Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/29/1976

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Wir gedenken unseres langjährigen Kollegen und ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Erwin Schoettle, der am vergangenen Sonntag, dem 25. Januar 1976, unerwartet verstarb. Er stand im 77. Lebensjahr. Erwin Schoettle wurde am 18. Oktober 1899 in Leonberg geboren. Er erlernte den Beruf des Schriftsetzers, wurde Redakteur für sozialdemokratische Zeitungen und hat zusammen mit seinem Freund Kurt Schumacher bis 1933 in Württemberg gegen die Nationalsozialisten gekämpft. So war er auch zu Beginn der NS-Diktatur gezwungen, ins Ausland zu flüchten, um dem Konzentrationslager zu entgehen. Die Jahre der Emigration verbrachte er zunächst in der Schweiz, später - während des zweiten Weltkrieges - in England, von wo ihn Kurt Schumacher 1946 nach Deutschland zurückrief. Erwin Schoettle gehörte zu jenen Politikern, die nach dem Kriege mit den Grundstein für die Entwicklung unserer parlamentarischen Demokratie gelegt haben. Er folgte seinem eigenen Gesetz, indem er für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Freiheit kämpfte. Wieder in seiner württembergischen Heimat, widmete er sich sogleich dem Aufbau der SPD. 15 Jahre hindurch war er ihr Landesvorsitzender. Im Jahre 1946 rückte er als Abgeordneter in den Landtag Württemberg-Badens ein, 1947 wurde er Mitglied des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Frankfurt am Main und dort bald auch Vorsitzender seiner Fraktion und Vorsitzender des Hauptausschusses. Er war Mitbegründer der „Stuttgarter Nachrichten", einer Zeitung, die sich bald zu einer überregional beachteten Tageszeitung entwickelte. Erwin Schoettle wurde 1949 im Wahlkreis 164 - Stuttgart - in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er ununterbrochen sechs Wahlperioden hindurch, insgesamt 23 Jahre lang, angehörte. Er ist der einzige Abgeordnete des Deutschen Bundestages, der 20 Jahre lang ohne Unterbrechung Vorsitzender eines Ausschusses - des Haushaltsausschusses - war. Er hat sich in dieser Position die höchste Wertschätzung seiner Kollegen aus allen Fraktionen erworben. Zu dieser verantwortungs- und arbeitsreichen Aufgabe aber wurde ihm 1961 noch das Amt eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages übertragen. Acht Jahre lang hat er von dieser Stelle aus die Verhandlungen des Bundestages souverän mit-geleitet. Wir verlieren mit Erwin Schoettle einen Politiker, der an sich selbst hohe Ansprüche gestellt hat und der ein Vorbild war. Für seine Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland wurde Schoettle am 6. Oktober 1969 das Großkreuz des Verdienstordens, der höchsten Auszeichnung der Bundesrepublik, verliehen. Erwin Schoettle läßt einen großen Kreis von Freunden zurück, die in besonderem Maße von seinem Tode betroffen sind. Jeder im Deutschen Bundestag, ob Freund oder politischer Gegner, hat ihn als einen objektiven und gewissenhaften Fachmann, als einen realitätsbewußten und toleranten Politiker und als einen engagierten Streiter für die Parlamentarische Demokratie kennen- und schätzen gelernt. Ich habe seiner Witwe auch im Namen des Deutschen Bundestages bereits telegraphisch meine aufrichtige Anteilnahme ausgesprochen. Wir werden Erwin Schoettle ein ehrendes Andenken bewahren. Ich danke Ihnen. Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Helmut Schmidt (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002007

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer auf das Jahr 1975 zurückblickt oder gar auf das Jahr 1969 oder das Jahr 1966, der wird in der Wirklichkeit der geteilten deutschen Nation heute erkennen, daß die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten einen wiederum verbesserten Stand erreicht haben, obwohl vieles, Wichtiges zumal, noch unerledigt auf dem Tisch liegt und obschon wie in allen vorBundeskanzler Schmidt angehenden Jahren auch einige Rückschläge zu verzeichnen sind. Unsere Politik, durch menschliche Erleichterungen die Härten der Teilung zu mildern, konnte in geduldigen, zähen Verhandlungen zu neuen Ergebnissen geführt werden. Diese Ergebnisse zugunsten der Menschen gilt es sachlich festzuhalten und nicht durch kleinliches Aufrechnen von staatlichen Leistungen und Gegenleistungen in Frage zu stellen. Zur Wirklichkeit gehört allerdings auch, daß die SED versucht, ein neues Bewußtsein von einer sogenannten sozialistischen Nation zu schaffen und damit die DDR von der gemeinsamen nationalen Grundlage abzugrenzen. Die Verfassung der DDR von 1974 sowie der jüngste Freundschafts- und Beistandsvertrag der DDR mit der Sowjetunion verfolgen das Ziel, die DDR noch fester in das gesellschaftlich-politische System Osteuropas einzubinden. Und auch in dem Entwurf des neuen Parteiprogramms der SED wird die Abgrenzung zum Programmsatz erhoben. Demgegenüber bekennen wir in der Bundesrepublik Deutschland uns - wie seit eh und je - zur Verantwortung vor der gesamten Nation. ({0}) Deshalb kommt es für die gesamte, für die ganze Nation und für ihr zukünftiges Schicksal darauf an, wie sich diese Bundesrepublik Deutschland nach innen und nach außen entwickelt und darstellt. Hierbei geht es nicht um einen überholten Alleinvertretungsanspruch, sondern hier geht es darum, daß die deutsche Frage - von allen weltpolitischen Vorbedingungen abgesehen - am ehesten dann lösbar sein wird, wenn der größere Teil, wenn die Bundesrepublik Deutschland erstens ganz entschieden die Zusammenarbeit mit dem kleineren Teil fördert, zugleich aber zweitens ihr eigenes Haus gut bestellt und drittens zu einer stabilen Friedensordnung beiträgt, die es den Völkern und Staaten erlaubt, mit ihren Nachbarn in Frieden zu leben und zusammenzuarbeiten. Diese Überzeugungen haben in der Vorgeschichte der Berichte zur Lage der Nation, wie sie die Bundesregierungen hier erstattet haben, immer eine entscheidende Rolle gespielt: seit den beiden interfraktionellen Großen Anfragen der Jahre 1956 und 1958 bis hin zum Antrag aller Fraktionen des Bundestages vom Februar 1967. Im Juni 1967 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger die deutsche Frage so gesehen: „eingebettet ... in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts". Seine Berichte zur Lage der Nation und die dann folgenden Berichte haben - wie ich denke: richtig - die inneren Zusammenhänge hervorgehoben zwischen den außenpolitischen, den deutschlandpolitischen und unseren eigenen innenpolitischen Faktoren. Ich stelle heute ebenfalls die Lage der Nation in diesen Gesamtzusammenhang unserer Politik. Die internationale Lage gibt uns auch am Beginn dieses Jahres 1976 Anlaß zu mancherlei Sorge. Täglich werden wir überflutet mit Nachrichten und Bildern, die uns zu Zeugen von Gewalt und Intoleranz machen. Wenn man nur den Abendnachrichten im Fernsehen folgte, könnte man den Eindruck gewinnen, als lebten wir in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, in einer Welt, in der Neid und Habgier regieren, in der es immer schwerer fällt, andere Menschen oder andere