetz Wohngeldleistungen im Jahre 1985 zu sichern?
({1})
- Weil, Herr Grünbeck, diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien - dazu gehören Sie ja auch - ein Trauerspiel von Ankündigungen, Streichungen und Verschiebungen geboten haben und noch bieten.
({2})
Unmittelbar nach der Wende vom 1. Oktober 1982 hat diese Regierung Kohl
({3})
gezielt familienfreundliche Verbesserungen im Wohngeldrecht, die 1981 - übrigens auch von Ihnen - ganz bewußt in das Wohngeldgesetz eingearbeitet wurden, mit einem Federstrich rückgängig gemacht. Herr Minister Schneider, Sie und die Regierung, der Sie angehören, haben 150 000 Haushalten mit schwerstbehinderten Personen 20 bis 40 DM im Monat an Wohngeld gestrichen. Sie, Herr Dr. Schneider, haben 242 000 Haushalten mit Schwerbehinderten, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit zwischen 50 und 80 % haben, den Wohngeldanspruch um 26 DM pro Monat gekürzt.
({4})
Sie, Herr Dr. Schneider, haben 84 000 Haushalten, die von nichterwerbstätigen Alleinerziehenden geführt werden, 35 DM an Monatskaufkraft weggenommen. Sie, Herr Dr. Schneider, haben bei 67 000 Haushalten, in denen Kinder mitverdienen, z. B. weil sie Azubi, wie das neudeutsch heißt, sind, völlig lebensfremd unterstellt, daß diese Kinder ihre Lehrlingsvergütung voll zum Familienhaushalt beitragen. Das bedeutet, daß in diesen 67 000 Haushaltungen 42 DM Wohngeld monatlich gestrichen worden sind.
Sie haben, Herr Dr. Schneider, bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die Wohnkaufkraft um durchschnittlich 8 bis 14 DM im Monat geschmälert.
Sie haben bei 190 000 Haushalten den Wohngeldanspruch ganz und gar gestrichen, weil er unter 20 DM im Monat lag. Gerade bei solchen Haushalten ist auch ein Betrag unter 20 DM viel Geld. Wenn man das streicht, ist das sehr, sehr schmerzlich.
({5})
Das war nur ein Vorgeschmack auf eine neue Umverteilungspolitik zu Lasten der Bedürftigsten.
Bundeskanzler Kohl hat in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983, also nach der letzten Bundestagswahl, ein Programm der Erneuerung vorgestellt. Darin hieß es: Sozialer Wohnungsbau wie Wohngeld gehören zur Idee der Sozialen Marktwirtschaft.
({6})
Ich finde, das ist ein schöner Satz, Herr Dr. Möller, und es kann gar nichts schaden, wenn es in der Politik auch Ideen gibt.
({7})
Diese Regierung hat in der tatsächlichen Politik allerdings die Idee, daß es mit dem sozialen Wohnungsbau aufhören muß und daß man die dringend notwendige Wohngeldanpassung erst einmal verschieben sollte.
({8})
Statt dessen ist ein Gesetz durchgepeitscht worden, das den falschen Eindruck erwecken soll, das Angebot an Wohnungen werde erhöht. Es hat eines erreicht: Die Mieten wurden erhöht. Ein wirkliches Programm der Erneuerung also!
({9})
- Diese Bundesregierung, Herr Dr. Möller, rühmt sich doch gern, wie sozial es doch sei, daß die Preissteigerungsrate so niedrig ist. Diese Bundesregierung kann sich rühmen, daß seit 1983 die Mieten
doppelt so schnell wie die übrigen Lebenshaltungskosten gestiegen sind.
({10})
- Zu Zeiten der sozialliberalen Koalition, Herr Dr. Kansy, lagen die Mietsteigerungen hingegen immer unterhalb des Anstiegs der Lebenshaltungskosten. - Das bedeutet, daß systematisch die Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen einen immer größeren Anteil ihrer bescheidenen Finanzen für das Wohnen ausgeben müssen.
Nun gab es aber Trost. Bauminister Dr. Schneider kündigte bereits am 8. Juni 1983 an, er werde Wohngeldverbesserungen vorschlagen und ein Gesetz so rechtzeitig vorlegen, daß es am 1. Januar 1985 - das wäre vor 24 Tagen gewesen - in Kraft treten könne. Da, wie er sagte und was ich gar nicht bestreite, der Markt sozial blind ist, sollte ein Ausgleich für gestiegene Wohnkosten über zeitnahe Anpassungen des Wohngelds erfolgen. Bravo, dachten sich nicht nur die braven Bürger, sondern auch wir etwas depperten SPD-Bundestagsabgeordneten;
({11})
da wollen wir dem Bundesbauminister doch einmal helfen. Dieser legte nämlich auch noch einen Mieten- und Wohngeldbericht des Jahres 1983 vor, aus dem sich die Zwangsläufigkeit einer Wohngeldanpassung regierungsamtlich ergeben hat.
Also haben wir am 6. April 1984 einen Entschließungsantrag im Deutschen Bundestag zur Abstimmung gestellt, durch den die Bundesregierung aufgefordert werden sollte, die Ankündigung ihres eigenen Bauministers wahrzumachen - das bedingt ja auch die Glaubwürdigkeit, daß man das wahrmacht, was man angekündigt hat - und eine zwingend erforderliche Anpassung von Mietzuschüssen und Lastenzuschüssen zum 1. Januar 1985 vorzunehmen.
Aber Herr Dr. Schneider hatte offensichtlich etwas angekündigt, was er gar nicht durchhalten konnte. Und so wurde unser Antrag von der CDU/ CSU und der FDP abgelehnt.
({12})
- Ja, darauf komme ich; ich vergesse das nicht, Herr Kansy! - Statt dessen wurde die Bundesregierung aufgefordert, noch im Jahr 1984 - das meines Wissens, obwohl es ein Schaltjahr war, also einen Tag mehr hatte, schon seit 25 Tagen zu Ende ist - das Gesetzgebungsverfahren zur Anpassung des Wohngelds an die Entwicklung der Mieten und Einkommen frühestmöglich, spätestens jedoch zum 1. Januar 1986 einzuleiten.
({13})
Tatsächlich gab es schon im Juli 1984 einen ersten
Entwurf, der aber, man höre und staune, Verbesserungen erst ab 1. Juli 1986 vorsah. Nachdem nun diese Termintricks von der SPD aufgedeckt wurden, wachte auch die CDU/CSU-Fraktion auf.
({14})
Sie bestand darauf, daß „spätestens 1. Januar 1986" nicht heißen konnte „später als 1. Januar 1986". Für diese Tat, den Beginn einer Wohngeldanpassung nunmehr auf den 1. Januar 1986 zu legen, ließen Sie sich dann auch feiern, wobei allerdings aus dem Freistaat Bayern dem CSU-Minister eingeheizt wurde, daß der Anpassungstermin zumindest auf den 1. Juli 1985 vorzuziehen sei. Wie man jetzt, im Jahre 1985, hört, haben sich angeblich die Minister Dr. Schneider und Dr. Stoltenberg in der vorigen Woche darauf verständigt, für die überfällige 6. Wohngeldnovelle 450 Millionen DM bundesseitig bereitzustellen. Wie man weiter hört, ist das in den Augen des Finanzministers sehr viel Geld - in meinen Augen auch -, so daß dem Vernehmen nach andere Haushaltspositionen des Bauministeriums gekürzt werden sollen.
({15})
Aber was wirklich beschlossen werden soll, ist nach wie vor unklar geblieben.
Nun muß ich doch einmal sagen: Was ist eigentlich eine Ministerverantwortlichkeit im politischen Sinne? Das will ich Ihnen einmal zitieren:
Die politische Ministerverantwortlichkeit umfaßt den Wirkungskreis eines Ministers, innerhalb dessen er seine politische Initiative nach den Grundsätzen und Leitbildern der ihn tragenden politischen Kräfte entfaltet.
({16})
Innerhalb dieses Bereiches wird der Minister schöpferisch
- nicht schröpferisch tätig. Hier entfaltet er
- er entfaltet also schon wieder etwas, nämlich sein staatsmännisches Können. Die politische Ministerverantwortlichkeit verlangt von jedem Minister den Mut zum Wagnis, die Bereitschaft, neue Ideen aufzugreifen.
({17})
Hier muß der Minister politisches Talent, wenn nicht Genie entwickeln.
({18})
Das ist wahrhaft genial. Herr Dr. Schneider, ich weiß nicht, wie Sie Ihre Ministerverantwortung sehen. Dies stammt aus der Dissertation des Herrn Oscar Schneider, als er seinen Doktor machte.
({19})
Wir sind natürlich gern bereit, falls es Ihnen noch etwas an Genie fehlt, Entwicklungshilfe zu leisten.
({20})
Wir Sozialdemokraten, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, wollen keinen Zweifel daran lassen, daß wir an einer Gesetzesnovelle aktiv mitwirken werden, die nicht nur überfällig ist, sondern die angemessene Wohnkaufkraft gewährleistet. Wohngeld ist eine der treffsichersten Sozialleistungen des Staates,
({21})
weil es wirklich dorthin fließt, wo es dringend benötigt wird. Es gibt praktisch keinen Mißbrauch. Somit drängen wir die Bundesregierung, endlich ihre Vorstellungen zu Papier zu bringen, nicht durch Zeitungsinterviews, sondern auf Gesetzesblättern, und Bundestag und Bundesrat für die Beratungen zuzuleiten. Es wird j a ohnehin erstmalig - ich hoffe: einmalig - sein, daß eine Wohngeldanpassung erst fünf Jahre nach der letzten Novellierung erfolgt. Die Zahl der Wohngeldempfänger, die 1981 bei 1,7 Millionen Haushalten lag, ist auf 1,4 Millionen Haushalte zurückgegangen, nicht, weil sich das Geld in den Portemonnaies der Wohngeldberechtigten auf eine wundersame Art und Weise vermehrt hätte, und nicht etwa, weil die Mieten gefallen wären, sondern weil es im System der Wohngeldgesetzgebung begründet ist, daß sich jede Bruttoeinkommenserhöhung negativ auf die Wohngeldansprüche auswirkt, selbst wenn diese Bruttolohnerhöhung oder Bruttorentenerhöhung nicht einmal ausgleicht, was an allgemeiner Preissteigerungsrate aufzufangen ist.
Gerade diese Tatsache im Wohngeldsystem selbst muß dazu führen, daß wir im Jahre 1985 den noch verbliebenen 1,4 Millionen Haushalten dasjenige Wohngeld belassen, das ihnen auch im Jahre 1984 zustand.
({22})
Etwa eine Million dieser Wohngeldberechtigten sind reine Rentnerhaushalte. Wenn wir kein Wohngeldsicherungsgesetz verabschieden, werden diese ihre sogenannte Rentenerhöhung mit Einkommensverlusten bezahlen dürfen. Denn von den brutto rund 3 % Rentenanpassung - bekanntlich geht davon schon die Hälfte für die Krankenkasse ab - wird ein weiteres Viertel künftig von der Wohngeldstelle eingespart werden.
Nun nenne ich Ihnen ein ganz konkretes Beispiel. Das ist mir in zwei Fällen bekanntgeworden, bei denen es sich aber durchaus nicht um Einzelfälle handelt. Eine Rentnerin mit 800 DM Rente erhält vielleicht zur Jahresmitte eine Rentenerhöhung um 25 DM, rund 3 %. Davon bekommt sie 12 DM gar nicht zu sehen denn sie gehen an die Krankenkasse. Die Wohngeldstelle kürzt ihren Mietzuschuß um weitere 6 bis 7 DM. Dann hat sie noch etwa 6 DM zusätzlich im Portemonnaie. Selbst wenn ich von den günstigen Prognosen für die Preissteigerungsrate ausgehe, muß sie zwischen 16 und 20 DM für die Teuerung auffangen. Hat sie nun auch noch das
Pech, daß sich ihre Miete erhöht, legt sie noch Geld dazu.
({23})
Das ist beileibe - ich sagte es schon - kein Extremfall, sondern die Regel.
Schon jetzt sind im übrigen die Mieten so hoch, daß etwaige Mieterhöhungen nicht zu höherem Wohngeldanspruch führen. Es häufen sich die Fälle, in denen Alleinstehende oder Zweipersonenhaushalte händeringend darum bitten, man möge ihnen eine kleinere, weil billigere Wohnung zuteilen, da sie in eine Wohnarmut geraten seien und nicht mehr wüßten, wie sie ihre Miete aufbringen sollten. Das Wohngeld hilft nicht mehr gegen die Vertreibung durch Mieterhöhung.
Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung schon nicht die Kraft aufgebracht hat, eine wirkliche Wohngeldanpassung noch in diesem Jahr vorzusehen, so sollte sie wenigstens dafür sorgen, daß in diesem Jahr nicht auch noch Wohngeldkürzungen vorgenommen werden. Eine Gesetzesinitiative kann ja wohl selbst dann richtig sein, wenn sie nur von der Opposition kommt. Unser Gesetzentwurf soll sicherstellen, daß die Wohngeldämter in diesem Jahr nicht gezwungen sind, 1,4 Millionen Kürzungsbescheide zu erstellen.
