Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 254. Sitzung des Deutschen Bundestages und bitte um Ihre Aufmerksamkeit für die Bekanntgabe der Namen der entschuldigten Abgeordneten.
Es suchen für längere Zeit um Urlaub nach Abgeordneter Dr. Luchtenberg für weitere zwei Wochen wegen Krankheit, Abgeordneter Aumer für wehere geilt Wochen wegen Krankheit und Abgeordneter Tichi für weitere drei Monate wegen Krankheit.
Ich darf unterstellen, daß das Haus mit der Erteilung dieses Urlaubs einverstanden ist. - Das ist der Fall.
Der Präsident hat Urlaub erteilt für drei Tage den Abgeordneten Frau Meyer-Laule, Dirscherl, Dr. Bucerius, Schmitz und Dr. Solleder wegen Krankheit.
Eritschuldigt fehlen die Abgeordneten Dr. Semler, Dr. Henle, Gockeln, Sander und Kuhlemann.
Danke schön. - Ich habe weiter folgende Glückwünsche nachträglich auch im Hause auszusprechen:
Herrn Abgeordneten Albers zum 63. Geburtstag am B. März,
({0})
Herrn Abgeordneten Graf zum 61. Geburtstag am 8. März,
({1})
Herrn Abgeordneten Jaeger ({2}) zum 67. Geburtstag am 10. März,
({3})
Herrn Abgeordneten Wackerzapp zum 70. Geburtstag am 12. März
({4})
und der Abgeordneten Frau Dr. Weber ({5}) zum 72. Geburtstag am 17. März.
({6})
Die Fraktionen haben sich dahin verständigt, daß der Punkt 2 der Tagesordnung:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({7}) über den Entwurf eines Gesetzes zur Abwicklung und Entflechtung des ehemaligen reichseigenen Filmvermögens ({8})
heute abgesetzt wird.
Es wird weiter vorgeschlagen, an Stelle des Punktes 11 der Tagesordnung - Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über steuerliche Maßnahmen zur Förderung der Vorfinanzierung des Lastenausgleichs - die Erste, zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP und FU ({9}) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine steuerliche Sofortmaßnahme zur Förderung der Vorfinanzierung des Lastenausgleichs - Drucksache Nr. 4187 - zu setzen. - Das Haus ist damit einverstanden.
({10})
- An Stelle des Punktes 11 - Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über steuerliche Maßnahmen zur Förderung der Vorfinanzierung des Lastenausgleichs, Nr. 4034 der Drucksachen - soll der eben genannte Gesetzentwurf über eine steuerliche Sofortmaßnahme zur Förderung der Vorfinanzierung des Lastenausgleichs auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Weiterhin soll - ich nehme an, daß sich die Fraktionen darüber verständigt haben - die Tagesordnung um die Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Verlängerung der Wahlperiode der Betriebsräte ({11}) in den öffentlichen Verwaltungen und Betrieben des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts - Drucksachen Nrn. 4186, 4156, Umdruck Nr. 793 - erweitert werden. - Das Haus ist damit einverstanden.
Das sind die Mitteilungen, die ich zu machen habe.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung ins Stenographische Protokoll aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 6. März folgenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag nach Art. 77,2 GG nicht gestellt:
({12})
Gesetz zur Abänderung und Ergänzung des Gesetzes über die Verlängerung der Wahlperiode der Betriebsräte vom 8. Januar 1953;
Gesetz über die Leistungen zur Unterbringung von Deutschen aus der sowjetischen Besatzungszone oder dem sowjetisch besetzten Sektor von Berlin ({13});
Gesetz über das Abkommen vom 19. Juli 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Wiederherstellung gewerblicher Schutzrechte.
Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 9. März 1953 die Kleine Anfrage Nr. 323 der Fraktion der FU ({14}) betreffend Vereinfachung im Grundstücksverkehr - Drucksache Nr. 4132 - beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache Nr. 4176 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 3. März 1953 über die Schritte der Regierung zur Erhaltung des deutschen Flachs- und Hanfanbaues gemäß dem Beschluß des Deutschen Bundestages in seiner 239. Sitzung berichtet. Sein Schreiben wird als Drucksache Nr. 4162 vervielfältigt.
Ich rufe zunächst Punkt 1 auf:
Einspruch des Abgeordneten Rische gegen den ihm in der 252. Sitzung erteilten Ordnungsruf ({15}).
Meine Damen und Herren, ich habe Herrn Abgeordneten Rische erklärt, daß es mir zweckmäßig erscheine, in diese drei Sitzungstage nicht den morgigen Tag einzubeziehen, sondern einen spät er en Sitzungstag zu nehmen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob das Stimmverhältnis bei der Abstimmung über die Verträge auch nur hinsichtlich einer Stimme zurechtgemacht werden sollte.
({16})
Sie haben den Umdruck Nr. 785 vor sich. Ich bitte die Damen und Herren, die für den Einspruch zu stimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letzte ist die überwiegende Mehrheit. Der Einspruch ist zurückgewiesen.
Ich rufe den Punkt 3 auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({17}) über den Entwurf eines Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften ({18}).
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. Schneider. Ich bitte ihn, das Wort zu nehmen.
Dr. Schneider ({19}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag hat in seiner 230. Sitzung am 17. September 1952 den Entwurf eines Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in der vom Ausschuß für Fragen der Jugendfürsorge vorgeschlagenen Fassung - Bundestagsdrucksache Nr. 3666 - angenommen. Mit Beschluß vom 10. Oktober 1952 hat der Bundesrat wegen dieses Entwurfs den Vermittlungsauschuß angerufen und gefordert, den in § 21 vorgesehenen Beschwerdezug von den Landesprüfstellen an eine Bundesprüfstelle zu beseitigen. Nach Ansicht des Bundesrats enthält ein solcher Beschwerdezug eine nach dem Grundgesetz unzulässige Mischform zwischen Landes- und Bundesverwaltung.
Der Vermittlungsausschuß hat eingehend geprüft, in welcher Weise man den Bedenken des Bundesrats Rechnung tragen kann. Er hat verschiedene organisatorische Möglichkeiten ausführlich erörtert und ist schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß die Schaffung einer einzigen Bundesprüfstelle die beste Lösung darstellt. Nach dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses sollen also keine Landesprüfstellen eingerichtet werden; die verwaltungsmäßige Durchführung des Gesetzes soll vielmehr einer einzigen Bundesprüfstelle obliegen. Jede Landesregierung ernennt aber einen Beisitzer der Prüfstelle.
Durch diese Regelung sind die verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesrats ausgeräumt. Die Bundesprüfstelle wird auch in der Lage sein, die ihr übertragenen Aufgaben zu bewältigen. Unter der Weimarer Verfassung haben seinerzeit zwei Reichsprüfstellen die Arbeit für das gesamte Reichsgebiet ohne Schwierigkeiten erledigen können. Man kann also annehmen, daß für das kleinere Bundesgebiet eine Prüfstelle ausreichen wird. Diese Prüfstelle wird vielleicht anfangs viel zu tun haben. Der Arbeitsanfall wird sich aber nach einiger Zeit auf ein normales Maß verringern. Da die Prüfung bei einer Stelle liegt, ist die notwendige Einheitlichkeit der Spruchpraxis auf jeden Fall gewährleistet. Die Entscheidungen der Bundesprüfstelle sind vor dem Verwaltungsgericht anfechtbar; sie werden also auf ihre Rechtmäßigkeit nachgeprüft werden können. Schließlich liegt auf der Hand, daß eine einzige Prüfstelle billiger ist als eine Vielzahl solcher Stellen. Die Änderungsvorschläge des Vermittlungsausschusses zu § 8 des Entwurfs entsprechen dieser Empfehlung. Alle weiteren Vorschläge, die aus der Drucksache Nr. 4158 ersichtlich sind, ergeben sich hieraus.
Im Namen des Vermittlungsausschusses darf ich Sie bitten, diesem Vermittlungsvorschlag zuzustimmen.
({20})
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Sie haben den Antrag des Vermittlungsausschusses gehört; wünscht jemand Erklärungen abzugeben? - Das ist nicht der Fall.
Der Vermittlungsausschuß hat beschlossen, daß übet die Änderungsanträge gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte die Damen und Herren, die den Anträgen des Vermittlungsausschusses auf Drucksache Nr. 4158 insgesamt zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Das erste war die Mehrheit. Der Antrag des Vermittlungsausschusses ist angenommen.
Ich rufe den Punkt 4 auf:
a) Fortsetzung der ersten Beratung des Entwurfs eines Bundeswahlgesetzes ({0});
b) Fortsetzung der ersten Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wuermeling, Strauß und Genossen eingebrachten Ent({1})
wurfs eines Wahlgesetzes zum Bundestag der Bundesrepublik Deutschland ({2});
c) Fortsetzung der ersten Beratung ides von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Bundeswahlgesetzes ({3}).
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Gesamtaussprachezeit von 180 Minuten vor. - Das Haus ist damit einverstanden.
Das Wort hat der Abgeordnete Scharnberg.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU hat seit jeher den Standpunkt des Mehrheitswahlrechtes, oder besser gesagt, des mehrheitbildenden Wahlrechts vertreten.
({0})
Sie hat ,dies auch - und hier möchte ich sogleich Herrn Menzel berichtigen - im Parlamentarischen Rat getan. Wenn Sie, Herr Menzel, am Schluß der Begründung, die Sie in der letzten Bundestagssitzung vorgetragen haben, behauptet haben, daß das Wahlrecht 1949 von allen großen demokratischen Parteien getragen worden sei, so haben Sie die Unwahrheit gesprochen.
({1})
Wir haben gegen dieses Wahlrecht gestimmt. Es
ist mit 36 gegen 29 Stimmen angenommen worden.
({2})
Wir sind der Überzeugung, daß jedes Verhältniswahlrecht, ganz gleich, ob es in der Gestalt eines reinen Listenwahlrechts oder in der Mischform der Personen- und Listenwahl auftritt, staatspolitisch ein Unglück ist.
({3})
In Konsequenz dieser Überzeugung werden wir uns weiterhin gegen ein Wahlrecht, wie wir es hatten und wie es die SPD jetzt vorschlägt, wenden, weil beide Wahlrechte Verhältniswahlrechte und wir davon überzeugt sind, daß die Katastrophe von Weimar vorwiegend durch das falsche Verhältniswahlrecht verursacht worden ist.
({4})
Wir wollen das deutsche Volk davor bewahren, daß es noch einmal den Weg von Weimar geht.
({5})
Die Frage, ob Personen- oder Listenwahl angewandt wird, ist gewiß bedeutungsvoll; sie ist aber nicht annähernd so bedeutungsvoll wie die Frage, ob ein mehrheitbildendes Wahlrecht oder ob ein Verhältniswahlrecht angewandt wird.
({6})
Bei dieser Frage geht es um das fundamentalste Problem des Aufbaus der Demokratie.
({7})
Ich brauche auf die Funktionen der beiden Wahlsysteme nicht näher einzugehen. Sie sind bekannt. Bekannt ist auch, daß das erste in seiner
konsequentesten Form des relativen Mehrheitswahlrechts zur Bildung von zwei Parteien, das zweite regelmäßig zur Zersplitterung der Parteien führt. Dabei sind gar nicht mal so sehr, wie häufig behauptet wird, die kleinen Splitter schädlich. Die Weimarer Republik ist nicht an ihnen zugrunde gegangen, sondern an dem Zusammenwirken bzw. Nichtzusammenwirken der mittleren und größeren acht Parteien.
({8})
Meine Damen und Herren, wir haben doch drei Stunden Redezeit. Es brauchen doch darum nicht alle gleichzeitig zu reden. Das reicht doch.
({0})
Nicht nur die Tatsache, daß wir diese acht Parteien hatten, sondern vor allem ihr Verhalten führte zu der Katastrophe; aber ihr Verhalten war ebenso wie sie selbst durch das Wahlrecht bedingt.
Das Parlament ist Gesetzgeber und hat die Regierung zu bilden und zu kontrollieren.
Darüber hinaus aber - und das scheint man eigentlich wenig zu beachten - sollte es Aufgabe des Parlaments sein, dafür zu sorgen, daß wir eine konstruktive und verantwortungsbewußte, weil nämlich verantwortliche, einheitliche Opposition haben. Diese Aufgabe haben die Reichstage der Weimarer Periode nicht gelöst, und. dieses Versäumnis führte zu der Katastrophe. Wir haben in den vierzehn Jahren fünfzehn Regierungen gehabt, von denen die meisten Minderheitenregierungen waren; das heißt, daß in den Reichstagen sich meistens keine tragfähigen Mehrheiten bildeten, aber auch keine einheitliche Opposition bestand. Die Minderheitenregierungen lebten nicht von der Kraft, die hinter ihnen stand, sondern von der Uneinigkeit, die ihnen gegenüberstand.
({0})
Die Vorgänge, welche sich bei den einzelnen Regierungskrisen, bei der Zusammensetzung der neuen Regierungen und bei der Zusammenarbeit der jeweiligen Koalitionsparteien ereigneten, diskreditierten die Demokratie in den Augen der Bevölkerung in ständig zunehmendem Maße. Die an sich gesunde Tendenz im demokratischen Raum zum Kompromiß führt beim Verhältniswahlrecht zu Regierungen der Mitte, beim mehrheitsbildenden Wahlrecht aber zur Regierung entweder rechts oder links.
Um Regierungen der Mitte nun, wenn man sie sich einmal als Kern vorstellt, bilden sich gewissermaßen zwei Schalen, die Opposition darstellen. Die innere Schale bildet die aus demokratischen Elementen bestehende, von konstruktiven Absichten beseelte Opposition. Die äußere Schale bilden die radikalen Parteien, nicht auf dem Boden
der verfassungsmäßigen Staats- und Gesellschaftsordnung stehen. Dabei ist das Wesentliche, daß sich diese radikalen Parteien beim System der Regierung der Mitte rechts und links bilden, diametral entgegengesetzt sind und dadurch ausschließlich verneinend und destruktiv wirken. Nun muß bekanntlich jede Regierung damit rechnen, daß sie gewisse Anhänger im Laufe der Zeit abstößt. Bei Regierungen der Mitte wirkt sich dieser Abstoßungsprozeß als Zentrifugalkraft aus, und durch
({1})
diese Zentrifugalkraft wächst nun die äußere Schale ständig an, bis sie schließlich die Mehrheit über den Kern plus der inneren Schale gewinnt.
Betrachten Sie die Ergebnisse der acht Wahlen in der Weimarer Republik, so finden Sie diese Darstellung in klassischer Form bestätigt. Wir fingen in der Nationalversammlung mit 22 radikalen Linken an und endeten im Juli 1932 mit 230 Nationalsozialisten und 89 Kommunisten, zusammen also 319 Abgeordneten; das heißt, die Mehrheit von 608 Abgeordneten.
Ein System von unabhängig voneinander manövrierenden Parteien in größerer Zahl zu nehmen, bewirkt aber, daß sich diese Parteien mehr oder weniger zu Interessentenvertretungs-Parteien entwickeln, aus dem einfachen Grunde nämlich, weil es so viele echt politische Konzeptionen gar nicht gibt und die Parteien daher auf die Vertretung bestimmter Standesinteressen ausweichen. Die Wähler aber lehnen in einem sehr richtigen politischen Instinkt solche Interessentenparteien auf die Dauer ab. Ich erinnere an den völligen Verfall der Deutschen Volkspartei und der Staatspartei, die sich im Laufe der Zeit ja stark der Interessen der Industrie bzw. des Handels annahmen und die in ihren besten Zeiten 65 bzw. 75 Sitze hatten, im November 1932 aber nur noch 11 bzw. 2 Sitze erhielten.
Ich erinnere aber auch daran - und dies, Herr Menzel, soll gewiß kein Liebesverben sein, sondern nur ein ganz bescheidener Hinweis -, daß auch die Sozialdemokratie von ursprünglich 38,7 % auf 20,4 % zurückging und im Laufe der Weimarer Periode 4,5 Millionen Wähler verlor.
({2})
Die Bilanz des Verhältniswahlrechts nach dreizehn. Jahren Weimarer Republik zeigt also einen vollständigen Verfall derjenigen Mittelparteien, die sich stark zu Interessentenvertretungsparteien entwickelt hatten, und ein durch zwei radikale Flügelparteien arbeitsunfähig gemachtes Parlament.
Und sehen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, darum geht es uns, wenn wir so leidenschaftliche Gegner des Verhältniswahlrechts sind: Das soll nicht noch einmal passieren.
({3})
Wenn ich gesagt habe, daß die Konzeption einer Regierung der Mitte falsch ist, so will ich damit keineswegs sagen, daß eine Politik der Mitte falsch ist und daß ein Zweiparteiensystem oder ein System zweier Parteigruppierungen eine Abkehr von einer Politik der Mitte und des Kompromisses ist. Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, daß die jeweils opponierende Gruppe jederzeit danach strebt und bereit sein muß, die Verantwortung zu übernehmen, verschiebt sich ihr politischer Kristallisationspunkt organisch zur Mitte. Dasselbe trifft für die Regierungsgruppe zu. Gleichzeitig werden die radikalen Elemente angezogen und im Rahmen der Politik der Regierungs- und Oppositionsgruppen neutralisiert. Aus der Zentrifugalkraft beim Verhältniswahlrecht ist eine Zentripetalkraft beim Mehrheitswahlrecht geworden.
Man sage auch nicht, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Kanzlerwahl und das konstruktive Mißtrauensvotum die gefährlichen Wirkungen des Verhältniswahlrechts aufzuheben vermögen. Die erfreuliche Stabilität unserer Regierung seit 1949 beruht auf den klaren Mehrheitsverhältnissen im Bundestag.
({4})
Wenn einmal solche Mehrheitsverhältnisse nicht vorhanden sind, werden die Bestimmungen, so fürchte ich, versagen, und es wird zu sehr schwierigen Beziehungen zwischen Bundestag und Bundesregierung kommen.
Der Regierungsentwurf ist ein Kompromiß zwischen dem Mehrheitswahlrecht und dem Verhältniswahlrecht. Er läßt beide Elemente selbständig nebeneinander bestehen. Das Entscheidende beim Regierungsentwurf ist, daß er politisch isolierte Parteien, das heißt radikale oder Interessentenvertretungsparteien, vor die Wahl stellt, entweder aus ihrer politischen Isolierung herauszugeben und sich mit anderen Parteien zusammenzutun, oder sich damit abzufinden, daß sie nur die Hälfte der Wähler bekommen, die sie erhalten würden, wenn nach dem alten Bundestagswahlrecht oder nach dem SPD-Entwurf gewählt würde.
({5})
- Darauf komme ich gleich. - Die Rechnung ist sehr einfach. Bei dem SPD-Entwurf würde z. B. eine radikale Partei, wenn sie 10 % Stimmen aufbringt, bei 484 Mandaten 48 bekommen. Bei dem Regierungsentwurf, bei dem ja nur 242 Mandate nach der Verhältniswahl verteilt werden, würde eine solche Partei, weil sie mit 10 % Stimmen ja kaum Aussicht hat, in der direkten Wahl ein Mandat zu erringen, nur 24 Mandate erhalten. Wenn aber diese Partei mit einer anderen, nicht radikalen zusammengeht - was letztere natürlich nur dann tut, wenn die andere auf ihren Radikalismus verzichtet -, bekommt sie durch den internen Proporz mehr oder weniger ihre 48 Mandate. Hierin liegt die von uns gewünschte integrierende Wirkung, die dahin geht, daß einerseits die einzelnen Parteien völlig selbständig bleiben, daß sie trotzdem aber gehalten werden, schon vor der Wahl zu zeigen, wo sie politisch stehen, anstatt ihre Wähler nach der Wahl mit einer Regierungskoalition zu überraschen, die ganz anders aussieht, als die Wähler sie sich gedacht haben.
Das Gesetz hat in der Öffentlichkeit eine vielfach abfällige Kritik gefunden. Die Kritik wendet sich gegen die Hilfsstimme. Dabei wird übersehen, daß die Hilfsstimme gar nichts anderes bezweckt, als den zweiten Wahlgang bei der absoluten Mehrheitswahl zu vermeiden.
({6})
Grundsätzlich sollen 242 Abgeordnete nach dem absoluten Mehrheitswahlprinzip gewählt werden; und hiergegen kann doch wohl niemand sagen, daß es eine einseitige Begünstigung der Koalition herbeiführe oder gar verfassungswidrig sei.
Ob man bei der Hilfsstimme bleibt oder zur absoluten Mehrheitswahl bei der Wahl der 242 im Wahlkreis zu wählenden Abgeordneten übergeht, ist eine Frage völlig sekundärer Bedeutung. Man wird in aller Ruhe überlegen müssen, was zweckmäßiger ist: die größeren Kosten und manche sonstigen Nachteile der zwei Wahlgänge in Kauf zu nehmen, oder mit dem Instrument der Hilfsstimme oder einer anderen Methode den zweiten Wahlgang zu vermeiden. Die Kritik wendet sich ferner gegen die vorgesehene Verbindung der Bundeslisten. Die Listenverbindung in der Art, wie sie beim Regie({7})
rungsentwurf vorgesehen ist, hat außer der bekannten Wirkung, die es beim Verhältniswahlrecht ja immer gegeben hat, die weitere Bedeutung, daß die Parteien, die ihre Listen miteinander verbinden, damit bekunden, daß sie die in den Wahlkreisen und auf den Listen gemeinsam errungenen Mandate zwischen sich so aufgeteilt wissen wollen, wie es dem Verhältnis der auf sie abgegebenen Stimmen entspricht.
({8})
Dabei wird genau das gleiche Verfahren angewandt, das Sie, meine Damen und Herren, bei dem bisherigen Wahlrecht für alle Parteien wünschten. Es verlieren oder gewinnen durch den Regierungsentwurf weder die Gruppen, die ihre Listen miteinander verbinden, in ihrer Gesamtheit noch irgendeine andere Partei Mandate. Auch geht kein im Wahlkreis erworbenes Mandat verloren. Danach ist nicht einzusehen, was gegen eine solche Listenverbindung, die eine rein interne Angelegenheit der sich verbindenden Parteien ist,
({9})
einzuwenden sein soll.
Zu der weiteren Behauptung, das Gesetz sichere die Koalition und sei verfassungswidrig, möchte ich folgendes sagen. Das erste ist eine glatte Unwahrheit! Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wissen ganz genau, daß dieses Wahlrecht nichts anderes bezweckt und bezwecken kann, als der stärkeren Gruppe die Mehrheit im Bundestag zu geben. Die Chancen sind für beide gleich.
({10})
Wenn Sie mit Ihren Freunden mehr Stimmen aufbringen als wir mit unseren Freunden, haben Sie gewonnen; wenn es umgekehrt ist, was wir allerdings zuversichtlich erwarten, haben wir gewonnen!
({11})
Im übrigen: warum sind Sie denn eigentlich so kleinmütig, da man doch sonst immer von Ihnen hört, daß Sie mit einem großen Stimmenzuwachs rechnen?
({12})
Unterstellen Sie doch bitte einmal den von Ihnen erhofften oder zumindest in der Öffentlichkeit immer behaupteten Stimmenzuwachs und berechnen Sie, welches Ergebnis der Regierungsentwurf dann zeitigt! Sie werden Ihre helle Freude an diesem Gesetz haben - es sei denn, daß Sie an diesen Stimmenzuwachs nicht recht glauben!
({13})
Zu dem zweiten Argument, dem Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, möchte ich mich auf die Feststellung beschränken, daß wir ebenso wie das Innenministerium einer Verfassungsklage mit größter Ruhe entgegensehen.
({14})
Sie wissen ja auch selbst, daß diese Klage abgewiesen wird.
Ich möchte hier aber einmal etwas Grundsätzliches sagen. Ich glaube nämlich, wir würden zu einer sehr guten Übung kommen, wenn man die
politischen Diskussionen über irgendwelche Gesetzesvorlagen nicht dadurch auf eine außerhalb dieses Hohen Hauses liegende Ebene brächte, indem man, wenn einem ein Gesetz nicht paßt, kurzerhand behauptet, es sei verfassungswidrig.
({15})
Damit wird beim deutschen Volk ein dem Ansehen der Demokratie durchaus unzuträglicher Eindruck erweckt.
({16})
Ich glaube auch nicht, daß man unserer gemeinsamen Sache, dem Aufbau der Demokratie, dient, wenn man einen Regierungsentwurf kritisiert mit Worten wie „unanständig", „schamlos", „illegal", „kalter Staatsstreich" und „Anschlag auf die demokratischen Grundlagen des Staates".
({17})
Solche Worte, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, veranlassen mich doch, Ihre Einstellung zum Problem des Wahlrechts einmal ein wenig unter die Lupe zu nehmen.
({18})
Dabei fällt zunächst auf, daß Herr Menzel in seiner angeblichen Begründung des SPD-Entwurfs mit keinem Wort begründet hat, warum denn die SPD dieses Verhältniswahlrecht eigentlich wünscht. Obwohl die Auseinandersetzungen über Mehrheitswahl und Verhältniswahl in der deutschen Öffentlichkeit seit Jahren geführt werden, obwohl viele Anhänger des Mehrheitswahlrechts - so wie ich es hier getan habe - die Weimarer Katastrophe und damit das ganze Elend der 13 Hitlerjahre vorwiegend dem falschen Verhältniswahlrecht zur Last schreiben,
({19})
geht Herr Menzel hierauf mit keinem Sterbenswörtchen ein. Das ist auch gar kein Wunder; denn die Sozialdemokratie hat zu der Wahlrechtsfrage keinen anderen Standpunkt als den, den sie uns fälschlich vorwirft. Für die Sozialdemokratie ist das Wahlrecht nämlich nur ein Mittel, um an die Macht zu kommen.
({20})
- Bitte, in Hamburg, Hessen und Bremen sprach sie sich bei Verabschiedung der letzten Wahlgesetze gegen das Verhältniswahlrecht und für ein mehrheitbildendes System, also im Prinzip für die gleiche Kompromißlösung aus, wie sie der Regierungsentwurf vorsieht.
({21})
In allen anderen Ländern und im Bund setzte sie sich jedoch für das Verhältniswahlrecht ein.
Diese überraschend widerspruchsvolle Haltung, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, erklärt sich sehr einfach aus der Wählerzahl. Alle drei Länder haben nämlich im Gegensatz zu den anderen Ländern zweierlei gemeinsam. Erstens ist die Sozialdemokratie die stärkste Partei, und zweitens besteht rechts von ihr eine ziemlich gleichmäßige Stimmenverteilung zwischen CDU und FDP, wozu in Hamburg und Bremen noch die
({22})
DP kommt; mit anderen Worten, ein hohes Maß
von Desintegration. Ihr Verhalten, meine Damen
und Herren von der Sozialdemokratie, ist eindeutig.
Eine Zersplitterung rechts von Ihnen gibt Ihnen
bei Anwendung des mehrheitbildenden Wahlrechts die Chance, allein zu regieren, und Sie haben
es ja dort, wo Sie dieses Wahlrecht durchgesetzt
haben, in Hamburg und in Hessen, auch geschafft.
({23})
- Darauf komme ich gleich! - Dort aber, wo die Zersplitterung bisher nicht eingetreten ist, wie in allen anderen Ländern, muß sie herbeigeführt werden. Dazu ist eben das Verhältniswahlrecht geeignet,
({24})
das Ihnen die Möglichkeit verschafft, alles, was rechts von Ihnen ist, durcheinanderzubringen. und unter dem Motto „divide et impera" auch dann an die Macht zu kommen, wenn Sie nicht die Mehrheit hinter sich haben.
({25})
Die Haltung der CDU hingegen ist völlig konsequent, Herr Erler. Ich sagte schon, daß wir im Parlamentarischen Rat für das Mehrheitswahlrecht eingetreten sind und gegen das Verhältniswahlrecht gestimmt haben. Ebenso konsequent waren wir in Hamburg, wo ich die Verhältnisse ja nun aus eigenem Augenschein kenne und wo in den Jahren 1946 und 1949 gewählt wurde. In beiden Fällen hat die Sozialdemokratie etwas über 40 % der Stimmen bekommen. Dabei erhielt sie, weil die Parteien rechts von ihr getrennt in die Wahl gegangen waren, im Jahre 1946 75 % der Mandate.
({26})
Trotz dieses Ergebnisses hat die CDU in Hamburg einmütig beschlossen, bei diesem Wahlrecht zu bleiben.
Im Jahre 1949 wurde dann wieder gewählt. Die Integrationswirkung war inzwischen eingetreten, indem CDU und FDP zusammengingen. Neu trat aber damals die DP in Erscheinung, mit der ein Zusammengehen nicht ermöglicht wurde. Der Erfolg war, daß die SPD mit ungefähr der gleichen Stimmenzahl von etwa 43 % 54 % der Mandate errang. Auch jetzt blieb die CDU bei diesem Wahlrecht, weil sie seine staatspolitische Richtigkeit bejahte. So kam es denn dazu, daß dieses Wahlrecht vor kurzem aufs neue in Hamburg Gesetzeskraft erhielt.
Warum, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, finden Sie es denn eigentlich in Hamburg nicht „unanständig", „schamlos" und „wahlbetrügerisch", mit 43 % der Stimmen 75 bzw. 54 % der Mandate zu bekommen?
({27})
Warum ist es denn in Hessen kein „kalter Staatsstreich" und kein „Anschlag auf die Demokratie",
({28})
wenn Sie bei 44 % der Stimmen 59 % der Mandate bekommen?
Unsere Haltung, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, gibt uns nun aber auch das Recht, für ein grundsätzlich gleiches Wahlrecht im Bundestag einzutreten! Ihre zwiespältige, lediglich
auf parteiegoistischen Motiven beruhende Haltung aber
({29})
nimmt Ihnen das Recht, die deutsche Öffentlichkeit in einer Frage, in der es um Sein oder Nichtsein der deutschen Demokratie geht, mit Worten zu verwirren und zu vergiften, wie Sie es getan haben!
({30})
Es ist nicht uninteressant, zu hören
({31})
- vielleicht hören Sie mir mal zu, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, es kommt etwas für Sie Interessantes -, welche Argumente die sozialdemokratischen Sprecher bei der Verabschiedung der Wahlgesetze in der Bürgerschaft Hamburg und im Landtag Hessen vorgebracht haben. Hier habe ich eine ganze Anzahl solcher Äußerungen. Ich möchte mich aber darauf beschränken, nur eine Äußerung, die der Hamburger SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Richter in der Sitzung der Hamburger Bürgerschaft am 27. Juli getan hat, mit Genehmigung des Herrn Präsidenten vorzulesen:
Das Verhältniswahlrecht
- hat Richter gesagt hat neben seinen großen Vorzügen auch erhebliche Schwächen, insbesondere auch dadurch, daß es verhältnismäßig kleinen Parteien und Interessentengruppen eine Vertretung im Parlament ermöglicht. Wir
- die Sozialdemokratie sind der Meinung, daß das Mehrheitswahlrecht die Möglichkeit bietet, das Gewicht jeder einzelnen Stimme des Wählers wieder stärker zur Geltung zu bringen, daß es die persönliche Verantwortung des Abgeordneten steigert und vor allem eine bessere Chance bietet, tragfähige Mehrheiten im Parlament zu bilden. ({32})
So die Äußerung von Herrn Richter. Ich könnte Ihnen auch noch viele derartige Äußerungen vorlesen.
({33})
Diese Äußerungen fielen immer, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, wenn es darum ging, mit Hilfe eines mehrheitsbildenden. Wahlrechts an die Macht zu kommen.
Ich glaube aber, ich kann mich hier darauf beschränken, nur noch eine Äußerung wiederzugeben, die Herr Bürgermeister Brauer als Senatskommissar bei der Einbringung des Wahlgesetzes in der Bürgerschaftssitzung vom 26. November 1952, also vor kurzem, getan hat und die in einem so bemerkenswerten Gegensatz zu seinen Worten „kalter Staatsstreich" und „Wechselbalg" und „Werft das Scheusal in die Wolfsschlucht!" steht.
({34})
Herr Brauer hat nämlich zur Begründung des Hamburger Wahlrechtsentwurfs - der, wie ich sagte, dem Regierungsentwurf grundsätzlich gleicht - folgendes gesagt - Sie finden diese Worte im amtlichen Protokoll der 20. Sitzung vom 26. November -:
({35})
Ein Wahlrecht
- hat Herr Brauer gesagt wie das Hamburger kann von sich sagen bzw. man kann von ihm sagen: es ist ein demokratisches Wahlrecht.
({36}) Das, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, sagte der Herr Brauer - um Ihre Worte zu gebrauchen - von dem „SPD-Sicherungsgesetz, das Ihner mit 42 % Stimmen 75 % und nachher 54 % der Mandate ermöglicht hat.
({37})
Zum Abschluß noch unser Antrag, der dahin geht, die drei vorliegenden Gesetzentwürfe einem neu zu bildenden 27er-Sonderausschuß für Wahlrecht zu überweisen. Wir sind mit unseren Koalitionspartnern, für die ich diesen Antrag ebenfalls stellen darf, der Meinung, daß dieses Gesetz von den Wahlrechtsspezialisten der Parteien bearbeitet werden muß und daß diese Spezialisten in einem neuen Sonderausschuß, der so groß ist, daß auch alle Fraktionen daran teilnehmen können, zusammengefaßt werden sollten.
({38})
Das Wort hat der Abgeordnete Mellies.
({0})
Meine Damen und Herren! Wenn man in der ersten Lesung zu dem Regierungsentwurf Stellung nehmen will, muß man wohl zunächst an den Herrn Bundesinnenminister die Frage richten: Wie sieht denn nun dieser Regierungsentwurf eigentlich aus? Der Herr Innenminister hat den gedruckt vorliegenden Entwurf in der letzten Sitzung des Bundestags begründet, aber wenige Tage später konnte man bereits durch die Presse erfahren, daß die Bundesregierung gewillt sei, eine wichtige Änderung vorzunehmen.
({0})
Man wolle auf die zweite Stimme Verzicht leisten und wolle unter Umständen die Stichwahl, vielleicht sogar eine Stichwahl zwischen drei Kandidaten durchführen. Das bedeutet aber doch eine so wesentliche Änderung des Entwurfs, Herr Innenminister,
({1})
daß dann die Bundesregierung hätte auch den Mut
aufbringen sollen, diesen Entwurf zurückzuziehen
({2})
und dem Hause den Entwurf vorzulegen, der nun die letzte Meinung der Bundesregierung, vielleicht noch nicht die allerletzte, vertritt.
({3})
- Ach, Herr Wuermeling, es geht hier gar nicht um den Fortschritt, sondern es geht um ganz andere Dinge. Ich werde Ihnen das gleich sagen. - Aber vielleicht hat man auf die Zurückziehung dieses Entwurfes - und so etwas klang auch in der Presse an - mit Rücksicht auf das Prestige des Herrn Bundesinnenministers verzichtet, und wahrscheinlich, weil er dagegen Einspruch erhoben hat. Herr Bundesinnenminister, hier rächt sich die Tatsache, daß Sie es versäumt haben, im richtigen Augenblick den Entwurf zurückzuziehen oder ihn
mindestens verändert an den Bundestag zu bringen. Nachdem der Entwurf im Bundesrat eine einmütige Ablehnung erfahren hatte, hätte Sie einmal sehr ernsthaft überlegen sollen, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, jetzt einen anderen Entwurf seitens der Bundesregierung vorzulegen. Hier komme ich auf den Einwurf von Herrn Wuermeling: es führt doch einfach zu unhaltbaren Zuständen in der Gesetzgebung, wenn die Bundesregierung mit Rücksicht auf das Prestige einzelner Bundesminister Gesetzentwürfe zur ersten Lesung ins Parlament bringt, zu deren wesentlichen Punkten sie selber nicht mehr steht. Das muß einmal zu einer großen Verwirrung führen, das ist aber auch bestimmt dem Ansehen des Parlaments und der Bundesregierung nicht förderlich.
Wenn man zu dem Entwurf und zu der ganzen Frage des Wahlrechts Stellung nimmt, kann man doch an der gegenwärtigen politischen Situation nicht vorbeigehen. Wahlrechtsfragen, das wissen wir alle, sind immer sehr umstritten gewesen. Es ist unmöglich, ein Gesetz, das eine völlige Neuordnung des bisherigen Wahlrechts bedeutet, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode zu verabschieden.
({4})
Ich glaube, dieser Punkt sollte bei allen Parteien etwas mehr Berücksichtigung finden, als es bisher der Fall gewesen ist. Mein Fraktionskollege Dr. Menzel hat bei der Begründung unseres Entwurfs schon betont, daß wir es für notwendig halten, zu Beginn der Legislaturperiode des neuen Bundestags über ein Wahlgesetz ausführlich zu beraten, und daß wir Wert darauf legen, ein solches Wahlgesetz dann mit einer breiten Mehrheit im Parlament zu verabschieden. Nur so wird man ein Wahlrecht schaffen, das auch die innerpolitischen Spannungen beseitigt. Aber so wie jetzt verfahren wird, kann doch der fatale Eindruck nicht vermieden werden, daß die Bundesregierung versucht, im letzten Augenblick ein Wahlgesetz durchzubringen, das ihr wieder die Mehrheit sichert. Sie werden mir hoffentlich diese Tendenz des Gesetzentwurfs nicht abstreiten wollen, trotz der Ausführungen, die Herr Scharnberg soeben dazu gemacht hat. Denn wozu hat denn schließlich der Bundeskanzler und mit ihm auch der Bundesinnenminister seit Monaten Kräfte in den Ministerien angesetzt, um immer neue Berechnungen durchzuführen und immer neue Vorschläge für einen solchen Gesetzentwurf zu machen, der dieser Koalition wieder eine Mehrheit sichern soll! Wenn Herr Scharnberg vorhin darauf hingewiesen hat, daß hier dieselbe Chance für alle bestehe, dann will ich das Wort von der Unwahrheit, das er heute morgen hier wiederholt gebraucht hat, in diesem Zusammenhang nicht wiederholen. Aber, Herr Scharnberg, es ist doch mindestens objektiv unehrlich, wenn Sie angesichts der vorhandenen Situation hier eine solche Behauptung aufstellen.
({5})
Es handelt sich doch jetzt nicht um die sachlichen Auseinandersetzungen über die Schaffung eines guten demokratischen Wahlrechts; es handelt sich einzig und allein um den Versuch der Bundesregierung, im neuen Bundestag wieder eine Mehrheit zu bekommen.
({6})
({7})
- Herr Euler, Ihre Zensuren sollten Sie mal in
Ihrer eigenen Partei anbringen; da haben Sie genug
dummes Zeug in der letzten Zeit erfahren können.
({8})
Wir wissen, daß der Bundeskanzler bei der Durchsetzung seiner Pläne und Vorstellungen nicht gerade sehr rücksichtsvoll ist. Seine ersten Wünsche gingen deshalb auch dahin, ein Wahlrecht zu bekommen - und das sollten Sie sich, Herr Euler, mindestens auch einmal ein wenig überlegen -, das möglichst seiner Partei, nämlich der CDU, ein großes Übergewicht sichert. Aber für eine solche Regelung hätte er schon gar keine Mehrheit bekommen. Er wird es deshalb sicher sehr begrüßt haben, daß der im Parlament so schweigsame Minister für die Angelegenheiten des Bundesrats bei seiner geistigen Rundreise durch die Welt nun in Australien ein Vorbild gefunden hat, das man hier in der Bundesrepublik einführen könnte.
({9})
Meine Damen und Herren, soviel Mühe Sie sich auch geben werden und soviel Sie auch darüber reden werden, niemand in der Bevölkerung draußen nimmt Ihnen doch ab, daß Sie hier nicht ein Gesetz zugunsten dieser Bundesregierung durchbringen wollen.
({10})
Aber wohin kommen wir denn mit der Demokratie - und das ist eben das Auschlaggebende bei der Diskussion im gegenwärtigen Zeitpunkt -, wenn jede Mehrheit dieses Bundestages am Schluß der Legislaturperiode den Versuch machen würde, ein Wahlgesetz zu verabschieden, das ihr wieder die Mehrheit bringt? Denn das, was Sie in diesem Falle für sich in Anspruch nehmen, würden Sie ja auch einer anderen Mehrheit des Parlaments am Schluß einer Legislaturperiode nicht verweigern können. Wenn aber die Wähler den Eindruck gewinnen, daß ihre Stimmabgabe nur dazu dienen soll, den machtpolitischen Ansprüchen bestimmter Gruppen zu dienen, dann wird es mit der Demokratie bald zu Ende sein.
({11})
Wenn Sie einen Weg suchen wollten, um das Ansehen der parlamentarischen Demokratie zu untergraben, - Sie konnten keinen besseren Weg gehen, als in diesem Augenblick den vorliegenden Gesetzentwurf einzubringen!
({12})
Meine Damen und Herren! Über die Haltung des Parlamentarischen Rates ist heute morgen auch noch gesprochen worden, und der Bundesinnenminister hat darauf hingewiesen, daß dieser bewußt darauf verzichtet habe, das erste Wahlgesetz auch für die kommenden Wahlen maßgebend sein zu lassen. Er hat dargelegt, daß der Parlamentarische Rat diese Haltung in der Erkenntnis eingenommen habe, daß alles in der Entwicklung begriffen sei. Ich will auf die Vorwürfe, die Herr Scharnberg gegen meinen Fraktionskollegen Menzel vorgebracht hat, im einzelnen nicht eingehen; das wird er wahrscheinlich selber noch tun. Aber, Herr Scharnberg, wenn Sie sich die Ausführungen von Herrn Menzel richtig angesehen hätten, dann hätten Sie diese Vorwürfe überhaupt nicht erhoben. Sie hätten zum mindesten das Wort von der Unwahrheit nicht gebraucht. Sie hätten dann, wenn Sie sich seine Rede genau angesehen hätten, festgestellt, daß Herr Menzel hier nicht vom Parlamentarischen Rat gesprochen hat, sondern von den Ministerpräsidenten, die auch Ihrer Partei angehören und die diesem Gesetz zugestimmt haben.
({13})
- Sehen Sie sich die Rede einmal an, Herr Schröder; dann werden Sie das bestätigt finden.
({14})
- Nein, gar nicht so, sondern wenn man hier solche Vorwürfe erhebt und von Unwahrheit spricht, dann sollte man sich zum mindesten das, was gesagt ist, einmal genau ansehen. Ich glaube, darauf würden auch Sie, Herr Schröder, Wert legen.
Meine Damen und Herren, ich habe dem Parlamentarischen Rat nicht angehört. Aber der Herr Innenminister muß ja wissen, welche Gründe damals maßgebend gewesen sind. Ich möchte jedoch immerhin auch zugunsten des Parlamentarischen Rats noch annehmen, daß man einem kommenden Bundestag, der direkt vom Volke gewählt worden ist, die Verabschiedung eines Wahlgesetzes überlassen wollte. Wenn das richtig ist - und ich sehe, daß Sie, Herr Becker, mir zustimmen -, dann wäre es doch Pflicht dieser Bundesregierung, die von Ihrem Vertrauen getragen wird, gewesen, zeitig genug den Entwurf eines solchen Wahlgesetzes vorzulegen.
({15})
Sie hat das nicht getan. Wir wissen, was der Grund dafür ist. Sie hat aus den inneren Schwierigkeiten heraus, die in der Koalition selbst bestehen, diesen Entwurf erst im letzten Augenblick vorlegen können. Auch diesen klaren Tatbestand sollten Sie doch in der Auseinandersetzung nicht verwischen.
Meine Damen und Herren! Wenn aber eine Regierung im Parlament eine Mehrheit gefunden und mit dieser Mehrheit vier Jahre regiert hat, ohne im Laufe der Legislaturperiode ein neues Wahlgesetz vorzulegen, dann sollte sie auch den Mut aufbringen, sich unter dem früheren Wahlrecht, unter dem diese Mehrheit gewählt worden ist, dem Urteil des Volkes zu stellen.
({16})
Sie sollte das um so mehr, als der Bundeskanzler vor einigen Monaten von dieser Stelle aus erklärt hat, daß er den Wahlen zuversichtlich entgegensehe.
({17})
Nun, wenn das stimmt, dann möge man diese Zuversicht auch beweisen und sie nicht durch ein Wahlrecht untermauern, das die Grundlage der Demokratie in der Bundesrepublik weitgehend zerstören wird.
({18})
- Meine Damen und Herren, ja, es scheint mir auch so, als ob Sie sehr wesentlich dazu beigetragen haben, diese Grundlagen jetzt schon zu zerstören, wenn ich mir nur einmal das Verhältnis ansehe, das zwischen der Bundesregierung und dem Parlament hier in diesem Hause besteht.
({19})
Der Herr Bundesinnenminister hat bei seiner Begründung ausgeführt, der Proporz der Weimarer Republik habe uns sogar den Verlust der Mitte gebracht, an dem dieser Staat zugrunde gegangen
({20})
sei. Und Herr Scharnberg hat sich ja sehr viel Mühe gegeben, auch immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Weimarer Staat an dem Verhältniswahlrecht zugrunde gegangen sei. Diese Worte des Herrn Bundesministers, aus dem Munde eines Mannes, der in der Weimarer Zeit selbst einiges getan hat, um diese Mitte zu zerstören, sind immerhin bemerkenswert.
({21})
Herr Minister, Sie irren, und auch Herrn Scharnberg, Sie irren, wenn Sie glauben, daß die Grundlagen der Weimarer Republik durch das Verhältniswahlsystem zerstört worden seien.
({22}) Die Grundlagen der Weimarer Republik sind zerstört worden, weil es von Anbeginn an eine Partei in dieser Weimarer Republik gab, die kein Mittel scheute, um die Demokratie herabzusetzen und verächtlich zu machen; diese Partei war die Deutschnationale Partei.
({23})
Vielleicht prüfen und überlegen auch einige aus Ihren Reihen einmal, wieviel Schuld sie selbst aus dieser Zeit noch mit sich herumtragen.
({24})
Wenn Herr Scharnberg darauf hingewiesen hat, daß man damals, 1933, keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, so muß ich fragen - ich hätte die Frage heute morgen nicht angeschnitten; aber nach den Ausführungen von Herrn Scharnberg bin ich dazu gezwungen -: Woran hat es denn gelegen, daß die noch vorhandenen rechtsstaatlichen Elemente in der Weimarer Republik dem Hitler-Regime keinen Widerstand leisten konnten? Doch an der Tatsache, daß man am 23. März 1933 einmütig von allen Parteien rechts von der Sozialdemokratie dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat!
({25})
Herr Innenminister, Ihre Partei hat sich in der Weimarer Zeit nicht gescheut, mit den ausgesprochenen Feinden der Demokratie, den Nationalsozialisten, gemeinsame Sache zu machen.
({26})
Denken Sie nur einmal an die Harzburger Front und den gemeinsamen Weg, den Sie gegangen sind bis zum bitteren Ende Ihrer Partei, bis Ihre Partei selber dabei unter die Räder kam!
({27})
Was veranlaßte denn diese Deutschnationale Partei unter der Führung von Herrn Hugenberg damals, diesen Weg zu gehen? Meine Damen und Herren - und das ist maßgebend für den Untergang der Weimarer Demokratie -, diese Agitation der Deutschnationalen gegen die Republik war doch getragen von dem Haß gegen jede Demokratie. von dem Haß gegen das gleiche Wahlrecht.
von dem Haß gegen die Bestimmung des Volkes über sein eigenes Schicksal und vor allen Dingen von dem nicht zu überbietenden Haß gegen die Sozialdemokratie.
({28})
Herr Minister, seien Sie überzeugt, mit diesem Wahlgesetz gehen Sie einen ähnlich verhängnisvollen Weg. In dem Augenblick, in dem Sie versuchen, die jetzige Mehrheit durch das Wahlgesetz auch für die nächsten vier Jahre zu sichern, zerstören Sie weitgehend die Grundlagen der Demokratie in der Bundesrepublik. Das kann keine demokratische Partei ruhig hinnehmen. Ich sage das mit allem Nachdruck, ich sage das auch mit dem Hinweis auf die Folgen, die durch die Annahme eines solchen Gesetzes eintreten müßten.
({29})
Dafür tragen Sie, Herr Minister, und dafür trägt die Bundesregierung dann die volle Verantwortung.
({30})
Vielleicht, Herr Minister, können Sie dann zum zweiten Mal in Ihrem Leben das Bewußtsein haben, daß Sie zur Zerstörung einer Demokratie wesentlich beigetragen haben.
({31})
Der Kollege Schröder hat vor einigen Tagen von dieser Stelle aus in einer anderen Angelegenheit das Wort gebraucht: „um des innerpolitischen Friedens willen".
({32})
- „Um des inneren Friedens willen", schön. Wenn es Ihnen ernst ist mit einem solchen Wort, dann kann dieser Gesetzentwurf nicht Gesetz werden, weil er den innerpolitischen Frieden zerstören muß.
Meine Damen und Herren, das in einem Augenblick, in dem täglich Tausende den Weg aus der Diktatur und der Unterdrückung in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik suchen!
({33})
Sollen sie denn, wenn sie hier angekommen sind, etwa zu der Feststellung kommen, daß um des Machtbedürfnisses dieser Regierung willen auch hier die demokratische Ordnung zerstört wird?
({34})
- Nun, ich habe gerade zu Ihnen, Herr Schütz, und zum Vertriebenengesetz nachher noch ein paar Worte zu sagen. Vielleicht sparen Sie sich Ihre Erregung bis dahin auf.
({35})
Herr Kollege Dr. Ehlers, der ja gleichzeitig das hohe Amt des Präsidenten dieses Hauses bekleidet, hat zu den Wahlrechtsfragen vor einiger Zeit ebenfalls Stellung genommen. Er hat nachher - es war wohl in der vorigen Woche - dargelegt, daß seine Äußerungen in der Presse nicht richtig wiedergegeben worden seien.
({36})
Ich will mich damit im einzelnen nicht auseinandersetzen. Ich bin aber der Auffassung, daß auch nach dieser Berichtigung der erste Teil mit dem dritten Teil nicht ganz in Einklang zu bringen ist. In dem dritten Teil hat Herr Kollege Ehlers darauf hingewiesen, er habe so nebenbei hingeworfen, man könne von der Mehrheit nicht verlangen - ich habe den Wortlaut im Augenblick nicht vorliegen, aber so ungefähr war es wohl -, daß hier ein Wahlgesetz verabschiedet werde, das der Opposition einen Vorteil brächte.
({37})
({38})
Nun, meine Damen und Herren, auch wenn diese Bemerkung nur so hingeworfen war, muß doch einmal mit allem Nachdruck festgestellt werden, daß es sich bei dem Wahlgesetz gar nicht darum handelt, ob die Mehrheit oder die Minderheit, ob die Regierungsparteien oder die Opposition eine Chance haben sollen,
({39}) sondern ausschlaggebend kann doch einzig und allein sein, daß der Wille des Wählers zur Geltung kommt.
({40})
- Hoffentlich erinnern Sie sich daran, Herr Wuermeling, wenn es nachher um die Auseinandersetzungen über das Gesetz geht.
({41})
Die Auseinandersetzung über das Vertriebenengesetz in diesem Hause hat doch bewiesen, wo die Fronten im deutschen Volk wirklich liegen. Hoffentlich sind bei Ihnen - und gerade bei Ihnen, Herr Schütz - einige Nachgedanken über die Tatsache gekommen, daß das Vertriebenengesetz in der zweiten Lesung nur dadurch in einer halbwegs annehmbaren Form zustande kommen konnte, weil die sozialdemokratische Fraktion mit den Vertriebenen-Abgeordneten aus den anderen Fraktionen dafür sorgte, daß nicht bitterste Enttäuschung bei den Vertriebenen aufkam. Dadurch, daß die sozialdemokratische Fraktion sich so für das Vertriebenengesetz eingesetzt hat, obwohl es ihrer Vorstellung nicht ganz entspricht, hat sie für den inneren Frieden wirklich etwas getan, während Ihr Gesetzentwurf über das Wahlrecht nur der Zerstörung des inneren Friedens dient.
({42})
- Nun, über das Thema wollen wir beide uns lieber nicht unterhalten, Herr Wuermeling! Es gibt nämlich in diesem Hause niemanden, der es in einer Volksverhetzung weiter gebracht hätte, als Sie das getan haben!
({43})
Deshalb bin ich auf die Situation beim Vertriebenengesetz eingegangen. Sie möchten von der Mehrheit eine solche Situation in diesem Hause nicht wieder haben. Sie möchten deshalb, daß der Einfluß der Sozialdemokratischen Partei auf ein Mindestmaß heruntergedrückt wird. Wenn es möglich ist, möchten Sie durch dieses Wahlgesetz sogar eine Zweidrittelmehrheit erreichen, um damit die restaurativen Tendenzen der Bundesregierung auch im Grundgesetz verankern zu können.
({44})
Sie möchten auf diese Weise ein fortschrittliches Betriebsverfassungsgesetz und ein echtes Mitbestimmungsrecht verhindern. Sie möchten eine Sozialpolitik nach der Dehlerschen Vorstellung durchführen, und Sie möchten mit den Gewerkschaften im Sinne des Bundesministers der Justiz verfahren. Sie möchten endlich für Ihre Kleineuropapolitik immer eine feste und ausreichende Mehrheit haben. Das ist das Ziel, das Ihnen letzten Endes vorschwebt und das Sie mit diesem Wahlgesetz erreichen möchten.
({45})
An anderer Stelle habe ich schon einmal darauf hingewiesen, daß dieser Gesetzentwurf aus diesen Gründen in Wirklichkeit ein Gesetzentwurf gegen alle Schaffenden und gegen die Vertriebenen sein wird.
({46})
In dem Zusammenhang muß ich auch noch einmal daran erinnern, daß dieser Gesetzentwurf von der Bundesregierung ausgerechnet in dem Jahre eingebracht worden ist, in dem sich zum 75. Mal der Tag jährt, an dem Bismarck das Sozialistengesetz erließ. Damals, Herr Bundesinnenminister, hat Bismarck bekanntlich versucht, die Sozialdemokratische Partei zu vernichten. Heute hegen Sie wahrscheinlich den kühnen Gedanken, durch dieses Gesetz den Einfluß der Sozialdemokratischen Partei im Parlament auf ein Mindestmaß herabzudrücken.
({47})
Und so soll dann dem „Meister" Lehr das gelingen, was dem „Stümper" Bismarck vor 75 Jahren nicht gelungen ist.
({48})
Meine Damen und Herren! Angesichts der Tatsache - ich möchte das noch einmal mit allem Nachdruck sagen -, daß wir wenige Monate vor der Neuwahl dieses Bundestages stehen, gibt es nur eine Lösungsmöglichkeit: Die Neuwahl des Bundestages muß nach demselben Wahlrecht vorgenommen werden, das bei der Wahl dieses Bundestages in Kraft war. Für jede andere Lösungsmöglichkeit ist die Frist zu kurz bemessen, und die Schuld daran - das möchte ich auch noch einmal ausdrücklich feststellen - trägt die Bundesregierung, weil sie erst wenige Monate vor der Neuwahl mit diesem Entwurf ins Parlament gekommen ist.
({49})
Dieser Gesetzentwurf aber ist für die gesamte innerpolitische Entwicklung so entscheidend und so verhängnisvoll, daß unseres Erachtens über ihn nicht weiter beraten werden darf. Wir werden deshalb gegen die Überweisung an den Ausschuß stimmen, und wir hoffen, daß wir damit in diesem Hause eine Mehrheit finden. Wenn der Bundestag in dieser Weise zu erkennen gibt, daß er nicht gewillt ist, die innerpolitische Entwicklung schwersten Gefahren auszusetzen, dann ist das getan, was um des inneren Friedens willen geschehen muß.
({50})
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war zu erwarten, daß Herr Abgeordneter M e 11i es als erster Sprecher seiner Fraktion sein bewährtes System beibehalten würde, die Schwäche seiner Argumente durch persönliche Anwürfe auszugleichen.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen, daß das Kabinett und ich selbst nicht einen Moment daran gedacht haben, irgendein Prestige vor Ihnen zu vertreten.
({1})
({2})
Das war um so weniger nötig, als ich bei Einbringung dieses Gesetzes am 5. März vor Ihnen gesagt habe, daß ich zwar diese Vorlage pflichtgemäß vertrete, daß aber meine persönliche Auffassung von Anfang an bis zum heutigen Tag die gewesen ist, daß das absolute Mehrheitswahlrecht mit Stichentscheid dem eingebrachten Entwurf vorzuziehen ist. Es gibt Pflichten, denen man zu gehorchen hat, wenn man einem demokratischen Kabinett angehört. Man hat eine Vorlage zu vertreten, bei der in einzelnen Punkten der Minister ruhig anderer Meinung sein kann; aber er hat das zu tun, was seines Amtes ist, und hat dabei seine persönliche Meinung in anständiger Form zu vertreten. Und das habe ich vor Ihnen getan.
({3})
Noch eins. Herr Mellies, Sie kramen immer in der alten Mottenkiste und glauben, mich in allen Punkten mit der Politik der Deutschnationalen Partei identifizieren zu können. Ich bin Zeit meines Lebens bis zur Stunde geradlinig ein gemäßigt konservativer Mann gewesen. Auch in der Weimarer Zeit bin ich das gewesen, und die sozialdemokratischen Minister Severing und Grzesinski, unter denen ich Oberbürgermeister einer Großstadt war, haben nie Anlaß gehabt, meine politische Haltung irgendwie anzugreifen oder zu tadeln.
({4})
Meine persönliche Unabhängigkeit gegenüber den Deutschnationalen ging so weit, daß ich persönlich es ablehnte, der Harzburger Front beizutreten, da ich diesen Schritt für grundfalsch hielt; und deshalb zog ich mir ein Disziplinarverfahren der eigenen Partei zu. Also das einmal zur Steuer der Wahrheit.
({5})
Herr Mellies, es ist Ihnen bereits das Wahlrecht in Hessen und Hamburg vorgehalten worden, aber wenn Sie nun durch Ihre Überlegungen herausknobeln, daß bei Ihrer Vereinzelung, bei Ihrer oppositionellen Haltung das einzig Ihnen günstige System das Verhältniswahlrecht wäre, und wenn Sie das mit allem Nachdruck als das einzig Rechte verteidigen, dann sage ich Ihnen: in Ihren Augen, Herr Mellies, ist Wahlrechtsdemokratie das, was der SPD nutzt.
({6})
Das Wort hat der
geordnete Dr. Ehlers.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Mellies hat die
Liebenswürdigkeit gehabt, in seiner heutigen Rede
und in der nichtgehaltenen Rede, die am 6. März 1953 im „Neuen Vorwärts" veröffentlicht wurde, mich zu zitieren. Ich möchte dazu einiges sagen.
Das alles geht zurück auf eine Pressekonferenz, die ich in Stuttgart gehalten habe und die Herr Abgeordneter Mellies nach Zeitungsberichten wiedergibt. Leider hat er selbst diese Zeitungsberichte nicht richtig zitiert,
({0})
auch nicht den Bericht, der in der ihm nicht ganz
fernstehenden „Neuen Ruhrzeitung" erschienen ist.
Ich habe mich bei dieser Pressekonferenz, als ich nach dem Wahlrecht gefragt wurde, zunächst bemüht, die Einwendungen der Herren von der Presse aller politischen Parteien gegen den Regierungsentwurf kennenzulernen. Ich muß sagen, daß das, was mir dort entgegengehalten worden ist, genau so - sagen wir - inhaltlos war wie das, was ich an Einwendungen bei der Rede des Herrn Kollegen Menzel und heute von Ihnen gehört habe.
({1})
- Ich spreche hier als Abgeordneter. Herr Kollege Mellies hat die Liebenswürdigkeit gehabt, die Scheidung zwischen dem Bundestagspräsidenten und dem Abgeordneten zu machen. Ich spreche als Abgeordneter und möchte an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
({2})
Ich habe mich bei dieser Pressekonferenz mit aller Deutlichkeit für das Mehrheitswahlrecht eingesetzt; ich habe das aus dem gleichen Grunde getan, der Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft und des Schleswig-Holsteinischen Landtags dazu veranlaßt hat, das gleiche zu tun. Der Herr Abgeordnete Scharnberg hat bereits zitiert, was der Abgeordnete Richter am 27. Juli 1949 in der Hamburgischen Bürgerschaft gesagt hat. Herr Richter hat aber noch etwas mehr gesagt:
Beim Verhältniswahlrecht, wie wir es bis 1933
hatten, ist das Elend der Zersplitterung so ungeheuer stark in Erscheinung getreten, daß wir,
die wir die damalige Zeit aktiv handelnd miterlebt haben, dieses Elend der Parteienzersplitterung als einen der hauptsächlichsten Krisenfaktoren unserer deutschen Demokratie empfunden haben.
({3})
Hinzu kam, daß in den damaligen Parlamenten bei den Mehrheitsverhältnissen, wie sie gerade durch das Verhältniswahlsystem begünstigt wurden, die kleinen Parteien und Interessengruppen, diejenigen, die nicht einmal politische Parteien waren, mit zwei oder drei Abgeordneten in einem Reichstag, der zwischen 4- und 600 Abgeordneten zählte, die Möglichkeit hatten, in entscheidenden Koalitionsverhandlungen das Zünglein an der Waage zu bilden.
({4})
Sie bekamen dort ein politisches Gewicht, das jeder tatsächlichen politischen Situation widersprach. Diese Möglichkeit wird durch das Mehrheitswahlsystem in weitgehendem Maße verhindert.
({5})
Ich habe weiter nachgelesen, was der Abgeordnete Käber von der SPD während der fünften
Tagung des vierten Schleswig-Holsteinischen Landtags am 19. Dezember 1950 gesagt hat:
Wir sehen den Sinn jeder Wahl nicht so sehr darin, im Parlament ein genaues Spiegelbild sämtlicher politischen Strömungen in der Wählerschaft herzustellen, sondern vielmehr dafür zu sorgen, daß klare Mehrheitsverhältnisse und eine arbeitsfähige Regierung aus den Wahlen ohne Zeitverlust hervorgehen.
({6})
({7})
Er hat weiter gesagt:
. . . Der Sinn des Wahlsystems, das wir in Schleswig-Holstein entwickelt haben, besteht ja darin, daß die relativ stärkste Partei, die auf sich allein gestellt mit offenem Visier in den Wahlkampf geht, bewußt begünstigt wird, mit dem Ziele, dann nachher auch die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
({8})
Das ist bei der ersten Wahl 1947 der Fall gewesen.
({9})
Bei der Wahl zum gegenwärtigen Landtage aber hat die Partei, die dieses System im Januar 1947 mit beschlossen hat, sich, nur um die regierende Sozialdemokratie unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu schlagen, der Splitterparteien bedient, und zwar der Parteien, die nach dem Sinn des Wahlsystems nicht zum Zuge kommen sollte n.
({10})
Meine Damen und Herren, ich möchte nicht wissen, was uns entgegengehalten worden wäre, wenn wir zur Begründung unserer Anträge das in diesem Hause ausgesprochen hätten.
({11})
In dem, was Herr Kollege Mellies gesagt hat, ist von der Verfälschung des Wählerwillens die Rede gewesen, und der Kollege Ritzel hat vorhin das gleiche dazwischengeworfen.
({12})
Ich darf erklären, daß ich Anhänger des Mehrheitswahlrechts bin.
({13})
Aber nehmen wir doch einmal das Beispiel des hessischen Wahlkreises Dieburg, Herr Kollege Ritzel! In diesem Wahlkreis hat die SPD, haben nämlich Sie 36,6 % der Stimmen bekommen, die CDU 23,8 %, die FDP 20%, die KPD 8,8 % und die Unabhängigen 10,8 %. Ich bin bereit - und darin bin ich mit Ihnen einig -, den Mehrheitswähler-willen so zu respektieren, daß die relative Mehrheit entscheiden soll, und ich bitte Sie nur, auch dafür zu stimmen. Genau das hat der Entwurf Wuermeling vorgeschlagen. Ob das aber etwas mit dem Wählerwillen zu tun hat, daß jemand, der 63,4 % der Stimmen gegen sich hat, Bundestagsabgeordneter wird, das ist eine Frage, über die wir uns noch unterhalten müssen.
({14})
Ich bin weiter gefragt worden: Will denn die Regierung, will denn die Koalition mit diesem Gesetz ihre eigene Machtposition sichern?
({15})
Meine Damen nd Herren, Sie haben alle - und darum wird es zitiert - die unsinnige Aufstellung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gelesen, die ich auch vor mir gehabt habe, wo ein Herr Rapp ausrechnete, daß nach dem neuen Wahlrecht die CDU 218 und die SPD 114 Stimmen bekommen würde. Ich habe gesagt, es sei dummes Zeug, solche Rechnungen aufzumachen, da niemand die Zahlen voraussehen könne und jeder wisse, daß von Schleswig-Holstein bis Freiburg die Koalitionsverhältnisse so durcheinandergingen, daß es völlig
unsinnig sei, für solche Berechnungen Zahlen von 1949 zugrunde legen zu wollen.
({16})
- Herr Kollege Heiland, wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie und Ihre Wahlrechtsexperten nicht unter Verwendung aller verfügbaren Zahlen in den letzten Wochen sich ausgerechnet haben, daß hic et nunc das Verhältniswahlsystem für Sie das günstigste wäre?!