Nationen zu verstehen und den Ausgleich der Interessen zu besorgen. Vor unserer Haustür, in Nordirland, scheinen Gewalttat und Unnachgiebigkeit noch immer den Alltag zu. kennzeichnen, ohne daß die Bereitschaft zu einem Nachgeben erkennbar wäre. Die Spannungen zwischen Türken und Griechen sind - dank auch unserer Mithilfe - entschärft, aber der Zypernkonflikt ist nicht beigelegt, und 200 000 Flüchtlinge sind immer noch sehr hart betroffen. Im Nahen Osten hat sich der Verzicht auf gewaltsame Lösungen noch nicht voll durchgesetzt, und die Bilder der Zerstörung, die uns aus dem Libanon erreichen, müssen uns mit schwerer Sorge erfüllen. In Angola werden alle Bemühungen, eine gemeinsame staatliche Existenz auf friedlichem Wege zu erreichen, zunichte gemacht, wenn der mörderische Kampf und das militärische Eingreifen von außen nicht rasch beendet werden. Von einzelnen Terrorakten ist auch unser Land nicht verschont geblieben. Bei ihnen sind Menschenleben gewissenlos aufs Spiel gesetzt worden. Wir haben uns dennoch nicht in die Knie zwingen lassen. Aber den Kampf gegen diese irrationale, sich selbst vergötzende Menschenverachtung der Terroristen, werden wir nur dann erfolgreich bestehen, wenn alle Staaten fest entschlossen sind und sich vertraglich binden zu gemeinsamem Handeln. ({1}) Wir wären gewiß allzu naiv, wollten wir annehmen, daß Gewalt und Engstirnigkeit sehr schnell und einfach durch Vernunft und Verständigungsbereitschaft zu ersetzen wären. Gleichwohl gibt es Hoffnung auf internationale Zusammenarbeit, gibt es Besinnung auf Frieden und auf Solidarität. In den Stunden terroristischer Angriffe sind unser Staat und die zum Handeln verpflichteten Personen standfest geblieben. Dieser Staat, den wir gemeinsam geschaffen haben als freien und sozialen Staat des Rechtes, kann nicht umgestoßen werden durch Verblendete, die mit krimineller Gewalttat meinen anderen ihr Heil aufzwingen zu können; denn unser Staat ist fest gegründet und stützt sich auf die Zustimmung seiner Bürger. ({2}) Mit Recht wird bisweilen beklagt, daß bei Unfällen und Katastrophen viele untätig dabeistehen, ja sogar durch Neugierde stören, statt zu helfen. Demgegenüber, so denke ich, beweist das Eingreifen der Katastrophenhelfer bei den jüngsten Waldbränden und Sturmfluten darunter sehr viele junge Menschen, Jugendliche, die gemeinhin eher gescholten werden -, daß Hilfsbereitschaft und selbst Tapferkeit keineswegs aussterben. ({3}) Ohne dieses Zusammenstehen, ohne Hilfsbereitschaft, ohne Tapferkeit, ohne die innere Bereitschaft, mit der schwersten ökonomischen Krise der Nachkriegszeit gemeinsam fertig zu werden, wäre es auch nicht möglich gewesen, unsere eigenen wirtschaftlichen Probleme soweit in den Griff zu bekommen, wie das inzwischen geschehen ist. Diese Krise hat alle erfaßt und getroffen, die westlichen Industrieländer, selbst die reichen Ölländer, ganz besonders die übrigen Entwicklungsländer, die in ihrem Aufbau um viele Jahre zurückgeworfen sind. Sie hat auch diejenigen Länder erfaßt und ihnen die wechselseitige Abhängigkeit von der einen ökonomischen Welt, ihre Zugehörigkeit zu dem einen ökonomischen Weltsystem bewußt gemacht, die sich gern ihrer angeblichen planwirtschaftlichen Krisenfestigkeit rühmen und deren Agitatoren zugleich jeden Funken eines Fehlschlags anderwärts als Vorboten des Zerfalls bewerten möchten. In ganz Osteuropa müssen gegenwärtig ehrgeizige volkswirtschaftliche Pläne zurückgesteckt werden. In vielen Staaten liegen erhebliche Teile der Produktionsmöglichkeiten brach. Die strukturelle Neuanpassung an die geänderten Bedürfnisse der Märkte ist bei weitem noch nicht geschafft. Was uns angeht: Die Bundesregierung hat nicht auf ein „zweites deutsches Wirtschaftswunder" oder einen neuen Aufschwung der Weltwirtschaft einfach nur gewartet. Sondern wir haben daran gearbeitet - international und zu Hause. Wir haben uns nicht zu jenem Pessimismus verleiten lassen, wie er in manchen politischen und Verbandsquartieren lange Zeit vorgeherrscht hat. Statt dessen haben wir auf vielfältige Weise, international zuletzt in Rambouillet, Rom und auf Jamaica, beharrlich das gleiche Ziel verfolgt, nämlich gemeinsam die Inflation einzudämmen und die Millionen von Arbeitslosen in aller Welt wieder in Beschäftigung zu bringen. Allein in den wenigen OECD-Ländern, den Industriestaaten der Welt, sind es gegenwärtig 17 oder 18 Millionen Arbeitslose. Zu Hause haben wir die unausweichlichen Lasten so ausgewogen wie möglich auf die Schultern zu verteilen gesucht. Gewiß, wir haben dabei die öffentlichen Finanzen hart in den Griff nehmen müssen. Dennoch haben wir uns nicht in blinde Sparwut verrannt, sondern wir haben das Erreichte gesichert, und wir haben der Wirtschaft die nötige Luft zum Atmen gegeben. Und im Gegensatz zu manchen Vorhersagen - man kann sie nur in Gänsefüßchen zitieren- ist das Ergebnis kein „Finanzchaos", sondern Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, insbesondere des Bundeshaushalts. Das Ergebnis ist nicht etwa - dies ist auch nur in Gänsefüßchen zu zitieren Verschuldung, das Ergebnis ist doch nicht etwa Staatsverdrossenheit oder soziale Unsicherheit, sondern - schauen Sie sich Ihre eigenen Meinungsumfragen an - ein Klima fester Zuversicht in unserem Lande, ({4}) ein Klima wohlbegründeter Zuversicht und ein gut vorbereiteter Boden für einen neuen Aufschwung. ({5}) Gleichwohl haben auch wir - wie alle anderen Staaten in der Welt - die schwere Rezession noch nicht überwunden. Und niemand darf sich Täuschungen hingeben über das Maß an Schwierigkeiten, die noch zu bewältigen sind, obwohl wir trotz allem vergleichsweise gut dastehen. Die Schweiz, Dänemark und die Bundesrepublik Deutschland haben die niedrigsten Preissteigerungsraten auf der Welt. Unsere deutschen Realeinkommen gehören zu den höchsten in der Welt, und wir haben ein in der deutschen Geschichte bisher nicht erreicht gewesenes Maß an sozialer Absicherung. ({6}) Dieses spüren und anerkennen auch diejenigen, die von der Rezession am stärksten betroffen sind. Ich spreche von den Arbeitslosen. Gerade die Arbeitslosigkeit verlangt von uns, den Parlamenten und Regierungen, die größten Anstrengungen, aber auch von uns, den Gewerkschaften, und von uns, den Unternehmensleitungen. Neue Arbeitsplätze zu schaffen, dabei vor allem die Älteren nicht ohne Hoffnung zu lassen und den jungen Menschen eine berufliche Ausbildung und Tätigkeit zu ermöglichen, ist auch 1976 unsere wichtigste Aufgabe. ({7}) Die Bundesregierung hat gestern ein flankierendes Programm zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit beschlossen, das zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, die berufliche Umschulung junger Menschen gezielt fördern und auch ältere Arbeitnehmer bei der Beschaffung von Arbeit unterstützen wird. Zu einem anderen Thema: Von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, haben in dieser Weltwirtschaftskrise die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft der Versuchung zu nationaler Eigenbrötelei widerstanden. Manchmal schien manchen das nationale