({24})
- Das ist kein Unsinn. Sie kennen das Gesetz doch genauso wie ich. Das Wohngeld wird immer nur auf zwölf Monate bewilligt. Wer im März 1984 eine Bewilligung bekommen hat, wird ab März 1985 verwundert feststellen, daß er weniger Wohnbeld bekommt. Das sind 1,4 Millionen Fälle in diesem Jahr. Diese könnten Sie sich ersparen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf mittrügen.
({25})
Die Verwaltung würde also entlastet. Sie könnte sich in Ruhe darauf vorbereiten, daß von der Regierung angekündigte verbesserte Wohngeld ab 1986 pünktlich zu errechnen und auch pünktlich auszuzahlen.
Unser Gesetzentwurf kann nur eine Überbrükkung im Hinblick auf die Verschiebung der schon längst fälligen Reparatur der Fehler, die die Bundesregierung in diesem Bereich gemacht hat, auf das nächste Jahr sein. Der Deutsche Bundestag kann zeigen, daß er schnell helfen kann, wenn dazu der politische Wille vorhanden ist. Ich hoffe, daß bei Ihnen dieser politische Wille vorhanden ist, das zu korrigieren, was Ihre Bundesregierung leider nicht vorgesehen hat.
({26})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kansy.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal zum, ich glaube, fünfundzwanzigstenmal - aber vielleicht hilft es jetzt, Herr Kollege Waltemathe - sagen: Der Minister Schneider hat
tatsächlich vor Jahren eine Wohngelderhöhung zum 1. Januar 1985 in Erwägung gezogen,
({0})
in Verbindung mit einer weiteren, zwei bis drei Jahre später. Es ist Ihnen oft genug erläutert worden, daß wir beides zusammengezogen haben, um gleichzeitig strukturelle Wohngeldverbesserungen vorzunehmen.
({1})
Ich bitte Sie, diese Platte doch endlich nicht mehr abzufahren.
Für die Bürger, auch hier in diesem Saal, die den Hintergrund nicht kennen: Dieser Gesetzentwurf der SPD, den wir - und ich kündige das hier gleich an - ablehnen werden, wird deswegen abgelehnt werden,
({2})
weil wir mitten in der Arbeit an der größten Wohngeldnovelle sind, die wir jemals vorgesehen haben.
({3})
Herr Waltemathe hat es erwähnt: Vor wenigen Tagen - da ich davon ausgehe, daß er, wenn er schon keine Zeitung liest, die Pressemitteilungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion liest ({4})
- das ist sehr lobenswert - haben sich der Finanzminister und der Bauminister geeinigt, daß zum 1. Januar 1986 das Wohngeld um 900 Millionen DM jährlich erhöht werden soll. Ich unterstreiche das hier noch einmal. Die größte Wohngeldnovelle, die in Ihrer Regierungszeit verabschiedet wurde - übrigens, die letzte stammt aus dem Jahre 1981, als die Staatsfinanzen schon kippten -, hatte - verglichen mit dem, was wir jetzt, in einer außerordentlich schwierigen Lage der Staatsfinanzen, für die Empfänger von Wohngeld tun - ein sehr viel geringeres Volumen.
({5})
- Jetzt noch nicht. Ich möchte erst einmal ein bißchen vortragen. Wenn Sie jetzt fragen, Herr Kollege, wollen Sie nur stören. Ich bin erst am Anfang der Rede.
({6})
Herr Waltemathe, es gibt offensichtlich keinen einzigen Politikbereich mehr, in dem Sie trotz ständigen Scheiterns dieser Methode nicht den Weg des Miesmachens und der Angstmacherei gehen. Sie haben am Anfang der Legislaturperiode riesige Mietsteigerungen prophezeit und behauptet, die Bürger würden um ihre Wohnung gebracht. Wir haben heute die niedrigsten Mietsteigerungen, die wir seit 10, 15 Jahren überhaupt in diesem Lande gehabt haben. Nur: Heute reden Sie nicht davon. Heute ist etwas Neues dran. Da gibt es angeblich 3 Millionen bis 4 Millionen Arbeitslose in einem Winter. Dann ist von 200 000 Jugendlichen die Rede, die keine Lehrstelle bekommen. Dann steht der Atomkrieg unmittelbar bevor. Sie sagen die Eiszeit im Osten voraus. Aus dem bedauerlichen Smogalarm im Ruhrgebiet macht der Herr Farthmann praktisch ein Pontifikalrequiem mit dem Westdeutschen Rundfunk als Trauerchor. Angst, Miesmacherei, das ist Ihre Politik, und zwar auch beim Wohngeld.
({7})
Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich hatte zunächst ein gewisses Verständnis für Ihre Gestzesinitiative. Wie Sie richtig sagen, ist das Wohngeldgesetz ja ein sehr starres Gesetz mit festen Mietobergrenzen und Einkommensgrenzen, bei dem, meine Kollegen von der SPD, jeder Wohnungsbaupolitiker einer Regierungsfraktion - ganz egal, welcher Couleur die Regierung ist - immer aufpassen muß, daß der reale Wohngeldwert tatsächlich nicht sinkt, da nämlich Finanzminister jeder Couleur - vielleicht erinnern Sie sich gelegentlich einmal an die Haltung des Finanzministers bei der letzten Wohngeldnovelle - eine Wohngelderhöhung immer als Subventionsaufstockung betrachten.
Man muß beachten, daß das Wohngeld j a dummerweise im Subventionsbericht aufgeführt ist. Herr Minister Schneider, vielleicht darf ich an dieser Stelle einmal sagen: Für uns ergibt sich immer wieder neu die Frage, ob das Wohngeld - wie es in der Generalbeschreibung des Subventionsberichts heißt - als eine für private Haushalte mit Geldmitteln des Bundes verbilligte Dienstleistung - insofern stimmt das - vor dem Hintergrund berechtigter Forderungen nach Subventionsabbau in den Subventionsbericht hineingehört. Das Wohngeld gehört nach Auffassung meiner Fraktion, der CDU/ CSU-Fraktion, und der Parteien CDU und CSU eben nicht zu den Subventionen, deren Abbau wir für notwendig erachten. Das Wohngeld - das steht auch im letzten Sozialbericht dieser Bundesregierung aus dem Jahre 1983 - ist vielmehr ein fester Bestandteil im System der sozialen Sicherung.
({8})
- Herr Waltemathe, das Wohngeld ist für uns allerdings auch essentieller Bestandteil einer marktwirtschaftlich orientierten Wohnungspolitik.
({9})
Es ist - wie übrigens auch die Sozialklausel im sozialen Mietrecht - ein Grundpfeiler der Wohnungsbaupolitik der Union, die damals von Paul Lücke geschaffen wurde. Sie haben das ganze Konzept damals übrigens bekämpft. Sie haben Lücke damals ja sogar Verfassungsklagen angedroht. Vielleicht darf man auch das in einer Wohngelddebatte einmal sagen.
Nun haben sich der Bauminister und der Finanzminister geeinigt - ich sagte es schon -, zum 1. Januar 1986, also ein halbes Jahr früher - da haben
Sie recht gehabt -, als ursprünglich von der Bundesregierung vorgesehen,
({10})
eine Erhöhung des Wohngeldes um 900 Millionen DM vorzunehmen. Meine Damen und Herren, das sind 200 Millionen DM mehr, als die Bundesregierung ursprünglich vorgesehen hatte, und das in einer Zeit, in der wir immer noch damit beschäftigt sind, Ihre Hinterlassenschaften aufzuarbeiten, Herr Kollege Waltemathe.
({11})
Ich wundere mich eigentlich, daß Sie angesichts der Summe von 900 Millionen DM noch den Mut haben, hier Miesmacherei bezüglich des Wohngeldes zu betreiben.
({12})
Weil Sie das Beispiel der Rentnerin mit den 800 DM angeführt haben, Herr Kollege Waltemathe, will ich Ihnen jetzt einmal folgendes erzählen. Wir haben letzte Woche im Plenum des Deutschen Bundestages um die Rentenerhöhung gestritten.
({13})
Da waren die Koalition und die Opposition beim Krankenversicherungsbeitrag nur noch einen halben Prozentpunkt auseinander. Das waren nach Adam Riese 4 DM. Es ging also darum, ob die Rentenerhöhung 4 DM höher oder niedriger ausfällt. Wir legen hier eine Wohngeldnovelle vor,
({14})
- ich sage gleich etwas dazu -, die für die genannte Rentnerin eine Wohngelderhöhung von etwa 40 DM bringen wird. Das liegt eine ganze Zehnerpotenz höher, aber Sie betreiben hier Miesmacherei und Angstmacherei in Richtung Rentner.
({15})
Das ist Ihre Politik, ich sage Ihnen noch einmal: eine Politik, die scheitern wird, denn die Menschen sind im Grunde so angelegt, die Zukunft optimistisch anzugehen und nicht dauernd unter irgendwelchen Angstmachereien zu leben.
({16})
Ich möchte noch sagen, daß wir mit dieser Wohngelderhöhung gleichzeitig eine Strukturverbesserung vornehmen.
({17})
Bisher sind die Höchstbeträge für Miete oder auch für Belastung bei den Eigenheimern, die bei der Berücksichtigung des Wohngeldes eine Rolle spielen, u. a. an die Größe der Gemeinde gekoppelt, natürlich auch an Wohnungsgröße und Qualität der Wohnung. Wir wissen alle, daß sich diese Kopplung an die Gemeindegrößen als sehr, sehr problematisch erwiesen hat, denn Mieten orientieren sich nämlich nicht an Gemeindegrenzen. Insbesondere
in Ballungsräumen geht die Höhe der Mietforderung mit dem Wohnungsbedarf sozusagen ins Umland hinaus. Das Wohngeld ist auf Grund der bisherigen Struktur in diesen Umlandgemeinden wesentlich geringer als in der Großstadt, obwohl die Mietforderungen genauso hoch sind.
({18})
Deswegen, Herr Kollege Müntefering, brauchen wir einige Wochen - mehr nicht -, um die Eckwertbeschlüsse des Kabinetts jetzt in neue Tabellen und in eine neue Gesetzesvorlage umzusetzen,
({19})
so das auch das Mietniveau neben Alter und Ausstattung der Wohnung eine Rolle spielt, also eben nicht nur die Größe der Gemeinde.
Das hat natürlich Konsequenzen. Ich sage das an dieser Stelle, damit Sie nicht in der nächsten Wohngelddebatte wieder lamentieren. In Gegenden mit einem Überangebot von Wohnungen und einem überdurchschnittlichen Mietniveau wird die Wohngelderhöhung natürlich geringer ausfallen als im Ballungsraum, in dem sie überproportional ausfällt. Das ist natürlich die Konsequenz, aber genau das ist auch unser politischer Wille.
({20})
Obwohl das Wohngeld schon treffsicher ist, wird damit die Treffsicherheit noch erhöht.
Jetzt zu Ihrem Antrag. Ich kann das relativ kurz machen. Sie haben Ihren Antrag begründet - ich zitiere jetzt -, Herr Kollege Waltemathe:
Die angeblich zum 1. Januar 1986 geplante 6. Wohngeldnovelle soll nach den Plänen der Bundesregierung erst ab 1. Juli 1986 zu verbesserten Wohngeldzahlungen führen.
({21})
Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, daß die Bundesregierung eine Novelle vorlegen wird, die zum 1. Januar diese von mir dargestellte Verbesserung bringen wird.
({22})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe nur noch zwei Minuten.
({0})
Weiter heißt es in der Gesetzesintiative der SPD - ich zitiere -:
Das Risiko, ob und wann die abgegebenen Versprechen eingehalten werden, darf nicht auf die Betroffenen abgeladen werden.
Das wird es nicht, meine Kollegen von der SPD. Die
Bundesregierung hat ihre Beschlüsse gefaßt; der
Minister wird das gleich erläutern. Es ist bekannt, daß dieser Beschluß nicht nur das Ergebnis einer sehr ausführlichen und langen Diskussion in der Bundesregierung gewesen ist, sondern auch in den Parteien CDU und CSU und in der Bundestagsfraktion der CDU/CSU; das ist übrigens so in Volksparteien.
Langer Rede kurzer Sinn: Wesentliche Teile Ihres Antrages für ein Wohngeldsicherungsgesetz sind also entweder falsch oder überholt.
({1})
Wir prüfen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch, ob sich bis zum Inkrafttreten der Novelle am 1. Januar 1986 - wie Sie hier prophezeit haben - gravierende Probleme im Bereich der Antragsteller ergeben. Sie haben vorgetragen, 1,4 Millionen Wohngeldempfänger würden mit Wohngeldkürzungen zu rechnen haben.
({2})
Dies ist ein absoluter Unsinn und wieder Panikmache, weil nur ein ganz geringer Teil am Ende dieses Jahres noch in den Genuß kommt, Wohngeld vor der neuen Novelle neu zu beantragen, und dort nur die Einkommensverbesserungen berücksichtigt werden, die in dieser kurzen Zeit tatsächlich vorgekommen sind; diese aber sind marginal. Wir werden das prüfen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müntefering? Sie haben noch 50 Sekunden Redezeit, aber ich bin bereit, etwas zuzugeben.
Nein.