({17})
Meine Damen und Herren, nachdem ich das in der Pressekonferenz gesagt habe, habe ich erklärt: ich bin für ein Wahlrecht, in dem die Mehrheit entscheidet, in dem auch nicht durch eine Manipulation das Mehrheitswahlrecht praktisch in ein Verhältniswahlrecht umgewandelt wird, wie es beim Bundestagswahlrecht geschieht.
({18})
Denn ich halte das Verhältniswahlrecht für ein zerstörerisches Wahlrecht, und ich habe das mit den Stimmen Ihr er Parteifreunde belegt. Ich habe dann gesagt und halte das aufrecht: Sie werden auf der andern Seite von uns ja schließlich auch nicht erwarten, daß wir ein Wahlrecht machen, das das Ziel - das Ziel! - hat, die Opposition an die Macht zu bringen. Meine Damen und Herren ({19}), würden Sie das an unserer Stelle machen,
({20})
wenn Sie davon überzeugt wären, daß ein Verhältniswahlrecht dazu führt, daß die stabile Mitte zerschlagen wird?
({21})
Sie haben das alles nicht so zitiert, sondern Sie, Herr Kollege Mellies, haben gesagt, ich hätte zum Ausdruck gebracht, daß man es den Regierungsparteien doch nicht verübeln könne, wenn sie ein Wahlrecht verabschiedeten, das den Regierungsparteien weiter die Macht lasse und der Opposition den Weg zur Regierung versperre. Ich stelle fest, daß ich das nicht gesagt habe, nicht meine und daß das auch nirgendwo in einer Zeitung erschienen ist, sondern daß das, was Sie darüber gesagt haben, der Kampf gegen Windmühlenflügel ist und mit der tatsächlichen Lage nicht das Geringste zu tun hat.
({22})
Ich halte den Gesetzentwurf der Regierung ebenso wie der Herr Bundesminister des Innern für das unter den möglichen Umständen, angesichts der von Ihnen in Aussicht gestellten Stellungnahme, für das am wenigsten Übel aufweisende Wahlgesetz
({23})
und habe mich darum dafür eingesetzt. Aber wenn Sie bereit sind, dazu zu helfen, daß wir zu einem klaren Mehrheitswahlrecht kommen,
({24})
dann bin ich nur dankbar, wenn Sie das tun.
Noch einen Satz, Herr Kollege Mellies, zum Schluß: Wenn Sie gesagt haben, die Regierung müsse sich unter den gleichen Umständen zur Wahl stellen, unter denen sie gewählt worden ist - das heißt doch die Festlegung jedes Wahlrechts auf die nächsten 1000 Jahre!
({25})
({26})
Wenn Sie das als Ihr Prinzip verstehen, dann verstehe ich nicht, warum Sie bei uns in Niedersachsen erstens verhindert haben, daß neue Parteien ihre Kandidaten ohne besondere Schwierigkeiten aufstellen,
({27})
daß Sie weiter verhindert haben, daß eine Partei an einem Landesausgleich teilnehmen kann, die nicht in allen Wahlkreisen Kandidaten aufstellt;
({28})
und dann verstehe ich nicht, daß Sie, wenn Sie so in Schleswig-Holstein und Hamburg die Zersplitterung vermeiden wollen, in Niedersachsen die 5 %-Klausel deswegen nicht gebrauchen konnten, weil eine Partei dann vielleicht die vier oder fünf Sitze bekam, die Sie für eine Regierungsbildung brauchten! Man soll nicht mit Steinen werfen, wenn man im Glashaus sitzt!
({29})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Farke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Grundgesetz hat dieser Bundestag die Aufgabe, ein Wahlgesetz zu verabschieden, nach dem der nächste Bundestag gewählt wird. Wir bedauern auch, daß der Wahlgesetzentwurf von der Regierung dem Hohen Hause erst gegen das Ende der Legislaturperiode vorgelegt wird.
({0})
Dem Hohen Hause liegen nun für ein Bundeswahlgesetz außer dem Regierungsentwurf noch zwei andere Gesetzentwürfe vor. Der Wahlgesetzentwurf der SPD entspricht dem Wahlgesetz, nach dem der jetzige Bundestag im Jahre 1949 gewählt wurde.
({1})
Die Fraktion der Deutschen Partei ist nicht bereit, diesen Entwurf zu unterstützen, da sie nicht gewillt ist, dem Wähler weiterhin vorzutäuschen, daß die 242 direkt zu wählenden Kandidaten nach dem Mehrheitswahlprinzip gewählt würden, während in Wirklichkeit in der täuschenden Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht für sie der reine Proporz gilt. Der Wähler wird nie anerkennen, daß ein mit 20 bis 25 % der abgegebenen Stimmen gewählter Kandidat als Vertreter eines Wahlkreises angesehen werden kann. Dem Wähler ist auch bewußt, daß dieses Wahlsystem von 1918 bis 1933 die Vielzahl der Parteien heraufbeschwor und die Diktatur auslöste. Dem Wähler ist auch nicht unbekannt, daß dieses Wahlsystem an sich das erkorene Wahlsystem der Diktaturen und besonders der östlichen Diktaturen ist. Ich kann schon verstehen, daß Herr Menzel seinen Vorschlag des Verhältniswahlrechts nicht begründete, weil er sich dieser unangenehmen Tatsache bewußt war.
({2})
Dem reinen Mehrheitswahlrecht, wie es in dem Gesetzentwurf Wuermeling und Genossen zum Ausdruck kommt, würde die Fraktion der Deutschen Partei zustimmen, wenn die Aussicht bestünde, daß im Parlament eine Mehrheit und beim Wähler
die psychologischen Voraussetzungen schon vorbanden wären. Weil beides nicht gegeben ist, ist die Fraktion der Deutschen Partei der Meinung, daß ein Mehrheitswahlrecht in Verbindung mit einem Verhältniswahlrecht das richtigere ist, und stimmt damit im Grundsatz dem vorliegenden Regierungsentwurf zu.
Selbstverständlich bedeutet der Regierungsentwurf für uns nicht das letzte Wort; und ich möchte Herrn Mellies sagen: Kein Gesetzentwurf bedeutet für uns das letzte Wort und hat es je bedeutet. Wir können uns wohl denken, daß die Verwertung der Hilfsstimme in einer anderen Form erfolgt, in einer Form, die noch entscheidender die Stichwahl ersetzt. Wir glauben auch, daß die Stichwahlentscheidung des Wählers direkt, zum mindesten anders als durch eine Hilfsstimme erfolgen kann. Wir behalten uns - das soll mit diesen Hinweisen angedeutet werden - Änderungs- und Verbesserungsvorschläge vor.
Entscheidend ist für uns, daß für die direkt gewählten 242 Kandidaten ein echtes Mehrheitswahlrecht und für die anderen 242 Kandidaten ein echtes Verhältniswahlrecht gilt und dem Wähler nicht wie bisher Täuschungen zugemutet werden. Selbstverständlich bejahen wir auch eine Blockbildung von Parteien hinsichtlich der Verwendung der Hilfsstimme gemäß dem Prinzip der Stichwahl oder bei einer Stichwahl selbst auf der Mehrheitswahlebene und der Listenverbindung auf der Verhältniswahlebene. Wir wollen dem Wähler nicht nur die Entscheidung für eine Partei, wir wollen ihm darüber hinaus die Entscheidung über die Art und Zusammensetzung der neuen Regierung übergeben, damit endlich dem Wähler gegenüber die größte Betrugsmöglichkeit, wie sie bisher war, ausgeschaltet wird.
({3})
Es kann den Parteien nicht überlassen bleiben, entgegen den Wahlversprechungen dem Wähler gegenüber nach der Wahl anders zu handeln und Koalitionen einzugehen, für die der Wähler seine Stimme niemals gegeben hätte.
({4})
Wenn die SPD behauptet, Parteivereinbarungen und Listenverbindungen seien eine einseitige Maßnahme zugunsten der jetzigen Koalitionsparteien, so wäre das nur richtig, wenn diese Parteien im Gesetz ausdrücklich genannt wären. Da das aber nicht der Fall ist, hat jede Partei die Möglichkeit einer Parteivereinbarung hinsichtlich der Hilfsstimme oder Stichwahl und der Listenverbindung. Wenn die SPD davon keinen Gebrauch machen will, so ist das ihre Sache; oder wenn es für sie keinen Partner gibt oder sich keiner vor dem Wähler zu ihr bekennen will, dann mag das für sie bedauerlich sein, kann aber niemals dazu führen, daß der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet, das auf diese Parteieinstellung Rücksicht nimmt. Ein Gesetz hat auf keine einzelne Partei Rücksicht zu nehmen, sondern allein dem Willen des Wählers zu entsprechen.
Wenn der Vorwurf erhoben wird, dieses Gesetz habe integrierende Wirkung zugunsten der Koalitionsparteien, so ist ja nun schon genug hier bewiesen, daß die SPD da, wo sie die Möglichkeit hat - in Hamburg, in Bremen, in Niedersachsen und in Hessen -, diese integrierende Wirkung bei
({5})
den dortigen Wahlgesetzen, die sie selbst gefordert hat, durchgeführt hat. Wir wollen auch gar nichts dagegen sagen, aber wir verbitten uns, daß man uns das hier auf der Bundesebene verwehren will. Wir haben den Eindruck, daß die SPD bei den bevorstehenden Wahlen nicht so zuversichtlich ist; denn sonst würde sie es sich nicht so viel kosten lassen, riesengroße Plakate überall an die Plakatsäulen zu kleben, um auf etwas hinzuweisen, was in Wirklichkeit überhaupt nicht da ist, was nicht gemeint ist, was nicht gewollt ist. Das, was Sie für sich in Anspruch nehmen, nehmen auch die anderen für sich in Anspruch, und darüber sprechen wir ganz offen. Sie haben dieselbe Möglichkeit, wie sie auch die anderen haben. Wenn Sie davon nicht Gebrauch machen, ist das Ihre Sache.
Wir bejahen im Grundsatz den Regierungsentwurf und behalten uns, wie ich angedeutet habe, unsere Stellungnahme im einzelnen vor. Mit der Überweisung an den neu zu bildenden Ausschuß sind wir einverstanden.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reismann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Rede des Herrn Ministers und die Reden der bisherigen Sprecher anhört, kann man fast den Eindruck gewinnen, daß es sich beim Wahlrecht um ein eigentliches Recht der Parteien handelt. Es ist etwas merkwürdig. Die Parteien haben, da sie im Saatsleben wichtig sind und ihre Funktion in der Verfassung anerkannt ist - man muß, nebenbei bemerkt, auch anerkennen, daß sie die Träger des politischen Willens der Nation sind -, ein Recht darauf, gebührend berücksichtigt zu werden. Bei dem Recht auf die Wahl aber handelt es sich um ein Recht des Wählers. Darauf kommt es an. Deswegen kann das Wahlrecht nicht nach der Frage ausgerichtet werden, die der Herr Präsident als Privatmann, als Politiker angesprochen hat: Wem nutzt das Wahlrecht? Dem Wähler muß es nutzen; seinen Willen muß es möglichst weitgehend zur Geltung bringen.
Aber noch eines fällt bei den Reden auf. Wenn die CDU hier so tut, als ob sie eine Einheit wäre und als ob ihr Sprecher den Willen der ganzen Partei wiedergäbe, die einheitlich hinter dem Regierungsentwurf stünde, so setzt es einen einigermaßen in Erstaunen, daß dieselbe Partei in Straßburg in der Ad-hoc-Versammlung einen genau entgegensetzten Standpunkt eingenommen hat.
({0})
Ich verweise auf den Art. 95 des Vertragsentwurfs für die Satzung der europäischen Gemeinschaft, der unter hervorragender Mitwirkung des Fraktionsvorsitzenden der CDU, des Herrn von Brentano, zustande gekommen ist; er ist mit ihm einverstanden gewesen. Hier zeigt es sich, wie man auch in deutschen Kreisen, auch in Kreisen der Regierungsparteien dann Stellung nimmt, wenn es sich nicht um den eigenen Parteivorteil, sondern um die Frage der gerechten Berücksichtigung aller und dort der gerechten Berücksichtigung unserer eigenen deutschen Belange handelt.
Im Zusammenhang hiermit kann es nicht ohne Bedeutung sein, daß wir aus der gemeinsamen Linie aller europäischen Demokratien ausscheren würden, daß wir uns ausschalten würden, wenn wir einen andern Weg beschritten, als er in den
westeuropäischen Demokratien sonst Sitte ist. Es ist festzustellen, daß sich der Weg des Wahlrechts in den westeuropäischen Demokratien nach eingehenden und gründlichen Überlegungen vom Mehrheitswahlrecht entfernt hat. Man ist ausdrücklich zu der eben verdonnerten Spiegelbildtheorie zurückgekommen, weil man gesagt hat: Die theoretischen Überlegungen wie auch die Praxis, namentlich die englische Praxis, lehren, daß das Mehrheitswahlrecht zu einer Minderheitsregierung führt. Sehen Sie sich doch die Geschichte des englischen Parlaments und der englischen Regierungen in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten an: fast immer, heute sowohl wie unter der Labour-Regierung, hat eine Minderheit über die Mehrheit regiert. Das ist nicht demokratisch, sondern, wenn man von dem demokratischen Grundgedanken ausgeht, geradezu unsittlich.
Deswegen heißt es in dem Art. 95, der in Straßburg mit 27 gegen 10 Stimmen angenommen worden ist - und unter den 27 Ja-Stimmen war die Stimme des Herrn von Brentano, des Fraktionsvorsitzenden der CDU, der sich sehr lebhaft für dieses Wahlrecht eingesetzt hat -:
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Bis zum Inkrafttreten des in Art. 13 genannten Gesetzes werden die Wahlen zur Völkerkammer im Gebiete jedes Mitgliedstaates nach dem Verhältniswahlrecht
({2})
mit der Möglichkeit der Listenverbindung durchgesetzt.
Ja, was soll ich Ihnen denn nun glauben, meine Damen und Herren? Das, was Sie hier, oder das, was Sie in Straßburg sagen?
({3})
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer redet da von Parteizersplitterung? Diese Geschichtsklitterung sollten wir in diesem hohen Gremium doch sein lassen. Sehen Sie sich einmal die Zahl der Fraktionen - es kommt ja nicht auf die Zahl der Parteien, sondern auf die Zahl der Fraktionen an - im kaiserlichen Reichstag an. Da hatten wir unter dem absoluten Mehrheitswahlrecht zwei oder drei Fraktionen mehr als in der Weimarer Demokratie!
Dann wird gesagt, man solle auf diese Art und Weise für klare Mehrheiten sorgen. In die politische Terminologie zum Wahlrecht ist ein neues Wort eingeführt worden: das mehrheitbildende Wahlrecht. Die rein willkürliche und unechte Fiktion, daß dieses Wahlrecht hinter den oder die Kandidaten oder hinter den Bundestag eine klare Mehrheit bringe, wird also damit aufgegeben. Das wollen wir zunächst einmal feststellen. Aber bildet dieses Wahlrecht denn eine klare Mehrheit im Parlament? Sehen wir uns doch das Mutterland der wundervollen Erfindung des relativen Mehrheitswahlrechts an, nämlich England! Die Regierungsmehrheiten sind in den letzten Jahrzehnten dort knapper gewesen als bei uns.
({4})
- Bitte etwas bessere Zwischenrufe, damit man
wirklich darauf eingehen kann, Herr Wuermeling!
({5})
- Ein Staatssekretär sollte bessere Zwischenrufe machen!
({6})
Also sehen Sie sich doch bitte die englische Praxis an! Wenn eine kleine Absplitterung innerhalb der Mehrheitspartei erfolgt, sei es, daß sie auf Erkältung oder auf Opposition gegen die Regierung beruht, dann ist es nichts mit der Mehrheit. Es ist also eine rein willkürliche Unterstellung, zu sagen, die Festigung der Regierungsmehrheit könne auf diese Art und Weise erreicht werden.
Aber eins ist sicher: ein Absinken der Bereitschaft des Volkes, an diesen Pseudo-Wahlen mitzuwirken, erreichen Sie bestimmt.
({7})
Auch das wird in den Wählerzahlen in England ausgedrückt, wo es als ein besonderes Ereignis gilt, wenn einmal mehr als 60 % zur Wahlurne gehen. Sie können unser deutsches Volk auch dahin erziehen, so wie man es gemacht hat, als man es im Laufe von mehreren Monaten dreimal nacheinander zur Wahl aufrief, so daß man doch den Eindruck haben mußte: das ist alles eine reine Farce, darauf kommt es ja gar nicht an.
({8})
Eine klare Mehrheit wird also nicht erzielt. Aber dieses Wahlrecht selbst, das uns die Regierung jetzt vorlegt, ist so unklar wie nur möglich. Man muß Berufsmathematiker und Gelehrte der Zahlenmystik heranziehen, um auszurechnen, was aus den Stimmen der Wähler wird. Es ist klar: sie können stimmen, wie sie wollen; sie müssen aber darum knobeln, was hinterher aus diesen Stimmen wird. Ja, durch den inneren Proporz ist es sogar möglich, daß eine bayerische Stimme, die für die CSU abgegeben wird, einem Hamburger FDP-Mann zugute kommt.
({9})
Da sagen Sie mir nun einmal, so etwas habe einen vernünftigen Sinn!
Aber e i n Sinn kommt dabei zutage: daß Sie in ihrem eigenen Innenverhältnis der Koalitionsparteien die Proportion doch nicht bloß für ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch für eine vernünftige politische Forderung ansehen. Sie kommen also an dem Proporz für Ihre eigenen Überlegungen doch nicht vorbei.
Man hat dieses Wahlrecht, das nun von der Regierung vorgelegt wird, als einen merkwürdigen Wechselbalg von sogenanntem Mehrheitswahlrecht und den Wünschen der Regierung, ihre eigene Macht zu sichern, bezeichnet. Denn das steht auch nach der lebhaftesten Verteidigung dieses Wahlrechts fest: daß es eigentlich überhaupt keine Linie hat. Es enthält Elemente des Mehrheitswahlrechts, Komponenten von der sogenannten Wählergemeinschaft; einen anmaßenderen Namen als den habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Da gibt es eine
Handvoll von Persönlichkeiten - Personen sollen
wir lieber sagen; ich will nicht sagen, daß alle davon auch Persönlichkeiten sind -,
({10})
als wenn es nicht auch noch eine ganze Menge anderer gäbe, die sie nie danach gefragt haben, was sie denn von diesem Wahlrecht halten. Wenn es so einfach wäre, zu wissen, was die Wähler wollen, brauchten wir gar keine Wahl.
({11})
Jedenfalls das, was hier vorgelegt wird, ist ein gräßlicher Mißbrauch mit der Einrichtung der Wahl. Die Wahl hat keinen andern Zweck und keine andere Aufgabe, als eine Abstimmung im Volke darüber herbeizuführen, welchen Abgeordneten es sein Vertrauen schenkt, aber nicht darüber, eine bestimmte Regierungskoalition zu sichern.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich beneide ich die Kollegen, die mit einer besonderen Emphase und Gläubigkeit für ein bestimmtes System des Wahlrechts eintreten können. Die haben es nämlich furchtbar leicht und einfach. Aber ich weiß nicht, ob wir mit dieser Wahlrechtsorthodoxie den Notwendigkeiten, vor die wir gestellt sind, wirklich Rechnung tragen und ob die angriffsheftig übersteigerte Behauptung, man habe den Stein der Weisen gefunden, die Lösung erleichtert und die Meinung, was die anderen meinen, sei einfach falsch und böse, richtig ist. Ich glaube, es gibt kein Gebiet der Politik, auf dem so viel Phantasietätigkeit möglich ist und auf dem man mit der Deutung geschichtlicher und soziologischer Zusammenhänge und struktureller Entwicklungen so viel behaupten und so viel begründen kann wie gerade auf dem Gebiet des Wahlrechts.
Eines scheint mir allerdings nicht schön zu sein: daß man bei diesen Dingen so schrecklich moralisiert, daß immer der eine dem anderen vorhält, er habe irgendwelche Berechnungen im Hintergrund und der andere mache eine Arithmetik der mutmaßlichen Vorteile und wolle ausrechnen, wie die Dinge zu seinen Gunsten wirken. Ach, ich will gar nicht bestreiten, daß die Lockung eines corriger la fortune hinsichtlich des einen oder anderen Partners besteht. Streiten wir das doch nicht ab! Wir müssen uns nur von solchen Erwägungen frei machen. Denn im Grunde würde eine Wahlrechtsentwicklung, die unter derartigen Gesichtspunkten offenbare Mißbräuche zeigen würde, der Gesamtentwicklung zur gefestigten Demokratie tatsächlich nicht entsprechen.
Vor allen Dingen, meine Damen und Herren: Ist es nicht ein bissel schrecklich, mit dieser doppelten Moral zu arbeiten, indem man sich immer über den anderen entrüstet?
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- Doch, das gilt gerade für Sie, meine Herren von der SPD! Sie entrüsten sich jetzt schrecklich über Regierungsentwürfe. Was da aber in manchen Ländern von Ihrer Seite gemacht worden ist
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- na, hören Sie mal! -, da ist auch etwas Wahlarithmetik und da ist noch dazu Wahlkreisgeometrie. Machen wir doch die Dinge durch künstliche Entrüstung nicht so umständlich und schwierig, und erschweren wir uns die Geschichte nicht mit einer doppelten Moral!
Welche Erfordernisse sind denn nun an ein Wahlrecht zu stellen? Wir müssen dabei von der
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Funktion der Wahl in der Demokratie ausgehen. Was hat sie eigentlich zu bedeuten? Sie soll erstens die dominanten und die rezessiven Strömungen in der politischen und geistigen Entwicklung feststellen. Sie soll feststellen, welche Kräfte im Aufstieg und welche Kräfte im Abstieg sind. In diesem Wechselspiel liegt die Stärke der Demokratie. Ihre Lebendigkeit liegt in dem so geweckten Spannungsverhältnis und tut sich in dem Bemühen der Richtungsgruppen, aufzusteigen, immer wieder kund. Darin liegt doch ihre große leistungssteigernde Kraft. Das ist das eine, was man berücksichtigen muß.
Zum zweiten soll eine Wahl ein System der Auslese darstellen. Es soll im Wettbewerb der Wahl eine immer bessere, wenn Sie so wollen, Elite von Leuten ausgelesen werden, die die Gesetze machen und die Regierungspolitik bestimmen. Das ist doch der Sinn einer Wahl, und das ist auch der Sinn der Auseinandersetzung in der Politik, weil man durch Auseinandersetzung die Erkenntnisse darüber, was gut und was schlecht ist, immer mehr verfeinern kann. Das ist der zweite Sinn dessen, was mit einer Wahl zusammenhängt. Er wollte hinter allen Formen und Wirkungen der politischen Agitation und Propaganda, die sich aus einem Wahlvorgang immer wieder ergeben, stehen.
Wir sollten an jedes Wahlrecht mit dem Maßstab herantreten: was fördert diese beiden wesentFunktionen möglichst günstig, nämlich die wechselnden Strömungen des politischen Lebens gerecht einerseits sichtbar werden zu lassen und andererseits gleichzeitig einen Ausleseprozeß durchzubilden, der hinsichtlich der gesetzgeberischen Arbeit möglichst steigernde Wirkungen hat? Da muß ich allerdings dem Herrn Kollegen Scharnberg sagen, daß ich unter solchen Gesichtspunkten keineswegs von der Überlegenheit des sogenannten Mehrheitswahlrechts überzeugt bin. Es ist in Wirklichkeit ja kein Mehrheitswahlrecht, sondern es ist fast immer ein Minderheitenwahlrecht. Es bleibt an ihm auszusetzen, daß es sehr leicht - und das ist in den meisten Fällen sogar so - je nach der Struktur der politischen Parteien und der politischen Gruppenbildung unter den Wählern zu einem Mißverhältnis zwischen den Wählerstimmen und den Mandaten ausartet. Diese Erscheinung haben wir sehr oft. Es wirkt sich als Minderheitenwahlrecht aus. Die politischen Strukturverhältnisse, unter denen bestimmte politische Parteien kompakte Gruppen bilden, wirken sich aus. Das ist dann durchaus keine Übereinstimmung zwischen der dominanten Strömung im Volk und den vorherrschenden Gruppen im Parlament. Das haben sich die Leute im englischen Wahlrecht leisten können. Denken Sie aber bitte an die englische Parteiengeschichte! Die Parteien in England sind ja ursprünglich nicht wie bei uns Weltanschauungsgruppen.
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- Die Geschichte des Wahlrechts ist aufschlußreich; ich will das hier nicht ausführen. Jedenfalls ist es für uns sehr gefährlich, der Lockung des einfachen Mechanismus, der ja im Mehrheitswahlrecht steckt, allzusehr nachzugeben. Es ist kein Zweifel, wenn man bloß mechanistisch denkt, wie die Mehrheitsbildung am einfachsten geschieht, dann haben Sie recht. Als formale Mechanik ist das großartig; aber es wirkt meist unorganisch, denn es fehlt nachher die Übereinstimmung zwischen der Parlamentsmehrheit und der Volksmehrheit. Da liegen Spannungsverhältnisse, Reibungsverluste von äußerster Bedenklichkeit vor, besonders weil darin auch etwas sehr Konservierendes zugunsten der politischen Gruppe liegt, die an bestimmten Stellen, aus Tradition, aus sozialer Schichtung, aus weltanschaulicher Gruppierung über kompakte Mehrheiten verfügt. Solche Mehrheiten entstehen aber nicht auf der Grundlage politischer Überzeugung, sondern auf Grund von Motiven, die überwiegend außerhalb der eigentlichen Politik liegen. So entsteht mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts erst recht noch ein Mißverhältnis zwischen den politischen Kräften und der Mandatsverteilung.
Bei einem Wahlrecht kommt es doch darauf an, ein hohes Maß von Stimmengerechtigkeit anzustreben, ein anständiges Verhältnis zwischen den Stimmen der Wähler und der Vertretung der Wähler hier im Parlament. Gegen die solcher Zielsetzung entsprechende Verhältniswahl ist heute hier wieder einmal allerhand erzählt worden. Es ist von der Wirkung des Verhältniswahlrechts in der Weimarer Republik gesprochen worden. Was da immer erzählt wird, stimmt aber doch nicht. Erstens haben wir in der kaiserlichen Zeit, als wir den Einerwahlkreis und die Stichwahl hatten, auch an die zwölf Parteien im Reichstag gehabt.
({4})
Also die Parteienbildung und -zersplitterung ist in keiner Weise durch das Verhältniswahlrecht geweckt, sondern das liegt - wie soll ich sagen? - an der Staatsbürgerseele des Deutschen, an seinem Differenzierungsbedürfnis. Das ist ein recht gefährliches Bedürfnis. Es ist sicherlich zu überlegen, wie man ihm eine sinnreiche Schranke setzen könnte. Man kann auch nicht einfach sagen, das Verhältniswahlrecht habe die Weimarer Republik zerstört. Kaputtgemacht haben die Weimarer Republik zuerst und zumeist diejenigen, die mit ungeheueren Propagandamitteln gegen die Republik und gegen die Demokratie angerannt sind.
({5}) Zum zweiten ist die Weimarer Republik von den republikanischen Parteien nicht genügend verteidigt worden, weil sie sich allzuoft gescheut haben, in die Verantwortung hineinzugehen. Denken Sie an die Situation Brünings, der mit einem solchen merkwürdigen Präsidialkabinett regieren mußte. Wie anders wäre die Situation gewesen, wenn sich damals alle verfassungstreuen Parteien entschlossen hätten, hinter ihn zu treten, und, koste es, was es wolle, die unpopulärsten Dinge durchzuziehen, um die Demokratie aufrechtzuerhalten.
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Herr Mellies, Sie haben mit vergangenen Ereignissen polemisiert. Wir sollten uns doch nicht immer sosehr mit der Vergangenheit aufhalten. Man kann die Dinge auch etwas anders ansehen, als Sie sie dargestellt haben. Vor allen Dingen haben Sie wieder die Geschichte von dem Ermächtigungsgesetz gebracht. Fälschen wir doch die Geschichte nicht allzusehr! Die Entscheidung war 1932 gefallen, als der Staatsstreich des Herrn von Papen gelungen war. Damit begann nämlich der Umsturz zum Diktaturstaat, zum autoritären Staat. Ob die Geschehnisse von 1932 gut oder böse waren, das will ich jetzt nicht erörtern. Ich will auch da nicht von Schuld, von Fehlern und Verantwortlichkeiten reden. Das Ermächtigungsgesetz war nichts als eine Form. So ist es wenigstens von denen gedacht worden, die ihm zugestimmt haben, obwohl sie
({7})
innerlich weiß Gott alles anderes als Nationalsozialisten waren, aber zugestimmt haben, weil sie, gebeten von sehr vielen, für sie etwas erträgliche Übergänge schaffen wollten, nachdem die Flutwelle unaufhaltsam war. So liegen die Dinge. Also bitte, stellen Sie es nicht immer so dar, als ob erst das Ermächtigungsgesetz die Machtverhältnisse geändert habe. Die Veränderung der Machtpositionen war schon vorher geschehen; das Gesetz war lediglich eine machtpolitisch belanglose
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unter recht opportunistischen Erwägungen veranstaltete Formalität.
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- Doch, doch, doch! Ich habe die Vorgänge sehr sorgfältig miterlebt und kann da aus eigener Beobachtung urteilen. Nebenbei bemerkt gehöre ich nicht zu denen, die zugestimmt haben; ich kann also um so objektiver von den Dingen reden.
({10})
- Ich verteidige die Leute ja gar nicht, sondern ich wende mich nur dagegen, daß das Ermächtigungsgesetz in der damaligen machtpolitischen Auseinandersetzung irgendeine entscheidende Bedeutung gehabt haben soll.
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Es ist nichts weiter als die formelle Folgerung aus Machtentscheidungen gewesen, die vollzogen waren, als sich Papen mit seinem Staatsstreich durchgesetzt hatte und hinterher nun der Massenwahn über allzu viele Menschen kam und nicht mehr aufzuhalten war.
({12})
Also, meine Damen und Herren, ich will nicht so viel über die alten Dinge reden. Man muß aber daran anknüpfen, wenn geschichtliche Dinge mißdeutet werden. Mir kam es hier auf den Nachweis an, daß es falsch ist, das Verhältniswahlrecht für die Weimarer Fehlschläge entscheidend verantwortlich zu machen. Man soll sich außerdem ansehen, wie es damals mit der Parteibildung gewesen ist. Eins ist allerdings bedenklich gewesen: das Aufkommen reiner gruppenegoistischer Elemente, reiner Ständegruppen ist erleichtert worden, das Auftreten von Abgeordneten, die von Politik im Grunde genommen nichts mehr wissen wollten. Damit ist natürlich das Niveau sehr verdorben worden; denn letzten Endes gehört zur Auslese auch, daß der Politiker gewählt wird und nicht der Interessent. Politik ist mehr als die Vertretung von Interessen. Politik setzt eine weite Fülle von politischen Einsichten, eine Verfeinerung des politischen Erkenntnisvermögens voraus. Politik setzt die intuitive Fähigkeit voraus, Zusammenhänge, die man weder rein rechnerisch noch bloß empirisch, am
allerwenigsten aber mit naturwissenschaftlichen Methoden ermitteln kann, zu überlegen und zu deuten.
Dann darf ich noch auf eins aufmerksam machen; auch das muß einmal überlegt werden. Das Mehrheitswahlrecht, wie man es in England hat, stammt in seinen Anlagen eigentlich aus der Biedermeierzeit. Es stammt aus einer Zeit, in der die Verkehrsverhältnisse noch schlecht waren und es gar keine andere Möglichkeit der Repräsentation gab, als daß einer gewählt wurde, ein halbes Jahr
in die Hauptstadt fuhr und da seine Wähler vertrat. Heute haben wir diese engen Grenzen und diese Ortsgebundenheit doch nicht mehr. Meine Damen und Herren, machen Sie nicht den Wahlkreis zum Dogma! Er ist mehr und mehr eine fragwürdige Institution. Die Anhänger eines Menschen wohnen heutzutage nicht in einem kleinen Ortsbereich. Wo es aber der Fall ist, da ist gerade die Gefahr, daß das Lokale gegenüber dem Gesamten der Politik überwiegt, um das es in diesem Parlament geht.
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Also es gibt sogar ein Element - wie soll ich sagen? - der Destruktion, das aus einer rein wahlkreismäßigen Betrachtung der politischen Dinge kommen könnte. Das aber spricht wieder sehr dafür, nun etwas anderes gelten zu lassen: auch die Liste, die sich über weite Räume erstreckt. Das entspricht der modernen Struktur der politischen Willensbildung viel mehr, als wenn eine Wahl nur lokal begrenzt und gebunden wäre.
Und dann sehen Sie sich die Funktionen des Parlaments an! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten ein Parlament, das aus lauter „unabhängigen" Leuten bestünde, die nur ihren Wahlkreis im Auge haben und nur wahlkreisorientiert sind. Wir wären ein amorpher Haufen, der zu Willensentscheidungen überhaupt nicht in der Lage wäre.
({14})
Weil wir dies nicht wollen, scheint uns auch der Beitrag der Listenwahl sehr bedeutsam und gerechtfertigt zu sein unter dem Gesichtspunkt sowohl der Selektion wie unter dem Gesichtspunkt, daß sie zur politischen Gruppenbildung hindrängt. Ein Parlament ist doch funktionsfähig nur durch Gruppenbildung, d. h. durch Fraktionen; denn so allein können Mehrheiten herbeigeführt werden. Und Mehrheiten muß es im Parlament geben, damit es funktionsfähig ist und sich gegenüber der Bürokratie durchsetzen kann. Ein amorpher Haufen von Abgeordneten ist dazu nicht in der Lage.
Neben dieser Begünstigung der Fraktionsbildung überhaupt ermöglicht die Listenwahl im Gegensatz zur Gruppenbildung unter dem Gesichtspunkt der Vertretung von Orts- und Landesteilen eine Zusammensetzung der Fraktionen in der Richtung, daß Spezialisten für die einzelnen Sachgebiete vertreten sind, wie dies heute bei der ungeheuren Fülle der gesetzgeberischen Tätigkeit unerläßlich ist. Auch das ist eine Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und seines Gewichts gegenüber der Bürokratie.
Das sind alles Notwendigkeiten, die im reinen Mehrheitswahlrecht in keiner Weise gefördert sind. Ja, wenn wir die Überlieferungen hätten, die England hat! Da geht allerdings die Autorität der Parteispitzen so weit,, daß man die Wahlkreise unter dem Gesichtspunkt verteilt: wie bekomme ich in meiner Fraktion das Schattenkabinett, wenn ich in der Opposition bin, bzw. wie habe ich gleich, wenn ich die Mehrheit bekomme, das Kabinett? Zu solcher Reife, zu solcher Besonnenheit und Einsicht
ist unsere innerparteiliche Entwicklung auf allen Seiten dieses Hauses noch nicht gediehen.
({15})
Wir sollten da in unseren Folgerungen nicht weitergehen, als es dem tatsächlichen Entwicklungsstadium unseres politischen Lebens entspricht.
Herr Kollege Scharnberg hat von der Gefahr der negativen Majoritäten gesprochen, die wir in der Weimarer Zeit bisweilen hatten. Diese Ge({16})
fahr ist ja nun durch das Grundgesetz weitgehend ausgeräumt. Negative Mehrheiten können niemals mehr Regierungen stürzen.
({17})
- Gesetze verhindern; da ist auch wieder eine andere Frage, wieweit es geht. Aber dann ist immerhin eine Regierung da, die mit dem Mittel der Auflösung Korrekturen anbringen kann. Ich möchte mal sehen, wer dann in dem Konflikt zwischen Regierung und negativer Mehrheit der Stärkere ist. Ich glaube also, diese Gefahr ist nicht mehr so gewaltig, wie sie damals war, wo das bloße Mißtrauensvotum genügte, eine Regierung zu stürzen, ohne eine andere an die Stelle zu setzen. Diese Gefahr ist durch das konstruktive Mißtrauensvotum beseitigt worden.
Ich möchte meine skizzenhaften Überlegungen dahin zusammenfassen: Wir brauchen ein Wahlrecht, das dem Gesichtspunkt der Stimmengerechtigkeit entspricht, das zugleich dem Auslesegrundsatz Rechnung trägt. Aber wir brauchen auch zweifellos ein Element des Schutzes gegen allzu weitgehende Zersplitterung; das erkennen wir durchaus an. Es ist unhaltbar, daß sich dauernd neue Grüppchen unter zum Teil sehr, sehr unaufrichtigen Vorwänden bilden, ja, daß Leute, wenn sie in ihrem Gewerbe gescheitert sind, als Erwerbslosenfürsorge für sich dann eine neue Partei gründen. Daß man solche Mißbildungen beschränken muß, ich glaube, darüber bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. Das kann man aber mit gewissen Mitteln der Begrenzung machen, meinetwegen auch - und das wird zu überlegen sein - mit der Durchführung der Stichwahl da, wo wir uns entschlossen haben, Wahlkreise zu bilden. Das ist doch wohl der Sinn der Vorlage, die von der Regierung eingebracht worden ist, solche Mischung zu machen. Man kann es nur Mischung nennen, denn einen echten Kompromiß zwischen Proportional- und Mehrheitswahl gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern es gibt nur ein Nebeneinander; es sind zwei grundsätzlich verschiedene Herkunftsbereiche. Das eine ist die Liste mit der Proportion, und auf der anderen Seite steht der Wahlkreis. Die Verzahnung ist zu überlegen, die darin besteht, zwischen den Verhältniswahlmandaten auf den Listen und den Wahlkreismandaten gewisse Zusammenhänge zu schaffen. Hier sind also Ausgleichsüberlegungen anzustellen. Hier scheint immerhin ein Kompromißversuch angebracht. Ob er gut oder schlecht ist, das sollte man nicht so leichthin entscheiden. Man sollte auch nicht so, wie es Herr Kollege Mellies getan hat, immer nur die Motive der Bundesregierung verdächtigen und so tun, als wenn das alles einfach immer nur Versuche seien, das Wahlrecht tendenziös zu machen. Es ist nicht zu bestreiten, daß auch der Entwurf der Regierung zum mindensten das Prinzip der Chancengleichheit wahrt.
({18})
- Ja, verzeihen Sie, Herr Menzel, die Sache ist doch so: die Chancenungieichheit, soweit sie auf Strukturverhältnissen der politischen Parteien beruht, ist keine Angelegenheit des Gesetzgebers. Die gesetzliche Chancengleichheit aber besteht darin, daß jede Gruppe in der Lage ist, sich so auszubreiten, daß sie zum Zuge kommen kann. Ob das im Augenblick mit Rücksicht auf bestimmte Strukturverhältnisse und Entwicklungen von Parteien hier gut oder dort böse ist, das ist schwer zu prophezeien. Das können Sie überhaupt nicht berechnen.
Denn es ist immer möglich, daß sich - bald so, bald so - Kombinationen bilden. Zu wessen Gunsten sich dann der in der Vorlage versuchte Integrationseffekt auswirkt, das ist nicht eine Folge des Gesetzes, sondern eine Folge der Anpassung der Parteistruktur an ein Gesetz. Wir wissen doch aus der Partei- und Wahlrechtsgeschichte, daß Parteistrukturen sich sehr gut Wahlrechtsformen anzupassen vermögen und anpassen.
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- Nein, nein, das stimmt nicht! Jeder Partei ist die Möglichkeit gegeben, die Chancen des Wahlrechts, die gleichermaßen vorhanden sind und die etwa auch in den Formen der Listenverbindung gegeben sind, für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt an die Sache herangeht, kann man sehr im Zweifel darüber sein, welchen Gruppen dieses Hauses das Wahlgesetz eigentlich zugute kommen kann. Das steht doch bis jetzt in keiner Weise fest. Das ist immer eine Frage der Formationen und der Wahrnehmung der Möglichkeiten des Abstimmungsverfahrens. Also hier ist immerhin ein Kompromiß ermöglicht.
Ich kann für meine Freunde sagen: Wir haben in keiner Weise die Absicht, uns heute bei dieser Auseinandersetzung für alle Zeiten festzulegen. Wir sind vielmehr der Meinung, daß wir ohne parteiarithmetische Vorurteile das bestfunktionierende Wahlrecht überlegen müssen. Wir werden im Ausschuß sehen, wie auf Grund der verschiedenen Ausführungen und Auffassungen ein Wahlrecht zustande kommen kann, das auf möglichst breiter Grundlage durchkommt und die Voraussetzung dafür schafft. daß die breitesten Schichten der Wähler zum politischen Interesse und zur Wahlfreudigkeit gebracht werden.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Fisch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man von den Beschönigungsversuchen einmal absieht, die von der Regierungskoalition unternommen worden sind, dann muß man sagen: der von der Bundesregierung vorgelegte Wahlgesetzentwurf ist eine offene Herausforderung der ganzen Bevölkerung. Mit Hilfe dieses Wahlgesetzes soll der Wille des Volkes ausgeschaltet werden, und von vornherein, noch ehe der erste Wähler ein Wahllokal betreten hat, soll das von Adenauer und seinen Hintermännern gewünschte Wahlresultat schon feststehen. Die Erhaltung und die Festigung der gegenwärtigen Koalitionsmehrheit und damit die Garantie für die Durchführung der amerikanischen Kriegsverträge von Bonn und Paris, das ist das Ziel. Wenn es wahr ist, daß der Sinn einer Wahl darin besteht, den Willen der Wählerschaft zum Ausdruck zu bringen, dann ist dieses Wahlgesetz ein Gesetz zur Legalisierung des Wahlbetrugs. Man müßte sich eigentlich wundern über die Unbekümmertheit, mit der die Regierung dieses Monstrum von Wahlgesetz vorlegt, obwohl es, seitdem es bekannt wurde, auf den einmütigen Widerstand der ganzen Öffentlichkeit, insbesondere auch der Presse, stieß und obwohl es vom Bundes({0})
rat abgelehnt wurde, wobei sich nicht ein einziger Ländervertreter - nicht einmal einer der CDU - fand, der den Regierungsentwurf zu verteidigen wagte. Aber wer soll sich über Herrn Adenauer heute noch wundern? Er hält sich für ausreichend legitimiert für seine Maßnahmen, wenn er sich dabei nur auf die Ermunterungen und die Empfehlungen des Mr. Dulles stützen kann.
({1})
Es ist ein amerikanischer Auftrag, jeden Widerstand gegen das System der Kriegsverträge zu brechen, und es ist ein amerikanischer Auftrag, dabei mit allen Mitteln vorzugehen, auch wenn es gegen Recht und Verfassung ist, auch wenn es die öffentliche Meinung provoziert. Überall, wohin ein amerikanischer Fuß gesetzt wird, entstehen solche Wahlgesetze, die der amerikafreundlichen Partei alle Privilegien und jede erwünschte Mehrheit verschaffen. So war es bekanntlich in Griechenland und in der Türkei, so war es in Japan, und so war es selbst in Frankreich und in Italien. Auf diese Weise soll die Bundesrepublik mit den übrigen amerikanischen Herrschaftsbereichen gleichgeschaltet werden. Auf diese Weise soll auf unserem Boden der Bestand eines Regimes gesichert werden, das den Okkupationsmächten ihren Verbleib im Lande, den Ausbau ihrer militärischen Stützpunkte und die Bereitstellung unseres wirtschaftlichen Potentials für die Erfüllung ihrer militärischen Pläne gewährleistet.
Dieses Regime, das in der Propaganda des Kalten Krieges nie müde wurde, von anderen die Durchführung freier Wahlen zu verlangen, beweist, daß es selbst nichts mehr fürchtet als wirklich freie Wahlen. Es fürchtet freie Wahlen, weil es sich bewußt ist, daß der Wille des Volkes bei freien Wahlen die Regierung der Kriegsverträge, der Aufrüstung und der sozialen Verelendung hinwegfegen würde.
Der Art. 38 des Grundgesetzes bestimmt das Prinzip einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Dieses Prinzip wird durch den vorliegenden Entwurf aufgehoben. Die Stimmen der Wähler haben nicht mehr gleiches Gewicht. Eine einzelne Stimme kann doppelt gewertet werden, einmal im Wahlkreis und einmal für die Bundesliste. Und das geschieht nur dann, wenn es eine Stimme für die Regierungskoalition ist. Das System der Hilfsstimme - ob es nun so oder so erhalten bleibt - bedeutet ebenfalls eine eindeutige Begünstigung der Koalitionsparteien; denn auch diese zweite Stimme eines Wählers kann nur in gegenseitiger Verrechnung der Koalitionsparteien zum Zuge kommen. Auch solchen Kandidaten soll auf diese Weise zu einem Bundestagsmandat verholfen werden, die bei wirklicher Gleichheit der Wahl in der Minderheit bleiben und durchfallen würden.
Die „Gleichheit" für den Wähler besteht nach diesem Entwurf darin, daß er einen Zettel in den gleichen Kasten werfen darf. Er weiß nicht, welcher Partei und welchem Kandidaten er durch sein Kreuz zu einem Mandat verholfen hat. Seine Stimme wird durch die Wahlmacher der Koalitionsparteien wie eine Handelsware verschachert und verschoben.
Für die Bundeslisten der Koalitionsparteien soll es eine Listenverbindung geben. Auch diese Bestimmung hätte eine klare Begünstigung der Adenauer-Parteien zur Folge. Bei den Parteien der parlamentarischen Opposition würden Hunderttausende von Stimmen ungenutzt unter den Tisch fallen, während die Koalitionsparteien sich durch gemeinsame Anrechnung der Stimmen gegenseitig die Mandate nach vorher vereinbartem Schlüssel zuschustern. In seiner Rundfunkrede vom 28. Januar erklärte Herr Dr. Lehr ganz offen, daß es gar nicht darauf ankomme, eine Partei, sondern eine Koalition zu wählen, die überhaupt nur dadurch zu einer Mehrheit gelangt, die eine Regierung stellen kann, daß sie sich des Wahlbetrugs und der Fälschung des Wählerwillens bedient.
Schließlich will man durch die 5-%-Klausel im Bundesgebiet erreichen, daß keine politische Partei zu einem Bundestagsmandat kommt, die eine selbständige Politik verfolgt und sich durch Adenauer nicht gleichschalten läßt. Ist es nicht grotesk, daß nach dieser Bestimmung eine Partei überhaupt erst dann im Bundestag vertreten sein kann, wenn sie die Stimmenzahl für mindestens 25 Mandate aufbringt? Eine mit Adenauer verbundene Partei könnte 30 Sitze bekommen, auch wenn sie nur die. Stimmenzahl für 20 erhält. Aber eine selbständige, eine wirkliche Oppositionspartei gegen Adenauer bekäme kein einziges Mandat, auch wenn sie die Stimmenzahl für 24 Sitze aufbringen würde. Wirklich, man braucht nicht viel mehr zu sagen als das, was kürzlich der stellvertretende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein erklärt hat, allerdings zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht das Objekt bestimmter politischer Manipulationen gewesen ist, als er noch nicht sozusagen über Nacht zum Kostgänger der Adenauerschen Politik herabgesunken ist. Damals sagte er: „Dieser Wahlgesetzentwurf ist ein teuflischer Anschlag gegen die demokratische Grundordnung".
Dieses Gesetz macht den Wahlakt zu einer Farce; denn für Herrn Adenauer steht seine Mehrheit schon fest, noch ehe die erste Stimme abgegeben ist. Aber noch mehr. Es stünde von vornherein sogar die Zweidrittelmehrheit für Adenauer fest, wenn nach diesem Wahlgesetz gewählt würde. Herr Adenauer könnte künftig jeden Verfassungsbruch, alles, was die Amerikaner von ihm wünschen, durch einen formal ,.ordentlichen" Bundestagsbeschluß legalisieren, ohne jemals befürchten zu müssen, daß irgend jemand das Bundesverfassungsgericht anrufen würde.
Das ist eine Methode, die Adolf Hitler mit seiner, Machterschleichung bereits einmal als Muster vorgeführt hat. Erinnern Sie sich: am 5. März 1933 wurde der Reichstag neu gewählt. Vier Tage später wurden die 81 kommunistischen Mandate kassiert, und in fünf Tagen werden es zwanzig Jahre, daß sich Adolf Hitler dann ein Ermächtigungsgesetz bewilligen ließ. Es gibt ja einige Bewilliger hier im Hause. Vielleicht kann Herr Bausch einen mildernden Umstand für seine damalige Haltung dadurch geltend machen, daß er darauf hinweist, daß es Bewilliger auch noch an höheren Stellen der Bundesrepublik, ja sogar an höchster Stelle gibt.
({2})
Sie gaben Hitler ein Ermächtigungsgesetz, das ihm erlaubte, die faschistische Diktatur zu verwirklichen, indem er sich auf eine formale Gesetzlichkeit, auf eine scheinbar parlamentarische Legitimation stützte.
({3})
({4})
Zur Durchführung dieser Hitler-Methode, die den Amerikanern so sehr imponiert, der Diktatur mit „demokratischen" Rockaufschlägen, der faschistischen Willkür unter dem Aushängeschild einer „freiheitlich demokratischen Grundordnung", braucht man dieses Wahlgesetz, braucht man ein faschistisches Gesinnungsstrafrecht;
({5})
dazu braucht man all die anderen Sondergesetze faschistischer Prägung, um die Politik der Kriegsverträge, der Aufrüstung und der imperialistischen Provokation betreiben zu können.
Ich möchte noch eine Frage an Herrn Dr. Adenauer und seine Koalition richten. Haben Sie ein so kurzes Gedächtnis, daß Sie nicht mehr wissen, was - wenigstens nach Ihren eigenen Erklärungen - vor noch gar nicht langer Zeit Ihre Auffassung über freie Wahlen gewesen ist? Am 15. September 1951 hat die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik dem Bundestag einen Vorschlag unterbreitet, in ganz Deutschland freie, demokratische, geheime Wahlen durchzuführen,
({6})
und zwar auf der Grundlage des Wahlgesetzes zum Deutschen Reichstag vom 6. März 1924, und die hierfür erforderlichen Vorbereitungen unverzüglich durchzuführen.
({7})
Am 27. September 1951 gab der Herr Bundeskanzler von dieser Stelle aus eine ablehnende Antwort auf diese Vorschläge. Er verband aber diese Ablehnung mit der Verkündung von 14 Punkten einer Wahlordnung für freie demokratische Wahlen, die angeblich für die Bundesregierung unabdingbar wären. Gestatten Sie, daß ich etwas aus diesen 14 Punkten zitiere.
({8})
In Punkt 1 hieß es:
Das Gebiet der Wahl bildet einen einheitlichen Wahlkreis. Jede Partei reicht einen Wahlvorschlag für das gesamte Wahlgebiet ein.
({9})
Also, meine Damen und Herren, ein Verhältniswahlsystem für ganz Deutschland unter den Bedingungen der Gleichheit! Ja, damals wollte man für
ein Verhältniswahlrecht eintreten, weil man befürchtete, sonst in der Minderheit zu bleiben. Heute
tritt man für das Mehrheitswahlrecht ein, weil man
hofft, sich mit dessen Hilfe die Zweidrittelmehrheit, die verfassungändernde Mehrheit in diesem
Hause erschleichen zu können. Warum verfährt
man heute nicht nach dem Prinzip, das Herr Adenauer am 27. September 1951 feierlich verkündet
hat, wenigstens in dem Gebiet, für das Sie in der
Gesetzgebung zuständig sind? Sie beweisen ja damit, daß Ihre Prinzipien von damals nicht das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben waren.
({10})
In Punkt 2 dieser damaligen Erklärung hieß es:
Die Freiheit der politischen Betätigung zur Vorbereitung und Durchführung der Wahl wird gewährleistet.
Aber heute bereiten Sie das Verbot der Kommunistischen Partei vor!
Damals sagten Sie in Punkt 5 Ihrer Erklärung: Niemand darf vor, während und nach der Wahl wegen seiner politischen Haltung verhaftet, vorläufig festgenommen, gerichtlich oder dienstlich verfolgt, aus seinem Dienstoder Arbeitsverhältnis entlassen oder sonst zur Verantwortung gezogen oder benachteiligt werden.
({11})
Und heute verfolgen Sie Tausende von aufrechten deutschen Menschen, und Sie möchten jeden bestrafen, der die Kriegspolitik der Adenauer-Regierung ablehnt und für eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands eintritt.
({12})
Heute legen Sie ein faschistisches Versammlungsverbotsgesetz auf den Tisch und lassen zu Hunderten Versammlungen verbieten, nur weil in ihnen das Programm der nationalen Wiedervereinigung und die Ablehnung der amerikanischen Kriegspakte verkündigt wird.
Kommen Sie bitte zum Schluß.
Herr Präsident, ich habe noch zwei Minuten nach der Uhr.
Nein, - Fisch ({0}): Ich glaube, Ihre Uhr geht wieder einmal falsch.
({1})
Das ist die Uhr, nach der sich dieses Hohe Haus richtet, Herr Abgeordneter.
Meine Damen und Herren, am 24. Juni 1909 erklärte der damalige sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht vor dem Preußischen Landtag in einer Wahlrechtsdebatte: „Auf Grund welcher Legitimation vertreten Sie diesen Anspruch? Auf Grund der Verfassung? - Auf Grund des Verfassungsbruchs, auf Grund eines Hochverrats von oben und nichts anderem!" Und um nichts anderes, meine Damen und Herren, als um einen Hochverrat von oben zur Unterdrückung des Willens der Wählerschaft und zur Ermöglichung eines autoritären Herrschaftsregimes handelt es sich hier.
Wir Kommunisten treten für ein Wahlrecht ein, das wirklich frei, demokratisch und gleich ist.
({0}) Wir verlangen in einem Wallgesetz für den Bundestag die Verankerung des Verhältniswahlrechts, das seit je von der deutschen Arbeiterbewegung vertreten worden ist und allein eine gerechte Zusammensetzung des Parlaments entsprechend den abgegebenen Stimmen und entsprechend dem Wählerwillen gewährleistet. Darüber hinaus aber sind wir der Meinung, daß bei aller Sorge um die Garantie eines demokratischen Wahlrechts für den kommenden Bundestag die große nationale Forderung unserer Tage keinen Augenblick in den Hintergrund treten darf, die Forderung nach der Wahl einer deutschen Nationalversammlung, die berufen ist, eine gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten, eine freie unabhängige deutsche Regierung zu bilden und einen Friedensvertrag für Deutschland abzuschließen.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Punkt 4 der heutigen Tagesordnung aufgerufen wurde, war ich der Meinung, daß es sich um eine Wahlrechtsdebatte handelt. Aber die Rede, die Herr Kollege Mellies vorhin gehalten hat, war weniger eine Wahlrechtsrede als eine Wahlrede, und dazu, glaube ich, ist es jetzt noch zu früh. Wir sollten nicht dort, wo man sachliche Argumente vorzubringen hat, mit persönlichen Beschimpfungen aufwarten.
({0})
Man kann gegen den Entwurf der Bundesregierung manches einwenden - und ich selbst werde gegen seine Hilfsstimme beträchliche Gründe vorzubringen haben -, aber man soll nicht damit argumentieren, daß man dem Chef dieses Ressorts Sünden vorwirft, die erstens lange zurückliegen und die er zweitens gar nicht begangen hat.
({1})
- Ich glaube, das werden Sie, Herr Renner, einmal in Anspruch nehmen müssen!
({2})
Wir sind der Meinung, daß es sich hier um ein objektives Wahlgesetz handeln muß, das zu schaffen ist, und wir glauben, daß alle drei Gruppen, die hier Wahlgesetzentwürfe eingebracht haben, dies aus einer lauteren Gesinnung und aus staatspolitischen Gründen getan haben und nicht aus anderen Gründen, die man ihnen nicht unterstellen soll. Mag neben der staatspolitischen Hauptabsicht nebenbei auch einmal eine parteipolitische Nebenabsicht mitspielen - wieweit das der Fall ist, weiß ich nicht, weil ich in die Herzen derer, die den sozialdemokratischen Antrag eingebracht haben, nicht hineinzuschauen vermag -, es wäre immerhin eine menschliche Nebenabsicht, die eben nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht.
Vor allem aber vertreten wir die Auffassung, daß das Wahlgesetz ein Grundgesetz des demokratischen Staates ist, daß es, materiell wenigstens, zu den Verfassungsgesetzen gehört. Deshalb ist es nach unserer Auffassung notwendig, daß dieser erste Deutsche Bundestag ein endgültiges Wahlgesetz schafft, das das, was man die Spielregeln oder die Grundsätze der Demokratie nennt, nun für Jahrzehnte hinaus festlegt, weil ja das Wahlgesetz die politische Führungsschicht unseres Volkes und die Methode ihrer Auswahl prägen wird. Ein dauernder Wechsel des Wahlrechts wäre ein Mittel, die Demokratie in Deutschland in Verruf zu bringen. Wir verstehen nicht, daß die sozialdemokratische Fraktion einem solchen Wechsel das Wort redet und jetzt nur ein vorläufiges Gesetz beschließen, aber im nächsten Bundestag bereit sein will, ein endgültiges Gesetz zu schaffen. Das Gute, das man tun kann, soll man bald und man soll es endgültig tun!
Man kann auch nicht sagen, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu spät eingebracht worden ist; denn es liegt ja an uns, jetzt das Gesetz noch zu schaffen, das schlicht und einfach ist - so einfach wie der Entwurf Wuermeling, der sogar vier Wochen vor der Wahl noch angenommen werden kann und durchführbar ist, weil er für jedermann einsichtig und verständlich ist.
Im übrigen darf ich bemerken, daß der Entwurf Wuermeling vom 16. Juli vorigen Jahres stammt und daß es nur am Ältestenrat dieses Hauses, dem auch die SPD-Fraktion angehört, liegt, daß er nicht schon im September oder Oktober behandelt wurde, wodurch wir weitaus mehr Zeit gehabt hätten. Aber auch die Herren von der Sozialdemokratie wollten wohl erst selbst einen Entwurf einbringen, und das haben sie eben erst vor wenigen Wochen getan - genau so spät wie die Bundesregierung.
({3})
Ich möchte keinen Zweifel darüber lassen, daß meine Freunde, vor allem meine Freunde aus Bayern, einig und geschlossen hinter dem Entwurf Wuermeling, Strauß und Genossen stehen, also hinter dem Entwurf des Mehrheitswahlrechts. Ich glaube, nichts stützt unseren Standpunkt mehr als die Feststellung, daß es in diesem Hohen Hause auch seitens anderer Parteien niemand gibt - es sei denn der Redner der Kommunistischen Partei -, der sich eindeutig und klar für ein offenes Verhältniswahlrecht ausspricht. Wer praktisch noch ein Verhältniswahlrecht will, wie die SPD, tut es, wie bei dem bisherigen Wahlgesetz, hinter der scheinbaren Mehrheitswahlfassade.
Es sind die Fehler von Weimar, es ist das Unglück der französischen Vierten Republik, die uns daran mahnen, nicht wieder zum Verhältniswahlrecht zurückzukehren. Die knappe Redezeit hindert mich daran, die unglückseligen Folgen des Proporzes und auch die Vorteile der Mehrheitswahl so ausführlich darzulegen, wie es an sich notwendig wäre. Ich kann hier auch auf einige Ausführungen meiner Vorredner Bezug nehmen. Aber es scheint mir doch notwendig, klarzustellen, daß das Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik vielleicht nicht der einzige Grund der Machtergreifung Hitlers, aber eine wesentliche Voraussetzung seiner Machtergreifung
war. ({4})
Denn dieses Verhältniswahlrecht führte eben zu jener Zersetzung der Demokratie, die einmal die Regierungsunfähigkeit des Reichstags bedingte und dann im Volk eben die Demokratie so in Verruf brachte, daß sich ein großer Teil dieses Volkes radikalen Parteien zugewandt hat.
Ich habe es nicht nötig zu betonen, daß ich nicht dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt habe; denn da ich 40 Jahre alt bin, wird das ja sowieso von mir niemand annehmen.
({5})
Ich kann auch hinzufügen, daß ich niemals einer Partei angehört habe, die dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hat. Ich bin mit Ihnen einig, daß die Annahme jenes Gesetzes ein Fehler war. Aber dieser Fehler war doch für die Machtergreifung des Nationalsozialismus durchaus nebensächlich, eine Angelegenheit, die erst post festum, erst nachträglich erfolgt ist. Vorher war erfolgt, daß im November 1932 Nationalsozialisten und Kommunisten zusammen 296 von 584 Mandaten errungen hatten, also die Mehrheit, und im März 1933 369 von 647 Mandaten, also wiederum die Mehrheit, daß also dieser Deutsche Reichstag zweimal arbeitsunfähig geworden war, weil Sie, meine Herren von der Kommunistischen Partei, zusammen mit den Nationalsozialisten die Mehrheit des Reichstags bildeten.
({6})
({7})
- Von Eichstätt verstehen Sie gar nichts, meine Herren von der Kommunistischen Partei! Dort haben Sie nicht einmal beim Verhältniswahlrecht ein Mandat im Stadtrat bekommen! Im übrigen darf ich noch auf folgendes hinweisen. Zur Machtergreifung des Nationalsozialismus hat auch wesentlich der Umstand beigetragen, daß diese Partei es eben nicht nötig hatte, in Einzelwahlkreisen Kandidaten herauszustellen, sondern in 36 Wahlkreisen den einen Kandidaten Hitler, der, mit dem Führermythos umgeben, das Volk davor bewahrte, die weiteren Kandidaten sich anzuschauen. Wenn bei dem miserablen Führerkorps der NSDAP in Einmannwahlkreisen hätte gewählt werden müssen, wären von vornherein die Chancen der NSDAP wesentlich geringer gewesen, ganz abgesehen davon, daß die demokratischen Parteien sich gegen sie hätten verbünden können.
Was wir im Jahre 1933 erlebt haben, erleben wir auch nachher, erleben wir auch im kleinen; denn auch die WAV des Herrn Loritz ist nur auf dem Boden des Verhältniswahlrechts denkbar. Und um von der kleinen Politik auf die große zu kommen: Herr Molotow hat auf der Moskauer Konferenz für Bund und Länder in Deutschland gefordert, daß in ihnen nach dem Proportionalwahlsystem gewählt werde. Er weiß, daß es das System ist, die Demokratie zu zersetzen; er weiß, daß bei diesem System am Ende wieder eine radikale Partei herauskommt.
Meine Damen und Herren, man mag formell beide Systeme, Mehrheits- und Verhältniswahl, als zwei demokratische Wahlsysteme bezeichnen. In Wirklichkeit ist der Majorz das Wahlsystem der Demokratie und der Proporz das Wahlsystem der Anarchie.
({8})
Für die Mehrheitswahl, die wir vertreten, spricht in erster Linie der Zwang zur politischen Konzentration. Denn durch die Mehrheitswahl überwinden Sie die Zersplitterung der Parteien, beseitigen Sie die Splitterparteien restlos, was durch eine Fünfprozentklausel, wie dieses Hohe Haus leider beweist, nicht völlig gelungen ist, und Sie beseitigen damit auch die Möglichkeit, daß eine kleine Gruppe ein Zünglein an der Waage bildet und eine Bedeutung erlangt, die ihr nicht zukommt. Allerdings: dieser Zwang zur Konzentration, diese Beseitigung der kleinen Parteien wird nur erreicht, wenn ich das angelsächsische, das relative Mehrheitswahlsystem habe; es wird nicht mit dem absoluten Mehrheitswahlsystem mit Stichwahl erreicht, das zwar einen Teil der kleinen Parteien beseitigt, sie aber, wie der kaiserliche Reichstag vor 1914 gezeigt hat, nicht völlig beseitigen kann. Wir sprechen uns deshalb für eine relative Mehrheitswahl aus und hoffen auch, daß im Ausschuß aus dem Entwurf Dr. Wuermeling, auf dessen Annahme wir vertrauen, jener § 13 gestrichen wird, der für gewisse Fälle eine Stichwahl vorsieht.
Für die Mehrheitswahl spricht zweitens der Umstand, daß die Mehrheitsbildung und damit die Regierungsbildung erleichtert wird. Das konstruktive Mißtrauensvotum, das heute die Folgen der Verhältniswahl beseitigen soll, ist doch nur ein Laborieren an Symptomen. Man soll den demokratischen Staat an der Wurzel gesund machen. Mit der Mehrheitswahl erhalten Sie nach menschlichem Ermessen immer die klaren Mehrheiten, die wir brauchen, um zu regieren.
({9})
Das dritte Argument ist die klare Scheidung zwischen Regierung und Opposition. Koalitionen sind immer ein Übel, weil jeder der Partner dabei etwas abgeben muß. Das Ziel ist, daß eine große Partei regiert und eine andere große Partei kontrolliert. Darin, meine Damen und Herren von der SPD, liegt ja die Chance der Opposition. Wer heute Opposition macht, kann nach der Mehrheitswahl schon bei einer kleinen Stimmenverschiebung draußen im Volk zu einer klaren Mehrheit im Parlament und damit zu der ersehnten Macht und Verantwortung kommen. Immer ist ein Koalitionssystem ein schwaches System, in dem sich die Demokratie leicht verschleißt, zumal dann, wenn, wie in der Weimarer Republik, die Demokraten von links bis rechts, also sozusagen von Mellies bis Dr. Lehr, zusammenstehen müssen, um die Demokratie zu retten, weil eben dann die Gefahr besteht, daß sich alle demokratischen Parteien verschleißen
({10})
und eine antidemokratische Opposition - Ihre nämlich, Herr Renner! - das Rennen macht.
