Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 87. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Vor Eintritt in die Tagesordnung bitte ich den Herrn Schriftführer, die Namen der Abwesenden zu verlesen.
Es fehlen wegen Erkrankung die Abgeordneten Dr. Dresbach, Morgenthaler, Schütz, Dr. Baur ({0}), Dr. Holzapfel, Kiesinger, Müller ({1}), Lohmüller, Dr. Bergstraeßer, Graf, Stopperich, Frau Albertz, Löbe, Loritz, Nuding, Frau Thiele, Agatz. Es fehlen entschuldigt die Abgeordneten Dr. Wahl, Brookmann, Bauereisen, Dr. Kopf, Dr. Henle, Frau Dr. Steinbiss, Hohl, Dr. Pünder, Dr. Baade, Roth,
({2})
Freitag, Frau Schroeder ({3}), Dr. Suhr, Altmaier, Henßler, Wagner, Behrisch, Dr. Nölting, Neumann, Freudenberg, Stahl, Frühwald, Dirscherl, Margulies, Dr. Nowack ({4}), Frau Hütter, Dr. Dr. Nöll von der Nahmer, Frau Dr. Brökelschen, Gerns, Kemmer, Langer, Wehner, Mellies, Dr. Bärsch, Dr. Brill, Frau Korspeter, Dr. Mücke, Dr. Baumgartner, Dr. von Campe, Ribbeheger, Krause, Dr. Reif, Dr. Veit. Außerdem fehlen die Abgeordneten Reimann, Renner, Rische, Vesper, Müller ({5}), Fisch.
Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen folgende amtliche Mitteilungen zu machen.
Der Herr Bundeskanzler ({0})
- Herr Kollege Horlacher, der Gesprächslärm macht es mir sehr schwer, mich verständlich zu machen...
({1})
Der Herr Bundeskanzler hat in Ergänzung seiner Antwort vom 9. August 1950 auf die Anfrage Nr. 89 der Abgeordneten Dr. Horlacher und Genossen über Wiederaufbau kriegszerstörter landwirtschaftlicher Anwesen - Drucksachen Nr. 1056 und 1290 - weitere Mitteilungen über deutschen Grundbesitz in Holland gemacht. Die Antwort wird als Drucksache Nr. 1367 vervielfältigt.
Weiter: Gemäß einem Beschluß des Ältestenrates wird die heutige Tagesordnung dahin ergänzt, daß neben dem Antrag der Fraktion der SPD betreffend das Fischer-Tropsch-Werk Bergkamen - Punkt 6, Drucksache Nr. 1327 - auch der Antrag der Frau Abgeordneten Niggemeyer und Genossen in gleicher Sache - Drucksache Nr. 1266 - beraten wird. - Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Dann gebe ich noch bekannt, daß der Ausschuß für Beamtenrecht und der Ausschuß für Heimatvertriebene um 17 Uhr eine gemeinsame Sitzung im Bundesratssaal abhalten.
Wir treten damit in die Tagesordnung ein. Ich rufe auf Punkt 1:
Beratung des Antrags der Fraktion der Bayernpartei betreffend Entlassung des Bundesfinanzministers Schäffer ({2}).
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren! Es werden in dieser Angelegenheit in ,der nächsten Woche unter meinem Vorsitz Besprechungen zwischen den Antragstellern und Herrn Bundesminister Schäffer stattfinden.
({0})
- Ich denke, Sie werden sich darüber freuen. ({1})
Meine Damen und Herren, ich unterlasse es deswegen, die Rechtsfrage anzuschneiden, und bitte Sie, diesen Punkt der Tagesordnung auf eine spätere Sitzung übergehen zu lassen.
({2})
Melden Sie sich zum Wort, Herr Abgeordneter?
({0})
- Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schoettle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der sozialdemokratischen Fraktion widerspreche ich dem Antrag des Herrn Bundeskanzlers.
({0})
Da er ja die Rechtsfrage nicht aufgeworfen hat, brauche ich wohl nicht darauf einzugehen, ob dieser Antrag im Bundestag zulässig ist. Aber eines möchte ich doch sagen: Ich glaube, das Schauspiel, das ,die deutsche Öffentlichkeit bei der Behandlung dieses Antrages, der sich gegen einen Bundesminister richtet, in den letzten Wochen erlebt hat, ist der Würde des Hauses und der Demokratie nicht gerade zuträglich.
({1})
Es ist ja nicht so, daß erst nächste Woche Verhandlungen stattfinden. Die deutsche Öffentlichkeit weiß, daß bereits Verhandlungen stattgefunden haben,
({2})
und man fragt sich, was der Gegenstand dieser Verhandlungen gewesen sei. Man fragt sich, mit welchem Ernst die Antragsteller ihren eigenen Antrag behandelt wissen wollen.
({3})
Ich glaube also, daß es besser wäre, dieser Qual ein Ende zu machen und hier und heute abzustimmen.
Die sozialdemokratische Fraktion beantragt Abstimmung über den Antrag des Herrn Bundeskanzlers.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Goetzendorff.
({0})
- Wir sprechen zur Geschäftsordnung.
({1})
- Nein!
({2})
- Meine Damen und Herren, auf der Liste, die der Herr Schriftführer geführt hat, stehen die Abgeordneten Schoettle, Goetzendorff, Seelos und Kohl.
({3})
- Herr Abgeordneter Goetzendorff, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen meiner politischen Freunde bitte ich ebenfalls - ({0})
Meine Damen und Herren, man kann seine Freunde auch außerhalb des Hauses haben.
({0})
Es ist ja sehr schön, meine Herren, wenn Sie sich wieder einmal erheitern. Ich stelle den Antrag, den Punkt nicht von der Tagesordnung abzusetzen.
Die Öffentlichkeit ist darüber informiert worden, daß bereits Besprechungen stattgefunden hab en. Die Öffentlichkeit ist der Meinung, daß jetzt vielleicht Zeit gewonnen werden soll, damit irgendein Kuhhandel durchgeführt wird.
({0})
Ich finde es seltsam, daß sich der Herr Bundeskanzler in dieser Angelegenheit bemüht und zu erwirken versucht, daß dieser Antrag heute von der Tagesordnung abgesetzt wird.
({1})
Der Herr Finanzminister hat in den letzten Wochen und Monaten oft ,Äußerungen getan, die dringend einer Klärung bedürfen. Er hat in einer für einen Bundesminister geradezu unverantwortlichen Weise
(Widerspruch. - Zuruf von der Mitte:
({2})
auf Versammlungen seiner Partei -
Sie haben das Wort zur Geschäftsordnung und nicht zur Sache selbst.
Da die Öffentlichkeit ein großes Interesse daran hat, daß diese Frage heute behandelt wird, und da die Abgeordneten des Hauses in der Mehrzahl wohl nicht in den Verdacht kommen wollen, an einem eventuellen Kuhhandel beteiligt zu sein, bitte ich, den Antrag heute auf der Tagesordnung zu belassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Seelos.
Meine Damen und Herren! Es war bisher üblich, wenn bei solchen geschäftsordnungsmäßigen Verschiebungen das Wort ergriffen wird, daß es zuerst der Antragsteller bekommt und daß nicht andere Redner vorgezogen werden. Obwohl ich mich ordnungsgemäß als erster zum Wort gemeldet habe, meine Damen und Herren, - ({0})
Herr Abgeordneter Seelos, ich muß mich gegen diesen Vorwurf verwahren.
({0})
Es ist mir unmöglich, mit einem Blick sämtliche
Wortmeldungen durch Handzeichen zu übersehen.
({1})
Wir haben deshalb eine Verschiebung beantragt, weil der Bundespräsident
({0})
uns gebeten hat, während der wichtigen außenpolitischen Verhandlungen unsern Antrag nicht zur Behandlung kommen zu lassen. Wie ich höre, gehen die wichtigen Verhandlungen jetzt zwischen dem Bundeskanzler und den Hohen Kommissaren erst an. Wir stehen zu unserem Wort, .das wir
dem Bundespräsidenten gegeben haben, und verschieben so lange diese Aussprache über unsern Antrag.
({1})
Es war bisher in dem Hause üblich, daß, wenn die antragstellende Partei gebeten hat, ihren Antrag auf eine andere Sitzung verschieben zu wollen, dies ohne weiteres getan wurde
({2})
- während jetzt von den anderen Parteien dieses seltsame Interesse bekundet worden ist -, und es ist ohne weiteres akzeptiert worden. Ich bitte auch, daß unser Antrag - wenn wir jetzt erklären, daß wir unseren Antrag von der heutigen Tagesordnung absetzen und ihn in der nächsten oder nächstfolgenden Sitzung wieder als ersten Punkt 'erscheinen lassen wollen - ohne weiteres, wie es hier üblich war, angenommen wird.
({3})
Meine Damen und Herren! Es ist für den Antrag und gegen den Antrag gesprochen worden. Es liegen noch zwei Wortmeldungen vor. Ich halte es nicht für notwendig, diesen Rednern das Wort- zu erteilen. Nach § 83 der Geschäftsordnung steht es in meinem Ermessen, Wortmeldungen zur Geschäftsordnung anzunehmen oder nicht. Ich glaube, daß alles Sachliche dafür und dawider vorgetragen worden ist.
({0})
Es ist der Antrag gestellt worden, über den Antrag abzustimmen.
({1})
- Wird dieser Antrag unterstützt? Sie brauchen 50 Abgeordnete zur Unterstützung. - 1, - 2, -3, - 4, - usw. Ohne Zweifel weniger als 50.
({2})
- Außerdem ist bei Abstimmungen über Absetzung von der Tagesordnung namentliche Abstimmung nicht zulässig.
Ich lasse abstimmen. Wer für die Absetzung von der Tagesordnung ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Gegenprobe! - Das erste war die Mehrheit. Der Antrag ist von der Tagesordnung abgesetzt.
Ich rufe auf Punkt 2 der Tagesordnung: Beratung der Interpellation der SPD betr. Öffentliche Äußerungen von Bundesministern zu außenpolitischen Fragen ({3}).
Hier habe ich dem Hohen Hause mitzuteilen, daß Herr Bundesminister Dr. Seebohm, der ja durch diese Interpellation mitbetroffen ist, mir geschrieben hat, daß er nicht pünktlich hier sein könne, weil er heute bei einer auswärtigen dienstlichen Verrichtung ist. Er wird im Laufe des Nachmittags, wohl gegen 15 Uhr 30, kommen. Ich schlage ihnen vor, diesen Punkt zurückzustellen.
Ich rufe auf den Punkt 3 der Tagesordnung: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Änderung von Bestimmungen in dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ({4}) vom
({5})
16. Juli 1927 ({6}) in der zur Zeit geltenden Fassung ({7}).
Der Ältestenrat schlägt Ihnen als Redezeit vor: für die Einbringung 20 Minuten, für die Aussprache 60 Minuten. - Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Zur Begründung hat das Wort der Herr Abgeordnete Keuning.
Keuning ({8}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden (Antrag greift die sozialdemokratische Fraktion zwei für die Arbeitnehmerschaft bedeutsame Fragen auf. Als vor einigen Wochen hier im Hohen Hause die Drucksache Nr. 873 beraten wurde, war es den mit der Materie Vertrauten bekannt, daß dieser Antrag nicht die Frage so lösen würde, wie sie zu lösen sei. - Es ist solche Unruhe, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe!
Keuning ({0}), Antragsteller: Der vorliegende Antrag, der sich in mehreren Artikeln zunächst mit der Regelung der Frage für landwirtschaftliche Arbeitnehmer und dann mit ,der Versicherungsfreiheit für Lehrlinge beschäftigt, greift zwei nach unserer Ansicht brennende Fragen auf. Zu dem Art. 1 unseres Antrages ist zu sagen, daß in dem AVAVG in der Fassung vom 16. Juli 1927 die Versicherungsfreiheit für landwirtschaftliche Arbeitnehmer festgelegt wurde, und zwar erstens für solche Arbeitnehmer, die weniger als die Hälfte ihrer Arbeitszeit als Arbeitnehmer in der Landwirtschaft tätig sind. Das sind solche, die als Zwergbauern einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts durch die Bearbeitung ihres Eigentums selbst erarbeiten. Zweitens waren von der Versicherung landwirtschaftliche Arbeitnehmer ausgenommen, die einen schriftlichen Jahresarbeitsvertrag hatten, welcher eine sechsmonatige Kündigungsfrist beinhaltete. Drittens waren Arbeitnehmer in landwirtschaftlichen Betrieben ausgenommen, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber lebten. Diese damaligen Bestimmungen gingen davon aus, daß in der Landwirtschaft im wesentlichen patriarchalische Verhältnisse vorhanden waren, daß es der Arbeitgeber landwirtschaftlicher Art als selbstverständliche Pflicht erachtete, auch in der Zeit des Jahres, in der landwirtschaftliche Arbeitnehmer nicht voll eingesetzt werden konnten, für diesen Kreis zu sorgen und seiner Fürsorgepflicht zu genügen.
Wir erlebten dann, daß im Jahre 1933 generell für alle in der Landwirtschaft tätigen Arbeitnehmer die Versicherungsfreiheit eingeführt wurde. Das ist im wesentlichen wohl darauf zurückzuführen, daß die Politik „Blut und Boden" die Landwirtschaft unter allen Umständen wesentlich begünstigen wollte, weil ja die Autarkiebestrebungen eine starke Landwirtschaft voraussetzten. Es war damals sogar so, daß die in den landwirtschaftlichen Genossenschaften, in landwirtschaftlichen Buchungsstellen, Fett- und Eier-Verwertungsgenossenschaften Beschäftigten versicherungsfrei waren. Ein mehr als eigenartiger Zustand!
Wenn wir die heutige Gesetzeslage betrachten, so sehen wir, daß im wesentlichen das Gesinde, Deputanten und Heuerlinge als versicherungsfrei anzusehen sind. Eine Ausnahme in dieser Beziehung ist nur in Rheinland-Pfalz gegeben, wo auch für die Lehrlinge eine Ausnahme von der sonst allgemeinen Regelung besteht.
Von den landwirtschaftlichen Arbeitnehmern wird aber nicht anerkannt, daß heute noch Gründe für eine Versicherungsfreiheit bestehen. Die Grundlage für die bisherige Gesetzgebung war, wie ich eben bereits erwähnte, vor 1933 im wesentlichen in dem patriarchalischen Verhältnis zu sehen. Die damalige Regelung war also darauf zurückzuführen, daß die Fürsorgepflicht der Arbeitgeber in höchstem Maße erfüllt wurde, und in der Zeit von 1933 bis 1945 auf die Politik „Blut und Boden", die ja durch den Ausdruck „Blut und Boden" schon genügend gekennzeichnet ist.
Es ist also heute keine Grundlage mehr für die bisherige Gesetzgebung vorhanden. Wir haben durch den Flüchtlingsstrom grundlegende Veränderungen auf diesem Gebiet erlebt. Wenn wir ein Land wie Nordrhein-Westfalen betrachten, das durchaus nicht rein landwirtschaftlicher Struktur ist, und wissen, daß im Jahre 1949 dort mehr als 100 000 landwirtschaftliche Arbeiter zur Entlassung kamen, dann erkennen wir, daß auf diesem Gebiet dringend etwas zu tun ist. Wir stellen fest, daß fast alle Bindungen, die einst zwischen dem landwirtschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestanden, heute gelöst sind. Im Bundesgebiet ist für das Jahr 1950 festzustellen, daß im Januar 166 606 arbeitslose landwirtschaftliche Arbeiter vorhanden waren, im März des Jahres waren es 154 495 und im Juni - man bedenke also: zur Hochsaison - 104 728 arbeitslose landwirtschaftliche Arbeiter. Wir müssen bedenken, daß diese Zahl im Herbst nun noch größer sein wird. Es ist uns bekannt, daß diese Zahlen wesentlich durch das beeinflußt werden, was von außen hereinströmt: durch den Flüchtlingsstrom und andere Dinge.
Trotzdem ist die Frage so brennend, daß von der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft unbedingt eine Arbeitslosenversicherung für diesen Kreis gefordert wird. Versicherungsfreiheit wird nur noch anerkannt für den Kreis, den ich eben schon näher schilderte, der also überwiegend seine Existenz selbst sichert und nur zu einem geringen Teil als Arbeitnehmer bei anderen tätig ist. Es ist selbstverständlich, daß auch die Landwirtschaft wie all die anderen Unternehmer für die soziale Sicherheit der in der Landwirtschaft tätigen Menschen zu sorgen hat, und es ist auch kein Grund einzusehen, auf diesem Wege eine indirekte Subventionierung der Landwirtschaft vorzunehmen. Es ist also ein echtes Schutzbedürfnis für die in der Landwirtschaft Beschäftigten vorhanden und kein Grund mehr für eine Sonderstellung. Das ist zum Art. 1 zu sagen.
Der § 70, der hier aufgeführt ist, sagt in seinem zweiten Absatz, daß der Bundesarbeitsminister im Benehmen mit den Spitzenorganisationen der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen durch Ausführungsvorschriften bestimmen kann, daß die Befreiung nach Abs. 1 nur bei einer bestimmten Mindestgröße des Betriebs und bei einem bestimmten Mindestertrag eintritt.
Der § 71 Abs. 2 soll nach unserem Vorschlag aufgehoben werden. Dieser Abs. 2 enthält Vorschriften über die Versicherungspflicht solcher Kräfte, die vorübergehend und nicht berufsmäßig
({1})
in der Landwirtschaft eingesetzt sind, d. h. also Kräfte, die in der Erntezeit stoßweise mit eingesetzt werden, z. B. Studenten bei der Erntehilfe, bei Einsätzen in Katastrophenfällen usw. Es ist eigentlich kaum verständlich, daß gerade für diesen Kreis ein Versicherungszwang bestanden hat. Wir beantragen also für diesen Kreis die Aufhebung der Versicherungspflicht.
Der Art. 3 unseres Antrages beschäftigt sich mit dem § 74 des AVAVG. Sowohl der erste als auch der zweite Absatz sind textlich genau der Fassung des Gesetzes gleich. Im Abs. 3 wird von uns praktisch die Herstellung eines früheren gesetzlichen Zustandes beantragt. Bei der ersten Fassung des AVAVG im Jahre 1927 war vorgesehen, daß für Lehrlinge die letzten sechs Monate eines Lehrverhältnisses versicherungspflichtig seien. Im Jahre 1929 wurde hier eine Änderung insofern vorgenommen, als die Zahl von sechs Monaten auf zwölf Monate erhöht wurde, und zwar, weil schon damals wesentliche Erfahrungen vorlagen, die dazu zwangen, diesen Kreis doch für eine längere Zeit versicherungspflichtig zu machen. Man muß bedenken, daß bei einer Versicherungszeit von sechs Monaten praktisch nur für drei Monate Arbeitslosenunterstützung gezahlt wird. Nach der Erfahrung war diese Zeit zu kurz, die erwerbslos gewordenen, eben ausgelernten jungen Menschen fielen dann nach Ablauf der Zeit den Fürsorgeeinrichtungen zur Last. Im Jahre 1942 erfolgte auch hier durch eine Verordnung des Ministerrates für die Reichsverteidigung eine grundsätzliche Änderung. Es wurde die Versicherungsfreiheit für alle Lehrlinge eingeführt. Ich glaube, daß leicht zu verstehen ist, welche Beweggründe im Jahre 1942 vorlagen: Der Krieg brannte lichterloh, und man brauchte keine Bedenken zu haben, daß von heute auf morgen Erwerbslosigkeit eintreten würde. Alle Kräfte waren für die Rüstung und für den Krieg eingespannt.
In unserm Antrag ist nun vorgesehen, die letzten 12 Monate des Lehrverhältnisses versicherungspflichtig zu machen, um damit den jungen Menschen nicht gleich den Weg zum Wohlfahrtsamt zu weisen. Dasselbe gilt auch für Anlernverhältnisse.
§ 74 Abs. 4 soll nach unserm Antrag folgende Fassung erhalten:
Endet das Lehrverhältnis auf Grund des § 130 a Absatz 2 der Gewerbeordnung oder aus einem Grunde, den der Lehrling nicht zu vertreten hat, vor diesem Zeitpunkt, so erlischt die Versicherungsfreiheit entsprechend früher.
Es ist durchaus üblich, daß Lehrlinge vor Beendigung ihrer normalen Lehrzeit ihre Gesellenprüfung machen können. Wenn diese Lehrlinge z. B. von den letzten 12 Monaten infolge irgendwelcher Umstände drei Monate nicht mehr zu lernen haben, würden sie nur 9 Monate versichert sein, und damit wäre kein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung entstanden. Darum der Hinweis, daß die Versicherungsfreiheit entsprechend früher zu erlöschen hat. In diesem Antrag kommt der Wille der Gewerkschaften zum Ausdruck, der bereits Anfang Mai 1949 über den damaligen Gewerkschaftsrat dem Direktor für Arbeit, Herrn Storch, zur Kenntnis gebracht wurde, und zwar in dem Bewußtsein, daß die zunehmende Jugendnot und Jugendarbeitslosigkeit dazu drängen, Maßnahmen dieser Art durchzuführen. Es wurde also die Versicherungspflicht für die letzten 12 Monate verlangt.
Art. 4, der sich mit der geringfügigen Beschäftigung des § 75 a befaßt, besagt im wesentlichen nur, daß Abs. 1 dieses Paragraphen für die im Lehrverhältnis stehenden jungen Menschen nicht gilt. Hier handelt es sich also um keine grundsätzliche Änderung, sondern um einen notwendigen Hinweis auf eine gesetzestextliche Änderung.
Art 5 beschäftigt sich mit § 105. Dort wird gesagt, daß diejenigen, die nach Beendigung der Lehrzeit arbeitslos geworden sind, ohne eine neue Anwartschaft erworben zu haben, eine Arbeitslosenunterstützung bekommen sollen, der mindestens ein wöchentliches Arbeitsentgelt von 25 DM zugrunde gelegt ist. Das ist nötig, weil, wenn wir das Gesetz ohne eine solche Bestimmung annehmen würden, die im nächsten Jahr zur Entlassung kommenden Lehrlinge keinen gesetzlichen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hätten. Der Satz von 25 DM würde einem Unterstützungssatz von 14,70 DM entsprechen. Wir glauben, daß das den jungen Menschen in etwa das Gefühl nimmt, nun der Fürsorge anheimgefallen zu sein.
In Art. 6 befassen wir uns mit § 143 und beantragen, daß für Versicherte, deren regelmäßiges Entgelt 100 DM monatlich oder 23,30 DM wöchentlich nicht übersteigt, der Arbeitgeber den Beitrag allein zu entrichten hat. Ich glaube, auch hier brauchen wir keine ausführliche Begründung zu geben. Wenn wir bedenken, wie weite Kreise mit solch einem geringen Einkommen ihren gesamten Lebensunterhalt zu bestreiten haben, ist es durchaus kein unbilliges Verlangen, wenn dem Arbeitgeber auferlegt wird, den vollen Beitrag zu zahlen.