Soweit wir das heute übersehen können, ist das im Jahre 1985 bei einer Inflationsrate von etwa 2% nicht zu erwarten. Hier, meine Kollegen von der SPD, zeigt sich - wie auch in anderen Bereichen der Politik - einmal mehr: Solide Haushaltspolitik und Abbau der Staatsverschuldung schaffen letztendlich mehr soziale Gerechtigkeit als großartige Gesetzesinitiativen wie diese, deren Wohltaten in Zeiten, in denen Sie regieren, wieder durch die Inflation aufgefressen werden.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauermilch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle zunächst einmal mit großer Freude fest, daß die Bundesregierung endlich einmal in nennenswertem Ausmaß einer Forderung der GRÜNEN nachgekommen ist. Wir haben nämlich am 6. April 1984 in der Wohlgeld- und Mietendebatte die Forderung gestellt - ich zitiere hier -: Die GRÜNEN fordern den Ansatz angemessener Mittel für die 6. Wohngeldnovelle in Höhe von 800 Millionen DM. - Die Bundesregierung ist dem nicht nur nachgekommen, sondern hat sogar noch etwas daraufgesetzt.
({0})
Ich möchte jetzt aber doch ein bißchen Wasser in den Wein kippen: Der Sinn der relativ kurzen Abstände von jeweils drei bis vier Jahren zwischen den Beschlüssen zur Wohngeldanpassung war es in der Vergangenheit - da muß ich Ihnen Recht geben, Herr Waltemathe -, diese Anpassung situationsgerecht vorzunehmen. Die neueste Entwicklung - inzwischen eine Tradition dieses Kabinetts - ist es aber, Termine anzukündigen, sie dann aber nicht zu halten. Herr Kansy, wenn Sie es hier auch zum fünfundzwanzigstenmal beschönigen wollen, so ist es einfach so: Herr Minister Schneider hat zwar in seiner Regierungserklärung angekündigt, daß die 6. Wohngeldnovelle am 1. Januar 1985 in Kraft treten soll, aber diese Ankündigung hat er de facto nicht gehalten.
Es ist übrigens bemerkenswert, daß wesentliche Entscheidungen in der Wohnungspolitik entweder vom Haushaltsausschuß - siehe Ausstieg aus dem sozialen Mietwohnungsbau - oder vom Finanzminister getroffen werden.
({1})
Die Funktion des Bauankündigungsministers legt es nahe, eine erhebliche finanzwirksame Einsparung, nämlich die des Bauministers selbst, zu erwägen, obwohl die Unschädlichkeit und Harmlosigkeit eines Ministers in diesem Kabinett eher noch eine sympathische Eigenschaft ist.
({2})
Gegenüber der Debatte vom 6. April 1984 über den Wohngeld- und Mietenbericht ist heute eigentlich wenig neu. Weder haben sich die Bedingungen für Schwerbehinderte geändert, noch sind die Erblasten, die Benachteiligung der Wehrpflichtigen und BAföG-Bezieher bereinigt. Genauso wurde nicht auf unsere Hinweise und Warnungen reagiert, daß infolge des anachronistischen Wachstumsfetischismus dieser Regierung bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit ein bedenklicher Prozeß der Umschichtung bei den Wohngeldempfängern stattfindet, nämlich eine gefährliche Zunahme bei den Sozialhilfeempfängern, Nichterwerbstätigen und Beschäftigungslosen. Das einzig Neue ist die Ankündigung der Wohngelderhöhung ab 1986. Deshalb halten wir auch diesen Gesetzentwurf zur Sicherung von Wohngeldleistungen für wenigstens eine kleine Sicherung sozialen Bestandes. Wir werden ihm zustimmen.
Als ein wenig scheinheilig muß ich es allerdings bezeichnen, wenn die SPD als Gründe für ihren Entwurf auch Benachteiligungen der betroffenen
Wohngeldempfänger nennt, die sie doch selber zu verantworten hat.
Eine interessante Frage ist dabei noch, ob die Mehraufwendungen für Wohngeld 1986 durch Einsparungen bei den Baudarlehen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus - gegenüber dem geltenden Finanzplan - aufgebracht werden sollen. Das würde nämlich bedeuten, daß es noch weniger Verpflichtungsermächtigungen für Baudarlehen für den sozialen Wohnungsbau gäbe, als im Finanzplan vorgesehen ist. Aber das müssen wir wohl auch wieder den Finanzminister fragen.
Eine weitere Frage an den Bauminister, die wohl letztlich ebenfalls vom Finanzminister beantwortet werden wird: Warum haben Sie denn die Wohngeldnovelle nicht doch, wie angekündigt, schon für 1985 vorgesehen? Denn inzwischen hat sich j a erwiesen, daß weniger Wohngeld ausgegeben wurde, als veranschlagt war.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Entwurf ist der Versuch, mit einem kleinen Schönheitspflaster allenfalls einen Pickel in dem von Akne zerfurchten Gesicht dieser Wohnungspolitik zu verkleben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meinem Kollegen Kansy widerspreche ich ungern. Aber heute tue ich das einmal ganz offiziell. Davon, daß dieser Gesetzentwurf eine großartige Vorlage ist, Herr Kollege Kansy, kann man wohl nicht reden. Ich glaube eher, daß Sie mit Ihrer Passage recht hatten, dieser Gesetzentwurf passe zur Strategie der SPD, nämlich Panikmache und Verunsicherung zu betreiben. Da müssen Sie sich einmal fragen lassen, ob es auf die Dauer gesehen richtig ist, Rentner, Studenten und Behinderte mit Dingen zu verunsichern, die Sie kaum noch vertreten können.
({0})
Das geschieht obendrein zu einem Zeitpunkt - das wissen Sie -, zu dem die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorbereitet, der die Wohngeldsicherung stabiler macht, als Sie das in diesem Gesetzentwurf vorgesehen haben.
({1})
Daher ist es richtig, daß wir diesen Gesetzentwurf gemeinsam ablehnen, und zwar erstens, weil mehr Mittel, als Sie fordern, nämlich 900 Millionen DM zusätzlich, zur Verfügung stehen werden, weil zweitens niemand, der einen Anspruch hat, verzichten muß,
({2})
weil drittens die Neuregelung den Wohngeldstrukturen insbesondere in den Ballungsräumen gerecht wird und möglicherweise eine Regelung im Zusammenhang mit der steuerfreien Nutzung des Wohneigentums zustande kommt.
({3})
- Ich komme ja zu Ihnen, Herr Müntefering. Ich werde mir nie erlauben, Sie zu vernachlässigen. Das glauben Sie doch nicht.
Wir wollen kein Gießkannenprinzip, wie Sie das im Gesetzentwurf vorgesehen haben. Sie wollen nämlich unabhängig von den Einkommensentwicklungen die Wohngelder rückwirkend zum 1. Januar 1984 sicherstellen.
({4})
Wir wollen soziale Gerechtigkeit für die Bedürftigen, und Sie wollen eine soziale Begünstigung gerade derjenigen, die Ihnen in das Konzept passen. Zwischen diesen beiden Standpunkten besteht ein großer Unterschied.
Der Gesetzentwurf wird der Wohngeldentwicklung voll gerecht.
({5})
Wir haben aus dem Wohngeldbericht entnehmen müssen, daß der Prozentsatz für Erwerbslose, also Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, um 22 Punkte gestiegen ist, wogegen bei den Erwerbstätigen der Rücklauf bei etwa 12 % liegt.
Nötig hätten die Sozialdemokraten - das lassen Sie mich einmal kritisch sagen - ein Sicherungsgesetz für die Mieter der Neuen Heimat,
({6})
egal ob sie Wohngeldempfänger sind oder nicht. Ich habe festgestellt, daß in der Bundesrepublik Deutschland eine ungute Entwicklung über die Bühne geht: Vom Norden bis zum Süden werden Tausende Wohnungen hinter dem Rücken der Mieter und ohne Rücksicht auf Mieterschutzbestimmungen verkauft. Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang einmal etwas zitieren, was Sie möglicherweise zum Nachdenken bringt.
Überschrift aus der „Hildesheimer Zeitung": „Das ist unerträglich." Da schreibt jemand:
Es handelt sich um Mieter, die schon seit langem in diesen Wohnungen sind. Es sind zu einem hohen Prozentsatz Beschäftigte der Bosch-Werke und damit Mitglieder der IG Metall.
Meine Annahme ist wohl richtig, daß die jetzigen Mieter keinerlei Schutz haben, d. h. die neuen Eigentümer können unmittelbar nach Vollzug des Vertrages mit dem Verkauf der Wohnungen beginnen. Weiter:
Die nachträgliche Information, die ... in Gang
gebracht wurde und mir zugekommen ist, ist
das einzige, was an Selbsthilfe übrigblieb. Ich kann diese Verhaltensweise der Neuen Heimat auch als Mitglied des DGB-Bundesvorstandes weder billigen noch verstehen.
Diese Zeilen stammen von dem hochgeschätzten Herrn Kollegen Rappe; damit Sie keine Zweifel daran haben.
In der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" steht: „Neue Heimat verkaufte hinter dem Rücken der Mieter". Das geschah trotz gegenteiligen Versprechens an die Mieterversammlung.
({7})
Ich glaube, es stünde Ihnen gut an, wenn Sie sich einmal um dieses Problem kümmerten, statt wider besseres Wissen eine Verunsicherung weiter Kreise der Bevölkerung zu betreiben.
({8})
- Ich habe leider nur sechs Minuten Redezeit und muß zum Schluß kommen.
Herr Abgeordneter, es ist aber bei einer so kurzen Redezeit möglich, die fragliche Zeit nicht angerechnet zu bekommen, wenn es sich um eine kurze Frage und eine kurze Antwort handelt. Sind Sie trotzdem nicht bereit?
Aber sicher; wenn Sie mir, Herr Präsident, in Ihrer toleranten Art das nicht anrechnen.
Das geschieht. Grünbeck ({0}): Ich danke Ihnen.
Bitte, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Kollege, Sie haben doch gerade unseren Kollegen Rappe zitiert. Ist das nicht ein Beweis dafür, daß wir uns darum kümmern?
({0})
Ich muß Ihnen aber ausdrücklich sagen: Der Herr Kollege Rappe hat das nicht auf einem SPD-Briefbogen geschrieben, sondern in seiner Eigenschaft als DGB-Vorstandsmitglied.
({0})
Herr Kollege Lutz, unabhängig davon: Es stünde Ihnen gut an, wenn Sie sich darum kümmerten. Ich würde das begrüßen.
Das Wohngeld ist für uns - ich betone das abschließend noch einmal - ein Instrument der sozialen Abfederung. Wir haben das bei der Wohngelddebatte sehr ausführlich begründet; ich brauche das nicht zu wiederholen.
Meine Damen und Herren, in Anbetracht der Entwicklung der gesamten Mieten- und Wohngeld-situation kann man, glaube ich, sagen, daß die Subjektförderung insgesamt ständig an Bedeutung gewinnt, daß die Fehlbelegung auf der anderen Seite aber auch beweist, daß es erforderlich ist, denen zu helfen, die auf unsere Hilfe wirklich angewiesen sind, statt jene zu begünstigen, die sich selbst helfen können.
({1})
Wir werden daher diesen Gesetzentwurf ablehnen. Wir bitten um Verständnis dafür. Ich würde mich sehr freuen, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie bei der Beratung der Wohngeldnovelle Ihre zweifellos vorhandene Sachkenntnis mit einbrächten.
({2})
Die FDP-Fraktion wird diesen Gesetzentwurf ablehnen.
({3})
Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Herr Dr. Schneider.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein Wort des Dankes an die Herren Kollegen Dr. Kansy und Grünbeck sagen. Ich bedanke mich aber auch bei Ihnen, Herr Kollege Waltemathe, und bei Ihnen, Herr Kollege Sauermilch. Die erstgenannten Kollegen haben in gewohnter Klarheit und Sachlichkeit meine Rede vorbereitet.
Bei dem Anhören Ihrer Rede, lieber Kollege Waltemathe, fiel mir das Wort der „Lustigen Person" im „Faust" ein: „In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit."
({0})
Es heißt allerdings weiter: „So wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut."
({1})
- Sie haben eine Stimmung auferbaut. Es gibt keinen Irrtum, in dem nicht ein Fünkchen Wahrheit wäre. Das ist ein theologisch zu begründender Satz.
Herr Kollege Sauermilch, Sie haben mir die Freude gemacht, der Bundesregierung zu bestätigen, daß sie über Ihre Ansätze und Erwartungen sogar noch hinausgegangen ist.
({2})
Das ist richtig, was die Summe des Vorhabens der Bundesregierung angeht. Aber was die GRÜNEN als Partei mit dem Wohngeld im Schilde führen, entnehme ich einem Gutachten im Auftrag der GRÜNEN, insonderheit in bezug auf die gemeinnützige Wohnungswirtschaft.
({3})
Ich habe dies - das ist meine Amtspflicht - auch studiert. Da heißt es:
An den Ergebnissen
- gemeint sind die Ergebnisse dieses Gutachtens wird sich die Parlamentsarbeit der GRÜNEN im Bereich der Wohnungspolitik orientieren.
Welches Ergebnis wäre das? Auf Seite 85 steht, daß die GRÜNEN natürlich alles anders machen wollen. Sie wollen „kommunale Baufonds" gründen. Es heißt dort:
Die öffentlichen Mittel kommen aus allgemeinen Haushaltstiteln, aus steuerlichen und sonstigen Ersparungen durch Wegfall der Eigentumsförderung
({4})
und der bisherigen Förderungen wie z. B. des Wohngeldes.
Also: Regierten die GRÜNEN, gäbe es überhaupt kein Wohngeld mehr.