Hemd näher als der europäische Rock. Aber diese Krise der Weltwirtschaft hat trotz verschiedenartiger Reagibilität dieser neun Volkswirtschaften letztlich die Gemeinschaft nicht gefährdet oder gar gesprengt. Der Durchbruch zur Wirtschafts- und Währungsunion ist freilich durch all dies nicht leichter geworden und auch nicht leichter zu erkennen. Die Ungleichgewichte unter den neun Ländern in Stabilität und Zahlungsbilanz - um nur zwei herausragende Punkte zu nennen - bestehen fort. Trotz aller Schwierigkeiten hat es gleichwohl Fortschritte der Integration gegeben. Durch den Regionalfonds wird den ärmsten Regionen der Gemeinschaft geholfen. Frankreich ist in den Währungsverbund zurückgekehrt. Und nun sind wir dabei - endlich, 20 Jahre nach den Römischen Verträgen -, durch Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahre 1978 Europa näher an die Wähler heranzu15084 rücken oder die Wähler näher an diesen europäischen Integrationsprozeß heranzurücken. Auf solche Tatsachen, die ich nicht alle erwähnen kann, gründe ich die Hoffnung, daß Europa auch in Zukunft zur Solidarität fähig sein wird. Es gilt, das Errungene zu wahren und alle Kräfte auf das unmittelbar anschließend Mögliche, Wichtige zu konzentrieren. Der belgische Premierminister Tindemans hat in seinem Bericht dargelegt, daß nur geduldiges und schrittweises Vorgehen uns weiterführen wird. Dabei braucht sich Europa auf dem Wege nicht stören zu lassen durch kritische oder Störgeräusche aus dem Osten, die ja doch nur beweisen, daß die Gemeinschaft vorangeht. Wenn sie, wie manche denken, stagnierte oder gar zerfiele, wäre es drüben nicht nötig, Besorgnisse zu haben oder sich so zu äußern. Und daß es auch in Zukunft weitergeht, daran arbeiten wir, und daran arbeiten viele Menschen in den acht anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft mit allen ihren Fähigkeiten. Auch bei dem weltumspannenden Dialog zwischen Industriestaaten und Dritter Welt wenden wir viel Mühe auf, um Verständigung zu erreichen. Da oder dort auftretende Kurzsichtigkeiten und verbaler Radikalismus dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß das gegenseitige Verständnis zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern in der Tat zunimmt. Unter dem Druck der nur gemeinsam zu lösenden Probleme gewinnt die Einsicht an Boden, daß die zum Teil naturgegebenen unterschiedlichen Interessen die Funktionstüchtigkeit der Weltwirtschaft nicht gefährden dürfen. Diese Funktionstüchtigkeit der Weltwirtschaft liegt im Interesse aller Teilnehmer am weltwirtschaftlichen Gesamtsystem. Wir glauben, daß die offenen Fragen der weltwirtschaftlichen Ordnung nur durch gleichberechtigte enge Zusammenarbeit zu lösen sind, was natürlich nicht bedeutet, daß wir vitale eigene Interessen aufs Spiel setzen dürften, und was nicht bedeutet, daß wir zum Beispiel weltweiten Dirigismus für einen praktikablen Weg hielten. Mehr Wohlstand für alle gibt es nur im Rahmen einer weiterhin wachsenden Weltwirtschaft, die einerseits ihre marktwirtschaftlichen Antriebe und Flexibilitäten nicht verkümmern läßt, die aber andererseits auch die Chancen für die wirtschaftlich Schwächeren verbessern muß, wenn sie bestehen will. Auf dieser Linie haben wir am Zustandekommen des Dialogs tatkräftig mitgewirkt und setzen uns für eine Stabilisierung der Exporterlöse der ärmsten Länder ein, wollen wir die Märkte weiter öffnen, fördern wir den Aufbau von Industrien in Entwicklungsländern, auch wenn dies unsere eigene Industrie und unsere eigene Arbeitnehmerschaft in den Zwang zu fortgesetzter Anpassung setzt. Wir erwarten allerdings auch von denen, die draußen heute von uns Industrieländern mehr verlangen - bei aller verständlichen Ungeduld -, wir verlangen von ihnen mehr Einsicht in das wirtschaftlich Mögliche, und wir erwarten von ihnen auch verstärkte eigene Leistungen. Dabei allerdings halte ich es im Ernst mit einer Weisheit, wie sie durch die Volksrepublik China viele Male verkündet wird, nämlich, China wisse aus eigener Erfahrung, „daß es keine Zauberformel gibt, die eigene Opfer und eigene harte Arbeit ersetzen könnte". Das gilt dann übrigens nicht nur für Entwicklungsländer; das gilt auch für Industriestaaten, und das gilt für jeden einzelnen von uns. ({8}) Zugleich muß die ökonomische Willkür eingeschränkt werden, und zugleich darf die Wirtschaft nicht zum Kampfplatz werden, denn dies müßte die Weltwirtschaft zerrütten und könnte den erstrebten Ausgleich der Interessen nicht zustande bringen. Ebenso auf Ausgleich bedacht, halten wir in den Ost-West-Beziehungen an der Politik der Entspannung fest. Unsere Politik für die deutsche Nation können wir nicht isoliert betreiben, wir müssen sie nach wie vor einbetten in den auf Entspannung und Zusammenarbeit gerichteten Prozeß der Außenpolitik insgesamt. Wir müssen nach Westen und nach Osten die Stetigkeit wahren, die Kontinuität. Wir müssen glaubhaft bleiben, Vertrauen erhalten und noch Vertrauen hinzugewinnen. In der Debatte über einen der ersten Berichte zur Lage der Nation, der damals vom Bundeskanzler Kiesinger erstattet worden war, habe ich heute vor acht Jahren hier im Bundestag drei Voraussetzungen für eine langfristige und zäh zu verfolgende Entspannungspolitik genannt: Erstens. Unsere innere demokratische Ordnung in der Bundesrepublik muß fest gefügt bleiben. Zweitens. Unsere Ost- und unsere Deutschlandpolitik müssen mit unseren Verbündeten abgestimmt sein. ({9}) Drittens. Wir dürfen die Sicherheit Westeuropas, der Bundesrepublik und West-Berlins nicht gefährden, d. h., das Kräftegleichgewicht in Europa muß aufrechterhalten bleiben. Wobei ja klar ist: Auch das globale Kräftegleichgewicht darf nicht in Frage stehen. Das ist nun schon lange her, und es hat sich in Wirklichkeit an unseren Einsichten insoweit nichts verändern müssen. Wir stehen mit allem, was wir getan haben, in der Kontinuität jener Überzeugung. Nach wie vor ist unsere Sicherheit verbürgt durch die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis und durch unsere Mitarbeit dort. Wir leisten mit der Bundeswehr einen inzwischen wichtiger und gewichtiger gewordenen Beitrag in diesem Bündnis. Wir bringen die Mittel auf, die erforderlich sind, um die Glaubwürdigkeit dieser Verteidigungskraft zu erhalten. Ich habe vor ein paar Tagen - wenn ich das hier einfügen darf - einen Aufsatz von Professor Biedenkopf gelesen, der die Behauptung aufstellt, die militärische Bedrohung unseres Landes sei heute größer denn je, und dann von einer kompromißlosen Stärkung und Position der Stärke und all derBundeskanzler Schmidt gleichen spricht. Wissen Sie, vielleicht können Sie diesem Herrn, der ja bisher das deutsche Parlament noch nicht betreten und sowieso noch nie ein Parlament von innen erlebt hat, einmal bestellen, ({10}) vielleicht können Sie dem bestellen, Herr Professor Carstens, - -({11}) - Ja, ich merke, daß Sie empfindlich sind, weil Sie in der Verteidigungsdebatte ja eben erst zugeben mußten, daß wir zu unserer Verteidigung in der Tat einen weltweit anerkannten, angemessenen Beitrag leisten. ({12}) Vielleicht