Allgemein möchte ich noch folgendes sagen. Ich erwähnte schon, daß diese Frage bereits im Mai 1949 dem Herrn Bundesarbeitsminister auf Grund der Eingabe des Gewerkschaftsrates bekannt war. Der Gewerkschaftsrat mußte bis Ende Januar auf eine Antwort und eine Stellungnahme warten Anfang Februar dieses Jahres hat dann der Bundesvorstand das Bundesarbeitsministerium darauf hingewiesen, daß es brennend nötig sei, hier eine Regelung vorzunehmen. Bis Mitte April hat man auf eine Antwort warten müssen, und diese klang so, daß man annehmen konnte, die Abschlußarbeiten wären soweit gediehen, daß die Vorlage demnächst hier behandelt werden könnte. Seitdem sind wieder viele Monate verstrichen, und es ist noch nichts geschehen. Es ist uns ja bekannt, daß in unseren Ministerien oft sehr, sehr langsam gemahlen wird. Ich glaube aber, daß es sich hier um Fragen handelt, die im Interesse der Jugend und auch aus der Zeit gesehen, in der wir stehen und in der diese Jugend besonders angesprochen wird, dringend einer Lösung zugeführt werden müssen. Wir wissen auch, daß der Streit um die Echtheit der Arbeitslosenzahlen im vorigen Herbst im wesentlichen beinhaltete, daß die Arbeitslosen, die keinen versicherungsrechtlichen Anspruch hatten, damals plötzlich abgesetzt wurden, und das waren hauptsächlich die jungen Menschen. Tatsächlich waren also diese Arbeitslosen nur theoretisch von der Gesamtzahl abgesetzt; sie existierten damit also nicht mehr als Arbeitslose.
Ich möchte darauf hinweisen, daß in einem großen Arbeitsamtsbezirk festzustellen ist, daß bis zu 10 % der Lehrlinge nach Beendigung der Lehr({2})
zeit entlassen werden und in ihren Berufen oder überhaupt nicht wieder Arbeit finden.
Es gibt einige interessante Beispiele. Ich darf hier eines anführen. In dem Bäcker- und Konditorengewerbe dieses Arbeitsamtsbezirks ist eine Gesamtzahl von fast 1300 Personen gemeldet, die diese Berufsausbildung haben. Es sind aber davon 504 Personen berufsfremd eingesetzt. Man kann daraus ersehen, daß die Ausbildung einen größeren Kreis von Personen umfaßt, als er nachher in diesem Beruf beschäftigt werden kann.
Es ist schlimm, daß soviele junge Menschen arbeitslos sind. Wir kennen ja auch die Gründe dafür. Wir sind nicht so engherzig, zu meinen, daß allein das langsame oder uns nicht befriedigende Arbeiten der Bundesministerien schuld daran ist. Es bedeutet aber Gift für unsere Jugend, wenn wir diese jungen, aufgeschlossenen Menschen, die wir für den Aufbau der Demokratie so dringend benötigen, zum Wohlfahrtsamt schicken.
({3})
Ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich bitte also darum, dem vorgelegten Antrag der SPD zuzustimmen.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sabel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es besteht zweifellos ein Bedürfnis danach, daß das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung korrigiert wird. Fachleute unterhalten sich darüber schon seit längerer Zeit, und es ist mir bekannt, daß im Bundesarbeitsministerium diese Reform zur Zeit vorbereitet wird. Es ist nun die Frage zu stellen: ist es zweckmäßig, vor der Behandlung dieser Reformvorschläge des Bundesarbeitsministeriums nun hier stückweise Flickarbeit zu leisten? Ich halte das für bedenklich, zumal das dann auf die Behandlung der vom Ministerium zu erwartenden Reformvorschläge gewisse fragwürdige Auswirkungen hat.
Ich darf darauf hinweisen, daß dem Bundestag verschiedene solcher Anträge vorliegen und daß diese Fragen im zuständigen Ausschuß schon diskutiert worden sind. Nach den Informationen aus dem Bundesarbeitsministerium dürfte die Reform des Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungsgesetzes in nicht allzuferner Zeit erfolgen, Ich betone deshalb nochmals, daß es mir zweckmäßig erscheint, zunächst abzuwarten und dann eben diese Generalbereinigung vorzunehmen.
Zu den Einzelheiten des Antrags, der von der SPD-Fraktion vorgelegt worden ist, möchte ich folgendes sagen. Der § 70 AVAVG hat im Laufe der Zeit wiederholt Wandlungen erfahren, und zwar deshalb, weil die Gesetzgebung die gegebene Situation nicht unberücksichtigt lassen kann. Diese Situation war nun immer sehr, sehr differenziert. Was hier erstrebt wird, ist zunächst einmal eine Ausschaltung der Gesindekräfte in der Landwirtschaft aus der Versicherungsfreiheit, jedenfalls des weitaus größten Teils der Gesindekräfte, und darüber hinaus - das ist meines Erachtens besonders wesentlich - auch die Ausschaltung der Angehörigen aus der Versicherungsfreiheit.
Ich darf darauf verweisen, daß in der Landwirtschaft heute immerhin noch eine ganze Anzahl Arbeitsplätze offensteht. Wenn Herr Kollege Keuning soeben sagte, daß es bei landwirtschaftlichen Gesindekräften noch eine große Arbeitslosigkeit gibt, dann bitte ich, doch nicht zu vergessen, daß dies in sehr starkem Maße darauf zurückzuführen ist, daß diese Menschen in den Flüchtlingsgebieten am falschen Platz wohnen, nämlich dort, wo der Bedarf geringer ist. Dagegen kann an anderen Stellen der Bedarf oft nicht gedeckt werden.
Ich bin der Meinung, daß die Frage sehr vorsichtig geprüft werden muß. Es ist zwar auf der einen Seite richtig, daß wir bestrebt sein sollen, die Situation des landwirtschaftlichen Arbeitnehmers allmählich an die des gewerblichen Arbeitnehmers heranzuführen.
({0})
- Ach, Herr Kollege Richter, ich glaube, daß der mit diesem Antrag vorgeschlagene Weg nicht der geeignete ist, oder ich möchte so sagen: wir können diese Frage nicht bei diesem etwas abseits liegenden Problem zu lösen beginnen.
Ich darf auch noch darauf hinweisen, daß eine solche Regelung im Augenblick sehr große Gefahren hätte. Eine Gefahr möchte ich einmal hier andeuten. Es besteht nämlich die Gefahr, daß nun auch hier in der Landwirtschaft versucht wird, das Risiko der Arbeitslosigkeit auf die Arbeitslosenversicherung abzuwälzen. Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß man für die ruhigen Monate des Winters zu einer Übereinstimmung kommt und die Arbeitslosenversicherung praktisch das Risiko der etwaigen Beschäftigungslosigkeit tragen läßt. Ich will damit sagen, daß diese Fragen ernstlich überlegt werden müssen.
Zu § 74 möchte ich folgendes sagen. Ich glaube. daß hier weitgehende Übereinstimmung besteht Es liegt ja dem Bundestag bereits ein Antrag vor, der die gleiche Frage betrifft, und auch im Bundesarbeitsministerium wird die Auffassung vertreten, daß der Lehrling für den letzten Teil der Lehrzeit der Versicherungspflicht unterstellt werden soll. Es liegt hier ein praktisches Bedürfnis dafür vor, daß der Lehrling Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung stellen kann, wenn er nach Beendigung der Lehrzeit entlassen wird. Es wird im einzelnen zu prüfen sein, ob man hier eine Anwartschaftszeit von einem Jahr oder von einem halben Jahr zugrunde legt. Das ist deshalb wichtig, weil aus dieser differenzierten Anwartschaftszeit eine differenzierte Unterstützungsdauer resultiert. Ich glaube also, daß dem Wunsche der Antragsteller zweifellos auch bei der kommenden gesetzlichen Regelung entsprochen wird.
Nun etwas zu dem Art. 5 des Antrags. Nach diesem Antrag soll die Unterstützung der arbeitslos gewordenen Lehrlinge nach einem Mindestentgelt von 25 Mark gewährt werden. Hierzu möchte ich folgendes sagen. Zunächst widerspricht dies dem Versicherungsprinzip - aber darüber möchte ich gar nicht sprechen -; ich bin jedoch der Meinung, daß man dem Antrag in dieser Form nicht zustimmen kann, weil ja hier folgendes passieren würde: Der Lehrling würde grundsätzlich eine Arbeitslosenunterstützung nach einem Mindestentgelt von 25 Mark erhalten, während
.er andere Arbeitnehmer, der jugendliche Arbeit({1})
nehmer mit einem darunterliegenden Verdienst eine niedrigere Unterstützung erhalten würde. Ich bin der Meinung, daß wir, wenn schon eine andere Regelung erfolgt, allgemein von einem Mindestentgelt bei der Errechnung der Arbeitslosenunterstützung ausgehen müßten. Es wäre dann die Frage zu prüfen, wie hoch man dieses Mindestentgelt ansetzen sollte.
Bezüglich des Art. 6 möchte ich nur sagen: hier wird die Verlagerung der Beitragsleistung einseitig auf den Unternehmer beantragt. Der Unternehmer soll also in den Fällen, in denen der Monatsverdienst 100 Mark und darunter beträgt, die Gesamtbeiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Diese Frage wird zu erörtern sein. Ich bin allerdings der Auffassung, daß hier von dem bisherigen Prinzip abgewichen wird. Diese Dinge müssen noch diskutiert werden.
Abschließend nochmals: Wir sollten diese Frage zusammenhängend mit der Bereinigung all dieser Streitpunkte aus dem AVAVG behandeln, und ich empfehle, den Antrag dem zuständigen Ausschuß, also dem Ausschuß für Arbeit, zu überweisen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Atzenroth.
Meine Damen und Herren! Es handelt sich hier wieder um einen Fall, in dem ein Teilproblem aus einem in Arbeit befindlichen Gesetzeskomplex vorweg herausgenommen werden soll. Wir sollen uns hier wieder mit einer Teillösung befassen. Ich bin der Meinung, daß diese Methode der Arbeit des Hauses nicht zuträglich ist. Ich bitte vor allem die Damen und Herren des Ausschusses für Arbeit, die sich ja hiermit zu befassen haben werden, zu bedenken, welche Fülle von Arbeit sie vor sich haben und ob wir nun die Probleme, die hier angeschnitten werden, für so wichtig erachten, daß wir die anderen, die augenblicklich zur Debatte stehen, dahinter zurückstellen dürfen. Wenn wir die Sache dahin prüfen, bin ich überzeugt, daß wir vielleicht doch zu der Ansicht kommen, wir könnten diese Probleme, die bestimmt nicht die wichtigsten aus dem Komplex Arbeitslosenversicherung sind, zurückstellen, bis der Regierungsentwurf vorliegt.
Materiell befaßt sich der Vorschlag mit drei Gruppen von Arbeitnehmern, deren Versicherungsschutz entweder neu eingeführt oder erweitert werden soll. Der wichtigste Kreis sind die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer, von denen hier ausführlich gesprochen worden ist. Wir wollen doch alle den echten Versicherungscharakter dieses Gesetzes beibehalten. Zu diesem echten Versicherungscharakter gehört notwendigerweise, ,daß auch die Gefahr des Risikos, gegen das die Versicherung erfolgen soll, vorhanden ist. Ich bin im Gegensatz zu den Ausführungen der Antragsteller der Ansicht, daß bei diesem Kreis die Gefahr, daß der Versicherungsfall eintreten könnte, sehr gering ist, bei der heutigen Lage außerordentlich gering. Wir wissen alle, daß die Landwirtschaft nach Arbeitskräften sucht, daß sie sich darum bemüht, Arbeitskräfte zu erhalten, und daß sie damit nicht genügend Erfolg hat. Dieser Kreis ist von der Arbeitslosigkeit verhältnismäßig wenig bedroht. Infolgedessen liegt auch keine Veranlassung vor, ihn nun mit den Lasten der Beiträge zu bedrücken. Wir müssen dabei auch daran denken, daß die Landwirtschaft auf Grund ihrer Ertragslage größere Schwierigkeiten auf dem lohnpolitischen Gebiet hat als die übrige deutsche Wirtschaft, und wir dürfen diese Schwierigkeiten nicht noch unnötig erhöhen durch Belastungen, die sich vermeiden lassen.
Der zweite Kreis umfaßt die Lehrlinge. Es steht außer Zweifel, daß wir dem arbeitslos werdenden Lehrling einen Versicherungsschutz angedeihen lassen müssen. Ob es dafür notwendig ist, schon 12 Monate vor Schluß der Lehre eine Versicherungspflicht eintreten zu lassen, ist fraglich. Ich glaube, daß wir uns vielleicht doch auf die Formulierung einigen könnten, die im Lande Rheinland-Pfalz schon eingeführt ist und die diese Versicherungspflicht erst bei 6 Monaten beginnen läßt. Auch der Vorschlag der Antragsteller, daß unter gewissen Umständen die Versicherungspflicht rückwirkend vorverlegt werden soll, ist nicht durchführbar. Wie sollen denn die Beiträge aus der zunächst gar nicht erkennbaren Zeit nachgezahlt werden?
Ein anderes Problem, das meiner Ansicht nach völlig übersehen worden ist, ist die Lage unserer Jugend. In diesem Hause ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß wir eine sehr große Zahl von Jugendlichen haben, die vergeblich nach einer Lehrstelle suchen. Wir haben, um dieses Problem zu lösen, von meiner Partei aus Anträge gestellt. Wir können es nicht lösen, wenn wir das Halten eines Lehrlings weiter mit höheren Kosten verknüpfen. Die Gefahr der Arbeitslosigkeit ist hier auch zu schwarz dargestellt worden. Bei der großen Mehrzahl besonders der industriellen Lehrlinge ist es ganz selbstverständlich, daß sie einen Arbeitsplatz in dem Betrieb erhalten, in dem sie ihre Lehrzeit gerade beendet haben. Bei der überwiegenden Zahl der Handwerksbetriebe ist das gleiche der Fall. Bei denjenigen, die ausscheiden - es mögen vielleicht bis zu 100/o der Ausscheidenden sein - handelt es sich im allgemeinen um diejenigen, die die Erwartungen nicht erfüllt haben, die man in sie bei Beginn der Lehre gesetzt hatte. Aber zweifellos müssen wir für sie sorgen, und wir werden im Ausschuß auch versuchen, den rechten Weg zu finden.
Bezüglich des dritten Personenkreises schließe ich mich den Ausführungen der beiden Vorredner an. Es ist nicht mehr als recht und billig, daß wir einem Personenkreis, der ein so geringes Einkommen hat, eine Hilfe angedeihen lassen und den Arbeitgeber verpflichten, die Beiträge voll zu zahlen. Über die Höhe des Betrages und über die sonstigen Bedingungen, die daran zu knüpfen sind, hätten wir uns im Ausschuß noch näher zu unterhalten.
Ich schlage vor, diesen Antrag nicht nur an den Ausschuß für Arbeit - an diesen allerdings federführend -, sondern auch an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und an den Ausschuß für Wirtschaftspolitik zu überweisen. Ich hoffe, daß wir das Problem in diesen Beratungen, in Verbindung mit dem inzwischen vorzulegenden Gesetz der Regierung, gut bearbeiten können.
({0})
Das Wort hat der Herr Bundesarbeitsminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Neuordnung der Arbeitslosenversicherung ist
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eine Frage, die in den Kreisen derer, die etwas von diesen Dingen verstehen, tatsächlich seit zwei Jahren sehr stark diskutiert wird. Auch wir in der Verwaltung für Arbeit in Frankfurt und später im Arbeitsministerium haben uns immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie man auf diesem Gebiet zu einer Gesundung der Verhältnisse kommen könnte. Wir haben im Ministerium das heute auf diesem Gebiet in den elf Ländern der Bundesrepublik bestehende Recht einmal zusammentragen lassen. Es ist ein hoher Stoß von gedruckten Verordnungen, die heute bindendes Recht darstellen.
Die Frage war: Konnte man zu einer Neuordnung des AVAVG kommen, ohne daß wir eine Bundesanstalt für Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung hatten? Ich habe auch den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegenüber lange Zeit die Meinung vertreten: man sollte zuerst eine völlige Reorganisation des Gesetzes vornehmen und dann die Bundesanstalt errichten. Aus den beteiligten Kreisen ist mir gesagt worden: bei der heutigen Unübersichtlichkeit ist es kaum möglich, eine wirkliche Neuordnung des Gesetzes herbeizuführen, weil wir die Unterlagen gar nicht haben und weil die Gefahr besteht, daß sie uns von den einzelnen Ländern auch nicht zur Verfügung gestellt werden: Sie wissen, daß der Bundesarbeitsminister zur Zeit keine Möglichkeit hat, auf die Gestaltung der Dinge in den Landesarbeitsämtern irgendeinen Einfluß auszuüben; das ist eine reine Angelegenheit der Länder. Erst durch die Schaffung der Bundesanstalt wird hier eine neue Ordnung geschaffen werden.
Eine ganz andere Frage ist, ob man im Augenblick dazu übergehen soll, eine Erweiterung der Versicherungspflicht in der Landwirtschaft durchzuführen. Diejenigen, die die heutigen Verhältnisse im Bund kennen, wissen, daß es keine Gruppe gibt, in der die Arbeitslosenversicherung so mißbräuchlich in Anspruch genommen wird wie in der Landwirtschaft. Ich sage Ihnen: es haben sich zum Teil Dinge entwickelt, die den Keim des Ungesunden geradezu drastisch sichtbar werden lassen. Wenn beispielsweise heute zwei kleine Landwirte in der Konjunktur gegenseitig ihre Söhne beschäftigen, um sie im Winter wieder zu sich in die Familie zurückzunehmen, und die Söhne auf Grund dieses Beschäftigungsverhältnisses Arbeitslosenunterstützung beziehen, dann weiß man zum Schluß nicht mehr, wohin die Dinge laufen sollen. Wenn wir heute aus weitesten Kreisen des Bundes täglich Zuschriften bekommen, wonach gerade in den rein ländlichen Gebieten die Schwarzarbeit nicht allein in der Landwirtschaft, sondern sogar im Handwerk geradezu beängstigende Form annimmt, so muß man sagen: die Neuordnung des Gesetzes muß ihre Zeit haben, und die wirklich sachverständigen Menschen müssen hier zu Rate gezogen werden.
Der Antrag enthält einen Teil, den ich jeden Tag mitmache: das ist die Einbeziehung der Lehrlinge in die Arbeitslosenversicherung im letzten halben Jahr der Lehre, um ihnen bei Beendigung der Lehrzeit nicht etwa das zuzumuten, was von den Antragstellern hier gesagt worden ist. Ich kann aber auch hier sagen, daß sich - Gott sei Dank - für dieses Jahr die Verhältnisse nicht so ausgewirkt haben, wie es teilweise angenommen wurde, und ich habe die Hoffnung, daß die Zahl derjenigen, die im nächsten Jahre die Lehre verlassen, ins Wirtschaftsleben eintreten wollen und arbeitslos werden, nicht so groß sein wird wie in der Vergangenheit. Ich bin aber, wie gesagt, gern bereit, vom Ministerium aus alle Wege mitzugehen, um auf diesem Gebiet den Wünschen der Antragsteller so bald wie möglich gerecht zu werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohl.
Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers haben sehr eindeutig klargelegt, daß mit der baldigen Verabschiedung einer Veränderung der Arbeitslosenversicherung nicht zu rechnen sein wird. Er sprach davon, daß die Dinge ausreifen müßten. Dieses „Ausreifen" erleben wir seit Ende 1945. Gerade die in Frage kommenden Fachkreise haben sich auf jeder Konferenz sehr eingehend mit dem Problem der Arbeitslosenversicherung und ihrer zwingend notwendigen Änderung beschäftigt. Ich begrüße deshalb den Gesetzentwurf der sozialdemokratischen Fraktion, möchte aber doch zu einigen Punkten Stellung nehmen, und zwar zunächst zu dem § 74, der vorsieht, daß Lehrlinge in den letzten zwölf Monaten mit in die Arbeitslosenversicherung einbezogen werden. Ich glaube, daß bei der Formulierung dieses Gesetzesparagraphen einiges fehlt. Nach meiner Überzeugung fehlt einmal die Gegenüberstellung der gezahlten Lehrlingslöhne und die weiter dadurch in Erscheinung tretende Belastung der Lehrlinge nach der wirtschaftlichen bzw. nach der lohnpolitischen Seite hin. Man sollte also in Art. 6, den ich hier allerdings auf den § 74 nicht mit aller Deutlichkeit anwenden kann - er ist in der Auslegung strittig -, eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung für 12 Monate - darin gehe ich mit Ihnen konform - unter allen Umständen von dem Arbeitgeber gezahlt werden müssen. Ich vertrete die Meinung, daß gerade dieses Problem und der in Art. 5 zur Grundlage genommene Betrag von 25 DM nicht nur eine rein versicherungsmathematische Angelegenheit ist, sondern daß darüber hinaus die soziale Seite einen sehr entscheidenden Faktor darstellt, den wir unter allen Umständen berücksichtigen müssen.
Zusammengefaßt möchte ich also sagen: Wir sollten nicht davor zurückschrecken, auch ein Teilgebiet der Arbeitslosenversicherungsgesetzgebung bereits jetzt in Angriff zu nehmen, so wie es in dieser Form hier geschehen ist, mit einigen Abänderungen, die man im Ausschuß durchsetzen kann. Wir sollten nicht davor zurückschrecken, das zu tun, weil dann, praktisch gesehen, das Ganze darunter nicht leidet, sondern die sogenannten Reformpläne, deren Grundzüge, die im Arbeitsministerium ausgebrütet werden, uns ja leider noch nicht bekannt sind, gefördert werden. Ich bin der Meinung, daß die Bearbeitung eines Teilgebiets für das Ganze nur fördernd sein kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe gern zu und bin davon überzeugt, daß die Arbeitslosenversicherungsfrage immer eine schwierige Frage ist. Wir haben dies wiederholt in den Jahren vor 1933 und
({0})
l auch jetzt in jüngster Vergangenheit erleben können. Wenn man sich bis zur Währungsreform weniger Gedanken darüber gemacht und nicht versucht hat, Möglichkeiten zu schaffen, um bestimmte Erscheinungen in der Arbeitslosenversicherungsgesetzgebung zu ändern, so liegt das doch einfach daran, daß während der RM-Zeit praktisch Arbeitslose nicht vorhanden waren. Anders sind die Dinge aber durch alle die mit der Währungsreform zusammenhängenden Umstände geworden.