({5})
- Also: Quod non est in actis, ... - aber ich hab's hier. Meine Damen und Herren, nun zur Sache: In einer Sache besteht - mit, wie gerade angeführt, Ausnahme der GRÜNEN - Übereinstimmung zwischen den hier vertretenen Fraktionen: Das Wohngeld ist das wichtigste Instrument der sozialen Absicherung jeder Wohnungspolitik, und die Wohngeldleistungen müssen verbessert und dürfen nicht nur gesichert werden.
Der von Ihnen vorgelegte Entwurf eines Wohngeldsicherungsgesetzes, meine Damen und Herren der Sozialdemokratischen Partei, ist der falsche Ansatzpunkt und wird der Bedeutung des Wohngeldes nicht gerecht. Für uns ist das Wohngeld unverzichtbarer Bestandteil der sozialen Wohnungsmarktwirtschaft. Wir werden das Wohngeld, wie bereits mehrfach betont, deshalb zum 1. Januar 1986 um 900 Millionen DM aufstocken. Das sind fast - die bisherige Zahl, die genannt worden ist, war falsch berechnet - 40 % gegenüber den Wohngeldleistungen ohne Novelle.
Aber wir verbessern die Situation der Wohngeldbezieher - ich bitte, Ihr Augenmerk darauf zu richten - auch bereits durch andere Maßnahmen entscheidend. Mit dem Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen vom 20. Dezember 1982 haben wir ein zusätzliches Wohnungsangebot angeregt. Mit dem Sofortprogramm vom Oktober 1982 haben wir einen Angebotsschub ausgelöst und endgültig einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt geschaffen - mit Ausnahme einiger Verdichtungsräume -, auf dem Mieter und Käufer eine Auswahl haben. Das ist die entscheidende soziale, wirtschaftliche Verbesserung für den Mieter.
Mit der Konsolidierungspolitik haben wir die Entwertung der Einkommen gestoppt. Die Preissteigerungsrate - ganz wesentlich für den Mieter
- ist auf 2,4 % zurückgegangen. Die durchschnittliche Mietsteigerungsrate ist - ich kann es Ihnen nicht ersparen, Herr Kollege Waltemathe, darauf noch einmal einzugehen; das nächste Mal lasse ich es dann sein - 1984 auf 3,8 % zurückgegangen,
({6})
im freifinanzierten Neubau sogar auf 3,2 %. Das sind Zahlen, die aus Wiesbaden kommen. Die verfügbaren Einkommen, die 1981 stagnierten, 1982 um 2,1 % und 1983 um 0,6 % gesunken sind, steigen wieder. Dies sind soziale Leistungen einer konsequenten marktwirtschaftlichen Politik der Bundesregierung unter Helmut Kohl.
Da wir außerdem die Wohngeldleistungen auf etwa 3,2 Milliarden DM erhöhen werden, wäre ein Wohngeldsicherungsgesetz zum jetzigen Zeitpunkt überflüssig und verfehlt.
({7})
- Ich weiß es. - Außerdem sind mit dem vorgeschlagenen Wohngeldsicherungsgesetz erhebliche Verwaltungsprobleme
({8})
und, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, Ungerechtigkeiten verbunden.
({9})
Ich begründe es. Da Mietsteigerungen bis zu 15% und Einkommenseinbußen bis zu 15 % nicht berücksichtigt werden, kann das Wohngeld infolge des SPD-Vorschlags in ungünstigen Fällen bis zu 60 DM niedriger sein als bei Wiederbewilligung.
({10})
- Dies ist exakt berechnet. Ich bin gern bereit, Ihnen, Herr Kollege Müntefering, das im einzelnen zu begründen. ({11})
Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe gestatten?
Bitte.
Herr Minister, unser Gesetzentwurf regt die Änderung von zwei Paragraphen an. Die eine Änderung besagt, daß derjenige, der 1984 Wohngeld erhielt, es unverändert weitererhalten soll. Die andere besagt, daß die Vorschriften, die das Wohngeld zugunsten eines Wohngeldberechtigten erhöhen würden, natürlich in Kraft bleiben. Das heißt, der Wohngeldberechtigte kann seinen Erhöhungsantrag selbstverständlich stellen, nur, er braucht keine Wohngeldkürzung hinzunehmen. Wenn Sie das alles gelesen haben, können Sie doch Ihre Behauptung nicht aufrechterhalten.
Ich habe das alles gelesen und kann somit die Behauptung aufrechterhal ten, lieber Kollege Waltemathe. Das ungünstige Ergebnis ist die Konsequenz der Gesetzesautomatik. Ich bin gern bereit, Ihnen diesen Beweis schriftlich zu liefern. Umgekehrt werden Haushalte ungerechtfertigt begünstigt, wenn das Einkommen zwischenzeitlich stark steigt, etwa nach kurzer Arbeitslosigkeit.
Die Wohngeldämter würden schließlich unmittelbar nach Inkrafttreten der Novelle mit einer Flut von Anträgen überschwemmt. Bisher verteilen sich die Anträge gleichmäßig über zwölf Monate.
({0})
Als Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben, meine Damen und Herren von der SPD, sind Sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Sie haben nicht geglaubt, daß sich der Bundesbauminister innerhalb der Bundesregierung mit einer Novelle zum 1. Januar 1986 und mit einer Erhöhung um 900 Millionen DM durchsetzen würde. Ich erinnere an Ihre August-Pressekonferenz, Herr Kollege Waltemathe. Es sei Ihnen geschenkt: Vergebung, Nachlaß der Sünden.
({1})
Die Erhöhung, die wir jetzt vorgeschlagen haben, liegt um 50 % über dem Volumen der letzten Novelle der sozialliberalen Koalition.
({2})
Was bedeutet das im einzelnen? Für den einzelnen Wohngeldempfänger erhöht sich das Wohngeld um durchschnittlich 42 DM monatlich. Dazu zwei Beispiele. Ein Einpersonenhaushalt in Bochum mit einer Rente von 870 DM und einer Miete von 310 DM erhält bislang 76 DM Wohngeld. Nach der Erhöhung erhält dieser Haushalt 108 DM an Wohngeld. Das Wohngeld steigt also um 32 DM. Die selbst zu tragende Miete sinkt von 27 auf 23% des verfügbaren Einkommens.
Ein Vierpersonenhaushalt in Freiburg mit einem Einkommen von 2 800 DM einschließlich Kindergeld und einer Miete von 645 DM erhält bislang 121 DM. Nach der Erhöhung erhält dieser Haushalt 228 DM. Das Wohngeld steigt also um 107 DM. Die selbst zu tragende Miete sinkt von 26 auf 21 % des verfügbaren Einkommens.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Müntefering.
Herr Minister, da Sie über Ihr vorgesehenes Gesetz wie über eine Alternative zu unserem Gesetzentwurf sprechen, frage ich: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir natürlich zum 1. Januar 1986, möglichst noch früher, eine Erhöhung des Wohngeldes in der Größenordnung wie Sie oder so ähnlich anstreben, daß wir aber zusätzlich vorher durch unser Wohngeldsicherungsgesetz nur für 1985 das weitere Absinken des Wohngeldes bis zum Inkrafttreten der Novelle verhindern wollen?
Nein. Ich darf Ihnen sagen, das Wohngeld orientiert sich unter anderem auch an der Höhe der Rente. Die Rentensteigerung des Jahres 1984 - und die ist zugrunde zu legen -vTar so gering, daß sie auf das Wohngeld keinen nennenswerten Einfluß nehmen kann.
Lassen Sie mich zum Ende kommen. Allein die beiden Beispiele zeigen auch die familienfreundliche Staffelung der Wohngeldleistungen. Die Anzahl der wohngeldberechtigten Haushalte wird durch die Novelle um etwa 10% auf 1,6 Millionen DM steigen. Die Höchstbeträge - auch das ist ganz wichtig - für Miete und Belastung werden durchschnittlich um 20 % angehoben.
({0})
Sie werden nicht mehr nach der Gemeindegröße, sondern nach Mietniveauklassen differenziert,
({1})
eine Entwicklung, die gerade bei uns in den Verdichtungsräumen zu außerordentlich glücklichen Steigerungen führen wird.
Für Wohnungen, die Mitte der 70er Jahre erstellt wurden, werden künftig Mieten bis zu 8,85 DM statt bisher bis zu 7,20 DM beim Wohngeld berücksichtigt. Die Einkommensgrenzen, bis zu denen ein Haushalt Wohngeld beziehen kann, werden um 20 % angehoben. Das bedeutet, ein Vierpersonenhaushalt kann bei entsprechend hoher Miete mit einem Bruttoeinkommen von 4 100 DM noch wohngeldberechtigt sein.
Mit dem Wohngeld wird zudem die Eigentumspolitik der Bundesregierung unterstützt. Ein Fünfpersonenhaushalt kann beispielsweise mit einem Einkommen bis zu 4 700 DM noch Lastenzuschuß erhalten. Der Zuschuß zu der Belastung durch den Bau oder den Erwerb eines Eigenheims ist besonders wichtig, wenn sich das Einkommen des Eigenheimerwerbers unerwartet verringert. Somit wird mit dem Lastenzuschuß ein Teil des Risikos des Eigenheimerwerbs aufgefangen.
Meine Damen und Herren, das Wohngeld ist ein Kernstück der Sozialpolitik. Die Erhöhung des Wohngeldes kommt zu mehr als 50 % Rentnern mit geringem Einkommen zugute. Die Renten sind seit Anfang der 70er Jahre wesentlich stärker gestiegen als die Arbeitsentgelte. 1971 lagen die Renten bei 54 % des Nettoarbeitsentgelts; 1984 machten die Renten bereits 65 % der Nettoarbeitsentgelte aus. Trotz der im Durchschnitt über mehrere Jahre kräftig gestiegenen Renten gibt es noch viele Haushalte, die mit einer sehr bescheidenen Rente auskommen müssen. Hier setzt das Wohngeld zielgenau an, weil nur einkommenschwache Haushalte berücksichtigt werden und vom gesamten Haushaltsein8778 Deutscher Bundestag - 10. Wahiperiode Bundesminister Dr. Schneider
kommen ausgegangen wird. Die Erhöhung des Wohngeldes bewirkt somit eine sozialpolitisch gezielte Entlastung der Rentnerhaushalte.
Ab 1. Januar 1986 wird erstmals das Wohnen mehrerer Generationen unter einem Dach besonders gefördert. Ältere Menschen, nämlich über 60jährige, die mit ihren Kindern und Enkelkindern, soweit diese über 25 Jahre alt sind, in einem gemeinsamen Haushalt leben, erhalten einen besonderen Freibetrag, durch den das monatliche Wohngeld um etwa 30 DM steigen wird.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen und stelle fest: Die Bundesregierung hält Wort.
({2})
Sie stellt die soziale Treffsicherheit der Wohnungspolitik wieder her, hilft gezielt den Rentnern,
({3})
gibt denen, die selbst bauen, Schutz und trägt auf ihre Weise eindrucksvoll zur Sicherung des sozialen Friedens in unserem Lande bei.
Vielen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/2140 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie zur Mitberatung und gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 33 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Hoss und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes ({0})
- Drucksache 10/2188 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes ({2})
- Drucksache 10/2706 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 33 a und b sowie ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein klares Wort zu Beginn: In dem freiheitlich-sozialen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland entscheiden die Tarifpartner über die Wochenarbeitszeit, und sie entscheiden darüber, an wie vielen Tagen in der Woche gearbeitet werden muß. Die Bundesregierung achtet die Tarifautonomie; sie wird sie auch in dieser Frage nicht einschränken.
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- Wer nämlich, lieber Kollege Reimann, die Wochenarbeitszeit in einem Arbeitszeitgesetz regeln will, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er greift in die Tarifautonomie ein - dieser Weg wird, wie gesagt, von der Bundesregierung nicht beschritten -, oder er achtet die Tarifautonomie; dann könnte im Arbeitszeitgesetz nur das nachvollzogen werden, was die Tarifpartner vorher vereinbart haben. Das aber macht ganz offensichtlich keinen Sinn, denn dann müßte dieses Haus immer dann mit einer Änderung des Arbeitszeitgesetzes befaßt werden, wenn das jeweils langsamste Schiff unter den Tarifpartnern vertraglich die Wochenarbeitszeit verkürzt. Das wäre Beschäftigungstherapie, aber die Bundesregierung mutet diesem Hohen Hause Beschäftigungstherapie nicht zu.
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Welche Aufgabe hat das Arbeitszeitgesetz? Es hat die Aufgabe, Normen festzulegen, wie die tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit auf die einzelnen Arbeitstage verteilt werden kann, ohne daß die Gesundheit des Arbeitnehmers beeinträchtigt wird. Dieser Aufgabe wird der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung voll gerecht.
Ich will diese Grundposition noch einmal bekräftigen. Der Staat hätte nur dann das Recht, die Wochenarbeitszeit gesetzlich festzulegen, wenn die Tarifpartner eine Wochenarbeitszeit vereinbaren würden, die gesundheitsschädlich wäre. Von einer 40-Stunden-Woche als Regel kann aber beim besten Willen nicht behauptet werden, sie gefährde die Gesundheit der Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren, das neue Arbeitszeitgesetz ist auch ein Stück Demokratisierung unserer Vorschriftenlandschaft. Es beendet die Geltung der Arbeitszeitordnung von 1938, die gedanklich und sprachlich nationalsozialistische Elemente beinhaltet. Arbeitnehmer sind keine Gefolgschaftsmitglieder eines Betriebsführers, und der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ist nicht der Reichstreuhänder der Arbeit. Meine Damen und Herren, auch unsere Sprache, vor allem die Gesetzessprache, muß unsere demokratische Gesinnung ausParl. Staatssekretär Vogt
drücken. Schon wegen dieser Entrümpelung ist dieses Gesetz wichtig.