kann der Oppositionsführer dem Generalsekretär seiner Partei bestellen, ({13}) daß es sich im Vergleich zu der hier vorgetragenen Meinung des Sprechers der CDU/CSU in diesen Fragen, des Herrn Kollegen Wörner - um es milde auszudrücken -, bei Herrn Biedenkopf um eine Laienmeinung handelt. ({14}) Wir haben für die Zukunft unser Schicksal auch an die Europäische Gemeinschaft gebunden, (Dr. Marx ({15}) an die sich entwickelnde Europäische Gemeinschaft. Auch erfolgt - so wie bisher - in der Zukunft unsere Deutschlandpolitik in enger Zusammenarbeit, in Abstimmung mit den drei Westmächten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika, mit Frankreich, mit England, deren Rechte und Verantwortlichkeiten für Berlin und Deutschland als Ganzes fortbestehen. Deutschlandpolitik erfordert jedoch auch, das Verhältnis unseres Staates zur Sowjetunion und deren Verbündeten so gut in Ordnung zu bringen, wie es die machtpolitischen Gegebenheiten in Europa und in der Welt und soweit es die ja andauernde ideologische Auseinandersetzung zulassen, eine ideologische Auseinandersetzung, der wir uns nicht entziehen, sondern der wir uns stellen. Denn wenn der andere Teil Deutschlands in diese von ihnen so genannte sozialistische Staatengemeinschaft eingegliedert ist und wenn - was nicht bezweifelt werden kann - die Sowjetunion gegenwärtig unter keinen Umständen bereit ist, die DDR aus ihrem Machtbereich zu entlassen, dann mußten die Schlüssel zur Offenhaltung der deutschen Frage eben auch in Moskau und in den anderen osteuropäischen Hauptstädten liegen. Hier ist in den letzten Jahren vieles geschehen. Ohne unsere Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR, ohne unsere Verträge mit Moskau und Warschau wäre ein Viermächteabkommen über Berlin nicht geschlossen worden. Ohne unsere Verträge mit der DDR, ohne unseren Vertrag mit der Tschechoslowakei, ohne die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ungarn und Bulgarien hätte die Politik der Entspannung in Europa nicht fortgesetzt werden können, und wir wären auch im Westen isoliert worden. ({16}) Dies letztere haben sogar Mitte der 60er Jahre einige von Ihnen, die heute auf den Bänken der Opposition sitzen, sehr klar vorausgesehen, wenngleich sie es öffentlich nicht ganz so klar ausgedrückt haben wie anderwärts. Auch Ihr jüngster Vorschlag aus dem vorigen Jahr, als einziges Land Europas nicht nach Helsinki zu gehen, hätte uns in ganz Europa und in der ganzen Welt tief isoliert. ({17}) Die Konferenz von Helsinki hat politische Verhaltensregeln postuliert, ({18}) welche die Zusammenarbeit in Europa verbessern können. Gleichzeitig ist in Helsinki auch die Mitverantwortung der Vereinigten Staaten und Kanadas für die Sicherheit in Europa - dies halte ich für einen wichtigen Punkt - von den osteuropäischen Staaten ohne Einschränkung anerkannt worden. In letzter Zeit ist oft die Frage aufgeworfen worden, ob möglicherweise das Ende der weltweiten Entspannungspolitik in Sicht oder ob diese Entspannungspolitik nicht überhaupt gescheitert sei. Ich antworte darauf mit Nein. Die Vereinigten Staaten von Amerika wie die Sowjetunion - sowohl Präsident Ford als auch Generalsekretär Breschnew mir gegenüber - haben wiederholt erklärt, daß sie am Abbau der Konfrontation festhalten, wie er durch eine Reihe von Verträgen gekennzeichnet ist. Nun gibt es zwischen den Großmächten - nicht nur zwischen ihnen - ganz gewiß erhebliche Interessengegensätze. Und es gibt weite Felder, die - jedenfalls bisher - von keinem der bilateralen oder multilateralen Verträge abgedeckt werden. - Angola, um den Zwischenruf von vorhin aufzunehmen, ist eines dieser Felder. Aber es ist den beiden Großmächten seit mehr als einem Jahrzehnt gelungen, gefährliche Situationen so zu entschärfen, daß zwar die Gegensätze nicht verwischt wurden, wohl aber der Zusammenprall vermieden werden konnte. Wir wissen, daß unser eigener Weg gefährdet sein würde, wenn die Großmächte diesen ihren Kurs verändern sollten. Deshalb wünschen wir und deshalb arbeiten wir in Wien und anderswo mit daran - an diesem gemeinsamen Weg -, daß durch Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzungen, Truppenverminderungen das militärische Gleichgewicht auf niedriger Stufe hergestellt und gewahrt und der Rüstungswettlauf gebremst werde. Wir erwarten, daß es - unabhängig vom Wechsel von Regierungen oder von verantwortlichen Per15086 sonen - im Interesse aller bleibt, diesen bisherigen Kurs der bisher beteiligten Staaten nicht aufzugeben. ({19}) - Im Interesse aller, habe ich gesagt. - Entspannung aufgeben bedeutet, die Menschen wieder voneinander zu trennen, die doch gerade eben erst angefangen haben, hier und da teilweise aufeinander zuzugehen. Was nun Polen angeht, so gilt es, mit einem Volk ins reine zu kommen, das in seiner Geschichte unendlich viel hat leiden müssen, auch durch Deutsche, - das auch andere leiden gemacht hat. Wir Deutschen in der Bundesrepublik spüren die Verpflichtung, die aus der Geschichte erwächst. Wenn die Vereinbarungen, die wir mit Polen getroffen haben, nicht wirksam gemacht würden, so stellten wir damit praktisch alles in Frage, was bisher an Aussöhnung geschehen ist. ({20}) Wir stellten das in Frage, was an Aussöhnung noch hinzukommen kann und muß. Im Zusammenhang mit jenem innenpolitischen Ereignis in der Landeshauptstadt Hannover sind einige Spekulationen ins Kraut geschossen, angeblich werde es der Opposition nun leichter fallen, die Grundlage für die Verständigung mit Polen zu Fall zu bringen. Das war nur eine der Spekulationen; es gibt auch die umgekehrte Kalkulation. ({21}) - Ich sage ja: Spekulationen, aber ich wäre dankbar, wenn ich dazu eine definitive Aussage von Ihnen zu hören bekäme. Das ist heute eine Gelegenheit. ({22}) Es kann ja nicht auf die Dauer bei jenem gedruckten Wort in einem Illustrierten-Interview bleiben, wo, gefragt nach den Chancen des Abkommens im Bundesrat, Ihr erster Mann geantwortet hat: „Keine Antwort." ({23}) Ich kann mir nicht denken, daß ein verantwortlicher Politiker in West oder Ost, überhaupt ein verantwortlicher Politiker in Europa und in der Welt, sich recht vorstellen kann, daß die deutsche Opposition es auf sich nehmen wollte, über eine Abstimmung im Bundesrat die Hand zur Aussöhnung zu verweigern. Ich kann es mir nicht vorstellen! ({24}) Überdies muß sich jeder fragen, ob er es vor der Weltöffentlichkeit und vor dem eigenen Gewissen aushält, 125 000 Deutschen die Ausreise nach Deutschland zu verbauen. ({25}) Auch die Tatsache, daß über die 125 000 hinaus noch weitere ausreisewillige Deutsche in Polen leben - wie viele es genau sind, weiß gegenwärtig weder die polnische Seite noch wir -, ({26}) rechtfertigt kein Nein zu den Abmachungen. ({27}) Die polnische Seite hat sich bereit erklärt, weitere Anträge auf Ausreise entgegenzunehmen. Eine Weigerung der Opposition hülfe weder den einen, deren Zahl jetzt festgelegt ist, noch den anderen, deren Zahl noch nicht festgestellt ist. ({28}) Meine Damen und Herren, gewiß ist es legitim, über Geld verschiedene Meinungen zu haben