Es kann nicht bestritten werden, daß in ,der Vergangenheit gerade Lehrlinge in großem Maße arbeitslos geworden sind. Was hat's denn für einen Zweck, wenn man bei der Ausbildung der Lehrlinge noch Kosten aufwendet und wenn der Lehrling dann nicht in der Lage ist, das Erlernte in seinem Beruf auszuüben, wenn er schließlich als ungelernter Arbeiter irgendeine Stellung annehmen muß. Ich glaube, das ist doch wirklich nicht der Sinn der Schaffung von Lehrstellen und der Ausbildung von Facharbeitern. Wenn wir wissen, wie sich unsere Bevölkerungsverhältnisse ändern werden, so daß uns in einigen Jahren gegenüber heute nur ein Teil der schulentlassenen Jugendlichen zur Verfügung steht, um ,den notwendigen Facharbeiternachwuchs zu schaffen, so müssen wir jetzt gesteigerten Wert darauf legen, daß jeder Ausgelernte in seinem Beruf bleibt, sich dort durch seine praktische Tätigkeit; und die gesammelten Erfahrungen zu einem tüchtigen, für unsere gesamte Volkswirtschaft notwendigen Facharbeiter ausbildet. Das war einer der Gründe, warum die Gewerkschaften sich vor Jahren schon an den damaligen Direktor der Verwaltung für Arbeit und den jetzigen Bundesarbeitsminister Anton Storch gewandt haben, um in dieser Beziehung eine gesetzliche Änderung zu erreichen. Es ist nichts geschehen. Wenn Sie die Ausführungen des Bundesarbeitsministers aufmerksam verfolgt haben, so hat er selbst zum Ausdruck gebracht: Es ist alles äußerst kompliziert; uns fehlen die Unterlagen; wir bekommen sie nicht oder wir haben sie nicht. Dahinter muß ich ein großes Fragezeichen setzen, und ich habe mindestens das Recht, mich darüber sehr, sehr zu wundern. Nach Ansicht des Bundesarbeitsministers können wir diese Probleme nicht lösen. So kann es nicht gehen. Wir haben in dem Gesetzentwurf, den wir dem Hohen Hause unterbreitet haben, den Versuch gemacht, die Probleme zu lösen. Ich bin davon überzeugt, daß wir sie gut gelöst haben im Interesse der Lehrlinge, unseres Facharbeiternachwuchses und unserer gesamten Volkswirtschaft. Das ist das Entscheidende.
Was nun die Landwirtschaft anlangt, so hat Herr Kollege Sabel von offenen Arbeitsplätzen gesprochen. Das ist uns bekannt. Mein Kollege Kinat hat von einer recht großen Zahl von Arbeitslosen gesprochen in einer Zeit, da in der Landwirtschaft doch Hochkonjunktur ist. Warum sind denn diese Gegensätze, auf der einen Seite die große Zahl von Arbeitslosen, auf der andern Seite freie Arbeitsplätze? Wir wissen alle, wie die Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft liegen. Solange wir nicht zu gesunden Arbeitsverhältnissen in der Landwirtschaft kommen, solange wird das Problem so auch weiter bleiben. Deshalb unsere Anregungen, auch hier zu Abänderungen zu kommen.
Dabei gebe ich gern die vom Arbeitsminister geschilderten Schwierigkeiten zu, die aber nicht bei
dem Arbeiter in der Landwirtschaft liegen, sondern bei dem Arbeitgeber in der Landwirtschaft. Es ist bedauerlich, daß man solche Ausführungen hier von dem verantwortlichen Bundesminister hören muß, was praktisch doch bedeutet, daß die Arbeitgeber in der Landwirtschaft - gelinde gesagt - nicht ganz fair verfahren.
Was nun die Frage des Mindestentgelts anlangt, so bin ich überrascht über die Ausführungen meines verehrten Kollegen Sabel, der den Wochenlohn von 25 DM in dieser Frage zu hoch ansieht.
({1}) - Lieber Kollege Sabel, - ({2}) - Nein? Gut! Das sind 50 Pfennig pro Stunde, Kollege Sabel. Sie haben gemeint, es gebe noch Arbeitnehmer, die weniger als 50 Pfennig verdienten. Von Arbeiterinnen weiß ich es nicht, aber Arbeiter mit noch geringerem Verdienst dürfte es kaum geben.
({3})
Sie müssen hier bedenken, verehrter Kollege
Sabel, daß es sich um einen ausgebildeten Facharbeiter handelt. Ich glaube, darin sind wir uns
sicher beide einig - denn Sie halten ihn für genau
so wertvoll wie ich -, daß der ausgebildete Facharbeiter, der seine Lehre erfolgreich beendet hat,
mindestens unter den heutigen lohnpolitischen Verhältnissen, einen Wochenlohn von 25 Mark bzw.
einen Stundenlohn von 50 Pfennig erhalten muß.
({4})
Was die Frage des Einheitlichen anlangt, so wollen wir im Ausschuß gern darüber reden; für solche Sachen bin ich zu haben. Das Einheitliche haben wir in Art. 6 niedergelegt, worin wir festgestellt haben, daß bei einem Entgelt bis zu 100 DM pro Monat oder 23,30 DM pro Woche der Arbeitgeber den Beitrag allein zu zahlen hat.
({5})
Nun meint Kollege Dr. Atzenroth, daß der Arbeitgeber dies gerne tue, weil er die soziale Notlage der Arbeiter, die unter 100 DM verdienten, - hoffentlich - würdige.
Ich bitte, dieses Gesetz auch dem Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen, damit die soziale Seite der Frage mit beachtet wird.
({6})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke.
Herr Präsident: Meine Herren und Damen! Erst die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Kohl haben mich veranlaßt, mich zum Wort zu melden und zu dieser Vorlage der SPD noch einige Bemerkungen zu machen. Ich glaube, daß all das, was hier über die Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft und über die Lehrstellenverhältnisse, den Mangel einerseits und den Überschuß andererseits, gesagt worden ist, durch die Arbeitslosenversicherung und ihre Neuordnung bzw. Änderung in keiner Weise berührt wird. Ich glaube auch nicht, daß wir mehr wirklich wertvolle Arbeitskräfte durch eine Änderung der Arbeitslosenversicherung in den Arbeitsprozeß bekommen, ebensowenig wie man durch eine Änderung charakterlich durchaus nicht wertvolle Arbeitskräfte dadurch anregen oder etwa bessern
({0})
kann. Die Argumente gehen nach meiner Auffassung an den Grundfragen vorbei.
Einer meiner Herren Vorredner hat von dem Versicherungsprinzip gesprochen. Es kommt mir grausam vor, dieses Wort „Versicherungsprinzip" im Zusammenhang mit der Arbeitslosenversicherung - die zwar noch so heißt - zu hören. Denn jeder, der die Arbeitslosenversicherung einigermaßen kennt, weiß, daß dieses Versicherungsprinzip in der Vergangenheit viele Male durchbrochen worden ist. Wir haben uns im Ausschuß meines Erachtens über die Frage zu unterhalten, ob man sich überhaupt darüber klar ist, daß man gegen Arbeitslosigkeit nicht versichern kann. Dabei kommen wir auch zu jenem Argument, das in Art. 6 des SPD-Entwurfes zum Ausdruck kommt: Soll der Arbeitgeber oder der Staat die Beiträge, durch die wir gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit versichern könnten, tragen oder nicht? Meine Freunde und ich sind der Auffassung, daß man gegen dieses Risiko der Arbeitslosigkeit nicht versichern kann. Wir sind auch der Auffassung, daß es nicht gut wäre, den Personenkreis der Arbeitslosenversicherung zu erweitern, ehe nicht die Grundlagen der Arbeitslosenversicherung oder der Arbeitslosenfürsorge, wie sie einmal aussehen soll, wiederhergestellt sind.
Als ich noch Mitglied des Sozialpolitischen Ausschusses des Zonenbeirats war, jenes ersten Beratungsorgans der britischen Zone, wurden wir im tiefen Winter schnell nach Hamburg gerufen, weil die britische Militärregierung verlangte, daß die Bundesanstalt für Arbeitslosenversicherung errichtet werden solle. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie nachts die Arbeitsminister der Länder sich ins Auto setzen und im Schneegestöber nach Hamburg kommen mußten, weil angeblich in ganz wenigen Stunden die Unterschrift geleistet werden sollte. Inzwischen sind viele Jahre ins Land gegangen, und meine Freunde und ich bedauern sehr, daß diese Frage der einheitlichen Kontrolle über die Mittel der Arbeitslosenversicherung, nämlich die Beiträge der Arbeiter, Angestellten und Betriebsführer, noch nicht gelöst ist.
({1})
Viel wichtiger erscheint es mir, festzustellen, wo diese Mittel geblieben sind, und weiter durch die Errichtung einer einheitlichen Anstalt, die uns nun schon so lange versprochen ist, zu erreichen, daß zunächst einmal die Grundlage einer sauberen Kontrolle des Eingangs und der Verwertung der Beiträge geschaffen wird, damit wir uns dann später über die grundsätzliche Frage der Neuordnung unterhalten können.
Meine Fraktion hat nichts gegen eine Überweisung an den Sozialpolitischen Ausschuß. Sie hofft allerdings, daß das Bundesarbeitsministerium initiativ werden wird und diese Unterlagen schnellstens dem Sozialpolitischen Ausschuß für seine Diskussion zur Verfügung stellt. Sie erwartet von der Fraktion der SPD und von dem Vorsitzenden des' Sozialpolitischen Ausschusses, :laß beide aus ihrer Erfahrung heraus darauf achten, daß diese Gesetzesvorlage erst dann behandelt wird, wenn die übrigen Grundlagen gegeben sind.
({2})
Das Wort hat der
Herr Abgeordnete Arndgen.
Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Dr. Atzenroth hat beantragt, den Antrag Drucksache Nr. 1322 auch dem Ausschuß für Wirtschaftspolitik zu überweisen, und der Herr Abgeordnete Richter hat beantragt, ihn auch dem Ausschuß für Sozialpolitik zuzuordnen. Die Beschäftigung mehrerer Ausschüsse mit einem Antrag verzögert nur seine Erledigung. Ich sehe nicht ein, warum wir, nachdem wir die Arbeiten der Ausschüsse für Arbeit und für Sozialpolitik hier im Hause räumlich nach Aufgabengebieten abgeteilt haben, nun dazu übergehen sollen, jeden Antrag, der dem Ausschuß für Arbeit zugeordnet werden soll, auch noch dem Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen.
Ich möchte daher beantragen, diesen Antrag Drucksache Nr. 1322 federführend dem Ausschuß für Arbeit und außerdem dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen.
({0})
Sie ziehen den Antrag zurück. Dann bleibt also noch der Antrag auf Überweisung an die Ausschüsse für Arbeit und für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Hier bestehen wohl keine abweichenden Auffassungen. Ein Zweifel besteht nur noch hinsichtlich der Überweisung an den Ausschuß für Sozialpolitik. Übereinstimmung besteht in jedem Falle darüber, daß der Ausschuß für Arbeit federführend sein soll.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Ich wiederhole: ich gehe davon aus, daß Übereinstimmung darüber besteht, den Antrag an den Ausschuß für Arbeit und an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen. Ich lasse nur noch über den weiteren Antrag abstimmen, den Antrag an den Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Gegenprobe! - Das ist unklar. Darf ich um Wiederholung bitten. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Dagegen? - Das ist eine größere Fläche, sie ist aber weniger dicht besiedelt.
({1})
Es ist sehr, sehr schwer, sich zu entscheiden.
Es strömen nun noch zwei Abgeordnete hinzu.
({2})
- Jetzt ist es zweifellos die Mehrheit.
({3})
Damit ist der Antrag, die Vorlage auch an den Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen, abgelehnt.
Ich rufe auf Ziffer 4 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die freiwillige Höherversicherung in den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten ({4}).
Das Wort zur Begründung hat Frau Abgeordnete Döhring.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen für die Einbringung der Vorlage eine Redezeit von 10 Minuten und für die Aussprache insgesamt 60 Minuten vor. Einverstanden? - Es ist so beschlossen.
Frau Döhring ({5}), Antragstellerin: Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Mit dem Antrag meiner Fraktion auf Drucksache Nr. 1323 wird Ihnen ein Gesetzentwurf unterbreitet, der den Vorschlag über eine gesetzliche Regelung der freiwilligen Höherversicherung in den Rentenversicherungen zur Grundlage hat, wie er von der Arbeitsgemeinschaft der Landesversicherungsanstalten und der Angestelltenversicherung sowohl der Bundesregierung wie auch den einzelnen Fraktionen zugeleitet wurde.
Bekanntlich erhalten die Arbeiter und Angestellten auf Grund ihrer Versicherungspflicht im Falle ihrer Erwerbsunfähigkeit oder des Alters eine Rente.
({6})
Meine Damen und Herren! Ich bitte um ein wenig mehr Ruhe.
Frau Döhring ({0}), Antragstellerin: Diese soll nach den Ermittlungen im Durchschnitt 65 bis 90 Mark im Monat betragen. Obwohl die Arbeiter und Angestellten ihr ganzes Leben lang einen relativ hohen Beitrag für ihre Rentenversicherung leisten, bekommen sie nur diesen relativ geringen Betrag an Rente ausbezahlt, der, wie Sie mir wohl alle beipflichten werden, zum Leben einfach nicht ausreicht. Weil dem so ist, wurden für die Arbeiter und Angestellten sowohl bei den Behörden als auch bei den privaten Unternehmen Pensionseinrichtungen geschaffen, die zu den Renten aus den Sozialversicherungen Leistungen gewährten. Zu diesen Pensionskassen leisteten die Arbeiter und die Angestellten in der Regel erhebliche Beiträge. Außer diesen Einrichtungen haben einzelne Unternehmen Fonds gebildet, aus denen ebenfalls Zuschüsse zu den Rentenleistungen gewährt wurden. Die Beamten bei den Gemeinden, den Ländern und dem Bund sowie bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften erhalten bekanntlich ihre Pensionen. Sie haben hierzu keinen Beitrag aufzubringen, vielmehr werden diese Pensionen aus öffentlichen Mitteln und ähnlichen Einnahmen bestritten. Die Höhe der Pensionen richtet sich bekanntlich nach dem Gehalt des Betreffenden.
Trotz den eingangs geschilderten Versuchen und Maßnahmen zur Besserung des Lebensunterhalts im Falle der Invalidität und des Alters ist der größte Teil der Arbeiter und Angestellten n u r auf die Leistungen der Sozialversicherung angewiesen. Diese Verhältnisse, die doch niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, als eine sozial günstige Regelung bezeichnen kann, waren die Ursache dafür, daß die Sozialversicherung die Möglichkeit der freiwilligen Höherversicherung vorgesehen hat, und zwar sowohl für die Arbeiter wie für die Angestellten. Sie konnten, ganz gleich, ob sie Pflichtversicherte oder freiwillig Versicherte sind, zu dieser Versicherung noch Beiträge für eine Höherversicherung leisten.
Sowohl für die Pflichtversicherung als auch für die freiwillige Versicherung ist die Rente aus Grundbetrag und Steigerungsbetrag zusammengesetzt. In der Invalidenversicherung beträgt der Grundbetrag pro Jahr bekanntlich 156 DM und der Steigerungsbetrag für die geleisteten Beiträge 1,2 %, während in der Angestelltenversicherung der Grundbetrag 444 DM und der Steigerungsbetrag nur 0,7 % beträgt. Demgegenüber wurde für die auf Grund der Höherversicherung geleisteten Beiträge ein Steigerungsbetrag in der
Invalidenversicherung in Höhe von rund 20 % und in der Angestelltenversicherung in Höhe von 10 bis 20 % gewährt. Diese Regelung hat sowohl bei den Arbeitern als auch besonders bei den Angestellten großen Anklang gefunden.
Leider wurden auf Grund des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes die Steigerungsbeträge für die Höherversicherung wesentlich reduziert. Sie betragen nur noch einen Bruchteil der früheren, von mir vorher angegebenen Sätze. Man hat in dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz eine Regelung getroffen, die im Verhältnis zu den in der freiwilligen Höherversicherung geleisteten Beiträgen nicht gerecht ist. Auf Grund von versicherungsmathematischen Berechnungen, die der Verband der Landesversicherungsanstalten und der Angestelltenversicherung veranlaßte, können und müssen nach Auffassung meiner Fraktion für die zur Höherversicherung geleisteten Beiträge günstigere Steigerungssätze gewährt werden. Der Steigerungsbetrag von 1/6 der Beiträge, wie er in dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, ist für den Versicherungsträger tragbar und bringt für den Versicherten eine beachtliche Erhöhung der ihm auf Grund seiner Versicherungspflicht gesetzlich zustehenden Arbeiteroder Angestelltenrente.
Aus diesen Erwägungen ist in § 1 des vorliegenden Gesetzentwurfes vorgeschlagen, in § 7 Abs. 1 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes die Worte „und die freiwillige Höherversicherung" zu streichen. Dadurch wäre den an der freiwilligen Höherversicherung interessierten Versicherten, wie in § 2 des Gesetzentwurfes vorgesehen, wieder die Möglichkeit gegeben, die Beitragsklasse frei zu wählen. Die Beitragsklassen bleiben die gleichen, nur sind besondere Beitragsmarken, etwa mit dem Aufdruck „HV" - Höherversicherung - vorgesehen. Sie sehen, daß die Neuregelung der Höherversicherung ohne große Änderung des bisherigen Verfahrens erfolgen kann, so daß praktisch zusätzliche Verwaltungsausgaben in nennenswertem Umfang nicht entstehen können.
Der § 4 sieht den von mir bereits erwähnten Steigerungsbetrag von einem Sechstel der für die freiwillige Höherversicherung entrichteten Beiträge vor, und zwar für beide Rentenversicherungen gleich hoch, nachdem die Leistungsvoraussetzungen für sie nahezu die gleichen geworden sind. Auch soll dieser Steigerungsbetrag zusätzlich zur Mindestrente gewährt werden. Da die Zahlung der Mindestrente auf Grund der Pflichtversicherung oder der freiwilligen Versicherung unabhängig von der Höherversicherung erfolgt, bestehen auch hiergegen keine versicherungstechnischen Bedenken.
Der § 5 des Gesetzentwurfs sieht vor, das Gesetz rückwirkend ab 1. 6. 1949 in Kraft treten zu lassen. Wir haben diesen Termin deshalb gewählt, weil an diesem Tage das SozialversicherungsAnpassungsgesetz in Kraft getreten ist und weil wir meinen, daß für die seit diesem Termin geleisteten freiwilligen Höherversicherungsbeiträge ebenfalls der vorgesehene höhere Steigerungsbetrag berechnet werden sollte.
Unter Berücksichtigung der von mir dargelegten Verhältnisse halten wir die Schaffung dieses Gesetzes für dringend geboten. Ich bitte Sie deshalb im Auftrag meiner Fraktion, dem vorliegenden Antrag Ihre Zustimmung zu geben und
({1})
den Antrag dem sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen.
({2})
Das Wort hat der
Herr Abgeordnete Arndgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag auf Drucksache Nr. 1323 hat an sich eine innere Berechtigung. Denn durch die Worte „und die freiwillige Höherversicherung" in § 7 Abs. 1 des SozialversicherungsAnpassungsgesetzes des Wirtschaftsrates vom 17. Juni 1949 wird die freiwillige Höherversicherung an die Arbeitsverdienste gebunden, so daß ein Pflichtversicherter auch dann, wenn er bereit ist, durch höhere Beiträge für seinen Lebensabend ein Anrecht auf eine höhere Rente zu erwerben, hierzu nicht in der Lage ist. Die Bindung auch der freiwilligen Höherversicherung an die Arbeitsverdienste der Versicherten, die im gleichen Absatz des § 7 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes vorgeschrieben ist, macht praktisch dem Pflichtversicherten eine freiwillige Höherversicherung unmöglich. Es wird heute kaum noch festzustellen sein, ob die Einengung für eine freiwillige Höherversicherung der Pflichtversicherten im Frankfurter Wirtschaftsrat gewollt oder ungewollt beschlossen wurde. Diese Einengung bedeutet für den Pflichtversicherten eine Härte, weil durch diese Bestimmung dem Willen des Versicherten, für den Lebensabend zeitig günstige Vorsorge zu treffen, Schranken gesetzt sind.
Trotzdem bin ich der Auffassung, daß der Gesetzentwurf auf Drucksache Nr. 1323 nicht ohne Ausschußberatung verabschiedet werden kann. Denn in § 4 dieses Gesetzentwurfs ist als jährlicher Steigerungsbetrag ein Sechstel der für die freiwillige Höherversicherung geleisteten Beiträge vorgesehen. Mit der beantragten Bestimmung des § 4 wird in die bisherige Versicherungsberechnung der Rentenversicherung eingegriffen. Nach dem jetzigen Recht beträgt der Steigerungsbetrag in der Invalidenversicherung 1,2 % und in der Angestelltenversicherung nur 0,7 %. Es bedarf daher reiflicher Überlegung, ob für die freiwillige Höherversicherung der Steigerungsbetrag auf ein Sechstel des Beitrags festgesetzt werden kann.
Meine Freunde und ich sind ebenfalls der Meinung, daß an der Reichsversicherungsordnung wie auch an dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz Überholungen notwendig sind, um diese Bestimmungen den heutigen Verhältnissen und Notwendigkeiten anzupassen. Wenn wir dazu übergehen wollten, alle auftauchenden Einzelfragen durch Einzelgesetze zu regeln, würden die Reichsversicherungsordnung und ihre Nebengesetze mit einem bunten Flickwerk umwoben, wodurch ihre Handhabung und Durchführung bestimmt nicht erleichtert würde. Daher sollten gerade Fragen, die irgendwie finanziell oder strukturell in die Reichsversicherungsordnung und ihre Nebengesetze eingreifen, zurückgestellt werden, nicht bis eine mathematische Bilanz irgendeiner Organisation, sondern bis die endgültige amtliche mathematische Bilanz der Rentenversicherung vorliegt, die uns mit ganz kurzer Frist versprochen ist.
({0})
Sobald diese versicherungsmathematische Bilanz vorliegt, werden wir nicht zu überprüfen haben, ob eine einzelne Frage in Angriff genommen werden muß, sondern wir werden reiflich zu überlegen haben, ob nicht nach den Ergebnissen dieser Bilanz die gesamte Reichsversicherungsordnung einer Überholung und Überprüfung bedarf. Ich bin sogar der Auffassung, daß wir nach Vorliegen dieser Bilanz vielleicht sogar sehr schnell an die Dinge herangehen müssen, weil wir dann klar sehen, wie sie liegen.
Meine Freunde und ich sind daher der Auffassung, daß dieser Antrag im Ausschuß für Sozialpolitik behandelt werden soll und daß überprüft werden muß, ob, bevor diese Bilanz vorliegt, an die Behandlung dieser Materie herangegangen werden soll.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Entwurf, den uns die SPDFraktion vorgelegt hat, hat die Fraktion der Deutschen Partei, die an den Fragen der Erhaltung der Rentenversicherung als der maßgeblichen Altersversorgung des deutschen Volkes besonders interessiert ist, gewissermaßen erfreut. Wir haben uns sehr darüber gefreut, daß gerade die Sozialdemokratische Partei erkannt hat, daß die Reduzierung der Steigerungsbeträge, wie sie das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz gebracht hat, nicht gut ist; und wir freuen uns auch, daß die Diskussion über eine wirklich wertvolle und wirksame Altersversorgung nach dem Prinzip der Freiwilligkeit eröffnet werden soll.