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Das Arbeitszeitgesetz ist aber auch eine rechtstechnische Entrümpelung. Es setzt 22 Verordnungen und 7 Gesetze außer Kraft. Es ist damit ein beachtlicher Schritt in Richtung Entbürokratisierung.
Meine Damen und Herren, wir konzentrieren uns auf den Gesundheitsschutz. Das Gesetz legt gesundheitlich notwendige Grenzen für die höchstzulässige tägliche Arbeitszeit, für Mindestpausen, für Mindestruhezeiten und für einen Ruhetag in der Woche fest. Dabei geht dieses Gesetz von einer Regelungskaskade aus. Der Gesetzgeber konzentriert sich auf übersichtliche und am Gesundheitsschutz orientierte Grundnormen für die Arbeitszeit und für die arbeitsfreien Zeiten. Die Ausfüllung und Anpassung dieser Grundnormen an die Notwendigkeiten des Arbeitslebens in einem gesundheitlich vertretbaren Rahmen erfolgt durch die Tarifvertragsparteien; denn die Sozialpartner, meine Damen und Herren, können Regelungen besser finden als der Gesetzgeber, weil sie die nötige Praxiserfahrung haben; denn sie sind näher am Ort. Wir weisen damit den Tarifpartnern zusätzliche Verantwortung zu, geben ihnen auch zusätzliche Regelungsbefugnisse. Wir achten die Tarifautonomie nicht nur, sondern stärken sie auch, indem wir den Tarifpartnern mehr Rechte und mehr Kompetenzen geben.
Dieses Konzept des Arbeitszeitgesetzes ist dynamisch und anpassungsfähig. Tarifverträge haben keine Ewigkeitsgeltung. Sie werden auf Zeit abgeschlossen. Insofern ist in sie eine Überprüfung eingebaut. Der Gesetzgeber arbeitet hingegen mit Normen, die zumindest für ein Jahrzehnt oder darüber hinaus gelten sollen. In einer sich ständig verändernden Arbeitswelt klaffen dann aber Ansprüche und Wirklichkeit schnell auseinander. Der Gesetzgeber läuft ständig hinter der sozialen Wirklichkeit her, wodurch Lücken im Schutz der Arbeitnehmer entstehen.
GRÜNE und SPD wetteifern in ihren Entwürfen um die größte Praxisferne. Der sozialdemokratische Vorschlag wurde im Parlament bereits abgelehnt. Aber die GRÜNEN haben aus der damals geführten Diskussion nichts gelernt. Sie wollen die Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche starr begrenzen. Ganze zwei Überstunden sollen zulässig sein, wenn es eine entsprechende tarifliche Vereinbarung gibt.
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Das trägt die Handschrift von Theoretikern. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe können mit solch starren Kontingentierungen nicht leben. Bei Auftragsspitzen, kurzen Lieferfristen oder plötzlichen, krankheitsbedingten Personalengpässen brauchen die Betriebe die notwendige Luft.
Der Abbau arbeitsmarktpolitisch schädlicher Überstunden muß vor allem durch die Tarifpartner erfolgen. Die Bundesregierung begrüßt deshalb ausdrücklich den Appell des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Ernst Breit, und des Präsidenten der BdA, Otto Esser, an Betriebe, an Betriebsräte, an Arbeitgeber, Neueinstellungen den Vorrang vor Überstunden zu geben.
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Die Bundesregierung hofft im Interesse der Arbeitslosen, daß dieser Appell auf fruchbaren Boden fällt.
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Ich will die Arbeitszeitgrundnormen des Gesetzes in Stichworten nennen.
Erstens. Das Arbeitszeitgesetz regelt den Grundsatz eines Acht-Stunden-Tages an Werktagen. Das entspricht der von der Arbeitsmedizin entwickelten Faustregel für die tägliche Arbeitszeit: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf.
Der Acht-Stunden-Tag ist jedoch kein starres Korsett. Das Arbeitszeitgesetz sieht die Möglichkeit einer anderen, einer variablen Verteilung bis zu zehn Stunden vor, falls innerhalb eines Ausgleichszeitraums von vier Monaten im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
Zweitens. Die Mindestruhepausen während der Arbeit betragen bei einer Regelarbeitszeit von sechs bis neun Stunden dreißig Minuten täglich. Diese Pausenregelung gilt für Männer und Frauen einheitlich.
Drittens. Zwischen Beendigung und Wiederaufnahme der Arbeit müssen Mindestruhezeiten von 11 Stunden eingehalten werden.
Für die Abweichung von diesen Grundnormen sind die Tarifvertragsparteien zuständig. Sie können aber diese Aufgaben unter bestimmten Voraussetzungen an die Betriebspartner delegieren. Beispielsweise kann ein kürzerer oder längerer Ausgleichszeitraum festgelegt werden, und Mindestruhepausen und Mindestruhezeiten können an einzelne Beschäftigungsbereiche angepaßt werden.
Die Wochenarbeitszeit wird, wie gesagt, durch das Arbeitszeitgesetz nicht geregelt. Falls aber ausnahmsweise der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer etwa bei ständiger Nachtarbeit eine Regelung der Wochenarbeitszeit verlangt, ist das durch Erlaß einer Rechtsverordnung möglich.
Das neue Gesetz wird es ermöglichen, daß die Arbeitszeit stärker atmen kann, als es bisher üblich war. Wir werden zu neuen, flexiblen Arbeitsrhythmen kommen. Die starre, für alle gleiche Arbeitszeit verliert an Bedeutung. Es werden individueller gestaltete, an den Wünschen der Arbeitnehmer orientierte und auf die betrieblichen Bedürfnisse abgestimmte Regelungen Boden gewinnen. Der Sonntag aber
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soll von dieser Flexibilität ausgenommen werden. Dafür sprechen einerseits religiöse Gründe, andererseits aber auch familien- und sozialpolitische Erfordernisse. Bei aller Flexibilisierung soll verhindert werden, daß sich die Familien bei weitgehend flexibilisierter Arbeitszeit nur noch an der Bushaltestelle treffen. Die Möglichkeit sozialer Kommunikation in den Familien darf und soll nicht zerstört werden.
Das Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen wird deshalb auf alle Beschäftigungsbereiche ausgedehnt. Allerdings bleiben die Ausnahmen vom grundsätzlichen Beschäftigungsverbot auch im bisherigen Umfang erhalten. Sie werden aber an die Entwicklung der letzten fast 100 Jahre angepaßt. Bisher gab es an Sonn- und Feiertagen keine Höchstarbeitszeiten. Künftig gelten die allgemeinen Obergrenzen von zehn Stunden. Mindestens ein Sonntag im Monat muß auch für Sonntagsarbeiter frei bleiben. Außerdem: Wer am Sonntag arbeitet, erhält einen gesetzlichen Ersatzruhetag im folgenden Monat.
Der Blick auf diese Details zeigt: Es gibt eine Reihe wichtiger Verbesserungen.
Neben dem Arbeitsschutz und dem Grundsatz der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen ist der Frauenarbeitsschutz ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzes. Hier gibt es einige heute kaum mehr verständliche Relikte, die sich in der Praxis gegen die Frauen auswirken. In einigen Fällen hat ein traditionelles Rollenbild Frauen den Zugang zu Berufen verwehrt. Unser Grundsatz lautet: Verbote der Beschäftigung von Frauen sind nur dort gerechtfertigt, wo geschlechtsspezifische Unterschiede dies erzwingen. Deshalb bleiben die Verbote der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen unter Tage und für bestimmte Arbeiten in Kokereien, an Hochöfen und in Stahlwerken sowie in Metallhütten bestehen. In seinem Kern bleibt auch das Verbot der Nachtarbeit von Arbeiterinnen erhalten. Arbeitsmediziner aber bestätigen uns, daß wir im Bauhauptgewerbe eine entscheidende Auflockerung wagen dürfen, nach einer ärztlichen Untersuchung. Auch sonstige nicht geschlechtsspezifisch notwendige Verbote und Beschränkungen werden aufgehoben, beispielsweise die besonderen höchstzulässigen Arbeitszeiten für Frauen, die Hausarbeitstagsgesetze und die Verordnung über die Beschäftigung von Frauen auf Fahrzeugen.
Meine Damen und Herren, das Arbeitszeitgesetz ist ein modernes Normenwerk, weil es den Beteiligten Handlungs- und Regelungskompetenzen beläßt. Es bedeutet eine Selbstbeschränkung des Gesetzgebers vor allem auf die Fragen und Aufgaben des Gesundheitsschutzes. Es ist auf Kooperation der Sozialpartner angelegt. Damit dient dieses Gesetz auch dem sozialen Frieden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem Bundestag liegen jetzt zwei Entwürfe zur Arbeitszeitregelung zur Beratung vor. Es ist völlig klar, daß diese beiden Entwürfe an der Situation, in der sich die Wirtschaft, in der sich die Arbeitswelt der Bundesrepublik befindet, gemessen werden müssen. Nach den Anstrengungen, die die Bundesregierung macht, dem Wachstum nachzulaufen und weiterhin in steigendem Wachstum Möglichkeiten zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu finden, gibt es weithin schon Überlegungen, die Wachstumsraten zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit nicht mehr für gegeben ansehen. Man geht davon aus, daß man in den verschiedensten Bereichen neue Strategien braucht, um der Probleme Herr zu werden. Ich halte es für wichtig, in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, daß neben den 2,1 Millionen Arbeitslosen in den Jahren 1983/ 84 insgesamt 540 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik weniger vorhanden sind. Diese Zahl wird meist übersehen. Es ist völlig klar, daß ein Arbeitszeitgesetz diese eminenten Fakten unserer wirtschaftlichen Entwicklung zu berücksichtigen hat. Ich sehe die Aufgabe eines Arbeitszeitgesetzes nicht nur darin - wie es der Parlamentarische Staatssekretär Vogt beschrieben hat -, einfach allgemeine Regelung zu geben, sondern ich glaube schon, daß es steuernde Elemente vom Gesetzgeber her geben muß.
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Die beiden Entwürfe möchte ich in der Kürze der Zeit an einigen Punkten vergleichend gegenüberstellen.
Erstens stellt sich die Frage der Überstunden. Wir haben 1983 und 1984 jeweils zwei Milliarden Überstunden gehabt. Zwei Milliarden Überstunden entsprechen Arbeitsplätzen von einer Million Menschen, die acht Stunden täglich arbeiten. Es ist völlig klar, daß eine Arbeitszeitregelung, wenn sie nicht praxisfern sein soll, diese Tatsache berücksichtigen muß. Diese Tatsache berücksichtigt Ihr Entwurf nicht, weil die Regelungen zur Festschreibung einer Arbeitszeit auf 40 Stunden mit vielen Ausnahmeregelungen, mit mehr Ausnahmeregelungen, als wir sie in der alten Arbeitszeitordnung haben, es ermöglichen, die Zahl der Überstunden noch weiter auszudehnen, geschweige denn sie einzuengen. Ich glaube, wenn es notwendig ist, ein Arbeitszeitgesetz hier vorzulegen, dann das praxisnahe, das die GRÜNEN gemacht haben. Unser Entwurf berücksichtigt den Fakt der Überstunden. Überstunden sollen als eine volkswirtschaftlich unerwünschte Erscheinung festgehalten und erschwert werden. Deshalb kommen wir dazu, zu sagen: Wir schreiben die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden fest und genehmigen nur in streng definierten Ausnahmefällen das Abfahren von Überstunden. Die sollen nur bei unvorhergesehenen Ereignissen, Notfällen, Katastrophen möglich sein, in keinem Falle aber zur Ausweitung der Produktion, zur Vergrößerung des Wachstums.
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Herr Abgeordneter Hoss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Wenn sie nicht von meiner Zeit abgeht, j a.
Das können wir machen, wenn sie kurz ist.
Herr Kollege Hoss, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die Überstunden als Instrument der Flexibilität, der Anpassung an die jeweilige Auftragslage erforderlich sind, auch weiterhin,
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und würden Sie ferner zustimmen, daß die Zeitverträge, die die Bundesregierung in Aussicht genommen hat - und die auch Sie fordern -, dem gerecht werden?
Ich gebe Ihnen zu, daß die Überstunden für die Firmen ein gewisses Moment der Flexibilität darstellen, eine Möglichkeit, auf Produktionsschwankungen zu reagieren. Aber es gibt da Grenzen, und diese Grenzen muß der Gesetzgeber festlegen.
Nach Ihrem Vorschlag soll die Begrenzung bei 50 Stunden liegen. Die halten die Unternehmer im wesentlichen ein. Wir könnten die Grenze auf 40 Stunden heruntersetzen, und ich bin sicher, daß sich die Direktionen, die heute über Computer zur Regelung der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeiten verfügen, auch auf diese Grenze einstellen und sie auch einhalten.