Der vierte Vorzug der Mehrheitswahl sind die kleinen Wahlkreise mit je einem einzigen Abgeordneten, die es ermöglichen, daß Abgeordnete und Wähler in einer engen Verbindung leben. Hier haben wir die persönliche Verantwortung, die Rechenschaft, der jeder Abgeordnete unterzogen wird, und damit auch die Voraussetzung einer innerparteilichen Demokratisierung.
Damit kommen wir zu dem fünften Vorzug: daß die Person im Mittelpunkt des politischen Lebens stehen wird, nicht mehr die Partei. Die Partei ist zwar eine Dienerin und eine Notwendigkeit des politischen Lebens, sie kann aber nicht Hauptträgerin dieses Lebens sein. Die Minderung des Einflusses der Generalsekretariate, der anonymen Mächte, der kapitalistischen und proletarischen Interessenorganisationen wird eben damit erreicht, daß Personen aufgestellt werden, die in der Lage sein müssen, in ihrem Wahlkreis Vertrauen zu erwerben, die also nicht bloß einer Interessengruppe angehören dürfen, und daß man die Kandidaten nicht auf Listen unter dem Einfluß dieser Verbände zusammenstellt.
Der Fortfall des Fraktionszwanges, der mit dem Mehrheitswahlrecht erreicht wird, scheint uns einer seiner größten Gewinne zu sein, ist allerdings vielleicht auch ein Grund, aus dem sich die sozialdemokratische Opposition so sehr gegen das Mehrheitswahlrecht sträubt; sie fürchtet wohl, ihre Schäflein nicht mehr fest im Stall zu haben, wenn das Mehrheitswahlrecht durchgeführt würde.
({11})
Wenn ein sehr geschätzter Redner dieses Hauses vorhin sagte: wenn die Abgeordneten nur noch Wahlkreise verträten, so wäre das Parlament ein amorpher Haufen, so muß ich dieser Meinung doch stark widersprechen. Meine Damen und Herren, die Wahlkreisgesichtspunkte sind doch nur ein Teil der Gesichtspunkte, die politisch formend wirken. Die weltanschaulichen, kulturpolitischen, wirtschaftlichen, außen- und innenpolitischen Formkräfte überwiegen ja weitaus, und England und Amerika zeigen doch, daß sich dort zwei Parteien und zwei Fraktionen gebildet haben. Wer will die Parlamente Englands und Amerikas, die uns Deutschen manchmal haben zum Vorbild dienen können, als amorphen Haufen bezeichnen?!
({12})
Der sechste Vorzug der Mehrheitswahl scheint uns eine Verbesserung des politischen Klimas zu sein, ein Zwang zur Mäßigung. Es gibt todsichere Wahlkreise; aber in den umstrittenen Wahlkreisen - und das sind heute wohl die meisten - sind alle Parteien, die sich darum bemühen, das Mandat zu erhalten, gezwungen, gemäßigte Kandidaten und keine Radikalinskis aufzustellen, während doch im Verhältniswahlrecht jede kleine Partei davon lebt, daß sie noch radikaler, noch grundsätzlicher und noch prinzipieller ist als die anderen, ihr sonst gleichartigen Parteien. Wenn wir uns für die Mehrheitswahl entscheiden, werden wir also auch zu einem besseren politischen Klima kommen.
Ich kann nicht alle Gesichtspunkte anführen, die hier als Einwände gegen die Mehrheitswahl gebracht werden, aber einige wenige will ich nennen:
Es ist nicht wahr, daß das Mehrheitswahlrecht gegen die Gerechtigkeit verstößt! Gerechtigkeit ist keine Sache der Mathematik, ja, die arithmetische Ungerechtigkeit ist ein Vorzug der Mehrheitswahl, weil auf diese Weise eben klare Mehrheiten geschaffen werden und die Regierungsfähigkeit gesichert wird. Regierungsbildung und Gesetzgebung ist aber die Aufgabe des Parlaments, was Sie ({13}) vielleicht nicht einsehen, weil Sie sich daran nicht beteiligen. Demokratie ist kein Spiel mit Zahlen, sondern Persönlichkeitsauslese von unten nach oben. Der Gerechtigkeitsfimmel der „Proporzer" ist nichts als eine gesetzlich sanktionierte politische Sentimentalität; und Sentimentalität ist Dummheit, mindestens in der Politik. Im übrigen scheint mir gerade das Verhältniswahlrecht mit seiner Forderung der arithmetischen, formalen Gerechtigkeit nach dem Spiegelbild der öffentlichen Meinung Ausdruck einer mechanischen Staatsauffassung zu sein, während die Mehrheitswahl als Auswahl einer Person in einem Wahlkreis Ausfluß einer organischen Staatsauffassung ist.
Wenn man uns weiter sagt, gerade Deutschland sei nicht reif für das Mehrheitswahlrecht, so muß ich sagen: Gerade weil bei uns die Gefahr der Zersplitterung größer ist als in England und Amerika, ist das Mehrheitswahlrecht bei uns noch notwendiger als dort. In England würde man mit dem Verhältniswahlrecht vielleicht noch ein arbeitsfähiges Parlament bekommen; wir werden es nicht bekommen.
Man sagt uns weiter: wenn die Mehrheitswahl durchkommt, werden keine Frauen ins Parlament einziehen. Darauf kann ich nur erwidern, daß von uns 24 Abgeordneten der CSU mit absoluter Mehrheit als einziger Kandidat die Frau Kollegin Dr. Probst ins Parlament eingezogen ist. Frau Kollegin Döhring hat den Herrn Bundestagskandidaten Theodor Heuß, den heutigen Bundespräsidenten, geschlagen. Bei der bayerischen Landtagswahl hat eine 32jährige Studienassessorin der SPD einen so routinierten Politiker wie den Justizminister Dr. Müller geschlagen. Sie sehen also, daß die Frauen, wenn sie die notwendige Energie, vielleicht
auch den notwendigen Charme haben,
({14})
durchaus in der Lage sind, sich auch bei Mehrheitswahl durchzusetzen.
Das nächste Argument heißt, es kämen keine Fachleute ins Parlament. Ja, meine Damen und Herren, sind denn wir, die wir in Wahlkreisen gewählt wurden, so viel dümmer als die Kollegen, die auf der Liste gewählt worden sind? Ich glaube,
gerade die Wahlkreise führen dazu, daß keine Theoretiker, aber eben bewährte Männer der öffentlichen Verwaltung, der Kommunalverwaltung usw., in die Parlamente hineinkommen. Man soll auch nicht sagen, wir brauchten auch Fachleute, die nicht reden könnten. Parlament kommt von „parlare". Wer nicht reden kann, gehört so wenig in ein Parlament, wie ein Blinder in ein Kino gehen soll!
({15})
Fachleute, die die Fähigkeit, aufzutreten, nicht besitzen, sollen Ministerialdirektoren, Bankdirektoren oder Gewerkschaftssekretäre werden, aber sie brauchen nicht ins Parlament zu gehen.
({16})
Man sagt uns jetzt: Nun gut, vereinigen wir die Vorzüge beider Systeme und schaffen wir ein Mischsystem! Dazu darf ich sagen, daß Majorz und Proporz strukturell antithetisch sind und eine Mischung deshalb prinzipiell gar nicht möglich ist. Eine Synthese ist nicht möglich; denn in dem Maße, in dem die Gesichtspunkte des einen Systems mit denen des andern vermischt werden, werden die Ziele des einen Systems zunichte gemacht. Es gibt keinen optimalen Kompromiß, es gibt keinen Goldenen Schnitt zwischen beiden Systemen. Es kann sich stets nur um ein faules Kompromiß und um ein kleineres Übel handeln. Wer meint, die wirklichen Vorteile der Mehrheitswahl mit den vermeintlichen des Proporzes zu vereinen und beider Nachteile auszuschalten, hat den Sinn des Mehrheitswahlrechts nicht begriffen. Denn der innere Sinn des Mehrheitswahlrechts wird aufgegeben, je mehr man Gedanken des Proporzes mit ihm vermengt. Man kann eine stabile Mehrheit nur dann erhalten, wenn man das Mehrheitswahlrecht hundertprozentig verwirklicht, und die lebendige Wechselwirkung zwischen Wählern und Gewählten auch nur dann, wenn man kleine Wahlkreise hat und nicht solche mit 200 und 300 politischen Gemeinden, wie wir sie heute besitzen.
Es gibt unter den Mischsystemen, die uns vorgeschlagen werden, echte und unechte. Ein unechtes haben Sie ({17}) uns vorgeschlagen insofern, als bei Ihrem System am Ende die direkt errungenen Mandate angerechnet werden, so daß bei diesem System das Ergebnis so ist, als wenn wir nach dem Proporz gewählt hätten. Ein echtes hat uns die Bundesregierung vorgeschlagen, ein System, bei dem ein Graben gezogen wird: 50 : 50. Deshalb ist der Regierungsentwurf prinzipiell um einige Grade besser als der Ihrige, wenn er praktisch auch durch die Hilfsstimme wieder verschlechtert worden ist. Dieses unechte System, das Sie uns vorschlagen, führt letztlich zu nichts anderem als dazu, daß dieses Parlament wieder so aussieht, wie es ausgesehen hätte, wenn nach dem System der Weimarer Zeit gewählt worden wäre. Wir möchten uns klar und deutlich gegen jedes Tarnsystem, gegen jedes unechte Mischsystem wenden, zugleich aber betonen, daß wir uns auch mit dem echten Mischsystem nicht zufrieden geben können, vielmehr die volle Verwirklichung des Mehrheitswahlrechts fordern und uns nur im äußersten Fall danach richten können, daß ein echtes Mischsystem in dem Grade den Vorzug gegenüber dem proportionalen System oder dem jetzt von der SPD vorgeschlagenen System verdient, als der Graben zwischen den in direkter Wahl gewählten Abgeordneten und den Listenabgeordneten tief und unüberbrückbar gemacht wird.
({18})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist mit sehr großem Fleiß gemacht worden. So hat man wohl das komplizierteste Gesetzesgebäude hingestellt, das es im Wahlrecht in Deutschland je gegeben hat.
({19})
Das Ministerium Lehr ist überhaupt ein fleißiges
Ministerium. Wenn es hier wie auch in anderen
Fällen nicht vom Genius geküßt worden ist, dann
ist das vielleicht nicht Schuld, sondern Schicksal;
({20})
aber dieses Schicksal, Herr Schoettle, teilt das Ministerium ja mit Ihnen, denn Ihr Entwurf für die Bundestagswahlen ist bestimmt nicht genial und nicht einmal mit sehr viel Fleiß gemacht. Sie haben bloß ein altes System abgeschrieben, und das das hat schon in der Schule nicht gezählt.
({21})
Ich darf noch einmal wiederholen, daß eben das SPD-System in seinem Ergebnis zu nichts anderem führt als das Proporzsystem, das wir früher hatten, und daß, abgesehen von der 5-%-Klausel, auch dieses Hohe Haus nicht anders aussieht, als es aussehen würde, wenn es nach dem Weimarer System gewählt worden wäre. Damit, daß 60 % direkt gewählt werden und 40 % indirekt, daß aber die direkten Mandate angerechnet werden, kommt jede Partei gleichmäßig zum Zuge, ganz gleich, ob sie sich im Wahlkreis durchgesetzt hat oder nicht. Das hat zur Folge, daß die Mehrheitswahl gar keine echte Mehrheitswahl mehr ist, sondern allein ein Zuteilungsprinzip für Mandate innerhalb der großen Parteien. Für die kleinen Parteien spielt es überhaupt keine Rolle. Folglich ist das von Ihnen vorgelegte Wahlrecht in seinen mehrheitswahlrechtlichen Bestandteilen nur eine Potemkinsche Kulisse, denn die Wahl im Wahlkreis bringt eben nicht die Entscheidung, sondern ist nur die Methode des Auswählens und der Zuteilung der Mandate. Außerdem bringt dieses Ihr System zwei Sorten von Abgeordneten: die, die dem Volk bekannt und durch die Vordertür in dieses Haus hineingewählt worden sind, und diejenigen, die dem Volk nicht bekannt sind und durch die Hintertür einer Landesliste ins Parlament gekommen sind. Das, meine Damen und Herren, scheint uns vom Standpunkt des Wählers aus nicht erfreulich. Wir lehnen also Ihren Entwurf mit voller Entschiedenheit ab.
Ich darf mich jetzt zu dem Regierungsentwurf äußern. Meine Freunde von der CSU haben zunächst Bedenken dagegen, die Zahl der Mandate von 400 auf 480 zu erhöhen. Wir sind der Auffassung, daß die Qualität eines Parlaments nicht mit seiner Quantität steigt und daß man die Frage der Schaffung eines europäischen Parlaments ebenso wie die Frage der Doppelmandate in Bundesparlament und Länderparlamenten dadurch regeln sollte, daß man Doppelmandate nicht zuläßt. Im übrigen anerkennen wir den guten Gedanken der Bundesregierung, keine Anrechnung der Mandate, die direkt errungen worden sind, vorzunehmen und damit einen tiefen Graben zwischen den beiden Methoden der Auslese von Kandidaten zu schaffen. Wir bedauern aber, daß damit die großen Wahlkreise, die kaum zu bewältigen sind, bleiben. Wir haben auch Bedenken gegen jeden internen Proporzausgleich, der praktisch doch wieder den kleinen Parteien das Tor dieses Hauses öffnet.
Unser eigentliches, unser Hauptbedenken richtet sich aber gegen die Hilfsstimme, die dieses System so kompliziert und so undurchschaubar macht, daß niemand in der Lage ist, zumindest niemand, der nicht Jurist oder Versicherungsmathematiker ist, zu beurteilen, wie die Dinge schließlich und endlich aussehen werden. Wir vertreten die Auffassung - und ich glaube, das läßt sich nicht leugnen -, daß für die große Mehrheit unseres Volkes jede Wahl die Wahl eines kleinsten Übels ist, daß man aber den Wähler nicht dazu bringen kann, sowohl das kleinste Übel zu wählen, gleichzeitig aber auch ein größeres. Es ist einfach nicht denkbar, daß der Wähler einen Mann ankreuzt, den er wählen will, und zugleich einen andern, den er nicht wählen will. Das scheint uns eine Spekulation auf eine Art Schizophrenie des Wählers.
({22}) Meine Damen und Herren, Geisteskranke sind ja nach § 3 des gleichen Wahlgesetzentwurfs von der Wahl ausgeschlossen.
({23})
Man kann auch nicht sagen, daß das bayerische Kommunalwahlrecht ein schwierigeres System kennt. Sie haben in einer bayerischen Stadt die Möglichkeit, etwa 20 Leute zu wählen. Das sind noch mehr Stimmen. Aber Sie wählen 20 Leute, die Sie wollen und nicht einen, den Sie wollen, und einen, den Sie nicht wollen.
Außerdem haben wir Bedenken dagegen, daß nach diesem System der Hilfsstimme am Ende auch ein Mann gewählt werden kann und als gewählt gilt, der von den Hauptstimmen nur die dritt- oder viertmeisten hat, der also zweimal oder dreimal geschlagen worden ist. Das scheint uns ein undemokratischer Gedanke zu sein. Eine Vorverlegung der Stichwahl ist nicht möglich, weil niemand weiß, wer unter den beispielsweise sechs Kandidaten schließlich im Rennen bleiben wird. Der Wähler muß wissen, wen er wählt. Über die Hauptstimme verfügt er in Kenntnis der Verhältnisse, über die Hilfsstimme in Unkenntnis der Verhältnisse. Eine Wahl ins Ungewisse ist keine echte Wahl. Deshalb lehnen wir von der CSU die Hilfsstimme als ausgefallenste und unglückseligste Idee der deutschen Wahlrechtsgeschichte ab.
Wenn man den Entwurf der Bundesregierung konsequent zu Ende durchdenkt, bleibt nichts anderes übrig als eine Stichwahl. Auch gegen sie sprechen viele Bedenken, aber sie ist wenigstens verfassungsmäßig und demokratisch unangreifbar. Im übrigen vertreten w'r die Meinung. daß auch hier statt der Stichwahl die relative Mehrheitswahl das beste wäre, denn die eigentliche Integration, von der man heute so gern spricht, erfolgt ja nicht dadurch, daß eine Auswahl in der Stichwahl vorgenommen wird, sondern dadurch, daß man sich vorher in der Stichwahl innerhalb der Parteien zu großen Blöcken einigt, damit auf diese Weise ein Wenigparteiensystem in Deutschland entsteht.
Ich muß zum Schluß kommen. Ich weiß, daß die Freie Demokratische Partei und die Sozialdemokratische Partei den Entwurf Dr. Wuermeling nicht zu billigen vermögen. Ich möchte mich deshalb nicht an sie wenden, aber ich möchte mich an ihre Abgeordneten wenden, an ihr staatspolitisches Gewissen, an die einzelnen Abgeordneten der Freien Demokratischen Partei und der Sozialdemokratischen Partei. Ungefähr 150 Abgeordnete dieses Hauses haben sich vor ihrer Wahl schriftlich zum Mehrheitswahlrecht bekannt, darunter 9 aus der Freien
({24})
Demokratischen Partei und 29 aus der Sozialdemokratischen Partei. Wir werden Ihnen Ihr Bekenntnis zu den Grundsätzen, die Sie Ihren Wählern versprochen haben, dadurch erleichtern, daß wir Sie in der zweiten Lesung zu einer namentlichen Abstimmung auffordern. Dann können Sie ja zeigen, ob Sie Ihrem Gewissen oder einer höheren Order folgen.
Jemand hat gesagt, wir Anhänger des Mehrheitswahlrechts seien nicht nur Idealisten, sondern sozusagen weltfremde Ideologen. Ich möchte das bestreiten. Ich glaube, wir sind die wahren Realisten, weil wir die Wirklichkeit, die sehr schwierigen Verhältnisse unseres Volkes, kennen und sie mit der Mehrheitswahl meistern wollen, und zwar heute und nicht morgen. Wir können die Dinge nicht verschieben, wie es Herr Dr. Menzel meint; wir müssen uns heute und hier entscheiden. Hic Rhodus, hic salta!
Dieser Bundestag hat die Verantwortung. Die Frage: Mehrheitswahl oder Verhältniswahl ist für uns nicht eine Frage der graduellen Unterschiede, nicht ein Weg, den man beliebig so oder so zu gehen vermag. Die Frage: Mehrheitswahl oder Verhältniswahl ist die entscheidende Frage für Zukunft oder Untergang der deutschen Demokratie!
({25})
Das Wort hat der Abgeordnete von Aretin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war zu erwarten, daß der Schatten des kommenden Wahlkampfes die Wahlrechtsdebatte belasten wird. Daß allerdings das Gespenst der an akuter Herzschwäche gestorbenen Weimarer Republik, die Harzburger Front und das Ermächtigungsgesetz bemüht wurden, das beweist, daß für den kommenden Wahlkampf das Wahlrecht bereits Gegenstand des Kampfes sein wird. Das ist eine untragbare Hypothek für unsere eben im Entstehen begriffene, eben Wurzel fassende Demokratie. Das Vertrauen der Wähler in ein gerechtes, in ein freie Chancen gewährendes Wahlrecht muß unter allen Umständen gewährleistet sein. Das Vertrauen scheint uns am ehesten dann gegeben zu sein, wenn die logische und konsequente Fortentwicklung des alten Wahlrechts zugrunde gelegt wird, wobei sehr wohl Momente des Mehrheitswahlrechts einbezogen werden können.
Lassen Sie mich wegen der Kürze der Zeit nur noch zwei Gedanken aufzeigen. Der Wähler bestimmt - und nicht der Wahlarithmetiker - das Gewicht und die Auswirkung der Stimme. Die Wählerstimme muß eigene Stimmentscheidung bleiben und darf nicht Börsenpapier des Parteihandels werden. Daher richtet sich mein schwerstes Bedenken gegen den vorgeschlagenen inneren Proporz in dem Regierungsentwurf.
Des weiteren darf der Mehrheitskandidat nicht Lockvogel iur eine dem Wähler unbekannte Liste sein. Es sind ganz verschiedene Überlegungen, die im Wahlkreis zur Stimmabgabe führen. Der Wähler, der zur Wahlurne geht, überlegt sich, ob er den Mann seines Vertrauens wählt oder ob er eine politische Entscheidung für eine Liste in dieser oder jener Richtung treffen will. Diese Überlegungen waren bei der Gestaltung des bayerischen Landtagswahlrechts maßgebend und haben sich dort glänzend bewährt. In Bayern hat der Wähler die Möglichkeit, in reiner Mehrheitswahl dem
Stimmkreisvertreter seine Stimme zu geben, den er sich als Vertreter seines Landkreises wünscht; und er gibt mit einer zweiten Stimme derjenigen Partei die Stimme, deren parteipolitische Richtung ihm zusagt. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der mit der Angelegenheit befaßte Ausschuß diesen Grundgedanken des bayerischen Wahlrechts mindestens prüfte.
Landesparteien dürfen nicht unterbunden werden, da sie der deutlichste Ausdruck des im Grundgesetz garantierten föderalen Aufbaues unserer Bundesrepublik sind.
Es sind heute Worte gegen die Hilfsstimme gefallen. Die Hilfsstimme ist verstorben. Ich habe nicht bemerkt, daß ihr in diesem Hause irgendeine Träne nachgeweint worden ist. Möge auch die Stichwahl einen ähnlichen jähen Tod finden. Sie sagen, die relative Wahl sei in Wirklichkeit Minderheitswahl. Ich möchte Ihnen entgegenhalten, daß die Stichwahl eigentlich nur eine verlogene Mehrheitswahl ist. Denn der richtige politische Wille wird da wirklich durch Zweckmäßigkeitsüberlegungen übertüncht. Die Stichwahl führt im letzten dazu, daß eine kleine Gruppe in den Wahlkreisen den Ausschlag gibt. Wir sind uns, glaube ich, in diesem Hause darüber einig, daß das Ge-. wicht der kleinen Gruppen möglichst beschränkt werden sollte. In der Stichwahl bekommt jedoch gerade die kleine Gruppe den Vorrang und entscheidet über den Abgeordneten. Auf diese Unlogik möchte ich hier energisch hingewiesen haben. Ich wollte Sie bitten, diese Argumente zu prüfen.
Noch ein Hinweis. Die Wahl zum Bundestag soll ja auch mit der Wahl zu europäischen Gremien kombiniert werden. Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß die Grundsätze, die für die europäische Wahl aufgestellt werden, auf unser eigenes Wahlrecht abfärben.
Meine Damen und Herren, es wäre wohl die größte Niederlage unserer kommenden Demokratie, wenn das Wahlgesetz durch eine Kampfabstimmung hier durchgesetzt werden müßte. Es muß gelingen, einen Kompromiß zwischen den Auffassungen dieses Hauses zu finden; sonst wird nämlich der Tag der Bundestagswahl zu einem Scherbengericht, anders ausgedrückt: zu einem finsteren Tag unserer Entwicklung werden, während die Klugheit, die Mäßigung und das staatsmännische Bewußtsein dieses Hohen Hauses sehr leicht die Grundlage für eine bessere Entwicklung schaffen könnten.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Clausen.
Clausen ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Begründung zum Wahlgesetzentwurf der Bundesregierung wird gesagt, daß das Proporzsystem der Weimarer Zeit zu einer verhängnisvollen Parteizersplitterung geführt habe und daß das bisherige Wahlgesetz mit seiner Sperrklausel die disintegrierende Wirkung eines Verhältniswahlsystems nicht aufhebe. Mit klaren Worten gesagt, will das neue Gesetz also das Aufkommen der Splitterparteien verhindern und die Bildung neuer kleiner Parteien ausschalten. Der Südschleswigsche Wählerverband als politische Organisation der dänischen Minderheit einschließlich der dänisch gesinnten Friesen gehört nun wohl zu den kleinen Parteien, aber nicht zu den Splitterparteien. Der Südschleswigsche Wäh({1})
lerverband stellt etwas anderes als eine der politischen Parteien in der Bundesrepublik dar. Seine Tätigkeit ist nach den Satzungen und den politischen Verhältnissen an der Grenze im Norden ausschließlich auf cïen Landesteil Südschleswig begrenzt. In keinem demokratischen Staat kann eine nationale Minderheit mit einer Splitterpartei gleichgesetzt werden, ohne daß damit ein ernsthafter Verstoß gegen die international anerkannten Freiheitsrechte nationaler Minderheiten erfolgt.
Diese Auffassung ist durch die völlig klare und eindeutige Äußerung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfassungsstreit des Südschleswigschen Wählerverbandes mit der schleswig-holsteinischen Regierung bezüglich der 71/2%-Klausel bestätigt worden. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich einige Sätze aus der Urteilsbegründung zitieren. Darin heißt es:
Der Südschleswigsche Wählerverband vereinigt ein Fünftel der Stimmen auf sich in diesem Landesteil, der geschichtlich ein besonderes Schicksal gehabt hat, der geographisch klar abgegrenzt ist und dessen kulturelles Gesicht durch eine nationale Minderheit mit geprägt wird. Eine solche Partei ist keine Splitterpartei. Will man Splitterparteien durch gegen sie gerichtete, geeignet erscheinende Maßnahmen ausschalten, so darf man nationale Minderheiten in diese Gruppen nicht mit einbeziehen.
Soweit das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Der Südschleswigsche Wählerverband kann daher nicht in die Gruppe der Splitterparteien eingegliedert werden. Die betreffenden Bestimmungen des Gesetzes dürfen also nicht gegen den Südschleswigschen Wählerverband gerichtet sein.
Die kulturellen Angelegenheiten der dänischen Minderheit einschließlich der nationalen Friesen werden zwar im Einvernehmen mit der schleswigholsteinischen Landesregierung auf der Grundlage des 1949 abgeschlossenen sogenannten Kieler Abkommens geregelt; der Südschleswigsche Wählerverband hat im Schleswig-Holsteinischen Landtag eine Fraktion, die aus vier Abgeordneten besteht. Ich weise aber darauf hin, daß die Gesetze, die der Deutsche Bundestag beschließt, auch für die dänische Minderheit Geltung haben und von ihren Mitgliedern befolgt werden müssen, und daß die Mitglieder auch ihre Bundessteuern zahlen.
Wir müssen daher bei Aufbringung einer angemessenen Stimmenzahl die Forderung auf eine Vertretung im Deutschen Bundestag erheben. Ich bitte, bei den Verhandlungen im Ausschuß - falls der Gesetzentwurf einem Ausschuß überwiesen werden sollte - einen entsprechenden Absatz einzufügen, so daß der Südschleswigsche Wählerverband bei Erreichen einer angemessenen Stimmenzahl einen Vertreter erhält. Ich bitte, mir zu gestatten, bei den kommenden Verhandlungen im Ausschuß als Gast teilzunehmen und dort Anträge zu stellen und zu begründen.
Die Stellungnahme der dänischen Minderheit zum Bundeswahlgesetz wurde dem Herrn Bundeskanzler, dem Herrn Bundesinnenminister und dem Herrn Bundesjustizminister bereits am 25. November vorigen Jahres übersandt. Ich habe mir weiter erlaubt, diese Stellungnahme den Damen und Herren des Hohen Hauses zuzustellen, so daß die von mir vorgetragenen Gesichtspunkte keineswegs neu und unbekannt sein dürften.
Ich glaube, daß dieses Hohe Haus es für selbstverständlich ansieht, daß den Anregungen des Herrn Abgeordneten Clausen Rechnung getragen wird und daß niemand Einwendungen dagegen erheben wird, wenn er den Sitzungen des Ausschusses als Gast beiwohnt und dort Anträge stellt.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Freudenberg.
Freudenberg ({1}): Meine Damen und Herren! Ich bin meinem Freund Schäfer - ich darf ihn ja wohl noch so nennen - dankbar, daß er als erster die Diskussion am heutigen Vormittag auf eine wirklich sachliche Grundlage gestellt hat. Ich bin überzeugt, Kollege Schäfer, daß sich, wenn die verschiedenen Anträge an den Ausschuß überwiesen sind und dann im Ausschuß Gründe und Gegengründe sachlich durchgesprochen werden, die Meinungen sehr zugunsten der Vorlage Drucksache Nr. 3636 wandeln werden. Die Gegengründe, die auch Sie angeführt haben, sind in keiner Weise stichhaltig. Aber ich will mich darauf jetzt nicht einlassen, denn darüber haben wir im Ausschuß Gelegenheit zu sprechen.
Ich möchte ein sehr ernstes Wort an Sie, Herr Mellies, und an Ihre Freunde richten. Ich glaube, daß Sie sich in einem starken Widerspruch befinden, wenn Sie sagen, dieser Bundestag solle jetzt nicht mehr diese Wahlvorlage behandeln, und auf der andern Seite erklären, daß der Parlamentarische Rat mit Recht diese Entscheidung dem ersten unmittelbar gewählten Parlament zugewiesen habe. Ich glaube, daß es uns nicht erspart bleibt, daß dieses Parlament die Entscheidung trifft. Sie kann und darf nicht getroffen werden - auch unmittelbar vor Wahlen - unter dem Gesichtspunkt, was der einen oder der andern Machtgruppe dient, sondern sie kann und darf nur getroffen werden im Interesse derer, für die wir wirklich zu handeln haben: im Interesse der Wähler, im Interesse des deutschen Volkes.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Scharnberg hat mich gleich zu Beginn seiner Ausführungen einer unwahren Berichterstattung über das Zustandekommen des Wahlgesetzes von 1949 bezichtigt. Ich darf dazu feststellen, daß ich bei der Begründung des sozialdemokratischen Gesetzentwurfs nach dem Stenogramm - und zwar zu den Abgeordneten der CDU/CSU gewandt - folgendes erklärt habe:
Sie sind heute so gegen den Entwurf der SPD, und Sie verschweigen schamhaft, daß dieser Entwurf - ich sagte es vorhin schon - auf dem Wahlgesetzentwurf von 1949 aufbaut, den Sie doch alle durch Ihre Länderministerpräsidenten mitgemacht haben.... Die Länder haben 1949 durch ihre Ministerpräsidenten - auch
durch die, die politisch zu Ihnen gehören dieses Gesetz akzeptiert.
({0})
Meine Damen und Herren, an Stelle dieser polemischen Anwürfe hätte uns von der Sozialdemokratie viel mehr interessiert, einmal von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, noch mehr aber von dem Herrn Bundesinnenminister zu
({1})
hören, was denn nun eigentlich in der Zwischenzeit aus dem Regierungsentwurf geworden ist.
Der Herr Vizepräsident des Hohen Hauses, Herr Kollege Dr. Schäfer, hat sich ja sehr reserviert gegenüber diesem Entwurf geäußert, und Herr Kollege Jaeger hat ihm - zumindest zum erheblichen Teil - eine klare Absage erteilt. Und wenn die Zeitungen nicht völlig falsch berichten, hat es in der letzten Woche im Kabinett erhebliche Auseinandersetzungen, um nicht zu sagen einen solennen Krach darüber gegeben, was denn nun aus dem Regierungswahlgesetzentwurf werden solle. Ob also die Regierung heute überhaupt noch an ihrem Entwurf festhält, weiß niemand. Ich darf daher die Bitte wiederholen, der Herr Bundesinnenminister möchte doch die Öffentlichkeit einmal darüber aufklären, ob die Regierung noch bei ihrem - wie er genannt worden ist - Wechselbalg bleibt. Dieses Hin und Her bei dem Wahlgesetzentwurf erinnert an jenen Zweizeiler von Schiller, der den ewigen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Erfüllung formuliert hat:
In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,
Still auf gerettetem. Boot treibt in den Hafen der Greis.
({2})
Dieses Durcheinander bei der Regierung und den Regierungsparteien ist durchaus verständlich. Man braucht sich nur einmal zu überlegen, wie dieser Gesetzentwurf durch Haupt- und Hilfsstimmen, durch Teil- und Gesamtlistenverbindungen, durch einen äußeren und inneren Proporz ein heilloses Wirrwarr schafft; und dabei sollte eine solche Gesetzesvorlage über das Wahlrecht für den einzelnen Wähler klar und übersichtlich sein. Dieses Durcheinander läßt sich am besten durch zwei Beispiele der amtlichen Begründung demonstrieren. In der amtlichen Begründung zu dem merkwürdigen Instrument der Hilfsstimme heißt es unter anderem, wenn in einem Wahlkreis auf die Partei A 25 000 Stimmen, auf die Partei B 20 000 Stimmen und auf die Partei C 10 000 Stimmen entfielen und wenn dann von der Partei B 4000 Wähler ihre Hilfsstimme für A und von der Partei C 6000 Wähler ihre Hilfsstimme für B gäben, dann werde - immer nach der amtlichen Begründung - A 29 000 und B 26 000 Stimmen haben, d. h. A hätte die meisten Stimmen und müßte nach dem Grundsatz der von Ihnen proklamierten Mehrheitswahl als gewählt gelten. Aber was macht hieraus der Regierungsentwurf? Er denkt gar nicht daran, den Kandidaten A als gewählt anzuerkennen: In solchem Fall dürfen - so meint die Regierung - nur die 6000 Stimmen von C zugunsten von B gelten, aber nicht die 4000 Hilfsstimmen von B zugunsten des A; und wenn Sie sich dann die Sache bei Licht ansehen, ist plötzlich nicht der Kandidat gewählt, der 29 000 Stimmen hat, sondern der, der 26 000 Stimmen erhält.
({3})
Es wird niemand sagen wollen, daß es der Wille der Wähler sei - und zwar derjenigen Wähler, die von ihrer Hilfsstimme Gebrauch gemacht haben -, zugunsten der Hilfsstimmen anderer Wähler auf ihre eigene Hilfsstimme zu verzichten.
Ein zweites Beispiel aus der amtlichen Begründung. Die verfassungsrechtlichen Schlußfolgerungen sollen gleich gezogen werden. Nach dieser amtlichen Begründung - ich darf mit Erlaubnis des
Herrn Präsidenten einige Sätze aus der amtlichen, wobei ich dieses Wort unterstreiche, Begründung verlesen - soll der Listenausgleich wie folgt durchgeführt werden. Der Herr Bundesminister des Innern erklärte, diese Begründung sei klar und verständlich!
Das Auszählverfahren geht wie folgt vor sich: Zunächst wird für jede Bundesliste die Zahl der auf sie entfallenden Stimmen ermittelt. Sodann werden die Gesamtzahlen der Stimmen zusammengezählt, die auf die durch Listenverbindung zusammengeschlossenen Gruppen entfallen. Nach dem Höchstzahlverfahren wird nunmehr die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Bundeslisten und Verbindungen ({4}) und sodann die Unterverteilung der den Verbindungen zugefallenen Sitze auf die beteiligten Bundeslisten vorgenommen. Dann werden die Sitze innerhalb der Bundesliste auf die einzelnen Landeswahivorschläge verteilt und dort den Bewerbern in ihrer Reihenfolge zugewiesen.
Meine Damen und Herren, wer von Ihnen hat das verstanden? Das nennt sich nun ein einfaches, klares und übersichtliches Wahlrecht!
Was folgt aus diesen beiden Beispielen? Ich will mich zunächst auf die verfassungsrechtlichen Konsequenzen beschränken. Das amtliche Beispiel über die Verwertung der Hilfsstimmen zu § 8 - daß also nur in bestimmten Fällen alle Hilfsstimmen gerechnet werden, in einigen Fällen aber nicht - beweist zunächst, daß hier der Grundsatz der Gleichheit bei der Wahl ganz eklatant verletzt ist;
({5})
denn és gibt bei den Wahlgängen in den einzelnen Wahlkreisen - auch nach Auffassung der Bundesregierung - Fälle, in denen nur ein Teil der abgegebenen Hilfsstimmen zum Zuge kommen darf und ein anderer Teil nicht.
Die zweite Verletzung liegt in der Nichtbeachtung des Art. 38 des Grundgesetzes. Art. 38 verlangt in Anlehnung an die Vorschriften der Weimarer Verfassung freie Wahlen. Aber freie Wahlen heißt nicht nur, daß kein äußerer Zwang, daß kein Terror sein darf, es heißt vor allem auch, Freiheit der Wähler von dem Gewissenszwang, ob sie überhaupt und wen sie wählen sollen. Nach dem Regierungsentwurf ist der Wähler zwar frei darin, wen er wählen will, aber er ist nicht frei, ob er auf das Recht der Hilfsstimme verzichtet oder nicht. Hier nämlich wird der Wähler unter einen Gewissenszwang gestellt. Er muß, wenn er einer Partei angehört, die keine wesensgleiche andere Partei neben sich hat, auf das Recht der Hilfsstimme verzichten, oder er wird gezwungen - um nicht gegenüber anderen Wählern benachteiligt zu sein -, einer anderen Partei, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, seine Hilfsstimme zu geben. Damit fördern Sie übrigens die politisch Labilen, die Lauen; Sie fördern diejenigen, denen es im Grunde genommen gar nicht so wichtig ist, ob diese oder jene Partei gewählt wird; Sie fördern diejenigen, die gern bereit sind, ihr Mäntelchen nach dem Winde zu hängen, während Sie denjenigen, die aus der Tradition ihrer politischen Vergangenheit ein klares politisches Vorstellungsbild von dem haben, was sie erreichen wollen, praktisch nicht die Möglichkeit geben, von ihrer Hilfsstimme Gebrauch zu machen. Die Bundesregierung meint - Kollege Wuermeling hat das an anderer Stelle wieder({6})
holt -, es bestünde doch die Möglichkeit, daß ein Wähler draußen seine Stimme für eine Partei der jetzigen Regierung und seine Hilfsstimme für einen SPD-Abgeordneten abgebe. Aber ist es nicht grotesk, ein Wahlrecht zu machen, wonach ein Wähler bei der entscheidenden Wahl 1953 sagen kann: „Ich bin für die Regierung Adenauer; hilfsweise bin ich. dagegen."?
({7})
Die Benachteiligung bei diesem System der Hilfsstimme - es fällt uns auf, daß man auf sie in der Aussprache nicht mehr zurückgekommen ist - trifft natürlich auch die heute zur Regierungskoalition gehörenden Parteien FDP und DP; denn mit ihren Hilfsstimmen - das ist ja auch die Absicht des Gesetzentwurfs - werden in den einzelnen Wahlkreisen mehr CDU-Abgeordnete gewählt werden als umgekehrt Abgeordnete der FDP und DP durch Stimmen der CDU-Wähler. Der Ausgleich soll nun über den merkwürdigen neuerfundenen inneren Proporz geschehen. Damit schaffen Sie praktisch einen Zwang zur Listenverbindung. Denn was bleibt der FDP und DP anders übrig, wenn sie ihre Hilfsstimmen im Wahlkreis der CDU geben sollen, als eine Listenverbindung einzugehen, weil sonst ihre Stimmen restlos und endgültig verlorengehen?
Dieses Wahlgesetz der Bundesregierung widerspricht aber auch dem von der Verfassung geforderten Grundsatz der unmittelbaren Wahl. Nach dem Regierungsentwurf wählt der Wähler über seine Hauptstimme vielleicht einen Kandidaten der CDU, über die Hilfsstimme vielleicht - er weiß das vorher nicht - einen Kandidaten der FDP, durch die merkwürdige neue Art der Teillistenverbindung wählt er vielleicht einen DP-Abgeordneten und schließlich durch die Gesamtlistenverbindung vielleicht einen Abgeordneten der Bayernpartei. Aber damit nur kein Rest an Gewißheit für ihn verbleibt, was aus seiner Stimme wird, kann es ihm passieren, daß er als süddeutscher liberaler Wähler plötzlich einen Kandidaten der schwarz-weiß-roten nationalen Rechten in Nordrhein-Westfalen gewählt hat, die dort mit Herrn Dr. Middelhauve eine Fraktionsgemeinschaft eingegangen ist.
({8})
Da noch von unmittelbaren Wahlen zu sprechen, - ich glaube, das ist verfassungsrechtlich überhaupt nicht zu verteidigen. Man kann schließlich auch zu diesem System sagen:
Rechte Hand, linke Hand, alles vertauscht,
Wahlrecht, wie schaust du mir wunderlich aus!
({9})
Dabei ist es nicht ohne Reiz, daß ausgerechnet diejenige Partei, die sich sonst nicht genug für das Persönlichkeitswahlrecht einsetzt, durch dieses System praktisch keine Persönlichkeiten wählen läßt, sondern den Wähler zwingt, seine Stimme in der Gewißheit in den Kasten zu geben, daß er nicht weiß, wer daraufhin gewählt wird.
({10})
Nach § 12 des Gesetzentwurfs ist die Durchführung der Wahl Bundessache. Mit Recht hat der Bundesrat hierin eine Verletzung des Art. 83 des Grundgesetzes gesehen, wonach die Durchführung von Bundesgesetzen Aufgabe der Länder ist. Der Regierungsentwurf sieht darüber hinaus weder bundeseigene, noch eine Auftragsverwaltung vor. Er versucht, eine völlig neue, in der Verfassung nicht bekannte Form einer Verwaltung zu schaffen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Länder, die auch 1949 die Wahlen durchgeführt haben, das nicht auch 1953 tun sollten.
Die Regierung hat demgegenüber darauf hingewiesen, die Wahl zum Bundesparlament sei aus ihrer ganzen staatsrechtlichen Natur heraus eine Bundessache, weil es sich dabei um die Bildung eines Bundesorgans handle. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß auch 1949 die Länder die Wahlen durchgeführt haben. Auch in den Vereinigten Staaten wird die Wahl nicht von der Föderation, sondern von den einzelnen Ländern durchgeführt.
Wir haben daher keinen Zweifel, daß so wesentliche und offenkundige Verstöße gegen die Art. 3 und 38 des Grundgesetzes vorliegen, daß der Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe den Regierungsentwurf in der heutigen Fassung für ungültig erklären wird.
Die Einrichtung eines Sonderausschusses lehnen wir ab. Wir sehen keine Veranlassung, dem seit Jahren für die Fragen der Innenpolitik zuständigen Ausschuß für innere. Angelegenheiten plötzlich dieses Sachgebiet zu entziehen.
({11})
Der Ausschuß für innere Angelegenheiten hat in guter Zusammenarbeit aller darin vertretenen Fraktionen die ihm bisher überwiesenen Aufgaben korrekt und pünktlich, viel pünktlicher als andere Ausschüsse, erledigt.
({12})
Außerdem möchte ich noch folgendes sagen. Als wir neulich, im Dezember, bei der Beratung über die Gleichberechtigung der Frauen den Sonderausschuß deshalb erbaten, weil der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht überlastet sei und daher die Beratung des Gesetzes über die Gleichberechtigung der Frau nicht rechtzeitig bis zum 1. April dieses Jahres zu Ende führen könne, haben Sie die Errichtung eines Sonderausschusses abgelehnt. Es würde uns interessieren, warum Sie in diesem Sonderfall von der alten Regel, daß jeder Ausschuß seine Sachgebiete zur Behandlung bekommt, abweichen wollen.
Ich darf nach diesen, verständlicherweise etwas trocken wirkenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten noch einige allgemeine Hinweise bringen. Ich habe bereits bei der Begründung unseres Gesetzentwurfes auf die Vorgänge bei den Nachwahlen zum jetzigen Bundestag verwiesen. Da haben Sie durch Blockbildungen den Wähler zu übertölpeln versucht, haben ihm klarzumachen versucht, der Unterschied zwischen den einzelnen Regierungsparteien sei ja gar nicht so groß, man könne daher beruhigt einen gemeinsamen Kandidaten aufstellen. Diese Überrumpelung ist nicht überall geglückt. Weil Ihnen das nicht geglückt ist, haben Sie nun Angst, künftig in den einzelnen Wahlkreisen mit der gleichen Methode der Wahlbündnisse zu arbeiten. Daher scheuen Sie das System der Listenverbindung in den Wahlkreisen; das wollen sie nach der Wahl machen, also hinter dem Vorhang, und dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Über die Listenverbindungen wollen Sie die Stimme des Wählers nicht dort lassen, wohin sie der Wähler haben will, Sie wollen sie dahin manipulieren, wohin sie die Bundesregierung haben zu müssen glaubt. Man marschiert zunächst getrennt, um den Wähler zu locken, und sobald die Stimme im Kasten ist, wird mit ihr nicht das gemacht, was sich der Wähler dabei gedacht hat.
({13})
In der heutigen Debatte ist schon davon gesprochen worden, daß die Absicht der Regierung offenbar dahin ginge, sich auch im neuen Bundestag an der Macht zu halten. Man hat das bestritten. Unser verehrter Herr Bundestagspräsident hat sich zu den Vorhaltungen, die ihm auf Grund der Pressenotizen gemacht worden sind, vorhin geäußert. Ich möchte darauf nicht zurückkommen. Aber, meine Damen und Herren, ich komme nicht umhin, aus einem Artikel unseres verehrten Mitglieds dieses Hohen Hauses, des Herrn Even, einige Sätze zu verlesen, den er vor einiger Zeit in der „KettelerWacht" geschrieben hat. Aus diesem Zeitungsartikel ergibt sich klipp und klar die Absicht des Gesetzes, von vornherein die jetzige Opposition auch bei dem nächsten Bundestag auszuschalten. Herr Kollege Even hat nämlich Bedenken gegen diese Methode angemeldet.
({14})
- Herr Kollege Even - ich nehme an, daß Sie es waren, der den Zwischenruf machte -, ich konzediere durchaus, daß Sie die SPD in zum Teil aggressiver Form angegriffen haben. - Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich aus dem Artikel zwei Sätze verlesen:
Das neue Wahlgesetz könnte und wird vielleicht dazu führen, die SPD für weitere vier Jahre aus der Regierung und von der Verantwortung fernzuhalten.
({15})
Meine Damen und Herren, das ist doch das offene Eingeständnis auch von Ihnen, daß das die Absicht des Gesetzentwurfes war!
({16})
Herr Kollege Even schreibt ferner:
Uns ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß durch ein Wahlgesetz die SPD schon vor den Wahlen für weitere vier Jahre von der Verantwortung ausgeschlossen sein soll.
({17})
Die Form der künftigen Koalition sollte erst nach den Wahlen geprüft werden und jede Partei in ihrer Entscheidung bis dahin frei bleiben.
Das ist durchaus richtig, Herr Kollege Even; aber es beweist, was man in den Fraktionssitzungen der Bundesregierung Ihnen über den Sinn des Gesetzes vorgetragen hat.
({18})
Warum hat man übrigens - die Frage muß bei diesem Zwischenruf wiederholt werden - das Gesetz seitens der Bundesregierung fast ein Jahr beraten und so spät vorgelegt, wenn man nicht versucht hat, mit den letzten mathematischen Kniffeleien zu errechnen, wie man aus der von Ihnen befürchteten Zunahme der SPD-Stimmen möglichst wenig Mandate machen kann?
({19})
Es ist hier von den Rednern der CDU/CSU soviel auf die Ländergesetzgebung hingewiesen worden, und mit Pathos hat man immer wieder erklärt, indem man auf uns zeigte: „Ja, in Hessen, in Hamburg, in Niedersachsen, da habt ihr Gesetze gemacht, die uns, der CDU/CSU, so geschadet
haben!" - Nun, meine Damen und Herren, warum verschweigt man dann aber, wenn man hier schon zu den Ländergesetzen Stellung nimmt, der Öffentlichkeit, daß in sämtlichen drei Ländern - in Hessen, Hamburg und Niedersachsen - die CDU diese Gesetze mit angenommen hat?!
({20})
Sie können doch die Gesetze, die Ihre eigenen politischen Freunde in den Ländern bejaht haben, jetzt nicht hier abschütteln. Außerdem sehen Sie sich doch bitte erst einmal die Wahlsysteme z. B. in Hessen und in Hamburg an! Dort haben Sie genau das gleiche Wahlsystem, das wir hier 1949 angenommen haben.
({21})
- Entschuldigen Sie! Lesen Sie doch einmal nach, z. B. daß § 9 des hessischen Wahlgesetzes genau übereinstimmt mit dem Bundestagswahlgesetz von 1949!
({22})
- Herr Kollege Schröder, es ist nicht anders! ({23})
- Entschuldigen Sie! Ich habe mir sogar die Gesetzesbücher hier auf den Tisch legen lassen. Herr Kollege Ritzel zeigt sie Ihnen.
Man scheint die Hilfsstimme durch die Stichwahl ersetzen zu wollen. Wir teilen die Bedenken, die Herr Kollege Jaeger gegen das System der Stichwahl vorgetragen hat. Hätten wir 1949 bei unseren 242 Wahlkreisen das Stichwahlsystem gehabt, wir hätten in nicht weniger als 200 Wahlkreisen eine zweite Wahl abhalten müssen. Ich glaube, daß wir schon wegen der Gefahr einer Wahlmüdigkeit ein solches System nicht akzeptieren sollten. Wir haben auf dem Gebiete der Stichwahl eine jahrzehntelange Erfahrung aus der Zeit vor 1918. Der Reichstag der Kaiserzeit mit dem absoluten - nicht nur dem relativen - Mehrheitswahlrecht wies zumeist 15 bis 16 Fraktionen und Gruppen auf. Das absolute Stichwahlsystem hat die Vielheit der Fraktionen im Deutschen Reichstag nicht verhindern können. Und woher kam es, daß so viele Fraktionen im Reichstag vertreten waren? Dadurch, daß man vor dem zweiten Wahlgang zwischen den Parteien verabredete - womit zumeist ein politischer Kaufpreis verbunden war -, der Kandidat welcher Partei in der Stichwahl aufgestellt und von allen anderen Parteien gegen die Sozialdemokratie gewählt werden sollte. Das bedeutet doch die unendlich große Gefahr politischer Korrumpierung.
({24})
Und wenn Herr Kollege W u e r m e l i n g neulich in der Begründung seines Gesetzentwurfs so vor der Macht des Parteiapparats gewarnt hat, so steht doch, meine Damen und Herren, ganz einwandfrei fest, daß bei einem System mit Stichwahl, wenn ich auf die von Ihnen beantragte Zahl von 484 Abgeordneten exemplifiziere, bei ungefähr 420 Abgeordneten allein und ausschließlich die Parteibürokratie entscheiden würde, wer zur Stichwahl vorgeschlagen würde.
({25})
({26})
Wie stark die Bundesregierung bei ihrem Entwurf von ihrem Bemühen ausgegangen ist, sich auch für die nächste Wahlperiode ihre Mehrheit zu retten, das ergibt sich nicht nur aus der Bestimmung, daß man den Ländern - ich will nicht wiederholen, was neulich schon erörtert wurde - die Möglichkeit entziehen will, die Wahlkreise einzuteilen, es ergibt sich das auch aus Vorgängen, die in zunehmendem Maße die' Öffentlichkeit interessieren: der Bildung gemeinsamer Wahlfonds El die Koalitionsparteien. Die Arbeitgebervereinigungen haben neuerdings ihre Mitglieder aufgefordert, zugunsten des Wahlfonds der Regierungsparteien für jeden Arbeitnehmer 60 bis 110 Pfennig zu spenden.
({27})
Es ist offenes Gespräch in den Wandelgängen dieses Hauses - und der Name des Herrn Heinrichsbauer aus Köln taucht wieder auf -, daß der gemeinsame Wahlfonds bereits mehrere Millionen betrage, deren Hergabe jedoch von einem Wahlgesetz abhängig gemacht wird, das von vornherein die Ausschaltung der Sozialdemokratie garantiert.
({28})
Es ist dem Herrn Kollegen Scharnberg und anderen Kollegen bei den Hinweisen auf die Rolle der Verhältniswahl in der Weimarer Republik bereits einiges erwidert. Lassen Sie mich das durch einige Zahlen ergänzen. Bei der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 bekam die NSDAP 46,2% der Stimmen und entsprechend viel Mandate im Reichstag. Der Staatsrechtler Prof. Jellinek hat in einer interessanten Studie über die Auswertung der letzten Reichstagswahlen vor 1933 dargelegt, daß bei Anwendung des reinen Mehrheitswahlrechts die NSDAP bereits 1932 nahe an die absolute Mehrheit der Mandate herangekommen wäre und daß bei der Anwendung des reinen Mehrheitswahlrechts bei der Wahl vom 5. März 1933 die NSDAP ca. 60 % der Mandate im Reichstag bekommen haben würde.
({29})
Das Verhältniswahlrecht der Weimarer Zeit hat. also nicht das Zurmachtkommen des Nationalsozialismus gefördert, sondern hat ihn bis zur letzten Stunde unterdrückt. Und wenn es trotzdem Hitler möglich war, nachher die Mehrheit für sein verfassungsänderndes Ermächtigungsgesetz zu bekommen, dann waren es die Deutschnationale Volkspartei und die Harzburger Front, die gerade den Segen des Verhältniswahlrechts umfälschten und Hitler die genügenden Restmandate gaben, 'um die Weimarer Verfassung zu zerstören.
({30})
Übrigens darf ich noch an eine andere Zahl erinnern. Als der letzte kaiserliche Reichstag von 1918, gewählt nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht, auseinanderging, wies er 12 Fraktionen auf. Als der erste Reichstag der deutschen Republik zusammentrat, gewählt nach dem reinen Verhältniswahlrecht, wies er vier Fraktionen weniger, d. h. nur acht Fraktionen auf.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, sei mir noch einmal eine Zusammenfassung unserer Bedenken gestattet. Sie sagen, Sie seien gegen ein Verhältniswahlrecht, aber gleichzeitig erhöhen Sie den Anteil der Listenmandate; Sie seien für ein Mehrheitswahlrecht, aber das, was in Ihrem Entwurf wirklich mehrheitsbildend sein könnte, wird durch den inneren Proporz sofort wieder beseitigt; Sie
seien für die Persönlichkeitswahl, und Sie schaffen über dieses System der Listenverbindung zugleich das anonymste Wahlrecht, das es in Deutschland jemals gegeben hat.
({31})
Sie sagen, man müsse weg von dem verhängnisvollen Proporz, aber zugleich führen Sie neu den inneren und äußeren Proporz ein, den wir bisher nicht kannten.
Bei diesem Zwiespalt zwischen Ihren Erklärungen und dem Inhalt des Gesetzentwurfes ist es doch offenbar, daß Sie mit diesem Gesetzentwurf andere Prinzipien verfolgen als die, die Sie nach außen proklamieren. Es soll - ich darf noch einmal auf die „Ketteler-Wacht" zurückkommen; daraus ergibt es sich klipp und klar - der Versuch sein, die SPD nicht in der Stärke, in der sie bei den Wahlen in der Bevölkerung verankert sein wird, im Bundestag vertreten zu sehen. Aber glauben Sie denn wirklich, daß es möglich ist, durch Verschiebungen von Wahlsystemen die sittliche und moralische Idee einer Partei, die eine 80 Jahre lange Bewährung auf sich hat, unterdrücken zu können? Sie durch solche Methoden in Quarantäne nehmen zu wollen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Für uns handelt es sich bei diesem Gesetz nicht um ein gewöhnliches Gesetz. Das heißt, die Annahme des Gesetzes bedeutet nicht, daß wir uns ohne weiteres damit abfinden können. Denn das Wahlrecht kann in bestimmten Situationen eines Volkes wichtiger sein als eine geschriebene Verfassung, und wir Sozialdemokraten glauben, daß wir in einer solchen Situation sind. Die Verfassung, die wir uns 1949 gegeben haben, würde alsbald zu einem Stück Papier werden, wenn der Vorschlag der Regierung Gesetz würde.
So stehen wir wieder einmal in unserer Geschichte vor einer der wichtigsten Entscheidungen über die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie. Was die Regierung hier vorschlägt, ist nichts weiter als ein Ermächtigungsgesetz in neuem Gewande.
({32})
Wir aber warnen, den Weg des 23. März 1933 ein zweites Mal zu gehen.
({33})
({34})
Das Wort hat der Abgeordnete Loritz.
Loritz ({0}): Meine Damen und Herren! Ich möchte an den letzten Satz meines Herrn Vorredners anknüpfen; er warnte, ein neues Ermächtigungsgesetz zu schaffen.
({1})
Es wird wieder genau so gehen wie damals. Das möchte ich Ihnen, meine Herren von der FDP und der Deutschen Partei, heute noch etwas ausführlicher darlegen.
Sie helfen diesmal der CDU, Sie helfen diesmal Herrn Adenauer, und Sie werden, wenn dieses neue schändliche Wahlgesetz mit Ihrer Hilfe angenommen sein wird,
({2})
({3})
die ersten Leidtragenden sein, genau so wie Herr Hugenberg und seine Gesellen, die dem Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers zugestimmt haben, damals die ersten Leidtragenden waren. Bei Ihnen, meine Herren von der FDP und der DP, möchte
man wirklich das Wort Goethes zitieren - -
({4})
- Herr Strauß, wollen Sie bitte Ihre kindischen Zwischenrufe doch unterlassen! - Ich möchte Ihnen das Wort Goethes zitieren:
Den Teufel merkt das Völklein nie,
und wenn er es am Kragen hätte!
Und so werden Sie, meine Herren von der FDP und DP, erst wenn es für Sie zu spät ist, merken, wie Sie am Kragen gepackt worden sind!
({5})
Herr D r. Lehr sprach in seiner Pressekonferenz von den „artverwandten" Parteien, die sich da zusammenfinden könnten und müßten und die durch dieses famose Wahlgesetz begünstigt werden. Wer, meine Herren von der Deutschen Partei, garantiert Ihnen denn, daß Sie für Herrn Dr. Adenauer auch späterhin noch eine „artverwandte Partei" sein werden? Wer, meine Herren von der FDP, garantiert Ihnen, daß die Sonne der Adenauerschen Gunst auch in einem kommenden Parlament noch über Sie scheinen wird? Wir wissen nicht, welche politischen Entwicklungen hier in diesem Lande möglich sind. Wir wissen nur, daß der Satz „panta rhei" für die deutsche Politik und gerade für sie immer noch gilt. Es ist von Ihrer Seite, meine Herren von der FDP und DP, ein Wahnsinn, wenn Sie einem solchen Gesetz Ihre Zustimmung geben, da Sie doch genau wissen, daß Ihre Stärke niemals bei einem Wahlrecht liegen kann, das das Mehrheitswahl-System in wesentlichen Teilen durchsetzt und von dem Grundsatz der Verhältniswahl weit abrückt; denn auf die Verhältniswahlseite fällt ja nur die Hälfte aller Mandate, die übrige Hälfte wird bekanntlich nach ganz anderen Grundsätzen vergeben. Meine Damen und Herren von der FDP und der Deutschen Partei, Sie haben es in der Hand, ob dieses Gesetz, dieses Schandgesetz, Wirklichkeit wird oder nicht. Sie werden, wenn Sie zustimmen, die ersten Leidtragenden sein. Lassen Sie es sich bitte gesagt sein!
({6})
Wie kann man überhaupt in einem Staate, der sich demokratisch nennt, seitens der Regierung einen Gesetzentwurf vorschlagen, nach dem es möglich ist, daß jemand mit der einen Stimme, sagen wir mal, CDU wählt und mit der anderen Stimme gleichzeitig KPD
({7})
oder mit der einen Stimme KPD wählt und mit der anderen Stimme Deutsche Partei?
({8})
Das ist auf Grund dieses Gesetzes möglich! Ein solches Gesetz, das den Zweck jeder Wahl, nämlich eine Entscheidung des Wählers zu ermöglichen, ob er die Regierungspolitik oder die Oppositionspolitik billigt - das ist ja der letzte Zweck jeder Wahl in demokratischen Ländern -, so verfälscht, ist ein Schandfleck für jedes Land, das sich demokratisch heißen will.
Herr D r. Jaeger hat es sich nicht verkneifen können, mich in seiner Rede zu zitieren. Ich möchte ihm eines sagen: Er meinte, Parlament komme von parlare, von „frei Sprechen"; diejenigen, die das nicht könnten, sollten in ein Kino gehen und nicht ins Parlament. In diesem Punkte, Herr Dr. Jaeger, sind wir ausnahmsweise einmal genau derselben Auffassung. Aber wenn dieses Prinzip durchgeführt würde, müßten vier Fünftel Ihrer Kollegen von der CDU-Fraktion ins Kino gehen und nicht da herein!
({9})
Diese Blattableser, die jedesmal, wenn sie hier heroben sind, ihr Bündel Manuskripte aus der Tasche
ziehen und sie dann Wort für Wort herunterlesen
({10})
und das noch mit Parlamentarismus verwechseln! Ihre Bemerkung war also bei Ihnen keineswegs am Platze, Herr Dr. Jaeger!
Ich möchte Ihnen aber, nachdem Sie in Ihren Versammlungen in der Eichstätter Gegend und sonstwo immer und immer wieder Windthorst zitieren, doch noch sagen, daß gerade der von Ihnen und auch von anderen Leuten so verehrte Windthorst, der Gründer der Zentrumspartei, es war, der immer wieder mit schärfstem Nachdruck ein reines Verhältniswahlsystem für Preußen und für Deutschland gefordert hat, während Sie etwas ganz anderes haben wollen!
Die Vorredner, namentlich auch mein Vorredner von der SPD, und Herr Dr. Reismann, haben an Hand von Tatsachen so klar und deutlich dargelegt und bewiesen, daß es nicht das Verhältniswahlrecht, sondern etwas ganz anderes war, was zum Aufstieg Hitlers geführt hat, daß ich dem nichts mehr hinzuzufügen brauche. Es war keineswegs das Verhältniswahlsystem, sondern es war die falsche Politik, die Ja-Sagerpolitik von Leuten, von denen ein großer Teil heute wieder hier herinnen sitzt, die zur Katastrophe geführt hat. Diese JaSager von 1933 möchte ich noch besonders ansprechen, indem ich sie warne, ein zweites Mal
({11}) der Demokratie eine -
Ihre Redezeit ist abgelaufen, Herr Abgeordneter Loritz!
Loritz ({0}): Da meine Redezeit abgelaufen ist, möchte ich vielleicht mit Genehmigung des Herrn Präsidenten nur noch einen weiteren Satz von Windthorst anführen, den ich mir eben herausnotiert habe, von Windthorst, der immerhin der Partei des Herrn Präsidenten doch einiges zu sagen haben könnte. Er sagt folgendes:
Ein Staatswesen kann man nur danach beurteilen und würdigen, ob es auch den Minderheiten alle Rechte gibt, die die Mehrheiten für sich beanspruchen.
Damit möchte ich schließen. Dieser Satz Windthorsts schlägt Ihnen von der CDU, die Sie behaupten, seine Nachfolger zu sein, mehr ins Gesicht als jeder andere!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Fröhlich.
Fröhlich ({0}): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht verwunderlich, daß der Regierungsentwurf eines Bundeswahlgesetzes, wie er uns in der Drucksache Nr. 4090 vorliegt, nicht nur von seiten der Führung der politischen Parteien, sondern auch von den breitesten Wählerschichten quer durch alle Parteien eine Kritik erfahren hat, die nichts zu wünschen übrigließ.
({1})
In dem Gesetzentwurf sind durch die Gewährung der Hilfsstimme und durch die Möglichkeit der Listenverbindungen Wege beschritten worden, die den Eindruck hervorrufen müssen, daß sich die derzeitige Regierung und die sie tragenden Parteien mit Hilfe dieses Wahlsystems die Macht für vier weitere Jahre sichern wollen. In der durchaus richtigen Selbsteinschätzung, bei einem fairen Wettbewerb um die Gunst des Wählers wahrscheinlich keine ausreichende Mehrheit an Stimmen zu bekommen, wird mit Hilfe der Listenverbindungen und durch die Doppelzählung der durch ein direkt errungenes Mandat bereits verbrauchten Stimmen versucht, eine entscheidende Mehrheit an Mandaten zu erreichen, die in krassem Gegensatz zur Zahl der erreichten Stimmen steht.
Wenn ich die ungefähre Richtigkeit der Schätzungen unterstelle, daß nämlich der Regierungsblock etwa 50 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen könnte, so würde das nach diesem Wahlgesetz bedeuten, daß etwa 75 % der Bundestagsmandate auf ihn entfallen würden, wobei wahrscheinlich die stärkste Partei des Regierungsblocks, die CDU/CSU, im neuen Bundestag die absolute Mehrheit erhalten würde. Sie wollen das nicht wahrhaben, meine Damen und Herren, weil die Deutsche Partei und die FDP selbstverständlich genau wissen, was ihnen dann blüht. Die Parteien, die nicht gewillt sind, bereits vor der Wahl Bindungen einzugehen, und die aus politischen Gründen überhaupt nicht in der Lage sind, sich in einem Wahlblock zusammenzufinden, hätten nach diesem Gesetzentwurf die Chance, mit etwa der gleichen Stimmenzahl von 50 % nur etwa 25 % der Mandate zu erhalten. Das sähe so aus, daß z. B. die Deutsche Partei mit etwa einer Million Stimmen die Chance hätte, im neuen Bundestag 30 bis 35 Mandate zu erreichen, während z. B. der Gesamtdeutsche Block mit zweieinhalb Millionen Stimmen sich mit etwa 16 bis 18 Mandaten zufrieden geben müßte.