Darin bin ich auch mit der Frau Kollegin Döhring einig, daß das augenblickliche System, wie es uns das SVA beschert hat, in keiner Weise einen Anreiz für die freiwillige Weiterversicherung bietet. Ganz besonders sind die weiblichen Angestellten davon betroffen, die nicht immer in der Lage sind, eine freiwillige Höherversicherung, deren Beiträge ja jetzt an den Arbeitsverdienst gebunden sind, aus eigener Kraft zu leisten, während früher diese freiwillige Weiterversicherung in ganz großem Maße einer der maßgeblichsten Grundsteine für die Altersversorgung war. Wenn man außerdem bedenkt, daß die gesamte Altersversorgung des Handwerks problematisch ist und daß sie ebenfalls bei der Neuordnung der Rentenversicherung sehr ernsthaft diskutiert werden muß, wenn man weiß, daß auf den Schultern der Angestellten und ihrer Arbeitgeber, die bisher ohne Staatszuschüsse die Beiträge aufgebracht haben, diese ganze Entwicklung ruht, dann muß man doppelt verantwortlich zu einer solchen Vorlage Stellung nehmen.
Und da hat meine Fraktion einen ganz besonderen Wunsch. Wir haben schon im September vorigen Jahres mit der Drucksache Nr. 35 vom 27. September 1949, die in der 12. Sitzung am 20. Oktober 1949 dem sozialpolitischen Ausschuß überwiesen worden ist, den Antrag zur Überprüfung des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes gestellt. Wir haben außerdem mit dem Antrag auf Drucksache Nr. 44 - ebenfalls vom 27. September 1949 und gleichfalls bereits im Oktober 1949 dem Ausschuß überwiesen - den Antrag zur Wiedererrichtung der Bundesanstalt für Angestellte gestellt. Wir haben außerdem mit unserem Antrag
({0})
vom 20. Januar 1950 das Problem der betrieblichen Pensionskassen mit angerührt, das leider auch bis heute in beiden Ausschüssen noch nicht erledigt werden konnte.
Die Problematik der freiwilligen Altersversorgung sowohl im Betriebe als auch in der staatlichen Rentenversicherung ist so groß und die Frage so verantwortlich, dali ich durchaus mit dem Herrn Kollegen Arndgen hundertprozentig darin einig bin, daß es unverantwortlich wäre, jetzt ein Flickwerk zu beginnen und auf die großen Löcher in der deutschen Rentenversicherung dünne Flicken zu setzen, die bei der nächsten Belastungsprobe reißen würden. Wir meinen, daß es viel wichtiger wäre, zunächst einmal festzustellen, daß das Vertrauen zur Rentenversicherung, zur pflichtmäßigen wie zur freiwilligen, erst dann wieder gegeben sein kann, wenn die Grundlagen der Rentenversicherung hergestellt sind. Insofern haben wir nach langem Warten mit einer gewissen Beruhigung gehört, daß nun endlich die mathematischen Un-t erlagen im Bundesarbeitsministerium fertig sein sollen, die uns zeigen werden, wie pleite die deutsche Rentenversicherung ist. Wenn wir jetzt eine große Sorge haben, dann nicht die, zunächst da einen Anreiz zu schaffen, wo keine Grundlagen vorhanden sind, sondern die, zuerst die Sorge zu beseitigen, ob die Renten in der bisherigen Höhe überhaupt gezahlt werden können. Die zweite Sorge, die wir zu beseitigen haben, ist die, daß der Anreiz der freiwilligen Weiterversicherung erst dann geschaffen wird, wenn alle jene Dinge beseitigt sind, die vorläufig noch durch das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz weitgehende . Unklarheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen haben. Ich denke nur an das Anliegen, das Sie mit so besonderer Wärme immer vorgetragen haben und das wir teilen: die Frage der Renten für die Arbeiterwitwe in der Invalidenversicherung. Das, was dort durch die Sperrvorschriften gekommen ist, ist eine solche soziale und unbillige Härte, daß ich immer nur wiederholen kann: ich bitte um die Hilfe aller Fraktionen bei der endgültigen Überprüfung des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes, dem meine Fraktion schon im Wirtschaftsrat ihre Zustimmung aus den Gründen, die Sie erfreulicherweise heute vortragen, nicht geben konnte.
Zum Schluß darf ich noch darauf hinweisen, daß es uns wichtig erscheint, daß dieser Antrag erst dann im Ausschuß für Sozialpolitik beraten wird, nachdem die Grundlagen der Rentenversicherung wiederhergestellt sind, nachdem die versicherungsmathematische Bilanz vorliegt, nachdem das Anpassungsgesetz überprüft ist und nachdem die Frage der Angestelltenversicherung sowohl ihrer besonderen Organisation als auch ihrer besonderen Verantwortung nach auch gegenüber den Berufsständen, die ihre freiwillige Versicherung in ihr haben, gelöst ist.
({1})
Vizepräsident Dr. Schmid! Das Wort hat der
Herr Abgeordnete Richter ({2}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mich nicht verhört habe, hat die Frau Abgeordnete Kalinke eben ausgeführt, daß sich ihre Fraktion im Wirtschaftsrat gegen das Sozialversicherungsanpassungsgesetz geäußert oder gar gegen das Gesetz gestimmt hat. Ich
glaube, Sie gehören der Deutschen Partei oder so einer ähnlichen Fraktion an.
({0})
Ich kann mich nicht erinnern, daß eine derartige Partei oder Fraktion im Wirtschaftsrat vertreten war.
({1})
- Ich lasse mich gerne aufklären, wenn ich mich irre; Sie können nachher wieder sprechen.
({2})
- Danke für die Aufklärung.
Was nun die versicherungsmathematischen Berechnungen anlangt, so darf ich doch darauf hinweisen, daß es die CDU-Fraktion des Wirtschaftsrats war, die im Dezember 1948 den Antrag gestellt hat, daß eine versicherungsmathematische Berechnung von dem Direktor der Verwaltung für Arbeit bzw. seinem Amt aufgestellt werden sollte. Wir haben wiederholt im Sozialpolitischen Ausschuß danach gefragt und wir haben neulich - es ist noch gar nicht lange her - von einem Vertreter der Bundesregierung gehört, daß es wohl noch einige Zeit dauern würde, bis wir diese versicherungsmathematischen Berechnungen bekommen würden. Ich wundere mich deshalb über die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Arndgen, wonach uns diese Berechnungen in aller Kürze vorgelegt werden sollen. Aber schließlich hat er als Vertreter der tragenden Regierungskoalitionspartei bessere Verbindungen zum Arbeitsministerium und zur Bundesregierung als wir von der Opposition.
Zur Sache selbst. Ich habe den Eindruck, daß Sie, Frau Kollegin Kalinke und auch Herr Kollege Arndgen, hier etwas verwechseln. Dieses Gesetz über die Höherversicherung hat doch nichts mit der Rentenversicherung im allgemeinen zu tun; es hat weder etwas mit der Pflichtversicherung noch mit der freiwilligen Versicherung zu tun, es will lediglich zu erreichen versuchen, daß durch die Streichung der Worte „und die freiwillige Höherversicherung" im Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz die Möglichkeit geschaffen wird, daß eben wie früher - wie vor dem SozialversicherungsAnpassungsgesetz - jeder Arbeiter und Angestellte sich freiwillig höher versichern kann und daß genau wie früher - vor Inkrafttreten des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes - jeder Arbeiter und Angestellte dementsprechend einen höheren Steigerungsbetrag bekommt, als wie es in der Pflichtversicherung und der freiwilligen Versicherung vorgeschrieben ist. In der Pflichtversicherung und der freiwilligen Versicherung beträgt er 1,2 % bzw. 0,7 %; in der Höherversicherung hat er, wie Frau Kollegin Döhring ausgeführt hat, schon vor dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz 16 % im Durchschnitt betragen, der gleiche Prozentsatz - ein Sechstel -, wie er im § 4 vorgeschlagen wird. Dieser Prozentsatz, dieser Steigerungsbetrag von einem Sechstel für die Höherversicherung, die ja neben der Pflicht- bzw. freiwilligen Versicherung durch besondere Beitragszahlung geleistet wird, ist versicherungsmathematisch berechnet und überprüft und von den Landesversicherungsanstalten und deren Fachleuten für richtig und gut befunden worden.
Deshalb bin ich der Meinung, Sie sollten dem Antrag meiner Kollegin Frau Döhring, dieses Gesetz
({3})
dem Sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen, grundsätzlich Ihre Zustimmung geben.
Keine weiteren Wortmeldungen? - Ich schließe die Aussprache.
Es ist der Antrag gestellt, die Vorlage dem Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen. Kein Widerspruch?
({0})
-Kein Widerspruch dagegen, daß diese beiden Anträge dazugenommen werden? - Das ist nicht der Fall. Dann ist entsprechend beschlossen. Die Vorlage wird zugleich mit den Anträgen Drucksache Nr. 35 und Drucksache Nr. 44 an den Ausschuß für Sozialpolitik überwiesen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Änderung und Aufhebung von Vorschriften der Sozialversicherung ({1}).
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, für die Begründung 15 Minuten und für die gesamte Aussprache 90 Minuten zu beschließen. Kein Widerspruch? - Es ist so beschlossen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Troppenz.
Troppenz ({2}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Auftrag, den Antrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei, Drucksache Nr. 1330, hier zu begründen.
Der Antrag hat den Entwurf eines Gesetzes über Änderung und Aufhebung von Vorschriften in der Sozialversicherung zum Inhalt. Der Antrag muß unter den Gesichtspunkten betrachtet werden, die bei den Debatten und Aussagen innerhalb des Sozialpolitischen Ausschusses zutage getreten sind. Der Sozialpolitische Ausschuß hat sich in zahlreichen Sitzungen mit einer Materie beschäftigen müssen, die auch diesem Antrag zugrunde liegt. Es handelte sich darum, zu einem Tatbestand Stellung zu nehmen, der durch die nationalsozialistische Gesetzgebung entstanden war und der dringend einer Abänderung bedurfte. Es hat sich bei den Beratungen im Sozialpolitischen Ausschuß leider herausgestellt, daß zwischen den Vertretern der Opposition und denen der Regierungsparteien prinzipielle Meinungsverschiedenheiten vorhanden gewesen sind, Meinungsverschiedenheiten, die sich auch im Laufe sehr ausgedehnter Debatten und sehr vieler Sitzungen des Sozialpolitischen Ausschusses im Wege eines Kompromisses nicht in Übereinstimmung bringen ließen. Ich möchte in diesem Zusammenhange - vor allen Dingen mit Rücksicht auf die Begrenzung der Redezeit - die Auseinandersetzung im Sozialpolitischen Ausschuß besonders im Hinblick auf die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten hier nicht im einzelnen erörtern. Ich möchte nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, dem dringenden Wunsche Ausdruck geben, daß Sie diesem hier vorliegenden Antrag trotzdem eine sachliche und ernste Würdigung angedeihen lassen.
Gestatten Sie mir nunmehr zu den einzelnen Artikeln des Entwurfs einige kurze Bemerkungen. Wir fordern in Art. 1 eine Neufassung des § 225 a der Reichsversicherungsordnung. Wir wünschen, daß durch die Neufassung dieses § 225 a der Stellung der sogenannten Versicherungsältesten entsprochen wird und auf der anderen Seite auch den Interessen der Versicherten, für die ja die Sozialversicherung einzig und allein geschaffen worden ist, dadurch Rechnung getragen wird, daß, wenn die Versicherten bei der Frage der Neuerrichtung oder der Erweiterung einer bestehenden Krankenkasse diese Erweiterung oder Neuerrichtung mit Mehrheit ablehnen, es dann auch bei diesem Beschluß sein Bewenden haben soll, das heißt, daß dann keine Möglichkeit mehr gegeben ist, trotzdem auf einer anderen Grundlage etwa die Erweiterung oder die Errichtung von gesetzlichen Krankenkassen zu betreiben.
Der Art. 2 bringt die Voraussetzungen zum Ausdruck, unter welchen nach unserer Meinung künftig die Errichtung von Innungs- und Betriebskrankenkassen betrieben werden kann. In diesem Art. 2 wird zum Ausdruck gebracht, daß in § 245 Abs. a der Reichsversicherungsordnung und auch entsprechend dem Abs. 1 Ziffer 250 die Versichertenzahlen geändert werden sollen. Bei diesen §§ 245 und 250 handelt es sich ebenfalls um die Errichtung von Betriebs- und Innungskrankenkassen. Es ist bei der in der Reichsversicherungsordnung verankerten Regelung eine Voraussetzung, daß die Zahl der Versicherten bei den zu errichtenden Betriebs- und Innungskrankenkassen 50 bzw. 150 Versicherte betragen muß. Wir wünschen, daß an Stelle dieser Zahlen tritt: 1000 statt 150 Versicherte und 500 statt 50 Versicherte.
Wir glauben, daß die Voraussetzungen, die für die Errichtung einer Betriebs- und Innungskrankenkasse bestehen, reformbedürftig sind, soweit hier die Zahl der Versicherten eine Rolle spielt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang, meine sehr verehrten Damen und Herren, darauf hinweisen, daß Sie die Tatsache einer mangelnden Leistungs-
und Lebensfähigkeit kleinster Krankenkassen prinzipiell ja schon dadurch erkannt haben, daß im Sozialpolitischen Ausschuß die Zahl der Versicherten auf 300 heraufgesetzt worden ist. Das scheint mir eine gute Grundlage für die hier diesem Antrag zugrunde liegende Auffassung zu sein.
Ich möchte dann zu dem Art. 3 ganz kurz Stellung nehmen. Hier wünschen wir, daß der § 252 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung, der davon spricht, daß der Antrag auf Genehmigung einer Betriebs- oder Innungskrankenkasse an das Versicherungsamt zu richten ist, um einen neuen Satz erweitert wird, der folgendermaßen lautet:
Der Antrag ist nur zulässig, wenn die Mehrheit der zu den Organen der Versicherungsträger wahlberechtigten Versicherungspflichtigen, die der neu zu errichtenden Krankenkasse
angehören sollen, in geheimer Abstimmung zugestimmt hat.
Dem Abs. 2 des § 252 liegt eine sprachliche Besserfassung zugrunde. Er hat insofern keine Bedeutung. Maßgebend ist jedenfalls der von mir zitierte Satz, der nun in Konsequenz der von mir schon gemachten Ausführungen tatsächlich die Stellung eines Antrages von der Zustimmung der wahlberechtigten Versicherungspflichtigen abhängig macht.
Der Art. 5 enthält die Änderung des § 364 der Reichsversicherungsordnung insofern, als einmal jede Krankenkasse nicht mehr eine Rücklage im Betrage von zwei Monatsausgaben auffüllen, sondern daß diese Rücklage mindestens auf eine halbe Jahresausgabe erweitert werden soll.
({3})
Außerdem soll nicht mehr bei einer Änderung dieser Höhe einer Rücklage die Landesversicherungsanstalt als Träger der sogenannten Gemeinschaftsaufgaben eingeschaltet werden. In Konsequenz dieser unserer Meinung haben wir ja auch in Art. 6 den Fortfall der §§ 364 a bis c der Reichsversicherungsordnung vorgesehen. Wir wollten dadurch erreichen, daß in Ansehung der doch nunmehr stattfindenden Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung kein Raum mehr ist für die Mitwirkung der Landesversicherungsanstalten; denn die Mitwirkung der Landesversicherungsanstalten in Form der sogenannten Gemeinlast oder der Rücklage der Krankenkassen verträgt sich eben nicht mit einer gesunden und vernünftig zu handhabenden Selbstverwaltung. Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch der Art. 6 zu beurteilen.
Der Art. '7 sieht vor, daß einige hindernde Erlasse des ehemaligen Reichsarbeitsministers aufgehoben werden.
Ich bin damit am Schluß meiner Ausführungen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den dringenden Wunsch, daß, wie ich schon ausgeführt habe, dieser Antrag eine sachliche und ernsthafte Würdigung erfährt. Ich bin der Meinung, daß Fragen der Sozialversicherung nicht unter politischen Aspekten gesehen werden sollten, sondern daß es sich hier, auch bei der Beurteilung dieses Antrags, einzig und allein darum handeln kann und darum handeln muß, nur dem Wohle der Versicherten zu dienen, denn für das Wohl der Versicherten sind ja die Versicherungsträger geschaffen worden; und ich sollte meinen, daß sich jeder, der Verantwortungsbewußtsein fühlen und tragen will, auch dieser Verantwortung dadurch bewußt wird, daß er bei den kommenden Beratungen alles daran Petzt, um zu einer sachlichen und einer vernünftigen Regelung der gesamten Materie zu kommen. Ich hoffe also sehr, daß meinen Ausführungen insoweit Rechnung getragen wird, und beantrage namens meiner Fraktion die Überweisung dieses Antrages an den Ausschuß für Sozialpolitik.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Arndgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der unter der Drucksache Nr. 1330 vorliegende Gesetzentwurf über Änderung und Aufhebung von Vorschriften der Sozialversicherung beantragt zunächst in den Art. 1. 2, 3 und 4 die Änderung von Bestimmungen über die Neuerrichtung von Krankenkassen. Nach meinem Dafürhalten und nach der Auffassung meiner Fraktion sind diese Artikel der Drucksache Nr. 1330 überholt und als erledigt zu betrachten, weil die in den genannten Artikeln gewünschten Neuerungen betreffend die Wiederzulassung von Krankenkassen schon auf Grund der Drucksachen Nr. 361 und Nr. 1019 den Ausschuß für Sozialpolitik beschäftigt haben. Dieser Ausschuß wird mit dem Gesetzentwurf über die Selbstverwaltung und Änderungen in der Sozialversicherung, mit dem sich das Haus in den nächsten Tagen in zweiter und dritter Lesung beschäftigen wird, Bestimmungen unterbreiten, die die Neuerrichtung von Krankenkassen regeln. Ich bin daher der Auffassung, daß es müßig ist, sich jetzt noch einmal mit Fragen dieser Art zu beschäftigen.
({0})
Auch sind die Formulierungen des Art. 7 des Antrages auf Drucksache Nr. 1330 durch die dem Hause demnächst vorliegenden Formulierungen für die Wiedereinrichtung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung überholt.
Die in Art. 5 des Antrags der SPD-Fraktion angedeuteten Fragen des Rücklagesolls bei den Krankenkassen und der Verwaltung dieser Rücklagen sind allerdings Fragen, die neu geregelt werden müssen, weil wir demnächst wieder die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung bekommen werden.
Auch die Fragen des Art. 6 des Antrages der SPD-Fraktion, die Gemeinschaftsaufgaben berühren, müssen neu geregelt werden. Nun sind dies aber Fragen der Organisation, wenigstens zu einem großen Teil. In einer Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses ist erklärt worden, daß im Arbeitsministerium an einem sogenannten Organisationsgesetz gearbeitet werde, das dem Hohen Hause sofort oder doch kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Wiedereinführung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung zugeleitet werde. In diesem Gesetz sollen nach den Auskünften, die uns im Sozialpolitischen Ausschuß gegeben wurden, nicht nur die Teilfragen, die hier in dem Antrage auf Drucksache Nr. 1330 angeschnitten wurden, sondern alle die Organisationsfragen geregelt werden, die für eine Neuorganisierung der Sozialversicherung notwendig sind. Nach diesen Erklärungen des Bundesarbeitsministeriums ist es müßig, jetzt ein Teilgebiet dieser Frage in Angriff zu nehmen und vielleicht in kurzer Zeit die anderen Fragen in einem weiteren Gesetz zu regeln.
Ich bin daher der Auffassung, daß der gesamte Antrag auf Drucksache Nr. 1330 überflüssig ist und beantrage namens meiner Fraktion, diesen Antrag abzulehnen.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hammer.
Meine Damen und Herren! Bezüglich der Erledigung dieses Antrages der Fraktion der SPD bin ich der Ansicht des Herrn Kollegen Arndgen.
({0})
Ich hätte es nicht für notwendig gehalten, zu dieser Sache zu sprechen. Diese Übungsgefechte im Vorfeld des Kampfes um die Einheitsversicherung sind uns nicht ungewohnt, und wir denken, daß wir zu gegebener Zeit darin unseren Mann stehen werden. Aber ein Vorwurf des Redners der sozialdemokratischen Fraktion hat mich doch veranlaßt herauszukommen, der Vorwurf nämlich, der dialektisch negativ ausgesprochen war und besagte: Wem das Wohl der Versicherten am Herzen liegt, der muß unserem Antrag zustimmen.
Meine Damen und Herren! Ich bin der Ansicht, daß derjenige, dem das Wohl der Versicherten am Herzen liegt und der diesen Antrag durchdenkt, ihm auch sachlich widersprechen muß, und zwar nicht nur deshalb, weil er bereits seine Erledigung gefunden hat. Sie beabsichtigen, mit den Art. 1 bis 4 dieses Gesetzes die weitere Gründung von Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen und Landkrankenkassen zu verhindern. Mindestzahlen von tausend Versicherten bedeuten in einer großen Anzahl aller Fälle bereits die Verhinderung der Neugründung solcher Kassen, und Ihre famose Be({1})
stimmung in Art. 3, wonach die Gesamtheit der Versicherten eines Bezirkes über das Schicksal ihrer Kollegen abzustimmen hat, stellt ja eine völlige Garantie gegen die Neugründung von kleinen Krankenkassen dar. Wir sind der Ansicht, daß gerade die kleinen Krankenkassen den geplanten Erfolg der deutschen Sozialversicherung garantieren und daß die großen Krankenkassen weitgehend schuld daran sind, daß die deutsche Krankenversicherung ihr Ziel nur zu 50 % erreicht hat. Offenbar haben Sie nicht darüber nachgedacht, daß es seit der Errichtung der Krankenversicherung in Deutschland eine neue Krankheit gibt: die sogenannte Versicherungskrankheit. Vor etwa 20 Jahren hat ein sehr namhafter Schweizer Chirurg einmal erklärt: Wenn er einen Bauern aus dem Kanton Basel-Land wegen eines Unterschenkelbruches behandeln müsse, dann sei dieser Bruch in 6 oder 8 Wochen geheilt; wenn er einen versicherten Industriearbeiter aus Basel-Stadt behandeln müsse, dann sei er erst in 6 Monaten geheilt; und wenn er einen italienischen Wanderarbeiter behandeln müsse, würde er überhaupt nicht heilen.
({2})
- Meine Damen und Herren, das ist keine Frechheit,
({3})
sondern das sind Tatsachen, und ein Stand, der das
an den eigenen Kranken erlebt hat, ist der Ärztestand. Auch wir haben diese Erfahrung gemacht.
({4})
Wir haben eine Invalidenversicherung mit der
Möglichkeit der Zahlung von Invalidenrenten gegründet, und wir haben nach der Gründung dieser
Versicherung erlebt, daß es bei uns auf einmal
Invaliden gab, während vorher keine da waren.