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Das Wesentliche - und das übersehen Sie - ist folgendes - und das ist nicht nur eine theoretische Frage -: Es geht darum, daß wir 1,2 Millionen Arbeitslose haben, die 55 Milliarden DM in jedem Jahr kosten, und daß allein ein Runterfahren der Überstunden auf die Hälfte durch unsere Arbeitszeitregelung - dann bliebe noch genügend Spielraum für Flexibilität - Arbeitsplätze für mindestens 250 000 Arbeitnehmer bedeutete. Das ist eine Frage, der Sie hier nicht ausweichen dürfen. Wir werden nicht zulassen, daß sie außerhalb der Diskussion bleibt.
({1}) Das als Antwort auf Ihre Frage.
Ich komme jetzt wieder zu meinem Text. Es ist notwendig, daß auch der Gesetzgeber einen Hinweis in Richtung der gewerkschaftlichen Arbeit, in Richtung einer allgemeinen Auffassung von Arbeitspolitik gibt. Wir können als Faktum nur festhalten, daß es den Gewerkschaften und den Betriebsräten bis heute nicht gelungen ist, sich davon freizumachen, daß sie in einen Konkurrenzkampf des einen Unternehmens gegen das andere eingebunden sind. Wir erfahren z. B. in der Automobilindustrie, daß die Opel-Arbeiter Sonderschichten fahren, wenn ihnen gesagt wird: Wir müssen das wegen des Marktes machen, daß das die DaimlerArbeiter machen, daß das die BMW-Arbeiter machen. Sie werden, eingebunden in den Konkurrenzkampf des jeweiligen Unternehmens, in die Überstunden reingezwungen. Hier muß der Gesetzgeber eingreifen, weil dem die Arbeitslosigkeit gegenübersteht. Deshalb ist es wichtig, daß wir zu dieser Frage vom Bundestag her klare Aussagen machen.
({2}) So weit die Überstundenproblematik.
Die zweite Frage ist die der Flexibilisierung. Herr Staatssekretär Vogt, die Flexibilisierung wird immer unter dem Gesichtspunkt gesehen, daß eine größere Flexibilität für die Unternehmen im Hinblick auf die Gestaltung ihres Produktionsapparates herbeigeführt werden soll. Das würde, wenn man dem weiter nachgäbe, zu einer Situation führen, in der die Arbeitnehmer immer weniger Möglichkeiten hätten, flexibel zu sein. Je mehr die Unternehmen atmen können, desto weniger könnten die Arbeitnehmer atmen. Sie wären in ihren Möglichkeiten eingeengt, über ihre Zeit zu verfügen.
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Das ist das Problem, dem sich die Arbeitszeitordnung zu widmen hat und dem wir nicht ausweichen können.
Wenn man Ihren Ausnahmeregelungen nachgeht, stellt man fest, daß sie zu weiteren tiefen Eingriffen in die Zeitplanung von Arbeitnehmern und ihren Familien führen. Ich denke, wir sollten den Begriff der Flexibilisierung mehr in Richtung der Verfügungsmöglichkeiten, die Arbeitnehmer über die Zeit haben, verstehen, wobei natürlich auch die Interessen der Unternehmen zu berücksichtigen wären. Da macht unser Gesetzentwurf ganz konkrete Vorschläge.
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Wir gehen davon aus, daß Verkürzung der Arbeitszeit nicht nur durch kollektive Verkürzung der Wochenarbeitszeit und, was sehr problematisch ist, durch die Verkürzung der Lebensarbeitszeit - die Leute können die Betriebe heute schon mit 58 Jahren verlassen - stattzufinden hat, sondern, daß Arbeitszeitverkürzung auch durch spezielle Regelungen innerhalb des Arbeitslebens stattfinden kann und muß. Dadurch könnten Entlastungen eintreten, und die Arbeitnehmer würden nicht so in das Zeitregime der einzelnen Betriebe gezwängt werden, sondern Möglichkeiten haben, für sich selbst, für ihre Familien Dinge außerhalb der harten Erwerbsarbeit zu tun.
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Wir haben Vorschläge gemacht, die in diese Richtung gehen. Wir sind gegen die stärkere Anbindung an die Maschinensysteme, die vor sich geht.
Wir sind für mehr Freimöglichkeiten während der Arbeitszeit. Bei einem Vier-Stunden-Tag z. B. sollten zehn Minuten persönliche Verfügungszeit gewährt werden. Das schlägt arbeitsmarktpolitisch zwar nur minimal zu Buche, aber immerhin. Wir wollen wegen des zunehmenden Mangels an Kom8782
munikation innerhalb des Betriebes - es gibt immer weniger Menschen in den Werkshallen; die Leute können kaum noch miteinander reden, weil sie an die Maschinen angebunden sind - die Möglichkeit eröffnen, pro Woche eine Stunde kollektive Verfügungszeit zu gewähren, damit die Leute einmal miteinander über ihre Arbeitssituation reden können. Diese Zeit soll auf Antrag, wenn ein Bedürfnis dafür besteht, gewährt werden.
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- Da brauchen Sie gar nicht zu lachen, meine Damen und Herren von der FDP, denn von diesen Problemen der Arbeitnehmer in den Fabriken haben Sie wahrscheinlich die wenigste Ahnung.
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Wir machen Vorschläge in Richtung auf eine bezahlte freie Verfügungszeit. Wenn z. B. im Hausstand wohnende Familienangehörige erkranken, soll eine bezahlte Freistellung bis zu fünf Tagen und, wenn das wegen der Schwere der Erkrankung nicht ausreicht, von weiteren 15 Tagen erfolgen.
Nach unserem Gesetzentwurf sollen die Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit erhalten, sich - bei Garantie der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses - auf eigene Kosten von der Arbeit im Betrieb freistellen zu lassen. Ein Arbeitnehmer sollte z. B. die Möglichkeit erhalten, sich auf Antrag innerhalb von sechs Jahren ein halbes Jahr freistellen zu lassen, damit er sich eigenen Belangen widmen kann, sei es, daß er Eigenarbeit leisten möchte, etwa indem er an seinem Eigenheim arbeitet - wir hatten ja vorhin mit Wohnungsfragen zu tun -, sei es, daß er reisen möchte, oder sei es, daß er - das gilt insbesondere für junge Menschen - etwas für seine Bildung tun möchte. Dies wird arbeitsmarktpolitisch zu Buche schlagen; es führt zu Neueinstellungen.
Unser Gesetzentwurf sieht z. B. auch bei der Kindererziehung die nötigen Befreiungen aus dem Arbeitsleben - ohne Verlust des Arbeitsplatzes - vor. Nach unseren Vorstellungen sollen insgesamt drei Jahre für die Kindererziehung in Anspruch genommen werden können. Wir sehen dabei die Möglichkeit der Teilung vor. Mann und Frau sollen je eineinhalb Jahre bekommen können.
Ich finde es widersprüchlich, wenn Sie auf der einen Seite über Familienminister Geißler verkünden lassen, daß Sie ab 1986 Geld für die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten - 10 Monate - zur Verfügung stellen wollen, aber auf der anderen Seite in dem vorliegenden Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes keine Regelung vorsehen, die garantiert, daß man zehn Monate aus dem Betrieb herauskann, ohne den Arbeitsplatz zu verlieren.
Herr Abgeordneter - Hoss ({0}): Ich werde jetzt ermahnt, zu Ende zu kommen. - In dem Entwurf sind natürlich noch mehr Vorschläge enthalten. Er ist wohldurchdacht; er ist praxisnah, er ist mit allen möglichen Leuten aus dem Arbeitsrecht abgesprochen; wir haben mit den Gewerkschaften gesprochen, und wir haben mit den Kirchen gesprochen. Ich kann nur empfehlen, diesen Gesetzentwurf zu einem Arbeitszeitgesetz mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu studieren.
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Das Wort hat der Abgeordnete Pohlmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unternehmen hier im Plenum des Deutschen Bundestages jetzt den dritten Anlauf, die Arbeitszeitfrage neu zu regeln. Ich bin überzeugt, daß wir diesmal nicht beim Anlauf steckenbleiben, sondern daß wir am Ende unserer Beratungen ein modernes, zeitgemäßes neues Arbeitszeitgesetz bekommen werden.
Wir halten es für notwendig. Ich freue mich, daß wir alle in diesem Hause uns darüber einig sind, daß die Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 geändert werden muß, und zwar nicht nur aus sprachlichen Gründen, sondern auch aus konzeptionellen Gründen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich kann Ihnen jedoch nicht den Vorwurf ersparen, daß wir das ja schon längst hätten haben können. Sie haben 13 Jahre Zeit gehabt, um die Arbeitszeitordnung neu zu regeln.
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Sie sollten hier die Schuld nicht allein der FDP zuschieben. Sie sind gescheitert, weil Sie nicht bereit waren, von Ihrer Zielvorstellung abzugehen, das Arbeitszeitgesetz zu einem Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu machen.
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Sie wissen, daß die FDP - Ihr damaliger Koalitionspartner - und wir als damalige Opposition eben die Aspekte des Arbeits- und des Gesundheitsschutzes in den Vordergrund gestellt haben. Sie sind letztlich gescheitert, weil Sie von Ihrer Grundkonzeption, nämlich daß der Staat alles besser machen könne, nicht abgewichen sind, weil Sie alles per Gesetz regeln wollten, weil Sie alles reglementieren wollten und damit natürlich auch Gefahr liefen, eine Fülle von Ausnahmefällen regeln zu müssen.
Wir begrüßen, meine Damen und Herren, die jetzige Vorlage durch die Bundesregierung. Wir begrüßen sie insbesondere in ihrer Grundkonzeption. Wir halten diesen Ansatz für richtig. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland die Tarifautonomie. Sie ist Bestandteil unserer freiheitlichen Ordnung.
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Da liegt es natürlich auch nahe, daß wir uns als
Gesetzgeber eben auf die Rahmenbedingungen beschränken, daß wir im übrigen aber die TarifverPohlmann
tragsparteien bei der Arbeitszeitgestaltung wieder in ihre Rechte einsetzen. Wir wollen die Tarifvertragsparteien in die Pflicht nehmen. Das ist sicherlich manchmal lästig; denn das Geschäft dieser Tarifvertragsparteien - das wissen Sie alle - ist oft mühsam. Da gibt es viele, die viel lieber alle die Konflikte durch den Gesetzgeber geregelt wissen wollen,
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und zwar auf der Gewerkschafts- wie auf der Arbeitgeberseite. Verantwortung zu übernehmen ist nämlich im Regelfall niemals bequem. Trotzdem müssen wir hier den Tarifvertragsparteien klarmachen, daß das, was sie aus sich heraus lösen können, sie auch lösen müssen. Da muß sich der Staat heraushalten.
Das ist genau die Kernfrage, vor der wir stehen und die wir unterschiedlich beurteilen, nämlich die Kompetenzverteilung zwischen Staat und Tarifpartnern. Wir sind in der Tat der Auffassung, daß die Tarifvertragsparteien das wesentlich besser, wesentlich flexibler lösen können, daß sie wesentlich besser auf die strukturellen, betrieblichen und branchenmäßigen Bedürfnisse eingehen können, als es der Gesetzgeber kann.
Wenn Sie hier Bedenken haben, wenn Sie immer wieder Sorgen vortragen, daß mit der Arbeitszeit nun alles schlechter werden würde, dann muß ich Ihnen entgegenhalten, daß Sie den Tarifvertragsparteien und insbesondere natürlich den Gewerkschaften im Grunde ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Das ist nicht unsere Position. Wir sind davon überzeugt, daß auch in Zukunft die Tarifvertragsparteien die Fragen der Arbeitszeit gut und vernünftig regeln werden.
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Nun haben Sie, Herr Hoss, wieder die Frage der Überstunden angesprochen. Sie hat auch in früheren Reden hier im Deutschen Bundestag eine große Rolle gespielt. Sie machen das sehr schematisch. Da haben Sie irgendwie eine Durchschnittszahl von 1,5 Überstunden im Kopf, die in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden, so daß Sie also eine Obergrenze festsetzen müssen, wobei Sie aber nicht berücksichtigen, daß es in den Betrieben doch durchaus anders vor sich geht, daß dort flexibler gearbeitet werden muß, daß es viele Gründe gibt, warum teilweise Überstunden geleistet werden müssen.
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Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Hoss: Gehen Sie doch einmal in den Betrieb hinein! Hören Sie sich das doch einmal im Betrieb an, und tragen Sie das, was Sie hier vortragen wollen, auch einmal in die
Betriebe hinein! Sie werden eine entsprechende Reaktion bekommen.
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Nehmen Sie sich auch noch einmal den IG-Metall-Tarifvertrag zur Hand, und lesen Sie einmal nach, wie großzügig dort die Überstundenfrage geregelt worden ist, eben auch aus den Gründen der Flexibilität. Wenn schon die Gewerkschaften das wollen, Herr Hoss, dann sollten wir hier doch nicht versuchen, als Gesetzgeber starre Reglementierungen vorzunehmen.
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Starre Reglementierungen sind nach meiner Auffassung in ihrer Wirkung nicht beschäftigungsfördernd, sondern sie werden mit Sicherheit beschäftigungshemmend sein.
Wir begrüßen, meine Damen und Herren, daß es der Bundesregierung gelungen ist, den Entwurf nicht zu überfrachten; das hatten wir ja bei den anderen Entwürfen der bisherigen Arbeitsminister der damaligen Koalition. Sie waren überfrachtet, sie waren damit unübersichtlich und haben deswegen auch eine Menge Kritik erfahren müssen.