Welche politischen Ziele werden mit diesem Wahlgesetz verfolgt? Hierüber ist ja einiges in die Öffentlichkeit gedrungen. Man will einmal die Zweidrittelmehrheit im neuen Bundestag sichern, um das Grundgesetz nach Belieben ändern zu können. Der für die Politik der Bundesregierung gelegentlich unbequeme und unbequem bleibende Bundesrat soll praktisch ausgeschaltet werden. Den kleineren Parteien der jetzigen Regierungskoalition, die in den verflossenen vier Jahren gelegentlich recht rauhbeinig waren, soll die politische Wirkungsmöglichkeit genommen werden; denn im Zweifelsfalle kann man auch ohne sie regieren. Sie sollen in eine völlige politische Abhängigkeit gebracht werden und am Ende gezwungen sein, in der stärksten Partei der Regierungskoalition aufzugehen. Ihre Stunde hat spätestens nach der zweiten Legislaturperiode geschlagen. Denn man scheint sich heute schon darin einig zu sein, im dritten Bundestagswahlgesetz das Mehrheitswahlrecht zu verankern. Die Mohren können dann gehen; sie haben ihre Schuldigkeit getan und sich selber zum Totengräber ihrer Partei gemacht.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die letzten Landtagswahlen in Schleswig-Holstein hinweisen. Man hat sich damals in einem Regierungsblock zusammengeschlossen. Die Folge dieses Zusammenschlusses war, daß heute nach kurzer Zeit weder die Freie Demokratische Partei noch die Deutsche Partei in Schleswig-Holstein mehr besteht.
({2})
- Aber daß sie doch sehr, sehr schwach dastehen.
Wenn der Herr Bundesinnenminister als Hauptargument für dieses Wahlgesetz angeführt hat, es verhindere die für Deutschland so gefährliche Parteienzersplitterung, so liegt hierin eine Zynik sondergleichen. Denn dieses System dient in erster Linie dazu, die starke Opposition und alle jene Parteien zu zerschlagen, die sich in den Regierungsblock nicht einfügen wollen oder aber auch nicht einfügen können. Meine Partei, der Gesamtdeutsche Block-BHE, ist der Auffassung, daß es bei dem alten Wahlgesetz von 1949 verbleiben sollte, weil die politische Entwicklung innerhalb der Parteien in den wenigen Jahren ihres Bestehens noch keinen Abschluß hat finden können. Hier bestehen durchaus noch Möglichkeiten der Integration. Sie liegen allerdings auf einer anderen Ebene, als es dem Herrn Bundesinnenminister nach seinen Ausführungen zu dem Wahlgesetzentwurf im Bundesrat vorschwebt. Eine solche Entwicklung sollte durch ein undemokratisches Wahlgesetz nicht verbaut werden. Sollte aber wider Erwarten der vorliegende Regierungsentwurf Gesetz werden, so bestünde für alle hierdurch benachteiligten Parteien die zwingende Notwendigkeit, sich zu einem Oppositionsblock mit dem einzigen Ziel zusammenzuschließen, ein gerechtes Wahlgesetz zu schaffen und dann den Bundestag zur Auflösung zu bringen, um in einem neuen Wahlgang zu einem echten Spiegelbild der Meinung des Wählers im Bundestag zu kommen. Es wäre sehr bedauerlich, wenn die Notwendigkeit zu einem solchen Oppositionsblock bestünde. Wir sind uns darüber im klaren, daß das Vertrauen des Volkes zu einer demokratischen Ordnung durch derartige Maßnahmen nicht unerheblich untergraben wird.
Wir lehnen den Wahlgesetzentwurf der Bundesregierung sowie den Entwurf der Kollegen Dr. Wuermeling und Genossen ab und stimmen für den Entwurf der Sozialdemokratischen Partei.
Das Wort hat der Abgeordnete Ewers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe zunächst den beiden Herren Vorrednern, Herrn Loritz und Herrn Fröhlich, herzlich dafür zu danken, daß sie sich um das Wohl meiner Partei und der FDP soviel sorgenvolle Gedanken gemacht haben. Ich möchte von vornherein betonen, daß wir, wenn wir eine Beratung brauchten, um uns vor dem Wahnsinn zu schützen, uns vermutlich in letzter Linie an Herrn Loritz wenden würden.
({0})
Was aber die Verhältnisse in Schleswig-Holstein angeht, lieber Herr Fröhlich, so muß ich Ihnen sagen: man kann ja hier im Bundestag alles, was man will, reden, ohne sich strafbar zu machen; doch muß man mindestens ein bißchen Bescheid wissen.
({1})
Im Armenhaus des Bundes in Schleswig-Holstein, aus dem zu stammen ich die Ehre habe, haben alle politischen Parteien sehr viel an Kredit verloren, weswegen ja allerhand Neugründungen erfolgt sind, Neubürgerbund, Deutscher Block, SRP seligen Angedenkens, Schleswig-Holsteiner-Bund, Mittelstandsblock oder Bauernblock. Aber daß gerade FDP und DP besonders schlecht dran sein sollten, - nein, Herr Fröhlich, das ist nicht der Fall.
Nun wollte ich in erster Linie Herrn Dr. Menzel einiges auf seine Ausführungen erwidern, die mir zum Teil wirklich geradezu verwunderlich klangen. Er hat hier über die Stichwahlmethode des Kaiserreiches Bemerkungen gemacht, die fernab jeder Wirklichkeit sind. Im Kaiserreich kamen, wenn kein Kandidat die Mehrheit hatte, die beiden in die Stichwahl, die die meisten Stimmen hatten. Da wurde nichts manipuliert, sondern das bestimmte der Wähler. Manipuliert wurde vielleicht bei Stichwahlen in verschiedenen Wahlkreisen hinsichtlich der wechselseitigen Unterstützung.
({2})
Das kam vor. Aber daß da nun ein großer Kuhhandel angefangen hätte, wer in die Stichwahl kommen sollte, - nein, Herr Dr. Menzel, Sie sind anscheinend noch zu jung, um aus eigener Erfahrung zu wissen,
({3})
wie es im Kaiserreich zuging.
({4})
Im übrigen betone ich: man kann, ohne sich deswegen den Fluch des Gegners zuzuziehen, auf dem Standpunkt stehen, daß das Verhältniswahlrecht das beste sei. Man kann ebenso, wie wir es tun, grundsätzlich auf dem Standpunkt stehen, daß das Personenwahlrecht das einzig mögliche ist. Deswegen braucht man sich gegenseitig weder Verfassungsbruch noch sonst etwas vorzuwerfen.
Wer annimmt, daß die Zustände unter dem Wahlrecht im Reich vor 1914, verglichen mit denen der Weimarer Republik oder auch des heutigen Staates, schlecht gewesen seien, der hat von den Zuständen vor 1914 wirklich keine blasse Ahnung. Denn darüber ist man doch heute von ganz links bis ganz rechts einer Meinung: damals herrschten gegenüber der Zwischenzeit geradezu gesegnete Zustände im Deutschen Reich.
Das Mehrheitswahlrecht wird niemals örtliche Parteizersplitterung verhindern wollen und können. Was es aber kann, das ist: es kann die Vergottung von Personen ausschließen. Wer ist denn im Verhältniswahlrecht gewählt worden? Nicht die örtliche Person und die kleinen Cäsaren, die meistens in ihrem eigenen Bereich vor 1933 gar nichts galten, sondern jeder Wähler wählte Adolf Hitler, weil auf der Liste obenan überall „Adolf Hitler" stand. Das war eben der Zustand der Vermassung des Wahlrechts. Diese Vermassung wollen wir nicht, und daher wollen wir in erster Linie die Person wählen, nämlich die, die im Wahlkreis zur Verfügung steht.
Das alles hat nichts mit „Ermächtigung" zu tun, und was die Listenverbindung im Verhältnissektor anlangt, so finde ich es bedeutend ehrlicher, Herr Fröhlich, wenn man dem Wähler klar sagt: Wenn du uns, Deutsche Partei, in Verbindung mit den Koalitionspartnern, die wir vier Jahre hindurch die Verantwortung getragen haben, nicht
willst, - bitte, wähle uns nicht! Du hast es ja nicht nötig. Wenn du uns aber wählst, so mußt du darüber klar sein: Wir stehen in der Verantwortung für vier Jahre Politik, die wir für grenzenlos erfolgreich halten. Wenn die SPD der Meinung ist, daß diese Politik so ganz und gar erfolglos war, so soll sie uns danken, daß wir uns zusammenschließen; dann kann ja die Majestät des Wählers ihr die „Ermächtigung" geben, uns zu regieren. Deswegen wollen wir doch nun nicht so tun, als wenn das alles Manipulationen wären, um die Regierungspolitik zu verewigen. Es handelt sich einfach darum, daß der Wähler das Parlament in den Sattel setzt, und wenn sich die Koalitionsparteien, jede für sich, im Rahmen ihrer gemeinsamen Verantwortung dem Wähler stellen, hat er allein die Entscheidung, ob er die Koalitionspolitik ablehnt, ob er die Regierungskoalition wählt oder nicht. Das ist der Sinn des Wahlrechts, wobei, wie ich glaube, die überwiegende Mehrzahl aller Befürworter dieses Wahlrechts - halb Verhältnis-, halb Personenwahl - auf dem Standpunkt stehen, auf lange Sicht gesehen sollten wir zum Personenwahlrecht zurückkehren. Aber die Abschaffung des Verhältniswahlgesetzes von heute auf morgen halten wir in der Koalition nicht für durchführbar, weil - darin hat Herr Fröhlich recht - die Parteien noch nicht konsolidiert und integriert sind. Ich meine, wir können nicht nur vor das Verfassungsgericht, wenn es sein soll, sondern wir können sehr wohl auch vor den Wähler hintreten, wenn wir statt der Hilfsstimme die Stichwahl einführen. Auch ich halte das für das beste.
Aber Gedanken um die „Gefahren", die wir bestehen wollen, bitte ich doch den drei Parteiführungen der. Koalitionsparteien zu überlassen und sich nicht durch Herrn Loritz oder Herrn Fröhlich darum weiter groß zu bemühen. Wir danken dafür; aber wir haben solche Fürsorge nicht nötig.
({5})
Herr Abgeordneter Scharnberg!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mellies hat behauptet, daß mein Vorwurf gegen Herrn Menzel, er habe die Unwahrheit gesagt, unzutreffend sei. Herr Menzel - so hat Herr Mellies erklärt - habe nicht davon gesprochen, daß unsere Fraktion im Parlamentarischen Rat gegen das 49er-Wahlrecht gestimmt habe. Herr Menzel hat sich dann auf seine Bemerkung bezogen, in der er von der Zustimmung der Länderministerpräsidenten gesprochen hat. Er hat aber am Schluß seiner Rede vom 5. März nach dem amtlichen Protokoll gesagt:
Das neue Wahlrecht kann nur geschaffen werden, wenn es von allen großen demokratischen
Parteien getragen wird. Das war 1949 der Fall. Ich halte meinen Vorwurf, daß Herr Menzel die Unwahrheit gesagt hat, aufrecht.
({0})
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Besprechung.
({0})
({1})
- Zur Abstimmung Herr Abgeordneter Dr. Schröder!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich recht gehört habe, hat Herr Kollege Mellies für die sozialdemokratische Fraktion angekündigt, daß sie gegen die Überweisung des Regierungsentwurfs an den Ausschuß stimmen wird. Wenn die SPD das tun wird, werden wir gegen die Überweisung des SPD-Entwurfs an einen Ausschuß stimmen.
({0})
Es ist, glaube ich, ganz klar, daß, wenn jemand von uns verlangt, einen Entwurf, den wir grundsätzlich ablehnen, zu überweisen, er dann umgekehrt das Maß von Fairneß aufbringen muß, das dazu gehört, auch die übrigen Entwürfe zu überweisen. Die SPD hat also die Chance, sozusagen selbst darüber zu bestimmen, ob ihr Entwurf in den Ausschuß kommt.
(Beifall bei den Regierungsparteien. ({1})
Meine Damen und Herren, es liegen drei Gesetzentwürfe vor. Ich unterstelle, es entspricht Ihrer Auffassung, daß über die Ausschußüberweisung einzeln abgestimmt wird.
Zunächst stimmen wir ab über die Überweisung des Regierungsentwurfs Drucksache Nr. 4090, Entwurf eines Bundeswahlgesetzes, und zwar ist beantragt worden, einen Sonderausschuß von 27 Mitgliedern zu bilden. Ich bitte die Damen und Herren, die dieser Überweisung an den Sonderausschuß zustimmen - ({0})
- Meine Damen und Herren, darf ich zunächst vorweg die Frage wegen der Bildung des Sonderausschusses stellen, damit wir klar sind und dann die Überweisung vornehmen können! Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag, für die Beratung der Wahlrechtsgesetze in diesem Bundestag einen aus 27 Mitgliedern bestehenden Sonderausschuß zu bilden, zustimmen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Meine Damen und Herren, der Sitzungsvorstand ist sich nicht völlig einig. Ich muß bitten, diese Frage im Wege des Hammelsprungs zu entscheiden. Wer für die Einrichtung eines Sonderausschusses ist, stimmt mit Ja, wer dagegen ist, mit Nein.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bitte, die Abstimmung nach Möglichkeit zu beschleunigen. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
({2})
Ich bitte, die Abstimmung zu beschleunigen. - Ich bitte, zum Schluß der Abstimmung zu kommen. - Ich bitte, die Türen zu schließen. Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Für den Antrag auf Einsetzung eines Sonderausschusses für diese Fragen haben 193 Abgeordnete gestimmt, dagegen 178 Abgeordnete. Ein Abgeordneter hat sich der
Stimme enthalten. Damit ist die Bildung eines Sonderausschusses beschlossen.
Es liegt der Antrag vor, den Gesetzentwurf Drucksache Nr. 4090 diesem Sonderausschuß zu überweisen. Ich bitte die Damen und Herren, die für die Überweisung sind, eine Hand zu erheben.
- Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen?
- Meine Damen und Herren, der Vorstand ist sich wiederum über das Ergebnis unklar. Ich bitte Sie, das Ergebnis im Wege des Hammelsprungs festzustellen.
({3}) Ich bitte, den Saal beschleunigt zu räumen. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
({4})
Ich bitte, die Abstimmung zu beschleunigen. - Ich bitte, zum Schluß der Abstimmung zu kommen. - Ich bitte, die Türen zu schließen. Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Für den Überweisungsantrag haben gestimmt 187 Abgeordnete, dagegen 185, Enthaltungen keine. Die Überweisung ist erfolgt.
({5})
Ich komme zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wuermeling, Strauß und Genossen, Drucksache Nr. 3636. Ich bitte die Damen und Herren, die der Überweisung des Antrags an den Sonderausschuß zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? Das erste war die Mehrheit; die Überweisung ist erfolgt.
Ich komme zu dem Antrag der Fraktion der SPD, Drucksache Nr. 4062. Ich bitte die Damen und Herren, die für die Überweisung sind, eine Hand zu erheben. Ich bitte um die Gegenprobe. - Das erste war die Mehrheit; die Überweisung ist erfolgt.
Herr Abgeordneter Ritzel wünscht, gemäß § 35 der Geschäftsordnung eine persönliche Erklärung abzugeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe das Wort zu einer persönlichen Erklärung erbeten
({0})
wegen einer Bemerkung, die der Herr Abgeordnete Dr. Hermann Ehlers im Verlaufe seiner Rede gemacht hat. Er hatte die Liebenswürdigkeit, als Beispiel für seine Argumentation meinen Wahlkreis Dieburg-Erbach heranzuziehen und darauf hinzuweisen, daß ich mit 36,3 % aller Stimmen gewählt worden sei. Er schloß in einer mich etwas merkwürdig berührenden Logik daraus, daß damit rund 64 % der Stimmbürger meines Wahlkreises gegen mich seien.
({1})
Ich darf mir erlauben, aus den amtlichen Unterlagen folgendes festzustellen. Bei der Verteilung der gültigen Stimmen in den einzelnen Wahlkreisen in Hessen entfielen im Durchschnitt auf die CDU 21,3 %, auf die FDP 28,1 %, auf die SPD 32,1 %, im Wahlkreis Dieburg-Erbach auf mich 36,3 %. Ich befinde mich dabei in ganz angenehmer Gesellschaft. Der Herr Kollege von Brentano er({2})
hielt im Wahlkreis Heppenheim an der Bergstraße 25,8 0/o. Um das Bild abzurunden, erlaube ich mir, dem Herrn Abgeordneten Ehlers die Ergebnisse aus Niedersachsen in Erinnerung zu rufen. Dort wurden sämtliche Abgeordnete der SPD in direktem Wahlgang gewählt.
({3})
Für den Herrn Abgeordneten Dr. Ehlers reichte es nicht zu einem Wahlkreis. Er wurde auf der zweiten Stelle der Landesliste gewählt.
({4})
Wenn ich die Logik anwenden wollte, mit der Herr Kollege Dr. Ehlers operiert hat, müßte ich feststellen, daß im Wahlkreis Heppenheim an der Bergstraße von allen Stimmberechtigten, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, 75 % gegen Herrn Kollegen von Brentano wären und 100 % in Niedersachsen gegen Herrn Ehlers.
({5})
Aber diese Logik mache ich mir nicht zu eigen.
({6})
Das Wort zu einer persönlichen Bemerkung hat Herr Abgeordneter Dr. Ehlers.
Meine Damen und Herren! Ich muß zu § 35 der Geschäftsordnung feststellen, daß nicht zur Sache zu sprechen ist, sondern Äußerungen, die in der Aussprache in bezug auf die Person eines Abgeordneten gemacht worden sind, zurückgewiesen oder richtiggestellt werden können. Ich bedauere, mit der Person des Herrn Abgeordneten R i t z e l nicht identisch zu sein, und daher konnte über mich dabei nichts gesagt werden. Da es offenbar als nicht den demokratischen Anforderungen entsprechend angesehen wird, wenn man über die Landesergänzungsliste gewählt ist, kann ich nur sagen: Ich befinde mich dabei in der guten Gesellschaft des Herrn Abgeordneten Dr. Menzel.
({0})
Das Wort zu einer persönlichen Bemerkung hat Herr Abgeordneter Dr. Menzel.
({0})
Ich weiß zwar nicht, was der Hinweis des Herrn Präsidenten Ehlers auf meine Wahl in Nordrhein-Westfalen mit seinem Angriff gegen Herrn Kollegen Ritzel zu tun hat. Aber der Herr Kollege Ehlers kann beruhigt sein: ich habe einen Wahlkreis, und ich bin sogar in einem Wahlkreis gewählt, nämlich im Wahlkreis Herford; aber da ich diesen Wahlkreis in den Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen erobert habe, es jedoch für einen Abgeordneten unmöglich ist, zwei eigene Wahlkreise zu haben, bin ich seinerzeit gebeten worden, die Landesliste des Landes Nordrhein-Westfalen zu führen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich glaube, die Aussprache über die gute
Gesellschaft, in der wir uns wechselseitig befinden, kann nun als beendet angesehen werden.
({0})
Damit aber die Wirkungen einer solchen Entwicklung fortgesetzt werden, machen wir jetzt die Mittagspause. Um 15 Uhr treten wir wieder zur Sitzung zusammen.
({1})
Die Sitzung wird um 15 Uhr 5 Minuten durch den Präsidenten Dr. Ehlers wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren! Wir fahren in der unterbrochenen Tagesordnung fort. Ich rufe auf Punkt 5 der Tagesordnung:
a) Dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge ({0}) ({1});
Zusammenstellung der Beschlüsse in zweiter Beratung ({2})
({3});
b) Dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP/DPB, FU ({4}) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Einkommensteuergesetzes ({5}).
({6})
Zunächst die allgemeine Aussprache. Der Altestenrat schlägt Ihnen dazu eine Redezeit vor 120 Minuten vor. Das Wort hat der Abgeordnete Reitzner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Sitzung am 5. März habe ich im Namen meiner Freunde wegen der neuerlichen Verschiebung der dritten Lesung Bedenken erhoben. Damals fragte ich die Koalitionsparteien nach den Gründen der Vertagung. Wir waren der Auffassung, daß die Zwischenzeit benutzt werden sollte, um für die Änderungsanträge eine Mehrheit zu gewinnen. Das hat ihren Unwillen erregt. Heute ist meine Behauptung vom 5. März bewiesen; man wollte in Wahrheit Zeit gewinnen, um den Widerständlern vom Norden bis zum Süden eine Mehrheit zu verschaffen.
Soweit ich im Augenblick - es war nur einige Minuten möglich - die Änderungsanträge beurteilen kann, möchte ich sagen, daß wir nicht in der Lage sind, für diese sogenannten Kompromißvorschläge zu stimmen. Diese Änderungsanträge sind in Wahrheit gar kein Kompromiß; sie verwässern das Gesetz, machen es unwirksam, und die Profilierung, die das Gesetz durch die Ausschußvorlage hatte, wird hier verzerrt. Ich glaube, meine Damen und Herren, daß über diesem Gesetz ungeschrieben der Geist der kollektivistischen Ethik, der gemeinsamen Verantwortung walten sollte.
({0})
- Das ist genau das, was der Herr Finanzminister
Schäffer gesagt hat. Ich kann Ihnen aus dem
Protokoll vorlesen, was er am 18. Januar verlangt
({1})
hat. Ich komme noch auf diese Rede zu sprechen. - Das ist es, was wir brauchen: die gemeinsame Verantwortung. Der Geist dieser gemeinsamen Verantwortung fehlt den Änderungsanträgen.
Es ist ohnedies schon spät. Die dritte Lesung in der 254. Sitzung ist ein bedenkliches Zeichen. Aber es ist trotzdem noch nicht zu spät. Dieses Gesetz könnte ein bedeutsames und wirksames Gesetz sein, wenn die Ausschußvorlage wiederhergestellt würde. Es könnte ein rascher und wertvoller Beitrag zur Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen sein und dazu beitragen, die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen zu lindern und die Entstehung neuer politischer Probleme und Spannungen zu verhindern. Durch die Änderungsanträge, die wohl noch begründet werden und zu denen wir noch im einzelnen Stellung nehmen werden, wird das Gesetz verschlechtert. Die SPD wird daher für die Ausschußvorlage stimmen. Wir tun das nicht frei von Bedenken, aber in der Überzeugung, daß eine neue Vertagung oder Verzögerung untragbar ist und nicht gebilligt werden kann.
Die großen Ereignisse unserer Zeit sind in ihrem Umfang und ihrer Wucht oft schwer zu übersehen. Die alten Normen gelten nicht mehr. Was heißt es denn und wer faßt es noch, wenn wir sagen: 20 Millionen sind vertrieben worden!? Erst wenn wir versuchen, dieses Massenunheil in Einzelfälle aufzugliedern, dann sehen wir die Tragödie. Spricht man beispielsweise in Bayern mit einem bayerischen Landwirt über die Notlage der heimatvertriebenen Landwirte, dann findet man fast überall Verständnis, Einsicht und die Bereitschaft, Opfer zu bringen und zu helfen. Hört man aber einen bayerischen Anwalt etwa aus den Reihen der Bayernpartei, wenn er sich auf politischer Fahrt befindet, über dieses Problem sprechen, dann erkennt man, wie den Dingen auf einmal eine Schablone übergestülpt wird. Der Mensch Flüchtling wird eine Drohne, wie Dr. Fischbacher behauptete, der Mensch Flüchtling wird ein Gegner, wird ein Feind.
Es ist ja nicht gleichgültig, in welchem Ton wir über dieses Problem sprechen, ob wir ernstlich den Versuch unternehmen, es zu objektivieren, oder ob wir uns von egoistischen Sonderinteressen leiten lassen. Was übers Wochenende mancherorts zu dem Thema gesagt wurde, ist menschlich unverantwortlich und politisch und wirtschaftlich untragbar. Ich habe am letzten Wochenende - um nur ein Beispiel zu nennen - in Erding in Oberbayern hören müssen und es dann in der Presse bestätigt gefunden, wie auf einer Bezirksversammlung der Bayernpartei zu dem Problem der Flüchtlinge aus der Sowjetzone und zu dem Problem des Bundesvertriebenengesetzes von maßgeblicher Seite gesprochen wurde. Der Herr Präsident wird gestatten, daß ich, um korrekt zu bleiben, wörtlich zitiere. Der Herr Abgeordnete Simon Weinhuber der Bayernpartei hat zu dem Problem der Massenauswanderung aus der Sowjetzone gesprochen und hat gesagt, daß „die Propaganda des Ministers für gesamtdeutsche Fragen schuld an der Lage" ist, „denn Minister Kaiser rief ja: Kommt in Massen!"
({2})
- Von Weinhuber?
({3})
- Ach so, mag sein. Das sagen Sie in Erding, nicht hier!
Dann hat der Herr Abgeordneter Weinhuber zum Vertriebenengesetz gesprochen und mußte, einmal
in politischer Fahrt, natürlich zu Worten greifen, die hier niemand billigen wird. Er sagte mit Bezug auf das Bundesvertriebenengesetz: „Wenn das so weitergeht, haben wir bayerischen Bauern bald keine Existenzberechtigung mehr; am besten, wir besorgen uns heute schon einen Auswanderungsschein, damit die anderen Platz haben."
({4})
Das ist verantwortungslos und steht im Widerspruch mit der Wahrheit und mit den Tatsachen. Natürlich gibt es Interessengegensätze; die hat niemand geleugnet. Die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge kann ja nicht im luftleeren Raum geschehen. Das wissen wir alle. Es geht eben darum, in ein halb zerstörtes Gesellschaftsgefüge ein fast ganz zerstörtes einzuordnen oder es wieder aufzubauen.
Dabei ergeben sich zwangsläufig Schwierigkeiten. Wir sehen hier drei fundamentale Schwierigkeiten vor uns. Die Eingliederung befindet sich ohne Zweifel sehr oft in einem echten Wettbewerb mit den Interessen gewisser Kreise einheimischer Bevölkerungsschichten. Dem Lastenausgleich, der ein Start für die Eingliederung sein sollte, fehlt jede soziale Basis.
({5})
- Die breite soziale Basis fehlt dem Lastenausgleich! - Ferner darf man die Schwierigkeiten der Verwaltung nicht übersehen, die oft für die Betreuung einer zusätzlichen Bevölkerungsschicht unvollständig eingerichtet ist. Das sind sicher subjektive und objektive Schwierigkeiten, mit denen wir alle zu rechnen haben.
Ich möchte hier nicht selber Mitleid kultivieren; aber das Vertriebenenschicksal ist doch das Schicksal einer Gruppe, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit und wegen des verlorenen Hitler-Krieges haftbar gemacht wurde. Blinde Zufälligkeit hat gewütet und blinde Zufälligkeit hat entwurzelt. Ein sozialer Sturz wie selten in der Geschichte ist unleugbar eine Folge dieser Vertreibung. Keine Legendenbildung kann die bittere Tatsache dieses sozialen Sturzes übertönen. Ich möchte doch gern einmal wissen - wenn man die Kraft der Vorstellung hätte, sich ein Bild zu machen -, was beispielsweise die Herren von Dr. Besold bis Tobaben machen würden, wie sie sich verhalten, wie sie reagieren und denken würden, wenn das Unheil der Vertreibung in die Slowakei sie betroffen hätte Dieses geographische Mißgeschick hätte ja auch andere treffen können, dieser furchtbare Sturm hätte ja auch vom Westen nach dem Osten toben können. Ich will damit sagen, hier herrscht das Gesetz der Relativität. Viele unserer einheimischen Mitbürger sehen die Dinge anders als derjenige, der im Kreise steht.
Ich möchte mich vor allem gegen eine Legendenbildung wenden, die darin besteht, daß man aus dem Singular verallgemeinert, daß man von dem Flüchtling spricht, der schon saturiert ist. Gewiß gibt es Heimatvertriebene, die gut saturiert sind, die ausgezeichnete Positionen einnehmen. Aber die überwiegende Mehrheit der Heimatvertriebenen lebt noch in bedauernswerten Verhältnissen. Nicht jeder hat ein Häuschen oder eine neue Wohnung. Ich kenne Heimatvertriebenenwohnungen, in die es in Wahrheit noch hineinregnet.
({6})
({7})
- Auch, gut! Wir wollen ja auch den Einheimischen nichts nehmen. Wir wenden uns nur gegen die Legendenbildung, die stellenweise sichtbar wird. Das ähnelt der Geschichte der Schulbuben, der einen Aufsatz mit der Überschrift zu schreiben hatte: „Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?" Da schreibt der Bub: „Ich möchte Flüchtling werden, der geht den ganzen Tag spazieren und arbeitet nicht." Eine solche Legendenbildung finden wir sogar bei führenden Männern der bayerischen und deutschen Politik. Ich muß noch einmal Dr. Fischbacher zitieren, der gesagt hat: „Die Zugewanderten leben hier wie Drohnen, für die die Einheimischen arbeiten müssen."
({8})
- Das hat er selber gesagt. Das hat er zugegeben und in der Presse nicht dementiert. Gegen eine derartige Entstellung wenden wir uns.
Hier ist also nicht nur ein Problem vom Standpunkt der Heimatvertriebenen zu lösen, es ist wirtschaftlich und sozial gesehen eine gesamtdeutsche Aufgabe zu lösen. Denn mit der zunehmenden Eingliederung der Heimatvertriebenen wird auch die soziale Struktur der Gesamtbevölkerung günstig beeinflußt. Daher glauben wir, daß das Heimatvertriebenenproblem kein Problem ist, das man in die Schublade legen und von den anderen Problemen Westdeutschlands hermetisch absondern kann. Das Problem muß vielmehr gemeinsam mit allen unseren sozialen Aufgaben, mit allen unseren wirtschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen, gesehen werden. Die Unobjektivität haben wir ja auch in diesem Hause und nicht nur außerhalb des Hauses erfahren. Herr Abgeordneter Dr. Frey hat in der 251. Sitzung folgendes gesagt - ich gestatte mir wieder, Herr Präsident, wörtlich vorzulesen -:
Bei diesem Punkte
- Mitwirkung der Siedlungsbehörde setzt eben die Sache mit dem Vertrauen ein. Wie sind diese Siedlungsbehörden zusammengesetzt? Es hat sich aus der Natur der Verhältnisse ergeben, daß sich der Beamten- und Angestelltenkörper nahezu ausschließlich aus Heimatvertriebenen und Flüchtlingen zusammensetzt.
„Nahezu ausschließlich" ! In der Zwischenzeit hatten wir die Möglichkeit, die Richtigkeit der Angaben und Behauptungen des Herrn Kollegen Dr. Frey nachzuprüfen. Das „ausschließlich" ist weit von den wirklichen Tatsachen entfernt. Die bayerische Landessiedlungsbehörde hat 256 Angestellte und Beamten; davon sind 47 Heimatvertriebene. Heißt das wirklich: ausschließlich von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen besetzt? Dabei untersuche ich noch gar nicht den Rang der 47 beschäftigten Heimatvertriebenen. So etwas kann man also nicht unwidersprochen sagen, und daher glaube ich, daß wir uns bemühen sollten, so objektiv wie möglich zu sein; auch ich möchte das hier tun.
Wir haben wenn wir solche Stimmen hören. oft den Eindruck, daß es am guten Willen fehlt, das Problem sachlich und objektiv zu beurteilen. Wie können wir Deutschen hoffen, im Ausland gehört zu werden, wenn wir den Anruf, der sich aus dem Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem ergibt, nicht damit beantworten, daß wir dort, wo wir selbst Verfügungsgewalt haben, sozial gesunde Verhältnisse schaffen und alles tun, um krisenfester zu werden! So liegen doch die Dinge. Das ist ja auch nur ein Teil der sozialen Verpflichtungen. Ohne
Zweifel, das Vertriebenenproblem ist nicht das einzige Problem. Es ist ein wichtiges Problem; aber daneben gibt es eine Reihe anderer Verpflichtungen, denen wir uns nicht entziehen können. Die Lage breiter Massen der einheimischen Bevölkerung ist gar nicht beneidenswert. Sie ist sozial gesehen genau so schlimm wie die der Flüchtlingsmassen. Die Lage der Rentner, der Kriegsversehrten, der Arbeitslosen und auch der Kurzarbeiter und vieler Arbeiter ist schlimm genug. Wir sehen hier auch Schichten, die noch um die elementarsten Lebensbedingungen kämpfen. Noch haben wir 1 800 000 Arbeitslose. Hier zeigt sich wiederum, daß der Lebenskreis der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge im Lebenskreis des deutschen Volkes liegt. Der Kampf um eine echte soziale Ordnung sollte ja auch das erste Anliegen aller Heimatvertriebenen sein, weniger das geistige Hängenbleiben an alten Vorstellungen und alten Zuständen in der Heimat.
Das alles - ich weiß es - ist nicht neu. Seit Jahr und Tag ist das Vertriebenenproblem bekannt. Nur hat es in den letzten Wochen durch den Flüchtlingsstrom aus der Ostzone eine Verschärfung erfahren. Es brennt jetzt unter den Nägeln, und wir fühlen die Unterlassungssünden, die auf uns liegen, wie eine Hypothek. Wären die Regierung und die Mehrheit dieses Bundestages diesem Problem rascher und energischer auf den Leib gerückt, so wäre die Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge heute leichter. So müssen sich die Spannungen verschärfen, so müssen neue politische Probleme erwachsen, und so müssen sich die bisherigen Maßnahmen als nicht genügend erweisen. Sie können den Zustrom neuer Flüchtlinge einfach nicht mehr aufhalten und mit ihm nicht Schritt halten. Wir haben ja in Westdeutschland bisher eine Bevölkerung aufgenommen, die an Zahl der Bevölkerung Dänemarks und der Schweiz entspricht, und wir werden mit diesem Problem noch lange zu tun haben. Aber da nützen uns weder die unrealistischen Vorschläge des Herrn v. Cube in München noch nützt uns im Augenblick der Blick des Herrn Bundeskanzlers übers Meer nach Kanada. Wir selber müssen hier ein Höchstmaß von eigener Leistung und Anstrengung mobilisieren und planvoll dem Problem zu Leibe rücken.
Wie die Dinge oft oberflächlich oder optimistisch beurteilt werden, das zeigt die Äußerung des Herrn Finanzministers Schäffer, eines Mannes, der sonst ein kühler Rechner und überlegt ist. In der Sitzung vom 28. Jänner sagte er - ich zitiere wieder mit Genehmigung des Herrn Präsidenten-:
Wir müssen hoffen, daß das große ethische Ziel, das sich die Gesetzgebung ... gestellt hat, im Jahre 1955, zehn Jahre nach dem Kriegsende, im wesentlichen erreicht ist und daß die Eingliederung dieses Bevölkerungsteils in die deutsche Wirtschaft im großen und ganzen vollzogen ist, so daß wir dann wieder ein Volk geworden sind und unter gleichen Wettbewerbsbedingungen im Wirtschaftsleben einander gegenüberstehen.
Wohl dem, wenn dem so wäre. Aber es gehört wirklich der größte Optimismus dazu, bei dem Tempo und bei der Energie, mit denen diese Maßnahmen betrieben werden, zu hoffen, daß die Eingliederung der Heimatvertriebenen 1956 im großen und ganzen abgeschlossen sein wird. Es wäre nämlich schon lange erforderlich gewesen, den gesamten Bereich des politischen und wirtschaftlichen
({9})
Denkens und des sozialen Gewissens auf die Behebung dieses besonderen Notstandes einzustellen. Das ist nicht geschehen.
Gerade diese Woche, am 21. März, sind es zwei Jahre her, daß der Sonne-Plan der Bundesregierung vorgelegt wurde. Diese Frühlingssonne aber ist nie in Westdeutschland aufgegangen. Der Sonne-Plan liegt irgendwo im Dunkeln. Ich frage: haben die Regierung und die zuständigen Stellen einmal wirklich den ernsten Versuch unternommen, nachzudenken und Nachforschungen über die Mittel anzustellen, die es uns ermöglichen könnten, Teile des Sonne-Plans zu realisieren? Das ist nicht geschehen. Manche Folgerungen des SonnePlans klingen wahrscheinlich nicht gut in den Ohren der Regierung und der Mehrheit dieses Hauses, nämlich besonders die Empfehlung, die sagt, daß das Flüchtlingsprogramm jedem Verteidigungsprogramm mindestens gleichgesetzt werden sollte.
({10})
Das hat man nicht gern gehört, und deswegen ging diese Frühlingssonne des Herrn Sonne nicht auf. War es nicht ein guter und sachlich begründeter Ratschlag, zu sagen, die Berufskenntnisse und Erfahrungen der Heimatvertriebenen soll man nicht brach liegen lassen, sondern in die westdeutsche Wirtschaft einbauen, damit daraus ein wertvolles Aktivum entsteht? Das war vor zwei Jahren. Und wenn wir rückwärts blicken, den Verlauf der Binnenumsiedlung überschauen, dann ergibt sich ein schwarzumrandetes Bild. Die erste Umsiedlung vom Jahre 1949 - damals sollten 300 000 Flüchtlinge umgesiedelt werden - wurde mit dem Ende 1951 abgeschlossen. Das zweite Umsiedlungsgesetz läuft noch; es soll, so hören wir, bis Ende 1953 erfüllt sein. Das dritte Umsiedlungsgesetz wird wohl erst 1956 durchgeführt werden können. Das ist das Ergebnis dieser Umsiedlung.
Seit 1949 hat die SPD dem Hause gangbare Wege vorgeschlagen, um das Vertriebenenproblem als Ganzes zu sehen und den Versuch der Lösung zu unternehmen. Unwidersprochen haben wir immer wieder feststellen können, daß die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt 11/2 Millionen Menschen erfaßt, daß aber auf der anderen Seite von der deutschen Wirtschaft 2 Milliarden DM für Oberstunden bezahlt wurden. Die SPD wollte ein Viertel des Überstundenentgelts vom Arbeitgeber als Steuer einziehen, wobei der Arbeitgeber die Wahl gehabt hätte, diese Abgabe zu zahlen oder sie durch Einstellung neuer Arbeitskräfte abzuwenden. Unsere Vorschläge sind nicht beachtet worden. Wir wollten weiter dort, wo die Besetzung von Arbeitsplätzen die Bereitstellung von Mitteln erforderlich macht, die Reserven der Arbeitsverwaltung, die über den heutigen Vermögensstand hinaus anlaufen, nicht für Notstandsarbeiten von zweifelhaftem volkswirtschaftlichem Wert, sondern als rückzahlbare Darlehen zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen verwendet wissen. Unsere Vorschläge sind nicht gehört worden. Kein ernster Versuch ist unternommen worden, hier mit diesem Finanzierungsplan Arbeit und Wohnung zu schaffen.
Dabei übersieht die SPD gar nicht die gewiß lebenswichtigen Fragen im landwirtschaftlichen Sektor und besonders die Fragen unserer Ernährung und der Versorgung. Gerade der Sog der Stadt und die Tatsache, daß die Verbundenheit
mit dem Boden anscheinend immer lockerer wird, drängt ja zu Überlegungen und Maßnahmen. Solche Überlegungen ernster Natur haben auch innerhalb der SPD stattgefunden. Es handelt sich bei dieser Landflucht nicht allein um eine konjunkturbedingte oder vorübergehende Erscheinung. In Deutschland ist eben ein allgemeiner Strukturwandel im Anmarsch. Das wird häufig noch übersehen. Eine der Ursachen der Landflucht liegt in dem Unterschied des Arbeitseinkommens zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft zuungunsten der Landarbeit.
In den Protokollen über die Reden und Äußerungen der Vertreter der sogenannten Grünen Front lese ich jetzt immer die Sorge um die Landarbeiter. Ich möchte mir erlauben, die Sprecher dieser sogenannten Grünen Front auf die Tatsache der Untertarifbezahlung breiter Kreise der Landarbeiter hinzuweisen.
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- Ja, also, das stimmt. Ich habe mir hier eine Statistik von amtlicher Stelle geben lassen, nach der beispielsweise im Kreise Göttingen nur 70 % der Landarbeiter, im Kreise Duderstadt und Nienburg nur 30 bis 40 % der Landarbeiter nach dem Tarif bezahlt wurden.
({12})
- Auch in Bayern! ({13})
- Kommen Sie mal zu mir, Kollege Horlacher! Ich bringe Ihnen einige Landarbeiter aus meiner Umgebung, die werden Ihnen sagen, wie sie leben müssen und wie sie bezahlt werden. Das ist die Wahrheit. Wenn Sie also um die soziale Lage der Landarbeiter besorgt sind, - da ist noch ein Gebiet, auf dem man schaffen und Gutes tun könnte. Aber die Entlohnungen unter dem Tarif tragen ja dazu bei, daß die Landflucht immer stärker wird. Und weil beide Einkommensgruppen eben oft im selben Ort oder im selben Kreis gegeneinander stehen und miteinander betrachtet werden, kommt es zu diesen Erscheinungen, gar nicht zu reden von der Abhängigkeit der Landarbeiter, die heute noch sprichwörtlich ist. Hier, meine Herren, könnten Sie sozial wirken! Aber Ihre Kurzsichtigkeit Ihren eigenen wirklichen Interessen gegenüber gestattet Ihnen ja nicht, das zu tun, was auch für die Eingliederung und für die einheimische Landwirtschaft, für den einheimischen Landmann, am zweckmäßigsten wäre.
Denn wie steht es wirklich? Wenn die Eingliederung eines Teils der vertriebenen Landwirte erfolgt, dann ist doch das eingegliederte ostdeutsche Landvolk nicht nur aus dem Bannkreis der eigenen Verelendung befreit, dann vermag auch darüber hinaus die Stellung dieser eingegliederten Landwirte das Gewicht des Bauerntums im Rahmen des deutschen Volkes zu verstärken, und zwar wesentlich zu verstärken. Wir müssen uns immer fragen, wo denn die Verwirklichung der viel zitierten Forderung der Bewegung des Bodens zum besseren Wirt bleibt. Diese Forderung ist auf den Plakaten zu lesen, ist aber in Wahrheit nicht verwirklicht.
Nun möchte ich abschließend noch zu einem Problem sprechen, das in der Öffentlichkeit sehr
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häufig diskutiert wird. Als in der Presse zu lesen war, daß jetzt, sieben Jahre nach der Vertreibung, ein Bundesvertriebenengesetz dem Deutschen Bundestag zur Diskussion und Beratung vorgelegt wird,
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da fragte man sich: Ist denn überhaupt noch sieben Jahre nach der Vertreibung ein Vertriebenengesetz notwendig, oder kommt es nicht zu spät? Und die Frage wird erwogen: Wollt ihr denn ewig Flüchtlinge bleiben? Wollt ihr denn ewig Vertriebene bleiben? Das ist eine Frage, die man immer wieder hört und die natürlich beantwortet werden muß, Der § 13 des Gesetzes nimmt ja auch darauf Bezug: die Betreuung soll nämlich ein Ende finden, wenn der Heimatvertriebene in einem zumutbaren Maß - verglichen mit seinen früheren Verhältnissen - eingegliedert ist. Wenn das erreicht ist, muß nach unserer Auffassung die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen aufhören. Aber der Heimatvertriebene bleibt weiter Vertriebener, weil er seine Heimat verloren hat und weil er selbstverständlich das Naturrecht auf die Rückkehr in seine Heimat - volkswirtschaftlich gesehen die Rückkehr an seinen alten Arbeitsplatz in seiner Heimat - nicht aufgeben will und auch nicht aufgeben kann. So liegen die Dinge. Aber solange die Erfüllung der Forderung nach der Rückkehr an den alten Arbeitsplatz in der Heimat noch in der Ferne liegt, ist unsere primäre Aufgabe die Erhaltung und Vermehrung der Substanz, und die Erfüllung dieser Aufgabe ist damit auch eine politische und soziale Forderung. Erst der Aufbau unseres äußeren wirtschaftlichen und sozialen Lebens wird jene geistigen und politischen Kräfte - ich meine hier den Sektor der Heimatvertriebenen, der Flüchtlinge - freimachen, ohne die es kein geordnetes demokratisches Staatsgebilde geben wird.
Wenn heute in der Presse mit großen Lettern von Naumann und Genossen und von dem Recht, von dem Anwalt gehört zu werden, gesprochen wird, und wenn wir dabei natürlich nicht unberechtigterweise an neonazistische Gefahren denken, dann möchte ich dazu folgendes sagen: Die Naumanns und Gesellen werden so lange Unteroffiziere oder Offiziere ohne Mannschaft-sein, solange es ihnen nicht gelingt, Fußvolk aus den breiten Massen der Heimatvertriebenen und Einheimischen zu rekrutieren.
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Erst wenn diese Gefahr akut wird, ist der Neofaschismus eine wirkliche Gefahr. Bis dahin sind
die Naumanns nach meiner Meinung lächerliche
Schießbudenfiguren. Aber wenn es ihnen gelingt,
Heimatvertriebene zu gewinnen, entsteht die reale
Gefahr, mit der wir uns auseinanderzusetzen
haben. Die Bundesrepublik als demokratischer
Staat mit seiner kurzen Entwicklungszeit wird erst
dann krisenfest werden, wenn es uns gelingt, die
Massen der sozial schwachen Heimatvertriebenen
und Einheimischen in ein positives Verhältnis zur
Demokratie zu bringen; und dieses positive Verhältnis kann nur erzielt werden, wenn wir alle
Anstrengungen in Richtung auf Vollbeschäftigung,
Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohnungen für
beide, Einheimische und Vertriebene, mobilisieren.
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- Sie reden von Propaganda! Wenn ich die Sonntagsreden aus Ihrem Kreise lese, in denen man
nationale Hochziele verkündet oder europäische Verteidigungspläne propagiert, dann möchte ich sagen: man muß auch an den Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag denken und vom Montag bis zum Sonntag für diese Ziele arbeiten.
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- Das sind keine Phrasen. Das ist ein realer Tatbestand. Wollen wir einmal gelten lassen, daß es so etwas wie einen abendländischen Charakter gibt; ich weiß es nicht, es wird behauptet, daß es so etwas gibt.
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- Nun, ich bin mir manchmal nicht klar, was Sie unter abendländischer Kultur verstehen.
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Ich bekenne mich dazu. Ich weiß aber auch, was manche Ihrer Kreise wollen. Abendländische Kultur heißt für Sie: restaurative Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das ist die Wahrheit.
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Aber wenn es so etwas wie einen abendländischen Charakter gibt, dann sollte sich dieser Charakter im Kampfe um die soziale Gerechtigkeit im deutschen Volke, im eigenen Hause betätigen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich sehr kurz fassen, da nach meiner Meinung nach der sehr eingehenden Debatte in der zweiten Lesung kaum noch viel Neues zu sagen ist. Wenn ich trotzdem ein paar grundsätzliche Ausführungen zu dem Thema machen will, über das wir uns nicht haben verständigen können, nämlich zu der Eingliederung unserer Bauern, so hin ich sicher, daß diese Zeit nachher bei der Begründung der Anträge eingespart wird, da ich das dann nicht mehr zu sagen brauche.
Wenn wir in dieser entscheidenden Frage eine richtige Antwort finden wollen, dann missen wir uns die Aufgabe vor Augen halten. Wir müssen darüber Klarheit gewinnen, welche Aufgabe wir hier zu lösen haben. Wir stehen vor der Tatsache, daß 300 000 bäuerliche Familien aus dem Osten gekommen sind und daß ein ständiger Zustrom von Sowjetzonen-Bauern über Berlin zu uns kommt. Bisher sind 35 000 wieder angesetzt worden. Das sind rund 10 %. Es ist ganz sicher, daß von den übrigen ein großer Teil für die Ansiedlung nicht mehr in Betracht kommt, aus Gründen, die ich hier gar nicht zu nennen brauche. Aber ebenso wird man mir wohl nicht widersprechen, wenn ich sage, daß der Plan, in den nächsten fünf Jahren je 20 000 Bauern anzusetzen, nicht daran scheitern wird, daß die Bewerber nicht da sind. Sie werden unter allen Umständen da sein. Wir stehen vor dieser Aufgabe, wenn wir die bäuerliche Substanz aus dem Osten im Hinblick auf die einstige Rückkehr und Neubesiedlung unserer Heimat erhalten wollen. Der größte Teil dieser Bauern wartet bereits acht Jahre. Wir sind uns eigentlich in der Vergangenheit immer darüber einig gewesen, daß ein Bauer, wenn er länger als zehn Jahre nicht mehr Bauer gewesen ist, allmählich diese Eigenschaft verliert. Es ist daher Eile geboten. Wir stehen weiter vor der Tatsache,
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daß wir bei dieser Gelegenheit die Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes ausweiten könnten. Wir wissen, daß wir 40 % unseres Nahrungsmittelbedarfs - es mag auch etwas weniger sein - einführen. Wir müssen jede Maßnahme, die nebenher den Erfolg hat, hier ein günstigeres Verhältnis herzustellen, begrüßen. Da ist eine staatspolitische Aufgabe ersten Ranges.
Ich glaube, daß durch den Lastenausgleich die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, daß Geldmittel in ganz anderem Umfange als bisher zur Verfügung stehen. Ich darf darauf hinweisen, daß der Kontrollausschuß für diesen Zweck allein 280 Millionen DM für das kommende Jahr bereitgestellt hat. Auch das Land wird oder muß da sein. Nach dem Statistischen Jahrbuch von 1952 gibt es in der Bundesrepublik 1 178 000 ha Ödland. Das ist ganz bestimmt sehr vorsichtig und deshalb wahrscheinlich zu gering geschätzt. Mit Ödland allein ist es aber nicht zu schaffen, weil die Bebauung zu teuer ist und zu lange dauert. Die Menschen sind, wie ich schon sagte, da, und es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das Land, die Mittel und die Menschen zueinander kommen.
Im Rahmen dieses Gesetzes geht es in der Hauptsache um die Landbeschaffung. Die Hauptstreitfrage ist eigentlich die: Kommen wir mit dem bisherigen Prinzip der Freiwilligkeit aus, oder müssen wir im beschränkten Umfange Zwangsmaßnahmen vorsehen? Ich glaube, das ist die Kernfrage, die zu beantworten ist. Man kann sie natürlich nur nach dem bisherigen Ergebnis beurteilen, und deshalb müssen wir es etwas näher ansehen. Die genaue Zahl der Angesetzten beträgt für den Jahresschluß 1952 35 084. Das ist die Gesamtzahl der Stellen. Davon sind 48,5 % oder 16 969 Nebenerwerbsiedlerstellen bis zu 2 ha, 12,8 % oder 4496 Stellen von 2 bis 5 ha, 14,6 % oder 5135 Stellen von 5 bis 10 ha und - nun kommt der letzte Posten - 24,1 % oder 8468 Vollbauernstellen über 10 ha. Das bedeutet, daß in mehr als drei Jahren über 8000 Vollbauern angesetzt worden sind. Das sind noch nicht 3000 im Jahr. Wie ich aber vorhin schon sagte, stehen wir vor der Aufgabe, in den kommenden fünf Jahren je 20 000 anzusetzen. Wenn das auch nicht alles Vollbauernstellen sein können und sein werden, so sind wir uns doch darüber klar, daß es in diesem Tempo nicht weitergehen kann. Für den Zeitpunkt, als 17 000 Stellen geschaffen waren, waren das, wie ich einer amtlichen Veröffentlichung entnommen habe, 0,6 % der bäuerlichen Betriebe und 0,015 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Daraus ergibt sich ja erst die richtige Beurteilung der Größenordnung. Jeder 37. Vertriebenenbauer ist wieder, und zwar, wie ich annehmen muß, als Vollbauer angesiedelt worden; sonst würde die Zahl nicht stimmen. Man hat uns darauf hingewiesen, daß auf diesem Wege insgesamt 265 000 ha Land in die Hände von Vertriebenen gebracht worden sind. Die Zahl von 0,015 % der landwirtschaftlich genutzten Flächen zeigt, daß das nicht ausreicht. Ich darf in diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal darauf hinweisen, daß Finnland in vier bis fünf Jahren für etwa die gleiche Zahl Bauern fast zwei Millionen ha zur Verfügung gestellt hat. Das können wir nicht.
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- Mein lieber Horlacher, das zeigt doch jedenfalls, daß hier gewaltige Unterschiede vorhanden sind und daß wir so nicht weiterkommen. Ich möchte die Behauptung aufstellen, daß unsere Bemühungen auf
dem bisherigen Wege zum Scheitern verurteilt sind. Wenn wir so weitermachen, daß wir im Jahr bestenfalls 3000 Vollbauernstellen schaffen, dann haben wir die Schlacht um die bäuerliche Substanz aus dem Osten verloren.
Dabei ist von mir noch nicht in Rechnung gestellt worden, daß die Freiwilligkeit der Bauern, wenn es nun geprüft wird, ja langsam versiegen muß. Es geht in dieser Hinsicht nicht aufwärts, sondern ganz bestimmt abwärts. Wir müssen also zu Zwangsmaßnahmen greifen. Grundsätzliche Bedenken bestehen nicht.
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Darüber kann gar nicht gestritten werden. Das ganze Staatsleben ist davon beherrscht, daß man gegenüber einem Notstand auch zu Zwangsmaßnahmen greifen darf. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß wir schon seit 1919 die Möglichkeit der Enteignung im Siedlungsgesetz haben, die hier ausdrücklich aufrechterhalten und von der Kultivierungseinrede befreit worden ist. Ich darf an die Bodenreformgesetzgebung erinnern, die ja auch einen Zwang vorsieht. Ich darf weiter daran erinnern, daß wir es doch alle auf dem Gebiet der Wohnungszwangswirtschaft in den letzten Jahren erlebt haben, daß man auch vor dem häuslichen Frieden nicht Halt machen kann, wenn die Notwendigkeit es erfordert.
({3})
Wir haben die Eingriffe, die wir vorgesehen haben, auf das Nötigste beschränkt; das möchte ich hier ganz besonders herausstellen. Wir haben überhaupt keine neuen Enteignungsmöglichkeiten geschaffen, sondern nur die Pacht auf 18 Jahre vorgesehen. Der oberste Grundsatz, von dem das ganze Gesetz beherrscht wird, ist der, daß keine Existenz gefährdet werden kann. Wie Sie wissen, haben wir überall dort, wo wir solche Eingriffe vorgesehen haben, dazugeschrieben: der abgebende Betrieb darf nicht unwirtschaftlich werden, und für den abgebenden Betrieb soll der Pächter keine unbillige Härte bedeuten.
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Meine Damen und Herren, wir haben uns - wenn Sie mir zurufen „dehnbar", paßt es hier sehr schön herein - der bäuerlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Wir hatten ursprünglich im Gesetz die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. Jetzt haben wir uns damit einverstanden erklärt, daß wir uns der bäuerlichen Gerichtsbarkeit unterwerfen.
Ich bin deshalb der Überzeugung, daß man angesichts des einmaligen Tatbestandes, vor dem wir stehen, diese geringfügigen Einschränkungen, von denen ich mir noch gar nicht sicher bin, daß sie für unsere Zwecke ausreichend sein werden, doch in Kauf nehmen soll. Mit dieser Abwehr jeden Zwanges ist es auf der anderen Seite unvereinbar und schwer verständlich, daß man auch in der Frage der Anreize uns Abstriche gemacht hat und gerade in dem einen Punkt, der sich in der Vergangenheit ganz besonders gut bewährt hat: das sind die Vergünstigungen für den Fall einer Eheschließung. Zu diesem Punkt möchte ich noch eines sagen: Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren, daß diese Bestimmungen drei Jahre in Kraft sind und noch weitere zwei Jahre in Kraft bleiben würden, wenn wir hier nicht gesetzlich eingriffen. Vergessen wir auch nicht, daß in der Ver({5})
gangenheit hier zumindest moralische Bindungen eingegangen worden sind, an denen wir nicht vorüberkönnen. Es steht fest, daß auf diesem Wege etwa ein Drittel der Eingliederungen - gerade der größten Eingliederungen, die ich vorhin erwähnt habe - zustande gekommen ist. Glauben Sie doch nicht, daß dadurch der dörfliche Friede gestört werden wird; er kann genau so gut auch von der anderen Seite her gestört werden, wenn etwa der Vertriebene als Habenichts zurückgewiesen wird und aus diesem Grunde eine Ehe unterbleibt. Ich darf auch jetzt einmal sagen, daß die Ablehnung dieser Bestimmungen zu Umgehungstatbeständen führen würde. Man würde mit weniger Pacht dasselbe Ziel zu erreichen versuchen und wahrscheinlich auch erreichen. Wir wollen aber diesen Anreiz haben, gerade weil wir den Zwang, den wir vorgesehen haben, nur im Notfall anwenden wollen. Wir werden nur zu irgendwelchen Zwangsmaßnahmen greifen, wenn es in der Durchführung gar nicht geht, und es steht schon fest, daß bei den Instanzen, die mit der Durchführung beauftragt sind, im wesentlichen nicht das Vertriebenenelement herrschend sein wird. Darüber kann man doch ernsthaft gar nicht verschiedener Meinung sein.
Nun noch eine letzte Frage. Es ist die zweite Frage, die mir von großer Bedeutung zu sein scheint. Das ist das Verlangen, bei dem neuanfallenden Siedlungsland die Hälfte für die einheimischen Bewerber sicherzustellen. Meine Damen und Herren, das ist in der politischen und wirtschaftlichen Situation, vor der wir stehen, nicht vertretbar. Es würde bedeuten, daß man die zweiten und dritten Söhne gleichsetzte mit unseren Bauern und den ersten Söhnen; und das geht wirklich nicht. Es geht auch wirklich nicht, daß man bei dieser Gelegenheit nun unbedingt nachholen will und muß, was in vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten nicht durchgeführt worden ist. Wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen, so führt das praktisch zu einer Verneinung des Vertreibungstatbestandes. Das ist unmöglich.
Was hat der Ausschuß von Ihnen gefordert? Er hat von Ihnen nichts anderes gefordert, als daß auf die besondere Notlage des Personenkreises, für den das Gesetz gemacht ist, Rücksicht genommen wird. Ja, meine Damen und Herren, ist es überhaupt möglich, daß der Bundestag eine solche Rücksichtnahme auf die Not eines großen Volksteils ablehnt? Das ist doch vollkommen ausgeschlossen!
({6})
Es ist jetzt eine andere Fassung angenommen worden, die Fassung unseres hochverehrten Freundes Horlacher. Jetzt will er sie aber selber nicht mehr wahrhaben.
({7})
Nachdem wir nun gemeinsam mit allen Herren von
den landwirtschaftlichen Abgeordneten zu der
Überzeugung gekommen sind, daß diese Bestimmung so auszulegen ist, daß bei der zweiten
Hälfte die Vertriebenen gleichrangig zum Zuge
kommen, da wird diese Fassung nicht mehr - ({8})
Wir sind jetzt dafür, daß der Antrag Horlacher bleibt, und haben deshalb keinen Änderungsantrag gestellt.
({9})
Wenn aber Bedenken dagegen bestehen, sind wir ebenso gern bereit, wieder zu der Ausschußfassung zurückzukehren, die weiter nichts verlangt, als daß auf die Notlage Rücksicht genommen wird, und die in der Praxis des täglichen Lebens ja doch auch alle Möglichkeiten offenläßt, wie auch die Vergangenheit gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, ich bedaure es außerordentlich, daß die Solidarität, die die bäuerlichen Abgeordneten umschließt, nicht die vertriebenen Bauern mit einbezogen hat.
({10})
Ich wäre sehr glücklich darüber gewesen, wenn es gelungen wäre - und ich würde sehr glücklich darüber sein, wenn es noch gelingen würde -, diesen Widerstand zu überwinden. Denn wir brauchen ja auch die einheimischen Bauern, wenn aus der ganzen Sache etwas Vernünftiges werden soll. Wie soll überhaupt eine solche Sache zum Erfolg geführt werden, wenn solch ein Widerstand auf der andern Seite da ist! Ich bitte, das noch einmal zu überlegen, sich das Schicksal dieser Berufskameraden vor Augen zu führen, auf der andern Seite sich zu vergegenwärtigen, wie wenig doch praktisch letzten Endes in dem Gesetz verlangt wird, und zu überlegen, ob man nicht zu einer anderen Haltung kommen kann. Wir sollen i a morgen einen neuen Schritt auf dem Wege zu Europa hin tun. Meine Damen und Herren, auch dieses Gesetz und seine Verabschiedung ist doch ein ganz erheblicher Prüfstein dafür, ob ein wirklicher Wille zur Gemeinschaft, eine wirkliche europäische Gesinnung da ist. Eine solche Gesinnung würde doch zum Zuge kommen, wenn hier auch unsere bäuerlichen Abgeordneten sich entschließen könnten, unseren Anträgen ihre Zustimmung zu geben.
({11})
Das Wort hat der Abgeordnete de Vries.
de Vries ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich dem eigentlichen Kernpunkt meiner Ausführungen zuwende, der Eingliederung des ostdeutschen Landvolkes, muß ich mir erlauben, ganz kurz den § 23 dieses Antrags, die Bildung des Beirats beim Vertriebenenministerium, zu streifen. Ich tue das deshalb, weil der Berichterstatter Dr. Kather auf diesen Paragraphen eingegangen ist.
Herr Dr. Kather hat darauf hingewiesen, daß die Organisationen der Vertriebenen bei der Beratung dieses Paragraphen unterschiedliche Standpunkte eingenommen haben. Der Zentralverband der vertriebenen Deutschen, den Herr Dr. Kather vertrat, hielt die Bildung dieses Beirats nicht für notwendig, da der Zentralverband befugt sei, den alleinigen Gesprächspartner des Ministeriums abzugeben. Die Landsmannschaften haben sich auf einen anderen Standpunkt gestellt, und zwar aus folgenden Gründen: Die Vertreibung hat die Heimatvertriebenen als Einzelmenschen in allen ihren Lebensregungen erfaßt; sie haben nicht nur die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz verloren, sondern, aus der Heimat vertrieben, den ganzen Bereich ihres gewohnten Lebens auch im Hinblick auf ihr geistiges Leben, auf ihre Kirche usw. Deshalb glauben wir, der Beirat beim Vertriebenenministerium sollte so konstruiert sein, daß die
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Möglichkeit besteht, in ihm alle Lebensregungen der Vertriebenen möglichst genau zu prüfen. Es ist doch unser aller Ansicht, daß die Heimatvertriebenen möglichst schnell, nicht als atomisierte Einzelpersonen, sondern als Angehörige ihrer ostdeutschen Stämme - als Symbol ihrer Zugehörigkeit zur angestammten Heimat - in das Leben unseres Volkes eingegliedert werden. Deshalb begrüßen wir es, wenn in diesem Beirat z. B. die Kirchen - und nicht nur die Kirchen, sondern auch die Wohlfahrtsverbände usw. - voll vertreten sind. Wir glauben, daß eine derartige Konstruktion es ermöglichen wird, diesen Prozeß einer wirklichen Eingliederung möglichst schnell - soweit es die Funktion des Beirats betrifft - zu Ende zu führen.
Aber die Landsmannschaften haben bei der Begründung dieser ihrer Haltung noch eine andere Überlegung gehabt. Ich kann sie nur andeuten. Die Landsmannschaften sind der Ansicht, daß, wenn aus einem Gesamtkomplex eine Organisation
- dieses Mal wäre es der Zentralverband der vertriebenen Deutschen gewesen - eine, wenn ich so sagen darf, Monopolstellung im Sinne der Vertretung eines Gesamtproblems erhält, dies weder für diesen Verband selbst, noch für die Vertriebenen überhaupt wünschenswert ist. Denn es ist doch klar, daß eine Monopolstellung immer gewisse Gefahren - auch für eine solche Organisation selbst
- in sich schließt.
Ich habe eben von den Organisationen der Vertriebenen gesprochen. Dazu möchte ich mir einige Feststellungen erlauben. Neben der Vertretung der heimatvertriebenen Wirtschaft und Landwirtschaft bestehen auf Bundesebene nur zwei umfassende Organisationen der Heimatvertriebenen: der Zentralverband der vertriebenen Deutschen und der Verband der Landsmannschaften. Die Vertretungskörperschaften dieser Verbände haben beschlossen - und sie glauben, damit einem alten Wunsch der Masse der Heimatvertriebenen entgegenzukommen -, den Bund der vertriebenen Deutschen auf Bundesebene zu schaffen. Ein solcher Bund der vertriebenen Deutschen besteht aber heute noch nicht. Wer heute glaubt, im Namen eines solchen Bundes sprechen zu können, tut dies ohne rechtmäßige Legitimation von seiten der Vertriebenen. Ich glaube, es ist gut, wenn sich die Presse diese Tatsache merkt und sich auch in der Terminologie an diese Tatsache hält. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich Ihnen eine ganz kurze Meldung aus der „Vertriebenen-Korresnondenz", dem Mitteilungsorgan des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen, Nr. 6, vorlesen. Überschrift: Dr. Kather an Königin Juliane!
Text:
Dr. Kather hat namens des Bundes der vertriebenen Deutschen der Königin Juliane der Niederlande die aufrichtige Anteilnahme an dem großen Unglück ausgesprochen, das das holländische Volk durch die Sturmflutkatastrophe betroffen hat.