({5})
Das sagt Ihnen nicht nur ein Arzt, meine Damen und Herren von der Linken des Hauses; das sagt Ihnen jeder, der sich mit der Psychologie der Kranken beschäftigt.
({6})
Wer aber diese Psychologie kennt, der weiß, daß in den Leistungen einer Versicherung eine unerhörte Verführung für alle liegt, die auf diesem Wege den harten Verpflichtungen des Daseins entgehen können.
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- Wenn Sie das nicht wissen, dann beweisen Sie ja, wie ungeeignet Sie eigentlich dafür sind, die Probleme der deutschen Krankenversicherung zu lösen.
({8})
Die Probleme der deutschen Krankenversicherung sind nicht in erster Linie die Finanzfragen; das Problem der deutschen Krankenversicherung ist ein ganz anderes! Wieweit bringen Sie es fertig, den gegenseitigen Versicherungsschutz von einer Genossenschaft gewähren zu lassen, die aus gegenseitig verantwortlichen Mitgliedern besteht? Kennen Sie nicht den Unterschied, der in Deutschland zwischen einer Reihe von Versicherten kleiner
Kassen und etwa dem Versicherten der Ortskrankenkasse besteht?
({9})
- Nein, nicht nur ich, sondern alle, die hinsehen, erkennen, daß im kleinen Kreis der Genossen Interesse, Zusammenhalt und Verantwortung, gegenseitige Kontrolle und Unterstützung vorhanden sind und daß das überall aufhört, wo diese Organisationen so riesengroß sind, daß die menschliche echte Note des Helfens dabei verschwunden ist.
({10})
Meine Damen und Herren! Wenn Sie kleine Kassen zerstören, dann machen Sie das Gegenteil von dem, was die erfahrenen Schweizer Sozialversicherer uns empfehlen. Ich hörte vor einigen Tagen den Bericht eines unserer bekanntesten Sozialversicherer; er ist nicht mein Parteifreund, und uns trennt manches. Er kam aus der Schweiz und berichtete von einer lebhaften Diskussion und von der Verteidigung der Schweizer gegen den Angriff auf ihre Zwergkassen. Da hat er einem Schweizer gesagt: Na, ihr mit euren Kassen mit 16 Mitgliedern! Der Schweizer, der Sozialdemokrat war, hat darauf gesagt: Auch die mit 16 Mitgliedern! Es gibt in der Schweiz 2000 Versicherungsträger, fast soviel wie in dem großen Deutschland, und man denkt dort nicht daran, von der Anzahl dieser Versicherungsträger auf eine System der Einheitssozialversicherung herunterzugehen.
Meine Damen und Herren, Sie haben ja sehr häufig das Problem des Lastenausgleichs zwischen den einzelnen Versicherten, des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Versicherungsrisiken in die Diskussion geworfen. Wir sind der Ansicht, zum Wesen der Versicherung gehört, daß ein Risiko gemeinsam versichert wird und daß nicht verschiedene Risiken zusammengekoppelt werden. Wir sind der Meinung, daß in der deutschen Krankenversicherung Fürsorgerisiken sind, die keine Risiken für die Krankenversicherung, sondern Risiken für den Staat oder die Fürsorgeverbände sind. Wir sind bereit, alles zu tun, um diese Risiken auszugleichen. Aber, meine Damen und Herren, mit welchem Recht muten Sie einer Millionen zählenden Gruppe von deutschen Lohnarbeitern zu, diese finanzielle Belastung zu tragen? Wenn Sie keinen anderen Schlüssel zur Erhebung als die Grundlöhne haben und wenn Sie verlangen, daß der mit dem höheren Grundlohn denjenigen mit dem nieddrigeren Grundlohn finanziert, dann haben Sie doch eine der primitivsten Veranlagungsmethoden, die es überhaupt gibt. Hat man darüber nachgedacht, ob es berechtigt ist, daß, sagen wir einmal, ein Kupferschmied mit sieben Kindern und ohne Vermögen, durch seine Beiträge einen ungelernten Arbeiter der chemischen Industrie mit zwei Kindern und Grundbesitz unterhalten soll?
Es ist doch so, daß im modernen Staat der Grundsatz der Solidarität längst verlassen ist. Der Grundsatz der Solidarität stammt aus urkommunistischen Vorstellungen und paßt in den politschen Kampf. Ich habe allen Respekt vor den Leuten, die sich den Begriff der Solidarität für den politischen Kampf bewahren. Ich kann aber nicht verstehen, wie man mit einer derartig primitiven Methode alles über den Haufen werfen kann, was der moderne Rechtsstaat aufgebaut hat. Der finanzielle Ausgleich und die Regelung der finanziellen Fürsorgelast hat im modernen Rechtsstaat über der Finanzminister, über die Veranlagung, über die Prüfung des Einzelschicksals zu erfolgen. Dort sind
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die Steuern und die Zuschüsse aufzubringen, die den Versicherten, der eigentlich nicht versicherungsfähig ist, finanzieren. Hier liegt eine der Aufgaben der Zukunft.
Der Antrag der SPD-Fraktion, über den der Herr Kollege Arndgen das Urteil sehr deutlich gesprochen hat, ist für uns durch die Beschlußfassung zur gleichen Materie im Ausschuß für Sozialpolitik erledigt. Wir beantragen, den Antrag insgesamt, also von Art. 1 bis Art. 7, abzulehnen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Kollege von der sozialdemokratischen Fraktion hat gebeten, die Diskussion sachlich und in ernster Würdigung des Problems zu führen. Ich glaube, es ist keiner in diesem Hause, der an den monatelangen Beratungen im Ausschuß für Sozialpolitik teilgenommen hat, der nicht die ganze Verantwortung gespürt hätte, die in diesen Beratungen die Grundlage unseres Gesprächs auch dann waren, wenn sich die Geister sehr heftig geschieden haben.
Ich darf meiner Freude Ausdruck geben, daß die sozialdemokratische Fraktion mit dieser Gesetzesvorlage einen Geist offenbart, den ich ihr - das darf ich ehrlich bekennen - nicht zugetraut habe.
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Sie hat hier zum ersten Mal von ihrer Ideologie der Einheitskrankenkasse Abstand genommen, indem sie die Notwendigkeit der Einrichtung von Sonderkrankenkassen in der berufsständischen Entwicklung der deutschen Krankenversicherung, so wie sie gewachsen sind, anerkannt hat. Ich kann mir nicht versagen, ihr diese Anerkennung auszusprechen, weil ich hoffe, daß aus dieser Erkenntnis die künftige Diskussion um die Reform der deutschen Sozialversicherung eine sehr fruchtbare Bereicherung auch von der linken Seite des Hauses erfahren wird.
({1})
Ich freue mich auch, daß Sie die Versicherten hören wollen. Sie vertreten mit dieser Gesetzesvorlage auch die Auffassung, daß nicht allein die Idee einer politischen Partei, sei sie noch so groß, oder die Auffassung einer Gewerkschaft, sei sie auch eine noch so große Massenorganisation, über die Organisation der Krankenversicherung zu entscheiden hat.
All denen, die ernsthaft um eine sachliche Würdigung bemüht sind, empfehle ich, die Abstimmungsergebnisse in der französischen Zone nachzulesen. Sie werden dann feststellen, daß die Versicherten in den Betrieben ein überwältigendes Bekenntnis zu ihren betrieblichen Krankenversicherungen abgelegt haben, als ihnen damals durch die Militärregierung die Einheitskasse diktiert wurde. Diese ist dann später auf Grund der freien Willensäußerung der Versicherten wieder beseitigt worden.
({2})
Ich habe nicht die Absicht, jetzt auf die in der Debatte aufgetretenen einzelnen Punkte einzugehen, weil ich der sozialpolitisch sehr interessanten Debatte in der zweiten Lesung nichts vorwegnehmen möchte. Ich möchte nur sagen, daß es nach
der Auffassung meiner Fraktion hinsichtlich der Art. 1 bis 5 keiner Gesetzesvorlage der SPD bedurfte, da ja die Kollegen der SPD-Fraktion in der Lage waren, im Ausschuß für Sozialpolitik an dieser Materie mitzuarbeiten und das auch ausgiebig getan haben. Dagegen sind wir mit Ihnen von der SPD-Fraktion der Auffassung, daß die in den Art. 5 bis 7 des Antrags behandelten Fragen geordnet werden müssen. Das soll allerdings nicht mit diesem Gesetz geschehen, da uns bereits zugesagt worden ist, daß das Arbeitsministerium ein Organisationsgesetz vorlegen werde, worin die Fragen der Gemeinlast, des vertrauensärztlichen Dienstes, kurz der Gemeinschaftsaufgaben neu geregelt werden. Es ist uns bekannt, daß die Vorbesprechungen im Arbeitsministerium bereits stattgefunden haben und daß zwischen den Verbänden der Krankenkassen und den ärztlichen Standesorganisationen über die Frage der künftigen Regelung des vertrauensärztlichen Dienstes bereits eine weitgehende Übereinstimmung erzielt worden ist. Aus diesen Gründen und weil es uns um die sachliche und ernste Würdigung geht, um die Sie gebeten haben, muß ich namens meiner Fraktion diese Gesetzesvorlage ablehnen. Wir stellen Ihnen anheim, zu den Art. 5 und 7, deren Lösung auch wir erstreben, im Ausschuß Ihre wertvolle Hilfe nicht zu versagen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Dr. Hammer haben mich mehr als verwundert. Ich habe es für unmöglich gehalten, daß ein Arzt in der Lage ist, die Sozialversicherung, ihre Träger und ihre Wirkungen so zu schildern, wie dies hier von Herrn Dr. Hammer geschehen ist. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, so hat ex. in seinem Beispiel zum Ausdruck gebracht, daß der Landmann in relativ kürzerer Zeit bei ein und demselben Leiden oder bei ein und derselben Kranheit wieder gesunde als der Arbeiter, der die doppelte und eine noch längere Zeit benötige. Das bedeutet doch praktisch, daß der Arbeiter als ein Drückeberger und Simulant bezeichnet wird. Daß diese Ansicht ausgerechnet von einem Arzt und Mitglied dieses Hohen Hauses vertreten wird, finde ich mehr als eigenartig.
({0})
Es ist bekannt, daß gewisse Bestrebungen bei Ärzten vorhanden sind, die Krankenversicherung wesentlich zu ändern. Diese Bestrebungen sind aber nicht aus Erwägungen hervorgerufen, die im Interesse der Versicherten oder der Versicherungsträger, also der Krankenkassen, liegen, sondern man gewinnt immer und immer mehr den Eindruck, daß hier besondere Interessen vorliegen, wenn man hört, daß die Karenztage von drei auf sieben erhöht werden sollen, daß die Arzneikosten zu 40 bis 50 % von den Versicherten getragen werden sollen und daß die Arztkosten vom zweiten bis zehnten Besuch - nicht der erste und nicht der elfte - vom zweiten bis zehnten Besuch von den Versicherten getragen werden sollen.
({1})
Solche und ähnliche Vorschläge wurden in einem Artikel, der im Bundesarbeitsblatt erschienen ist, von einem namhaften Arzt gemacht. Solche und ähnliche Vorschläge haben wir in den letzten Wochen in den größeren Tageszeitungen gelesen,
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bei denen es hieß: vom Bundesarbeitsministerium erfahren wir oder soll verlautet worden sein oder so ähnlich. Als man versuchte
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- ich will es doch schon sagen, Herr Kollege Arndgen; warum so temperamentvoll? -, die Sache zu klären, wurde vom Arbeitsministerium erklärt, daß dies nicht vom Bundesarbeitsministerium gekommen sei. Die Meldung muß also von anderen Kreisen gekommen sein, vielleicht von den Kreisen, die erstmals im Mai dieses Jahres den Artikel im Bundesarbeitsblatt gebracht haben. Das zu dieser Sache.
Nun die Frage: große oder kleine Krankenkassen? Meine Damen und Herren, bedenken Sie doch eins! Die Statistik sowohl bei den Ersatzkassen als auch bei den Ortskrankenkassen usw. hat ergeben, daß ein Angestellter der Krankenkasse auf ca. 800 Versicherte kommt. Wenn wir nun die Zahl von 1000 in unserem Vorschlag zugrunde gelegt haben, so aus der ganz einfachen Erwägung, daß wir sagen: es soll nur in den Betrieben oder bei der Innung eine Krankenkasse errichtet werden, wo mindestens ein Angestellter des Betriebs freigestellt werden kann, der also voll mit der sozialen Aufgabe der Krankenkasse ausgelastet ist.
({4})
- Das ist nicht bei 300 Leuten der Fall, verehrter Kollege Atzenroth. Die statistischen Unterlagen beweisen, daß bei den Krankenkassen auf 800 Versicherte ein Angestellter fällt. Da nun bei den Betriebskrankenkassen die Beiträge vom Arbeitgeber direkt vom Lohn abgezogen werden, kann man bei diesen Kassen sehr wohl auf 1000 gehen. Nicht mehr und nicht weniger will der Antrag.
({5})
- Im Wirtschaftsrat lagen die Dinge an und für sich insofern anders, als Sie den Antrag, daß die Versicherten selbst zu entscheiden haben, ablehnten. Das ist das nächste Problem. Sie, meine Damen und Herren, haben zu entscheiden, ob eine Gruppe oder ein Betrieb sich nun aus dem Solidaritätskreis der Versicherten, aus dem Kreis der gegenseitigen Hilfe loslöst und eine besondere Krankenkasse bildet; die anderen können vor die Hunde gehen.
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Es wird in aller Kürze, wenn dieses Gesetz von Ihnen abgelehnt wird, zur Tatsache werden, daß die Ortskrankenkassen die Armeleutekrankenkassen sind, daß trotz der relativ höheren Beiträge die Leistungen zurückgehen, denn den Ortskrankenkassen verbleiben dann nur die schlechten Risiken, die in der Versicherung eine große Rolle spielen. Sie werden in ihrem durchschnittlichen Grundlohn zurückgehen müssen, sie haben dann nicht die Einnahmen, die sie brauchen, um die gesetzlichen Mindestleistungen zu erfüllen. Aus diesen Erwägungen heraus haben wir den Antrag gestellt, daß die Gesamtheit der Versicherten eines Versicherungsamtsbezirks nach demokratischen Grundsätzen in geheimer Abstimmung ebenso wie die Gesamtheit der Arbeitgeber zu entscheiden hat, ob besondere Krankenkassen noch neben den bereits bestehenden zugelassen werden oder nicht. Ich beantrage deshalb, den Gesetzentwurf dem Sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hammer.
Meine Damen und Herren! Nicht nur Hunderte von Ärzten, sondern Tausende und aber Tausende von anderen unserer Mitbürger haben zu den Problemen der deutschen Krankenversicherung Stellung genommen und Abänderungsvorschläge gemacht. Es ist das Recht eines jeden Arztes, für seine Privatperson derartige Vorschläge zu machen.
Ich sehe keine Veranlassung, auf den Entwurf einzugehen, den Herr Kollege Richter hier eben zitiert hat. Etwas anderes veranlaßt mich, die letzten zwei Minuten meiner Redezeit zu benutzen. Ich habe vorhin nicht gesagt, daß ein Bauer in sechs oder acht Wochen gesund sei und ein Arbeiter in 26, sondern ich habe gesagt, daß ein Versicherter 26 Wochen braucht und ein Unversicherter acht. Als Sie mir zu unterstellen beliebten, ich hätte von dem verschiedenen Verhalten zweier Berufsstände gesprochen, habe ich Ihnen zur Verdeutlichung am Beispiel meines eigenen Berufsstandes erklärt, daß dort die gleiche Reaktion auf das Versicherungsverhältnis nachweisbar war wie bei jenem Landarbeiter im Kanton Basel/Land. Ich wundere mich, daß ein Abgeordneter dieses Hohen Hauses es wagt, insbesondere nachdem ich doch das Bild ganz deutlich nachgezeichnet habe, mir vor dem deutschen Volke zu unterstellen, ich hätte über den deutschen Arbeiter ein Werturteil in diesem negativen Sinne abgegeben.
({0})
Ich zweifle nicht an seiner Intelligenz, ich bezweifle aber seinen guten Willen und seinen Anstand.
({1})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist Antrag auf Überweisung gestellt. Über diesen Antrag muß zunächst abgestimmt werden.
({0})
- Es ist Antrag auf Überweisung an den Ausschuß gestellt.
({1})
Weiter ist der Antrag gestellt, den Entwurf abzulehnen. Der Überweisungsantrag geht nach der Geschäftsordnung bei jeder Abstimmung vor. Ich lasse also zuerst über den Überweisungsantrag abstimmen. Wer für Überweisung - - ({2})
- Ich bin jetzt in der Abstimmung.
({3})
- Es ist nicht falsch! - Wer für die Überweisung an den Ausschuß für Sozialpolitik ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letztere ist die Mehrheit. Der Antrag ist abgelehnt.
Nunmehr ist der Antrag gestellt -; ja, meine Damen und Herren, damit ist der Antrag eigentlich abgelehnt.
({4})
- Was wollen Sie denn noch? Der Überweisungsantrag ist abgelehnt. Damit ist eine weitere Behandlung dieses Antrags gegenstandslos geworden.
({5})
({6})
- Zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Ritzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es liegt im Interesse der Geschäftsordnung dieses Hauses, festzustellen, daß die Art, in der der Herr Präsident soeben diesen Antrag erledigt hat, den Bestimmungen der Geschäftsordnung nicht entspricht. Wenn ein Antrag gestellt ist und zu diesem Antrag einer auf Überweisung an einen Ausschuß, und wenn das Haus mit Mehrheit beschließt, dem Überweisungsantrag nicht stattzugeben, dann bleibt das Schicksal des Antrags an sich noch zu entscheiden. Das hat der Herr Präsident nicht getan.
({0})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Dr. Horlacher.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sache wäre vollständig in Ordnung, wenn es sich nur um einen gewöhnlichen Antrag handelte. Hier aber handelt es sich um einen Gesetzentwurf. Wenn der Gesetzentwurf in erster Lesung, wo über ihn gar nicht abgestimmt werden kann, nicht dem Ausschuß überwiesen wird, ist die Sache erledigt.
({0})
Meine Damen und Herren, es tut mir leid, daß wir jetzt eine Geschäftsordnungsdebatte bekommen. Ich kann mich nur auf § 38 der Geschäftsordnung beziehen. Da heißt es bekanntlich:
Am Schluß der ersten Beratung kann die Vorlage einem Ausschuß überwiesen werden. Die ganze oder teilweise Verweisung oder Zurückverweisung einer Vorlage an einen Ausschuß kann erfolgen, solange nicht die letzte Einzelabstimmung erledigt ist. Die Zurückverweisung kann auch an einen anderen Ausschuß erfolgen. Auch bereits erledigte Teile können überwiesen oder zurückverwiesen werden.
Sie sehen also, bei ersten Beratungen gibt es nur Überweisung an einen Ausschuß und sonst zunächst nichts.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gengler.
Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Arndgen hatte den Antrag gestellt, den vorliegenden Antrag, der in die Form eines Gesetzentwurfs gekleidet ist, abzulehnen. Nach § 37 der Geschäftsordnung hätte nach Abschluß der ersten Beratung über diesen Antrag zuerst abgestimmt werden müssen, nicht über den Überweisungsantrag.
({0})
Die Abstimmung über den Antrag als solchen ist jetzt nachzuholen.
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Meine Damen und Herren! Ich möchte die Geschäftsordnungsdebatte nicht verlängern. Wir hatten bisher stets die Übung, daß ein Überweisungsantrag als der weitestgehende behandelt wurde. Über ihn wurde zuerst abgestimmt. Das ist in diesem Falle geschehen. Die Absicht, die Vorlage heute nicht weiter zu behandeln, ist dadurch zum Ausdruck gekommen, laß der Antrag auf Überweisung abgelehnt wurde. Damit ist zunächst die weitere Behandlung der Vorlage erledigt.
({0})
Ich sehe mich außerstande, meine Damen und Herren, nach der Geschäftsordnung etwas anderes zu machen. Das ist unmöglich. Der Antrag auf Überweisung an den Ausschuß wurde abgelehnt, weitere Abstimmungen sind jetzt nicht möglich; denn es sind keine Anträge auf teilweise Überweisung oder über eine anderweitige Behandlung gestellt. Infolgedessen kann ich keine weiteren Abstimmungen stattfinden lassen.
Ich darf bekanntgeben, daß die auf 17 Uhr angesetzten Sitzungen des Ausschusses für Beamtenrecht und des Ausschusses für Heimatvertriebene auf 18 Uhr verlegt worden sind.
Ich rufe nun auf Punkt 2 der Tagesordnung:
Beratung der Interpellation der SPD betreffend Öffentliche Äußerungen von Bundesministern zu außenpolitischen Fragen ({1}).
Das Wort zur Begründung hat Herr Abgeordneter Dr. Lütkens.
Dr. Lütkens ({2}), Interpellant: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die Interpellation meiner Fraktion Nr. 1218. Beim erstmaligen Erscheinen des Herrn Bundeskanzlers nach seinem Urlaub erlaube ich mir, ihm Glückwünsche zu seiner Genesung auszusprechen.
({3})
Ich hätte gewünscht, ihm auch sonst mit Erfreulichkeiten nähertreten zu dürfen. Ich habe mich jedoch zu beschäftigen mit den öffentlichen Äußerungen der Ressortminister, in denen aus off enbar agitatorischem Bedürfnis heraus mit Fragen der internationalen Politik herumgespielt wird.
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Für Außenpolitik ist der Herr Bundeskanzler verantwortlich als Kanzler sowohl wie auch als der Minister, der mit der Erledigung der auswärtigen Angelegenheiten befaßt ist.
Lassen Sie mich mit einem Fall beginnen, der schon länger zurückliegt. Am 22. Januar hat der Herr Bundesjustizminister in Hamburg gesprochen. Er fühlte sich veranlaßt, sich, wie er sagte, mit der Mär von der deutschen Aggression zu beschäftigen. Man habe Anlaß, so sagte er, die Mär zu widerlegen, Deutschland habe maßgebend die Schuld am ersten Weltkrieg. Deutschlands Schuld sei nicht größer gewesen als die Frankreichs. Der Herr Bundesjustizminister meinte weiter, Deutschland trage nicht die ausschließliche Schuld am Phänomen Hitler. Dieser Tyrann, so erläuterte er, sei weitgehend die Folge vor allem des Kleinmuts Frankreichs gewesen.
Es ist in diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, völlig belanglos, über die Meinungsverschiedenheiten zu den sachlichen Problemen zu sprechen, die etwa hinter dieser oder hinter den folgenden Ausführungen der Herren Ressortminister zu finden sein möchten. Es steht hier und jetzt nur die Frage zur Diskussion, wie ein Ressortminister solche offensichtlichen außenpolitischen Entgleisungen hat äußern können. Es steht die Frage zur Diskussion, daß der Herr Bundesjustizminister sich in einer Weise hat aussprechen können, die der von dem Herrn Bundeskanzler vertretenen politischen Linie völlig widersprach.