und sich zu streiten. Es ist nicht legitim, die Menschen zu vergessen, wenn man über Geld streitet, weder die Menschen in der DDR noch die in irgendeinem anderen Lande. Unter keinem der bisherigen Bundeskanzler war es jemals eine Frage des Geldes, wenn es darum ging, Deutschen hier eine neue Heimat zu geben. ({29}) Ich erinnere mich noch gut daran, wie Konrad Adenauer gegen Ende seines öffentlichen Wirkens mehrfach von der Notwendigkeit des Ausgleichs mit dem Osten und insbesondere von Polen gesprochen hat. Ich mache ihn nicht zum Kronzeugen sozialliberaler Außen- oder Ostpolitik. Aber man soll ihn bei dem gerechtfertigten Gedenken an seinen 100. Geburtstag bitte auch nicht verzeichnen, wie es etwa der heutigen Tagesopportunität entsprechen mag. ({30}) Ich sehe zwei schwerwiegende Folgen für unser Land, wenn die Vereinbarungen mit Polen tatsächlich nicht ratifiziert würden: Wir zerstörten unsere moralische Grundlage, auf der wir Aussöhnung und Verständigung anstreben und auf der wir zur Sicherung des Friedens beitragen konnten; und wir machten uns international unglaubwürdig und beschädigten international unsere Handlungsfähigkeit, im Osten wie auch im Westen. ({31}) Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal an jene nationale Aufgabe erinnern, die wir alle miteinander gemeinsam gelöst haben. Ich meine die Eingliederung von Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen. Viele mögen vergessen haben, was damals vor dreißig Jahren war; sicherlich nicht den Tod und das unermeßliche Leid, den Verlust, die Vertreibung, die Tatsache, daß der Staat und die Gesellschaft im Chaos untergegangen waren. Aber vielleicht hat man vergessen, was andere an finanziellen Opfern gebracht haben. Gewiß war es nämlich damals Geld, viel Geld - und seither noch sehr viel mehr Geld -, das wir gebraucht haben zur Hilfe für die, die zu uns kamen, dafür, den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Die bisherigen Gesamtaufwendungen für Lastenausgleich betragen auf Grund des geltenden Rechtes 97 Milliarden DM. Gesamtaufwendungen für Lastenausgleich zugunsten Geflüchteter, Vertriebener und auch einiger, die vorher schon hier im Lande gelebt haben: 97 Milliarden DM! Voraussichtlich werden nach den geltenden Gesetzen dazu im Laufe der Zeit noch weitere 33 Milliarden DM kommen, so daß das deutsche Volk durch seine Steuerzahler in der Bundesrepublich Deutschland allein unter diesem Stichwort 130 Milliarden DM aufbringt, um den Geflüchteten und Vertriebenen zu helfen, sich hier wieder heimisch einrichten zu können. Aber mehr natürlich noch als Geld: Ich denke, es liegt eine einmalige geschichtliche Leistung darin, daß damals und seither der Ausweg eben nicht in politischer oder sozialer Radikalisierung, sondern in der gemeinsamen Anstrengung gesucht wurde. ({32}) Entspannungspolitik aufgeben oder nur darin schwankend werden, hieße schließlich auch, die Hoffnung auf eine Wende unseres nationalen Schicksals, unseres Schicksals als Nation, aufgeben und übrigens neue Gefahren um Berlin heraufbeschwören. Wir stehen unverändert in der Pflicht, die Härten der andauernden Teilung unseres Landes zu mildern. Der schriftliche Gedankenaustausch, den ich vor eineinhalb Jahren mit Herrn Honecker aufgenommen und seitdem fortgesetzt habe, wurde ergänzt durch die Gespräche, die wir in Helsinki hatten. Das hat die Einigung über die Beilegung von Störungen auf den Transitwegen, über Mindestumtausch, Swing, Transitpauschale und den Ausbau der Verkehrswege zwischen Berlin und dem Bundesgebiet ermöglicht. Ich bin überzeugt, daß die Führung der DDR ein ernstes Interesse eben nicht nur an ideologischer Abgrenzung, sondern auch an der Entwicklung besserer Beziehungen zu uns hat, aus internationalen wie aus ökonomischen Gründen notabene. Jeder weiß: Dabei bleibt Berlin für uns Prüfstein. Die Berliner Wirtschaft hat sich in der Weltrezession besser gehalten als die Wirtschaft im Westen. Zusammen mit dem Berliner Senat, mit der Industrie, mit den Gewerkschaften haben wir alles getan, um wirtschaftlichem Stillstand und wirtschaftlicher Isolierung vorzubeugen. Die Bundesregierung trägt z. B. durch Änderung ihrer Förderungsrichtlinien dazu bei, daß verstärkt Entwicklungsaufträge und Forschungsprojekte nach Berlin vergeben werden. Von dem von den Wirtschaftsverbänden geplanten Zentrum für wirtschaftliche Kooperation erhoffen wir uns eine weitere Belebung des Ost-West-Handels. Daß bisher 37 westdeutsche Großunternehmen auf der Ebene ihrer Unternehmensvorstände besondere Berlin-Beauftragte ernannt haben, wird den wirtschaftlichen Austausch zwischen der westdeutschen und der Berliner Wirtschaft weiter intensivieren. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen zur DDR haben im vergangenen Jahr eine Steigerung des Handels um etwa 9 % zu verzeichnen; allerdings ist der Warenaustausch nicht in beiden Richtungen gleichgewichtig. Aber der Berliner Anteil an den Lieferungen in die DDR ist von 9 % im Jahr zuvor auf 15 % im Jahre 1975 gestiegen. Die letzten drei Monate fehlen noch in meiner Statistik. Der Berliner Anteil ist jedenfalls gestiegen. Wir haben uns dazu auch Mühe gegeben. Auch im langfristigen Anlagegeschäft im Rahmen zwischenbetrieblicher Kooperation mit Betrieben in der DDR sind positive Entwicklungen in Gang gekommen, die im Laufe der Zeit ausbaufähig sind. Es wird damit ein Stück Normalisierung nachgeholt, das wir in bezug auf andere Staaten Osteuropas schon lange erreicht haben. Auch die DDR - ich wies vorhin allgemein auf Osteuropa hin - hat natürlich eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen durch verteuerte Rohstoffeinfuhren zu verzeichnen. Um ebensoviel einführen zu können wie bisher, muß sie mit höheren Exportleistungen bezahlen. Die Zahlungsbilanz bedrängt ihr Preisniveau, den Reallohn und den Investitionsfortschritt. Andererseits konnte die DDR ihr wirtschaftliches und technisches Potential beachtlich erweitern. Dem stehen aber strukturelle Probleme gegenüber, die bisher nicht gelöst werden konnten, nämlich im hohen Kostenniveau der Produktion, in der Energieversorgung, in den Schwächen der Infrastruktur, vor allem im Transport- und Verkehrswesen. Die DDR-Führung scheint trotz aller Schwierigkeiten an ihrem Ziel der Hebung des materiellen Lebensstandards verständlicherweise festzuhalten. Und da dies unter den gegenwärtigen Umständen ohne weitere Steigerung der ohnehin hohen Subventionen über die Preise lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen nicht geht, muß sie die Erhöhung des Lebensstandards von einer entsprechend gesteigerten Arbeitsproduktivität abhängig machen. Auf eine kurze Formel gebracht: Die gegenwärtige ökonomische Problematik drüben läßt erkennen, daß bestimmte wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten überall in der Welt gelten, unabhängig davon, ob es sich um eine staatliche Zentralverwaltungswirtschaft oder um eine Marktwirtschaft handelt. Tatsächliche und konkrete Verbesserungen, wie wir sie in den Verkehrsverhandlungen erzielt haben, können die Bindungen zwischen uns und