Meine Damen und Herren, daß die Heimatvertriebenen aufrichtiges Mitgefühl für die Opfer der Sturmkatastrophe in Holland empfinden, ist eine Selbstverständlichkeit, und die namhaften Spenden, die u. a. von seiten der Landsmannschaften der Hollandhilfe zugeleitet worden sind, sind ein äußeres Zeichen dafür. Ebenso selbstverständlich ist es. daß die Heimatvertriebenen Ihrer Majestät der Königin Juliane sehr dankbar dafür sind, daß sie mehrfach, u. a. in einem Schreiben an Präsident
Truman, die Initiative zu einer vernünftigen Lösung des Vertriebenenproblems ergriffen hat. Aber gerade weil dem so ist, werden Sie mir wohl zustimmen, wenn ich sage, daß ein so erfahrener Politiker wie Herr Dr. Kather ganz sicher nicht im Namen eines nicht bestehenden Verbandes ein Telegramm an den Souverän eines uns befreundeten Nachbarvolkes gesandt hat. Es wäre deshalb gut, wenn Herr Dr. Kather die „Vertriebenenkorrespondenz" anhielte, den Tatsachen entsprechend zu berichten.
Nun komme ich zur Frage der Eingliederung des heimatvertriebenen Landvolks. Das heimatvertriebene Landvolk, Bauern und Landarbeiter, haben die große Bewährungsprobe, die sie nach 1945 ablegen mußten, bestanden. Denn es ist eine Tatsache, daß keine deutsche Ernte nach 1945 hätte eingebracht werden können und daß auch die Produktion der Landwirtschaft nicht so gewachsen wäre, wenn nicht der deutsche Bauer aus dem Osten von neuem den Pflug und den Rechen ergriffen hätte, um nun, nicht mehr auf eigenem Boden, dazu mitzuhelfen, daß die deutsche Landwirtschaft auch weiterhin leben kann.
Bei der zweiten Lesung dieses Gesetzes ist immer wieder das Wort „Zwang" gebraucht worden. Ich glaube, es ist notwendig, sich eins ganz klar vor Augen zu halten: Weder dieses Gesetz noch das Gesetz über den Lastenausgleich enthalten auch nur den kleinsten Hinweis auf das, was man eine wirkliche Enteignung nennt. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, was heute in den Gebieten um die Bundesrepublik vor sich geht. Ich bitte nicht zu vergessen, daß nach einem völligen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, nach einer bedingungslosen Kapitulation die Rechtsordnung in der Bundesrepublik und die bestehenden Eigentumsverhältnisse in keiner Weise berührt worden sind. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß gerade die Heimatvertriebenen mit die festesten und tatkräftigsten Vertreter der Rechtsordnung und des Eigentumsbegriffs gewesen sind. Wenn es dazu gekommen wäre, daß die Heimatvertriebenen die Rolle gespielt hätten, die ihnen Stalin einmal zugedacht hatte, so säßen wir nicht so ruhig in diesem Saal, und die Sozial- und Rechtsordnung im Bundesgebiet wäre nicht so unangetastet geblieben, wie es der Fall ist. Und wir freuen uns darüber.
({2})
- Es ist nur eine Feststellung, Herr Dr. Müller. Wir sind ebenso überzeugt davon wie die Mehrheit dieses Hauses, daß das westdeutsche Bauerntum im Kern gesund ist. Aber auch ein gesunder Körper kann schmerzende Stellen haben. Ich darf nur darauf hinweisen, was das Problem der wüsten und auslaufenden Höfe bedeutet. Wäre es nicht richtig und selbstverständlich, daß so schnell und in so großem Umfang wie nur irgend möglich das frische Bauernblut aus dem Osten dazu aufgerufen würde, diese Lücken zu schließen? Vergessen wir doch nicht, wo die bolschewistischen Panzer stehen! Vergessen wir nicht, daß viele Kräfte dazu ausgebildet werden, die Sozialordnung auch im Bundesgebiet zu unterhöhlen! Ist es nicht richtig, den Stand, der letzten Endes den Kern eines jeden Volkes bildet, den Bauernstand, so fest, so gesund und so stark wie möglich zu machen? Ist es nicht richtig, so schnell es geht die Reihen der Bauernschaft durch möglichst viele Neubauern aufzufüllen?.
({3})
Leider befindet sich unter den Abgeordneten dieses Hohen Hauses kein Vorstandsmitglied der Organisation der heimatvertriebenen Landwirtschaft. So kann keiner an dieser Stelle, wenn ich so sagen darf, aus erster Quelle den Ansichten der heimatvertriebenen Bauern Ausdruck geben. Deshalb müssen wir versuchen, es stellvertretend zu tun. Ich werde es auch versuchen, da ich bis 1939 selbst noch auf eigenem Boden stehen konnte. Ich frage Sie, meine Herren von der Grünen Front: Warum haben Sie nicht in den Jahren nach 1945 mit den heimatvertriebenen Bauern gemeinsam einen Plan zur Eingliederung der heimatvertriebenen Bauern geschaffen? Die heimatvertriebenen Bauern haben nicht nur einmal an Ihre Tür geklopft. Mehrfach haben sie versucht, mit Ihnen in ein wirkliches Gespräch zu kommen, um zu erreichen, daß von der Landwirtschaft aus selber ein tragfähiger Plan zur Eingliederung der heimatvertriebenen Bauern geschaffen werde. Ein solcher Plan, der von weitesten Kreisen der Bundesrepublik, von der Bundesregierung, vom Bundestag mit allen Kräften unterstützt worden wäre, wäre ein staatspolitisch großes Werk gewesen. Ich sage Ihnen das nicht, um Ihnen nachträglich Vorwürfe zu machen. Das hat heute keinen Sinn mehr, denn für einen solchen Plan ist die Zeit vorbei. Ich sage dies nur, um aufzuzeigen, worum es heute geht. Nach dem Abschluß der heutigen Verhandlungen und nach der Annahme dieses Gesetzes soil es nach unserer Auffassung keine Sieger und keine Besiegten geben. Es soll nicht so sein, daß die Heimatvertriebenen sagen: Wir haben die Grüne Front besiegt! Es soll aber auch nicht umgekehrt sein! Sondern wir sollten dieses Gemeinschaftswerk gemeinsam verabschieden. Wenn wir das tun, dann können wir, glaube ich, sagen: Wir haben
versucht, nach bestem Wissen und Gewissen unserer Pflicht zu genügen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Kohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur dritten Beratung dieses Gesetzes möchte ich im Auftrage meiner Freunde noch einmal eine kurze Zusammenfassung unserer Stellungnahme geben, die wir bereits bei der zweiten Beratung zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben in der zweiten Lesung versucht, bei einer Reihe entscheidender Bestimmungen vor allen Dingen die Linderung der sozialen Not in den Vordergrund zu stellen. Unsere gesamten Anträge, die diesem einzigen Zweck dienten, wurden mit Ihren Stimmen einschließlich denen der Sozialdemokratischen Partei abgelehnt.
Bei der Betrachtung des vorliegenden Gesetzes in seiner jetzigen Formulierung muß man feststellen, daß dieses Gesetz eigentlich nur aus Kann-Bestimmungen besteht und daß man vergebens nach irgendeiner konkreten Formulierung sucht. Dieses Gesetz verpflichtet genau wie eine Reihe anderer Gesetze auf diesem Gebiet die Bundesregierung in keiner Form zu irgendeiner entscheidenden konkreten Handlung. Die Verabschiedung dieses Gesetzes gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt zeigt jedem Nüchternen klar, was damit erreicht werden soll. Meine Damen und Herren, Sie werden nicht leugnen können, daß auch mit diesem Gesetz ein undurchsichtiger Schleier geschaffen werden soll, hinter dem sich die Machtpolitik der Bundesregierung in Ruhe vollziehen soll. Auch bei diesem Gesetz mißachtet man alle Erfahrungen, die man mit dem Lastenausgleich und mit dem Lastenausgleichsgesetz bisher gesammelt hat. Wir waren damals die Warner, und wir warnen auch heute wieder davor, an dieses Gesetz mit Illusionen zu glauben. Diese Illusionen werden in verhältnismäßig kurzer Zeit wie Seifenblasen zerplatzen. Der wirkliche politische Zweck, den Sie mit der Verabschiedung dieses Gesetzes erreichen wollen, ist die Schaffung einer Wahlbombe, die sich aber nach unserer Überzeugung gegen Sie selber richten wird. Was soll beispielsweise die schwülstige Präambel, die keinem einzigen Flüchtling auch nur irgendeinen konkreten Weg zeigt oder ihm irgendwie hilft, - abgesehen davon, daß diese Präambel in ihrem Inhalt der geschichtlichen Wahrheit wirklich diametral gegenübersteht.
Aber nicht uninteressant ist - und darauf ist Herr Dr. Linus Kather bezeichnenderweise nicht eingegangen - der jetzt ausgebrochene Streit über die Herbeischaffung der Mittel zur Durchführung dieses Gesetzes. Der Herr Bundesfinanzminister verlangt, daß die Mittel des Lastenausgleichs, die zwar zweckgebunden sind, für die Durchführung dieses Gesetzes nun mit herangezogen werden. Er hat diesen Weg, allerdings in einer anderen Form, auch schon in der Frage der Sozialversicherung und der Arbeitslosenversicherung beschritten. Der Herr Bundesfinanzminister ist nicht bereit, für diesen Zweck Bundesmittel zur Verfügung zu stellen, aber um so schneller und um so offener ist seine Hand, wenn es gilt, Milliarden für seinen Verteidigungsbeitrag verfügbar zu machen.
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- Ich weiß, daß Ihnen das unangenehm ist; aber man muß Ihnen das immer wieder sagen, ob es Ihnen paßt oder nicht.
Um was geht es denn bei diesem Gesetz? Bereits in der zweiten Lesung haben wir uns dagegen gewandt, daß Sie hier eine Geschichtsklitterung durchführen, indem Sie einen Begriff prägen, der bis 1949 nicht bestanden hat, nämlich den Begriff Vertriebener. Dieser Begriff ist 1949 durch diese Bundesregierung mit dem sehr eindeutigen Zweck geschaffen worden, den Revanchegedanken in den Flüchtlingskreisen zu wecken. Herr Dr. Adenauer und Herr Dr. Hallstein vertreten in ihrer Ostpolitik die Revisionsbestrebungen und versuchen selbstverständlich, mit dem Begriff Vertriebener eine psychologische Untermauerung dieser ihrer Politik zu erreichen. Heute im Zeichen der offenen amerikanischen Kriegsvorbereitungspolitik gewinnt die Bezeichnung der Opfer des verbrecherischen Hitler-Krieges für den Chauvinismus eine besondere politische Bedeutung. Im Interesse der Flüchtlinge und Ausgewiesenen selbst verlangen wir eine Änderung dieser Begriffsbestimmung und die Streichung des Wortes Vertriebener. Glauben Sie doch nicht, daß Sie mit dieser chauvinistischen Formulierung die Tatsache der Nichtgewährung materieller Hilfe für diesen Personenkreis überbrücken können. Glauben Sie auch nicht, daß diese Bezeichnung ein Mittel ist, um diesen Personenkreis für die amerikanischen Kriegsvorbereitungen und die Durchführung Ihrer Generalkriegsvertragspolitik reif zu machen.
Bei der zweiten Lesung haben wir weiter die Einbeziehung derjenigen Menschen in das Gesetz gefordert, die den allgemeinen Aussiedlungsmaß({1})
nahmen der westlichen Länder zum Opfer gefallen sind. Etwa 180 000 Menschen sind nach 1945 aus diesen Ländern ausgewiesen worden. Dazu kommen 360 000 Deutsche aus Österreich und 400 000 aus Jugoslawien. Sie haben auch diesen für Sie unangenehmen Antrag abgelehnt.
Für die Beurteilung dieses Gesetzes ist auch der § 2 wesentlich, dessen Fassung den Flüchtlingsstandard auf ewige Zeiten garantieren soll. Sie haben bei der zweiten Lesung erneut unseren Antrag abgelehnt, der die Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit für diesen Personenkreis vorsieht, der die deutsche Staatsangehörigkeit bisher nicht besessen hat. Sie haben das das erste Mal bereits am 1. Juni 1950 getan. Bei diesem Gesetz haben Sie erneut gezeigt, daß Sie an dem Begriff der Staatenlosigkeit festhalten, damit die Trennung von der gesamten deutschen Bevölkerung bestehenbleibt. Besonders wertvoll und vor allen Dingen für die Flüchtlinge und Ausgewiesenen beachtenswert ist Ihr Eingeständnis, daß mit der Verabschiedung dieses Gesetzes der Abschluß der Flüchtlingsgesetzgebung erreicht sei.
Hinzu kommt die Einbeziehung der sogenannten Flüchtlinge aus dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Sie dürften nicht bestreiten können, daß die Flüchtlinge und Ausgewiesenen sich herzlichst dafür bedanken, mit diesem Personenkreis auf eine Stufe gestellt zu werden und die damit verbundene Benachteiligung stillschweigend in Kauf zu nehmen.
Wie steht es mit der Frage der Mitbestimmung? Wir haben bei der zweiten Lesung den Antrag gestellt, den Flüchtlingen und Ausgewiesenen ihr ureigenes Recht zuzuerkennen, bei den amtlichen Stellen über ihr Schicksal und ihre Lebensfragen mitzubestimmen. Auch das haben Sie einmütig abgelehnt.
Wir verlangten weiter als materielle Hilfe für diese Menschen die Zurverfügungstellung militärisch genutzten Geländes zum Zwecke der Seßhaftmachung der Flüchtlingsbauern. Darüber hinaus haben wir konkret den Antrag gestellt, der die Enteignung von Großgrundbesitz über 100 ha landwirtschaftlich genutzter Fläche hinaus verlangt. Wir haben diese Forderung auf Grund des Potsdamer Abkommens erhoben, das ausdrücklich die wirtschaftliche Eingliederung und Seßhaftmachung der Flüchtlinge und Ausgewiesenen vorsieht. Wir haben zahlenmäßig die Notwendigkeit einer Bodenreform belegt, der der Bundestag bisher konsequent ausgewichen ist.
Und wie steht es mit der Ansiedlung der Flüchtlingsbauern seit 1945? Bäuerliche Stellen ab 2 ha sind 2353 geschaffen worden, ländliche Kleinstellen für diesen Personenkreis 6510, zusätzlich durch Pacht, Kauf oder Einheirat 11 477 bäuerliche Betriebe und 2333 Kleinstellen unter 2 ha. Die Gesamtzahl der im Rahmen Ihrer glorreichen Flüchtlingspolitik geschaffenen Stellen beträgt also 22 673. Demgegenüber warten 250 000 Flüchtlingsbauern heute noch auf ihre Seßhaftmachung und Eingliederung.
Wir haben Ihnen den Weg gezeigt, nämlich durch die Enteignung des Großgrundbesitzes über 100 ha und die Zurverfügungstellung von 2 Milliarden D-Mark jährlich die Seßhaftmachung durchzuführen. Wir haben ferner für die Jugend die Schaffung von Lehrstellen und Ausbildungsstellen verlangt und fordern weiter, daß bei der Bundesanstalt neben den Vertretern der Wirtschaft auch die
Vertreter der Gewerkschaften auf diesem Gebiet herangezogen werden. Bezeichnenderweise hat die sozialdemokratische Fraktion den diesbezüglichen Antrag mit abgelehnt.
In der Frage der Wohnraumversorgung haben wir darauf verwiesen, daß über den Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms hinaus weitere Mittel in Höhe einer Milliarde D-Mark zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn Sie den ernsthaften Willen haben, diesen Menschen zu helfen. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Nehmen Sie den bekannten § 46, der sich mit der Bereitstellung der Mittel beschäftigt. Darin erklären Sie, daß in den Jahren 1953 bis 1957 neben den von den Ländern aufzuwendenden Mitteln von seiten des Bundes jährlich ganze 100 Millionen DM zur Verfügung zu stellen sind, allerdings mit der Einschränkung: nur soweit dieser Betrag haushaltmäßig gedeckt werden kann.
Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes in der dritten Lesung glauben Sie, wie ich schon sagte, einen Wahlschlager zu erhalten. Aber das Gesetz löst keine der brennenden Flüchtlingsfragen. Es löst weder die Frage der innerdeutschen Umsiedlung noch löst es die Frage der Seßhaftmachung der Flüchtlingsbauern, und es hilft auch den Flüchtlingshandwerkern und den Flüchtlingsarbeitnehmern nicht. Wir Kommunisten machen uns an einer solchen Gesetzgebung nicht mitschuldig. Wir lehnen das Gesetz deshalb ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Struve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der zweiten Lesung ist jedem einzelnen Mitglied dieses Hohen Hauses ohne Zweifel klargeworden, daß vermutlich ein Gegensatz zwischen vertriebenen und einheimischen Bauern zu bereinigen sei. Ich glaube, daß das eine große Belastung für diese Debatte gewesen ist, weil nach meiner Auffassung dadurch eine völlige Frontverschiebung stattgefunden hat. Das Hohe Haus sollte geschlossen immer wieder den Grundsatz unterstreichen, daß das Vertriebenenproblem eine Aufgabe ist, die das ganze deutsche Volk diesseits des Eisernen Vorhangs gemeinsam verpflichtet. Ich glaube weiter, daß der Lastenausgleich mehr war, als das auch heute von seiten der Opposition hier dargestellt worden ist. Schließlich hat das Vertriebenenproblem, insbesondere das Bundesvertriebenengesetz, zwangsläufig eine so einseitige bäuerliche Note, weil Ostdeutschland weit mehr als der nordwestdeutsche Raum ein ausgesprochenes Bauernland war und ist. Deshalb ist es so ungeheuer schwer, in der Bundesrepublik gerade die vielen bäuerlichen Menschen einzugliedern, d. h. ihnen wieder zu einer Bauernstelle zu verhelfen. Wenn auch heute wiederholt der Begriff der Vollbauernstelle gebraucht worden ist, dann muß erneut der deutschen Öffentlichkeit und all denen, die sich mit uns in der Aufgabe verbunden fühlen, das Problem gemeinsam anzupacken, gesagt werden, daß die Bundesrepublik im Gegensatz zu Ostdeutschland ein reines Land der Familienwirtschaften ist, wo Vollbauernstellen leider heute in viel zu geringem Maße zu finden sind. Ein Blick auf die Realteilungsgebiete zeigt uns, wieweit in manchen Gegenden die einzelnen Familien auf kleinste Flächen abgedrängt sind, von denen sie sich ernähren müssen. Die Eingliederung der ostvertriebenen Bauern wird deshalb immer nur in bescheidenem Umfang möglich sein. Diese Tatsache soll({0})
ten wir voranstellen, wenn wir zur gleichen Zeit den Grundsatz unterstreichen, daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun sollen und tun müssen, um der Not zumindest zu begegnen, wenn wir sie auch nicht abwenden können.
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Der Umstand, daß wir sie nicht voll abwenden können, zwingt zweifellos zu gewissen Vorschlägen. Es ist abwegig und irreführend, wenn man die Äußerungen unseres Herrn Bundeskanzlers, der anläßlich seines Besuchs gewisse zeitlich begrenzte Auswanderungsmöglichkeiten in die Debatte geworfen hat, abtun will als eine böse Sache gegenüber den Menschen, die Hof und Heimat verlassen mußten. Es ist weiter nichts als ein Weg, der aufgezeigt wird, mit eine Überlegung, die wert ist, geprüft zu werden, durch gemeinsame Anstrengungen mit dieser Not fertig zu werden.
Auf der andern Seite ist es erfreulich, daß dem Problem in der dritten Lesung verstärkt von der allgemeinen, grundsätzlichen Seite her Aufmerksamkeit geschenkt wird. Abgesehen von den Bemerkungen des letzten Redners, bei denen man nur bedauern muß, daß so etwas überhaupt noch der westdeutschen Öffentlichkeit geboten werden kann, wird das Hohe Haus jetzt in der dritten Lesung, insbesondere bei der Beratung der Änderungsanträge, die zahlreiche Freunde mit mir zusammen eingereicht haben, zu der Überzeugung kommen müssen, daß es uns schon ernst ist. Während in der Zwischenzeit gewisse Veröffentlichungen, vor allen Dingen wohl in der zuständigen Vertriebenenpresse, erschienen sind, die ich bedauert habe, haben wir in dem Deutschen Bauernverband und in den Landesverbänden zusammengesessen, um uns verstärkt mit der Frage zu beschäftigen, was heute gemeinsame Aufgabe ist, nachdem der tägliche Zustrom von Bauern, die alles aufgeben, nicht abreißen will. Wir bekennen uns auch in diesem Zusammenhang zu unseren Pflichten und sagen unseren Mitgliedern immer wieder, daß diese Tatsache, dieses Hereinströmen, uns und allen deutschen Menschen, die noch eine Verantwortung in sich spüren, eine erneute Ermahnung und ein erneuter Aufruf zu größerem Pflichtbewußtsein ist.
Ich darf nun bezüglich der einzelnen Bestimmungen und vor allen Dingen im Hinblick auf die beiden Auffassungen, die sich in der zweiten Lesung sehr scharf gegenüberstanden, ganz kurz einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Ich möchte diese in zwei Punkte zusammenfassen: einerseits die Neusiedlung im Zusammenhang mit der Ödlandkultivierung und andererseits die zwangsweisen Eingriffe in bestehende Pachtverhältnisse, die nach unserem Dafürhalten in das Gegenteil dessen ausschlagen müssen, was die Fürsprecher dieser Ansicht erwarten. Auf dem Weg über die Neusiedlung wird in der Bundesrepublik zwangsläufig nicht sehr viel geschehen können. Wenn wir die zurückliegenden drei Jahre verfolgen, so stellen wir fest, daß nur etwa 10 % der neugegründeten Existenzen durch Neusiedlung geschaffen worden sind. Diese Schwierigkeiten müssen notwendigerweise auftreten. Nach meinem Dafürhalten ist es auch nicht angängig, daß auf Grund von Bodenreformgesetzen Gutshöfe Westdeutschlands denselben Weg gehen und dieselbe Entwicklung durchmachen, wie sie uns von Ostdeutschland ab und zu noch durch Bilder übermittelt werden.
Zum anderen ist das Problem von der menschlichen Seite anzusprechen. Wir haben in der zweiten Lesung wiederholt von den Aufgaben und von den Pflichten gesprochen, die wir gegenüber den Landarbeitern, den kleinen Pächtern und den landwirtschaftlichen Beamten auf diesen Gutshöfen haben. Die heutige Darlegung der gegensätzlichen Auffassung war keineswegs eine Gegenargumentation. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß man diese Dinge zu beachten hat. Wenn man positive Vorschläge machen will, dann kann man nur sagen: man sollte nicht so sehr den in den einzelnen Ländern und im Bundesgebiet insgesamt weniger als 0,5 % ausmachenden Gutshöfen nachstöbern, sondern sollte vorweg dann den Staatsbesitz für diese Siedlung in Anspruch nehmen.
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Dabei soll vor allen Dingen beachtet werden, daß nicht nur Existenzen gegründet werden, sondern daß auch so billig gesiedelt wird, daß die neu angesetzten Bauern mit Hoffnung und Zuversicht die neue Arbeit beginnen können.
Nach unserer Auffassung sind auf dem Gebiet der Ödlandkultivierung weit größere Möglichkeiten gegeben. Nach sehr reiflicher Überlegung sind wir der Meinung, daß man den § 65, also die Einspruchsmöglichkeit über die Kultivierungseinrede, nicht aufrechterhalten kann. Wir glauben, daß im Gegenteil unverzüglich alle Maßnahmen eingeleitet werden müssen, die zu einer verstärkten Erschließung, Urbarmachung und Besiedlung dieser Ödlandflächen führen können. Dies wird nicht ohne erhebliche Mittel möglich sein. Bund und Länder werden deshalb sehr wahrscheinlich über die in dem Bundesvertriebenengesetz gemachten Vorschläge hinaus weitere Geldquellen erschließen müssen, um das nachzuholen, was in anderen Ländern auf dem Wege der Kultivierung von Ödland ohne Zweifel schon erreicht worden ist.
Wir sind allerdings der Auffassung - und bekunden das durch unseren heutigen Änderungsantrag -, daß in diesen Gebieten die Anliegersiedlung und damit die Aufstockung der kleinen Existenzen genau so wie die Seßhaftmachung der dort ansässigen nachgeborenen Söhne den Vorrang haben müssen, den Vorrang allerdings im Rahmen der zweiten Hälfte, weil ja, wie die Damen und Herren aus dem Änderungsantrag ersehen haben, die Vorwegbewilligung von 50 % der anfallenden Fläche zugunsten der Heimatvertriebenen auch von uns bejaht wird.
Ohne Zweifel ist das Schwergewicht der Eingliederungsmaßnahmen auf die Möglichkeiten, die durch Pacht und durch Kauf gegeben sind, zu verlagern. Das uns übergebene amtliche Material legt einwandfrei klar, daß hier bei weitem die größten Erfolge zu verzeichnen waren. Ich möchte allerdings in diesem Zusammenhang darauf verweisen, daß die Hälfte der mit dem Stichtag des 31. Dezember 1952 ausgewiesenen 35 000 neuen Existenzen allein auf die beiden Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen entfällt. Ich habe von der gemeinsamen Aufgabe des Bundes gesprochen; und ich bin der Meinung, daß in dieser Beziehung alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, die ohne Zweifel gegeben sind, um über den Weg von Pacht und Kauf die erwünschten Erfolge nachzuholen. Der Tatsache, daß nach einzelnen Paragraphen über den Weg von Pacht und Kauf den Betroffenen 20 000 DM in Form von verlorenen Zuschüssen und zinslosen Darlehen zur Verfügung gestellt werden sollen, und den Ausführungen des Herrn Kollegen Kather, der in diesem Zusammenhang heute die
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Zahl von 280 Millionen DM aus Mitteln des Lastenausgleichs nannte, möchte ich gegenüberstellen, daß die Deutsche Landwirtschaftliche Rentenbank zugunsten der einheimischen Siedler in diesem Jahr 31/2 Millionen DM zur Verfügung stellt. Dabei ist aber nicht von verlorenen Zuschüssen und auch nicht von zinslosen Darlehen die Rede; nein, diese Gelder werden voraussichtlich mit 6 bis 8 °/o verzinst werden müssen.
Ich glaube, bei einer Gegenüberstellung dieser Zahlen wird das Hohe Haus Verständnis dafür haben, daß meine Freunde und ich mit aller Leidenschaft dafür eingetreten sind, daß in diesem Gesetz zugunsten der Gruppen der Pächter, zugunsten der vorwärtsstrebenden Arbeiter und zugunsten unserer nachgeborenen Söhne, aber auch zugunsten der Bauern, die durch irgendein anderes Ereignis - Städtevergrößerung, Flugplatzbau oder solche Dinge - jetzt ihr Eigentum aufgeben müssen, daß also für diese zweite Hälfte mehr geschehen muß als nur eine bloße gesetzliche Verankerung, daß diese Gruppe mit 50 % beteiligt werden muß. Ich bin der Auffassung, daß das von dem Hohen Haus gebilligte Gesetz über die landwirtschaftliche Siedlung hierfür Wege und Geldquellen erschließen muß, damit wir auch hier in etwa zu den gleichen Startbedingungen kommen.
In Anbetracht dessen, daß die auf der Seite der Vertriebenen liegenden großen finanziellen Möglichkeiten nun schon aufgezeigt worden sind, glaube ich, daß allein dieser Hinweis genügt, die Berechtigung der Bitte zu beweisen, die ich dem Hohen Hause erneut vortrage, nämlich von den Zwangseingriffen, wie sie in der zweiten Lesung des Gesetzes vom Hohen Hause beschlossen worden sind, Abstand zu nehmen; denn das Hohe Haus muß sich über eins klar sein: wird diese Möglichkeit des zwangsweisen Eingriffes im Gesetz verankert, dann wird ohne Zweifel in den beiden Ländern, die an der freiwilligen Eingliederungsaktion mit 50 % des Gesamtanteils beteiligt sind, erneut die Welle des zwangsweisen Eingriffs einsetzen.
Hier im Gesetz ist von einer freiwilligen Hergabe von seiten des Besitzers die Rede. Dieser Besitzer bekommt einen starken finanziellen Anreiz. Neben 2000 DM, die bei der Steuerberechnung vom Einkommen abgezogen werden, bekommt er den Lastenausgleich, die Hypothekengewinnabgabe und die Erbschaftsteuer frei. Täuschen wir uns nicht über folgendes: von dieser Seite her ist jeglicher Zwangseingriff nicht nur bedenklich, sondern er muß zwangsläufig die Rechtsverhältnisse durcheinanderbringen, die das Hohe Haus im vergangenen Jahr in dem neuen Pachtgesetz einstimmig gebilligt hat. Warum haben wir die Notwendigkeit der Neuordnung des Pachtrechtes gemeinsam bejaht? Weil uns gemeinsam vorschwebte, daß durch Alter und durch die kriegsbedingten großen Verluste an Menschenleben auch im Landvolk zweifellos sehr oft Möglichkeiten und Neigung zu einer Verpachtung bestehen. Verpachten wird aber nur jemand, wenn er weiß, daß das, was in den Verträgen steht, auch Rechtens ist. Ich darf das Hohe Haus daran erinnern, daß hier Befugnisse auf die Länder übertragen sind, die die Langfristigkeit und damit die Unantastbarkeit von Pachtverträgen gewährleisten, indem die Frist auf zwölf und sechs Jahre herabgesetzt werden kann. Wir können dieses im vergangenen Jahr geschaffene Bundesrecht und das inzwischen in einzelnen Länder sich entwickelnde Landesrecht nicht durch die Zwangseingriffe nach § 57 einengen. Das würde sich gegen statt für die Vertriebenen auswirken.
Zu dem anderen Punkt: Wenn wir durch unsere Änderungsvorschläge den Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Gebäuden zustimmen, dann deswegen, weil wir wissen, daß die Baukosten zur Zeit so schrecklich hoch sind, daß dadurch manche Existenzgründung unterbleiben muß, die auf diese Art und Weise noch denkbar ist.
Ich darf abschließend feststellen: dieses Bundesvertriebenengesetz wird nach unserem Dafürhalten nicht nur den bisherigen Zustand, der mit dem Flüchtlingssiedlungsgesetz eingeleitet worden ist, erhalten; es wird aus dem einfachen Grunde, weil die Gelder in erheblich größerem Umfange flieBen, diesen Eingliederungsprozeß sehr stark beschleunigen. Ich glaube, daß diese Möglichkeit vor allen Dingen in den Ländern verstärkt ausgenutzt werden könnte, in denen bisher auf diesem Gebiete noch nicht sehr viel erreicht worden ist.
Der Herr Kollege Kather hat in der zurückliegenden Zeit - vor allem in Berlin - der Ansicht Ausdruck gegeben, daß vorweg nun einmal die älteren Vertriebenen berücksichtigt werden müßten. Man muß sich in diesem Zusammenhang über folgendes klar sein. Wenn die Umsiedlung der Bauern aus den reinen Vertriebenenländern nicht in ganz anderem Umfange vorangetrieben wird, dann werden zwangsläufig die vertriebenen Bauern der Ostzone hier mit den vom Kollegen Dr. Kather angeführten Gruppen in starke Konkurrenz treten. Wir wollen an dieser Stelle nicht untersuchen, wie das Verfahren abzuwickeln ist; aber ich möchte doch das Hohe Haus auf die Tatsache aufmerksam machen, weil die Ausnutzung der im Bundesvertriebenengesetz gegebenen Möglichkeiten sehr eng mit den Bewerbungen zusammenhängt, die sich in gewissen Ländern schon zu Bergen aufgehäuft haben, während in anderen Ländern das Problem so gut wie unbekannt ist.
Es ist wiederholt von Zahlen geredet worden. Zum Abschluß darf ich auf eine zurückkommen. Es ist gesagt worden, daß 35 000 Betriebe mit 265 000 ha geschaffen worden sind. Der Stichtag dafür war der 31. Dezember 1952. Gemessen am Gesamtvolumen mag das gering erscheinen. Es ist aber Tatsache, daß 93,5 % aller Betriebe des Bundesgebietes weniger als 100 ha Land haben. Darin liegt die Erklärung, warum wir bei weitem nicht die Möglichkeiten wie in Ostdeutschland haben. Das muß gesehen werden, wenn man das Problem in seiner Ganzheit beurteilen will.
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Zum Schluß möchte ich die Bitte aussprechen, man möge nicht nur in diesem Hohen Hause und nicht nur in Westdeutschland, sondern in Europa und in der westlichen Welt erkennen, daß das Problem vertriebener Bauern kein deutsches, sondern ein urecht europäisches, ein urechtes Problem des Westens ist.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Besold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich das Wort zu kurzen Ausführungen ergriffen habe, so deshalb, weil ich nicht den Eindruck bestehen lassen möchte, den der Herr Kollege Reitzner durch seine Ausführungen er({0})
weckt hat, daß die Bayernpartei einen Standpunkt gegenüber den Heimatvertriebenen einnähme, der in keiner Weise gerechtfertigt wäre.
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Es geht bei diesem Gesetz nicht darum, daß wir einander Vorwürfe machen, sondern wir müssen mit allem Ernst prüfen, was vernünftig, was tragbar ist und nicht neue Klüfte aufreißt. Herr Kollege Reitzner, Sie haben öffentlich erklärt, Herr Dr. Fischbacher hätte die Heimatvertriebenen „Drohnen" genannt.
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Ich möchte die Sache klarstellen. Sie sind vielleicht auf Grund einer Pressenotiz zu dieser Äußerung gekommen. Ich bin selbst in dieser Versammlung gewesen, und auch verschiedene Parteifreunde waren dabei. Herr Dr. Fischbacher hat dort von den „Arbeitsunwilligen" gesprochen, die angesichts der Schwere unserer Zeit die Unterstützungen ausnützen, sind er hat in diesem Zusammenhang von „Drohnen" geredet, gleichgültig ob es Heimatvertriebene oder Einheimische sind. Das ist der wahre Sachverhalt.
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Weil das aber Herr Dr. Fischbacher gesagt hat, wird die Sache in der Presse natürlich sofort so gedreht, als ob er damit die Heimatvertriebenen allein belastet und beleidigt hätte; denn es wäre ja eine Beleidigung. Ich sage Ihnen hier ganz offen: gleichgültig ob Dr. Fischbacher oder ein anderer unserer Partei so etwas sagen würde, würde ich es ablehnen. Der Sachverhalt war aber so, wie ich es Ihnen geschildert habe. Ich lehne solche Behauptungen genau so ab wie die, was in einer Zeitung der Ostdeutschen gesagt wurde: daß wir Halbidioten und Knödelfresser seien.
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Zur Sache selbst möchte ich folgendes sagen. Wir vertreten klar und eindeutig den Standpunkt, daß in den entscheidenden Punkten, die wir j a durch Änderungsanträge gekennzeichnet haben, die Einheimischen den Vertriebenen in ihren Rechten unter allen Umständen gleichgestellt werden. Wir haben dafür drei Gründe. Erstens ist zu sagen, daß andernfalls der schweren Landflucht, die uns und der bäuerlichen Bevölkerung große Sorgen bereitet, Vorschub geleistet würde, weil jeder nachgeborene Bauernsohn, der keine Aussicht hat, in einen Hof hineinzukommen, frühzeitig sein väterliches Anwesen verlassen, in die Stadt wandern und eine andere Existenz als die, die er angestammt und ererbt ergreifen sollte, annehmen würde; zweitens: weil aus dem gleichen Grunde der Aderlaß, den gerade der Bauernstand in zwei Kriegen auf sich genommen hat, nicht ausgeheilt werden könnte, und drittens: weil wir im Interesse der Einheimischen und der Heimatvertriebenen auf dem Lande draußen, wo alle so eng beisammen wohnen und einer dem andern täglich in die Türen schaut, nicht neue Klüfte durch ungleiches Recht aufreißen; sondern endlich den Frieden hergestellt wissen wollen; und das kann nur geschehen, wenn hier das Maß der Gleichberechtigung ergriffen wird.
Wenn Sie, Herr Kollege - das möchte ich ebenfalls noch richtigstellen -, fragen: Was würde die Front Dr. Besold bis Tobaben antworten, wenn sie vertrieben werden würde?, dann kann ich
Ihnen nur sagen: Ich würde ein sehr gutes Gewissen haben; denn den Standpunkt, den die Bayernpartei den Vertriebenen und den Vertriebenenproblemen gegenüber bisher eingenommen hat, können wir vertreten. Ich erinnere z. B. nur daran: Als es damals um den gerechten Flüchtlingsausgleich über alle Länder ging, hat ihn die Bayernpartei als erste Partei mit Zähigkeit verlangt. Wir wissen - und viele Zeitungsnotizen bestätigen das -, daß wir gerade von Ihnen, Herr Kollege Reitzner, und von vielen anderen als unsozial, als nazistisch angeprangert wurden, weil wir gewisse Forderungen gestellt haben. Und heute? Heute vertreten sämtliche Parteien - auch Herr Oberländer und auch die Heimatvertriebenen - den gleichen Standpunkt, weil auch sie erkennen, daß dieses Problem, das die Länder Niedersachsen, Bayern und Schleswig-Holstein getroffen hat, eben nur auf diese Weise gelöst werden kann. Heute liegen also sämtliche Parteien mit uns auf einer Linie; aber die Bayernpartei mußte deshalb schwere Befehdungen über sich ergehen lassen.
Zweitens möchte ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung sagen, daß ich völlig gelassen und ruhigen Gewissens wäre, wenn mich das gleiche Schicksal treffen würde wie viele Vertriebene, denen hier geholfen worden ist; denn ich kann Ihnen sagen - ich würde es nicht öffentlich sagen, wenn Sie mich hier nicht öffentlich apostrophiert hätten -: Ich habe in den ersten Tagen, als Vertriebe kamen, ihnen ein Häuschen gebaut, in dem sie heute noch kostenlos wohnen, und habe dadurch freiwillig und ohne Zwang und ohne Notwendigkeit den Heimatvertriebenen „sogar" als Bayernparteiler geholfen.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Zawadil.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen zu dem Gesetz einige grundsätzliche Gedanken unterbreite. Wie der Herr Minister in seinen einleitenden Ausführungen zur zweiten Lesung betont hat, soll es sich bei dem vorliegenden Gesetz um ein Grundgesetz der Vertriebenen und Flüchtlinge handeln. Ein solches Grundgesetz müßte jedoch unserer Meinung nach in formaler Hinsicht so beschaffen sein, daß es lediglich die Richtung und das Ziel der durchzuführenden Eingliederung festlegt und die Basis bildet, auf der durch besondere Behandlung einzelner Teile und deren Umwandlung in Spezialgesetze die Teil- und Detailfragen einer Lösung zugeführt werden können. Wir müssen jedoch feststellen, daß im Zuge der langwierigen Ausarbeitung, der das Gesetz unterworfen war, eine Mischung entstanden ist aus Teilen, die Grundgesetzcharakter haben, z. B. die Umsiedlung, und aus Teilen, die bereits besondere Spezialfragen der Eingliederung in detaillierter Form behandeln. Ich denke dabei vor allem an die so umkämpften Teile des landwirtschaftlichen Siedlungswesens. Wir können daher nicht ganz gerechtfertigterweise von einem Grundgesetz im echten Sinne sprechen.
Dieses sogenannte Grundgesetz ist seit Ende des Jahres 1951 in einer zwar langwierigen, aber auch sehr eingehenden und ernsten Ausschußberatung erarbeitet worden. Die Langwierigkeit dieser Prozedur hat es jedoch mit sich gebracht, daß manches in diesem Gesetz als überholt erscheint, weil sich während der fast anderthalbjährigen Bearbeitung
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vom Referentenentwurf angefangen bis zum heutigen Tage vieles weiterentwickelt hat und heute eine vielfach andere Sachlage aufweist als zu dem Zeitpunkt, da der Gesetzentwurf aus der damaligen Zeitlage und der damaligen Situation des Vertriebenenwesens heraus geboren wurde. Die Folge davon ist, daß in diesem Gesetz manche in der Zwischenzeit neu aufgetauchten und aktuell gewordenen Probleme noch keine oder nur teilweise Behandlung finden konnten. Diese zwei Momente, erstens das Fehlen eines klaren Charakters als Grundgesetz und zweitens das Fehlen von Ansatzpunkten zur Lösung einer Reihe von inzwischen neu aufgetauchten Problemen, lassen das Gesetz als Ganzes doch recht problematisch erscheinen.
Gerade heute vor der Schlußabstimmung möchte ich daher noch einmal kurz daran erinnern, daß seinerzeit im Ausschuß für Vertriebene der Vorschlag gemacht wurde, zwei Gesetze zu schaffen, zum mindesten aber das vorliegende Gesetz in zwei Hauptabschnitte zu unterteilen. Es hätte vieles für sich gehabt, und gerade angesichts der inzwischen aufgetauchten neuen Probleme im Zusammenhang mit dem zunehmenden Flüchtlingsstrom glaube ich mich berechtigt, an diesen damaligen Hinweis zu erinnern. Mit einer solchen Gesetzestrennung sollte keineswegs eine unterschiedliche Behandlung beider Menschengruppen herbeigeführt werden, sondern vielmehr bei vollkommener Gleichstellung der Tatsache Rechnung getragen werden, daß einerseits die Gruppe der Heimatvertriebenen zahlenmäßig feststehend ist und sich bereits im Stadium der Eingliederung befindet, während andererseits die Zahl der Flüchtlinge aus der Sowjetzone täglich wächst und daher andersgeartete, vor allem elastische Maßnahmen erforderlich macht. Eine Gesetzestrennung hätte uns zum mindesten die Möglichkeit gegeben, die täglich wachsende und an Bedeutung zunehmende Problemstellung im Interesse beider Gruppen rein technisch leichter zu lösen. Ich möchte daher annehmen, daß früher oder später eine solche Trennung beider Gesetzesmaterien unumgänglich werden wird, erstens um das Sowjetzonenflüchtlingsproblem schneller zu lösen, zweitens um den besonderen Belangen der Flüchtlinge im Sinne des § 3 gerecht zu werden. Wir sehen schon aus der Tatsache, daß wir sehr schnell ein Flüchtlingsnotleistungsgesetz verabschieden mußten, daß wir auch in Zukunft zu schnellen Entscheidungen in besonderen Fragen werden greifen müssen.
Der tägliche Strom der heimatlos gewordenen Deutschen aus der Sowjetzone ist in letzter Zeit zu einem besonders aktuellen, vor allem volkspolitischen Problem angewachsen. Mit Erschütterung erleben wir die Schicksale deutscher Menschen, die um ihrer freiheitlichen Gesinnung willen den Weg der Flucht zu wählen gezwungen sind - und das wenige Jahre nach der unmenschlichen Vertreibung von Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten! Wer darf es bestreiten, daß wir angesichts des Mangels an Grund und Boden, angesichts des Fehlens von Arbeitsplätzen und Wohnraum von größter Sorge erfüllt sind. Bei weiterhin anhaltendem Flüchtlingsstrom stehen die zu erwartenden Erschütterungen der westdeutschen Wirtschaft und ein erneutes Ansteigen der Arbeitslosenziffer drohend vor uns. In der Sowjetzone hat die Massenflucht eine katastrophale Entvölkerung und damit eine ständig zunehmende Schwächung des dort verbleibenden und um so mehr dem Terror ausgesetzten Restes der Bevölkerung zur
Folge. Neben aufrichtiger Bereitschaft und der bereitwillig geöffneten Tür nach dem Westen muß der ernste Appell an alle jene gerichtet werden, die nicht unbedingt und aus unmittelbarer Gefahr an Leib und Leben ihre Heimat zu verlassen gezwungen sind, um der Erhaltung des deutschbewußten, freiheitlich gesinnten Volkstums willen bis zur Grenze des Möglichen durchzuhalten. Laut Bonner „General-Anzeiger" vom 4. März dieses Jahres stellte der Berliner Sozialsenator Bach auf einer Pressekonferenz - und ich darf mit freundlicher Genehmigung des Herrn Präsidenten diese zwei oder drei Sätze zitieren - fest, „der Typ des echten politischen Flüchtlings sei selten geworden. Die Menschen liefen einfach vor der terroristischen Entwicklung in der Sowjetzone davon, da sie sich in ihrer Existenz bedroht sehen und zu verhungern fürchten". In Ergänzung dessen teilte ein Vertreter des Vertriebenenministeriums auf dieser Pressekonferenz mit, „daß zur Beschleunigung der Notaufnahme ein ,Schnellverfahren' eingerichtet werden soll". „Die Aufnahmekommission sei angewiesen worden, noch großzügiger als bisher zu verfahren, so daß etwa 85 % der Flüchtlinge anerkannt werden könnten."
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Tobaben von Ihrer eigenen Fraktion hat sich gemeldet; wir sprechen im Augenblick nicht über das Notaufnahmeverfahren!
Eine solche vom Druck der Not diktierte Maßnahme läßt in diesem Zusammenhang an die vielen Fälle erinnern, in denen Flüchtlinge aus der Sowjetzone bereits ein Jahr lang oder sogar länger auf ihre Anerkennung als Flüchtling warten. Ich glaube, daß dies in Anbetracht der gegenwärtig gehandhabten Großzügigkeit ein Unrecht für diese Menschen bedeutet, was eine schleunige Regelung erforderlich macht. Ich halte nämlich die vor Beginn des großen Stromes nach hier gekommenen Flüchtlinge für damals genau so in Gefahr für Leib und Leben befindlich wie die in den letzten Wochen hinzugekommenen
Abschließend möchte ich im Namen meiner Fraktion erklären, daß, wenn sich einige meiner Fraktionsfreunde nicht in der Lage sehen, dem Gesetz als Ganzem ihre Zustimmung zu geben, dies vor allem auf deren Überzeugung zurückgeht, daß das Gesetz in einzelnen Bestimmungen überholt erscheint und in anderen Punkten angesichts der weltpolitischen Lage den tatsächlichen Gegebenheiten, Erfordernissen und Möglichkeiten nicht mehr ganz gerecht wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Schmidt ({1}) ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich heute zu diesem Gesetz etwas sage, so tue ich es, weil ich in den letzten drei Jahren sehr, sehr vielen Heimatvertriebenen zu einer neuen Heimat und eigenen Existenzen verholfen habe. Deswegen, Freunde, kann ich in der einen oder anderen Frage vielleicht den einen oder anderen guten Rat geben. Ich tue es nicht, um gegen die Heimatvertriebenen oder gegen die Heimatverbliebenen zu sprechen. Ich führe Ihnen einige Fälle aus der Praxis an, und Sie werden sehen, daß man manches Gute auf gutem
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Wege erledigen kann, ohne sich zu bekämpfen. Zunächst möchte ich gerade den Herren von den Heimatvertriebenen, Herrn Dr. Kather und diesen Kreisen, an einem Fall aufzeigen, daß auch sie ihre eigenen Leute etwas anweisen müssen, bei Entscheidungen über solche Fragen auf ihre Kollegen etwas mehr Rücksicht zu nehmen.
Vor einigen Jahren habe ich einem sehr fleißigen heimatvertriebenen Mann ein Pachtanwesen mit verschafft. Ohne jegliche Hilfe hat er es zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht, obwohl er jährlich eine sehr hohe Pachtsumme bezahlen mußte.
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- Ich werde es Ihnen sagen, Herr Kunze. Ich hatte jetzt Gelegenheit, dem Mann eine leidliche Existenz zu geben. Das war aber den Beamten in den unteren Stellen - die Heimatvertriebene sind - nicht genehm; sie haben dieses Vorhaben nicht befürwortet. Als ich später an die oberste Stelle kam, wurde die Beurteilung hervorgeholt, und da mußte ich erfahren, daß diese Beamten das Vorhaben abgelehnt hatten aus Neid, weil der Mann eine andere Existenz bekommen hätte. Deswegen ist der Fail etwas hinausgezögert worden. Ich habe es auf Umwegen dann doch erreicht, weil eine Sachverständigenkommission aus dem Ort ein anderes Urteil gefällt hat. Deswegen möchte ich an die Herren die Bitte richten: Belehren Sie Ihre Beamten dahin, sie sollen nicht aus Neid irgendeinem ihrer Kollegen eine solche Zusage verweigern! Denn den gleichen Betrieb hätte wieder ein Heimatvertriebener bekommen.
Ich darf Ihnen einen anderen Fall schildern, weil man sich darüber aufregt, daß vielleicht auch ein Heimatvertriebener ein Anwesen bekommen hat. Es ist schade, daß seine Durchlaucht Fürst zu Oettingen-Wallerstein nicht mehr unter uns ist. Es handelte sich nämlich in dem Fall um einen Hof von ihm, den die Landessiedlung übernommen hatte. Wir haben vor ungefähr drei Jahren beschlossen - es waren vertreten das Landratsamt, das Flüchtlingsamt, die Landwirtschaftsstelle und die Landessiedlung -, aus diesem Hof fünf Betriebe zu machen. Das Restgut sollte der Pächter, der jetzt ungefähr 70 Jahre auf dem Hof wirtschaftet, erhalten, weil er aus den unbewirtschafteten Grundstücken eine Schafweide machen will.
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Herr Abgeordneter Schmidt, darf ich einmal unterbrechen. - Wir sprechen über das Vertriebenengesetz und nicht über Ihre persönlichen Erlebnisse. Darf ich Sie bitten, zur Sache zu sprechen.
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Schmidt ({1}) ({2}): Herr Präsident! Ich will nur einen Fall anführen, um zu zeigen, daß auch Vertriebene zum Zuge kommen können. Es wurde, wie gesagt, beschlossen, fünf Siedlungen zu schaffen und das Restgut dem heimatvertriebenen Schwiegersohn zu geben. Die fünf Höfe wurden auch gebaut. Aber bis heute war es nicht möglich, dem Mann das Restgut zu geben, weil der Flüchtlingsobmann des Bezirks sich dagegen wehrte, daß ein Heimatvertriebener es bekommen soll.
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Das sind nur einige Fälle, die ich deshalb angeführt habe, um Ihnen zu zeigen, daß man auf gutem Wege in dieser Hinsicht doch manches erreichen kann, wenn man sich nur verständigt. Ich glaube, wenn wir nicht die alten Fehler, die die bestehenden Gesetze enthalten, in das neue Gesetz hineinbringen, wird es wesentlich leichter möglich sein, Heimatvertriebenen zu einem Besitz zu verhelfen. Deswegen war es auch nicht angebracht, in der letzten Lesung des Gesetzes gegen die Anträge von Herrn Dr. Müller und von Herrn Struve zu stimmen. In der Bevölkerung draußen hat das, das muß ich schon sagen, bedeutende Unstimmigkeiten hervorgerufen. Von manchen Abgeordneten ist gesagt worden, das sei nur geschehen, weil die Bundestagswahlen bevorstünden. Ich glaube, die Heimatvertriebenen wie die Heimatverbliebenen haben alle das gleiche Recht: von uns zu verlangen, daß wir ein Gesetz schaffen, welches beiden Seiten Rechnung trägt. Deswegen habe ich einige Worte zu Ihnen gesprochen. In dieser Hinsicht mussen wir alle miteinander zusammenarbeiten, um ein Flüchtlingsgesetz zu schaffen, mit dem wir beweisen können, daß wir auch den Heimatvertriebenen gegenüber unsere Pflicht getan haben.
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Dem Herrn Abgeordneten Tobaben, der sich ebenfalls noch gemeldet hatte, kann ich das Wort nicht mehr erteilen, da die Redezeit der Fraktion der Deutschen Partei erschöpft ist.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Frühwald.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte im Auftrage meiner Fraktion nur noch einige Ausführungen machen zu dem Abschnitt „Landwirtschaft". Dabei möchte ich eines vorausschicken. Bei dem Problem Vertriebene und Einheimische muß für beide Teile als Grundsatz gelten: Wenn du den andern verstehen und begreifen willst, so tust du es am besten, wenn du dich zunächst auf den Standpunkt des andern stellst. Das gilt aber für beide Teile.
Der Herr Kollege Reitzner hat in seinen Ausführungen den Satz gesprochen: Was wäre geschehen, wenn sich der ganze Menschenstrom in umgekehrter Richtung von Westen nach Osten gewälzt hätte? Ich bin überzeugt: es wäre todsicher zu den gleichen Schwierigkeiten gekommen; wohl nicht auf dem Gebiete der Landwirtschaft, weil dort mehr Raum vorhanden ist, aber in um so ausgeprägterer Weise hinsichtlich der Unterbringung der übrigen Berufsgruppen, denn drüben wären die Voraussetzungen nicht in dem Maße vorhanden gewesen, wie sie bei uns im Westen gegeben sind.
Ich bedaure aber eines - jetzt muß ich Herrn Kollegen Kather zitieren -: daß im Unterton immer etwas mitschwingt, was den Eindruck erweckt, als ob die Bauern im Westen für diese Not und für dieses Geschehen kein Verständnis und kein Herz hätten. Man muß in diesem Augenblick doch die Frage aufwerfen: Wo haben diese ärmsten und gehetzten Menschen zuerst wieder ihre Ruhe gefunden? In den Bauernhäusern des Westens! Das steht einwandfrei fest. Wenn man nicht darauf vorbereitet war, in einem dieser Bauernhäuser mehr als eine Familie aufzunehmen, und sich daraus Schwierigkeiten ergeben haben, so ist das durch die Naturgegebenheit der Situation bedingt. Ich erlaube mir aber, daran zu erinnern, wieviele Hunderttausende, ja Millionen dieser gehetzten Vertriebenen von den deutschen Bauern monate-, jahrelang unentgeltlich unter Dach und in Verpflegung genommen worden sind. War es damals
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nicht das Streben dieser Menschen, bedingt durch die Ernährungssituation, lieber in einem Bauernhaus die ersten Schwierigkeiten zu überdauern, als sich anderweitig in irgendeiner Form vielleicht bequemere äußere Lebensumstände zu sichern, die ihrer Herkunft, ihrem Herkommen und ihren Lebensgewohnheiten mehr entsprochen hätten?
Ich fürchte nur, die Erörterungen über dieses Gesetz hinsichtlich der Landwirtschaft erwecken bei unseren vertriebenen Bauern falsche Vorstellungen. Wenn man davon spricht, daß 20 000 vertriebene Bauern in den nächsten fünf Jahren jährlich untergebracht und angesiedelt werden müßten, so hat man anscheinend nicht überlegt - bei allem, worüber gesprochen worden ist, hat man das vergessen -: wo kommen bei 20 000 Bauern jährlich die Mittel her, um diese Neuansiedlung zu gewährleisten? Wenn von diesen 20 000 Bauern die Hälfte, 10 000, in Neusiedlerstellen untergebracht werden sollen - und das müssen sie auf Grund der bisherigen Ergebnisse -, dann kostet das schon mindestens 800 Millionen Mark im Jahr. Rechnet man dann die anderen 10 000 noch dazu, dann sieht man, daß mit einer Milliarde Mark jährlich überhaupt nicht mehr auszukommen sein wird.
Ich möchte nicht auf das Gesetz selber eingehen. Wir sind der Meinung, daß in erster Linie die Bauern bevorzugt untergebracht werden müssen, die einen Hof verloren haben, die also nachweislich bereits einen Hof als Eigentum gehabt oder als Pächter bewirtschaftet haben, bevor sie Vertriebene wurden. Ich stelle nur eine einzige Frage: warum sollen die vertriebenen Bauernsöhne und die Landarbeiter nicht mit unseren nachgeborenen Bauernsöhnen und mit unseren Landarbeitern gleichberechtigt sein? Bestehen hier nicht die gleichen Voraussetzungen? Ist es nicht zu verstehen, wenn sich auch die Nichtvertriebenen darüber Gedanken machen und Urteile bilden und wenn sie eben vom Standpunkt des andern aus gesehen zu einem anderen Ergebnis kommen?
Das bayerische Landwirtschaftsministerium hat in der letzten Zeit Zahlen betreffend die nachgeborenen Söhne veröffentlicht, die zur Zeit in der bayerischen Landwirtschaft arbeiten. Ich nenne nur die wesentlichsten davon: 198 163 Bauernsöhne, die als Hoferben nicht in Frage kommen, aber in der Landwirtschaft tätig sind. Nun haben wir aber in Bayern zu gleicher Zeit 122 000 bäuerliche Haushaltungen ohne männlichen Erben. Wenn von den 198 000 weichenden männlichen Erben 122 000 in die bäuerlichen Haushalte ohne männliche Erben einheiraten, bleibt natürlich für den Flüchtling nichts mehr übrig. In diesem engen Raum liegt dann die Reibung; hier treten dann, nur in großen Umrissen gesehen, Kurzschlüsse auf. Von diesen restlichen 72 000 sind heute rund 23 000 über 21 Jahre alt. Ich habe also die Bitte, daß diejenigen, die uns heute noch unterstellen, wir wollten mit unseren Forderungen nur einen Keil hineintreiben, sich der Gegenwirkung bewußt sind und uns auf diesem Gebiete entgegenkommen, wie Herr Kollege Struve bereits angedeutet hat. Denn nur wenn man sich auf den Standpunkt des andern stellt, kommt eine richtige, dem Ganzen dienende Mitte heraus.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor; ich schließe die allgemeine Aussprache. Wir kommen zur Einzelbesprechung der dritten Beratung nur über diejenigen Paragraphen, zu denen Änderungsanträge vorliegen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Deutschen Partei betreffend die Präambel vor. Der Antrag ist noch nicht vervielfältigt, er wird Ihnen in Kürze zugehen. Ich darf die Besprechung und die Abstimmung über diesen Änderungsantrag zur Präambel zunächst zurückstellen.
Ferner liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten Dr. Kather und Genossen auf Umdruck Nr. 807 zu § 4 vor. Soll der Antrag begründet werden, Herr Abgeordneter Dr. Kather? Ich darf bitten, sich angesichts der äußerst umfangreichen Tagesordnung so kurz wie möglich zu fassen. - Bitte, Herr Abgeordneter Kather!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich um den Antrag, der auch in der zweiten Lesung gestellt worden ist. Er hat zum Ziel, eine unterschiedliche Behandlung der Sowjetzonenflüchtlinge und der Nichtrückkehrer zu vermeiden. Nach der bisherigen Fassung wird die Nachprüfung bei Flüchtlingen auf eine besondere Zwangslage abgestellt, während bei den Nichtrückkehrern die Prüfung jetzt nach wie vor auf Gefahr für Leib und Leben und die persönliche Freiheit abgestellt werden soll. Ich halte es nicht für zweckmäßig, auch nicht einmal für möglich, hier die Sowjetzonenflüchtlinge zweierlei Prüfungen zu unterwerfen. Wir wollen uns über die problematische Natur einer Prüfung überhaupt, die nach acht Jahren vorgenommen wird, keine falschen Vorstellungen machen. Ich war jetzt in Berlin und habe mir dort das Notaufnahmeverfahren angesehen. Es sind außerordentlich summarische Verfahren. Praktisch werden 80 bis 85 % zugelassen. Es würde bei den etwa 4- bis 500 000 Nichtrückkehrern nicht verstanden werden, wenn man sie in demselben Zeitpunkt ganz besonders harten Bedingungen unterwerfen wollte. Ich bitte deshalb, den Änderungsantrag anzunehmen.
Wird das Wort dazu gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Besprechung zu § 4.
Sie haben den Antrag, den Herr Abgeordneter Kather begründet hat, gehört. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag Umdruck Nr. 807 zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich komme zur Abstimmung über § 4 in der Fassung der zweiten Beratung, oder darf ich unterstellen, daß er mit dieser Ablehnung angenommen ist?
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- Das ist der Fall.
Von der Berichtigung des § 36, Umdruck Nr. 756, haben Sie Kenntnis genommen.
Dann rufe ich § 38 auf. Zu § 38 liegt der Antrag Dr. Dr. Müller, Umdruck Nr. 805 Ziffer 1, vor. - Keine Begründung.
Herr Abgeordneter Kather wünscht das Wort dazu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, der jetzt zur Debatte steht, ist ein Ersatz für den Antrag Horlacher, den wir in der zweiten Lesung angenommen haben. Dieser Antrag verfolgt das Ziel, daß das neu anfallende Siedlungsland in zwei Hälften geht: die erste
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Hälfte für die Vertriebenen, die zweite Hälfte für die Einheimischen, und für die Vertriebenen soll von der zweiten Hälfte nur das in Betracht kommen, was von Einheimischen nicht in Anspruch genommen wird. Ich habe mir sagen lasen, daß das praktisch gleich Null sein wird, weil wir gerade jetzt mit dem neuen Gesetz, das wir in der vorigen Sitzung verabschiedet haben, die Möglichkeiten für eine stärkere einheimische Siedlung geschaffen haben. Ich kann mir weitere Ausführungen ersparen und nehme Bezug auf das, was ich vorher gefragt habe, ob wir es uns leisten können, bei dieser Gelegenheit die zweiten und dritten Bauernsöhne unseren heimatvertriebenen Bauern und ihren ersten Söhnen gleichzustellen.
Wünscht jemand zu dem Antrag Umdruck Nr. 809 Ziffer 1 das Wort? - Bitte schön!
Lamp! ({0}); Herr Präsident! Meine Damen und Herren! § 38 sah zunächst die bevorzugte Behandlung der Vertriebenen bei der Beteiligung an der Neusiedlung vor. Im Ernährungsausschuß wurde dann eine Formel gefunden, die in dem gedruckten Entwurf vorliegt. Der eben in Frage gestandene Änderungsantrag sieht die Fassung „mindestens zur Hälfte" vor. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß alle diese Formulierungen nicht zweckmäßig sind, und haben auf Umdruck Nr. 809 einen Änderungsantrag gestellt, um klare Verhältnisse zu schaffen. Danach soll das landwirtschaftliche Siedlungsland zur Hälfte an Vertriebene gegeben werden. Wir sind für die Gleichberechtigung der Vertriebenen. Unser Änderungsantrag unterstreicht das im ersten Satz. Wir sind aber auch für die Gleichberechtigung der Einheimischen. Ich bitte daher, unserm Änderungsantrag auf Umdruck Nr. 809 zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Tobaben.
Ich werde mich sehr kurz fassen. Ich möchte nur zusätzlich zu dem gemeinsamen Antrag zu § 38 den Antrag stellen, in der vierten Zeile das Wort „mindestens" zu streichen, also statt „mindestens die Hälfte" zu sagen: „die Hälfte".
Das Wort hat der Abgeordnete Merten.
Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, alle drei Änderungsanträge abzulehnen, und zwar den Antrag der FU deshalb, weil er von einem Begriff der Gleichberechtigung ausgeht, der in diesem Zusammenhang so formal, wie er da gemeint ist, gar nicht benutzt werden kann. Die Vertriebenen in allen ihren Personengruppen können Einheimischen nicht gleichberechtigt sein, weil ihnen die ganz große Voraussetzung der Gleichberechtigung, nämlich die Heimat, fehlt.
Ein nachgeborener Sohn eines einheimischen Bauern hat immer den Hof und seine Familie hinter sich. Das hat der Vertriebene niemals. Sie dürfen und können diese formale Gleichberechtigung hier nicht zur Begründung nehmen, um den Anteil der Vertriebenen an der Neusiedlung zu verkleinern. Das wäre eine ganz grobe Ungerechtigkeit gegenüber den Vertriebenen.
Zu dem Antrag Dr. Müller und Genossen ist folgendes zu sagen. In Zeile 5 ist der Personenkreis in einer Art und Weise umschrieben, die uns einen vollkommen neuen Begriff des Vertriebenen bringt. Da steht „Vertriebene ({0})". Was ist da gemeint? Vertriebene, Sowjetzonenflüchtlinge, beides oder nur eins von beiden? Sie hätten also gut daran getan, sich an den im Gesetz eingeführten Begriff zu halten, dann wüßte jeder, was gemeint ist. Wir hätten auch gar .nichts gegen den Antrag, wenn er nicht einen Nachsatz enthielte, der gleichsam alles das, was vorne gesagt ist, wieder aufhebt. Wir haben in der zweiten Lesung dem Antrag des Kollegen Horlacher zugestimmt, weil er ein Kompromiß war, mit dem man einverstanden sein konnte. Sie haben heute diesen Kompromiß derart verschlechtert, daß er uns unannehmbar zu sein scheint, weil er sich für die Eingliederung der Vertriebenen bei der Neusiedlung in einer ungerechten Art und Weise auswirken würde. Aus diesem Grunde können wir dem vorliegenden Antrag nicht unsere Zustimmung geben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Meine Damen und Herren, ich danke Herrn Kollegen Merten, daß er auf den Fehler in Zeile 5 aufmerksam gemacht hat, und bitte zu ergänzen: „zur Hälfte den Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen ({0})".
Herr Abgeordneter Dr. Horlacher!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich seinerzeit den Ausgleichsvorschlag machte, habe ich vor der Abstimmung erklärt, daß wir uns vorbehielten, zur dritten Lesung noch eine Formulierung zu bringen, die eventuelle Mißdeutungen ausschließt; wir haben uns ja darüber besprochen. Wir wußten genau, was wir wollten, und ich möchte jetzt das genau feststellen, was mit dem Antrag gewollt war.