Wir begrüßen, daß hier generelle Probleme des Arbeitsschutzes ausgeklammert sind, weil sie nicht hineingehören, soweit sie nicht in einer engen Verflechtung zur Arbeitszeitregelung stehen.
Wir begrüßen auch die beachtlichen Änderungen beim Frauenarbeitsschutz. Einerseits gibt es für Arbeitnehmerinnen nach wie vor spezifische Zusammenhänge zwischen Arbeitszeitregelungen und insbesondere auf die Frauen zugeschnittenen Arbeits- und Gesundheitsregelungen, andererseits geht es aber auch darum, spezifische Einengungen bei den Arbeitszeitregelungen für Frauen nach der Arbeitszeitordnung von 1938 abzubauen. Wir halten einen Abbau dann für notwendig, wenn sich die Einengungen ohne sachliche Rechtfertigung als für die Frauen diskriminierend in der Ausübung des Berufes und damit letzten Endes auch hinsichtlich der beruflichen Wahlfreiheit und Ausbildungschancen auswirken. Nehmen Sie beispielsweise die Tochter eines Bauhandwerksmeisters. Sie wird in Zukunft eine Ausbildung machen können, und sie erhält damit eine Chance, später einmal den väterlichen Betrieb zu übernehmen.
Die Bundesregierung hat uns einen ausgewogenen Entwurf vorgelegt. Ich meine, daß wir uns auch beim Bundesrat bedanken sollten. Hier sind mit großer Sachkompetenz Vorschläge erarbeitet worden, denen die Bundesregierung nach sorgfältiger Prüfung zugestimmt hat oder bei denen eine weitere Prüfung zugesagt wurde. Sicherlich bleiben auch hier noch einige Punkte offen. Ich denke z. B. an den besonders kritischen Punkt des Ausmaßes der Zulassung von Sonn- und Feiertagsarbeit.
Lassen Sie mich dazu noch eine Bemerkung machen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht grundsätzlich voll hinter dem Anliegen der Bundesregierung, die Zulassung von Sonn- und Feiertagsarbeit auf zwingend notwendige Arbeiten zu be8784 -
schränken, von Gründen des Gemeinwohls abhängig zu machen, dabei auch den Bedürfnissen der Bevölkerung nach Gestaltung ihrer Freizeit an Sonn- und Feiertagen Rechnung zu tragen. Der Bundesrat will hier eine Änderung bei den hochmechanisierten und automatisierten Betrieben. Ich meine, daß wir diese Frage sehr sorgfältig überlegen sollten, daß wir auch durch die Sachverständigenanhörung vielleicht noch eine Menge an Aufhellung bekommen werden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den wir beachten sollten. Ich möchte aber, damit hier kein Mißverständnis aufkommt, keinesfalls den Vorrang des grundsätzlichen Verbots der Sonn- und Feiertagsarbeit im Bereich der industriellen Produktion in Frage stellen.
Niemand kann aber bestreiten, daß es hier Grenzsituationen gibt, und über diese Grenzsituationen müssen wir sprechen. Wir sollten ohne Emotionen darüber sprechen, ob nicht auch Sonntagsarbeit zumutbar sein kann, wenn nur ganz wenige Beschäftigte für wartende, steuernde und überwachende Tätigkeit eingesetzt werden müssen und bei vernünftiger Aufteilung der Sonntagsarbeit jeder im Einzelfall Betroffene nur an ganz wenigen Sonntagen im Jahr zur Arbeit müßte.
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Weitere wichtige Aspekte des Arbeitzeitgesetzes kann ich hier jetzt nicht behandeln. Lassen Sie mich nur ein paar ganz wenige Sätze zu dem Entwurf der GRÜNEN sagen. Mir fällt dazu an sich ganz wenig ein. Viele Vorschläge sind so utopisch, daß es sich nicht lohnt, sich mit ihnen im einzelnen auseinanderzusetzen. Dieser Entwurf zeichnet sich nach meiner Auffassung durch Praxisfremdheit und Überbürokratisierung aus.
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Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß dieser Entwurf bei irgendeiner anderen Fraktion dieses Hauses eine Zustimmung erfährt.
Meine Damen und Herren, wir werden in eine sorgfältige Beratung dieses Arbeitzeitgesetzes eintreten. Wir haben viele Jahrzehnte gewartet. Ich meine, daß jetzt eine sorgfältige Beratung wichtiger als eine schnelle Verabschiedung ist.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, man muß schon sehr mutig sein, wenn man im Jahre 1985 den Entwurf eines Arbeitzeitgesetzes präsentiert, der noch um die Jahrhundertwende als bemerkenswerte Reform gegolten hätte, heute aber als politische Zumutung angesehen werden muß.
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Heute, Herr Staatssekretär, arbeiten 97 % aller Arbeitnehmer 40 Stunden und weniger an fünf Tagen
in der Woche. Und Sie wagen es heute noch, die 48Stunden-Woche an sechs Tagen gesetzlich festlegen zu wollen. Sie verewigen mit diesem Entwurf das Überstundenunwesen, das Sie angeblich so vehement bekämpfen,
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und Sie durchlöchern die Sonn- und Feiertagsruhe wie einen Schweizer Käse, so daß Sie eigentlich schreiben müßten:
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„Wer nach diesem Gesetz immer noch nicht unter die Ausnahmebestimmungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 bis 19 fällt, hat Anspruch darauf, daß ihn die Aufsichtsbehörde nach § 9 zur Sonntagsarbeit zwingt." So müßten Sie formulieren; dann würden Sie ehrlich formulieren.
Diese Regierung ist taub gegenüber den gesundheitspolitischen Überlegungen, die zu einer Verkürzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitzeit zwingen, wie das die SPD-regierten Länder im Bundesrat vorgeschlagen haben. Sie ist taub gegenüber dem Argument, daß allein die Verewigung der 48Stunden-Woche in jeder Woche mindestens acht Überstunden über die tarifliche Arbeitzeit hinaus zuläßt.
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Dazu, Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, kommen dann noch einmal 120 Stunden Mehrarbeit im Jahr, die nicht durch Freizeit ausgeglichen werden müssen. Stattliche 440 Stunden sind es nach Ihrem neuen Entwurf, gegen die sich der einzelne Arbeitnehmer nicht wehren kann und für die er keinen Freizeitausgleich beanspruchen kann.
Rechnen wir es auf die Gesamtwirtschaft um, werden derzeit rund 1,4 bis 1,5 Milliarden Überstunden geleistet. Sie sanktionieren diese Überstunden mit Ihrem Gesetzenwurf. Das sind - vorsichtig gerechnet - Beschäftigungschancen für 300 000 Arbeitslose, die Sie so blockieren.
Diese 440 Überstunden, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf geradezu betonieren, sind auch noch die gefährlichsten Arbeitsstunden wie man weiß.
Herr Abgeordneter Lutz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer?
Aber immer. Sie rechnen es mir ja nicht an. Sie sind so gütig.
Wenn es kurz und knapp geht, werde ich es nicht anrechnen.
Herr Kollege Lutz, verstehe ich Sie richtig, daß Ihr Vertrauen in die Gewerkschaften als eine der tarifvertragschließenden Parteien so gering ist, daß Sie ihnen nicht mehr zutrauen, den Rahmen dieses Gesetzes, der da geschaffen wird, dann auch so auszufüllen, wie es der Arbeitssituation angemessen ist?
Aber Frau Kollegin, Sie wissen doch, daß 1 Million Arbeitnehmer in nicht tarifgebundenen Beschäftigungsverhältnissen steht. Allein das müßte Sie zum Nachdenken zwingen. Es müßte Sie aber auch zum Nachdenken zwingen, daß, wie ich schon sagte, die Überstunde die gefährlichste Stunde ist. Nahezu die Hälfte aller Unfälle, die tödlich verlaufen, haben Arbeitnehmer erlitten, die in den vorangegangenen sieben Tagen mehr als 40 Stunden gearbeitet hatten. Aber nicht einmal diese Tatsache kann Ihre Nilpferdhaut durchdringen und an Ihr Gewissen rühren.
Selbst den Minimalschutz, den Ihr Gesetzentwurf gewährt, stellen Sie dann wieder zur Disposition. Negativ kann von der Gesetzesnorm durch Tarifvertrag und durch Einzelvertrag abgewichen werden. Wie es den Arbeitnehmern in Bereichen geht, in denen die Gewerkschaften schwach oder gar nicht vertreten sind, interessiert Sie nicht. Bei einer Millionenarbeitslosigkeit erlauben Sie zudem, tarifliche Einzelregelungen in einzelvertragliche Abmachungen zu übernehmen. Dabei wissen Sie sehr wohl, daß die Herausnahme von Teilregeln den Gesamtvertrag verfälschen kann und daß eine solche Öffnung zur Rechtsunsicherheit führt sowie die Prüfung durch die Aufsicht erschwert.
Vollends „schlägt dem Faß die Krone ins Ei" Ihr Vorhaben, den Beginn der geschützten Nachtarbeit für Arbeiterinnen um zwei Stunden auf 22 Uhr zu verlegen und dadurch die geschützte Nachtzeit um zwei Stunden zu verkürzen. Alle Arbeitsmediziner sagen Ihnen, daß genaugenommen die Nachtarbeit überhaupt verboten werden müßte.
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Das müßte für beide Geschlechter gelten, und das
dürfte nicht auf die Arbeiterinnen beschränkt sein.
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Dann könnte man von gewissen Formen der Flexibilisierung reden. Aber genau das wollen Sie nicht. Unter der Flagge der Flexibilisierung segelt bei Ihnen allemal nur der Abbau von Arbeitnehmerrechten, und so auch in diesem Entwurf.
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Die SPD-regierten Länder haben angeregt, für Nachtarbeiter die betriebsärztliche Betreuung gesetzlich zu sichern. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Sie haben es mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat abgelehnt.
Die SPD-regierten Länder haben vorgeschlagen, die Schädigung, die die Beschäftigten in der Nachtarbeitszeit zugefügt erhalten, durch eine Reduzierung der Arbeitszeit um 10% zu mildern. Die Unionsmehrheit im Bundesrat hat sich widersetzt, und es ist zu vermuten, daß sich die Koalition auch hier verweigern wird.
Das ist schlimm, und das ist ein Beleg dafür, wie kaltschnäuzig Sie sich über gesundheitliche Bedenken hinwegsetzen.
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Meine Damen und Herren, wir diskutieren in verbundener Debatte. Während man dem Regierungsentwurf nur Schlechtes nachrühmen kann, ist der
Entwurf der GRÜNEN zu schön, um wahr zu sein. Was haben Sie nicht alles aufgeschrieben! Aber leider: Das Papier wird, wie die meisten von Ihnen, von der politischen Bühne wegrotieren.
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Die GRÜNEN gehen von der 40-Stunden-Woche an fünf Werktagen aus und wollen die Überstunden reduzieren. Herr Hoss, da lobe ich Sie ja. Das ist richtig und gut. Das entspricht dem, was wir schon zweimal zu verwirklichen versucht haben, was einmal mit Ihrer Stimme abgelehnt worden ist; mit Ihrer Stimme, wohlgemerkt.
Aber dann fordern Sie - ich rufe es Ihnen in Erinnerung eine bezahlte persönliche Verfügungszeit; eine bezahlte kollektive Verfügungszeit;
5 bis 20 Tage bezahlte Freistellung, wenn eine Person im Haushalt des Arbeitnehmers erkrankt ist;
die bezahlte Freistellung für Bildungszwecke;
({5})
die bezahlte Freistellung für ehrenamtliche Betätigung in der Politik, in der Gewerkschaft und für sonstige gesellschaftspolitische Betätigungen;
einen weiteren bezahlten freien Tag pro Monat;
unbezahlte Freistellung für die Pflege und Erziehung der Kinder für drei Jahre;
unbezahlte Freistellung für sechs Monate innerhalb von sechs Jahren;
unbezahlte Freistellung für drei Jahre zum Zwecke der Pflege von Familienangehörigen und, und, und.
Das sind alles schöne und lobenswerte Dinge. Doch wenn Sie dann schreiben, die daraus erwachsenden „Restkosten" für die öffentliche Hand und die privaten Arbeitgeber seien „vertretbar", dann weiß man, meine verehrten Kollegen, wirklich nicht: Soll man Sie nun wegen Ihrer Blauäugigkeit bewundern oder wegen Ihrer Neigung zu illusionären politischen Schaustücken?
({6})
So geht es halt leider auch nicht. Ein Gesetzentwurf, der ernst genommen werden will, ist kein Polit-Happening. Dafür bezahlt man uns übrigens auch nicht im Parlament, daß wir solches tun.
Daß der Entwurf zu individualistisch angelegt ist, könnte man sicher ändern. Der einzelne lebt nämlich nicht nur von guten gesetzgeberischen Absichten, sondern er lebt in der Arbeitswelt.
({7})
Er lebt unter dem Schutz von Gesetzen. Er bedarf des Schutzes von Kollektivverträgen, und er bedarf des Schutzes seiner Betriebsvertretung, um in der Arbeitswelt bestehen zu können.
Wie gesagt: So etwas könnte man ja noch ändern. Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der grünen Fraktion, ein Luftschloß kann man nicht umbauen.