({5})
Denn ein Kardinalpunkt dieser Politik, soweit ich sie verstehe, ist doch wohl die Verständigung mit den Besatzungsmächten und vor allem die Verständigung mit unserem Nachbarn Frankreich.
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({7})
Sollten, meine Damen und Herren, bei Ihnen Zweifel über die Unpassendheit dieses oratorischen Fehltritts des Herrn Bundesjustizminister bestehen, so werden sie, glaube ich, verstummen, wenn ich Sie an die Reaktion erinnere, die diese Rede unmittelbar auslöste.
Am 23. Januar, also am folgenden Tage, richtete der Herr französische Hohe Kommissar ein Protestschreiben an den Herrn Bundeskanzler; er führte Klage über den Herrn Bundesjustizminister. Dieser habe, so sagte er, in anderem Zusammenhang wahrheitswidrige Erklärungen abgegeben und diese entgegen seinem Versprechen nicht öffentlich richtiggestellt. Zu den Hamburger Leistungen des Herrn Bundesjustizministers heißt es in diesem Schreiben dann weiter: „Man ist bisher solchen Äußerungen nur in den extrem nationalistischen und offenkundig antifranzösischen Kreisen begegnet. Man hielt es für unmöglich, daß sie von dem Mitglied einer Regierung ausgesprochen werden könnten, die von sich behauptet, sie sei bestrebt, eine Befriedung der Geister und eine Versöhnung des französischen und des deutschen Volkes inmitten eines organisierten Westeuropas zu verwirklichen."
({8})
Herr François-Poncet hat Zensuren an frühere deutsche Minister, wie man weiß, nur in Form einer Berichterstattung an seine Regierung erteilt und nicht auf öffentlichen Kongressen oder sonst in öffentlicher Form, wie es diesmal geschah. Inzwischen tritt also, wie man sieht, das diplomatische Geschehen auch außerhalb der deutschen Bundesregierung in das Licht der Öffentlichkeit. Leider jedoch kann man sachlich dieser öffentlichen Kritik durch den Herrn französischen Hohen Kommissar nicht widersprechen.
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Was man also gern wissen möchte, ist, was der Herr Bundeskanzler zu diesen unangebrachten Betrachtungen eines Ressortministers zu sagen gehabt hat. Das Schreiben des Herrn französischen Kommissars war wie eine Ohrfeige für die Regierung, die auch wir einzustecken gehabt haben.
({10})
Jedenfalls hatte der Herr Bundeskanzler sie einzustecken.
Hat der Herr Bundeskanzler wenigstens für die zukünftige Handhabung der auswärtigen Geschäfte damals eine Lehre gezogen? Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein. Denn solche Ereignisse haben sich häufig und noch bis in die letzten Tage hinein wiederholt.
Am 15. Juli trat der Herr Bundesverkehrsminister mit einer Rede in Stuttgart hervor. Er leistete sich dort in bezug auf das Potzdamer Abkommen folgende Bemerkung: „Ein Asiate, ein Amerikaner und ein Europäer, die in Deutschland und Europa nichts bedeutet hätten, hätten damals das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Füßen getreten."
({11})
Daß Minister fremde Staatsoberhäupter - Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, wenn solche Zurufe kommen, was man davon halten soll, daß in Ihrer Regierung eine Partei vertreten ist, die sich derartige Ausfälle in der Öffentlichkeit zu leisten erlaubt. ({12})
Daß Minister fremde Staatsoberhäupter und fremde Regierungschefs mit invektiven belegen, ist eigentlich im Völkerleben bis vor kurzen Jahren nicht üblich gewesen.
({13})
Das in dieser Hinsicht von der nationalsozialistischen Tyrannei gesetzte Beispiel ist sicher nicht nachahmenswert.
({14})
Der Herr Bundesverkehrsminister hat in dieser Hinsicht aber offenbar andere Ansichten. Es kann jedoch im Interesse des Ansehens der Regierung im Inland wie im Ausland nicht wohl so weitergehen. Solche Ausfälle müssen zur Quelle internationaler Verstimmungen werden, deren oft nicht sichtbare Folgen das ganze deutsche Volk zu tragen hat,
({15}) das mit solchen Ministern geschlagen ist.
({16})
Das Vertrauen des Auslandes zur Bundesrepublik mißt sich an den Äußerungen und dem Verhalten der Minister. Und wie will man solche Schimpfereien etwa mit der Politik der europäischen Verständigung und des europäischen Zusammenschlusses in Einklang bringen,
({17})
für die der Herr Bundeskanzler eintritt? Was ist geschehen, um solche Vorkommnisse hinfort zu unterbinden, wenn man den Herrn Bundesverkehrsminister schon nicht sofort entließ?
Und da gerade von Europa die Rede ist, darf ich vom Thema ein wenig abschweifen und fragen, ob der Herr Bundesverkehrsminister durch seine Stuttgarter Ausführungen wohl seinem Parteifreund und Kollegen Hellwege Hilfsdienste zu leisten gedachte. Der Herr Minister für Angelegenheiten des Bundesrates hat ja wohl, wie man hört, seinen Wunsch zu erkennen gegeben, aus seinem jetzigen überflüssigen Ministerium in ein anderes, für ihn neu zu schaffendes überzusiedeln. Es wird dem Herrn Bundeskanzler nicht unbekannt sein, daß man es bei diesem Vorstoß mit Bemühungen zu tun hat, eine Kombination herbeizuführen, in welcher unter den freundlichen Augen des Herrn Vizekanzlers ein Europa-Ministerium als zweites Rad am Wagen des noch zu schaffenden Außenministeriums angehängt werden soll, ein doppelgesichtiges Janus-Ministerium;
({18})
der Herr Kollege von Merkatz würde vielleicht von einem Januschauer-Ministerium sprechen.
({19})
Der Herr Minister für Angelegenheiten des Bundesrates wünscht jedenfalls zunächst Europa-Minister zu werden.
Dürfen wir dann auch erwarten, daß ein gewisser Dr. Ehrich Gelegenheit finden wird,
({20})
die Erfahrungen, die er als Landesgruppenleiter vor dem Kriege und während des Krieges in verschiedenen europäischen Ländern gesammelt hat, beim Aufbau eines Europa der neuen Europäer zu verwerten?
({21})
Schon mehrfach hat meine Fraktion in diesem Hohen Hause und in seinen Ausschüssen den Fall des Herrn Dr. Ehrich aufgeworfen. Der Herr Bundeskanzler hat wiederholt zugesichert, die Be({22})
schäftigung dieses Angestellten an sichtbarer Stelle eines Bundesministeriums sei politisch nicht tragbar. Noch immer aber ist Herr Ehrich als Kulturwart an der gleichen Stelle tätig.
({23})
Womit er beschäftigt ist, wenn nicht vor- oder nachgreifend mit der Regelung europäischer Fragen, wollen Sie aus der Abschrift eines Schreibens ersehen, aus dem Ihnen einen kurzen Passus vorzulesen ich mir erlauben werde. Er ist mit Organisationsarbeit für seine Partei beschäftigt,
({24})
für die Partei des Herrn Bundesministers für Angelegenheiten des Bundesrates, für die DP. Das Schreiben trägt den Kopf „Heinrich Hellwege, Sekretariat,
({25})
Tagebuch-Nr. 4101/1785/50. Bonn, den 18. Juli 1950, Koblenzer Straße 120".
({26})
Mit diesem Kopf wird ein reines Schreiben der Parteiorganisation des Landesverbandes Niedersachsen der Deutschen Partei mit folgendem Text versandt:
Vorstehende Abschrift wird
a) den niedersächsischen Bezirksverbänden der DP,
b) den Herren niedersächsischen Bundestagsabgeordneten der DP,
c) den Herren der DP im niedersächsischen Landtag zur Kenntnis übersandt.
gez. Dr. Ehrich.
Es ergibt sich also, daß durch Herrn Dr. Ehrich im Ministerium, in den Räumen des staatlichen Ministeriums, auf Kosten des Staates, mit vom Staat verpflichteten Kräften Organisationsarbeiten der DP erledigt werden.
({27})
Das ist der Wiederbeginn des Einparteiensystems.
({28})
Wird der Herr Bundeskanzler nun aus diesem Grunde Anlaß finden, seiner politisch besseren Einsicht Geltung zu verschaffen?
Ich bin auf diesen unerquicklichen Fall hier eingegangen, weil er von einer andern Seite her zeigt, wo es beim Aufbau der Bundesrepublik auf der Ebene von Regierung, Regierungsverantwortung und Regierungsorganisation unter anderem fehlt, nämlich daran, daß bisher kein Kabinett geschaffen ist und infolgedessen keine von der Regierung als ganzer getragene politische Verantwortung möglich gemacht worden ist. Gäbe es im Kabinett eine dort gefundene gemeinsame politische Linie, besonders hinsichtlich der auswärtigen Angelegenheiten, gäbe es im Kabinett eine von diesem getragene echte politische Verantwortung, dann wäre Herr Ehrich längst verschwunden. Dann aber hätten wir wohl auch nicht diese immer wiederholten unverantwortlichen Reden der Ressortminister zu auswärtigen Angelegenheiten.
({29})
Da die Ressortminister unter dem heutigen Zustand tatsächlich nur Staatssekretäre sind, so wie es unter dem Eisernen Kanzler Bismarck rechtlich auch nur Staatssekretäre gab,
({30})
läßt sich die erforderliche freiwillige Disziplin, das
Maßhalten nach vorheriger Übereinkunft über die
Grundlinien der Politik nicht erreichen. Hier ist der eigentliche Grund für die unglückseligen Zustände zu suchen, von denen man hier reden muß. Denn diese heutigen de-facto-Staatssekretäre sind rechtlich Minister, und überdies sind sie Politiker, denen man mit der Beamtendisziplin, wie das in den Bismarckschen Zeiten möglich war, nicht beikommen kann.
({31})
Ich kann mir wohl vorstellen, mit welchem Herzklopfen der Herr Bundeskanzler jeden Montag die Zeitungen liest,
({32})
um durch sie von den neuen politischen Sonntagsjägereien
({33})
seiner Ressortminister Kenntnis zu erhalten. Warum es heutzutage immer ein Sonntag sein muß, kann ich nicht beantworten. Vielleicht finden die Herren Ressortminister, ihre Leistungen nehmen sich am besten neben den Sportnachrichten aus: Herr Dr. Dehler Sieger im Marathon-Rednerlauf,
({34})
Vika gegen Buka O zu 12; Bu-Verkehr disqualifiziert wegen Tiefschlags!
({35})
Das bringt mich zu einer der Reden des Herrn Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen. Ich habe vor mir eine schön ausgestattete Broschüre, die ich der Pressestelle dieses Ministeriums verdanke. Aber auch in diesem Falle handelt es sich nicht um eine Erörterung der sachlich zugrunde liegenden politischen Fragen und Probleme. Es geht hier nur um die Zweckmäßigkeit,
({36})
um die Opportunität überhaupt, um die Opportunität solcher Äußerungen im Zusammenhang mit der jeweiligen außenpolitischen Situation der Bundesrepublik. Und da fragt man sich nun allerdings, wie es etwa mit der Rede bestellt ist, die der Herr Minister für gesamtdeutsche Fragen zum 30. Jahrestag der Abstimmung in Ost- und Westpreußen in Berlin gehalten hat. Denn in dieser Rede reist der Herr Minister für gesamtdeutsche Fragen vom Saargebiet nach Nordschleswig, von Nordschleswig nach Marienburg, und er kommt sogar bis Königsberg. Dort hatte er aber anscheinend nicht genügend Zeit, um sich die drei Kritiken anzusehen.
Hat der Herr Bundeskanzler jedoch vorher von dem Inhalt dieser Rede Kenntnis gehabt? Hat sie seine Billigung gefunden? Hat sie dem Kabinett vorgelegen? Hatte man die Frage bejaht, daß es in der Linie der gesamtpolitischen Bestrebungen der Bundesregierung gelegen sei und opportun sei, einen Minister öffentlich „Peterchens Mondfahrt" vorlesen zu lassen anstatt die „Kritik der Urteilskraft?"
Wieder an einem Sonntag, am 3. September, sprach der Herr Bundesjustizminister in Erlangen. Er eröffnete den bayrischen Landtagswahlkampf. Man fragt sich, was Landtagswahlen mit den außenpolitischen Fragen der Bundesregierung und der Bundesrepublik überhaupt zu tun haben.
({37})
Dem Herrn Bundesjustizminister schien dies jedoch eine passende Gelegenheit, trotz der Erfahrungen nach seiner Hamburger Rede wieder einmal auf das verbotene Gebiet zu treten. Er nannte die drei Hohen Kommissare „die Heiligen Drei Könige".
({38})
({39})
Man hatte zunächst den Eindruck, der Herr Bundesjustizminister habe sich endlich einmal eine kritische Bemerkung gegenüber dem Herrn Bundeskanzler erlauben wollen. Ich dachte jedenfalls daran, daß die Heiligen Drei Könige die Schutzheiligen der Stadt Köln sind, deren Oberbürgermeister der Herr Bundeskanzler einmal gewesen ist. Ich kam infolgedessen auf die Vorstellung, daß der Herr Bundesjustizminister sich Kraft suche, damit die heutigen de-facto-Staatssekretäre sich endlich ihre Stellung als wirkliche Minister erkämpfen sollten. Jedoch der Fortgang belehrte einen schnell eines Besseren. Der Herr Bundesjustizminister zielte nicht auf das Palais Schaumburg, sondern auf den Petersberg. Die Heiligen Drei Könige sind, glaube ich, außerdem dadurch charakterisiert, daß sie Gaben bringen, Weihrauch, Myrrhen und Gold, wenn ich mich nicht irre.
({40})
Ich habe nicht erfahren, daß der Herr Bundesjustizminister vom Petersberg Gaben dieser Art erhalten hätte. Er hätte ebensogut von den drei Männern im feurigen Ofen oder von den drei Grazien sprechen können.
({41})
Denn der einzige Nichtwitz in dieser Bemerkung war ja offenbar, daß die Ziffer 3 allen diesen Personengruppen gemeinsam ist. So stellt sich diese Bemerkung als nichts anderes dar als eine einfache Taktlosigkeit.
Im Fortgang bezeichnete der Herr Bundesjustizminister das Besatzungsstatut in einer für einen Juristen immerhin verblüffenden Weise als Makulatur. Alles dieses scheint der Besserung der Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten nicht gerade förderlich. Denn wenn ich recht verstehe, stand außerdem die Frage des Besatzungsstatuts gerade sub judice, und der Herr Bundeskanzler führte über die Abänderung des Besatzungsstatuts Verhandlungen, deren Fortgang solche Bemerkungen jedenfalls nicht fördern können. Das Ergebnis dieser Verhandlungen und dieser Bemühungen, wie es in New-York hervorzutreten scheint, hat vielleicht inzwischen auch den Herrn Bundesjustizminister belehrt, daß jedenfalls von Makulatur mit Beziehung auf das Besatzungsstatut nicht gesprochen werden kann.
({42})
Eben dieser selbe Herr Bundesjustizminister hat am 23. Juli sich der Öffentlichkeit gegenüber folgendermaßen verlauten lassen:
Wenn die Alliierten von Westdeutschland eigene Verteidigungsmaßnahmen fordern sollten, dürften diese nicht aus Halbheiten bestehen. Die Aufstellung von etwa 30 Divisionen sei in dem Falle notwendig. Eine Entscheidung müsse jedoch bald getroffen werden, da die Aufstellung von Truppen eine längere Zeit erfordere und es möglicherweise schon bald zu spät sei.
Ich muß es mir versagen, auf dieses Thema wie auf alle anderen Themata in der Sache einzugehen. Wie es aber scheint, hat der Herr Bundesjustizminister bei dieser Gelegenheit als erster Minister, und zwar als ein Ressortminister, sich zu der Frage der Wiederaufrüstung, wenn auch in konditioneller Form, bekannt und darüber hinaus die Aufstellung von 30 deutschen Divisionen gefordert.
Solche Vermessenheit hat den Herrn Vizekanzler nicht ruhen lassen. Kurze Zeit darauf gab er der amerikanischen Agentur ONA ein Interview. Der Herr Vizekanzler erklärte dem Korrespondenten, er halte die schnelle Wiederaufrüstung und die
Aufstellung von, wie er durchblicken ließ, erheblich mehr als 10 bis 12 deutschen Divisionen für geboten. Auf solcherlei Art und Weise gedenken die Minister der FDP anscheinend, die Rheinübergänge von Bonn bis Caub gegen einen nicht feststellbaren Feind zu sichern.
({43})
- Wir sprechen von den Reden verantwortlicher Minister.
({44})
- Herr Kollege, Sie scheinen über das Prinzip der Verantwortung in einem demokratischen Staat noch nicht informiert zu sein!
({45})
Sie scheinen auch die Konstitution noch nicht gelesen zu haben.
({46})
Meine Damen und Herren! Ich würde empfehlen, den Fortgang der Verhandlungen nicht durch solche Unterbrechungen aufzuhalten.
Dr. Lütkens ({0}), Interpellant: Solange derartige Forderungen nur von dem Herrn Kollegen Dehler erhoben wurden, brauchte man die Sache nicht allzu ernst zu nehmen.
({1})
Durch die ins Ausland lancierten Äußerungen des Herrn Vizekanzlers jedoch nahm die Sache ein wesentlich ernsteres Gesicht an. Es kann doch gar kein Zweifel darüber bestehen, meine Damen und Herren, daß solche nicht autorisierten, unüberlegten Redereien der Ressortminister die internationale Atmosphäre stören und Mißtrauen gegen diese Bundesrepublik wachrufen müssen. Wir haben die Quittung in New York erhalten.
({2})
Der Herr Bundeskanzler mag sich bei seinen Ministern bedanken.
({3})
Freilich ist er selber auch nicht unschuldig an manchen losen Redensarten.
Meines Wissens hat die Regierung nur die Verstärkung der Bundespolizei zu erreichen gesucht. Darüber ist der Herr Bundeskanzler als der Verantwortliche in Verhandlungen getreten. Die Forderung auf Wiederaufrüstung, wie der Herr Vizekanzler und der Herr Bundesjustizminister sie erhoben haben, kann den Verlauf der Verhandlungen des Herrn Bundeskanzlers nur gestört haben. Es ist unbegreiflich, daß über die öffentlichen Erklärungen und so gewichtige öffentliche Erklärungen von Ressortministern nicht eine vorherige Verständigung im Kabinett stattgefunden hat. Dieser Kleinmäusekrieg der Ressortminister ist für die Bundesrepublik und nicht nur allein für die Regierung, sondern auch für die Opposition unerträglich.
({4})
Man komme mir hier nicht damit, diese und ähnliche Interviews seien nicht gegeben worden. Die dahingehenden Erklärungen des Herrn Vizekanzlers waren so lendenlahm, daß man ihnen
({5})
keine Bedeutung beimessen kann. Worum es sich in diesem Fall wie bei den Interviews des Herrn Bundeskanzlers an die New York Times und am schlimmsten von allen bei dem Interview gegenüber einem Korrespondenten des Franc-Tireur handelt, ist, daß zunächst einmal die Berater unserer Minister unerfahren und ohne politische Einsicht sind. Die Herren Minister lassen sich ihre Interviews ja nicht einmal im Text vorlegen, bevor sie veröffentlicht werden. Und die Beamten, die sie korrigieren, scheinen die Tendenz zu haben, sie noch in schlechtem Sinne zu verbessern. Der Fall des Franc-Tireur ist, wie ich glaube, so traurig, daß ich auf ihn hier nicht des längeren eingehen kann. Man kann dem Herrn Bundeskanzler aber nur raten, sich seine beamteten Ratgeber auf ihre Befähigung und auf ihre Loyalität einmal genauer anzusehen. Es kann sich in der Politik nicht nur darum handeln, auf den Höhen zu wandeln, Mönch, Jungfrau und Eiger zu betrachten; auch die kleinen Blankenhörner und die anderen weniger honen Erhebungen sind der Beachtung wert.
{Heiterkeit. - Abg. Frau Dr. Weber [Essen]:
Wie im politischen Kabarett!)
Alle diese Vorgänge zeigen deutlich, daß in dem vergangenen ersten Regierungsjahr bei der Regierungsarbeit schwere Unterlassungen auf dem Gebiet des politisch-administrativen Aufbaus dieser Bundesrepublik vorliegen. Sonst hätte sich eine reibungslosere Zusammenarbeit aller Minister untereinander und mit ihren Ministerialbürokratien herausbilden müssen. Die Ressortminister beschäftigen sich unbekümmert auf Gebieten, auf denen ihnen zwar das Recht auf eine eigene Meinung und eigene Ansichten zusteht, auf denen aber die Solidarität des Kabinetts ihnen Selbstdisziplin und Zusammenarbeit zur Pflicht macht.
Wie ich glaube, macht auch der Herr Bundeskanzler es nicht immer sehr viel besser als seine Ressortminister. Jedermann wird verstehen, daß der Herr Bundeskanzler von viel zu vielen Fragen bedrängt ist. Gerade deshalb sollte er sich zu einer Teilung der Gewalt verstehen. Unsere demokratische Regierung ist in ihren Fundamenten nicht gut gelegt worden, und offensichtlich klappt es in vielen der Ministerien nicht mit der Beamtenschaft. Das ist die Verantwortung der Ressortminister.
Ich habe vor mir, um hier nur einen kleinen Fall zu erwähnen, eine Fotografie; sie ist einer Serie von Fotografien entnommen, die bei Gelegenheit der Anwesenheit des Herrn Vizekanzlers in Paris von der dortigen deutsche a Vertretung bei der ECA aufgenommen worden ist. Dort sehe ich ein Bild, auf dem ein anmutiges junges Ehepaar begleitet von einem Rassehund die Straße überschreitet. Der Hintergrund wird gebildet durch ein Gebäude, dessen Aufschriften lauten: „Verkauf von Rassehunden" - „Hundeausstellung". Den Text, die Beschriftung dieses Bildes erlaube ich mir Ihnen vorzulesen:
Typische Vertreter
-meine Damen und Herren, „typische Vertreter"! der neuen deutschen Diplomatengeneration sind Graf und Gräfin Max von Podewils. Podewils, der persönliche Referent des deutsche OEEC-Delegationschefs, spricht die allgemeine Befürchtung aus: „Hoffentlich schickt uns Bonn keine Berufspolitiker!"
({6})
Ein politisch noch ernsthafterer Mangel liegt bei der Bundesregierung darin, wie ich glaube, daß es dem Herrn Bundeskanzler nicht gelungen ist, seine Minister zu echter Solidarität im Handeln und zu echter gemeinsamer Beratung und Abstimmung über die politischen Probleme zusammenzuführen. Weil es kein echtes Kabinett der Minister gibt, fehlt es der Regierungspolitik an der notwendigen Kohäsion. So sind die bedauerlichen und für unser Staatswesen unerträglichen Entgleisungen möglich, von denen hier die Rede ist.