Über den Antrag, der jetzt von der FU wiederholt worden ist, haben wir schon in der zweiten Lesung abgestimmt, wobei er keine Mehrheit gefunden hat. Einige können ja noch für den Antrag stimmen, aber es kommt darauf an, die Bestimmungen so zu gestalten, daß man für eine bestimmte Richtlinie eine Mehrheit in diesem Hause finden kann. Der Ausgleichsvorschlag, den ich geboten habe und der jetzt noch ergänzt ist, hat folgende Grundbestandteile gegenüber dem ursprünglichen Antrag, der abgelehnt und jetzt von der Fraktion der FU wieder eingebracht worden ist. Dort sind zunächst die Einheimischen vorangestellt; ich habe gesagt, daß im Bundesvertriebenengesetz im ersten Satz naturgemäß die Vertriebenen vorangestellt sein müssen. Ich bitte doch diejenigen, die sich zu dem Kompromißvorschlag vereinigt haben, jetzt bei diesem zu bleiben; denn es handelt sich darum, es nicht auf eine Zufallsmehrheit ankommen zu lassen, sondern eine vernünftige Mehrheit im Hause zu schaffen. Ich habe schon wiederholt erklärt: mir persönlich kommt es darauf an, einen vernünftigen Ausgleich zwischen Einheimischen und Flüchtlingen herbeizuführen. Deswegen habe ich bei diesem Grundsatzparagraphen eingehakt. Der Herr Kollege Kather weiß genau, wie ich das ausgelegt habe; in seiner ostdeutschen Zeitung „Stimme" steht es drin, da ist ausgeführt, wie ich das gemeint habe. Letzten Endes muß der Antragsteller wissen,
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was er gemeint hat, und der Herr Kollege Kather weiß genau, wie ich es gedacht habe.
Ich möchte nun als Antragsteller die einzelnen Bestandteile noch einmal schildern. Ich habe ausgeführt, daß bei der Vergabe von Neusiedlerstellen, bei der Zurverfügungstellung von Land mindestens die Hälfte den Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen gehören soll. Mindestens die Hälfte, das heißt mit anderen Worten, daß im Bundesvertriebenengesetz diese Hälfte auf jeden Fall vorausgeht.
Im zweiten Teil geht es - und da haben manche gesagt, ich höbe im zweiten Teil das wieder auf, was ich im ersten Teil gesagt hätte - sinngemäß weiter: Bei der weiteren Vergabe sind die einheimischen Siedlungsbewerber entsprechend der Zahl der vorliegenden Anträge zu berücksichtigen. Wenn nun von den vorliegenden Anträgen weniger als 50 °/o von den Einheimischen gestellt sind, dann - das bedeutet dieser Antrag - kann über das „mindestens" hinausgegangen werden. Wir halten also nicht starr an zwei Ziffern fest, sondern lassen hier eine gewisse Bewegungsfreiheit zu; das ist doch vernünftig.
Der Herr Bundesernährungsminister hat hier bei einer Beratung dazwischengeworfen, wenn wir nicht von Jahr zu Jahr die Dinge ordneten, werde sich auf der einen Seite Land anhäufen, das für eine bestimmte Gruppe - beispielsweise für die Einheimischen zur Verfügung gestellt, aber nicht ausgenützt werde, und im nächsten Jahr werde dafür von den Flüchtlingen der weitere Anteil wieder beansprucht werden. Deswegen sehen wir hier eine vernünftige Verzahnung vor, damit wir die Dinge nicht an starren Begriffen aufhängen.
Ein wesentlicher Teil des Kompromisses besagt weiterhin, daß bei der Aufteilung des Anteils der Einheimischen von 50 % vor allen Dingen auf ihre Ansetzung auf Moor-, Öd- und Rodungsflächen Wert gelegt werden soll. Da soll die Anliegersiedlung gefördert werden. Weiterhin soll innerhalb der 50 % die Siedlung vom Hofe aus für die Einheimischen vorangetrieben werden. Sie sehen, das ist ein vernünftiges Kompromiß. Wir haben im § 65 die Bestimmung fallenlassen, daß bei der Siedlung vom Hofe aus noch weitere Siedlungen für Einheimische durchgeführt werden sollen, so daß also jetzt die Beteiligung der Einheimischen an der Siedlung vom Hofe aus auf den halben Anteil angerechnet ist. Das stellt ein wirkliches Kompromiß dar, und diesem sollten wir doch zustimmen. Das, was ich in der zweiten Lesung beantragt habe, hat jetzt sogar noch eine Verbesserung erfahren. Das Kompromiß ist noch erweitert worden. Ich sehe keinen Grund, warum man dem nicht zustimmen sollte. Ich bitte Sie aus all den Gründen, dem Antrag auf Umdruck Nr. 805 Ziffer 1 in der Neufassung jetzt ihre Zustimmung zu erteilen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Horlacher hat mit großem Nachdruck hier vorgetragen, daß er ein vernünftiges Kompromiß gesucht - das will ich ihm auch bestätigen - und auch gefunden habe. Dieser Vortrag ist aber geeignet, einen falschen Eindruck hervorzurufen. Es sieht so aus, als ob wir uns
etwa damit abgefunden hätten. Das ist nicht der Fall. Wir haben diesen Kompromißvorschlag abgelehnt, weil er kein wirkliches Entgegenkommen beinhaltet. Er bringt in anderer Formulierung das, was von Anfang an gewollt und im Streit war, nämlich eine Aufteilung des neu anfallenden Siedlungslandes zwischen Vertriebenen und Einheimischen zu je 50 %. Die Chance, daß der zweite Teil nicht voll in Anspruch genommen wird, ist nach all dem, was wir uns haben sagen lassen, so gering, daß wir sie nicht irgendwie einsetzen können, und ich halte es für unmöglich, bei dieser Gelegenheit eine solche schematische Gleichziehung in dem Gesetz zu verankern. Ich habe vorhin gesagt, wir haben ursprünglich nichts verlangt, als daß auf die besondere Not der einen Seite, für die dieses Gesetz gemacht wird, Rücksicht genommen wird. Das muß geschehen. Jetzt ist inzwischen der Antrag Horlacher in die Ausschußfassung übergegangen. Wir sind auch damit einverstanden. Aber ich bitte ausdrücklich, diesen Abänderungsantrag abzulehnen.
Herr Abgeordneter Dr. Besold.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind nicht der Ansicht, daß der § 38 in Form der vorgeschlagenen Kompromißlösung eine Verbesserung gegenüber der Regierungsvorlage ist; denn auch in dem § 38 der Regierungsvorlage ist das freie Ermessen des Herrn Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und des Vertriebenenministers im Einvernehmen mit der Landesregierung offengelassen. Das gleiche ist der Fall bei § 38 in der in Umdruck Nr. 805 vorgeschlagenen Fassung, wo von „mindestens zur Hälfte" gesprochen wird. Was mit dem darüber hinausgehenden Prozentsatz geschieht, ist nicht festgelegt. Die persönliche Ansicht. die der Herr Horlacher hier preisgegeben hat, muß nicht der Entscheidungsgrund für ein Ermessen sein, das hier offengelassen wird. Die persönliche Meinung des Herrn Horlacher ist im Gesetz in keiner Weise verankert. Wir wollen hier ganz klare Verhältnisse schaffen, und im Gesetz muß die volle Gleichberechtigung 50 zu 50 verankert werden, weil wir verhüten wollen, daß die Praxis fortgesetzt wird, daß Ermessensentscheidungen oder andere Entscheidungen der Regierung oder anderer Behörden durch Streiks oder Massendemonstrationen beeinflußt werden können.
Keine weiteren Wortmeldungen.. Ich schließe die Besprechung. Meine Damen und Herren, der am weitesten von der Fassung der zweiten Beratung abweichende Antrag ist der Antrag der Föderalistischen Union unter Ziffer 1 des Umdrucks Nr. 809. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letztere ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Herr Abgeordneter Dr. Müller hat seinen Antrag dahin ergänzt, daß in der vierten Zeile nach den Worten „den Vertriebenen" eingefügt wird „und Sowjetzonenflüchtlingen". Herr Abgeordneter Tobaben hatte den Antrag angekündigt, in der dritten Zeile das Wort „mindestens" zu streichen. Herr Abgeordneter Tobaben allein ist nicht in der Lage, einen solchen Antrag in der dritten Beratung zu stellen. Ich kann darüber nicht abstimmen.
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- Wird von der Fraktion unterstützt, ist also hinreichend unterstützt. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Änderungsantrag zu dem Änderungsantrag des Herrn Abgeordneten Dr. Müller, das Wort „mindestens" zu streichen, zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letztere ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich komme zur Abstimmung über den § 38 in der Form des Antrags auf Umdruck Nr. 805 Ziffer 1, der von Herrn Abgeordneten Dr. Müller gestellt worden ist. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. -
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Die Abstimmung ist immer noch nicht ganz klar.
- Ich bitte um die Gegenprobe. - Meine Damen und Herren, ich bitte, um vielleicht einen Hammelsprung zu vermeiden, diese Abstimmung durch Aufstehen vorzunehmen. Ich bitte diejenigen, die für Umdruck Nr. 805 Ziffer 1 sind, aufzustehen.
- Ich bitte um die Gegenprobe. - Meine Damen und Herren, es ist nicht mit völliger Sicherheit festzustellen. Ich bitte, über den Antrag im Wege des Hammelsprungs zu entscheiden. Wer für den Antrag des Herrn Abgeordneten Dr. Müller ist, begibt sich durch die Ja-Tür. Ich bitte freundlichst, das Verlassen des Saales und die Abstimmung zu beschleunigen.
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Ich bitte, den Saal möglichst schnell zu verlassen.
- Ich wäre dankbar, wenn auch die Herren, die noch mit dringenden Besprechungen beschäftigt sind, diese draußen fortsetzten. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
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Ich bitte, die Abstimmung zu beschleunigen. - Ich bitte, die Türen zu schließen.
Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Für den Antrag Dr. Müller haben gestimmt 174 Abgeordnete, dagegen 182 Abgeordnete, bei 2 Enthaltungen. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich komme zur Abstimmung über den § 38 in der Fassung der Beschlüsse zweiter Beratung. Ich bitte die Damen und Herren, die den Beschlüssen der zweiten Beratung zu § 38 zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Das ist die überwiegende Mehrheit; § 38 ist angenommen.
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Zu § 39 Änderungsantrag der Fraktion der Föderalistischen Union Umdruck Nr. 809 Ziffer 2!
Bitte schön, zur Begründung!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir mußten uns wiederum entschließen, den Antrag auf Streichung des § 39 zu stellen. Unter anderem deshalb, weil die Aussicht schlechterdings unerträglich ist, daß Betriebe - und seien es sogenannte auslaufende oder wüste Höfe - zwangsweise und ausschließlich an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe übertragen werden. Ich darf bemerken, daß wir uns, falls unsere Anträge abgelehnt werden, nicht entschließen könnten, dem Gesetzentwurf als Ganzem unsere Zustimmung zu geben.
Ich darf bitten, dem Antrag auf Streichung des § 39 zuzustimmen.
Wünscht noch jemand das Wort, meine Damen und Herren? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Besprechung. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Streichungsantrag, der eben begründet wurde, zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letzte ist die überwiegende Mehrheit. Der Streichungsantrag ist abgelehnt. Ich unterstelle, daß damit § 39 in der Fassung der zweiten Beratung angenommen ist. - Das ist der Fall.
Zu § 40 Änderungsantrag auf Umdruck Nr. 808 Ziffer 1! - Abgeordneter Dr. Kather zur Begründung!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Änderungsantrag zielt darauf ab, die ursprüngliche Fassung der Ausschußvorlage wiederherzustellen. In § 40 Abs. 2 Ziffer 1 sind in der Zweiten Lesung die Worte gestrichen worden: „solche Flächen, die im wesentlichen sich selbst überlassen sind und deren Ertrag gegenüber dem derzeitigen Stand erheblich gesteigert werden kann." Es sind also nur die Worte stehengeblieben: „landwirtschaftlich nutzbare Ländereien, die nicht planmäßig bewirtschaftet werden". Der Ausschuß war einmütig der Auffassung, daß das nicht genügt. Wenn ,jede Form der Bewirtschaftung ausreichend ist, können auf diese Weise Flächen, die durchaus verwert- und verwendbar sind, dem Zugriff entzogen werden. Er hielt es für richtig, die weiteren Merkmale hinzuzufügen, daß diese Ländereien dann genommen werden können, wenn sie im wesentlichen sich selbst überlassen sind und ihr Ertrag erheblich gesteigert werden kann. Ich bitte daher, diesen Änderungsantrag anzunehmen und damit die Ausschußvorlage wiederherzustellen.
Herr Abgeordneter Struve wünscht das Wort hierzu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist etwas ungewöhnlich, daß man von einem Begriff, der in der ganzen Gesetzgebung seit Jahrzehnten verankert ist und hier unter der Überschrift „Moor-, Ödland- und Rodungsflächen" seinen Niederschlag gefunden hat, abgeht und damit die ganze Rechtsprechung einer Änderung unterwirft. Wir haben in der zweiten Lesung eine Mehrheit für unseren Antrag bekommen, und ich darf auf die während der zweiten Lesung gemachten Ausführungen verweisen, wo es in der Kernfrage darum geht, ob man auf dem Wege der Ermessensfrage neben dem Begriff „landwirtschaftlich nutzbare Flächen, die nicht planmäßig bewirtschaftet werden" noch andere Begriffe gelten lassen will. Dies ist durch den erneuten Antrag des Kollegen Dr. Kather in der Form vermutlich für möglich gehalten, indem er diesen Begriff ausweitet
und noch insbesondere von Flächen spricht, „die
im wesentlichen sich selbst überlassen sind". Derartige Begriffe sind in der deutschen Rechtsprechung bisher nicht bekannt. Ich befürchte, daß man hei Wiederaufnahme eines solchen Begriffes in eine Verwicklung des ganzen Rechtsgefüges hineinkommt. Ich möchte dringend raten, von einer Ermessensfrage und damit von einer Erweiterung des Absatzes 1 Abstand zu nehmen, und das Hohe Haus bitten, es bei dem Beschluß der zweiten Lesung zu belassen.
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Herr Abgeordneter Dannemann, bitte.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die eben durchgeführte Abstimmung über § 38 hat ganz klar und deutlich gezeigt, daß die Mehrheit des Hauses nicht bereit ist, für die nachgeborenen Bauernsöhne, für Heuerleute und Landarbeiter aus der Westzone irgendwelche Neusiedlungsmöglichkeiten zu schaffen.
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Der § 40 geht darüber hinaus. Er will nicht nur das anfallende Neusiedlungsland einseitig nur noch den Vertriebenen zur Verfügung stellen, sondern er will auch das gesamte Moor- und Lidland und Rodungsflächen, ja sogar das Land einseitig verteilen, das, wie es hier in § 40 heißt, irgendwie im Erträgnis gesteigert werden kann. Geradezu eine Unmöglichkeit für uns. Ich bitte daher, dem Änderungsantrag von Dr. Kather nicht zu entsprechen; denn seine Annahme würde praktisch bedeuten, daß in Zukunft, wie ich bereits in der zweiten Lesung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht habe, jedem einheimischen Landarbeiter, Heuermann, nachgeborenen Bauernsohn jegliche Siedlungsmöglichkeit und jede Möglichkeit der Gründung einer Existenz genommen wird.
Keine weiteren Wortmeldungen? - Ich schließe die Besprechung. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag des Abgeordneten Dr. Kather - Umdruck Nr. 808 Ziffer 1 - zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben.
- Ich bitte um die Gegenprobe! - Meine Damen und Herren, ich bitte freundlichst, durch Aufstehen die Klärung herbeizuführen. Ich bitte diejenigen, die für den Antrag des Abgeordneten Dr. Kather sind, aufzustehen. - Ich bitte um die Gegenprobe.
- Enthaltungen? - Meine Damen und Herren, ich bitte freundlichst, im Wege des Hammelsprungs diese Frage zu klären. Ich darf Sie bitten, den Saal möglichst schnell zu räumen.
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- Ich bitte, den Saal möglichst schnell zu räumen; auch die Herren aus Schwaben!
Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
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Ich bitte, die Abstimmung zu beschleunigen. Ich bitte, die Türen zu schließen.
Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Für den Antrag des Abgeordneten Dr. Kather haben 168 Abgeordnete gestimmt, dagegen haben gestimmt 191 Abgeordnete bei einer Enthaltung. Damit ist der Antrag abgelehnt. Ich darf unterstellen, daß § 40 in der Fassung der zweiten Beratung damit angenommen ist. - Das ist der Fall.
Ich rufe weiter auf § 47, Änderungsantrag der Fraktion der SPD Umdruck Nr. 806 Ziffer 1. Das Wort hat der Abgeordnete Merten.
Meine Damen und Herren! In der zweiten Lesung des Gesetzes sind alle diejenigen Bestimmungen gestrichen worden, die Vergünstigungen gewähren, wenn ein Vertriebener einheiratet oder eine eherechtliche Mitverwaltung betreffend die landwirtschaftlichen Betriebe begründet wird. In unserem Antrag, der ja auch übereinstimmt mit dem Antrag Dr. Kather und Genossen, verlangen wir, daß die Ausschußvorlage wiederhergestellt wird, und zwar deshalb, weil durch die Förderung der Einheirat die notwendige Gemeinschaftsbildung außerordentlich stark verbessert worden ist. Durch die materielle Begünstigung der Einheirat von Vertriebenen soll ja nun keineswegs irgend etwas auf dem Gebiet der Moral oder der psychologischen Beziehungen der Menschen zueinander geschehen. Ohne Zweifel jedoch steht fest, daß ein großer Teil von Eingliederungsfällen durch Einheirat zustande gekommen ist und diese Einheiraten nur durch die wirtschaftliche Unterstützung, die auf Grund des alten Flüchtlingssiedlungsgesetzes gewährt wurde, möglich war. Es wird Sie interessieren, zu hören, daß rund 20 obo überhaupt aller Eingliederungsfälle Einheiratsfälle sind, daß alle diese Fälle nach bisher geltendem Recht gefördert worden sind und daß die in der zweiten Lesung vorgenommene Änderung des Gesetzes eine glatte Verschlechterung bedeutet, eine Verschlechterung, für die es irgendwie stichhaltige Gründe nicht gibt. Denn die Gründe, die hier in zweiter Lesung aufgeführt worden sind, die lediglich der Mißstimmung gewisser Kreise entspringen, können gar nicht zum Zuge kommen. Ich möchte hier nicht wieder die Protokolle der zweiten Lesung verlesen, möchte aber auf die wissenschaftlichen Gutachten hinweisen, die wir über die Flüchtlingssiedlung haben herstellen lassen und die die Bundesregierung uns zur Verfügung gestellt hat, in denen ausdrücklich festgestellt wird, daß in Fällen von Einheirat durchweg Vergünstigungen und Kredite notwendig waren. Es hat sich, meine Damen und Herren, fast immer um verwaiste Höfe gehandelt, die Kriegerwitwen gehörten oder ihren Kindern, die dadurch und infolge der verminderten Leistungskraft nun sehr schwer zu tragen hatten, sehr schwer zu tragen hatten auch an Abgaben für die Soforthilfe und jetzt für den Lastenausgleich. Normale Kredite aus privater Quelle sind für diese Menschen doch kaum zu erhalten gewesen. Notwendige Inventarverbesserungen, Auseinandersetzungen mit Geschwistern und alle diese Dinge konnten nicht geleistet werden. Das war aber möglich, wenn Heimatvertriebene in solche Betriebe gingen. Die Einheirat ist also durchaus als legale Form der Eingliederung anzuerkennen, und die Auswirkung in der Vergangenheit war außerordentlich günstig. Deshalb ist nicht einzusehen, daß diese günstige Auswirkung in Zukunft vermindert werden soll. Wir bitten Sie daher, in diesem Punkte die Ausschußvorlage wiederherzustellen und damit auch in Zukunft dieser uns so außerordentlich sympathischen Form der Eingliederung alle Möglichkeiten zu geben.
Ich nehme an, daß Herr Abgeordneter Dr. Kather seinen gleichlautenden Antrag nicht besonders begründen will.
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Soll der Antrag der Föderalistischen Union Umdruck Nr. 809 Ziffer 3 auf Streichung des § 47 begründet werden? - Herr Abgeordneter Lampl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sehen nach wie vor in den §§ 47 bis 55 - das darf ich gleich anschließen - die entscheidendste Benachteiligung, die dieses Gesetz für die einheimische Landwirtschaft bringt. Wir haben
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mehrjährige Erfahrungen mit der Soforthilfeabgabe, die bekanntlich ähnliche Vergünstigungen steuerlicher Art für Veräußerer und Verpächter landwirtschaftlicher Grundstücke und Betriebe vorsah. Sollte das Vertriebenengesetz in der vorliegenden Form Gesetz werden, dann ist nach den Erfahrungen mit der Soforthilfe auf Jahre hinaus kaum damit zu rechnen, daß ein einheimischer Bauernsohn zu einem landwirtschaftlichen Betrieb kommt.
Wir halten daher die §§ 47 bis 55 für unannehmbar und bitten, der Streichung dieser Paragraphen zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller. - Alle Abgeordneten, die sich auf ihre Plätze begeben und nicht in den Gängen herumstehen, dienen der Förderung unserer Abstimmungen.
Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der zweiten Lesung haben meine Freunde und ich den Antrag gestellt, die Vergünstigung bei der Einheirat zu streichen, und dieser Antrag hat eine große Mehrheit gefunden. Jetzt sind drei Anträge auf Wiederherstellung des alten § 47 gekommen. In dem Falle, in dem ein Flüchtling in einen Betrieb einheiratet, ein Flüchtling, der, wenn der Betrieb es nötig hat, bis zu 20 000 DM an Darlehen und Beihilfen bekommen kann, um diesen Betrieb wieder flottzumachen, soll der Schwiegervater frei sein vom Lastenausgleich, von 2000 DM Einkommensteuer und von der Erbschaftsteuer.
Wir sind der Auffassung, daß es bedenklich ist, einen Vorgang wie den der Eheschließung, der sich in der persönlichen Atmosphäre des Menschen abspielt, mit wirtschaftlichen Vorteilen und steuerlichen Vergünstigungen zu verbinden. Wenn man sich in der Sittengeschichte der Völker umsieht, stellt man fest, daß die Naturvölker den Brautkauf gekannt haben. Wenn nun ein Einheimischer in den Betrieb einheiratet, wird diese Steuervergünstigung nicht gegeben. Heiratet dagegen ein Flüchtling ein, dann wird sie gegeben. Ich glaube, man wird mir keine falsche Deduktion vorwerfen können, wenn ich sage: das erfüllt den Tatbestand des Brautkaufs. Ich muß fragen, ob eine solche Einrichtung in die heutige Zeit noch hineinpaßt und ob sie der Würde der Frau entspricht. Ich muß das verneinen und bitte Sie, diese Anträge abzulehnen und es bei den Beschlüssen der zweiten Lesung zu belassen.
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Herr Abgeordneter Dr. Kather!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Abgeordneten D r. Müller hörte, mußte man zu der Überzeugung kommen, daß bei einer Eheschließung materielle Erwägungen niemals eine Rolle spielen.
({0}) Wir wissen alle, daß es gerade auf dem Lande häufig wesentlich anders ist.
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Der Sinn dieses Verfahrens, das ja schon drei Jahre
in Übung ist, liegt darin, die Sonderlage der
Vertriebenen irgendwie auszugleichen, den Mangel irgendwie auszugleichen, der einem Vertriebenen anhaftet, wenn er nichts, aber auch gar nichts mitbringt. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich habe vorhin schon vorgetragen, daß von den 35 000 Stellen, die bisher zum Zuge gekommen sind, ein Drittel gerade auf diesem Wege geschaffen worden ist. Aus den Ausführungen eines Vorredners - ich glaube, der Herr Kollege Dannemann war es -, der sagte, es gehe hierbei um eine entscheidende Benachteiligung des einheimischen Teiles, muß man in der Tat entnehmen, daß es sich um eine Aktion handelt, die eine gewichtige Rolle spielt. Aber von einer Benachteiligung des einheimischen Teiles kann gar keine Rede sein. Es ist genau umgekehrt. Hier geht es um die Vergünstigungen, die der einheimische Teil bekommt, wenn er bei einer Eheschließung sein Gut abgibt. Es wird also kein Einheimischer benachteiligt. Man könnte höchstens - wie es ja auch geschehen ist - sagen: es erweckt irgendwie Neid. Aber dazu ist kein Anlaß vorhanden. Ich muß auch, Herr Kollege Müller, immer wieder der Ansicht entgegentreten, daß jeder vertriebene Bauernsohn, wenn er heiratet, 20 000 Mark in die Hand gedrückt bekomme. Bisher hat sie meines Wissens noch keiner bekommen und kann sie auch keiner bekommen haben, denn bisher haben sich diese Zuwendungen in anderen Grenzen bewegt, und jeder bekommt sie auch nicht.
Es trifft auch nicht zu, was Herr Kollege Struve gesagt hat, der von verlorenen Zuschüssen aus dem Lastenausgleichsfonds gesprochen hat. Aus dem Lastenausgleichsfonds gibt es überhaupt keine verlorenen Zuschüsse. Es gibt Aufbaudarlehen, wenn jemand seine Existenz verloren hat. Der zweite oder dritte Sohn bekommt sie nicht. Wenn er sie überhaupt bekommt, dann nur in der Rolle des ersten Sohnes, wenn der Vater diesen Anspruch selber nicht mehr geltend machen kann. Das wird dann auch von den örtlichen Stellen, und zwar auch mit der Vermögenslage des Schwiegervaters sehr gut abgestimmt.
Wir haben heute schon gehört, daß es sich in der Hauptsache um Fälle von Witwen handelt oder sonst nur um finanzschwache Höfe, die zu diesem Mittel gegriffen haben. Da wird aber höchstens so viel gegeben, daß der Hof in Zukunft lebensfähig ist.
Meine Damen und Herren, Sie wollen keinen Zwang, Sie widersetzen sich jedem Zwang. Aber Sie wollen den Hauptanreiz, den wir überhaupt geben, auch nicht. Ja, eines von beiden muß man aber wohl machen! Wir sind der Meinung, daß man beides miteinander verbinden sollte, daß man also die Anreize, die drei Jahre bestanden haben und nach dem Gesetz noch zwei Jahre bestehen müssen, wenn wir es nicht ändern, lassen sollte, weil wir dadurch in die Lage versetzt werden, von den Zwangsmitteln so wenig wie möglich Gebrauch zu machen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Struve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Darstellung, die Herr Kollege Merten gegeben hat, daß alle Vergünstigungen in der zweiten Lesung gestrichen worden seien, ist falsch. Die Darstellung, die Herr Kollege Dr. Kather gegeben hat, der von einem Drittel gesprochen hat, die eingeheiratet haben - danach sollten es schon 12 000 sein -, ist genau so falsch wie die Angabe von einem Fünftel, also von 7000. Es sind weniger; die Zahl tut aber nichts.
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Zum Sachverhalt ist dem Hohen Hause zu sagen, daß durch die BeschlüsSe der zweiten Lesung dem einheiratenden Vertriebenen nicht die Möglichkeit genommen ist, verlorene Zuschüsse und zinslose Darlehen zu bekommen, wenn sie für den Betrieb notwendig sind, d. h. wenn an den Gebäuden etwas auszusetzen ist, wenn am Inventar irgendwelche Mängel sind, wenn der Vertriebene Möbel und andere Gegenstände zur Ausstattung eines Haushalts benötigt. Er konnte dann nach dem Flüchtlingssiedlungsgesetz mit je 5000 DM aus verschiedenen Quellen diese Darlehen und Zuschüsse bekommen. Herr Kollege Kather, es ist möglich, Ihnen aus der Praxis viele Fälle nachzuweisen, in denen der Einheiratende nicht 5000, nicht 10 000, sondern von 10 000 bis 15 000 DM bekommen hat. Nach dem neuen Bundesvertriebenengesetz ist es möglich, für die jeweiligen Zwecke statt 5000 DM 20 000 DM zur Verfügung zu stellen. Bis zu diesem Punkt haben wir uneingeschränkt ja gesagt. Die beiden Herren Vorredner haben aber dem Hohen Hause folgendes nicht gesagt, wofür sich in der zweiten Lesung eine Mehrheit ergeben hat. Erstens kann dieser Betrieb, wenn er die Gelder bekommen hat, 2000 DM von seinem Einkommen absetzen und braucht dafür keine Einkommensteuer zu zahlen. Zweitens braucht der Eigentümer keine Erbschaftsteuer zu zahlen, wenn er den Besitz an seine Tochter übergibt. Drittens braucht er für 30 Jahre keinen Lastenausgleich zu zahlen. Viertens braucht er, wenn auf dem Betrieb Schulden sind, die Hypothekengewinnabgabe nicht zu zahlen. Fünftens braucht er gegenüber den anderen Vertriebenen, die über Pacht eingegliedert werden, keine Pacht zu zahlen. Sechstens braucht er, wenn er sich als Vertriebener etwas gekauft hat, keine Kaufsumme zu zahlen.
Welches sind nun die Schlußfolgerungen? Die Schlußfolgerungen sind die, daß es in der Praxis möglich und Tatsache ist, daß im Augenblick, auch nach dem von uns für falsch gehaltenen Flüchtlingssiedlungsgesetz, Betriebe von 50 000, 80 000, 100 000 DM und darüber nicht nur von einer Steuer frei sind, sondern, wie ich Ihnen nachgewiesen habe, von vier verschiedenen Sorten Steuern befreit sind. Demgegenüber muß der Lastenausgleich von jedem kleinen Hausbesitzer, von jedem kleinen Handwerker, von jedem kleinen Kaufmann gezahlt werden. Ich höre, daß im Augenblick nicht einige, sondern recht viele hundert Millionen im Lastenausgleichsfonds sind, die noch gar nicht einmal ausgekehrt sind. Herr Kollege Dr. Kather hat nun am Ende gesagt: Wenn sie dies nicht bekommen, dann sind die Höfe nicht lebensfähig. Herr Dr. Kather, sehen Sie sich bitte die Praxis draußen an. Das Gegenteil von dem, was Sie hier gesagt haben, ist Tatsache.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Tobaben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will die ausgezeichneten Darstellungen meines Kollegen Struve nicht etwa wiederholen. Ich will auch den Heiratsvermittlern mit staatlichen Mitteln ihr Geschäft nicht unbedingt verderben. Ich möchte aber gegenüber den Ausführungen des Kollegen Dr. Kather einmal folgendes feststellen. Es handelt sich nicht nur - in der
Praxis wirkt sich das ja so aus - um Vertriebene, die drüben einen Hof verlassen haben. Wir haben vielmehr in § 35 alle diejenigen herangezogen, die aus der Landwirtschaft stammen oder einmal in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Also auch der dritte, vierte und fünfte Sohn eines ostdeutschen Bauern oder irgendeines anderen Berufsstandes kann alle die hier von Herrn Struve dargestellten Vergünstigungen erhalten. Nun frage ich Sie einmal: Welcher einheimische Bauer kann, wenn er seine Steuern pünktlich und richtig bezahlt, auch bei intensivster Arbeit seinen drei oder vier Jungen eine solche Mitgift erarbeiten? Wir schaffen, wenn wir die alte Vorlage wiederherstellen, zweierlei Recht. Das dürfte soviel böses Blut zur Folge haben, daß das auch nicht im Interesse der Vertriebenen liegen kann. Herr Kollege Dr. Kather hat vorhin gesagt, daß 300 000 bäuerliche Familien aus dem Osten geflüchtet sind. Infolge der Formulierung des § 35 ist die Zahl der Bewerber um einen Betrieb weitaus größer geworden. Ich meine, wir sind unehrlich, wenn wir den Leuten Hoffnungen machen, die doch nicht zu erfüllen sind. Das mögen alle Funktionäre innerhalb der Organisationen, wenn sie Versprechungen machen, immer bedenken.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Schütz.
Meine Damen und Herren! Es geht jetzt um den § 47, und zur Entscheidung steht, ob die Begünstigungen im Falle der Einheirat eines Flüchtlingssohnes wieder vorgesehen werden oder gestrichen bleiben sollen. Ich will das, was der Kollege Kather gesagt hat, nicht wiederholen. Aber wenn ich die Kollegen Müller und Struve höre, dann kommt mir doch unwillkürlich der Gedanke: Wie glücklich sind doch die Flüchtlinge! Ach, wären wir doch alle Flüchtlinge!
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Verehrte Frauen und Herren, ich halte dafür, daß sich die Diskussionen hier auf eine falsche Ebene begibt. Wir haben zwei Dinge zu unterscheiden. Ist der Flüchtling nicht ein anderer als der einheimische Bauernsohn? Er ist ein anderer! Der einheimische Bauernsohn, Herr Dr. Besold, hat den Hof seines Vaters im Rücken.
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- Der hat auch noch die Familie des Vaters im Rücken.
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Der Vertriebene dagegen hat alles verloren. Wenn er in eine einheimische Familie einheiratet,
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dann kann der Schwiegervater ihm ein ganzes Leben lang sagen: Ach, was bist du doch für eine arme Maus gewesen!
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Wenn wir nun den vertriebenen Flüchtlingssohn mit dem Einheimischen gleichstellen wollen,
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dann müssen wir ihm ein paar Vergünstigungen gewähren. Das ist der Sinn des § 44,
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die Freiwilligkeit zu fördern und auf die Zwangsmaßnahmen, denen wir alle abhold sind, möglichst verzichten zu können. Aber beides, meine Frauen und Herren, geht einfach nicht. Sie können nicht auf der einen Seite sagen: Zwangsmaßnahmen wollen wir nicht, und auf der andern Seite zur gleichen Zeit sagen: Die Ungleichheit, die natürlicherweise besteht, gleichen wir auch nicht aus. Das ist genau so, als wenn da einer den Weg zu Fuß geht und ein anderer den gleichen Weg mit dem Motorrad fährt und ich nun dem, der zu Fuß gehen muß, zwar kein Motorrad, aber wenigstens ein Fahrrad kaufe. Dann sagen Sie: Das ist zweierlei Recht.
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- Nein, Herr Struve! Wir sollten uns bei diesen Dingen nicht so mutwillig auseinanderreden. Wir sollten doch für diese Generation, die so hart gestraft ist, nicht jede Chance begraben.
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- Verehrter Herr Zwischenrufer, wir sind alle sehr hart gestraft; das ist sehr wahr. Lassen Sie mich das noch einmal an einem Beispiel sagen.
Als ich als Vertriebener nach Oberbayern kam und in der Stube eines oberbayrischen Pfarrers eine neue Heimat fand, da standen vor mir die Alpenberge. Da habe ich mir gedacht: Schau her, diese Alpenberge sind ein Symbol für die Ewigkeit; die wandeln sich nicht. Nachher habe ich erfahren, daß auch die Alpenberge nicht unveränderlich stehen, daß der bayrische Ankogel erst im Jahre 1926 eine Viertelmillion Kubikmeter hat ins Tal fallen lassen.
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Dieser Bergsturz ist das Beispiel für das Flüchtlingsschicksal. Wir Vertriebenen aus dem Osten haben auch ehedem geglaubt, wir seien so gebaut wie die Alpenberge. Wir würden niemals von unserem Platz weichen müssen. Trotzdem hat uns ein grausames Schicksal in das Niemandsland der Vertreibung sinken lassen.
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- Das will ich Ihnen gleich sagen! - Wir, die wir ehedem - um beim Beispiel zu bleiben - auf den Alpenbergen saßen und jetzt ins Tal gestürzt sind, wir haben einen vollkommen anderen Standort, eine vollkommen andere Voraussetzung für die Eingliederung erhalten. Aber auch dort, wo dieser Bergsturz niederging, hat sich manches geändert. Dort ist eben mancher Blumengarten zugedeckt worden, der einfach nicht wiedererstehen kann. Wir, Flüchtlinge und Einheimische, sollten uns darüber verständigen, daß wir beide nicht mehr unter den gleichen Bedingungen wie früher weiterleben können, und sollten uns nicht bei solchen Dingen auseinanderreden.
Herr Kollege Struve, wenn Sie fragen: „Was hat das mit dem Einheiraten zu tun?", muß ich Ihnen sagen: Natürlich, wenn ich eingliedern will, dann muß ich an ein paar konkreten Dingen anfangen, und an den konkreten Dingen müssen wir uns alle beide bewähren, ob wir wollen oder nicht. Wir wollen nicht zweierlei Recht, aber wir wollen dem Fußgänger wenigstens ein Fahrrad geben, wo unsere Konkurrenz mit dem Motorrad fährt.
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Herr Abgeordneter Trischler!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde davon gesprochen, daß es auf der anderen Seite böses Blut geben würde. Was glauben Sie: wird es kein böses Blut machen, wenn den Vertriebenen etwas weggenommen wird, was sie bisher auf Grund des Flüchtlingssiedlungsgesetzes gehabt haben?! Das wäre nämlich die Folge, wenn die Fassung so bleibt, wie sie das letzte Mal beschlossen worden ist. Die praktische Auswirkung dessen würde nämlich sein, daß jeder die Möglichkeit hätte, durch einen Pachtvertrag, den der Schwiegervater mit seinem Schwiegersohn schließt, dieselben Vorteile in Anspruch zu nehmen. Das kann trotz aller Ihrer Bemühungen niemand verhindern, das liegt im Sinne des Gesetzes. Es ist nun die Frage: wollen wir selbst die Leute direkt darauf hinweisen und zwingen, diesen ungeraden Weg zu gehen, oder ist es nicht vernünftiger, wir gehen den normalen, richtigen Weg? Daher bitte auch ich um die Wiederherstellung der Ausschußfassung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Vertriebene.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde das Hohe Haus recht herzlich bitten, es bei der alten Bestimmung, nämlich der Begünstigung der Einheirat, zu belassen. Herr Trischler hat schon gesagt, daß nach dem alten Flüchtlingssiedlungsgesetz die Möglichkeit vorhanden ist. Dieses Flüchtlingssiedlungsgesetz gilt noch zwei Jahre länger. Sie würden also bei einer Abänderung für diese zwei Jahre die Möglichkeiten abschneiden und auch den Zweifel hereinbekommen, ob der, der die Vergünstigungen durch die Einheirat schon hat, etwa vom Augenblick des Inkrafttretens dieses Gesetzes ab diese Vergünstigung, also die Befreiung von der Lastenausgleichsabgabe, nicht mehr zugebilligt erhält. Das müßte zum mindesten vorgesehen werden. Und dann, meine Damen und Herren: wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Das ist ein Weg, auf dem gerade die größeren Höfe für die Eingliederung der Heimatvertriebenen herangezogen werden. Ich will nicht mit Zahlen reden. Herr Professor Neuendörfer hat gesagt, daß ein Drittel der Eingliederungszahlen darauf zurückzuführen sind.
Und dann sollte man doch über die ethische Seite nicht allzusehr streiten. Herr Trischler hat mit Recht gesagt, die Gefahr der Umgehung durch Abschließung eines Pachtvertrages - was jeder tun kann - ist eigentlich sehr viel größer als das Mißbehagen, das von den Nachbarsöhnen, die nicht zum Zuge kommen, geäußert werden könnte. Deshalb würde ich dringend bitten: Seien Sie hier großzügig!
Keine weiteren Wortmeldungen. Ich schließe die Besprechung.
Der weitestgehende Antrag ist der Antrag der Föderalistischen Union auf Umdruck Nr. 809 Ziffer 3 auf Streichung der §§ 47 bis 55. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Das ist die Minderheit; der Antrag ist abgelehnt.
Dann der Antrag der SPD Umdruck Nr. 806 Ziffer 1 und der damit übereinstimmende Antrag des Abgeordneten Dr. Kather Umdruck Nr. 808 Ziffer 2,
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die Ausschußfassung wiederherzustellen. Ich bitte die Damen und Herren, die für diese übereinstimmenden Anträge sind, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich unterstelle, daß damit der § 47 in der Fassung der zweiten Beratung genehmigt ist.
Zu § 50 übereinstimmende Anträge auf Umdruck Nr. 806 Ziffer 2 und Umdruck Nr. 808 Ziffer 3. Soll ausdrücklich begründet werden?
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- Aus den gleichen Gründen. Keine Aussprache dazu. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag auf Umdruck Nr. 806 Ziffer 2 und Umdruck Nr. 808 Ziffer 3 zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Ich unterstelle, daß § 50 damit gebilligt ist.
§ 51, Änderungsantrag Umdruck Nr. 806 Ziffer 3 bzw. Umdruck Nr. 808 Ziffer 4. - Die gleiche Begründung, bei Herrn Kollegen Kather ebenso. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag auf Umdruck Nr. 806 Ziffer 3 und Umdruck Nr. 808 Ziffer 4 zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. § 51 ist damit gebilligt.
§ 54, Änderungsantrag Umdruck Nr. 806 Ziffer 4 und Umdruck Nr. 808 Ziffer 5. - Dieselbe Begründung. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt. Damit ist § 54 gebilligt.
Nach § 55 wünscht die Fraktion der CDU/CSU einen § 55 a einzufügen.
Zur Begründung Herr Abgeordneter Kunze.
Der Antrag liegt Ihnen noch nicht vor, ist aber offenbar interfraktionell abgestimmt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich lediglich darum, die Befreiungsvorschriften für Berlin dem Stand der übrigen Gesetze anzupassen. Es ist hier - ich bitte Sie, § 55 danebenzulegen - infolgedessen in Abs. 1 gesagt:
Für einen Betrieb, Betriebsteil oder ein Grundstück in Berlin ({0}) treten in § 50 Abs. 2
an die Stelle von 0,55 vom Hundert als Einheitswert oder Einheitswertanteil 0,5 vom Hundert
- das ist im Lastenausgleich die Differenz zwischen Berlin und uns und an die Stelle von 0,85 vom Hundert des Einheitswerts oder Einheitswertanteils 0,75 vom Hundert dieser Werte,
- auch wieder die Berliner Zahlen jedoch für die Zeit bis zum 31. März 1957 nur ein Drittel dieser Vom-Hundertsätze.
- Auch Berliner Bestimmung. An die Stelle des 21. Juni 1948 tritt jeweils der 1. April 1949, soweit es sich um Wirtschaftsgüter eines gewerblichen Betriebes handelt, dessen DM-Eröffnungsbilanz auf den 21. Juni 1948 erstellt ist.
Das trifft mit der Währungsgesetzgebung Berlins zusammen und ist nötig, damit das mit Berlin abgestimmt ist.
Und der zweite Absatz:
In §§ 54 und 55 Abs. 2 treten bei Betrieben, Betriebsteilen oder Grundstücken in Berlin ({1}) an die Stelle von 2,2 vom Hundert der Abgabeschuld 2 vom Hundert und an die Stelle von 3,4 vom Hundert 3 vom Hundert der Abgabeschuld. In diesen Fällen ist der Stand der Abgabeschuld vom 25. Juni 1948 maßgebend.
Es ist also nichts weiter als die Ausfüllung einer Gesetzeslücke, um die Berliner auch hier wie im Lastenausgleich gleich zu behandeln, damit keine Differenzen entstehen. Die Sache ist mit der Berliner Vertretung und auch in den zuständigen Ressorts eingehend geprüft worden.
Ich bitte das Hohe Haus, diesem Ergänzungsantrag betreffend Einfügung eines § 55 a in den Gesetzentwurf zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Antrag des Herrn Abgeordneten Kunze gehört. Sie haben den Hintergrund und den Inhalt völlig verstanden. Sie stimmen im übrigen zu. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag auf Einfügung des § 55 a zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Das ist die Mehrheit; angenommen.
Zu § 57 liegt ein Antrag der Abgeordneten Dr. Müller und Genossen unter Ziffer 2 des Umdrucks Nr. 805 vor. Zur Begründung Herr Abgeordneter Müller.
Meine Damen und Herren! Nach der Fassung des § 57, wie er in der zweiten Lesung angenommen worden ist, hat die Siedlungsbehörde das Recht, den Pachtvertrag aufzuheben, sobald ein Flüchtling als neuer Pächter zur Verfügung steht. Wir haben gerade im vergangenen Jahr das Pachtrecht neu geordnet und haben in dem neuen Pachtrecht Klarheit und Sicherheit für die Vertragschließenden geschaffen: langfristige Verträge von 18 Jahren bei geschlossenen Betrieben, von 9 Jahren bei Pachtland. Einzelne Länder haben diese Frist auf 12 und 6 Jahre heruntergesetzt, so daß wieder Pachtungen an den Markt kommen und die Sicherheit der Pachtung gewährleistet ist. Wenn es in dem Paragraphen heißt, daß in dem Fall, in dem ein Betrieb unwirtschaftlich werden kann, nicht eingegriffen werden soll, so ist dazu zu sagen, daß uns das keine Gewähr zu sein scheint, sondern wir sind der Auffassung, daß durch die allgemeine Fassung des Paragraphen eine Unsicherheit in das Pachtrecht hineingetragen wird, die für die Dauer untragbar wird.
Auf der anderen Seite haben wir uns der Notwendigkeit nicht verschlossen, Möglichkeiten zu schaffen - soweit es eben notwendig ist -, Pachtverträge zur Auflösung zu bringen, um Flüchtlingen zu helfen. Wir haben uns nach langer Überlegung entschlossen, Ihnen den neuen § 57 vorzulegen des Inhalts, daß ein Pacht- oder sonstiges Nutzungsverhältnis aufgehoben werden kann, wenn der Verpächter einem Vertriebenen oder Sowjetzonenflüchtling das Land als Eigentum gibt oder zur Ausstattung eines wüsten Hofes pachtweise zur Verfügung stellt. In diesen Fällen kann unter Einhaltung einer angemessenen Frist aufgehoben werden.
({0})
Die Aufhebung ist nur dann zulässig, wenn die Wirtschaftlichkeit des Betriebes, dem die Grundstücke bisher dienten, nicht nachhaltig beeinträchtigt wird oder wenn sich die Aufhebung aus einem andern Grund als unbillige Härte erweist.
In Deutschland arbeiten über 50 % der Betriebe mit Pachtland. Das liegt eben daran, daß wir ein Bauernland mit Bauernfamilienbetrieben sind, die je nach der Zahl der Kinder immer wieder versuchen - um die Arbeitskraft auszunützen -, den Betrieb durch Zupachtung zu vergrößern; eine an und für sich gesunde Entwicklung, weil dadurch mit wenig Kapital die Möglichkeit gegeben ist, vor allem für die Kinder, einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Hier möchten wir nur so wenig Störung hineinbringen, wie gerade notwendig ist, und deshalb unser Vorschlag. Wir bitten Sie, ihm zuzustimmen.
Zur Begründung des Antrags der FU auf Streichung des § 57 - Umdruck Nr. 809 Ziffer 4 - Herr Abgeordneter Lampl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben vorhin gern gehört, daß man Zwangsmaßnahmen abhold sei. Nun bedeutet dieser § 57 aber außerdem einen schweren Eingriff in bestehende Rechtsverhältnisse. Wenn er Gesetz wird, dann kann praktisch jedes bestehende Pachtverhältnis zugunsten eines Vertriebenen aufgelöst werden. Das geht in einem Rechtsstaat doch nicht, das ist doch unmöglich, nicht nur weil die Pächter einen Kreis von besonders qualifizierten Landwirten darstellen, sondern weil eine allgemeine Rechtsunsicherheit die Folge sein muß. Wir beantragen daher die Streichung des § 57 und beantragen weiterhin namentliche Abstimmung.
({0})
Darf ich fragen, wer den Antrag auf namentliche Abstimmung unterstützt. - Das ist nicht die hinreichende Zahl von Abgeordneten; der Antrag auf namentliche Abstimmung ist abgelehnt.
Das Wort hat der Abgeordnete Kriedemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe schon in der zweiten Lesung Gelegenheit gehabt, von diesem Platze aus zu sagen, daß ich große Bedenken gegen die Ausschußfassung gehabt habe, und zwar aus der Erinnerung daran, wie hart in diesem Hause der Rest an Pachtschutz erkämpft worden ist, auf den wir heute noch verweisen können. Ich bin sehr froh, daß inzwischen eine neue Formulierung gefunden worden ist, der wir zustimmen können. Bitte, erinnern Sie sich daran: in der zweiten Lesung war beantragt worden, den ganzen § 57 zu streichen. Das hätte eine außerordentlich weitgehende Beschneidung der Eingliederungsmöglichkeiten bedeutet. Deshalb haben meine Freunde und ich zusammen mit einigen Damen und Herren aus den anderen Fraktionen diesem Streichungsantrag widersprochen. Es ist erfreulicherweise dann auch nicht zur Streichung gekommen. Wir haben jetzt hier eine neue Fassung, der meine Fraktion zustimmen wird.
Der Herr Abgeordnete Kather noch!
({0})
- Das fördert die Abwicklung, Herr Kollege.
Wir stimmen zunächst ab über den Streichungsantrag der Fraktion der Föderalistischen Union Umdruck Nr. 809 Ziffer 4. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Dieser Antrag ist abgelehnt.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag Umdruck Nr. 805 Ziffer 2, den Herr Dr. Müller begründet hat. Ich bitte die Damen und Herren, die zuzustimmen wünschen, um ein Handzeichen. - Das ist die ganz überwiegende Mehrheit; dieser Antrag ist angenommen.
Ich rufe auf § 61, Umdruck Nr. 805 Ziffer 3. Bitte, Herr Abgeordneter Müller, wollen Sie begründen oder nicht?
Herr Abgeordneter Struve bitte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu § 61 hatten wir auch in der zweiten Lesung eine längere Diskussion, und zwar handelte es sich um die Inanspruchnahme von Gebäuden, die im ersten Absatz behandelt wird. Wie ich schon einleitend bei der allgemeinen Aussprache ausgeführt habe, kann man nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß durch ein zwangsweises Inanspruchnehmen von landwirtschaftlichen Gebäuden ein weitgehender Einbruch in irgendeine Nutzung, der nun mal jedes Gebäude unterworfen ist, eintritt. Wir haben aber festgestellt, daß auf dem Lande in manchen Fällen doch neben der Wohnung Stallgebäude da sind, die nicht genutzt werden. Deshalb sind wir der Auffassung, daß man solche Baulichkeiten heute in Anspruch nehmen kann. Wir haben deshalb keine Bedenken, dieser vorgeschlagenen Formulierung zuzustimmen.
Während der zweiten Lesung sind wir allerdings bei der Inanspruchnahme von Land zu sehr gegensätzlichen Auffassungen gekommen. Wir halten auch unsere Bedenken aufrecht, sofern man ganz allgemein von Land spricht. Deshalb schlagen wir dem Hohen Hause vor, sich jetzt unserem Antrag anzuschließen, bei dem wir von Land ausgehen, das sich im Eigentum des Bundes oder eines der Länder befindet. Zum anderen haben wir, wie Sie aus der Schlußformulierung des Abs. 2 ersehen, auch keine Bedenken, Land für Vertriebene in Anspruch zu nehmen, sofern dieses Land so schlecht bewirtschaftet wird, daß die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zur Sicherung der Landbewirtschaftung angeordnet werden können.
Ich darf das Hohe Haus bitten, unserem Vorschlag zuzustimmen. Wir glauben, daß damit vor allen Dingen dort, wo geeignete Gebäude vorhanden sind, diese dem Kreis der betroffenen Personen zusätzlich bis zu einer Nutzungsdauer von 18 Jahren zugewiesen werden können.
Wird das Wort gewünscht? - Herr Abgeordneter Dr. Müller!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nur eine kleine redaktionelle Änderung vorzuschlagen. In Abs. 3 heißt es im letzten Satz: ;,eine unbillige Härte bedeuten würde". Ich schlage dafür vor: „eine unbillige Härte bedeutet". Ich bitte das Haus, gleichzeitig zuzustimmen, daß in § 57 Abs. 2 dieselbe Änderung vorgenommen wird, damit ein besseres Deutsch entsteht.
Darf ich unterstellen, daß zunächst in § 57, der vorhin in der neuen Fassung gebilligt worden ist, die Worte „bedeuten würde" in „bedeutet" geändert werden? - Dagegen bestehen wohl keine Bedenken. Das Haus ist damit einverstanden.
Herr Abgeordneter Dr. Kather!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der § 61 ist eine der wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes. Er ist jetzt noch dadurch wichtiger geworden, daß die Möglichkeiten des § 57 eine wesentliche Einengung erfahren haben, und vor allem dadurch, daß die Vergünstigungen bei der Eheschließung in Fortfall gekommen sind. Wenn nun noch dieser Antrag angenommen würde, würden die dann verbliebenen Bestimmungen ganz sicher nicht mehr ausreichen, das notwendige Land für die Siedlung zur Verfügung zu stellen. Der entscheidende Unterschied zwischen der Ausschußfassung und dem, was hier vorgeschlagen ist, liegt darin, daß nach der Ausschußfassung grundsätzlich Land, das in geeigneter Lage ist und zur Ausstattung eines wüsten Hofes, einer sonstigen Hofstelle oder eines landwirtschaftlichen Kleinbetriebs dienen kann, in Anspruch genommen werden kann. Diese grundsätzliche Möglichkeit fiele dann weg. Man hat aus dem Katalog, der in der Ausschußfassung nur die Bedeutung einer Anweisung für die Reihenfolge, mit der man das Land in Anspruch nehmen sollte, hatte, zwingende Vorschriften gemacht und noch eine ganz wesentliche Einengung vorgenommen. Das Land der Gemeinden und der Kirchengemeinden hat man herausgenommen, obwohl sich gerade die Kirchen in der Beratung des Unterausschusses Landwirtschaft mit dieser Bestimmung einverstanden erklärt haben.
Ich sehe hier auch wesentliche Schwierigkeiten für den Bundesrat. Die Länder werden nicht damit einverstanden sein, daß sie praktisch beinahe als einzige herangezogen werden. Man hat nicht einmal Fälle dringelassen, bei denen mehrere Höfe in einer Hand sind. Die Vertriebenen haben seit langem und mit Recht gefordert, daß in solchen Fällen die Möglichkeit eines Zugriffes eröffnet wird. Jetzt wird das alles herausgenommen. So wie die Bestimmung dann ist, genügt sie nicht im entferntesten den Anforderungen, die wir stellen müssen. Wenn sie angenommen wird, wird der ganze Zweck dieses Gesetzes nicht erreicht.
Im Hinblick auf die große Bedeutung dieser Sache beantrage ich namentliche Abstimmung.
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Jetzt wollen wir zunächst einmal klären, wer den Antrag auf namentliche Abstimmung unterstützt. - Das sind keine 50 Abgeordnete. Es findet keine namentliche Abstimmung statt.
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- Von Gebäuden und Land. ({1})
- In § 61 Überschrift: „. . . und Land".
Weitere Wortmeldungen? - Herr Abgeordneter Kriedemann!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem hier so von allen Seiten wiederholt darauf hingewiesen ist, daß den vertriebenen Landwirten geholfen werden muß, und ebenfalls immer wieder betont wurde, daß die Möglichkeiten dazu aus der Art der Sache - Boden ist nicht vermehrbar - leider sehr begrenzt sind, folgt doch für den, der seine Versprechen wahrmachen will, daß man nun mit allem Ernst die Möglichkeiten ausschöpfen muß, die tatsächlich gegeben sind. Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen den §§ 57 und 61. In § 57 wäre wirklich Handhabe dafür geboten gewesen, daß in ein Pachtverhältnis eingegriffen wird, nur weil der Verpächter hofft, auf diese Weise eine höhere Einnahme oder einen anderen Vermögensvorteil zu haben, ohne daß man etwa dem Pächter hätte vorwerfen können, daß er das von ihm bewirtschaftete Land schlecht bewirtschaftet. In § 61 ist nur noch von solchem Land die Rede, das schlecht bewirtschaftet wird, abgesehen von den Fällen, in denen es sich ganz offensichtlich nicht um einen Landwirt handelt, der hier in Frage kommen könnte. Wir sollten uns doch nicht dem Vorwurf aussetzen, daß wir selbst schlecht bewirtschaftetes Land in der Hand desjenigen belassen, der es schlecht bewirtschaftet, während Zehn- und Hunderttausende tüchtiger Landwirte draußenstehen. Nachdem außerdem dafür gesorgt ist, daß hier nicht etwa das Ermessen irgendeines Beamten darüber entscheidet, ob Land schlecht bewirtschaftet wird oder nicht, und auch die Landwirtschaftsgerichte hier einzuschalten sind, habe ich überhaupt keine Bedenken, diesem § 61 so zuzustimmen, wie er in der Ausschußfassung, d. h. in der Fassung der zweiten Lesung vor uns liegt. Ich muß auch darauf hinweisen, daß in Abs. 2 des Antrags der Kollegen Dr. Müller und Genossen eine Einschränkung zum Nachteil des Bundes und der Länder und zum Vorteil anderer, in der Vorlage des Ausschusses noch angesprochener Landeigentümer enthalten ist, die ebenfalls nicht akzeptiert werden kann, wenn man tatsächlich in allem Ernst die ohnehin schon sehr begrenzten Möglichkeiten ausschöpfen will, die sich für die Eingliederung von Flüchtlingen bieten. Und da von allen Seiten immer wieder gesagt wurde, daß man das will, nehme ich an, daß wir hier mit einer großen Mehrheit das Ergebnis der zweiten Lesung bestätigen, ohne daß darüber namentlich abgestimmt werden muß.
Herr Abgeordneter Kunze!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gestern abend die Frage, warum man nur das Land von Bund und Ländern hier anspricht, noch einmal reiflich geprüft und durchdacht und komme dazu, vorzuschlagen, daß wir hier sagen:
... das Land von Bund, Ländern und Gemeinden, sowie den öffentlich-rechtlichen Körperschaften, soweit sie dieses Land nicht für die Durchführung ihrer Zwecke gebrauchen.
Dann haben wir das Kirchenland dort mit drin, wo es hereinkommen kann, und wir haben es dort vor einer Wegnahme abgesichert, wo die Kirchen oder die freie Wohlfahrtspflege dieses Land für die Durchführung ihrer Zwecke brauchen.
Darf ich es Ihnen an einem einzigen Beispiel erläutern! Wenn ich meinetwegen eine große Arbeiterkolonie im Hochmoor habe und fange an zu kultivieren, dann muß ich das kultivierte Land
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solange halten können, um die Ernährungsbasis für meine Fürsorgezöglinge zu halten, bis das Land kultiviert ist und ich meinen Stab auf neues Kultivierungsland setzen kann, während ich das Land, dessen Kultivierung abgeschlossen ist, im Sinne der Verwendung für Heimatvertriebene und sonstige Anspruchsberechtigte bereitstelle. Daher scheint mir dieser Weg richtig zu sein.
Ich fasse meinen Antrag noch einmal zusammen:
... das Land von Bund, Ländern, Gemeinden und der Körperschaften des öffentlichen Rechts, soweit sie dieses Land nicht für die Durchführung ihrer Aufgaben benötigen.
Wir müssen auch daran denken, daß wir die Bestimmung nicht so absolut fassen können; denn wir haben auch Land, das als Saatgut oder Mustergut benutzt wird und als solches gesichert werden muß. Wir sollten daher die Einzelheiten einer Rechtsverordnung überlassen. Ich würde vorschlagen, daß Sie diesem Antrag im Grundsatz zustimmen und dem Herrn Präsidenten die Vollmacht geben, die endgültige Fassung vorzunehmen,
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weil es sich ja nur noch um die redaktionelle Formulierung handelt.
Also Herr Abgeordneter Kunze, ich habe doch Bedenken, daß Sie derartig weitgehende Vollmachten, diesem Antrag die endgültige redaktionelle Fassung zu geben, dem Präsidenten übertragen wollen. Ich darf Sie bitten, den Antrag in der in der Geschäftsordnung vorgesehenen Form mit 15 Unterschriften einzureichen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Vertriebene.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde Sie dringend bitten, den § 61 in seiner Ausschußfassung zu belassen. Die §§ 57 und 61 sind eigentlich das Essentielle der landwirtschaftlichen Bestimmungen dieses Gesetzes. § 57 ist nun erledigt; darüber brauchen wir nicht zu reden. Der Stein des Anstoßes war ja der Zwang, die Grundsatzfrage des Zwangs. Der § 61 geht davon aus, daß man der Wirtschaft entfremdete landwirtschaftliche Gebäude für die Eingliederung haben muß; und wenn man sie zweckmäßig haben will, dann müssen sie natürlich auch das nötige Land bekommen. Wenn im Laufe der Verhandlungen gesagt worden ist: Dieses notwendige Land müßt ihr euch freiwillig beschaffen!, so heißt das: Ihr bekommt die Gebäude auch nicht! Denn von dieser Bedingung war es abhängig gemacht.
Nun bitte ich Sie um das eine: Bei aller grundsätzlichen Anerkennung - ich bin auch gar kein Freund des Zwanges - müssen wir doch auch die schweren Bedingungen, unter denen das nur geschehen kann, in Betracht ziehen; es kann nur geschehen, wenn die wirtschaftliche Existenz dessen, der das Land abgeben soll, nicht angegriffen wird und wenn auch keine Härte vorliegt. Meine Damen und Herren, ich versichere Sie: Wer die Praxis der Gerichte, der Verwaltungsgerichte, hier sogar der Bauerngerichte, kennt, weiß, daß von hundert Streitfällen nicht drei zugunsten des Vertriebenen ausgehen werden. Es ist also de facto gar kein Risiko, was die Bauern hier eingehen. Und man soll sich bei aller Anerkennung des Unschönen bei jedem Zwang auch nicht allzu sehr fürchten. Herr Dr. Kather hat vorhin schon gesagt, daß auch der Zwang sehr häufig in Gesetzen bestimmt ist. Das gilt bei der Landwirtschaft erst recht. Denken Sie an die ganzen Fragen der Separation, also der Umlegung, an all die Fragen, die bei Landbeschaffung noch Anwendung finden können.
({0})
- Sie kommen mit der Freiwilligkeit ja nicht weiter.
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- Ich glaube nicht, weil sie nicht weiterkommen. Ich habe Separationen erlebt, mit all der Aufstandsbewegung bei den Bauern, die sich daraus ergibt.
Ich würde Sie bitten, hier von Ihren meinetwegen sonst verständlichen grundsätzlichen Bedenken Abstand zu nehmen, weil wir sonst nicht an die verlassenen Höfe herankommen. In den Ausschußberatungen ist immer wieder das Dorf mit den sechs entfremdeten Höfen erwähnt worden, die irgendeinem Apotheker, Bankier oder sonst wem gehören.
({2})
- Ich will den Namen des Dorfes nicht nennen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Struve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hört sich sehr vernünftig an, wenn der Herr Minister sagt, er sei auch nicht für Zwang. Im Nachsatz und beim Nachlesen stellt man aber fest, daß man nach dieser Fassung praktisch bis zu einer Zeit von 18 Jahren jedem das Land zwangsweise wegnehmen kann. Es steht darin „möglichst", Herr Dr. Kather; aber dieses „möglichst" - daß das Land möglichst von der öffentlichen Hand genommen werden soll, möglichst von einem, der mehrere Betriebe hat, möglichst von dem, der mehreres hat - wird Sie nie davon entlasten, daß Sie hier zwangsweise in das bäuerliche Eigentum eingreifen können.
Und nun, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen zu diesem Problem ganz offen die Meinung sagen, die wir westdeutschen Bauern vertreten. Wir stehen uneingeschränkt auf dem Boden des Privateigentums.
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Wir Bauern sind bereit, 20 000- und 40 000-DMKredite in Konkurrenz zu setzen auch zu nachgeborenen Söhnen, die heute keine tausend Mark haben; aber in dieser Frage, ob man darüber hinaus uns zwangsweise Land wegnehmen soll, gibt es für uns keinen Kompromiß, und ich darf das Hohe Haus hier in dieser Frage bitten, den Eigentumsbegriff in Westdeutschland nicht anzutasten.
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Es fängt bei den Bauern an, es hört aber nicht bei den Bauern auf.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kather.
Dr. Kather ({0}); Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Struve steht ganz und gar auf dem Boden des Privateigentums - aber nur des eigenen, Herr Struve! Das muß ich Ihnen sagen.
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- Bitte, die Häuser können Sie haben, wenn Sie
Lust daran haben; ich habe kein Vergnügen daran.
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Außerdem geht es nicht darum. Ich habe mich nicht gemeldet zu dem, was ich zu tun habe. Wir wollen doch von dem sprechen, um das es hier geht. Herr Struve, es gibt kein Privateigentum, das überhaupt anerkennungswürdig ist, wenn es nicht sozial gebunden und verpflichtet ist.
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- Das müssen Sie ausgerechnet unseren vertriebenen Bauern sagen, daß es eine Negation des Begriffs Privateigentum ist, wenn wir in bescheidenen Grenzen einmal nach Möglichkeiten suchen, auch denen wieder ein Stückchen Land zu geben! In Wirklichkeit verneinen Sie das Privateigentum, Herr Struve! Das sage i c h Ihnen.
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Wenn Sie wirklich auf dem Boden des Privateigentums stünden, dann würden Sie sagen: Ich teile im Rahmen des Möglichen mit denen, die alles verloren haben. Das wäre etwas!