({8})
Deshalb ist der Gesetzentwurf keine konkrete Handlungsvorlage.
Wir Sozialdemokraten werden in unserem Bemühen um ein modernes Arbeitszeitrecht, um humane Bedingungen im Arbeitsleben mit beiden Gesetzentwürfen von Ihnen nicht erreicht.
Die Regierungsvorlage ist 19. Jahrhundert; die Vorlage der GRÜNEN ist nicht von dieser Welt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Sie immer wieder bei den jetzt anstehenden Beratungen im Ausschuß und bei der zweiten und dritten Lesung in diesem Hause zu realistischen Lösungen zu drängen. Sie werden nicht immer die Kraft und nicht immer die Mehrheit dafür haben, Arbeitnehmerrechte auszuhebeln und neue Arbeitgebervorrechte zu begründen.
({9})
Noch
({10})
haben die konservativen Kräfte im Parlament - das stimmt bedauerlicherweise - Oberwasser. Sie mißbrauchen Ihre Mehrheit gründlich. Damit aber, Herr Louven - da sollten Sie sich gar keine Illusionen machen -, demontieren Sie gleichzeitig auch Ihren Einfluß auf den mündigen Bürger.
({11})
Der wird es sich nämlich nicht ewig gefallen lassen, wie Sie diesen Staat zum Negativen hin verändern.
({12})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt Länder, die in den letzten Jahren neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Da ist die Zahl der Arbeitsplätze nicht - wie in der Bundesrepublik Deutschland - heruntergegangen, sondern es sind zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden. Es handelt sich dabei um Länder, die ein wesentlich flexibleres Arbeitszeitrecht haben als wir hier in der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das ist der Grund, meine Damen und Herren, weshalb z. B. ein für seinen marktwirtschaftlichen Sachverstand so bekanntes Institut wie das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel fordert, daß wir unser Arbeitszeitrecht entrümpeln, daß wir es flexibler machen, daß wir es den Gegebenheiten einer sich
im strukturellen Umbruch befindlichen Zeit anpassen.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der jetzt vorgelegt worden ist, sichert den Vorrang der Tarifverträge. Er wird einen Rahmen liefern, aber dieser Rahmen muß durch die Tarifverträge ausgefüllt werden. Herr Kollege Lutz, Überstunden sind uns allen ein Dorn im Auge. Aber jeder, der in der Industrie gearbeitet hat und das nehme ich übrigens - im Gegensatz zu Ihren Unterstellungen - auch für mich in Anspruch, Herr Hoss; ich habe in der Industrie gearbeitet, und zwar viele Jahre. Ich weiß daher, daß starre Regelungen eben nicht dazu führen, daß ein Betrieb wirklich florieren kann, sondern daß starre Regelungen nur dazu führen, daß eben nicht so gut gewirtschaftet werden kann, daß nicht so gute Ergebnisse erzielt werden können, wie es bei mehr Flexibilität möglich wäre. Zum Abbau der Überstunden, Herr Kollege Lutz, wollen wir im Beschäftigungsförderungsgesetz eine ganze Menge Anstöße geben. Aber eine weitere Einschränkung im Bereich des Arbeitszeitrechts wäre mit Sicherheit genau der falsche Weg.
({1})
Wir haben an den vorliegenden Gesetzentwurf noch ein paar Fragen und auch den einen oder anderen Vorschlag, den wir sowohl in der Anhörung als auch in den Ausschußberatungen noch gründlich diskutieren wollen. Ich greife hier einmal das auf, was der Bundesrat als seinen Vorschlag eingebracht hat; nämlich bei der Sonn- und Feiertagsruhe doch noch einmal zu überlegen, ob es nicht notwendig sein könnte, für bestimmte hochmechanisierte, hochtechnisierte Betriebe weitere Ausnahmen zuzulassen. Denn eines ist klar: Die Dauer der Nutzung von Maschinen in solchen Betrieben ist ganz wesentlich, ist entscheidend für die internationale Konkurrenzfähigkeit dieser Betriebe.
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Und darum geht es doch letztlich: um die Sicherung von Arbeitsplätzen, Arbeitsplätzen, die wir brauchen. Wir befinden uns nun einmal in einer internationalen Konkurrenzsituation, und deshalb müssen wir den Betrieben auch die Möglichkeit geben, diese Konkurrenzsituation zu bestehen. Also, über diesen Punkt möchten wir noch einmal diskutieren.
({3})
- Herr Hoss, es tut mir leid. Ich habe leider auch nur zehn Minuten.
Aber Sie wissen, daß ich bei kurzen Redebeiträgen bereit bin, kurze Zwischenfragen nicht auf die Redezeit anzurechnen.
Wenn Sie das so handhaben, bitte schön.
Frau Adam-Schwaetzer, ist Ihnen bekannt, daß die technologische Entwicklung dahin geht, immer mehr kapitalintensive MaschinensyHoss
sterne zu haben, die nur dann richtig ausgelastet sind, wenn sie kontinuierlich, auch die Nacht über arbeiten, und daß Ihr Gesetzentwurf genau der Möglichkeit Tür und Tor öffnet, die Verfügbarkeit der Arbeitnehmer für diese kontinuierlich arbeitenden Maschinensysteme durchzusetzen?
Herr Hoss, Sie wissen genauso gut wie ich, daß viele dieser Maschinen eben nicht kontinuierlich arbeiten müssen, daß aber richtig ist, was ich soeben gesagt habe - das bestätigen Sie ja auch -: Je höher der Nutzungsgrad ist, desto eher ist auch die Wahrscheinlichkeit gegeben, in der internationalen Konkurrenzsituation zu bestehen.
Auf die Nachtarbeit wollte ich ohnehin zu sprechen kommen. Eines ist für mich ganz klar, für uns alle: Nachtarbeit sollte es so wenig wie irgend möglich geben; da gibt es überhaupt keine Diskussion. Die Frage ist nur, ob die Arbeiterinnen nicht diskriminiert werden, wenn eine solche Regelung wie in diesem Gesetzentwurf nur auf Arbeiterinnen angewandt wird. Es hat nie ein Nachtarbeitsverbot für weibliche Angestellte gegeben, immer nur für Arbeiterinnen. Das hat dazu geführt, daß in der Rechtsprechung mit der Begründung, Arbeiterinnen stünden für Nachtarbeit nicht zur Verfügung, Lohnungleichheiten gegenüber männlichen Mitbewerbern als Rechtens erkannt worden sind. Ich halte dies wirklich für eine Diskriminierung. Wir sollten uns sehr genau überlegen, ob dies so aufrechterhalten wird.
Ganz abgesehen davon gibt es Wünsche - die Ihnen wahrscheinlich auch vorliegen - z. B. von Facharbeiterinnen, die sagen, ihnen wäre es sehr viel lieber, wenn sie auch in ihrer täglichen Arbeitszeit mehr Gestaltungsmöglichkeiten hätten, mehr Möglichkeiten, mit ihren Familien zusammenzusein.
Der arbeitsmedizinisch notwendige Schutz muß gewährleistet sein. Ich denke, daß dafür genügend Ansätze in unserem Entwurf sind.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, wenn Sie es nicht anrechnen; denn ich habe noch ein paar Sachen.
Zur Belebung der Debatte mit kurzen Fragen, ja.
Frau Adam-Schwaetzer, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen nicht klar ist, daß die meisten Frauen, die als Angestellte im Nachtdienst arbeiten, Mütter von kleinen Kindern sind, weil die nämlich sonst keine Stelle finden und weil andere Leute die Arbeit eben nicht so gerne machen. Na klar, man freut sich, daß man die Arbeit hat, aber man ist auch sehr kaputt nach vielen Jahren. Wenn ich mir vorstelle, daß Arbeiterinnen am Fließband, weil sie gar keine anderen Möglichkeiten mehr haben, auch noch nachts arbeiten und über Tag die Kinder betreuen müssen, dann, finde ich, ist das kein Fortschritt, und ich frage Sie, wie Sie das erklären bzw. als Humanisierung begreifen wollen oder als Gleichberechtigung oder Abbau der Diskriminierung von Frauen.
Frau Kollegin Nickels, ich wiederhole es noch einmal: Selbstverständlich ist für uns Nachtarbeit etwas, was nur in Ausnahmefällen gemacht werden sollte. Das ist überhaupt keine Frage. Aber an Ihr konkretes Beispiel anschließend, stellt sich doch wirklich die Frage für viele Frauen, ob sie überhaupt eine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu finden, wenn wir sie mit so vielen frauenspezifischen Geboten und Verboten belegen. Sofort sagt jeder Arbeitgeber, er kann Frauen gar nicht einstellen, weil sie in ein viel zu starres Korsett eingepreßt sind. Die Schwierigkeit, vor der wir gerade bei Frauen am Arbeitsmarkt in den letzten Jahren zunehmend gestanden haben, ist die, daß sich durchaus gut gemeinte Schutzvorschriften als Ausschlußvorschriften für Frauen erwiesen haben. Das halte ich für schlimm, auch im Interesse der Frauen.
({0})
- In der Tat; aber Schutzvorschriften sollen nur, müssen nur so weit sein, daß sie tatsächlich schützen, aber nicht dazu führen, daß eine Frau vor lauter Schutz keine Chance mehr am Arbeitsmarkt hat.
({1})
Meine Damen und Herren, uns liegt noch ein Gesetzentwurf der GRÜNEN vor. Ich kann es mir ersparen, all die feinen Wohltaten noch einmal aufzuzählen, die der Kollege Lutz aus dem Entwurf eben schon zitiert hat. Herr Kollege Hoss, ich frage Sie wirklich: Sie waren doch Betriebsrat bei DaimlerBenz, Sie müssen doch noch wissen, wie die betrieblichen Notwendigkeiten bei bezahlten Freizeiten sind. Wenn ich das einmal zusammenrechne, was Sie alles an bezahlter Freizeit fordern und an unbezahlter Freizeit zur Verfügung stellen wollen, wofür der Arbeitgeber, d. h. der Betrieb dann auch eine Ersatzkraft braucht, dann frage ich mich:
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Wo sind eigentlich Ihre Vorstellungen von volkswirtschaftlichen Regeln geblieben? Wo sind sie? Ich kann Ihren Entwurf nur als einen weiteren Schritt auf dem von Ihnen beschrittenen Weg zur Abschaffung der Industriegesellschaft bei vollem Lohnausgleich werten.
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Nur haben Sie uns noch nicht gesagt, wo Sie denn das Geld drucken lassen wollen, das Sie anschließend den Arbeitnehmern auszahlen wollen.
({4})
Selbst unter den Sozialdemokraten - und ich sehe da den Kollegen Vogel gerade den Kopf wiegen ({5})
wird inzwischen ja wohl diskutiert und setzt sich ja wohl auch die Erkenntnis durch, daß diese Politik, die die GRÜNEN vorhaben, arbeitnehmerfeindlich ist. Ich bin eigentlich sehr froh, diese Diskussion gerade von den Sozialdemokraten angezettelt zu sehen, die sich mit Sicherheit auf die hundertjährige Tradition ihrer traditionsreichen Partei berufen.
({6})
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf werden auch einige wirklich völlig überholte alte Zöpfe abgeschnitten, nämlich Beschäftigungsverbote für Frauen im Bauhauptgewerbe. Das wollten wir ja eigentlich schon seit über zehn Jahren erreichen, und zwar alle zusammen. Mit den Sozialdemokraten haben wir das, obwohl sowohl die SPD als auch wir das wollten, nicht durchsetzen können, weil die SPD daran immer die Forderung geknüpft hat: Den Wegfall von Beschäftigungsverboten allein gibt es nicht; dann muß auch die Arbeitszeitordnung im Sinne der SPD geändert werden. Darauf hatten wir uns nicht einigen können,
({7})
und deswegen gibt es leider immer noch diese Beschäftigungsverbote für Frauen. Nun werden sie endlich abgeschafft, und das heißt, wir können nun etwas, was auch aus arbeitsmedizinischen Gründen völlig überholt ist, beiseite legen.
Die Begründung dafür, daß Frauen z. B. nicht Stukkateur werden durften, war j a, daß man am Bau unter Umständen schwer schleppen mußte. Meine Damen und Herren, erstens gibt es dafür heute Hilfsmittel, und zweitens fragt ja auch niemand danach, ob eine Mutter ihr - dann j a inzwischen etwas schwerer gewordenes - drei- oder vierjähriges Kind auf dem Arm trägt. Dies war also wirklich eine völlig überholte Sache.
({8})
- Dies war wirklich eine völlig überholte Sache, und ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gesetzentwurf wenigstens in diesem Punkt zustimmen würden.
({9})
Wir wollen in den Beratungen noch sehen, wo der Entwurf verbesserungsbedürftig ist. Ich bin sicher, daß die Bundesrepublik mit diesem Arbeitszeitrecht in der Zukunft gut fahren wird und daß die Arbeitnehmer damit gut fahren werden.
Vielen Dank.
({10})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisungen der Gesetzentwürfe unter Punkt 33a und b der Tagesordnung an die Ausschüsse vor; seine Überweisungsvorschläge ersehen Sie aus der Tagesordnung.
Darüber hinaus ist beantragt worden, den Gesetzentwurf unter Punkt 33a der Tagesordnung auf Drucksache 10/2188 auch an den Verkehrsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Februar 1985, 13 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.