den Berlinern stärken; allein konkrete Verbesserungen können dies, nicht aber markige Reden oder Sprüche. ({33}) Die Autobahn zwischen Helmstedt und Dreilinden ist eine Straße auf dem Territorium der DDR und kein Korridor. Straßenbau ist eine teure Angelegenheit - auch bei uns hier. Dennoch waren wir nicht bereit, uns auf Kalkulationen einzulassen, in die man andere Faktoren eingestellt zu haben schien, andere als solche, die mit den tatsächlichen Kosten zu tun haben. Wir sind zu einem Kompromiß gekommen, den die Fachleute für vertretbar halten. Natürlich ist das immer noch eine Menge Geld. Aber das Geld ist im Interesse der Berliner sehr gut angelegt. ({34}) Der Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten und insbesondere der Reiseverkehr mit Berlin wird dadurch einfacher und schneller, daß zwei neue Übergänge eröffnet werden, der eine für den Straßenverkehr im Norden Berlins und der andere bei Staaken für den Schienenverkehr. Die Bahnhöfe Spandau, Wannsee und Charlottenburg werden wieder für den Fremdenverkehr nutzbar gemacht, der im übrigen verstärkt wird. Nach vielen Jahren vergeblicher Bemühungen besteht nun endlich die Aussicht, daß der Teltow-Kanal von Westen her geöffnet werden kann, was erhebliche Zeit- und Kostenersparnisse für die Binnenschiffahrt mit sich bringt. Ich will nicht alle Details erwähnen. Aber andere Vorhaben, über die ich mit Herrn Honecker in Helsinki gesprochen habe, z. B. die Autobahn von Berlin nach Hamburg, ein, wie jeder weiß, sehr kostspieliges Projekt, sind nicht etwa ausgeklammert worden. Verhandlungen z. B. über diesen Punkt werden in zwei Jahren beginnen. Die höhere Transitpauschale ist im wesentlichen eine Folge des gestiegenen Verkehrs. Wir hätten gern eine stärkere Zweckbindung dieser Gelder erreicht. Die DDR hat dem entgegengehalten, sie habe der Pauschalierung schon 1971 nur unter der Voraussetzung zugestimmt, daß ihr keine Nachteile gegenüber den früheren Einzelerhebungen entstehen. Ich erinnere hier daran, daß die DDR seit der Regierungszeit Adenauers Straßenbenutzungsgebühren und seit der Regierung Kiesingers Steuerausgleichsabgaben und Visagebühren von jedermann einzeln erhoben hat, ohne daß bei uns damals hier je daran gedacht worden ist, eine Kontrolle über diese Einnahmen der DDR und ihre Verwendung zu verlangen. Fast 15 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr die Transitwege benutzt, und jeder - der Privatmann ebenso wie das Gütergewerbe - profitiert davon zeitlich und finanziell. Eine Korrekturklausel in unseren Abmachungen sorgt dafür, daß keiner zuviel zahlt oder bekommt, falls der Verkehr sich nicht so entwickeln sollte, wie erwartet. Wir bedauern die Erhöhung für Straßengebühren für Lastfahrzüge. Dadurch ist der Wettbewerbsvorteil für Lastwagen der DDR im Verkehr mit dem Bundesgebiet und Berlin größer geworden. Der Vorteil für die DDR beruht im Grunde auf der von keiner bisherigen Bundesregierung in Frage gestellten Regelung in unserem Kraftfahrzeugsteuergesetz, nach der DDR-Fahrzeuge nicht wie ausländische Fahrzeuge behandelt werden, sondern unbesteuert bleiben. Ich sage sehr deutlich: Wir könnten das ändern; aber dann sollten alle Fraktionen einen solchen Beschluß tragen. Die Opposition kritisiert heute den ihrer Meinung nach unangemessen hohen Finanzierungsbeitrag der Bundesregierung für den Ausbau der Verkehrswege nach Berlin. Mir scheint Inkonsequenz in dieser Kritik zu liegen. Ich darf daran erinnern, daß die Bundesregierung Erhard 1964 mit der DDR erstmalig eine Vereinbarung getroffen hatte, die sich ebenfalls auf den Ausbau einer Verkehrsverbindung bezog. Es waren damals nicht so große Projekte, aber es war das gleiche Prinzip, das 1964 zur Debatte stand wie heute erneut. Damals hat die Regierung Erhard - es ging um die Finanzierung des Neubaus der Saale-Brücke - alle Kosten übernommen. Alle! Dies haben wir wohlweislich nicht getan, weder was die Erneuerung der Autobahn von Helmstedt bis zum Berliner Ring angeht noch was den Berliner Ring selbst angeht, der erneuert werden muß. Wir haben nach dem Nutzenanteil unsere Kostenaufteilung sogar verschieden geschlüsselt. Die CDU jedenfalls hat seinerzeit, als erstmals eine Verkehrsinvestition auf dem anderen Territorium von uns gewünscht und infolgedessen auch bezahlt wurde, nicht durchgesetzt oder vielleicht auch nicht durchsetzen wollen - ich lasse das offen, weil ich insoweit die Akten nicht nachgesehen habe -, daß sich die andere Seite, auf deren Territorium diese Verkehrsinvestition vorgenommen wurde, an den finanziellen Aufwendungen beteiligte. Ich rufe das in Ihre Erinnerung. Der „Rheinische Merkur" hat damals - er steht Ihnen ja nahe geschrieben - ich rede immer noch von derselben Saale-Brücke -: Als dann herauskam, daß das Projekt jetzt endlich verwirklicht würde, und zwar mit dem Geld aus der Bundesrepublik und unter sowjetzonaler Leitung, konnte die erste Reaktion hierzulande nur Zustimmung sein. Und das war ganz richtig! Ich halte heute fest: Wer nur darauf schaut, daß das alles Geld kostet, der muß sich sagen lassen: Erstens, jeder Staat vertritt seine Interessen, auch die DDR! Wir können nicht erwarten, daß sie finanzielle Leistungen für Investitionen erbringt, die in unserem Interesse liegen. ({35}) An ihre vertraglichen Pflichten aus dem Transitabkommen hat sich die DDR gehalten. Zweitens. Nichts ist wichtiger für die Bindungen zwischen dem Bund und Berlin als ein ungehinderter Verkehrsfluß. ({36}) Was wir aufbringen, sind Investitionen in die Zukunft des Berlin-Verkehrs, Investitionen in die Zukunft Berlins. Den Status und die Sicherheit der Stadt verbürgen unsere Verbündeten Amerika, Großbritannien und Frankreich. Für die Aufrechterhaltung und Kräftigung der Bindungen zu uns zu sorgen, das ist unsere eigene Sache! ({37}) Die Zahl der Reisenden aus dem Bundesgebiet in die DDR hat sich in den vergangenen fünf Jahren auf über drei Millionen im Jahre 1975 verdoppelt. 1975 wurden ebenfalls über drei Millionen Reisen von Westberlinern in die DDR und nach Ost-Berlin gezählt. Die Bundesregierung bringt diesen Fortschritt mit Befriedigung und Anerkennung zur Kenntnis. Diese Anerkennung - das füge ich hinzu - gilt auch den Gastgebern in der DDR und der gastgebenden DDR überhaupt. Ich verhehle nicht, daß wir uns im vergleichbaren Maße revanchieren möchten als Gastgeber für mehr Gäste aus der DDR hier bei uns. ({38}) Zwar haben uns Jahr für Jahr über eine Million Rentner besucht - es waren im letzten Jahr 1,3 Millionen -; aber ich hoffe doch, daß im Laufe der Zeit endlich auch jüngere Menschen aus der DDR in größerer Zahl zu uns reisen dürfen. ({39}) Daß die Menschen in Verbindung bleiben wollen, zeigt der unverändert gewaltige Strom von Brief-und Paketsendungen. Die Zahl der Telefonleitungen ist in den vergangenen sechs Jahren seit der ersten sozialliberalen Regierung und ihren Initiativen von damals 34 Leitungen auf heute 700 Leitungen gestiegen. Aus dem Bundesgebiet und West-Berlin werden statt 1 Million nunmehr 91/2 Millionen Telefongespräche in einem Jahr geführt. Das ist menschliche