Um diese Verhältnisse zu ändern, nützt es nichts, wenn die Herrn Ressortminister sich in privaten Gesprächen an der Brust der Opposition ausweinen.
({7})
Herr Abgeordneter, darf ich darauf aufmerksam machen, daß die vorgesehene Redezeit abgelaufen ist. Ich bitte Sie, abzuschließen.
({0})
Dr. Lütkens ({1}), Interpellant: Das bestätigt nur: die Stärke des Herrn Bundeskanzlers in der heutigen Regierung beruht nicht auf der Stellung, die ihm das Grundgesetz zuspricht; denn der Art. 65 des Grundgesetzes schiebt den Ministern ausdrücklich eine eigene Verantwortung zu. Er legt ausdrücklich fest, daß über Meinungsverschiedenheiten unter den Ministern die Bundesregierung, also das Kabinett entscheidet.
({2})
Dieser Art. 65 bestimmt, daß der Bundeskanzler die Geschäfte der Regierung nach einer Geschäftsordnung, also nicht nach seinem Ermessen, zu führen habe. Diese Geschäftsordnung muß nach der Verfassung vom Kabinett beschlossen und von dem Herrn Bundespräsidenten genehmigt werden. So bestimmt es die Verfassung. Damit ist klar zum Ausdruck gebracht, daß es sich bei der Geschäftsordnung nicht um ein Papier handelt, nach dem rein formelle Angelegenheiten zu erledigen wären, sondern daß es sich bei der Geschäftsordnung um ein Dokument handelt, in dem Fragen materieller und staatsorganisatorischer Art in eine Rechtsform zu bringen sind. Andernfalls hätte es für den Verfassunggeber keinen Sinn gehabt, in diesem Fall von der Genehmigung durch den Herrn Bundespräsidenten zu sprechen. Infolgedessen ist eine solche Geschäftsordnung ein Teil unseres verfassungsmäßigen Lebens, und soweit mir bekannt, gibt es bis heute noch keine Geschäftsordnung des Kabinetts. Das ist der Grund, warum es nicht möglich ist, eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber ihren Beamtenkörpern zu finden. Es ist die Versäumnis der Ressortminister, daß sie dem Herrn Bundeskanzler, falls es nötig wäre, bisher eine solche Geschäftsordnung nicht haben abzwingen können.
({3})
Es ist die Schwäche der Bundesminister, die zu
einer Überstärke des Herrn Bundeskanzlers geführt
hat. Aber diese Überstärke des Herrn Bundeskanz({4})
lers ist die Schwäche seiner Regierung und damit der Regierung unseres ganzen Volkes.
Meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter, ich bitte zum Schluß zu kommen.
({0})
Dr. Lütkens ({1}), Interpellant: Meine Damen und Herren! Ich komme zum Schluß und bitte den Herrn Bundeskanzler um Auskunft, welche Maßnahmen er in der Vergangenheit getroffen hat und welche Maßnahmen er in Zukunft zu treffen gedenkt, um den Störungen in den Fragen der auswärtigen Beziehungen, wie sie durch die Ressortminister oft und wiederholt vorgekommen sind, vorzubeugen und den Eskapaden dieser Minister, die niemand Freude machen, die aber unserem öffentlichen Leben und unserem Volke nicht frommen können, ein Ende zu setzen.
({2})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren! Ich stelle zunächst fest, daß der Herr Abgeordnete Lütkens in seinen Ausführungen weit über die Interpellation seiner Fraktion hinausgegangen ist,
({0})
daß er sich über Dinge verbreitet hat, von denen
in dieser Interpellation überhaupt keine Rede ist.
({1})
Ich stelle weiter fest, daß wenigstens nach meinem Verstand die Rede des Herrn Abgeordneten Lütkens in vielfacher Beziehung außerordentlich widerspruchsvoll gewesen ist.
({2}) Einmal bin ich der überstarke Kanzler und die Bundesminister sind die Staatssekretäre; und in der Interpellation beschwert man sich darüber, daß die Bundesminister Reden halten, und fragt, was der Bundeskanzler dagegen zu tun gedenkt.
({3})
Ich muß gestehen, verehrter Herr Lütkens, Sie haben eigentlich in manchen Ihrer Ausführungen die Schwäche der Position des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz sehr richtig dargestellt.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte aber ausdrücklich feststellen, daß ich mir diese Rede des Herrn Abgeordneten Lütkens nicht bestellt habe.
({5})
Der Herr Abgeordnete Lütkens hat sehr richtig den Art. 65 des Grundgesetzes zitiert, und, meine Damen und Herren, Sie haben gelacht, und Lachen ist mal ganz gesund und - namentlich in einem Parlament - der Erledigung der Geschäfte außerordentlich förderlich. Aber die ganze Angelegenheit hat in Wirklichkeit eine sehr ernste Seite. Nach diesem Art. 65 bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik, und er trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung.
({6})
- Augenblick, meine Damen und Herren! Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Bundesministern entscheidet die Bundesregierung.
({7})
Nach diesem Artikel des Grundgesetzes ist es völlig klar, daß der Bundeskanzler nicht der Vorgesetze der Bundesminister ist und daß der Bundeskanzler nur eine Möglichkeit hat, die ihm das Grundgesetz gibt: dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen. Das ist die einzige Maßregel, die ihm zur Verfügung steht. Sie werden mir aber zugeben, daß das eine Maßnahme ist, von der Gebrauch zu machen sich nur in den allerseltensten Fällen empfiehlt.
({8})
Nun hat Herr Abgeordneter Lütkens ja etwas sehr richtig gesagt: die Montagszeitungen lese ich immer mit einer großen Sorge.
({9})
Ich kann das nicht bestreiten, Herr Lütkens. Und das liegt daran: ich meine - ich habe das im Kabinett mehrfach zum Ausdruck gebracht -, wer Mitglied der Bundesregierung ist, mag er nun Minister oder Kanzler sein, hat damit auch eine besondere Verantwortung übernommen, und er ist nicht mehr nur Parteipolitiker.
({10})
Daher müssen die Mitglieder des Kabinetts und ebenso der Bundeskanzler, wenn sie als Parteipolitiker sprechen, sich eine gewisse Reserve in manchen Fragen auferlegen.
({11})
Nun, meine Damen und Herren, möchte ich Herrn Kollegen Lütkens auf seine Fragen folgendes sagen. Ich habe im Kabinett über Reden der Herren mehrfach gesprochen, und ich habe den Standpunkt, den ich eben Ihnen gegenüber erklärt habe, auch dort zum Ausdruck gebracht. Es ist auch richtig, daß z. B. der französische Rohe Kommissar sich in diesem Beschwerdebrief an mich gewandt hat, und auch andere Kommissare haben mich in einer sehr vornehmen Weise, da sie wohl auch die Schwierigkeiten eines Bundeskanzlers kennen, auf diese oder jene Rede eines der Herren Bundesminister aufmerksam gemacht.
({12})
Es hat sich nun herausgestellt, daß in vielen, wenn nicht in den meisten derartiger Fälle entweder die Berichte der Zeitungen nicht zutreffend waren oder daß eine Reihe von Ausführungen aus dem Zusammenhang gerissen und zusammengepreßt waren und dadurch einen Eindruck hervorgerufen haben, den der betreffende Redner nicht hat hervorrufen wollen.
({13})
Ich bin aber freimütig genug - und ich hoffe meine Kollegen werden mir das verzeihen, wenn ich das ganz freimütig sage -: es sind auch hier und da Entgleisungen vorgekommen.
({14})
({15})
Das läßt sich nicht bestreiten, und man muß freimütig genug sein, so etwas zuzugeben und zu bekennen. In allen den Fällen - seien Sie davon überzeugt - bin ich bestrebt, und zwar sowohl dadurch, daß ich mit den Herren die Sache bespreche, wie auch gegenüber den Hohen Kommissaren, zu verhüten, daß aus einem solchen gelegentlichen Ausrutschen für das deutsche Volk Nachteil entsteht. Ich glaube auch, Ihnen, Herr Kollege Lütkens, nach meiner ehrlichen Oberzeugung sagen zu können, daß bisher dadurch irgendein besonderer Schaden nicht angerichtet
worden ist.
({16})
Wenn Sie meinen, daß ich die Quittung für diese oder ähnliche Ausführungen von Mitgliedern des Kabinetts in den New Yorker Beschlüssen bekommen hätte, so möchte ich Ihnen doch hier sagen, daß mich diese New Yorker Beschlüsse mit großer Befriedigung erfüllt haben.
({17})
Ich, meine Damen und Herren, erblicke in den New Yorker Beschlüssen einen ganz wesentlichen Fortschritt auf dem mühevollen Wege, den wir Deutschen zu gehen haben.
({18})
ich möchte an dieser Stelle, obgleich ich noch keine außenpolitische Debatte heraufbeschwören möchte - ich würde gar nicht davon gesprochen haben, wenn nicht Herr Kollege Lütkens von den New Yorker Beschlüssen gesprochen hätte -, dem deutschen Volk sagen, daß das Wichtigste dieser Beschlüsse das Sicherheitsversprechen ist - gegenüber einem Angriff, gleich, woher er kommt -, das dem deutschen Volk von den drei Westalliierten in feierlicher Form gegeben worden ist.
Meine Damen und Herren! Das sind große Erfolge, und die wollen wir uns nicht verkümmern lassen. Wir werden ja demnächst eine ausführliche Debatte haben. Heute kann ich Ihnen nur folgendes mitteilen: Die erste Besprechung, die ich mit den Herren Hohen Kommissaren über die New Yorker Erklärungen haben werde, wird am Samstag nachmittag stattfinden. Es werden sich eine ganze Reihe von Besprechungen daran anschließen. Das New Yorker Dokument ist ja so abgefaßt, daß es eine Reihe von Erläuterungen durch die Hohen Kommissare notwendigerweise erfordert. Ich denke, wir werden uns über diese Frage demnächt hier unterhalten. Ich möchte Sie aber bitten, meine Damen und Herren, wenn noch weiter debattiert werden sollte, das New Yorker Dokument einstweilen aus dem Spiel zu lassen. Erst müssen wir die Erläuterungen haben, die von den Hohen Kommissaren dazu gegeben werden.
({19})
Und nun, meine Damen und Herren, komme ich zu dem Wortlaut der Interpellation. Da beißt es:
Wir fragen den Herrn Bundeskanzler als den
für die Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten verantwortlichen Minister:
1. In welcher Weise gedenkt er sicherzustellen, daß nicht einzelne Mitglieder seines Kabinetts sich öffentlich in Widerspruch setzen zu der von ihm zu verantwortenden außenpolitischen Linie der Bundesrepublik?
Darauf kann ich Ihnen nur sagen, daß nach meiner Kenntnis der Dinge - Herr Kollege Lütkens sprach zwar von einem Weinen an der Brust der Opposition, mir ist davon nichts bekannt ({20})
die außenpolitische Linie des Kabinetts durchaus einheitlich ist. Und:
2. Welche Maßnahmen gedenkt er zu treffen, damit nicht durch öffentliche Äußerungen . . . die Beziehungen der Bundesrepublik zu fremden Mächten weiterhin gestört werden?
Nun, meine verehrten Herren, welche Maßnahmen ich zu treffen gedenke? - Entsprechend meiner ganzen Veranlagung durch Überzeugung zu wirken!
({21})
Meine Damen und Herren! Ich bin fest überzeugt, daß wir auch durch offene Aussprachen im Kabinett in allen diesen Fragen zu gemeinsamen Überzeugungen kommen werden.
({22})
Ich habe allerdings - das gebe ich Ihnen auch offen zu - den herzlichen Wunsch, daß bei parteipolitischen Reden Fragen der auswärtigen Politik möglichst herausgelassen werden.
({23})
Denn die Fragen der auswärtigen Politik - da muß ich Herrn Kollegen Lütkens recht geben -sind so zart und müssen so vorsichtig behandelt werden, daß sie nun einmal in die rauhe Luft eines parteipolitischen Wahlkampfes nicht hineinpassen.
({24})
Meine Damen und Herren! Für die nun folgende Aussprache hat der Ältestenrat insgesamt 90 Minuten Redezeit vorgeschlagen. - Ich stelle Ihr Einverständnis damit fest.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Seelos.
Meine Damen und Herren! Die Interpellation war eigentlich so ernst, daß sie von den Interpellanten selbst nicht dadurch hat degradiert werden sollen, daß sie auf ein kleines parteitaktisches Niveau heruntergezogen worden ist.
({0})
Denn die Äußerungen sind so verhängnisvoll, daß sie durch sich selbst wirken. Man braucht nicht Tatbestände einzufügen, die nicht zu dieser Interpellation gehören.
Es wird von der Bundesregierung immer im nationalen Interesse erwartet, daß Parteienanträge, die Besatzungspolitik und auswärtige Dinge behandeln, vor internationalen Konferenzen zurückgestellt werden. Die Abgeordneten sind meist so loyal - ob Regierungspartei oder Opposition -, diesen Wünschen aus nationalem Interesse Rechnung zu tragen.
Wenn nun der Bundestag so wenig Kredit bei der Bundesregierung genießt, .daß sie glaubt, ihn etwas bevormunden zu müssen, weil man befürchtet, daß immer Exzesse in der Debatte stattfinden, dann möchte ich doch darauf hinweisen, daß schließlich in jeder Demokratie im Parlament
({1})
vollkommene Freiheit der Rede herrscht, und daß man auch im Auslande verzeiht, wenn einige outsider Äußerungen machen, die völlig unpassend sind.
Die Saardebatte oder auch andere Debatten haben aber gezeigt, daß sie eine wertvolle Unterstützung der Regierung bedeutet haben und daß sie auch im Ausland die wirkliche Stimmung des deutschen Volkes übertragen und durchaus positiv gewirkt haben. Dazu sind wir da, daß wir in entscheidenden Phasen in solch schwierigen außenpolitischen Situationen unsere Stimme erheben. Nun aber sollen wir , die wir dazu berufen sind, nicht dazu reden; aber die Minister, die reden frei und unbeherrscht über Probleme, die keineswegs zu ihrem Ressort gehören. Und das ist von der größten Gefahr. Denn erinnern Sie sich: Wir sind durch Reden in der Vergangenheit mit in unser nationales Unglück gekommen. Kaiser Wilhelm II. hat soviele außenpolitische Reden gehalten, die in der Welt die Meinung hervorgerufen haben, daß wir den Krieg wollten, obwohl das deutsche Volk nicht daran dachte, den Krieg zu wollen. Aber das Ausland hat geglaubt: das ist der verantwortliche Mann, dessen Wille ja bestimmt.
Das Ausland kann nicht glauben, daß verantwortliche Minister ihre Rede nicht mit dem Kanzler abgesprochen haben. Das Ausland kennt nicht unsere Verfassung. Es nimmt das, was Minister sagen, für todernst. 'Wenn der Herr Kanzler sagt, daß keine schlimmen Folgen deswegen vorgekommen seien, dann ist das nicht geschehen, weil diese Reden nicht so verhängnisvoll waren, sondern wegen der furchtbaren internationalen Situation. Da durfte man diese Reden nicht aufgreifen, man muße sie mehr oder weniger totschweigen.
Es ist richtig, daß die Minister nicht Untergebene des Kanzlers sind. Aber der Bundeskanzler muß in solchen schwerwiegenden Fällen tatsächlich von seinen verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch machen. Es ist eben ein Fehler unserer Bundesverfassung, daß die Exekutive und die Legislative in dieser Weise vermengt sind, daß Abgeordnete Minister sind. Nach der Verfassung sind sie also als Abgeordnete nur ihrem Gewissen verantwortlich, als Minister sind sie an die Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden. Ja, wie sollen sie aus dieser Situation herauskommen, wenn sie glauben, auf Grund ihres Gewissens reden zu müssen? - Das ist ein Widerspruch, der behoben werden sollte. Die Militärregierung hat es bei den Beamten einfach durch einen Befehl gemacht, daß Abgeordnete, die Beamte sind, ihre Beamteneigenschaft verlieren. Viel schwieriger, und verhängnisvoller ist aber die Vermengung von Abgeordneteneigenschaft und Ministereigenschaft. Wir sehen es doch, wenn die Minister manchmal vom Olymp heruntersteigen und unten von der Bank aus sich selbst das Vertrauen aussprechen. Wenn ein Minister in dieser jetzigen Situation glaubt, sein Amt nicht ausüben zu können, wenn er die Besatzungslage für so verhängnisvoll ansieht, daß es gegen sein Gewissen geht, hier mitzuwirken, dann hat er ein Mittel, - dann kann er zurücktreten. Jeder wird sagen: Hut ab vor einem Minister, der wegen seiner Überzeugung zurücktritt und die Konsequenzen zieht. Das ist das andere Mittel: Wenn der Bundeskanzler einen Minister deswegen nicht entlassen will oder die Entlassung dem Bundespräsidenten nicht vorschlagen will, dann sollte der
betreffende Minister selbst die Konsequenzen ziehen.
Ich erinnere z. B. an dieses verhängnisvolle Entnazifizierungsgesetz in der amerikanischen Zone, das die drei Ministerpräsidenten unterschrieben haben, was sie wohl bitter bereut haben.
({2})
Man darf nicht Dinge unterschreiben, von deren Fehlerhaftigkeit und von deren verhängnisvollen Folgen man überzeugt ist. Man darf erwarten, daß ein Minister zu seiner Meinung steht und eben nur als Abgeordneter hier unten so wirkt, wie er es als Abgeordneter noch seinem Gewissen verantworten zu können glaubt, und daß er nicht dann auch Minister spielen will.
Wir haben genug Schwierigkeiten. Wir wollen besonders in der Außenpolitik eine klare Linie der gesamten Regierung sehen. Wir wollen keine vier Außenminister haben. Da kann man nur sagen: Wir sind froh, daß der Kanzler wieder gesund ist und daß er jetzt die Härte zeigen kann, um diese Konsequenzen künftig zu ziehen. Man verlangt in der jetzigen Situation, wo es um Sein und Nichtsein des deutschen Volkes geht, Disziplin vom deutschen Volk. Herr Kanzler, sorgen Sie zuerst für Disziplin in Ihrem Kabinett!
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Thadden.
von Thadden ({0}): Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz sieht vor, daß der Bundeskanzler für die Politik der Regierung verantwortlich ist. Es sieht weiter vor, daß der Bundeskanzler dem Parlament für die Politik seiner Regierung verantwortlich ist. Wir haben - das ist schon von einem Vorredner ausgeführt werden - bisher nur selten Gelegenheit gehabt, dem Bundeskanzler die Meinung des Plenums dieses Hauses mitzuteilen. Ich möchte auf folgendes besonders hinweisen, und dies wurde von dem Herrn Kollegen Lütkens bereits hervorgehoben. Der Hauptfehler an diesen Äußerungen von Ministern - zu denen man im einzelnen sehr unterschiedlich stehen kann - ist doch wohl darin zu sehen, daß der Bundeskanzler seine Minister zu wenig anhält, eine offizielle Linie innezuhalten, und ihnen vielleicht auch zu wenig über die Linie sagt, die er einzuhalten gedenkt. Der Kanzler hat die bekannte Neigung, möglichst viel allein zu machen. An sich begrüßen wir eine Präsidial-Demokratie durchaus. Wir haben sie aber leider noch nicht.
({1})
Den Ministern werden wesentliche Dinge vorenthalten, und es kommen dann auf der anderen Seite Äußerungen von seiten des Kanzlers, die man nicht ganz begreifen kann, die man zumindest genau so wenig begreifen kann wie monierte Äußerungen von Ministern. Ich glaube, daß der Kanzler für deplacierte Äußerungen kausal verantwortlich ist, der zu wenig tut, um eine einheitliche Linie des Kabinetts durch eine wirkliche Kabinettstätigkeit zu gewährleisten. Ich möchte auf verschiedene böse Worte, die die Opposition in diesem Zusammenhang schon oft gebraucht hat, nicht noch besonders hinweisen. Die Interpellation der SPD müßte meines Erachtens sachlich dahingehend beantwortet werden, dem Kanzler die notwendige Informationspflicht über die von ihm
({2})
beabsichtigte Linie gegenüber dem Kabinett aufzuerlegen.
Ich glaube, daß man die Situation mit einer kleinen Abwandlung vielleicht mit dem früheren Kaisertum vergleichen kann. Damals gab der Kaiser seinem Kanzler die Richtlinien, die dieser dann in Wahrung der Loyalität als ausführendes Organ an seine Minister weiterleitete.
({3})
- Einen Moment! - Heute können wir an die Stelle des Kaisers das „oktroyierende politische Überwachungs-Triumvirat" setzen, und vielleicht sind es Gründe mangelnder Loyalität, die Bedenken entstehen lassen, diese alte Praxis fortzuführen. Wir wollen an den Kanzler die dringende Bitte richten, im Interesse eines geschlossenen Dastehens von Regierung und Parlament in Zukunft wesentlich mehr darauf zu achten, daß die Pläne, die er selber hat, seinen Ministern besser bekannt sind und auch von diesem Hause etwas mehr debattiert werden, als es bisher der Fall war. Das gilt gerade im Augenblick, wo es um weltpolitisch so wichtige Dinge geht. Damit kann auch nach außen die Einheit hergestellt werden, die wir heute notwendig haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paul.
Meine Damen und Herren! Durch die Interpellation der SPD-Fraktion wurde zweifellos ein sehr wichtiges Problem angesprochen. Die Minister dieser Regierung gefallen sich schon seit langer Zeit in sehr üblen Reden gegenüber unseren Nachbarvölkern.
({0})
Ich habe bereits bei der letzten Debatte über die Änderung des Strafgesetzbuches auf die Äußerungen des Justizministers in Stuttgart hingewiesen. Ähnliche Äußerungen haben wir auch von den Ministern Seebohm, Kaiser usw. erlebt. Aber die Minister sind nicht besser als ihr Chef!
({1})
Ihr Chef hat nämlich erst vorige Woche eine wüste Rede gehalten
({2})
gegen die Völker des Ostens
({3})
und die deutsche Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik.
({4})
Herr Abgeordneter Paul, der Ausdruck „wüste Reden" ist unparlamentarisch. Ich rufe Sie zur Ordnung.
Sie mögen das tun; aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß man sich in einheitlicher Front befindet im Kampf gegen die demokratischen Völker des Ostens, gegen die Sowjetunion, die Volksdemokratien und die Deutsche Demokratische Republik.
({0})
Es stimmt schon, was der Kanzler sagt, seine außenpolitische Linie werde vom ganzen Kabinett einheitlich vertreten. Ja, im Kampfe gegen die friedlichen Völker des Ostens
({1})
gibt es eben eine Einheitsfront von der äußersten
Rechten bis zu den sozialdemokratischen Führern.
({2})
„Wie der Herr, so ist das Gescherr!"
({3})
Dieses Volkswort paßt auf die heutige Regierung.