Nur eins zum § 61. Sie stehen prinzipiell auf dem Boden: kein Zwang. Aber, Herr Struve, den Anreiz, den Hauptanreiz haben Sie uns auch genommen. Nun bin ich wirklich neugierig, wie wir in Zukunft weiterkommen sollen. Das, womit wir ein Drittel der Höfe bekommen haben, ist aus dem Gesetz heraus. Den Zwang lehnen Sie ab. Wir stehen also vor einer Verschlechterung der Situation. Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir drauf und dran sind, diesem Gesetz eine Fassung zu geben, die es den Vertriebenenabgeordneten wahrscheinlich unmöglich machen wird, ihm zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dannemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat ist der § 61 wohl mit der am heißesten umstrittene Paragraph des ganzen Gesetzes. Zu keinem Paragraphen sind schon im Ausschuß so große Meinungsverschiedenheiten aufgetreten, wie es bei diesem Paragraphen der Fall gewesen ist. Ich möchte aber auch betonen, daß bei keiner anderen Bestimmung die Möglichkeiten für Zwangseingriffe so auf der Hand liegen wie hier.
Meine Damen und Herren! Man könnte sich durchaus darüber unterhalten, daß in all den Fällen, in denen man mit Freiwilligkeit nicht zum Zuge kommt, hier und da ein gelinder Druck ausgeübt werden müßte. Wir wehren uns aber dagegen, daß man diesen Druck in dem ganzen Gesetz nur einseitig auf die landwirtschaftliche Sparte ausübt. Wir haben nämlich auch eine ganze Reihe von handwerklichen Betrieben, von Betrieben industrieller Art; auch da kann der Unternehmer durchaus von einem Betrieb leben. Kein Mensch im ganzen Hause denkt aber daran, dort zuzugreifen oder irgend etwas abzuspalten; nur in der Landwirtschaft wollen wir ein anderes Recht ausüben. In der Beziehung teile ich absolut die Auffassung des Herrn Kollegen Struve und möchte mich in keiner Weise den Ausführungen von Herrn Dr. Kather anschließen. Wenn Herr Kather glaubt, Herrn Struve hier in Mißkredit bringen zu müssen, indem er dessen Äußerungen als egoistisch hinstellt, dann bedaure ich das außerordentlich. Ich bin der Meinung, nach dem Grundsatz des gleichen Rechts können wir die Ausschußfassung auf keinen Fall annehmen; wenn wir schon weitergehen, dann höchstens als Kompromiß den Vorschlag, den Herr Dr. Müller eingebracht hat. Ich persönlich muß sagen, daß dieser Vorschlag nach meinem Rechtsempfinden zu weit geht. Um des Friedens willen bin ich aber bereit, den Weg mitzugehen.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Merten.
Meine Damen und Herren! Wenn man die Debatte hört, könnte man meinen, daß in absehbarer Zeit allen einheimischen Bauern sämtliches Land weggenommen und anderen Eigentümern gegeben werde. Wenn man sich aber das Gesetz einmal genau ansieht, wird man feststellen, daß nicht einem einzigen Bauern auch nur ein einziger Quadratzentimeter Land weggenommen werden soll, sondern daß das Land nach wie vor sein Eigentum bleibt, daß er Pacht dafür bekommt und daß es nur in ganz bestimmten, sehr seltenen Fällen in Anspruch genommen werden kann, um einem Vertriebenen eine selbständige Ackernahrung zu geben. Von Enteignung ist in diesem Paragraphen überhaupt nicht die Rede, es handelt sich vielmehr lediglich um eine Verpachtung.
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Wir wären sehr glücklich, wenn wir diesen Paragraphen gar nicht brauchten: wenn nämlich die Heimatvertriebenen inzwischen auf freiwilliger Basis eingegliedert worden wären. Aber leider ist das nicht der Fall. Warum ist das nicht der Fall? Weil es hier und da an der notwendigen Solidarität der Bauernschaft mit ihren vertriebenen Berufskollegen gefehlt hat.
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Weil es an dieser Solidarität gefehlt hat, haben Sie auch eine ganze Menge Änderungsanträge gestellt, die alle unter dem Oberbegriff „Verschlechterung des Flüchtlingssiedlungsgesetzes" und „Verschlechterung der Ausschußvorlage" - immer gegen die Vertriebenen gerichtet - zusammengefaßt werden können.
Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Verhandlungen in der zweiten Lesung war sehr sauer, und zwar deswegen, weil man den Eindruck haben konnte, daß das im Grunde doch gute Verhältnis zwischen den Vertriebenen und den Einheimischen und das harmonische Zusammenleben beider durch die Reden, die hier gehalten worden sind, entscheidend gestört worden ist. Nun will ich Ihnen
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aber sagen, daß diese Reden nicht im Interesse einer Gruppe gehalten worden sind und daß das, was hier gefordert worden ist, auch nicht für die Interessen einer Gruppe gefordert worden ist. Um was es hier geht, ist das Interesse des Gemeinwohls. Gerade ich als Einheimischer habe mich oft geschämt, hier hören zu müssen, daß aus den Vertriebenen Einheimische gemacht würden und daß aus den Einheimischen Vertriebene gemacht werden sollten. Hier ist gesagt worden, daß die Nichteingliederung eben eine bittere Wahrheit sei, mit der man sich abfinden müsse; natürlich nur die Vertriebenen, denn die anderen trifft es ja gar nicht. Hier ist gesagt worden, den Einheimischen sei jede Siedlungsmöglichkeit genommen; eine glatte Unwahrheit! Hier ist gesagt worden, durch dieses Gesetz werde neues Unrecht geschaffen; dabei ist es nichts anderes als der schwache Versuch, ein geschehenes und ein bestehendes Unrecht nur halbwegs wieder in Ordnung zu bringen. Hier ist klipp und klar erklärt worden, die Siedlungsbehörden bestünden zum größten Teil aus Vertriebenen; eine glatte Unwahrheit. Es ist nicht wahr, daß es so ist. Alle diese Dinge mußten hier im einzelnen mühsam widerlegt werden, obwohl man längst geglaubt hatte und glauben mußte, daß diese Dinge nun doch im großen und ganzen bereinigt worden seien.
Sie haben sich nun plötzlich zum Schutzpatron für die Gruppen der Einheimischen aufgeworfen, die Ihres Schutzes viel eher bei anderer Gelegenheit bedurft hätten. Denken Sie an die heimatvertriebenen Landarbeiter in Niedersachsen! Der Anteil der heimatvertriebenen Landarbeiter an den Arbeitslosen ist mit 50 % doppelt so hoch, wie er eigentlich sein dürfte. Diese Menschen sind außerdem weit unter Tarif bezahlt.
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- Das werde ich Ihnen gleich beweisen. Die Gewerkschaft, der sie angehören, hat in den Jahren 1950 und 1951 2 Millionen DM herausgeholt, die widerrechtlich vom Lohn zurückbehalten worden waren. Sie hat im Jahre 1950 durch Prozesse vor Arbeitsgerichten 382 000 DM, im Jahre 1951 312 000 DM herausgeholt. Sie hat durch außergerichtliche oder gerichtliche Vergleiche 1950 653 000 DM und 1951 635 000 DM hereinholen müssen. Von Prozessen, die geführt wurden, wurden 3558 gewonnen, und an Vergleichen wurden 9062 geschlossen. Diese Zahlen sind kein Zeichen dafür, daß das Verhältnis zu den Heimatvertriebenen, sofern sie Landarbeiter sind, besonders herzlich und besonders gut wäre, sondern diese Zahlen sind mir ein Beweis dafür, daß diese Menschen, auch im Stande des Landarbeiters, um ihr Recht doch ganz bitter und sehr energisch kämpfen müssen, um zu dem Ziel zu kommen, das nun einmal erreicht werden soll.
Der Herr Vizepräsident fr, Schäfer hat, wenn die Zeitungsberichte darüber zutreffen, vor kurzem auf einer Versammlung gesagt, es gehe darum, eine Verwurzelung der Entwurzelten durchzuführen. Da hat er hundertprozentig meinen Beifall. Aber das, was heute wieder geschehen ist - wir hätten uns auch gegenseitig die Protokolle der zweiten Lesung vorlesen können; das wäre auf dasselbe herausgekommen -, hat mit der Förderung der Verwurzelung nicht mehr allzuviel zu tun.
Es sind außergewöhnliche Zustände, die wir in Ordnung bringen müssen. Das kann man nicht einfach so wie im normalen Leben oder, wie Herr Kollege Struve sagte, durch ein paar Mahnungen und durch ein paar Aufrufe an die Standesorganisationen in Ordnung bringen. Das hat bis heute zu nichts geführt. Wenn Sie, Herr Struve, vorhin von denen gesprochen haben, die eingegliedert worden sind, dann haben Sie vergessen, dazu zu sagen, daß gerade in Schleswig-Holstein und gerade in Niedersachsen in weitaus mehr als der Hälfte aller Eingliederungsfälle in Nebenerwerbsstellen unter zwei Hektar eingegliedert worden ist.
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Das ist nicht gerade die Form, die wir uns bei der Eingliederung der heimatvertriebenen Landwirte wünschen. In keinem Land der Bundesrepublik, mit Ausnahme der Stadtstaaten, ist der prozentuale Anteil der Nebenerwerbsstellen so hoch wie gerade in Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Ich muß in diesem Zusammenhang - im Gegensatz zu sonst - einmal Bayern lobend erwähnen und ich muß Hessen lobend erwähnen, wo diese Dinge wesentlich anders aussehen. Alle diese Zustände haben sich durch die gesetzlichen Maßnahmen der Vergangenheit nicht bereinigen lassen. Sie dürfen aber nicht so bleiben, wie sie sind. Deswegen wird in diesem Gesetz der Versuch gemacht, in ganz wenigen Ausnahmefällen eine Möglichkeit zu geben, dem Vertriebenen, wenn der andere mit bösem Willen ihm nicht helfen will, von Staats wegen zu helfen, weil das im Staatsinteresse und im Volksinteresse liegt.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch noch einmal an die immer wiederholten eindringlichen Entschließungen kirchlicher Instanzen der beiden Konfessionen erinnern, die sich besonders heftig um die Eingliederung der Vertriebenen in die Landwirtschaft bemüht haben und die auch beide bereit sind, durch die Zurverfügungstellung von Land auf diesem Wege das ihre zu tun. Die Kirchen kommen zu diesen Appellen aus der klaren Erkenntnis, daß das Wort des Galaterbriefes: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!" jeden einzelnen Christen zu einer Haltung verpflichtet und aufruft, die an und für sich selbstverständlich sein sollte; aber weil diese Haltung eben nicht so selbstverständlich war, muß die Frage endlich einmal durch ein umfassendes Gesetz geregelt werden.
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Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich verstehe ich den Herrn Kollegen Merten nicht ganz. Entweder handelt es sich um ganz seltene, ganz eingeschränkte Ausnahmen - dann können die Tatbestände, die der Herr Kollege Merten aufgezeigt hat, mit dieser Bestimmung auch nicht grundlegend geregelt werden. Oder es handelt sich eben nicht um eine Ausnahmebestimmung, sondern um eine Möglichkeit zu sehr scharfen Eingriffen. Dann aber, glaube ich, verlassen wir die Grundlage unseres Rechtssystems und die Grundlage unserer sozialen Auffassung.
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Ich halte die Verschärfung der Gegensätze - ich spreche hier bewußt auch als Vertriebener - für überaus schlecht.
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Ich bin der Auffassung, daß das große Problem, das der Herr Kollege Merten absolut zutreffend gekennzeichnet hat, nicht dadurch gelöst werden kann, daß durch eine Gesetzesbestimmung etwa vorhandene Gegensätze künstlich zu ihrer vollen Schärfe gebracht werden. Damit wird der gute Wille zur Zusammenarbeit, der bei jeder gesetzlichen Maßnahme notwendig ist, zerstört. Insbesondere wird der Einfluß, der durch die landwirtschaftlichen Organisationen ausgeübt werden kann, ausgeschaltet. Es wird dann sehr schwer sein, in Konfliktsfällen noch einen erzieherischen Einfluß auszuüben. Ich möchte als Vertriebener sagen, wenn man dieses große Werk der Eingliederung beginnt und beginnen muß, darf man nicht die Grundlagen verlassen, die uns drüben in unserer Heimat zerstört worden sind.
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Herr Abgeordneter Tobaben!
Ich stelle den Antrag, daß über den Antrag Dr. Müller und Genossen zu § 61 dieses Gesetzes namentlich abgestimmt wird.
Dieser Antrag ist bereits einmal gestellt worden und hat nicht die hinreichende Unterstützung gefunden.
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- Ich komme sofort darauf zurück, Herr Abgeordneter Tobaben.
Das Wort hat der Abgeordnete Trischler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder müssen wir auf das tiefste bedauern. daß die Debatte diesen Lauf genommen hat. Jetzt ist es sicher - die letzte Entscheidung ist in diesen Paragraphen bereits gefallen -, es ist sicher, daß sehr viel Porzellan zerschlagen wurde. Die Konsequenzen werden ja eintreten. Ich spreche mich gegen den Änderungsantrag aus. Ich will mich aber mit ihm etwas befassen und bitten, für den Fall, daß er angenommen werden sollte, doch etwas zu bedenken. Wenn ich die beiden Formulierungen des Änderungsantrags Dr. Müller und Genossen zur zweiten Lesung und zur dritten Lesung vergleiche, so fällt mir auf, daß jetzt bei der dritten Lesung in Abs. 1 die Worte „bis zur Höhe einer Ackernahrung" hineingekommen sind. Die Worte „bis zur Höhe einer Ackernahrung" waren in dem Text des Antrages zu der zweiten Lesung nicht enthalten. Nun ist es fraglich, wie man das auslegen soll. Wenn man das so liest, kann man leicht den Eindruck haben, daß der Hof nur in Anspruch genommen werden kann, wenn bis zur vollen Ackernahrung auch Land zur Verfügung gestellt werden kann. Ich glaube nicht, daß das gewollt ist.
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Oder wenn es vielleicht gewollt ist, ist es um so schlimmer; dann kann man es auch gleich ganz streichen. Es ist tatsächlich fraglich, ob man gleich auf einen Anhieb, wenn man einen solchen Hof übernimmt, die volle Ackernahrung zusammen bekommt oder nicht. Das ist sicherlich in den meisten Fällen sehr schwierig. Warum wollen wir nicht Zeit lassen, daß es im Laufe von ein oder zwei Jahren wirklich zu einer Ackernahrung wird? Ich glaube also, daß die allgemeinere Fassung der zweiten Lesung die bessere ist. Ich würde die Antragsteller bitten, daß sie von sich aus diese Worte streichen. Wenn ich die notwendige Unterstützung erhalte, möchte ich selber den Antrag stellen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf folgendes Problem eingehen. Man wirft uns Heimatvertriebenen, die im Heimatvertriebenenausschuß dieses Gesetz gemacht haben, vor, wir seien die ganze Zeit stur und hartnäckig gewesen und hätten in keiner Frage nachgegeben. Wollen wir doch der Sache ein bißchen auf den Grund gehen. Wie war es denn? Wir wollten damals im Dezember das Gesetz verabschieden. Wir haben es sehr bedauert. daß der Termin verlegt worden ist. Im Dezember ist beschlossen worden, die Vorlage an eine Reihe von Ausschüssen zurückzuüberweisen. Wir haben uns bei allen anderen Ausschüssen außer dem Ernährungsausschuß für alle entsprechenden anderen Anträge eingesetzt, zumindest in der Form, in der man sich mit dem Ausschuß dann im letzten Moment geeinigt hat. Das war mit dem Ausschuß für , den Lastenausgleich, mit dem Ausschuß für Sozialpolitik, mit dem Rechtsausschuß der Fall usw. Und nun behaupten unsere Bauern, wir wären ihnen in gar keiner Weise entgegengekommen. Bitte, schauen Sie sich einmal die einzelnen Fälle an! Ich will einige praktische Beispiele anführen. Die Einheitswertgrenze war damals auf 80 festgesetzt. Wir sind auf Ihren Wunsch auf 60 heruntergegangen und haben die 80 nur für Ausnahmefälle gelassen. Wir haben bei § 38 - ({1})
- Das, was ich jetzt sage, hängt mit § 61 sehr eng zusammen. Wer entscheidet denn und wie ist das Verfahren bei § 61, wenn Land in Anspruch genommen wird und wenn dann Beschwerde eingelegt wird? Hier sind wir ganz wesentlich entgegengekommen. Bis dahin war im Verfahren das Verwaltungsgericht vorgesehen.
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Die Vertreter der grünen Front haben sich darüber beschwert. Wir haben ihnen recht gegeben und haben zugestimmt, daß die Landwirtschaftssachgerichte die Entscheidung haben sollen. Glauben Sie wirklich nicht, daß Sie zu diesen Landwirtschaftssachgerichten - ich muß wieder auf das Vertrauen kommen - Vertrauen haben können? Sitzen darin Vertriebene oder überwiegend Vertriebene? Sitzen darin nicht Ihre eigenen Männer, die die Aufgabe haben, die deutsche Landwirtschaft zu fördern?
Wir haben auch in Abs. 3 weitgehende Schutzbestimmungen, in welchen Fällen eine Inanspruchnahme ausgeschlossen ist. Wenn sie trotzdem geschieht, kann dieses Gericht angerufen werden. Ich bin der Überzeugung, daß, wie auch der Herr Minister gesagt hat, in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle die Betreffenden recht bekommen werden und nicht die Heimatvertriebenen.
Warum legen wir auf diesen Paragraphen so großen Wert? Ich muß offen sagen: Von uns Vertriebenen kann man ein Verständnis für die weit({3})
gehende Angst vor Eingriffen in Vermögensrechte und ich weiß nicht was alles, nicht verlangen und erwarten. Das ist für uns, man könnte beinahe sagen: fast lächerlich. Wer das alles mitgemacht hat, was diese Bevölkerungsgruppe erlebt hat, und wer sich überlegt, was noch alles kommen kann und was sich jetzt alles in der Ostzone abspielt, der kann diese Auffassungen nicht teilen. Haben wir denn nicht in einer ganzen Reihe anderer Gesetze heute schon Rechtsmöglichkeiten, auf Grund deren Eingriffe vorgenommen werden können? Denken Sie an die ganze Wohnraumbewirtschaftung! Muß sich der Wohnungsinhaber bzw. der Hauseigentümer danach nicht auch gefallen lassen, daß ein gewisser Zwang gegen ihn ausgeübt wird? Er bleibt Eigentümer. Auch hier bleibt er Eigentümer.
Leider habe ich aber das Gefühl, daß es wenig Sinn hat, über diesen Paragraphen noch viel zu sagen. In beiden Debatten ist von beiden Seiten alles gesagt worden. Die Fronten haben sich verhärtet. Ich habe nur den einen Wunsch: möge uns das Schicksal davor bewahren, daß die Fronten sich auch draußen verhärten in einer Form, die uns allen noch sehr unangenehm werden könnte.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Herrn von Merkatz, gerade weil er mehrfach darauf hingewiesen hat, daß er als Vertriebener spricht, ein paar Worte erwidern.
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- Herr Seebohm ist offenbar nicht da.
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- Doch; er ist doch da! - Herr von Merkatz hat gesagt, das Gesetz und insbesondere der § 61 enthalte die Möglichkeiten sehr scharfer Eingriffe. Das ist eben nicht der Fall; insofern ist Herr von Merkatz von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Auch der § 61 schafft keine Enteignungsmöglichkeit. Es heißt auch dort, daß der abgebende Betrieb nicht unwirtschaftlich werden und die Abgabe für den Abgeber keine unbillige Härte bedeuten darf. Es gilt also gerade auch für diese Bestimmung, was ich heute schon einmal sagte: es ist Vorsorge getroffen, daß keine bäuerliche oder landwirtschaftliche Existenz gefährdet oder in ihrem Bestande beeinträchtigt wird.
Wenn man das berücksichtigt, dann wird man Herrn von Merkatz. nicht folgen können, wenn er sagt, wir verletzten die Grundsätze, nach denen wir doch leben wollten, und wir machten praktisch dasselbe, was wir jenseits des Eisernen Vorhangs beobachten könnten. Nein, meine Damen und Herren, das ist etwas ganz anderes. Was wir hier machen, ist etwas, was in jedem Staat gemacht werden muß und ständig gemacht wird, und das ist wirklich angesichts des Problems, das überwältigend ist, so wenig, daß man uns von dieser Seite aus keine Vorwürfe machen sollte.
Ich bin der Meinung, daß wir uns gerade hier an einem Angelpunkt des Gesetzes befinden. Ich habe den dringenden Wunsch: bestätigen Sie die alte Ausschußfassung, denn sonst sehe ich keine Möglichkeit, wie wir mit diesem Gesetz die Siedlung in dem unbedingt erforderlichen Umfang vorantreiben sollen; sonst ist es zu spät. Herr von
Merkatz ist ja auch das Rezept schuldig geblieben, nach welchem wir vorgehen sollten. Er ist vielleicht auch nicht hier gewesen, als ich vorhin darlegte, wie wir mit dem Prinzip der Freiwilligkeit allein eben nicht weitergekommen sind. Wenn wir vor dieser Erkenntnis stehen, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den Weg zu gehen, den wir hier beschritten haben.
Meine Damen und Herren, die Rednerliste ist nunmehr erschöpft.
Wir kommen also zur Abstimmung. Es ist namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag Dr. Müller, Umdruck Nr. 805 Ziffer 3, beantragt. Wird dieser Antrag unterstützt? - Das sind über fünfzig; es findet namentliche Abstimmung statt. Ich bitte, die Stimmkarten einzusammeln.
({0})
- Es wird abgestimmt über den Änderungsantrag
Dr. Müller - Umdruck Nr. 805 Ziffer 3 - zu § 61.
({1})
Sind noch Stimmkarten abzugeben? - Ich bitte dann um Beschleunigung.
Die Abstimmung ist geschlossen.
Das vorläufige Ergebnis*) der Abstimmung: Insgesamt sind abgegeben worden 377 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 196, mit Nein 179, Enthaltungen 2. Damit ist der Änderungsantrag angenommen.
Ich darf dann bitten, daß diejenigen, die dem § 61 in der nunmehr beschlossenen Fassung zustimmen, die Hand heben. - Das ist die Mehrheit; es ist so beschlossen.
Ich rufe § 62 mit dem Änderungsantrag Dr. Müller, Umdruck Nr. 805 Ziffer 4, auf.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Meine Damen und Herren! Der § 62 bestimmt: die Siedlungsbehörde kann nach Anhörung der Beteiligten verlangen, daß der Verfügungsberechtigte mit einem vorgeschlagenen Flüchtling ein neues Rechtsverhältnis eingeht. Kommt er innerhalb einer angemessenen Frist dieser Aufforderung nicht nach, so kann die Siedlungsbehörde einfach die Person bestimmen, mit der das Nutzungsverhältnis zu begründen ist Gegen diese Entscheidung steht dem Betroffenen die Anrufung des Gerichts zu.
Nun wird in Abs. 5 dieses Paragraphen bestimmt, daß, wenn einer der ersten Aufforderung nicht nachkommt, sondern sich zwingen läßt und sogar auf den Rechtsweg geht, er die Steuervergünstigungen nicht haben kann. Es ist meines Erachtens unmöglich, daß man einem Staatsbürger die Wahrung seiner Rechte, die in Verfassung und Gesetz garantiert sind, durch diese Androhung, daß er dann die Steuervergünstigungen nicht bekommt, erschwert.
Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen, den Abs. 5 zu streichen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Standpunkt, den Herr Kollege Dr. Müller soeben vertreten hat, wäre richtig, wenn
*) Vergl. das endgültige Ergebnis Seite 12293.
({0})
es sich um die Entschädigung handelte; diese kann man einem Menschen nicht deshalb nehmen, weil er den Rechtsweg beschreitet. Aber hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um steuerliche Vergünstigungen, die man dem Mann, der seinem Schwiegersohn das Land abgab, durchaus nicht geben wollte. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß jemand, der sich weigert und es auf einen Prozeß und den Instanzenzug ankommen läßt, dann im Unterliegensfall nicht noch belohnt werden soll. Es würde, wenn man diese Bestimmung aufrechterhält, ein sehr gesunder Anreiz da sein, daß solche unnützen Widersprüche nicht erhoben werden. Wer es dennoch tut, hat ja auch keinen Schaden; er bekommt immer noch die angemessene Vergütung. Auf die Belohnung muß er allerdings verzichten.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Merten.
Meine Damen und Herren! Es ist der Grundsatz des Gesetzes gewesen, daß die freiwillige Leistung eine gewisse Bevorzugung vor der Zwangsleistung erhalten soll. Diesen Grundsatz heben Sie auf, wenn Sie nun auch dann, wenn der Betreffende dazu gezwungen wird, das Gute zu tun, ihm die Belohnung geben. Eine Bestimmung, wie Sie sie hier vorhaben, nämlich die Vergünstigung auch dann zu erteilen, wenn der Betreffende dazu gezwungen wird, das zu tun, was richtig ist, ist im tiefsten Sinne unmoralisch. Außerdem wird sie dazu führen, daß in so gut wie allen Fällen die Verfahren der Siedlungsbehörde in die Berufung gehen, weil diese Berufung gar kein Risiko mehr bedeutet. Man wird die Vorteile dessen, was man bei freiwilliger Leistung erhalten hätte, auch dann erhalten, wenn man durch alle Instanzen gegangen ist.
Ich bitte deshalb, den Antrag Dr. Müller und Genossen auch aus diesem Grunde abzulehnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ewers.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So sehr man Verständnis für die Wünsche der Vertriebenen, die noch nicht eingegliedert sind, haben kann und sich freuen mag, wenn sie einschließlich ihrer Verwandten Vergünstigungen steuerlicher Art bekommen, so sehr muß man doch auch hier den Gedanken des Rechtsstaats aufrechterhalten. Die Vergünstigungen beruhen auf einem Tatbestand, wie er in den §§ 48, 49, 53 angegeben ist, und erwachsen deshalb von Rechts wegen. Wenn man solche Vergünstigungen wegen eines von der Verwaltung als unangenehm empfundenen Verhaltens, das mit der Gewährung der Steuervergünstigungen überhaupt in keinem Kausalzusammenhang steht, zu entziehen droht, nennt man das im normalen privaten Rechtsverkehr Erpressung.
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Der Gesetzgeber sollte sich hüten, Methoden einzuführen, die, wenn sie im Privatleben angewandt werden, denjenigen, der sie anwendet, ins Zuchthaus bringen; denn dieses Übel, das angedroht wird, steht in keinerlei Kausalzusammenhang mit den Gründen, aus denen man die Wohltat erweist. Aus diesem Grunde glaube ich, daß man auch vom Flüchtlingsstandpunkt solche „Freiwilligkeit", die nur durch Erpressungen erreicht wird, ablehnen
sollte. Wenn Sie meinen, daß derjenige, der nur durch ein Gerichtsverfahren zu einer Landabgabe gezwungen werden kann, eine Art Strafe zahlen sollte, dann machen Sie die Anrufung der Gerichte, die hier entscheiden sollen, von sehr hohen Kosten abhängig, so daß es den Mann etwas kostet. Das ist eine rechtmäßige Sühne, die im Rechtsleben üblich ist. Erpresserische Androhungen, die auf den Entzug gesetzlicher Wohltaten hinauslaufen, halte ich aber vom Rechtsstandpunkt für vollkommen indiskutabel.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ausdruck Erpressung, den der Herr Kollege Ewers mehrfach verwandt hat, ist hier völlig fehl am Platze, denn es fehlt mehr als eines der Tatbestandsmerkmale. Wenn wir in das Gesetz hineingeschrieben hätten, daß, wer Land abgibt, seine Entschädigung, wer es freiwillig abgibt, eine Sondervergütung bekommt, wo wäre da etwas Unrechtes oder etwas Unerlaubtes? Hier liegt doch nur eine andere Formulierung vor.
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- Verzeihung, wir haben jetzt praktisch gesagt: wer nicht vor den Kadi geht, bekommt noch besondere Vergünstigungen. Darauf läuft es hinaus. Das hat weder mit Erpressung noch mit sonst etwas zu tun. Ich darf auch noch darauf hinweisen, daß die Finnen, die ja ein sehr rechtlich denkendes Volk sind, bei ihren Siedlungsverfahren genau dasselbe und mit gutem Erfolg angewandt haben. Ich glaube, die Bestimmung ging dahin, daß nur die freiwillig Abgebenden ihre Entschädigung mit der Goldklausel bekamen; diejenigen, die sich zwingen ließen, erhielten das nicht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag Dr. Müller auf Umdruck Nr. 805 Ziffer 4 zustimmen, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Das erste war die Mehrheit; der Antrag ist angenommen.
Ich bitte dann diejenigen, die § 62 mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen, die Hand zu erheben. - Das ist die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe nun § 65 auf - für die §§ 63 und 64 liegen keine Änderungsanträge vor - mit dem Änderungsantrag Dr. Müller auf Umdruck Nr. 805 Ziffer 5. - Das Wort hat Herr Abgeordneter Struve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte bei meinen Ausführungen zu Beginn der Debatte eine Stellungnahme abgegeben, daß wir uneingeschränkt dem Wegfall der Kultivierungseinrede unsere Zustimmung geben würden, und zwar in der Richtung, daß diese dann keine Gültigkeit mehr haben sollte, wenn die in § 38 aufgezeichnete Bezugnahme zum Gesetz erhoben worden wäre. Leider ist das Hohe Haus beim § 38 unserem Antrage nicht gefolgt.
Es ist hier die Tatsache festzuhalten, daß nunmehr der Text der zweiten Lesung Gesetz geworden ist, wonach bei der Neusiedlung die einheimische Bevölkerung nur noch zu einem Viertel berücksichtigt werden kann. Ich möchte diesen Fall in diesem Augenblick nicht vertiefen; aber fest
({0})
steht das eine: die derzeitige Siedlungsgesetzgebung, die in der Praxis seit Jahrzehnten gültig gewesen ist und die zwingend vorschrieb, daß die auf diesen Gütern tätigen Arbeiter vorweg anzusetzen sind, wird ohne Zweifel mit dem jetzt Gesetz gewordenen Beschluß nicht in Einklang zu bringen sein. Es wird deshalb notwendig sein, daß wir über den § 65 nicht dasselbe verankern, was hier leider bei der Neusiedlung verankert wurde. Ich möchte deshalb unter Aufrechterhaltung unseres Antrags, daß der derzeitige Abs. 3 gestrichen wird, den Antrag aus der zweiten Lesung wieder aufnehmen. Es muß nunmehr wenigstens möglich sein, die kleinen Betriebe in den Moor- und Ödlandgebieten bis zu der Größe aufzustocken, in der jetzt neue Betriebe für die Vertriebenen ausgelegt werden.
Eine zweite Sache: Wir greifen erneut unseren Antrag zu Abs. 3 aus der zweiten Lesung auf und sind auch hier der Auffassung, daß in diesen Gebieten, in denen leider nicht nur seit Jahrzehnten, sondern im letzten Jahrhundert Gelder in ausreichendem Maße für die Kultivierung nicht zur Verfügung gestellt worden sind, nunmehr, da dieses gemeinsame Werk angegriffen wird, auch die zweiten Söhne zum Zuge kommen sollten. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß das Gegenargument, das mehrfach hier im Hause vertreten wurde, dagegen angemeldet werden kann, daß man die sogenannten zweiten Söhne in Gegensatz zu den vertriebenen Bauern setzt. Aber ich möchte das Hohe Haus darauf aufmerksam machen, daß laut einer statistischen Feststellung gerade in diesen ärmlichsten Gegenden - ich denke vor allen Dingen an das Emsland - Bauernfamilien leben, die im Durchschnitt über sechs Kinder haben. Wir sind deshalb der Auffassung, daß es keine Zumutung ist, wenn wir hier den Antrag stellen, daß gerade bei der Ödlandkultivierung neben der Aufstockung der Kleinbetriebe auch die eingesessenen nachgeborenen Söhne Berücksichtigung finden.
.Ein Umdruck war wegen der Kürze der Zeit nicht mehr möglich. Ich darf deshalb mit Genehmigung des Herrn Präsidenten die Formulierung vorlesen:
In § 65 werden folgende neue Absätze 2 und 3 eingefügt:
({1}) Wenn der Eigentümer sich verpflichtet, seinen landwirtschaftlichen Betrieb durch Umwandlung einer der in § 40 aufgeführten Flächen in Kulturland bis zur Größe eines Familienbetriebes binnen einer ihm von der Siedlungsbehörde gesetzten angemessenen Frist aufzustocken, so kann die Enteignung dieser Fläche erst stattfinden, wenn die Frist nicht gewahrt wird.
({2}) Die Vorschrift des Abs. 2 gilt entsprechend, wenn der Eigentümer sich verpflichtet, innerhalb einer ihm von der Siedlungsbehörde gesetzten angemessenen Frist eine Fläche bis zur Größe einer selbständigen Ackernahrung zur Errichtung einer Siedlung vom Hof aus zugunsten eines direkten Abkömmlings in Kulturland umzuwandeln.
Der bisherige Abs. 2 wird Abs. 4, der bisherige Abs. 3 wird gestrichen.
Zum Schluß darf ich darauf aufmerksam machen - es ist auch aus dem Text hervorgegangen -, daß es sich hier nicht um Zuteilung von Land, das bisher irgend jemand, etwa der öffentlichen Handoder sonstwem, gehört hat, an zweite Söhne handelt, sondern um Land, welches im Zuge des Wegfalls der Kultivierungseinrede den betreffenden Eigentümern enteignet wird und dann nach der Kultivierung zu Eigentum zurückübertragen wird, im ersten Fall bis zur Aufstockung der Familienwirtschaft, im zweiten Fall zugunsten einer Neuexistenz für einen nachgeborenen Sohn.
Ich bitte das Hohe Haus, diesem unserem Antrag zuzustimmen. '
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kather.
({0})
Dieser neue Antrag muß erst einmal in ein Verhaltnis zu 38 gebracht werden. § 38 ist in zweiter Lesung so angenommen worden, wie er jetzt lautet, und ist heute bestätigt worden. Dieser Antrag, der ursprünglich von Herrn Kollegen Horlacher gestellt worden war, besagt also: mindestens 50 % für die Vertriebenen, und in dem zweiten Teil rangieren einheimische Bewerber und Vertriebene noch einmal gleichrangig. Wenn das, Herr Struve, was Sie hier fordern, in diese 25 % fällt, dann ist das eine Sache, die uns nicht unbedingt angeht. Darüber bitten wir einmal eine Erklärung abzugeben. Wenn es etwa anders sein soll, wenn das nebenher gegeben werden soll, dann ist dieser Antrag ein Versuch, die Abstimmung über den § 38 nachträglich ihres Inhalts zu berauben; denn dann würde es ja praktisch wieder auf fifty - fifty oder vielleicht noch schlimmer kommen.
Ich lehne es nun ab, immer wieder dasselbe zu sagen. Wenn sich im Bundestag wirklich eine Mehrheit finden sollte, die es unternimmt, auch bei dieser Gelegenheit wieder die zweiten Söhne den vertriebenen Bauern und ersten Söhnen gleichzustellen, dann weiß man nicht, was man dazu sagen soll, und vor allem werden die Vertriebenen nicht wissen, was sie dazu sagen sollen. Fällt das, was Herr Struve verlangt, in die 25 %, dann muß das auch in der Formulierung zum Ausdruck kommen; fällt es nicht hinein, dann sind diese Anträge völlig unannehmbar, wenigstens hinsichtlich des zweiten Sohnes. Wir haben uns ja immer damit einverstanden erklärt, daß die Aufstockung bis zu einer Ackernahrung erfolgt, aber im Rahmen der 25 %; darüber darf keine Unklarheit herrschen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Vertriebene.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diesen Antrag, die Kultivierungseinrede wieder aufrechtzuerhalten, halte ich nicht nur im Interesse der Vertriebenen, sondern noch viel mehr auch im Interesse der Einheimischen für absolut falsch.
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- Jawohl, und zwar aus folgenden Gründen. Wenn Sie die Kultivierungseinrede zulassen, dann ist es einem einzelnen der Leute, die in Anspruch genommen werden, möglich, jede Kultivierung - die heute ja nur in großer Fläche möglich ist - zu
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verhindern. Wenn die Bestimmung des Ausschusses dem Einheimischen, der es nicht kann, weil er nicht die Mittel hat, sogar die Möglichkeit gibt, das Land bis zur Größe einer Familiennahrung mit all den Vorteilen kultiviert zu bekommen und dann kultiviert zurückzuerhalten, ist das wirklich etwas viel. Von der theoretischen Frage des zweiten Sohnes können Sie sich nicht leiten lassen. Von zweiten Söhnen spricht bei Vertriebenen kein Mensch. Die zweiten Söhne können Sie ja durchaus aus den allgemeinen Bestimmungen der Landsiedlung - ({2})
- Sie können doch nicht damit kommen, daß Sie sagen, das sei seit hundert Jahren so gewesen. Dann ist das ein Fehler der Landwirtschaft und zum Teil - ich spreche es hier aus - ein Fehler der Landwirtschaft aus Eigennutz, da sie doch wegen der Preise die Produktion nicht allzusehr erhöht haben wollte.
({3})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Merten.
Der Antrag, den Herr Kollege Struve vorgelegt hat, ist so kompliziert, daß er besonders geprüft werden muß. Ich bitte daher im Namen meiner Fraktion, die Abstimmung auszusetzen, bis der Antrag schriftlich vorliegt.
Meine Damen und Herren! Das ist natürlich etwas erschwerend; denn der weitere Verlauf der Entscheidungen über alle Paragraphen hängt irgendwie davon ab, zu wissen, wie der § 65 aussieht. Die Aussetzung dieser Abstimmung würde also eigentlich die Aussetzung der Beratung bedeuten.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, es gibt eine Bestimmung der Geschäftsordnung, und zwar den § 87, der lautet:
Sind in der einmaligen oder in der dritten Beratung Änderungsanträge angenommen worden, ehe sie gedruckt verteilt waren, so muß, wenn es von einer Anzahl von Abgeordneten, die einer Fraktionsstärke entspricht, verlangt wird, vor der Schlußabstimmung nochmals über die nun vorliegende Drucksache abgestimmt werden. Eine Beratung findet nicht statt.
Unter diesen Umständen könnten wir jetzt abstimmen und dann die Abstimmung vor der Schlußabstimmung wiederholen. Also die Korrektur wäre dann möglich. Können Sie unter diesen Umständen nicht unter Bezug auf § 87 auf die Aussetzung der Abstimmung verzichten? Dann könnten wir eine erste Abstimmung über den Antrag Struve jetzt vornehmen.
({1})
Wir kommen nun zu dem von Herrn Abgeordneten Struve verlesenen Antrag zu § 65. Ich brauche ihn nicht mehr vorzulesen, weil er schon verlesen worden ist. Ich bitte diejenigen, die zustimmen, die Hand zu heben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Es besteht keine Übereinstimmung.
Wir müssen leider auszählen. Darf ich bitten, wegen der vorgerückten Zeit die Auszählung recht schnell durchzuführen.
({2}) Die Auszählung beginnt.
({3})
Die Auszählung ist beendet. Ich bitte, die Türen zu schließen.
Das Ergebnis der Abstimmung: mit Ja haben gestimmt 159, mit Nein 188, Enthaltung 1. Der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen nun ab über den Antrag Dr. Müller und Genossen auf Umdruck Nr. 805 Ziffer 5. Ich bitte diejenigen, die zustimmen, die Hand zu heben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Ich darf bitten, Platz zu nehmen; bei dieser Verteilung im Raum, dem Herumstehen und der Gruppenbildung ist es unmöglich, eine Übersicht zu bekommen. Ich bitte diejenigen, die für den aufgerufenen Änderungsantrag sind, sich zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letzte ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem § 65 in der Fassung der Vorlage zustimmen, die Hand zu heben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das erste war die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe nun § 68 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Föderalistischen Union auf Umdruck Nr. 809 Ziffern 5 und 6 vor. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reismann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Föderalistische Union wiederholt ihren Antrag, den sie in der zweiten Lesung hierzu bereits gestellt hatte. Ich erstrecke die Begründung auf die nachfolgenden Bestimmungen des § 68 Abs. 1 Satz 2, des § 69 Abs. 5 und des § 77. Den vernünftigen und gesunden Sinn dieser Bestimmungen, den Flüchtlingen, Vertriebenen und Ostzonenflüchtlingen die angemessene und notwendige Förderung zukommen zu lassen, wollen wir natürlich nicht in Abrede stellen.
Es geht hier aber um etwas anderes. Es geht um die schematische und deswegen ungerechte Verallgemeinerung, die darin besteht, daß man in den von mir soeben genannten Paragraphen, insbesondere in § 68, kurzerhand eine bevorzugte Berücksichtigung ohne irgendwelche Einschränkungen oder Voraussetzungen verlangt. Das ist zumindest mißverständlich. Das bedeutet und kann nicht anders aufgefaßt werden als so: solange sich noch irgendein Vertriebener bewirbt, müssen alle Einheimischen warten. Das ist, um ein Beispiel herauszugreifen, bei einem Apotheker oder bei einem Arzt, der um die bevorzugte Berücksichtigung gegenüber den Einheimischen bittet, besonders dann eine große Härte für den Einheimischen, wenn dieser etwa völlig mittellos dasteht, weil er Spätheimkehrer, weil er Totalbombengeschädigter oder sonstiger Verlierer dieses Krieges ist, während auf der anderen Seite ein Herr steht - es wurde hier schon ein Beispiel zitiert -, der beispielsweise als Vertriebener hierherkommt und glücklicherweise - kein Mensch neidet es ihm - hier im Westen einen reichlichen Besitz von X Häusern hat. In solchen Fällen muß man doch den besonderen Verhältnissen Rechnung tragen können. Deswegen wünschen wir die Änderung dahin({0})
gehend, daß der Notlage entsprechend eine Berücksichtigung erfolgen kann, daß nur in dem Maße, wie es der besonderen Notlage der begünstigten Kreise entspricht, ihnen eine Bevorzugung gewährt werden kann. Der Vertriebenen- oder Flüchtlingstatbestand allein soll aber noch nicht unter allen Umständen ausreichen, gegenüber schwerer abgekommenen Einheimischen eine Bevorzugung zu rechtfertigen. Ich glaube, diese Forderung ist so billig und entspricht so eindeutig der Gerechtigkeit, daß ich hoffe, Sie werden mir zustimmen.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor; dann ist die Aussprache geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Föderalistischen Union zu § 68 auf Umdruck Nr. 809 Ziffern 5 und 6. Ich bitte diejenigen, die diesem Änderungsantrag zustimmen wollen, die Hand zu heben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letztere ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich bitte dann diejenigen, die dem § 68 in der Fassung der Vorlage zustimmen, die Hand zu heben. - Das ist die Mehrheit; angenommen.
Zu § 69 liegt der Änderungsantrag der Föderalistischen Union auf Umdruck Nr. 809 Ziffer 7 vor. Er ist bereits durch den Herrn Abgeordneten Dr. Reismann begründet. Wir kommen gleich zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Änderungsantrag zustimmen wollen, die Hand zu heben. - Gegenprobe! - Das letztere ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich nehme an, daß damit § 69 in der Fassung der Vorlage angenommen ist. - Dem wird nicht widersprochen; es ist also so beschlossen.
Ich rufe den § 76 auf. Dazu liegt ein Antrag Sabel und Genossen auf Umdruck Nr. 811 vor. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem Änderungsantrag zustimmen wollen, die Hand zu heben. - Das ist die Mehrheit; damit ist der Änderungsantrag angenommen.
Ich bitte diejenigen, die dem § 76 mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen, die Hand zu heben. - Das ist ebenfalls die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe § 77 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Föderalistischen Union auf Umdruck Nr. 809 Ziffer 8 vor. Zur Begründung ist das Wort nicht gewünscht.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Änderungsantrag zustimmen, die Hand zu heben. - Gegenprobe! - Das letztere ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Der § 77 dürfte damit in der Fassung der Vorlage angenommen sein. - Dem wird nicht widersprochen; es ist so beschlossen.
Ich rufe § 99 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der CDU/CSU auf Umdruck Nr. 804 Ziffern und 2 vor. Wird das Wort dazu gewünscht? - Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Änderungsantrag handelt es sich durchweg um redaktionelle Änderungen oder um die Einfügung von Dingen, die vergessen sind. Bei § 99 handelt es sich um eine Zitierung aus dem Lastenausgleichsgesetz. Es ist nicht richtig zitiert. In der jetzigen Fassung heißt es „für die Heimatvertriebenen", es muß heißen: „für Heimatvertriebene".
Ferner soll in § 99 Nr. 3 hinter „In § 249" eingefügt werden: „Abs. 1". Das sind die beiden Änderungsanträge zu § 99.
({0})
- Eigentlich muß ja § 99 erst angenommen werden!
In § 100 müssen hinter der Angabe „({1})" folgende Worte eingefügt werden: „in der Fassung des Gesetzes vom 21. Juli 1951 ({2})". § 1 Abs. 2 des Notaufnahmegesetzes soll dann die Fassung erhalten, die Ihnen im Umdruck unter Ziffer 1 vorliegt.
Nach Ziffer 2 soll § 2 Satz 3 des Notaufnahmegesetzes folgende Fassung erhalten:
Er entscheidet auch darüber, was als besondere Zwangslage im Sinne des § 1 Abs. 2 anzusehen ist.
Das ist eine Angleichung an das Notaufnahmegesetz mit Rücksicht auf die Änderung, die wir in § 3 vorgenommen haben.
Dann ist bei § 103 vergessen worden, das Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes vom 11. Mai 1951 ({3}) aufzunehmen.
In Ziffer 3 von § 103 Abs. 2 haben wir in Anpassung an den vorhergehenden Paragraphen aus „landesrechtlichen Vorschriften" „Vorschriften der Länder" gemacht.
In § 107 über den Zeitpunkt des Inkrafttretens schließlich sind die §§ 99, 100 und 102 neu aufgenommen worden. Es handelt sich dabei um Bestimmungen, bei denen Überschneidungen in der Zeit vom 1. Januar bis zum Inkrafttreten des Gesetzes möglich wären.
Ich bitte, diesen redaktionellen Änderungen zuzustimmen.
Keine weiteren Wortmeldungen. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag Umdruck Nr. 804 Ziffern 1 und 2. Ich bitte diejenigen, die zustimmen, die Hand zu heben. - Das ist die Mehrheit; angenommen. Dann darf ich wohl annehmen, daß § 99 mit dieser Änderung die Zustimmung des Hauses gefunden hat.
Wir haben weiter zu § 100 den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck Nr. 804 Ziffer 3. Muß dieser noch besonders begründet werden? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
({0})
Ich darf dann bitten, daß diejenigen, die der Änderung zustimmen, die Hand heben. - Das ist die überwiegende Mehrheit. Ich nehme an, daß § 100 mit dieser Änderung angenommen ist.
Ich rufe auf § 103, Änderungsantrag der CDU/ CSU Umdruck Nr. 804 Ziffer 4. Dazu erübrigt sich wohl auch die Begründung.
Ich bitte diejenigen, die dieser Änderung zustimmen, die Hand zu heben. - Das ist die Mehr({1})
heit; angenommen. Ich nehme an, daß § 103 dann mit dieser neuen Fassung die Billigung des Hauses gefunden hat.
Wir haben dann noch § 107. Dazu liegt der Änderungsantrag Umdruck Nr. 804 Ziffer 5 vor. Er ist begründet worden.
Das Wort zu § 107 hat Herr Abgeordneter Struve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der dritten Lesung sind ohne Zweifel bei einzelnen Paragraphen Formulierungen zum Gesetz erhoben worden, die in dem einen Fall der einen Hälfte des Hauses nicht gefallen und in anderen Fällen von der andern Seite für unglücklich gehalten werden. Tatsache ist und bleibt, daß das Flüchtlingssiedlungsgesetz, welches grundsätzlich von der freiwilligen Eingliederung ausgeht, seinen Erfolg einzig und allein dem Umstand verdankt, daß neben dem Verstehen Einheimischer gegenüber Vertriebenen große finanzielle Vergünstigungen für den landabgebenden Teil herausgekommen sind. Dieselben Vergünstigungen sind auch jetzt wieder in dem Bundesvertriebenengesetz verankert. Darüber hinaus enthält das Gesetz sehr einschneidende Bestimmungen, und es wird nach meiner Auffassung nicht nur des Rates, sondern der Arbeit führender Juristen bedürfen, um zu klären, inwieweit etwa bei der Neusiedlung noch die Grundsätze des Reichssiedlungsgesetzes gelten sollen und inwieweit sie durch das heute zu beschließende Bundesvertriebenengesetz abgelöst werden.
Ihre Aufmerksamkeit möchte ich aber noch besonders auf den § 65 lenken.
({0})
- Ja, ich komme darauf; nur Geduld! - § 65 ermöglicht im Gegensatz zum bisherigen Recht uneingeschränkt die Enteignung von Moor und Ödland. Mein Antrag, den auf diesen Gebieten wohnenden Bauern die Möglichkeit zu geben, ihre kleine, bescheidene Siedlung aufzustocken, ist abgelehnt worden. Ich bin deshalb der Auffassung, daß das Bundesvertriebenengesetz ausgesprochenermaßen den Charakter eines Notgesetzes bekommen hat.
Aus diesem Grunde halte ich es für notwendig, ein so einschneidendes Gesetz auch zeitlich zu begrenzen, und stelle zu § 107 den Antrag, daß der bisherige Text Abs. 1 wird und daß ein Abs. 2 folgenden Wortlauts hinzugefügt wird: „Das Gesetz tritt am 31. Dezember 1955 außer Kraft."
({1})
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, die Privatunterhaltungen etwas zu dämpfen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Becker.
Meine Damen und Herren! Ich beantrage, den § 107 in der bisherigen Fassung zu streichen, und zwar aus folgendem Grunde. Es ist ein Unfug, Gesetze mit rückwirkender Kraft zu erlassen. Im vorliegenden Falle wird es für die Flüchtlinge und die Heimatvertriebenen besonders schlimm; denn, wie ich Ihnen als Notar bestätigen kann, seit dem 1. Januar sind eine ganze Menge Rechtsgeschäfte in der Richtung getroffen
worden, die nun auf völlig andere Bestimmungen ' stoßen und den Heimatvertriebenen schaden können. Bitte, bleiben Sie bei der guten Regel, wonach man ein Gesetz nicht rückwirkend in Kraft setzen soll, insbesondere nicht, wenn - wie hier - eine ganze Menge Rechtsgeschäfte im Gange sind, die durch die sehr langwierigen Genehmigungsverfahren noch nicht zum Abschluß haben gebracht werden können. Sie erweisen gerade den Heimatvertriebenen, die angesiedelt werden sollen, einen guten Dienst, wenn Sie zu der Regel zurückkehren, das Gesetz erst nach der Verkündung in Kraft treten zu lassen.
Herr Abgeordneter Dr. Becker, darf ich um schriftliche Formulierung Ihres Antrags bitten; ich kann keine mündlichen Anträge entgegennehmen. Außerdem bedarf er der Unterstützung von 15 Abgeordneten.
({0})
- Ich nehme also an, daß Herr Abgeordneter Dr. Becker die schriftliche Vorlage seines Antrags nachholen wird. Das wäre dann erstens die Frage des Inkrafttretens. Sie haben den Änderungsantrag des Herrn Dr. Becker gehört, das Gesetz erst mit dem Tage der Verkündung in Kraft treten zu lassen.
({1})
- Den Paragraphen zu streichen? ({2})
- Das kommt davon, daß solche Anträge erst kurz vor Schluß gestellt werden. Das ist ein Verfahren, mit dem man einfach nicht weiterkommt.
({3})
Also es ist von Herrn Dr. Becker beantragt worden, den § 107 zu streichen. Das ist zweifellos der weitestgehende Antrag. Ich bitte diejenigen, die diesem Streichungsantrag zustimmen, die Hand zu heben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das erste war die Mehrheit. Dann ist also der Antrag angenommen. Damit ist der § 107 erledigt.
({4})
- Der Paragraph ist gestrichen. Darüber hinaus können wir über einen gestrichenen Paragraphen keine Abstimmungen vornehmen. Damit sind also die Paragraphen des Gesetzes erledigt.
Jetzt kommen wir zurück zur Präambel. Dazu war von der Fraktion der Deutschen Partei ein Antrag gestellt - Umdruck Nr. 818 -, der inzwischen verteilt ist.
Zur Begründung hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. Zawadil.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ausschuß für Heimatvertriebene hat eine längere Debatte darüber stattgefunden, ob dem Gesetz eine Präambel vorangestellt werden soll oder nicht. Ich betone, daß die Regierungsvorlage eine solche Präambel aufgewiesen hat. Im Ausschuß wurde von einer knappen Mehrheit die Ansicht vertreten, daß an die Stelle der Präambel eine Entschließung treten solle. Die Meinungen über den Vorteil einer Entschließung können geteilt sein. Meine politischen Freunde und ich sind der Auffassung, daß einem so wichtigen, grund({0})
legenden Gesetz wie dem vorliegenden unbedingt eine Präambel vorangestellt werden muß.
({1})
- Es ist nicht an uns gelegen, wie das Gesetz im Laufe der Debatte zurechtgerichtet wurde. Es handelt sich jetzt darum, daß es ein Gesetz werden soll,
({2})
und zwar ein Gesetz von grundlegendem Charakter. Eine Entschließung hat rhetorischen Charakter, verliert schnell ihre Wirkung und ist kurzlebig. Dagegen glauben wir, daß die Präambel dieselbe Lebensdauer hat wie das Gesetz an sich.
({3})
Sie hat außer der politischen und historischen Bedeutung auch den Wert der Kontinuität.
({4})
- Also darüber wollen wir nicht streiten, von welcher Seite das Gesetz kaputtgemacht worden ist.
({5})
Jedenfalls verleiht die Präambel dem Gesetz jenen Charakter, der die Grundlage seines Inhalts bildet. Die Präambel wirkt und mahnt, solange das Gesetz Laufzeit hat und in Kraft ist. Sie kündet vor allem dem In- und Ausland vom Schicksal und der Not der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge und betont das unabdingbare Recht eines jeden Menschen, auch des deutschen Menschen, auf seine angestammte Heimat.
({6})
Meine Damen und Herren, nachdem Herr Kollege Kohl von der KPD heute nachmittag bereits erklärt hat, daß er die Präambel ablehne - er sprach auch dagegen -, müßten Sie um so hellhöriger sein und gerade deswegen die Präambel annehmen.
({7})
Ich bitte daher um die Wiederherstellung der Regierungsvorlage.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Reitzner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird nun der Antrag gestellt, die Präambel zu einem Gesetz zu beschließen, das nicht in Kraft gesetzt wird, das aber 1955 außer Kraft gesetzt wird.
({0})
- Reden Sie dorthin, zum Herrn Kollegen Struve.
({1})
Ich möchte mich nun nicht mit dem Inhalt der Präambel beschäftigen; aber es ist doch eigenartig, daß die Präambel ausgerechnet aus den Reihen der Deutschen Partei kommt, dieser Partei, die geschlossen gegen das Gesetz gestimmt hat.
({2}) Nun will man diese negative Haltung gegenüber den Heimatvertriebenen klar beschönigen, sich eine Art Feigenblatt in Form dieser vorgeschlagenen Präambel umhängen. Das ist eine Täuschung, und diese Täuschung machen wir nicht mit. Das ist eine Art Etikett, wie wenn man eine Flasche nimmt, in der sich Essigsäure befindet, und darauf ein Schild klebt: „Bester Moselwein".
({3}) Diese Methode machen wir nicht mit!
Der Herr Kollege Zawadil und der Landsmann Seebohm hätten sich vorher dafür einsetzen sollen, daß zumindest die Hälfte der DP für dieses Gesetz stimmte.
({4})
Aber wenn wir die namentlichen Abstimmungen und die anderen Abstimmungen durchgehen, so müssen wir feststellen, daß gerade die Antragsteller, die eine Präambel wollen, die angeblich ein einheitliches, wirksames Gesetz mit einheitlichen und wirksamen Voraussetzungen für die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge schaffen wollten, gegen dieses Gesetz gestimmt haben: gegen ein wirksames Gesetz, gegen ein rasch wirkendes Gesetz, gegen ein einheitliches Gesetz. Aber vor das Gesetz soll diese Präambel gestellt werden! Deswegen stimmen wir gegen diese Präambel, und ich bitte das Hohe Haus, eine solche Unaufrichtigkeit nicht mitzumachen.
({5})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin von vornherein gegen diese Präambel gewesen, auch in den Beratungen des Ausschusses. - Herr Kollege Zawadil, eines ist mir nicht ganz verständlich: Wenn Sie - wie wir Heimatvertriebenen alle - sich mehr oder weniger im Zweifel darüber sind, ob wir Heimatvertriebenen nach den Veränderungen, die das Gesetz heute erfahren hat, noch ja zu diesem Gesetz sagen können - und diese Zweifel haben Sie ja, Herr Kollege Zawadil -, dann ist mir allerdings wirklich unverständlich, daß man eine solche Deklamation vor das Gesetz setzen will.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ewers.
Ich habe von den Ausführungen von Herrn Reitzner kein Wort begriffen.
({0})
Er tat so, als ob schon eine Schlußabstimmung über das Gesetz stattgefunden hätte. - In der zweiten Lesung gibt es keine Schlußabstimmung über das ganze Gesetz; die sieht jetzt, am Ende der dritten Lesung, bevor.
({1})
- Bitte, lassen Sie mich alleine reden; Sie können sich ja nachher zum Wort melden. - Die dritte Lesung steht also bevor, und noch hat kein Mensch das Gesetz angenommen oder abgelehnt, sondern nur einzelne Paragraphen. unter zum Teil recht unleidlichen Debatten. Das ist die Lage.
({2})
Daß wir abgelehnt hätten, das Gesetz in Kraft zu setzen, ist ein Mißverständnis, das im Bundestag, der bald vier Jahre alt ist, nicht mehr passieren dürfte. Auch dem letzten Abgeordneten sollte klar sein, daß nach dem Grundgesetz jedes Gesetz zwei Wochen nach der Verkündung in Kraft tritt, wenn nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Ich bitte deshalb die SPD-Fraktion, dafür zu sorgen, daß ihre Abgeordneten über diese Grundwahrheiten unserer Gesetzgebungsarbeit nun endlich aufgeklärt werden. Solche Schnitzer dürfen wirklich nach dreieinhalb Jahren im Parlament nicht mehr vorkommen.
({3})
Nun zur Sache. Was das Außerkrafttreten anlangt, so hat der Herr Präsident angenommen, daß mit der Ablehnung des § 107 Abs. 1 auch der Antrag Struve zu Abs. 2 erledigt sei. Ich halte diese Annahme des Herrn Präsidenten für falsch. Jetzt hätten wir demnach ein Gesetz geschaffen, das, wenn es in der Schlußabstimmung angenommen wird, zwei Wochen nach der Verkündung in Kraft treten soll und das, ohne daß ein späteres Parlament es aufhebt, nie außer Kraft tritt. Das ist die Sachlage.
({4})
Nun zu der Präambel. Herr Kather, ob Sie persönlich das Gesetz annehmen oder ablehnen, spielt unter 402 Abgeordneten keine große Rolle. Für Ihre Fraktion haben Sie ja bedauerlicherweise während der ganzen Debatte in zweiter und dritter Lesung nicht sprechen können; denn deutlicheren Widerspruch als aus Ihren eigenen Fraktionsreihen haben Sie nicht erfahren. Wie der einzelne Abgeordnete in der Schlußabstimmung abzustimmen gedenkt, das bleibt seinem eigenen Ermessen vorbehalten. Das vorweg.
Nun fragt es sich, ob, mag das Gesetz im großen und ganzen nun gut oder schlecht geworden sein, wir hier in Westdeutschland Veranlassung haben, die Bedeutung unseres gesetzgeberischen Willens irgendwie zu unterstreichen. Diese Frage bejahen wir. Das verfassungsmäßige Recht jedes Menschen auf Gottes Erde auf seine angestammte Heimat können wir zwar in ein Gesetz nicht hineinschreiben. Aber wir können es sehr wohl einem Gesetz voranstellen. Dazu gibt diesem Bundestag die Präambel dieses Gesetzes die Möglichkeit. Wenn Sie die Präambel in ihrem zweiten Absatz ablehnen,
({5})
- bitte ausreden lassen -, dann leugnen Sie das Naturrecht auf die Heimat.
({6})
Das hier festzustellen, darauf kommt es uns an.
({7})
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß es notwendig ist, sich so schrecklich aufzuregen.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kather.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ewers, ich komme heute zum zweitenmal schon in die Rolle, Ihnen widersprechen zu müssen. Ich habe vorhin zu Ihrem Kollegen Zawadil gesagt: Sie haben genau so wie die anderen heimatvertriebenen Abgeordneten Bedenken, ob man dem Gesetz nach den Veränderungen zustimmen kann oder nicht. Das stimmt in jedem Wort, das ich gesagt habe, und gab gar keine Veranlassung zu den Bemerkungen, die Sie gemacht haben. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen, daß selbst der letzte Abgeordnete heute gemerkt haben sollte, daß ich nicht so absolut als Einzelgänger hier gestanden habe, wenn ich auch nicht die Ehre hatte, für meine Fraktion zu sprechen.
({0})
Aber völlig aus dem Rahmen fällt es, wenn Sie denen, die dieses Gesetz nicht mit einer solchen Präambel verknüpfen wollen, unterstellen, daß sie den Anspruch auf die Heimat nicht herausstellen wollen.
({1})
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß wir das schon bei mehr als einer Gelegenheit getan haben, und zwar auf unsere Anregung zuletzt bei der zweiten Lesung des EVG-Vertrages. Ich lehne es ab, ein Gesetz, das unter diesem Vorzeichen gestanden hat, mit solch einem Schild zu versehen.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Zawadil.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Fraktionsfreund Ewers hat dem Kollegen Reitzner schon entsprechend geantwortet. Ich möchte nur noch eines feststellen. Herr Kollege Reitzner, Sie haben erklärt, die DP hätte geschlossen gegen die bewußten Anträge usw. gestimmt. Ich erkläre hier, daß das eine Unwahrheit ist. Das müssen Sie mir erst beweisen.
({0})
Wir haben keinen Fraktionszwang. Bei uns konnte jeder nach seinem Gewissen und nach seiner Überzeugung stimmen. Das haben wir auch getan.
({1})
Im übrigen: Warum soll nicht durch meinen Mund eine Befürwortung der Präambel zum Ausdruck kommen, gleichgültig, ob das Gesetz angenommen oder abgelehnt wird! Wenn ich auch innerlich zu einem Nein neigen sollte, ist damit noch nicht gesagt, daß das Gesetz nicht angenommen wird. Wenn es aber angenommen wird, sollte es auch diese Präambel erhalten.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag zur Präambel Umdruck Nr. 818. Ich bitte diejenigen, die ihm zustimmen, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das letzte ist die Mehrheit. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich nomme noch zu Einleitung und Überschrift und darf wohl die Zustimmung des Hauses annehmen.*)
*) Vergl. Anlagen 1 und 2 Seiten 12284, 12285.
({0})
Damit, meine Damen und Herren, sind wir mit der Beratung zu Ende. Mir ist mitgeteilt worden, daß interfraktionell die Vertagung der Schlußabstimmung auf die Freitagsitzung vereinbart ist. - Ich nehme die Zustimmung des Hauses dazu an.
Das Wort hat noch Herr Abgeordneter Müller, der über eine notwendige Berichtigung des Textes sprechen will.
Meine Damen und Herren! In § 57 Abs. 2 heißt der letzte Satz: „§ 51 Abs. 1 Satz 4 ist vom Inkrafttreten dieses Gesetzes ab entsprechend anzuwenden". Nachdem der Änderungsantrag des Abgeordneten Dr. Kather - es waren noch zwei andere Antragsteller -, diesen § 51 in der Fassung der Ausschußvorlage wiederherzustellen, abgelehnt und der Beschluß der zweiten Lesung bestehen geblieben ist, muß der letzte Satz gestrichen werden, weil die zitierte Bestimmung nicht mehr existiert.
Meine Damen und Herren! Sie haben von der Berichtigung Kenntnis genommen. Ich darf wohl annehmen, daß sie Ihre Zustimmung findet. Berichtigungen für Texte, die hier nicht vorgelegen haben, sind nach der Geschäftsordnung während der Abstimmung immer noch möglich. Ich habe vorhin darauf hingewiesen.
Ich darf also diesen Punkt der Tagesordnung nun verlassen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Wellhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem es wegen des Zeitmangels unmöglich ist, heute die dritte Beratung des Mineralölsteuergesetzes vorzunehmen, müssen wir auf den Antrag der Fraktion der FDP betreffend den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung des Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes Drucksache Nr. 4171 zurückkommen. Es ist eine interfraktionelle Vereinbarung zustande gekommen, daß dieses Gesetz heute in erster, zweiter und dritter Lesung verabschiedet wird. Ich stelle den Antrag, den Gesetzentwurf Drucksache Nr. 4171 alsbald in erster Lesung zu behandeln.
Meine Damen und Herren, es ist beantragt, die erste, zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes Drucksache Nr. 4171 auf die Tagesordnung zu setzen und sofort mit der Beratung zu beginnen. Dem wird nicht widersprochen?