Verbindung! ({40}) Wichtig für die langfristige Sicherung der Vorteile eines dichten Post- und Fernmeldeverkehrs zwischen beiden Seiten ist der bevorstehende Abschluß eines Regierungsabkommens mit der DDR. Er gehört zu den Folgevereinbarungen des Grundlagenvertrages, Berlin ist darin voll einbezogen. Die Überprüfung der Markierung an der 1 346 km langen Grenze zur DDR ist durch die Grenzkommission im Herbst abgeschlossen. Unklarheiten und Zweifel über den Grenzverlauf konnten an vielen Stellen ausgeräumt werden. Eine wichtige Ausnahme ist bisher der Elbeabschnitt zwischen Lauenburg und Schnackenburg. Für den Elbeabschnitt sind auch die Befugnisse der Hoheitsorgane beider Seiten, die Ausübung des Fischfangs und zahlreiche andere Einzelheiten, z. B. des Binnenschiffsverkehrs sowie Sportschiffahrt, zu klären. Für die gesamte Grenze wurden seit 1973 die in der Grenzkommission erarbeiteten Grundsätze zur Schadensbekämpfung und Gewässerinstandhaltung angewendet. An Grenzgewässern wurden bisher teils von unseren Stellen, teils von Stellen drüben Tiber 170 Instandhaltungsmaßnahmen oder Ausbaumaßnahmen vorgenommen. Über die an der Grenze eingerichteten 14 Informationspunkte wurden seit 1974 mehrere hundert Informationen über Schadensverhütung und Schadensbekämpfung auch bei Naturkatastrophen ausgetauscht. Eine Reihe weiterer Regelungen über Wasser- gewinnung, über raschere Hochwassermeldungen, über forstwirtschaftliche Arbeiten im Grenzbereich, über Austausch von Vermessungsunterlagen und über Benutzung gemeinsamer Grenzwege wurden entweder schon getroffen oder werden demnächst unterzeichnet. Sie fügen sich dem umfangreichen Komplex von Regelungen über die Lübecker Bucht an, die seit Ende 1974 in Kraft sind. Meine Damen und Herren, Sie werden sich erinnern, daß ich vor einem Jahr gesagt habe, wir gingen illusionslos an dieses Werk und es werde immer auch wieder Rückschläge geben. Das in mehreren Fällen angewendete Verfahren in der Verfügung über Kinder, deren Eltern in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet sind oder fliehen wollten, habe ich als Verletzung elementarer Menschenrechte angesehen. ({41}) Ich habe jetzt den Eindruck, daß dies inzwischen korrigiert wird. Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in der Konsequenz unserer besonderen Bemühungen, die schon in der Obhut von Bundesministern aus allen drei Fraktionen dieses Hauses unternommen worden sind, seit 1970 etwa 20 000 Personen aus der DDR ausreisen und in die Bundesrepublik übersiedeln konnten, darunter auch etwa 3 500 Kinder; ein großer Teil von ihnen sind solche, die als Kinder einzeln herübergekommen sind. Etwa ein Drittel der vorher genannten Gesamtzahl von Ausreisenden ist allein im Jahre 1975 gekommen. Man hat sich drüben bewegt! In diesem Zusammenhang gestatte ich mir die Einfügung eines Wortes zu dem Ostberliner Urteil gegen den kommerziell tätigen Fluchthelfer Schubert. Ich will hier deutlich sagen, daß der Angeklagte keine Spionage zugunsten der Bundesrepublik Deutschland oder irgendeines ihrer Organe betrieben hat. Das Strafmaß von 15 Jahren steht, soweit es sich auf Fluchthilfe bezieht, in keinem Verhältnis zu einer Tätigkeit, die in unserem Lande überhaupt nicht strafbar ist. ({42}) Aber hören Sie bitte auch diesen letzten Satz, den ich nicht verschweigen darf: Hierzulande wird gegen Schubert wegen Betrugs, wegen Unterschlagung, wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen anderer Delikte ermittelt. (Vogel [Ennepetal] ({43}) - Es hat etwas damit zu tun, wie solche Fälle in der öffentlichen Auseinandersetzung unsererseits behandelt werden, Herr Zwischenrufer! ({44}) Ich will auch, was die Rückschläge und Belastungen angeht, nicht verschweigen, daß ich die gegen Geist und Inhalt der Schlußakte von Helsinki verstoßende Ausweisung eines in Ost-Berlin akkreditierten bundesdeutschen Journalisten dazu zähle. Dies alles zeigt, daß die beiden deutschen Staaten im Umgang miteinander noch viel zu lernen haben. Man sollte drüben nicht kritische Berichterstattung als Diffamierung verstehen, wenn man sich doch selbst in seiner Kritik keinerlei Schranken auferlegt. ({45}) Natürlich haben wir protestiert, in aller Form und wie es sich gehört. Und die Sache ist ja wohl auch noch nicht ganz zu Ende. Aber eines muß man hier auch klar sagen: Dem Rat, etwa Gleiches nur mit Gleichem zu vergelten, haben wir nicht folgen können. Solches zu tun wäre nicht nur ein Zeichen der Schwäche, sondern widerspräche der inneren Ratio und der Moral unserer Politik. Wir sind für freie Berichterstattung, ({46}) und wir weisen nicht einen deutschen Journalisten aus Deutschland aus. ({47}) Ebenso klar muß ich dann aber auch sagen, daß wir es nicht recht verständlich finden, wenn auf unserer Seite das Kultusministerium eines Landes - Rheinland-Pfalz - der Schuljugend dieses Bundeslandes eine der sachlichen Information dienende Unterrichtshilfe ({48}) des Gesamtdeutschen Instituts vorenthält. ({49}) - Herr Kollege Jäger ({50}), ich verweise darauf, daß die Texte jenes Kalenders von unabhängigen Journalisten geschrieben wurden, die durch ihre berufliche Tätigkeit für westdeutsche Zeitungen in Ost-Berlin zweifellos ein etwas besser fundiertes Urteil über das Leben in der DDR haben als jemand in Mainz, der solche Erlasse in die Welt setzt. ({51}) Sie haben mir gerade vor zwei Minuten innerlich zugestimmt, als ich mich für die Freiheit der Berichterstattung durch westdeutsche Journalisten, die in Ost-Berlin tätig sind, einsetzte. ({52}) Es ist eben so, Herr Kollege Jäger, daß die eigenen politischen Ziele nicht dadurch am besten vertreten werden, daß man Härte und Stärke zur Schau stellt, sondern der wichtigste Unterschied zwischen unserer Politik in der Deutschlandfrage und der Politik, welche die CDU/CSU betreiben will - oder die sie betreiben zu wollen vorgibt , liegt darin, daß Sie von der CDU/CSU meinen, es gäbe Trümpfe, mit denen man die DDR zwingen könnte, etwas zu tun, was sie nicht will. Ich kann diese Trümpfe nicht erkennen. Ich bitte Sie, uns einmal zu sagen, worin sie eigentlich bestehen. ({53}) Wenn Sie diese Trümpfe aber nicht zeigen können, weil sie nicht da sind, und wenn Sie sie nicht ausspielen können, dann kann ich auch nicht erkennen, daß Rückgriffe auf Methoden, die in den langen, langen Jahren des kalten Krieges gebräuchlich waren, zu mehr Menschlichkeit führen werden. Jene, die solches anraten, liefern mit der Sprache der Unversöhnlichkeit lediglich jenen auf der anderen Seite, den Anwälten der Abgrenzung drüben, den Resonanzboden. Es gibt auf beiden Seiten genug Vertreter von Härte und Stärke; drüben z. B. solche, die es ablehnen, mit dem sogenannten Klassengegner überhaupt nur zu sprechen. Es sind die Rigoristen auf beiden Seiten, die sich gegenseitig die Alibis für eine Politik des Alles oder Nichts besorgen. ({54}) Ich fasse unsere eigene Politik gegenüber dem anderen deutschen Staat in vier Punkten zusammen. Erstens. Unsere Politik beruht auch gegenüber der DDR auf den Normen und Wertvorstellungen des Grundgesetzes. Zweitens. Deshalb