({4})
Die Interpellation der SPD-Fraktion mutet eigenartig an, da ihr Führer Dr. Schumacher ja der Spitzenreiter im Kampfe gegen die Völker des Ostens ist. Er hat erst vor kurzem eine monumentale Streitmacht gefordert, die ihren Angriff östlich der Weichsel vortragen soll.
({5})
Das ist jedenfalls kein Zeichen einer Verständigungspolitik, und ich kann in der Interpellation der SPD-Fraktion nur ein taktisches Manöver gegenüber dieser Regierung sehen. Es ist ein geschicktes Zusammenspiel, und ich möchte sagen: Der Bundeskanzler hat unrecht, die Rede des Herrn Lütkens war eine bestellte Arbeit,
({6})
um über dieses gemeinsame Zusammengehen
({7})
im Kampf gegen die friedlichen Völker des Ostens
({8})
die Bevölkerung draußen zu täuschen.
Was wir benötigen, ist eine echte Verständigungspolitik, eine Politik der echten Friedensbereitschaft.
({9})
Dazu gehört aber auch eine Politik, die dergestalt auf die Sicherung des Friedens abzielt, daß man mit den Völkern des Ostens Verbindungen aufnimmt
({10})
und daß man jene hetzerischen Kriegsreden gegen diese Völker einstellt. Es liegt nur im Interesse des deutschen Volkes, wenn eine solche echte Friedens- und Verständigungspolitik gemacht wird; denn in der Konzeption des amerikanischen Imperialismus liegt der Krieg, und der Krieg bedeutet für unser Volk die totale Vernichtung unserer Heimat.
({11})
Wir können in dem Kommuniqué der Konferenz der westlichen Außenminister keinen Beitrag zum Frieden sehen, sondern dieses Kommuniqué und die Beschlüsse dieser Konferenz gehören zu den Kriegsvorbereitungen des amerikanischen Imperialismus auf deutschem Boden gegen einen Teil Deutschlands und gegen die übrigen Völker des Ostens.
({12})
Wir sind jedenfalls nicht der Meinung, daß ein Appell an diese Regierung oder an die Politiker in diesem Hause zur Sicherung des Friedens großen Nutzen haben würde. Deshalb wenden wir uns an die breiten Volksmassen draußen im Lande.
({13})
Wir wenden uns an unsere Jugend,
({14})
damit sie mit uns gemeinsam gegen die Remilitarisierung und gegen das Hineinpferchen in eine
({15})
Atlantikpakt-Söldnerarmee kämpft. Wir wenden uns an die Arbeiter, damit sie jede Rüstungsarbeit einstellen.
({16})
Wir wenden uns an die Hafenarbeiter, damit sie das Ausladen von Kriegsmaterial auf deutschem Boden einstellen. Und nicht zuletzt wenden wir lins an alle aufrechten Patrioten und Friedenskämpfer in Deutschland, um mit uns gemeinsam für ein einheitliches, unabhängiges Deutschland, für die Schaffung eines Friedensvertrags und für den Abzug der Besatzungstruppen zu kämpfen. Wir zweifeln nicht daran, daß die Mehrheit des deutschen Volkes aus dem eigenen Friedens- und Verständigungsbedürfnis diesen Weg gemeinsam mit uns gehen wird. Dann wird Deutschland wirklich eine echte Friedens- und Verständigungspolitik gegenüber allen Völkern betreiben, und dann werden auch der Wiederaufstieg unserer Heimat sowie unsere nationale Solidarität und Einheit gesichert sein.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Harnacher.
Meine Damen und Herren! Bei seiner Ansprache anläßlich des Einjahresjubiläums des Bundestags hat der Herr Bundeskanzler eine wohltuende und wohlwollende Wendung gegenüber der Opposition gebraucht. Er hat der Opposition auch seinen Dank für ihre gewissenhafte Mitarbeit ausgesprochen. Wir hätten uns alle gefreut, wenn eine solche Wendung auch bei der Verabschiedung des Europaratsgesetzes hier im Hause aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers gekommen wäre. Dann würde nämlich nicht jene so scharfe Wendung aus dem Munde des Bundeskanzlers gekommen sein, die er in seinen jetzigen Ausführungen selber verurteilt hat. Er hat am Vortage der Wahl zum Landtag von Nordrhein-Westfalen im Nordwestdeutschen Rundfunk eine scharfe Rede gehalten. Er hat dabei gegenüber den Parteien der Opposition, zu denen auch das Zentrum gehört, die Wendung gebraucht: Zentrum und SPD haben sich gegen den Westen und für den Osten entschieden.
Es bot sich damals keine Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Heute ist zum ersten Mal die Gelegenheit vorhanden, dazu Stellung zu nehmen, da der Herr Bundeskanzler in unserer Mitte sitzt. Er hat in seiner Rede vorhin selber jene damals gemachte Wendung verurteilt, indem er sagte: bei parteipolitischen Reden sollen Fragen der auswärtigen Politik aus dem Spiele bleiben. Wir nehmen die jetzige Wendung mit Genugtuung zur Kenntnis; aber im Namen meiner politischen Freunde lege ich gegen die scharfe Äußerung, die am 16. Juni aus dem Munde des Kanzlers gekommen ist, schärfste Verwahrung ein.
Dem, was zur Methode der Außenpolitik gesagt worden ist, möchte ich einiges hinzufügen. Es ist mit Recht an dem Vorgehen der einzelnen Minister Kritik geübt worden, und es ist auch hier und da eine Kritik an dem Vorgehen des Herrn Bundeskanzlers selbst in der Außenpolitik untergeflossen. Ich glaube, wenn Herr Bundeskanzler die Klaviatur des Bundestags etwas häufiger benutzt hätte, als es der Fall gewesen ist, würden wir weniger über solche Seitensprünge der Ressortminister zu klagen haben.
({0})
Zwei Beispiele mögen das zeigen. Anläßlich der Regierungserklärung beim Zusammentritt des Bundestags haben wir feststellen können, daß der Herr Bundeskanzler mit seinen Ausführungen über die Koalition nur selten Beifall fand. Als er aber die Außenpolitik ins Blickfeld rückte, fand er starken und einmütigen Beifall auf allen Seiten des Hauses.
Ein zweites beachtenswertes Beispiel ist folgendes: Bei der Saar-Debatte am 10. März hat Herr Bundeskanzler die Saarfrage nach der politischen, juristischen und wirtschaftlichen Seite behandelt und in ein solches Licht gestellt, daß er sogar in den Oppositionskreisen der SPD starken Beifall fand. Er löste eine Gegenrede des Herrn Dr. Schumacher aus, die frei von jeder Schärfe war und die Argumente des Bundeskanzlers unterstrich. Die Folge davon war, daß diese Rede auch in den Reihen der CDU mit einem sehr starken Beifall aufgenommen wurde.
Diese beiden Beispiele mögen genügen, um es dem Herrn Bundeskanzler nahezulegen, in Zukunft etwas häufiger das Instrument des Bundestags zu benutzen, um sich über außenpolitische Fragen zu äußern, und etwas weniger die Presse und das Mittel des Interviews in Anspruch zu nehmen.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung erledigt.
Ich habe noch einige Mitteilungen zu machen. Der Vermittlungsausschuß tritt jetzt sofort zu einer Beratung in Zimmer 10, Südflügel, zusammen. Der Unterausschuß des Ausschusses für Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten tritt ebenfalls sofort zusammen, und zwar im. Zimmer 108, Südflügel.
Ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gleisner, Keuning, Tenhagen, Lange und Fraktion der SPD betreffend Fischer-Tropsch-Werk Bergkamen ({0})
in Verbindung mit der
Beratung des Antrags der Frau Abgeordneten Niggemeyer und Genossen betreffend FischerTropsch-Werk Bergkamen ({1}).
Der Ältestenrat schlägt Ihnen für die Begründung der Anträge je 10 Minuten, für die Aussprache 40 Minuten vor. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Für die Begründung des Antrages erteile ich der Frau Abgeordneten Niggemeyer das Wort.
Frau Niggemeyer ({2}), Antragstellerin: Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Zunächst möchte ich meiner Genugtuung darüber Ausdruck geben, daß es den Bemühungen des Altestenrats gelungen ist, auch den Antrag unserer Fraktion, der als ersten meinen Namen trägt, heute noch mit auf die Tagesordnung zu setzen und eine Begründung dieses Antrages vorzusehen. Wer wie ich aus nächster Nähe den Leidensweg der Chemischen Werke Bergkamen erlebt hat, könnte vielleicht der Ansicht sein, daß es einer Begründung dieses Antrages überhaupt nicht bedürfe. Trotzdem gestatten Sie mir, Ihnen einige Stationen dieses
({3})
Leidensweges zu zeigen oder in Ihr Gedächtnis zurückzurufen. Ich habe aus nächster Nähe die Zerstörung dieses grandiosen Werkes durch die feindliche Luftmacht miterlebt. Ich habe seit 1945 die Anstrengungen miterlebt, die von der Leitung des Werks gemacht worden sind, einmal die Zerstörung zu beheben und nach Wegen zu suchen, wieder in den Produktionsgang eingeschaltet zu werden.
Lassen Sie mich kurz einige der wichtigsten Daten dieses Weges zeigen. Da war zunächst der Versuch, durch die Militärregierung zu einer Produktionsgenehmigung zu kommen. Sie wurde für eine Teilproduktion erteilt, ja, es wurde das Chemische Werk Bergkamen mit Mitteln der Militärregierung und weitgehend mit Mitteln des Werks selbst so weit aufgebaut, daß diese Teilproduktion in Angriff genommen werden konnte. Und dann kamen die Rückschläge in der Art, daß das Permit für die Produktion nicht von der Gesamtheit der Militärregierung erteilt wurde. Dann kam weiterhin die Enttäuschung, daß in der Zeit der Demontage zu befürchten stand, daß das Werk in seiner Gesamtheit vernichtet werden sollte. Dann kamen die Anstrengungen des Werks, trotz dieser Rückschläge die bestehenden Anlagen betriebsfähig zu erhalten, kamen die Bestrebungen, sich den Stamm der Facharbeiter zu erhalten, die Bestrebungen, weitgehend nach jeder Richtung hin durch das Land Nordrhein-Westfalen, durch die Mithilfe des Wirtschaftsrats, durch die Einschaltung aller für diese Frage in Betracht kommenden Stellen doch noch zu der Genehmigung zu kommen.
Sie alle wissen aus der Zeit, als die Demontage verschärft werden sollte, in welch schwieriger Situation wir gerade damals in Bergkamen gestanden haben. Vielleicht sind Ihnen die Bilder der
Tageszeitungen und der Illustrierten noch bekannt, die davon Kunde gaben, wie die bewaffnete Macht der Militärregierung vor den Toren des Werks Aufstellung nahm. Das alles ist in gewisser Weise zum Guten gewendet. Aber eine weitere schwere Enttäuschung kam für das Chemische Werk Berg-kamen, die Enttäuschung, daß es als einziges nach dem Fischer-Tropsch-Verfahren arbeitendes Werk von jeglicher Produktionserlaubnis ausgeschaltet blieb.
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß das Werk seine Anstrengungen gemacht hat, den Betrieb wenigstens vor dem Verfall zu retten, seine Facharbeiter zu halten, und ich darf Sie auf die soziale Seite dieser Frage hinweisen, die darin besteht, daß in diesem Werk weitgehend mehrere hundert Frauen neben den Facharbeitern beschäftigt werden können und daß gerade diese Frage für Bergkamen von entscheidender Bedeutung ist, weil ja nach dem Kriege, nach der Zerstörung des Orts selbst, nach der Zerstörung des Werks das furchtbare Grubenunglück von Bergkamen Hunderte von Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen machte. Diese Witwen und andere Frauen warten darauf, in diesem Betrieb einmal wieder Arbeit finden zu können.
Neben den Anstrengungen des Werks, zum Permit zu kommen, das Werk zu erhalten, gingen aber weitere Anstrengungen, nach einem Weg zu suchen, der es ermöglichte, zu einer Produktion zu kommen, die nicht im Widerspruch mit den Bestimmungen der Militärregierung bezüglich des Fischer-Tropsch-Verfahrens stand. Dank der Tüchtigkeit der Leitung des Chemischen Werks Bergkamen, des Direktors des Werks und seiner Mitarbeiter ist es gelungen, zu einem Verfahren zu kommen, das auch hier in unserem Antrage genannt ist, dem Gasentgiftungsverfahren, das von dem Chemischen Werk Bergkamen zum Patent angemeldet worden ist und zu dem bei den Hohen Kommissaren der Antrag des Werkes vorliegt, die Produktion nach diesem neuen Verfahren zu genehmigen.
Sie werden Verständnis dafür haben, daß es mir als Frau nicht möglich ist, hier über das chemische Verfahren als solches einen Fachvortrag zu halten. Das wäre Sache eines Chemikers. Ich bitte Sie aber, Verständnis dafür zu haben, daß nicht nur dem Werk Bergkamen selbst, nicht nur der nächten Umgebung dieses Werks und meinem Heimatkreis daran liegt, zur Produktion zu kommen, sondern daß dies eine Frage ist, die weitgehend unser gesamtes wirtschaftliches Leben beeinflußt. Und darum bitte ich Sie, dem Antrage zuzustimmen, daß unsere Regierung ersucht wird, bei den Hohen Kommissaren darauf hinzuwirken, daß die Erlaubnis zur Produktion nach dem neuen Gasentgiftungsverfahren gegeben wird.
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Das Wort zur Begründung des Antrags unter Ziffer 6b der Tagesordnung hat Herr Abgeordneter Gleisner.
Gleisner ({0}), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen der Kollegin Niggemeyer waren so treffend, daß ich nur noch unterstreichen kann, was sie sagte. Gestatten Sie mir, daß ich noch etwas ergänze.
Mit Genehmigung der Militärregierung wurden in diesem Werk 15 Millionen Mark investiert. Wir hatten damals alle den Eindruck, daß es der Militärregierung sehr darauf ankam, dieses Werk der produktionsfähigproduktionsfähig zu machen. Als dann aber
das Werk wieder intakt war und man glaubte, die Produktion anlaufen lassen zu können, kam die Demontage der Anlage für die Fischer-TropsehSynthese. Trotz der auf dem Werk stattfindenden Demontage arbeitete die Werksleitung weiter und erfand ein neues Entgiftungsverfahren für die Gasproduktion. Sie wollte hiermit dem Werk und der Bevölkerung die Existenz erhalten, weil sie glaubte, daß nun für diese Ausweichproduktion, die insbesondere für die Ferngasversorgung im Ruhrgebiet von außerordentlicher Wichtigkeit ist, von der Militärregierung ein Permit ausgestellt würde.
Dieser Wunsch blieb leider unerfüllt. Die augenblickliche Situation aber sollte die Alliierten mahnen, eine zukunftsweisende Politik zu treiben und die deutschen Möglichkeiten wahrzunehmen, Gas, Paraffin-Gatsche und Lösungsmittel für die chemische Industrie in eigener Produktion herstellen zu können. Gleichwie geartete Konkurrenzbestrebungen internationaler Art werden störend empfunden und hindern den notwendigen Ausbau dieser so wichtigen Industrie.
Dies gilt nicht nur für die chemischen Werke in Bergkamen. Auch in Scholven liegt ein chemisches Werk brach, wie auch die Ruhröl G.m.b.H. nicht produzieren kann.
Die chemischen Werke in Bergkamen sind aber nicht nur ein wirtschaftliches, ein ökonomisches Problem. Die Gemeinde Bergkamen, die von diesem Werk abhängig ist, hat einen Leidensweg hinter sich gebracht, der eben schon von der Kollegin Niggemeyer treffend angedeutet wurde. Mir scheint es aber wichtig, zu sagen, daß das gar nicht alles war.
1944 verheimlichten die Nazis ein großes Grubenunglück mit 107 Toten in dieser Gemeinde. Der
({1})
Bombenkrieg forderte, eben weil dort dieses Werk lag, 509 Tote. Aus dem Krieg kehrten 280 Soldaten nicht zurück, und im Februar 1946 ließen 404 Bergknappen ihr Leben. 1200 Tote gleich 20% der Bevölkerung sind in dieser Gemeinde zu beklagen. Die Witwen setzten ihre ganze Hoffnung auf die Wiederingangsetzung des Werkes in Bergkamen. Sie wollen dort arbeiten, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Trotz der Tatsache, daß 80 % aller Wohnungen vernichtet waren, daß keine Schule, keine Kirche mehr stand, duldete es die Bevölkerung, ja, sie begrüßte es, daß mehr als eine Million Steine zum Wiederaufbau dieses Werkes verwandt wurden, während die Bevölkerung in Kellern wohnte.
Innerhalb Deutschlands wurde schwerlich ein Gemeinwesen in seiner sozialen und wirtschaftlichen Existenz so hart getroffen wie Bergkamen. Wohl nirgendwo in Deutschland gibt es eine Gemeinde mit soviel Witwen und Waisen. Man hatte geglaubt, die Militärregierung würde auf diese Dinge Rücksicht nehmen und die Witwen und Waisen würden dort eine Arbeitsstelle finden. Sie wurden enttäuscht. Nochmals ging der Name dieser Gemeinde durch alle Zeitungen, und die Tatsache, daß eine Abteilung belgischer Panzer erstmalig in Deutschland eingesetzt wurde, um die Demontage des Werkes zu schützen, dessen Erhaltung von den Frauen Bergkamens mit legalen Mitteln versucht wurde, gelangte zu einer traurigen Berühmtheit. Die Zerstörung war allen unverständlich, und mir scheint, die Entwicklung wird den Witwen von Bergkamen recht geben. Heute aber kann die Militärregierung durch ihre Hohen Kommissare erstmalig Freude bereiten, indem sie der Notwendigkeit folgt und dem Werk ein Permit auf seine Ausweichproduktion gibt. Die Bundesregierung sollte mit besonderem Nachdruck für die beiden Anträge eintreten und nicht nur für die Werke Bergkamen, sondern auch für die Chemischen Werke in Scholven und für die Ruhröl ein Permit erwirken. Ich bitte das Hohe Haus, diesem Antrag die Unterstützung nicht zu versagen.
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Das Wort hat der Herr Bundesarbeitsminister.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon im Wirtschaftsrat in Frankfurt wurde der Kampf um die Erhaltung der chemischen Werke an Rhein und Ruhr und vor allen Dingen um die Erhaltung des Werkes in Bergkamen geführt. Damals sagte General Clay bei einer derartigen Besprechung: Hier handelt sich's um eine Angelegenheit, in der wir in Deutschland gar nicht wirksam werden können. Hier handelt es sich um Entscheidungen unserer Heimatregierungen, und nur über unsere Heimatregierungen sind diese Dinge in eine andere Ordnung zu bringen.
Als wir im vergangenen Jahre hier um die Einstellung der Demontagen gekämpft haben, war die Frage der Erhaltung unserer chemischen Industrie an Rhein und Ruhr eine besondere Herzensangelegenheit der Bundesregierung. Es war damals nicht möglich, für Bergkamen das Permit zu bekommen und die Arbeitsmöglichkeiten zuzulassen, die wir bei einem Teil der anderen chemischen Werke erreichen konnten.
Wenn Sie heute hier diese Anträge zur Behandlung bringen, dürfen Sie sicher sein, daß die Bundesregierung unter den neuen politischen Verhältnissen im Sinne dieser Anträge wirksam werden wird. Ich habe vorhin mit dem Herrn Bundeskanzler über diese Anträge gesprochen, und er hat mir bindend zugesagt, daß er eine der ersten Besprechungen, die er in der nächsten Zeit auf dem Petersberg hat, dazu benutzen wird, um im Sinne dieser Anträge bei den Hohen Kommissaren vorstellig zu werden. Auch ich habe die Hoffnung, daß es nunmehr an der Zeit ist, daß man diesem Werk und den ähnlichen Werken an Rhein und Ruhr die Produktionsmöglichkeit wiedergibt.
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bertram.
Das Produktionsverbot für Bergkamen beruht darauf, daß dort nach dem Fischer-Tropsch-Verfahren gearbeitet worden ist. Das Fischer-Tropsch-Verfahren gefährdet angeblich die Sicherheit der Besatzungsmächte. Diese Frage ist also mit der allgemeinen Demontagefrage nicht ohne weiteres in Zusammenhang zu bringen. Insbesondere verlangt das Sicherheitsamt der Alliierten, daß auch die Benutzung der Apparate, die früher für das Fischer-Tropsch-Verfahren verwendet worden waren und jetzt für eine Ausweichproduktion verwendet werden sollen, besonders genehmigt wird.
Meine Damen und Herren, ich frage mich, ob man tatsächlich diesen Gesichtspunkt der Sicherheit der Alliierten in diesem Zusammenhang mit Recht aufwerfen darf. Ich glaube, daß die wirklichen Gründe, die zu der bisherigen Behandlung des Werkes in Bergkamen geführt haben, auf wesentlich anderem Gebiete gelegen haben. Deshalb komme ich darauf, weil beispielsweise für das Werk der Krupp-Treibstoffwerke in Wanne-Eickel eine Ersatzproduktion, die ungefähr zur gleichen Zeit beantragt worden war, genehmigt worden ist, obwohl dort an Treibstoff monatlich rund 1100 Tonnen anfallen und hier bei dem Werk in Berg-kamen an Treibstoff monatlich nur 200 Tonnen anfallen würden. Es müssen also ganz besondere Gründe sein, daß bisher unter dem Vorwand, es handele sich um ein Sicherheitsbedürfnis, die Genehmigung trotz des Antrages, der nunmehr drei Vierteljahre läuft, nicht erteilt worden ist.
Ich glaube, meine Damen und Herren, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, nachdem die Newyorker Konferenz gewesen ist und die Durchführungsverhandlungen des Herrn Bundeskanzlers mit den Hohen Kommissaren auf dem Petersberg beginnen sollen, hier deutlich zu sprechen und deutlich zu sagen, worum es in Wirklichkeit geht, um auf diese Art und Weise die letzten Reste einer solchen Politik, die mit wohlverstandener Sicherheit der Alliierten nichts zu tun hat, zu beseitigen.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich schlage Ihnen vor, bei diesen Anträgen gleich zur Sache abzustimmen. Meinem Dafürhalten nach ist eine Überweisung an irgendeinen Ausschuß vollkommen überflüssig.
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Ich lasse abstimmen, und zwar über beide Anträge gleichzeitig; sie decken sich ja inhaltlich. Wer für die Annahme der beiden Anträge Drucksachen
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Nr. 1266 und 1327 ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Gegenprobe! - Einstimmig angenommen.
Damit, meine Damen und Herren, ist die Tagesordnung erschöpft.
Ich habe Ihnen noch bekanntzugeben, daß sofort im Anschluß an die Plenarsitzung eine Fraktionssitzung der CDU/CSU stattfindet.
Die 88. Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf Freitag, den 22. September, vormittags 9 Uhr, ein und schließe damit die 87. Sitzung des Deutschen Bundestages.