({0})
- Sie wollen zuerst das Israel-Abkommen! Meine Damen und Herren, nachdem widersprochen wird, muß ich nach der Geschäftsordnung verfahren. Schon bei Widerspruch von fünf Abgeordneten kann ich diese Sache nicht behandeln.
Unter diesen Umständen rufe ich also den nächsten Punkt der Tagesordnung auf:
6. Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend das Abkommen vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel ({1}). Mündlicher Bericht des
Ausschusses für das Besatzungsstatut und ( auswärtige Angelegenheiten ({2}) ({3}) ({4}).
Das Wort zur Berichterstattung hat Herr Abgeordneter Graf von Spreti.
Graf von Spretl ({5}), Berichterstatter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vom Ausschuß für das Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten bin ich als Berichterstatter für die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel bestimmt worden. Ich möchte vorausschicken, daß die Aufgabe, die mir hier gestellt worden ist, wohl eine der schwierigsten darstellt angesichts des Charakteristikums dieses Gesetzes, daß es eine rückwirkende Schau verlangt.
Ich kann nicht umhin, etwas in die Vergangenheit zu blicken, um auf das hinzuweisen, was sich in den Jahren 1933 bis 1945 ereignet und dem deutschen Namen Unehre gebracht hat. Sie gestatten mir, daß ich Sie kurz, beinahe stenographisch, an den Ausbruch des Antisemitismus in 1933 erinnere, an die Herausforderung am 1. April, als die SA-Posten vor den jüdischen Geschäftshäusern standen, daß ich Sie an die Judengesetzgebung von Nürnberg erinnere und an all das, was damit zusammenhing, bis zuletzt zu den Verhaftungen, Ausweisungen und Enteignungen. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere, wie in mancher Nacht das eine oder andere Familienpaar einen Selbstmord begangen hat oder andere in der späten Nacht von der Gestapo verhaftet und verschleppt wurden. Ich muß weiter darauf hinweisen, daß in dieser Zeit KZs, Gettos und Vernichtungslager bestanden haben, die mit Tausenden von Menschen vollgepfropft wurden und dem systematischen Versuch der Vernichtung dienten.
Bei diesem Rückblick auf die Vergangenheit habe ich einen Satz zu zitieren, der neulich in einer Zeitung bei einer Kritik über ein Buch zu finden war:
Wenn ich heute die Augen schließe, dann höre ich wieder die Schreie der Gefährten, die gefoltert wurden, die Schüsse, unter denen sie zusammensanken, das Klicken des Fallbeils, unter dem sie ihr Heldentum besiegelten.
Ich fühlte mich darum veranlaßt, nach der Erklärung der Bundesregierung einmal die Presse durchzugehen, und ich konnte nur feststellen, daß nach dieser Erklärung und nach der Unterzeichnung in Luxemburg die ganze in- und ausländische Presse ein einmütiges Verständnis für diesen Akt der Wiedergutmachung gefunden hat. Als einziger hat der „Manchester Guardian", einen Satz geprägt: „Die Summe ist nicht groß im Vergleich zu den Verbrechen", und die Zeitung sagt weiter „50 Pfund pro toter Jude".
Ich glaube, hier muß der Mensch doch versuchen, einen Halt zu machen, und ich möchte daher ein Wort von Guardini zitieren, in dem er davon spricht, daß dieses Unrecht, das auf Deutschland liegt, in irgendeiner Form verarbeitet werden muß. Er sagt weiter, er müsse darauf aufmerksam machen, daß „in der Geschichte unserer letzten 20 Jahre ein Ungeheuerliches steht, das noch vollkommen unausgearbeitet ist". Er erläutert diese Ausarbeitung und meint: „Im übrigen muß es sittlich geschehen."
({6})
Dieser Versuch wird von der Deutschen Bundesregierung unternommen und hat dazu geführt, daß die Regierung hier am 27. November 1951 eine Erklärung abgegeben hat. Vielleicht darf ich daran erinnern - auch für die, die es nicht wissen, möchte ich es sagen -, daß ein Mitglied dieses Hauses, das wohl im Kreise seiner Angehörigen das Fürchterlichste erlebt hat, bereit war, als erster mit dem Herrn Bundeskanzler ein Gespräch hierüber zu beginnen, da er es als seine Aufgabe empfand, als Mitglied dieses Hohen Hauses zu versuchen, das deutsche Volk mit dem jüdischen Volk auf eine friedliche Ebene zu bringen. Diese Versuche begannen, und es hat eine Zeit gedauert, bis die Vertreter des Staates Israel sich einverstanden erklärten, ein Zeichen zu geben, daß sie zu einem Gespräch bereit wären.
Vielleicht darf ich auch einige Kollegen dieses Hauses an die Tagung in Istanbul erinnern, wo gerade die Vertreter des israelischen Volkes sich weigerten, sich mit den deutschen Abgeordneten an einen Tisch zu setzen. Nach der Heimkehr der Delegierten dieses Hauses hat ein Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler stattgefunden, und vielleicht, das möchte ich hier sagen, hat gerade diese Erfahrung die Bundesregierung damals veranlaßt, diese Erklärung noch schneller abzugeben, als es vielleicht vorgesehen war.
Der Herr Bundeskanzler sagte in seiner Erklärung:
Es hat in der Zeit des Nationalsozialismus im deutschen Volke viele gegeben, die mit eigener Gefährdung aus religiösen Gründen, aus Gewissensnot, aus Scham über die Schändung des deutschen Namens ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt haben.
Das ist wahr. Aber es hat sich in jener Zeit zu viel ereignet, als daß man es mit diesen Taten des Mutes und des inneren Anstandes verdecken könnte. Der Herr Bundeskanzler hat deshalb hier erklärt, es müßten „Grenzen berücksichtigt werden, die der deutschen Leistungsfähigkeit durch die bittere Notwendigkeit der Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertriebenen gezogen" seien, aber er hat weiter erklärt:
Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel, der so viele heimatlose jüdische Flüchtlinge aufgenommen hat, eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern.
Ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten vielleicht einige Sätze zitieren, die die Vertreter der verschiedenen Parteien im Anschluß an die Regierungserklärung gesprochen haben.
Der Herr Alterspräsident Löbe sagte im Namen der Sozialdemokratischen Partei u. a.:
Jeder rechtlich denkende Mensch schämt sich dieser Schandtaten, die unter Mißbrauch des deutschen Namens zum Entsetzen der überwiegenden Mehrheit auch des deutschen Volkes verübt worden sind,
und erklärte weiter:
Die furchtbare Größe des Unrechts, auf die der Herr Bundeskanzler eben auch hinwies, fordert von uns Opfer.
Herr Dr. von Brentano sprach für die CDU und sagte:
Das Maß der Achtung, das wir unseren Mitmenschen und auch unseren jüdischen Mitbürgern entgegenzubringen bereit sind, wird das Maß der Achtung bestimmen, das wir für uns selbst begehren.
Für die FDP sagte Herr D r. Schäfer:
Ich glaube nicht, daß weitere Worte geeignet sind, die Entschlossenheit und die Klarheit der Absichten zum Ausdruck zu bringen, die hinter dieser Regierungserklärung stehen,
und fuhr fort:
Ich möchte mich darauf beschränken, die Billigung auch im Namen meiner Freunde auszusprechen.
Herr Dr. von Merkatz erklärte für die DP:
Wir billigen nicht nur die Erklärung der Regierung, wir unterstützen sie von ganzem Herzen, denn es gilt, einen Frevel, der wider göttliches und menschliches Recht begangen worden ist, wiedergutzumachen.
Für das Zentrum sprach Herr D r. Reismann; er sagte:
Die feierlichen Erklärungen aller Parteien hier im Bundestag und die Erklärung der Bundesregierung vor der gesamten Öffentlichkeit der Welt mögen dazu beitragen, daß das erklärliche Ressentiment bei denen, die so schweres Leid durch eine voraufgegangene Regierung Deutschlands haben ertragen müssen, aus der Welt geschafft wird. In diesem Sinne danken wir der Bundesregierung für die abgegebene Erklärung.
Zuletzt sprach Herr Dr. Decker für die Bayernpartei; er kennzeichnete den Standpunkt seiner Fraktion mit dem Satz:
Wer sich zum Rechtsstaat bekennt, muß sich auch zur Erklärung des Herrn Bundeskanzlers bekennen, sie begrüßen und unterstützen.
Es ist in der letzten Zeit vielleicht manches gesprochen und kritisiert worden, und es ist daher notwendig, daß man, wenn man über dieses Problem spricht, den Versuch macht, auch zu verstehen, welche Gefühlsmomente in einer Gruppe, die einer Konfession, und zwar der jüdischen Konfession angehört, spürbar, vielleicht sogar lebendig werden bei dem Gedanken, mit denen in ein Gespräch zu kommen, die an diesem Unheil - zum mindesten einmal unter dem Begriff ,,Deutsche" -irgendwie mit teilgenommen haben oder schuldig sind.
Es hat keinen Sinn, das Wort „schuldig" klein zu schreiben. Wir müssen zu verstehen versuchen, daß Europäer und Israeliten, d. h. die Bewohner des Staates Israel, völlig verschieden denken. Auf der einen Seite, bei uns, herrscht ein säkulares Denken, auf der anderen Seite ein völlig theokratisches und auch gemischt theokratisch-säkulares Denken. Das ist das große Problem in Palästina. Hier stehen sich zwei gegenüber, die vielleicht leicht aneinander vorbeireden könnten. Daß sich dieses Säkulare und Theokratische in Palästina selbst stößt, ist für den, der die Geschicke und auch die psychologischen Momente zu studieren versucht, auf Schritt und Tritt zu finden. So haben in Palästina große Fragenkomplexe ihren Einzug gehalten, die vielleicht sogar dazu geführt haben, daß
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man von Palästina als einem Notstandsgebiet sprechen kann. Es ist falsch, zu glauben, es gebe in Palästina keinen Widerstand gegen den von uns gemachten „Versuch", einen sogenannten moralischen Wiedergutmachungsbeitrag zu leisten. Im Gegenteil, gerade die Abstimmung im israelischen Parlament hat gezeigt, daß die Möglichkeit, im Namen der dortigen Regierung Delegierten den Auftrag zu geben, mit Bonn in irgendeinen Kontakt
zu kommen, nur mit einer sehr schwachen Mehrheit geschaffen worden ist. Daher haben die dafür bestimmten hiesigen Kreise die Aufgabe gehabt, ein feines Ohr für dieses theokratisch-biblische Denken zu zeigen und dieses Denken auch zu respektieren.
Sie wissen, daß zur gleichen Zeit, als die Verhandlungen begannen, sowohl hier in Deutschland als auch im Haag Attentatsversuche eine Rolle gespielt haben. In München kam es zur Explosion, die ganze Öffentlichkeit war in Besorgnis versetzt, und es grenzt fast an ein Wunder, daß das Attentat auf den Delegationsleiter im Haag keinen tödlichen Ausgang nahm.
Nun zu der Frage, ob die Angabe einer Zahl von 500 000 Emigranten, d. h. eingewanderten Flüchtlingen jüdischer Konfession, mit den Tatsachen übereinstimmt, oder ob das eine Zahl ist, die aus einer Phantasiestatistik stammt. Hier muß ich Sie bitten, Verständnis aufzubringen und einen Rückblick zu tun in eine Zeit, deren Schuld wir nicht leugnen können. Ein Teil dieser Menschen wanderte nämlich seit 1933 systematisch aus. Wir erinnern uns vielleicht der großen Kisten, auf denen die Orte verzeichnet waren, an denen diese Verfolgten oder Flüchtenden Unterschlupf zu finden suchten. Manch einer erinnert sich vielleicht, damals neben den Aufschriften „London" oder „Südamerika" oder „Nordamerika" häufig auch den Namen „Tel Aviv" gefunden zu haben.
Die weitere Frage, ob diese 500 000 wirklich alle aus Deutschland sind, ist zu verneinen. Man muß sich, um das zu verstehen, daran erinnern, daß ja eigentlich der Nationalsozialismus es war, der mit dem Vorrücken der Kriegsereignisse die Welle des Antisemitismus vor sich her trieb, als man diese Leute entweder verhaftete und vernichtete oder sie durch einen psychologischen Druck zwang, wieder auszuwandern. In der Tschechoslowakei, in Rumänien, in Ungarn waren die fürchterlichsten Dinge festzustellen. Nach 1945 aber machten wir die Feststellung, daß diese jüdischen Emigrantenkreise, die aus den KZs oder aus den Ghettos zurückwandern wollten, den Versuch unternahmen, irgendwie wieder in der alten Heimat seßhaft zu werden, aber durch die Auflösung ihrer Kommunität nicht mehr die Möglichkeit fanden, zu verbleiben, da sich auch dort ein gewisser Antisemitismus breitgemacht hatte. Sie sind dann nach Israel weitergewandert. Diese Gruppe ist der Streitpunkt, und wir müssen anerkennen - das hat auch die Delegation in ihrem Bericht an den Außenpolitischen Ausschuß anerkannt -, daß wir von diesem Faktum nicht abkommen konnten.
Die weitere Frage ist die Deckungsfrage, und die macht natürlich vielen, die den Haushalt der Bundesregierung mit großer Sorge verfolgen, Kopfschmerzen. Wir dürfen diese Deckung nicht bagatellisieren. Die Frage ist nur - und da möchte ich wieder auf den Satz des Herrn Alterspräsidenten Löbe zurückkommen -, ob nicht hier das Wort „Opfer" am Platze ist. Wir müssen der Öffentlichkeit, und zwar der ganzen Welt, zeigen, daß das deutsche Volk bereit ist, die Friedenshand zu bieten und auch die Friedenshand anzunehmen.
Mit etwas Befremden hat es der Außenpolitische Ausschuß bei der Besprechung dieses Vertragskomplexes empfunden, daß, während wir uns in einer seelischen Not befinden und aus dieser seelischen Not herauszukommen versuchen, gerade in diesem Moment in den arabischen Ländern eine gewisse Gegenbewegung auftrat, die geeignet sein könnte, diesen unseren Wiedergutmachungsversuch zu stören. Ich glaube sagen zu können - und das möchte ich mit Betonung sagen -, daß gerade die arabischen Länder, und zwar insbesondere das islamische Volk, in ihrer Geschichte den Beweis geliefert haben, daß gerade der Islam ein sehr starkes Rechtsgefühl hat. Ich nehme an, daß die arabischen Länder aus diesem Gefühl heraus auch für den Wiedergutmachungsversuch der deutschen Bundesregierung Verständnis aufbringen werden. Daß aber zur gleichen Zeit, als die deutsche Delegation in Kairo war, eine Ostzonendelegation empfangen wurde, kann nicht anders als mit einer gewissen Verwunderung vermerkt werden.
Gestatten Sie mir, daß ich nach dieser Einleitung auf den Vertrag selbst zu sprechen komme. Ich muß Sie aber bitten, sich darüber klarzuwerden, daß in der Erklärung der Conference on Jewish Material Claims against Germany der Satz geprägt worden ist: Wir sind bereit, über gewisse Ansprüche materieller Natur zu verhandeln. Wir haben jedoch die Pflicht, von vornherein klarzustellen, daß eine Verhandlung über moralische Ansprüche nicht stattfinden kann. Es wird weiter gesagt, das sei nur durch eine seelische Bereinigung möglich. Dies war der Ausgangspunkt der Bundesregierung, und zwar hat man den Versuch gemacht, die verschiedenen Interessen in diesem Abkommen auf einen Nenner zu bringen.
Art. 1 besagt, daß es kein völkerrechtlicher Akt ist, und setzt die Summe von 3 Milliarden fest. Diese Summe ist errechnet auf Grund der Erfahrungen, die uns auch das Flüchtlingsministerium zur Verfügung gestellt hat, wobei wir gerade aus dem Sonne-Plan feststellen können, daß die Kosten für die Eingliederung eines Flüchtlings sich zwischen 7000 und 10 000 Mark bewegen und man sich auf 7000 Mark geeinigt hat. Dabei verringert sich die Summe für die Eingliederung des Flüchtlings in Palästina noch um 1000 Mark. Ein zweiter Posten sind die 450 Millionen Mark, die von der Conference on Jewish Material Claims against Germany beansprucht werden. Diese Summe ist vorgesehen für die Wiedergutmachung an den Juden, die nicht in Palästina ansässig sind.
Art. 2 setzt die Waren fest, die zu liefern sind. Wenn ich das Wort „Ware" ausspreche, so muß ich hier erwähnen, daß über den Begriff „Ware" eine Diskussion stattfand, daß man zwischen Devisen und Waren abwog. Hier hat gerade Herr Direktor Abs die Meinung vertreten, man müsse
die Gleichsetzung von Waren mit Devisen vornehmen und man müsse, wenn man schon von einer Ware als Entgelts- bzw. Zahlungsmethode spreche, dies tatsächlich mit vollem Bewußtsein und nicht auf versteckte Weise tun.
Art. 3 spricht von der Jahresleistung.
Art. 4 ist auf Wunsch Israels eingefügt worden; danach soll eine eventuelle wirtschaftliche Blüte in Deutschland berücksichtigt werden. In dieser Be({8})
stimmung wird aber auch von einer Anleihe gesprochen, die Deutschland aufnehmen könnte. Es liegt vielleicht auch im Interesse des ganzen Deutschen Bundestags, wenn ich die Bitte ausspreche, daß uns von ausländischen Mächten in dieser Hinsicht Verständnis entgegengebracht werde.
Art. 5 regelt die Lieferung und steht im Zusammenhang mit dem Schreiben Nr. 2. Hiermit soll ein Anreiz für die Wirtschaft gegeben werden. Es ist festgelegt, daß keine Diskriminierung gegenüber Exporten nach dritten Ländern erfolgen darf, was insbesondere auch für Preise gilt, die gegenwärtig oder künftig der Einwirkung behördlicher Maßnahmen unterliegen. Auch ist in dieser Bestimmung die steuerliche Behandlung vorgesehen.
Art. 6 enthält die Warenliste, und Art. 7 trifft die Feststellung, daß es keine deutsche Zentrale gibt und daß die Isrealische Mission hier selbständig einkaufen kann. Jedoch ist eine Bundesstelle vorgesehen, und zwar soll die „Bundesstelle für den Warenverkehr der gewerblichen Wirtschaft" diese Aufgaben übertragen bekommen.
Art. 9 regelt das bankmäßige Verfahren und hat dazu einen Anhang.
Ich darf hier einen Sprung machen und Ihr Augenmerk auf die beiden Protokolle lenken. Das Protokoll Nr. 1 stellt den Rahmen für die individuelle Wiedergutmachung mit Bezug auf das kommende Wiedergutmachungsgesetz fest. Das Protokoll Nr. 2 betrifft die Jewish Claims Conference und regelt die Verwendung dieser Gelder und statuiert auch eine Meldepflicht.
Ich bin am Ende meiner Ausführungen und möchte Sie abschließend um eines bitten. Tatsächlich müssen wir in Jerusalem einen Schnittpunkt zwischen altem und neuem Testament feststellen. Möge es gelingen, daß mit diesem Schnittpunkt der Friede von einem zum anderen geschaffen wird, vom alten zum neuen Testament, und daß der gute Wille auch dazu beiträgt, den anderen zu zeigen, daß mit diesem guten Willen große Mißstände und große psychologische Differenzen überbrückt werden können.
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Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gerstenmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, namens meiner politischen Freunde folgendes vorzutragen.
Zu den unbegreiflichsten Erscheinungen der neueren Geschichte wird immer jener Ausbruch von Wahnsinn gehören, dem schätzungsweise sechs Millionen deutsche, französische, belgische, polnische, russische, ungarische, dänische und andere europäische Bürger zum Opfer gefallen sind. Mit systematischer Methode und einer nahezu perfekten Technik wurden sie, vom Säugling bis zum Greis, erschossen, vergast, vernichtet aus keinem anderen Grund als dem, weil sie angeblich oder wirklich Menschen „anderen Blutes", Menschen jüdischer Rasse seien. Der Befehl war ergangen, Deutschland, „Großdeutschland", ja Europa „judenfrei" zu machen. Wer nicht entrann, verfiel dem Henker. Der den Befehl gab und die ihn ausführten, waren ruchlose Mörder.
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Aber sie hatten die Macht in Deutschland und sie sprachen im Namen, jedenfalls aber zu Lasten Deutschlands. Es gab Hunderttausende in Deutschland, denen darüber das Grausen ankam. Es gab Tausende, die gequält Hilfe zu bringen versuchten. Und es gab nicht wenige, die ihren Hals an diese Hilfe gewagt und ihn dabei verloren haben. Diesen Blutzeugen der Menschlichkeit, Vertreter des deutschen Volkes, hat es Deutschland in erster Linie zu danken, wenn es den Satz von der Kollektivschuld aller Deutschen ablehnen darf.
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Aber ihre Schar ist bei weitem nicht groß genug, um den anderen Satz von der Kollektivunschuld aufstellen zu können. Wie Schuld und Unschuld sich hier auch immer mischen mögen, das eine steht fest: im Namen und zu Lasten Deutschlands wurden die Bürger jüdischer Rasse im Machtgebiet des Dritten Reichs in die Ghettos und von dort in die Verbannung oder in die Gasöfen geschickt. Das Ergebnis war der Gegenschlag der Geschichte, dessen Zeugen wir geworden sind. Das Ergebnis war: Deutschland, ganz Deutschland wurde in ein großes Ghetto verwandelt. Unüberwindlicher als die Mauern eines orientalischen Ghettos waren für uns Deutsche die Mauern von Haß, Verachtung und Ablehnung, die schon vor dem Kriege um uns gezogen wurden und die nach dem Kriege uns gefangen hielten.
Es ist wahr, in diese Mauern um Deutschland sind Breschen geschlagen, breite Breschen sogar, Wir halten es für eine der größten Leistungen der deutschen Politik nach dem Krieg, insbesondere der Außenpolitik der Bundesregierung, daß sie mit Beharrlichkeit und Vertrauen schaffender Gradlinigkeit Deutschland aus diesem Ghetto weithin herauszuführen vermochte. Aber nur rührende Weltfremdheit oder dreiste Vergeßlichkeit kann so tun, als ob wir in diesem Stück über den Berg wären, als ob die Ablehnung Deutschlands, als ob seine moralische und politische Verurteilung endgültig überwunden oder in dieser Welt vergessen wären. Dazu bedarf es mehr als eines naiven Gemüts oder unbekümmerter Vergeßlichkeit. Hier kommt es auch nicht nur auf gutgemeinte Worte an, hier kommt es auf die Respekt gewinnende Dokumentation einer neuen Gesinnung an. Wir glauben, daß hier der allgemeine geistige und der besondere politische Ort ist, von dem aus dieser erste Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staate Israel verstanden und beurteilt werden muß.
Dieser Vertrag entspringt, was Deutschland anbetrifft, dem festen Willen, einer klar und genau empfundenen sittlichen Verpflichtung nach dem Maße unserer nationalen Kraft einen materiellen Ausdruck zu geben. Und dieser Vertrag hat das Ziel, Deutschland aus dem Ghetto ganz und für immer herauszubringen. Ich sehe nicht ein, warum nicht beides frei ausgesprochen werden sollte. Deutschland hat in dieser Sache eine unabweisbare doppelte Pflicht, erstens gegenüber den Opfern der Tyrannei, zweitens gegenüber sich selbst, seinem Namen und seiner geschändeten Ehre. Wir sind nicht bereit, darüber erst noch in Diskussionen einzutreten. Aber es ist uns bewußt, daß im Zusammenhang mit diesem Vertrag noch einige Fragen klargestellt werden müssen:
1. Die Frage der individuellen Wiedergutmachung. Ehe dieser Vertrag - meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, daß ich darauf aufmerksam mache - verhandelt und unterzeichnet wurde, hat
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sich dieses Haus mit einem Wiedergutmachungsgesetz befaßt und am 3. Juli 1952 den Antrag des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht angenommen. Danach ist die Bundesregierung ersucht worden, „den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, das die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus durch ein Bundesergänzungs- und -rahmengesetz regelt". Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Bundeskanzler! Wir bestehen darauf, daß dieses Gesetz nach den Grundsätzen, über die bereits hier Beschluß gefaßt ist, so schnell wie möglich vorgelegt wird; denn wir bestehen auf einer individuellen Wiedergutmachung für alle Opfer des Nationalsozialismus ohne Rücksicht auf Rasse und Konfession.
2. Wir wissen, daß auch über alle individuelle Wiedergutmachung hinaus ein Rest bleiben wird, der nicht aufgeht. Wir wissen, daß auch die materiellen Opfer des europäischen Judentums durch die Massenmordaktionen so unübersehbar groß sind, daß die individuelle Wiedergutmachung sie gar nicht zu erfassen vermag. Wer soll denn für vollständig ausgemordete Familien, für ausgemordete Sippen und Dörfer auftreten? Wir wissen auch, daß das Übermaß der Leiden und der Erschlagenen nicht mit 31/2 Milliarden D-Mark zu bezahlen ist. Wir halten es deshalb für richtig, diesen Betrag für eine halbe Million in Israel Lebender zu geben, in Israel Lebender, denen das „Dritte Reich" einst die Existenzgrundlage geraubt hat. Wir wissen, daß auch dabei noch immer ein von uns nicht tilgbarer immaterieller Rest bleibt, der nur der Hoffnung auf künftige Versöhnung überlassen bleiben kann.
3. Meine Damen und Herren! Wir bedauern, daß dieser Vertrag zu einer zeitweiligen Trübung des deutscharabischen Verhältnisses geführt hat. Wir legen Wert auf die alte Freundschaft Deutschlands zu den arabischen Staaten, und was von unserer Seite für die moralische und politische Unterstützung der arabischen Flüchtlingsaktionen getan werden kann, das sollte getan werden. Aber die Brücke, die wir Deutschen in dieser Sache nun einmal zu betreten haben, führt von den im Namen Deutschlands verjagten und ermordeten Juden nicht zu den Arabern, sondern zu Israel. Wir begrüßen die Bemühungen der Bundesregierung, mit den arabischen Staaten in enger Freundschaft und in fruchtbaren wirtschaftlichen Beziehungen zu leben. Aber wir können und werden uns auch von den arabischen Freunden Deutschlands nicht hindern lassen, das zu tun, was Gewissen und Ehre uns gebieten. Die Araber mögen auch daran erkennen, wie verläßlich die Freundschaft eines solchen Deutschlands in kritischen Situationen sein mag.
Meine Damen und Herren! Ein in Ehren ergrauter Diener des preußischen Staates, ein alter Berliner Sanitätsrat, wurde in jenen ruchlosen Jahren mit seiner Familie abgeholt und in die Krematorien von Theresienstadt geschickt. Der Sohn entrann nach Schweden. Er kam zurück im Winter 1945/46. Er arbeitete hingebungsvoll und ohne Vorbehalt am Wiederaufbau Deutschlands.
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Wohl als einziger Deutscher hielt er im letzten Jahre an einer bayerischen Universität eine Gedenkrede auf Preußen als „einen teuren Toten". Die Rede ist seinem ermordeten Vater gewidmet und heißt „Die Ehre Preußens". Meine Damen und
Herren! Es scheint mir: Es ist Zeit, es ist hohe Zeit, daß wir uns nicht länger beschämen lassen. Das gebietet die Ehre Deutschlands! Darum sagen wir ja zu diesem Vertrag.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schmid.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der sozialdemokratischen Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Durch die Schreckensherrschaft, die von den Gewalthabern des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland und den von ihnen besetzten Ländern aufgerichtet worden ist, sind Verbrechen ohne Zahl begangen worden. Millionen unschuldiger Menschen wurden in die Konzentrationslager gesperrt, ermordet oder aus ihrer Heimat vertrieben. Am fürchterlichsten hat diese Barbarei die Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung getroffen. Millionen von ihnen sind ermordet worden, Hunderttausende wurden aus ihrer Heimat verschleppt und verjagt, Hunderttausende mußten nachträglich ihr durch die Folgen des nationalsozialistischen Terrors unwirtlich gewordenes Land verlassen.
Die Sozialdemokratische Partei hat seit je die Wiedergutmachung dieses Millionen von Deutschen und Ausländern angetanen Unrechts verlangt. Es ist insbesondere der verstorbene Dr. Kurt Schumacher gewesen, der unermüdlich auf die besonders dem jüdischen Volk gegenüber erwachsene vorrangige Verpflichtung zur Wiedergutmachung hingewiesen hat.
Gemäß dieser Überzeugung hat die sozialdemokratische Fraktion am 22. Februar 1951 durch ihren Sprecher erklären lassen, daß das deutsche Volk den Juden gegenüber eine besondere moralische Verpflichtung zur Wiedergutmachung anzuerkennen habe und daß den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus darum ein besonderes Anrecht auf die dem deutschen Volke möglichen Wiedergutmachungsleistungen zu gewähren sei.
Moralische Verpflichtungen verlangen aber stärkere Bemühungen als die Einlösung einer nur durch die Normen des geschriebenen Rechtes begründeten Schuld. Darum muß um der Gerechtigkeit willen bis an die äußerste Grenze des deutschen Leistungsvermögens gegangen werden. Die sozialdemokratische Fraktion lehnt die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes ab wie auch jene andere, ebenso falsche, von der Kollektivunschuld. Doch hat auch ohne Kollektivschuld die Gesamtheit der Deutschen innerhalb der Grenzen der Leistungsfähigkeit unseres Volkes für die Wiedergutmachung des Unrechts einzustehen, das unter Schändung seines Namens begangen worden ist.
Die sozialdemokratische Fraktion hat am 22. Februar 1951 durch ihren Sprecher weiter erklären lassen, daß sie den Staat Israel für berechtigt halte, Kollektivansprüche des jüdischen Volkes zu vertreten, weil der Staat Israel auch von der großen Masse jener Juden, die Bürger anderer Staaten bleiben wollen, über eine bloße moralische Autorität hinaus als legitimiert angesehen wird, für alle Juden zu handeln, die sich nicht anderswo gebunden fühlen. Die Fraktion wird dieser Haltung treu bleiben.
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Der mit dem Staat Israel abgeschlossene Vertrag darf in nichts die Erfüllung der Verpflichtungen einschränken, die allen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung gegenüber individuell erwachsen sind. Die sozialdemokratische Fraktion erwartet, daß das Wiedergutmachungsgesetz allen denen, die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen an Hab und Gut, Leib, Leben und Freiheit Schaden gelitten haben, ausreichend und rasch Entschädigung gewährt werden wird, ohne Rücksicht darauf, ob sie in der Fremde oder in Deutschland leben. Sie findet es im höchsten Maße bedauerlich, daß so viele Ansprüche bisher noch nicht oder nicht genügend erfüllt worden sind.
Die Fraktion gibt weiter ihrem Bedauern Ausdruck, daß die Verhandlungen mit dem Staate Israel ohne ausreichende gleichzeitige Unterrichtung der arabischen Staaten geführt worden sind. Wäre eine solche Unterrichtung in geeigneter Weise erfolgt, hätten sich die Schwierigkeiten leichter vermeiden lassen, die nunmehr im Verhältnis zu den arabischen Staaten aufgetreten sind. Die sozialdemokratische Fraktion erwartet, daß die Bundesregierung alles Zumutbare tut, um durch wirtschaftliche Vereinbarungen die Beziehungen zu den arabischen Staaten im Sinne der traditionellen Freundschaft unserer Völker zu normalisieren. Sie verurteilt auf das schärfste die Beteiligung deutscher Kreise an den Versuchen, das Zustandekommen und die Ratifikation des Israel-Vertrages zu verhindern.
Die sozialdemokratische Fraktion hofft, daß der Abschluß und die Ausführung des Vertrags mit dem Staate Israel von der gesamten Welt als ein Zeichen des ernsten Willens des deutschen Volkes begriffen werden möge, wenigstens etwas von dem entsetzlichen Unheil wiedergutzumachen, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über das deutsche Volk und die anderen von ihr heimgesuchten Völker gebracht hat. Sie ist sich bewußt, daß auch mit diesem Vertrage nichts von dem Leid weggenommen oder gar ungeschehen gemacht werden kann, das Millionen von Menschen angetan wurde, von denen so viele treueste Bürger des deutschen Staates und wertvollste Glieder unseres Volkes gewesen sind, deren Namen für alle Zeiten auf den schönsten Blättern des Ehrenbuchs unserer Nation verzeichnet stehen werden, dieser deutscher. Nation, die durch die Ermordung oder Verjagung unserer jüdischen Mitbürger auf jeder Ebene ihrer Existenz im Kern getroffen worden ist.
Wir möchten nicht, daß der Abschluß dieses Vertrages dahin mißverstanden wird, das deutsche Volk glaube damit diese Verbrechen vergessen gemacht zu haben. Wir fordern das deutsche Volk auf, alles zu tun, was der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts zu dienen vermag, und in Geduld und ohne zu fordern abzuwarten, ob ihm eines Tages von den Nachfahren und Gefährten der Opfer der Barbarei, die seinen Namen geschändet hat, die Versöhnungshand gereicht werden wird. Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird dem Vertrag zustimmen und beantragt namentliche Abstimmung.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hasemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem
Staate Israel soll dazu dienen, einen Schlußpunkt zu setzen hinter eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, eines Kapitels, das den deutschen Namen mit Schmach und Schande bedeckt hat. Dieses Abkommen basiert auf der Erklärung der Bundesregierung vom 27. September 1951 über das Wiedergutmachungsproblem im Verhältnis zum Staate Israel, das der Bundestag seinerzeit einmütig gebilligt hat. Die Bundesregierung hat sich seit Jahren konsequent und intensiv bemüht, das moralische Ansehen der Bundesrepublik in der Welt wiederherzustellen und überzeugende Beweise dafür zu liefern, daß das deutsche Volk selbst unter Zurückweisung einer Kollektivschuld in seiner Gesamtheit dazu aufgerufen und auch willens ist, erduldetes Unrecht und erduldeten Schaden wiedergutzumachen. Für meine Fraktion darf ich feststellen, daß sie die Bundesregierung bei diesem Bemühen in jeder Beziehung voll unterstützt hat, und zwar sowohl aus menschlichen wie auch aus politischen Gründen. Wir wissen, daß es sehr schwer ist, allein die dem Judentum und allen anderen Opfern des Nazismus zugefügten materiellen Schäden in gerechter Weise zu ersetzen. Wir wissen auch, daß es noch schwerer ist, für die erlittene seelische Marter Entschädigung zu leisten, und wir wissen schließlich, daß es für den erlittenen Tod keine Abgeltung gibt. Wir werden immer bereit sein, den gerechten Anspruch eines jeden Opfers anzuerkennen und in den Grenzen der gegebenen Möglichkeiten zu befriedigen, und an diesem Rechtsanspruch der Opfer des Naziregimes ist nicht zu deuteln.
Das Abkommen mit dem Staat Israel ist nun keine materielle Wiedergutmachung, die durch einen Rechtsanspruch begründet wäre, sondern dieses Abkommen ist ein Akt, der moralisch gewertet sein will und das deutsche Ansehen und den deutschen Namen in der Welt von bislang immer noch anhaftenden Schlacken reinigen soll. Auch in diesem Bemühen findet die Bundesregierung die prinzipielle Unterstützung meiner Fraktion.
Ob das vorliegende Abkommen geeignet ist, auch den notwendigen und gewünschten Effekt zu erzielen, ist eine umstrittene Frage, nicht nur umstritten in der öffentlichen Meinung, sondern auch umstritten in meiner Fraktion. Ein Teil meiner Freunde ist der Auffassung, daß dieser Vertrag kein besonders gut gelungenes Werk ist. Es ist müßig, diesen Vertrag gewissermaßen zu sezieren, seine Unzulänglichkeiten und Unklarheiten herauszupräparieren und Prognosen über seine Konsequenzen anzustellen. Es scheint mir nicht sinnvoll, hier im Plenum darüber zu diskutieren, ob und wie durch diesen Vertrag etwa die individuelle Wiedergutmachung zeitlich und finanziell beeinträchtigt wird, ob etwa die für die Wiedereingliederungskosten des Staates Israel zugrunde gelegte Zahl von insgesamt 500 000 vertriebenen Juden zutrifft oder wie es etwa möglich war, daß der Vertrag trotz der sogenannten Flaggenklausel unterschrieben wurde, die erst durch die Reaktion der Öffentlichkeit und durch die Intervention des Bundesrats gestrichen wurde. Über diesen Vertrag kann und darf es kein Feilschen in der Öffentlichkeit geben, wenn der moralische Effekt nicht verpuffen soll. Aber dennoch muß vielleicht gesagt werden, daß alle diese Fragen zweckmäßig vor der Unterzeichnung mit dem zuständigen Ausschuß des Bundestags hätten erörtert werden müssen, wie es etwa Herr Abs bei der Regelung der deutschen Auslandsschulden getan hat.
Wenn ich auch sagte, daß es mir nicht sinnvoll erscheint, den Vertrag hier gewissermaßen zu sezie({0})
ren, so muß in diesem Zusammenhang doch ein Problem erwähnt werden, das auch meine Vorredner schon angeschnitten haben: das ist die Wirkung dieses Abkommens auf die arabischen Staaten und darüber hinaus vielleicht auch auf die ganze mohammedanische Welt. Meine Fraktion teilt nicht die Sorglosigkeit der Bundesregierung in dieser Beziehung. Wir sind der Auffassung, daß die diplomatische Abschirmung gegen die Staaten der arabischen Liga nicht ausreichend war. Es sind nicht nur Erwägungen materieller Art, die sich von Export- oder Importzahlen mit dem arabischen Raum herleiten; es sind vielmehr auch Erwägungen politischer Natur, die uns Sorge bereiten. Wir möchten nicht, daß das große Maß von Vertrauen und Freundschaft, das Deutschland seit langer Zeit in der mohammedanischen Welt genießt, unüberlegt verspielt wird; denn unsere aufrichtigen Freunde in dieser Welt sind dünn gesät. Wir meinen, daß die Bundesregierung die berechtigten Belange und Auffassungen sowohl des Staates Israel als auch der arabischen Liga schon im Frühstadium der Verhandlungen hätte in Rechnung stellen und berücksichtigen müssen, die sich nun einmal aus der Situation ergeben, daß sich der Staat Israel noch im latenten Kriegszustand mit den arabischen Staaten befindet. Ich möchte an dieser Stelle die Hoffnung aussprechen, daß die arabischen Staaten Verständnis finden möchten für unsere Verpflichtung, das dem Judentum zugefügte Unrecht durch diesen Akt der Wiedergutmachung abzugelten.. Die Bundesregierung bitten wir dabei, durch weitere und, wie wir hoffen, sehr intensive Verhandlungen mit den arabischen Staaten zu versuchen, irgendwie durch großzügige Hilfe die aufrichtigen Gefühle der Freundschaft dieser Staaten für unser Volk und Land zu erhalten. Auf der andern Seite ist zu hoffen, daß der Akt guten Willens, der sich in diesem Vertrag zeigt, beim Staat und Volk Israel und darüber hinaus in der ganzen Welt die Resonanz findet, die wir von ihm erwarten. Dieser Vertrag ist ein einheitliches Ganzes, und er ist von der Bundesrepublik unterschrieben. Es gibt nur ein Ja oder ein Nein. Das Ja wird bei manchem nicht freudig sein. Ein Nein wird für manchen nicht möglich sein, weil trotz gewisser Bedenken der diesem Abkommen innewohnende moralische Effekt anerkannt wird und nicht gefährdet werden darf. Die Stellung meiner Fraktion zu diesem Vertrag ist daher nicht einheitlich. Die Entscheidung bleibt jedem nach seinem Gewissen frei.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang habe ich namens meiner Fraktion dem Hohen Hause eine _Entschließung vorzulegen, die mit Umdruck Nr. 795 verteilt wurde. Diese Entschließung knüpft an die Drucksache Nr. 3583 an. In der 229. Sitzung vom 11. September 1952 hat der Bundestag bei nur wenigen Enthaltungen einen Antrag des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht angenommen, der unter Ziffer 2 die Bundesregierung auffordert, alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen „über die rückerstattungsrechtlichen Verbindlichkeiten des Deutschen Reiches und die Behebung der durch die von der Besatzungsmacht vorgenommenen Regelung der Rückerstattung entstandenen offenkundigen Härten". Durch die von meiner Fraktion vorgelegte Entschließung soll die Bundesregierung aufgefordert werden, diesen Gesetzentwurf bis zum 1. Mai dieses Jahres vorzulegen.
Das von den Besatzungsmächten erlassene Rückerstattungsrecht hat in vielen Fällen ganz zweifellos eine unbillige Härte gegen gutgläubige, ja sogar gutwillige Erwerber jüdischen Vermögens geschaffen. Jeder von Ihnen wird Fälle kennen - denn es sind ihrer nicht wenige -, in denen der Erwerber in vollem Einverständnis, ja oft auf Wunsch des jüdischen Emigranten dessen Eigentum erworben hat. Die in solchen Fällen entstandenen Härten sollen nach dem damals fast einmütig bekundeten Willen des Bundestags beseitigt werden. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Sie unserer Entschließung zustimmen, worum ich Sie im Namen meiner Fraktion zu bitten habe.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der Deutschen Partei habe ich folgende Erklärung abzugeben.
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Herr Abgeordneter Fisch, das Wort „Heuchelei" geht über den parlamentarischen Rahmen hinaus. Ich rufe Sie zur Ordnung.
Mit wacher Verantwortung hat die Fraktion der Deutschen Partei den vorgelegten Vertrag geprüft. Den Maßstäben ehrenvoller deutscher Tradition verpflichtet, bejahen wir das Bemühen, das aus dem Vertrage spricht, ein sichtbares Zeichen zu geben, um eine unheilvolle Vergangenheit in voller Einsicht in die Größe des geschehenen Unrechts zu überwinden, damit das Vertrauen zu unserem Volke wiederhergestellt, die Zukunft entgiftet und ein ähnliches Geschehen von allen anständigen Deutschen verhindert wird. Wir lehnen eine Kollektivschuld ab, stehen aber in solidarischer Haftung für die Wiederherstellung der Ehre unseres Volkes. Das heißt Wiedergutmachung, soweit das in unserer Kraft und Möglichkeit liegt.
Angesichts schwerer Sorge und begründeter Zweifel, ob der durch den Vertrag beschrittene Weg in seinen Grundlagen und in seiner Auswirkung richtig gewählt ist, hat sich ein Teil der Fraktion in berechtigter Gewissensnot nicht in der Lage gesehen, ein Ja auszusprechen. Die Mitglieder der Fraktion, die sich so entschieden haben, haben ihren Entschluß nicht gefaßt, weil sie um die Leistung markten wollen, sondern weil ihr Gerechtigkeitsgefühl sie zu diesem Entschluß geführt hat. Sie sehen die individuelle Wiedergutmachung gegenüber den Deutschen jüdischen Glaubens und gegenüber den europäischen Juden durch eine Zustimmung zu diesem Vertrag als gefährdet an. Dieser Entschluß ist auch davon beeinflußt worden, daß bei der Durchführung von Restitutionen leider erneutes Unrecht geschieht. Wir vermissen noch jedes echte Zeichen für die. Bereitschaft, das in Deutschland, in Europa und in der Welt vor allen an den Vertriebenen begangene Unrecht, das auf die gleiche totalitäre Entartung staatlicher Macht zurückzuführen ist, mit gleicher Einsicht, Verantwortung, internationaler Ehrenhaftigkeit und solidarischer Haftung wiedergutzumachen; denn Recht und Gerechtigkeit sind unteilbar und haben absolute Geltung.
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Das Wort hat der Abgegeordnete von Thadden.
von Thadden ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß wir uns heute mit dem Vertrag der Bundesregierung mit dem Staate Israel befassen, lenkt unser aller Aufmerksamkeit noch einmal auf eines der düstersten Kapitel der letzten Zeit. Daß durch die Verfolgungsmaßnahmen deutscher Stellen von den etwa 5,6 Millionen Juden, die vor dem Kriege in Europa lebten, über eine Million getötet wurden, kann von niemandem beschönigt und von keinem Menschen wiedergutgemacht werden. Mord ist Mord, ob er an einem oder an Millionen Menschen begangen wird.
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Wenn wir uns mit aller Schärfe gegen das nach 1945 an Deutschen entstandene Unrecht wenden und den Rechtsstaat bejahen, ist es selbstverständlich, daß wir die volle Rückgabe all der Vermögenswerte bejahen und fordern, die Juden fortgenommen wurden oder die sie unter Druck veräußern mußten. Hierfür ist eine einschlägige Gesetzgebung vorhanden bzw. im Entstehen. Der Staat sollte aber auch rechtzeitig sein Augenmerk auf die Tatsache lenken, daß hierbei schon wieder viel neues Unrecht an Unschuldigen begangen wurde.
Bei diesem Vertrag geht es aber nicht um die Rückgabe von Vermögen. Hier handelt es sich um ein Abkommen mit dem am 15. Mai 1948 gegründeten Staat Israel. Nach der Vertragsbegründung sollen wir neben den Zahlungen an die jüdische Weltorganisation 3 Milliarden DM zur Eingliederung von 540 000 von Europa nach Israel emigrierten Juden zahlen. Hiervon stammt aber nur ein Teil - nach den Unterlagen, die ich gesehen habe, sind es 125 000 - aus Deutschland. Zur direkten Hilfeleistung bei der Eingliederung dieser Menschen hätte es unseres Erachtens eines anderen Vertrags bedurft. Was die Einwanderer aus Osteuropa anlangt, für die wir nach diesem Vertrag auch zahlen sollen, stellt sich die Frage: Sollte denn 1945 dort etwa keine Befreiung stattgefunden haben?
Wir bejahen also die Zahlungen an deutsche Juden im Rahmen der Rückerstattung auch nach Israel, nicht aber für solche aus den „befreiten" Gebieten in Ost und West.
Die Unterzeichnung des Vertrags mit dem Staat Israel, der sich mit den Staaten der Arabischen Liga nach wie vor im Kriegszustand befindet, hat den massiven Protest der arabischen Länder hervorgerufen, mit denen uns eine jahrhundertealte Freundschaft verbindet, die weit über den Rahmen geschäftlicher Beziehungen hinausreicht. Die Araber wenden sich nicht gegen eine gutmachende Hilfe unsererseits, sie wenden sich dagegen, daß Deutschland bei ihrem Streit mit Israel einseitig dessen Partei ergreift. Wir meinen, daß es falsch war, mit dem Staat Israel direkt zu verhandeln, der sich mit Ländern im Krieg befindet, mit denen wir befreundet sind. Der Weg über die Vereinten Nationen wäre besser gewesen. Die arabischen Länder können weder verstehen noch billigen oder entschuldigen, daß wir hier einseitig Partei ergreifen. Sie befürchten nach der von uns gelieferten wirtschaftlichen Aufrüstung Israels eine neue Expansion und Aggression. Wir sollten doch nicht vergessen, daß mehr als eine Million Araber den jüdischen Einwanderern keine Wüste, sondern die Werte eines blühenden Landes ohne jede Entschädigung überlassen mußten. Seitens der Bundesregierung wurde in der Art verfahren, die eben das Ergebnis „einsamer" Beschlüsse ist.
Durch die SPD und CDU scheint die Annahme des vorliegenden Vertrags gesichert. Trotzdem, meine Damen und Herren! Die Franzosen wollen den EVG-Vertrag auch durch Zusätze ändern, ja sogar umwerfen. Daher meinen wir, daß durch ein einfaches Zusatzprotokoll die UNO als Treuhandstelle eingeschaltet werden sollte, über die alle Zahlungen zu laufen haben. Dadurch könnte manches geändert werden, was unseren Beziehungen zum nahen Osten heute schwer zu schaden droht. Angesichts der auch einmal von einem Bundesminister zugegebenen Tatsache, daß dieser Vertrag unter dem massiven Druck der Amerikaner zustande kam, könnte durch die Einschaltung der UNO hier ein alle befriedigender Ausweg gefunden werden. Solange hier nichts geschieht, werden wir von der DRP den Vertrag ablehnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller.
Meine Damen und Herren! Der Tod und die Ermordung von sechs Millionen Juden sind eine einzige Anklage gegen ein furchtbares System der Menschenverachtung und der Barbarei. Darüber sind hier bisher manche gefühlvolle Worte gesprochen worden. Aber wir verwahren uns dagegen, daß Leute hier auftreten,
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die damals, als es galt, diese Verbrechen zu verhindern, entweder beiseite gestanden oder sie unterstützt haben.
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Meine Damen und Herren! Ich sage heute aber auch mit derselben Deutlichkeit, daß dieses Abkommen zwischen der Bundesrepublik und dem Staate Israel der Wiedergutmachung der grenzenlosen und bestialischen Verbrechen der Hitler-Barbarei an den verfolgten Juden nicht dient. Ich lasse zunächst die Tatsachen aus dem Abkommen selbst sprechen:
1. Die Bundesregierung verpflichtet sich zur Zahlung von drei Milliarden DM an den Staat Israel.
2. Zu dieser Summe kommt ein Betrag von 450 Millionen DM an eine Dachorganisation der zionistischen Vereinigungen.
Die Begleichung der gesamten Summe erfolgt in Form von Warenlieferungen an den Staat Israel. Nach der dem Abkommen beigefügten Warenliste sollen die Lieferungen bestehen in Roheisen, Walzwerkserzeugnissen, Gießereierzeugnissen, Eisen-und Stahlerzeugnissen, Erzeugnissen der stahlverarbeitenden, der chemischen Industrie und einiger anderer. Bezahlt werden soll außerdem jährlich die englische Öllieferung an Israel in Höhe von 75 Millionen DM.
Bemerkenswert ist, daß die Lieferung an landwirtschaftlichen Erzeugnissen nur 1,5 % der jährlichen Gesamtsumme ausmacht. Unter dem Namen der Wiedergutmachung erhalten also die Industriellen Israels aus Westdeutschland alles, was sie zum Ausbau ihrer Grundindustrien benötigen. Die Tatsachen beweisen, daß dieses Abkommen mit einer Wiedergutmachung auch nicht das geringste
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zu tun hat. Das wird noch durch die Erklärung in diesem Abkommen bestätigt, wonach durch diese Zahlungen an Israel die Zahlungen an die einzelnen geschädigten Juden auf Grund der innerdeutschen Wiedergutmachungsgesetze grundsätzlich nicht berührt werden. Auf deutsch heißt das also, daß die einzelnen Verfolgten in Israel von den drei Milliarden DM auch nicht einen einzigen Pfennig erhalten, die Industriellen dagegen ein glänzendes Geschäft machen.
Aber, meine Damen und Herren, nicht nur diese sind die Nutznießer aus diesem Abkommen, sondern vor allen Dingen die Herren aus der amerikanischen Rüstungsindustrie und Hochfinanz.
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Denn diese sind es, die hinter dem Abkommen stehen und es veranlaßt haben; nicht aus Gründen der Humanität und der Menschenfreundlichkeit. Es sind sehr reale Gründe für diese Politik maßgebend. Es sind die amerikanischen Imperialisten, die sich im vorderen Orient einen starken strategischen und militärischen Stützpunkt schaffen, einmal gegen die Engländer, zum anderen aber auch gegen die Völker Vorderasiens und Nordafrikas. Mit Hilfe der Industrieausrüstungen aus Westdeutschland wollen die Amerikaner also den in ihren Händen befindlichen Staat Israel zur rüstungsmäßigen und operativen Basis für ihre aggressive Politik ausbauen.
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Meine Damen und Herren, die Gewinner aus diesem Abkommen sind nicht nur die Herren der Industrie in Israel und die Amerikaner, es sind ebenso die Industrieherren in Westdeutschland, denen es auf mehrere Jahre hinaus Absatz und Riesengewinne sichert. Ist es nicht eine geradezu widerliche Verhöhnung der rassisch Verfolgten, daß diejenigen, die an dem Massenmord mitverantwortlich sind, die unter Hitler und an seinen Massakern an den Juden Riesenprofite machten, heute unter dem Deckmantel einer solchen „Wiedergutmachung" wiederum Riesenprofite einstecken wollen, während die rassisch Verfolgten wie auch alle anderen im Bundesgebiet jahrelang auf eine ausreichende Wiedergutmachung und Rentenversorgung warten müssen? Ist es nicht ein blutiger Hohn, daß sich hier im Bundestag Leute für eine solche „Wiedergutmachung" einsetzen, die, wie z. B. Herr Pferdmenges, einst die SS finanzieren halfen, auf deren Sonderkonto der Mord an Millionen Juden zu buchen ist, oder ein Wehrwirtschaftsführer Dr. Fr o w ein, über den in einem Dokument vom 31. Mai 1940 folgendes geschrieben ist:
Herr Frowein hat erfahren, daß uns Jüdinnen in jeder gewünschten Anzahl zur Verfügung gestellt werden können. Sie müßten garantiert in der Nachtschicht beschäftigt oder wenn möglich in Baracken oder möglichst schlechten Wohnungen untergebracht werden. Herr Frowein schlägt 500 Jüdinnen vor.
Oder ein gewisser Dr. Lehr, der als Oberbürgermeister 1933 Anweisung gab, jüdische Geschäfte, Anwälte und Ärzte auszuschalten. Meine Damen und Herren, schon diese Namen allein sind Beweis genug, daß es sich bei diesem Abkommen niemals um eine Wiedergutmachung handeln kann.
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Ich weiß, daß die meisten der im Bundesgebiet wohnenden rassisch Verfolgten dieses Abkommen ablehnen. Wir Kommunisten lehnen es ab. Wir fordern, daß hier im Bundesgebiet endlich die Mittel bereitgestellt werden, damit für a 11 e Verfolgten des Naziregimes die Ansprüche befriedigt werden, die ihnen als Wiedergutmachung zustehen.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Decker.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner
Erklärung zur Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden folgende Worte gesprochen:
Im Namen des deutschen Volkes sind unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind.
Im Auftrage meiner Fraktion habe ich hierzu folgende Stellung genommen:
Wer sich zum Rechtsstaat bekennt, muß sich auch zur Erklärung des Herrn Bundeskanzlers bekennen, sie begrüßen und unterstützen.
Ich freue mich, daß dieser Satz heute schon zitiert worden ist; denn an der Haltung meiner Fraktion zu dieser Frage hat sich nichts geändert. Sie bekennt sich nach wie vor zur Pflicht der Wiedergutmachung des Unrechts und, soweit überhaupt möglich, der Unmenschlichkeiten, die an den Juden von den Machthabern des Dritten Reiches und ihren gewissenlosen Werkzeugen begangen worden sind. Meine Fraktion begrüßt es auch, daß Maßnahmen hierzu im Wege eines Abkommens ergriffen werden, hat aber Bedenken gegen dieses Abkommen und von Anfang an davor gewarnt. Wir sind der Ansicht, daß dieses Abkommen nicht den günstigsten und besten Weg einschlägt, der möglich gewesen wäre, die noch klaffenden Wunden zu schließen, zum Vernarben zu bringen und eine Versöhnung zwischen den Juden und dem deutschen Volk anzubahnen. Wir haben den Eindruck, daß das Auswärtige Amt die Frage der Wiedergutmachung viel zu sehr isoliert und im luftleeren Raum - unabhängig von den weltpolitischen Zusammenhängen - bearbeitet hat.
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Mit Recht lehnt das deutsche Volk auch in dieser Frage eine Kollektivschuld ab. Andererseits ist das deutsche Volk aber willens, kollektiv, also in seiner Gesamtheit, eine Wiedergutmachung zu leisten. Daraus ergibt sich aber nicht, daß die Wiedergutmachung als solche in erster Linie auch an die Geschädigten als Kollektiv erfolgen muß.
Erstes Erfordernis, das sich aus einfachen Gründen der Menschlichkeit ergibt, ist individuelle Wiedergutmachung und Hilfe. Zuerst muß den unmittelbar Verfolgten und Geschädigten des jüdischen Volkes geholfen werden. Viele von ihnen sind so bejahrt und in schwierigsten wirtschaftlichen Verhältnissen, daß jede Verzögerung der individuellen Hilfe sie nicht mehr in den Genuß derselben kommen lassen wird. Das vorliegende Gesetz wird aber zur Folge haben, daß die indi({1})
viduelle Hilfe zugunsten einer Kollektivmaßnahme, nämlich einer Maßnahme zugunsten des Staates Israel, um Jahre verzögert wird, einfach weil die Mittel der Bundesrepublik gleichzeitig für beides nicht vorhanden sind. Eine Lösung, welche die individuelle Hilfe vor jeder anderen bevorzugt und die das gesamte Judentum ohne Rücksicht auf seine internen Schichtungen und Spaltungen berücksichtigt, hätte sofort unsere Zustimmung gefunden. Dieses Abkommen aber, das keine Auswirkung auf alle geschädigten Juden hat, dafür aber völlig zwecklos Schädigungen in den außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik nach sich ziehen wird, halten wir nicht für geeignet, die anstehende Frage zu lösen.
Ich möchte zusammenfassen. Wiedergutmachung? Aus ganzem Herzen: Ja!
({2}) Dieses Abkommen aber müssen wir ablehnen und nein dazu sagen. Wir werden uns der Stimme enthalten, nicht weil wir unentschlossen oder indifferent dieser Frage gegenüberstehen, sondern weil wir damit zum Ausdruck bringen wollen, daß wir zu dem Abkommen leider nein sagen müssen, die Wiedergutmachung aber aus innerster Gewissenspflicht bejahen.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei hat namentliche Abstimmung beantragt. Darf ich unterstellen, daß das für die dritte Beratung beantragt ist?
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- Das ist der Fall.
Dann kommen wir zunächst zur Abstimmung in der zweiten Beratung. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Gesetzentwurf über das Abkommen vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel zuzustimmen wünschen, sich von ihren Plätzen zu erheben. ({1})
Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? ({2})
Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung gegen wenige Stimmen bei zahlreichen Enthaltungen angenommen worden ist. *)
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Eine allgemeine Aussprache in der dritten Beratung entfällt nach der Aussprache in der zweiten Beratung. Es ist namentliche Abstimmung beantragt. Ich bitte die Schriftführer, die Stimmkarten einzusammeln.
({3})
Meine Damen und Herren, ich frage: sind noch Abgeordnete vorhanden, die ihre Stimme abzugeben wünschen? - Das ist nicht der Fall; dann schließe ich die Abstimmung.
({4})
Meine Damen und Herren, ich gebe das vorläufige **) Ergebnis der namentlichen Abstimmung
*) Vergl. Anlagen 3 bis 6 Seiten 12286 bis 12289. **) Vergl. das endgültige Ergebnis Seite 12293.
bekannt. An der Abstimmung haben sich beteiligt 358 stimmberechtigte Abgeordnete und 19 Berliner Abgeordnete. Von den stimmberechtigten Abgeordneten haben mit Ja gestimmt 238, mit Nein 34 bei 86 Enthaltungen.
({5})
Von den Berliner Abgeordneten haben 16 mit Ja gestimmt bei 3 Enthaltungen. Damit ist der Gesetzentwurf über das Abkommen vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel in dritter Beratung angenommen. Eine Schlußabstimmung entfällt.
({6})
Meine Damen und Herren, ich glaube der Empfindung Ausdruck geben zu sollen, daß uns die Abstimmung über diesen Vertrag unabhängig von der Entscheidung im einzelnen aufs tiefste bewegt. Ich habe keinen Zweifel, daß diese Entscheidung nicht nur in Deutschland und im Staate Israel, sondern in der ganzen Welt ein bedeutsames Echo haben wird.
({7})
Das gilt nicht nur für die unmittelbaren Leistungen, die dieser Vertrag erfordert. Allen, die in der Welt verfolgt sind, soll auch durch diese Entscheidung gesagt werden, daß die Gewalt und das Verbrechen nicht das letzte in der Welt sein dürfen.
Ich verstehe die Entscheidung des Bundestages so, daß er in diesem Augenblick hat bezeugen wollen, daß im eigenen Volk und in den Beziehungen der Menschen und Völker untereinander die Politik nicht nur von Fragen der Taktik und der Zweckmäßigkeit bestimmt sein darf. Wir wollen uns und anderen damit vor Augen halten, daß es Prinzipien des Rechts und der Sittlichkeit gibt, die die eigentlichen Fundamente des Zusammenlebens auf der Erde sind. Zur Verwirklichung dieses Grundsatzes beizutragen, darf uns kein Opfer zu groß sein.
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Meine Damen und Herren, ich darf zunächst Herrn Minister Seebohm das Wort zu einer persönlichen Erklärung gemäß § 35 der Geschäftsordnung geben.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe verschiedenes zu bedauern,
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zunächst, daß das Präsidium mir nicht Gelegenheit gegeben hat, diese Erklärung abzugeben, als es an der Zeit war, sondern jetzt in einem Moment, wo sie der Größe der Stunde natürlich nicht entspricht. Sie muß aber trotzdem abgegeben werden.
Zum zweiten bedauere ich, daß die Brillengläser unseres Kollegen Kather durch die Hitze des Kampfes offenbar so beschlagen waren, daß er nicht klar sehen und mich nicht erkennen konnte.
Zum dritten bedauere ich, daß dem Kollegen Kather dadurch die Möglichkeit genommen ist, durch eine Schlagzeile in den von ihm beherrschten Zeitungen mich wieder anzugreifen.
({1})
Zum vierten möchte ich feststellen: es gibt Vertriebene, die alles verloren haben, und es gibt andere, die einiges behalten haben. Zu den letzteren gehöre ich nicht.
Meinem Landsmann Reitzner möchte ich sagen, daß die Präambel, die von der Deutschen Partei vorgelegt worden ist, die Präambel ist, die die Regierungsvorlage geziert hat. Sie enthält das Recht auf die Heimat, das ich im parlamentarischen Rat beantragt habe und das damals von allen anderen Parteien abgelehnt worden ist.
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Meine Damen und Herren, Sie haben die persönliche Erklärung des Herrn Ministers Seebohm gehört.
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Ich schlage Ihnen vor, daß wir die persönlichen Erklärungen nicht fortsetzen.
Zur weiteren Erledigung der Tagesordnung habe ich folgendes zu sagen. Ich stelle fest, daß wir die Punkte 1 bis 6 der Tagesordnung erledigt haben. Ich bitte Sie freundlichst, die Drucksachen zu den Punkten 7 und 8 bis 25 in den rosa und gelben Mappen bei sich zu behalten, da wir sie aus Gründen der Ersparnis nicht noch einmal verteilen können. Ich darf darauf hinweisen, daß die Drucksachenstelle für diese Sitzung 50 000 Drucksachen hat verteilen müssen.
Ich weise weiter darauf hin, daß wir nach einer interfraktionellen Vereinbarung damit rechnen müssen, daß wir den Rest der heutigen Tagesordnung am Freitagvormittag erledigen, wenn unterstellt wird, daß der für morgen vorgesehene Punkt der Tagesordnung morgen erledigt werden kann. Im Ältestenrat wird eine Vereinbarung über die Reihenfolge der Punkte und über ihre Dringlichkeit herbeizuführen sein.
Herr Abgeordneter Kather wünscht das Wort zu einer persönlichen Bemerkung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle folgendes fest. Ich habe Herrn Minister Seebohm mit keinem Wort angegriffen. Als ich vorhin sprach, habe ich einen Zuruf, der auch im Protokoll enthalten ist, bekommen, der die Namen Zawadil und Seebohm nannte. Darauf habe ich gesagt: Herr Seebohm ist offenbar nicht hier; aber dann sah ich ihn und habe gesagt: er ist doch hier. Weiter habe ich nichts gesagt. Ich überlasse es der Beurteilung des Hauses, ob die Erklärung, die hier eben abgegeben worden ist, sachlich gerechtfertigt ist oder nicht. Im übrigen wird Herr Seebohm noch eine Antwort an anderer Stelle bekommen.
Meine Damen und Herren, ich bedaure sehr, übersehen zu haben, - ({0})
- Herr Abgeordneter Renner, seien Sie bitte so liebenswürdig und lassen Sie mich mal sprechen!
Ich habe darauf hingewiesen, daß ich zu meinem Bedauern den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP zu dem Gesetzentwurf, den wir soeben angenommen haben, übersehen habe. Herr Abgeordneter Dr. Arndt wollte zur Abstimmung darüber eine Erklärung abgeben.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion bejaht grundsätzlich eine Entschädigung derjenigen Rückerstattungspflichtigen, die ohne eigene Schuld und ohne eigene Verantwortlichkeit unbillig hart betroffen wurden. Wir werden uns aber an der Abstimmung über die von der Freien Demokratischen Partei vorgelegte Entschließung nicht beteiligen, sowohl weil diese Entschließung eine untergeordnete Einzelfrage überbetont, als auch weil wir bedauern müssen, daß die Begründung für die Entschließung in dieser Stunde von dem Herrn Abgeordneten Hasemann gegeben wurde.
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Meine Damen und Herren, das Wort wird weiter nicht dazu gewünscht.
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- Herr Abgeordneter Renner, ich bitte Sie, mich nicht dauernd zu unterbrechen.
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Ich komme zur Abstimmung über die Entschließung der Fraktion der FDP, Umdruck Nr. 795. Ich bitte die Damen und Herren, die der Entschließung zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Enthaltungen? - Bei zahlreichen Enthaltungen ist die Entschließung angenommen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Sitzung. Ich berufe die 255. Sitzung auf morgen, 13,30 Uhr, und schließe die 254. Sitzung.