können und werden wir die bestehenden Gegensätze weder beschönigen noch verschleiern. Drittens. Wir werden uns - wo immer dies möglich ist oder wo immer wir dies ermöglichen können - um Vereinbarungen bemühen, die den Menschen hüben und drüben helfen. Viertens. Wir tun dies in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten und auf der Grundlage der abgeschlossenen Verträge. ({55}) Diese Politik des Ausgleichs ist immer schwierig; manchmal ist sie nicht möglich. Vielleicht und hoffentlich darum geben wir uns Mühe - wird sie auf noch anderen Feldern als bisher möglich gemacht. Aber dort, wo sie möglich ist, kommt ein deutliches Plus für den Frieden in Europa und für die Nation, für den Zusammenhang der geteilten Nation, heraus. Was unser eigenes Haus angeht: Die eigenen Dinge in Ordnung halten, den Menschen eine freiheitliche und soziale Gesellschaft geben, das bleibt eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß eines Tages das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit erlangt. Wie stellt sich unser Land in den Augen der anderen dar? Herr Ministerpräsident Kohl hat ja jüngst ein zweites deutsches Wirtschaftswunder verlangt. Dazu zitiere ich z. B. die angesehene amerikanische Tageszeitung „Christian Science Monitor": Obwohl man sie ein „Wunder" nennt, hat die überragende wirtschaftliche Leistung Deutschlands damit nichts zu tun. Sie gründet in hohem Maße auf gutem Regierungshandeln und harter Arbeit . . . Ein anderer stabilisierender Faktor ist die großzügige, aber nicht verschwenderische Sozialgesetzgebung. Das wurde im letzten Herbst geschrieben. Oder die Pariser Tageszeitung „Figaro", ebenso gegen Ende vorigen Jahres: Unter den großen europäischen Ländern ist die Bundesrepublik unbestreitbar dasjenige, in dem die Weltinflation am wenigsten bemerkbar wurde. Es ist auch das Land, in dem seit mehreren Jahren der Geldwert am stabilsten ist. Oder ebenso die Londoner „Financial Times" am Ende des vergangenen Jahres: Das dichtgeknüpfte Netz der sozialen Sicherheit hat die Belastung in bewundernswerter Weise ausgehalten. ({56}) So oder ähnlich sagen uns das viele in den letzten Jahren. Sie bestätigen uns, daß wir besser als andere vergleichbare Industriestaaten mit den Problemen einer sich dramatisch verändernden Weltwirtschaft fertig wurden; daß wir eine gleichgewichtige und gerechte Gesellschaft aufbauen und daß wir Freiheit und demokratische Teilhabe aller Bürger vermehren und sie anerkennen; und ebenso endlich: daß wir zu einem Aktivposten der Friedenssicherung in Europa geworden sind. Wenn uns dies die Beobachter in aller Welt sagen und bestätigen, muß man deswegen nicht überheblich werden, aber man darf sich darüber freuen und man braucht sein Licht auch nicht immer unter den Scheffel zu stellen, sondern man darf es auch einmal a u f den Scheffel stellen. ({57}) Es gibt bei uns keine Massenarmut, wie es Herr Ministerpräsident Kohl neuerdings der öffentlichen Meinung einreden lassen möchte. ({58}) Wer aus Profilsucht ein neues Proletariat in seiner Prägung des Wortes herbeizureden versucht, der zeichnet ein falsches Bild. Bei uns leben die Rentner nicht im Schatten. Niemals zuvor sind die Renten real so gestiegen wie in den letzten sechs Jahren. Die Gesellschaft hat die Älteren und die Behinderten nicht vergessen. Wo anders in der Welt gibt es eigentlich vergleichbare Systeme der Arbeitslosensicherung, der Arbeitsförderung, des Familienlastenausgleichs, der Alterssicherung, der Sozialhilfe, flexible Altersgrenze, gesicherte Betriebsrenten, Konkursausfallgeld? Die Opposition meint - nein, ich nehme das Wort zurück: einer der wichtigsten Sprecher der Opposition meint, dies alles mit dem Wort „Gratifikationen" bezeichnen zu dürfen. ({59}) Wir meinen: unsere Bürger haben ein Recht auf all dieses. Und wir sorgen dafür, daß sie erhalten, worauf sie ein Recht haben. ({60}) Hören Sie sich um im Ausland! Sie werden dort hören, daß wir Gewerkschaften mit einem Erfolg haben, wie sich andere ihre Gewerkschaften und deren Erfolg wünschen. ({61}) Bei uns werden Löhne und Gehälter frei ausgehandelt, und dabei orientieren sich die Verhandelnden, wie wir alle erfahren haben, durchaus am allgemeinen Wohl. Jetzt kommt eine Ausweitung der Mitbestimmung. Sie kann nicht den Zielvorstellungen aller entsprechen, sie wird aber von den Gewerkschaften als Schritt in die richtige Richtung verstanden werden und genutzt werden. Im Unternehmerlager beginnt man, sich damit anzufreunden. Allerdings, der Wirtschaftsbeirat der CDU hat den jetzt erzielten Kompromiß vor wenigen Tagen als „Ermächtigungsgesetz zur Fremdbestimmung" bezeichnet. ({62}) Fürwahr, Herr Professor Carstens, eine schlimme semantische Formel - ich könnte auch sagen: Verleumdungsformel! ({63}) Mitbestimmung ist Emanzipation. ({64}) Emanzipation ist auf vielen Feldern nötig, und am meisten haben wir zugunsten der Frauen in unserer Gesellschaft aufzuholen. Wir verwirklichen mit der Reform des Eherechts, mit der bevorstehenden Reform des § 218 StGB ({65}) Regelungen, die für die Gesetzgeber schon seit Beginn der Weimarer Republik umkämpft und umstritten waren, um die man sich seit damals bemüht hat. ({66}) Und das sind wirkliche Fortschritte, die viele Menschen draußen besser einzuschätzen wissen als viele Redner im Deutschen Bundestag. Die rechtliche Gleichstellung der Frau in Familie und Gesellschaft, die rechtliche Gleichstellung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz ist eine Sache. Es bleibt aber eine andere Sache, es bleibt eine Aufgabe der Sozialpartner und vieler von uns, für die berufstätigen Frauen die tatsächliche Gleichheit in ihrer beruflichen Arbeit, in ihrer Erwerbsarbeit herzustellen. ({67}) Vieles in unserer gemeinsamen Aufbauleistung - vielleicht sogar in diesem Feld - ist beispielhaft, vielleicht sogar ein Modell für andere. Wenn dies so ist, dann ist es so, weil wir eine erfolgreiche Verständigungspolitik betreiben, weil unser Land über eine außerordentlich hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, weil unser dicht geknüpftes Netz an sozialer Sicherheit zu einer einzigartigen sozialen Stabilität geführt hat, weil wir eine konsequente Politik stetiger Reform betreiben, weil wir es mit innergeselischaftlicher Solidarität und realer Freiheit des einzelnen ernst meinen. Wir gestehen ehrlich zu, daß manches noch nicht so ist, wie wir es uns wünschen und uns vorstellen. Zum Beispiel hat unsere Jugend Anspruch darauf, daß die Bildungschancen gerechter verteilt werden. Den Ländern und ihren Landtagen muß ich sagen: Passen Sie auf, daß die Hauptschule nicht zu einer Restschule verkümmert! ({68}) Ich sage das allen Landtagen und allen Landesregierungen zugleich, unabhängig von ihren parteilichen Färbungen. Das ist nämlich in ganz Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem. ({69}) Und der Opposition in Bundestag und Bundesrat muß ich sagen: Die Reform der beruflichen Bildung muß vorankommen. ({70}) Es gibt hier zuviel Tauziehen zwischen Interessenpartikularismus und Schlimmerem, zuviel Taktik. Es gibt einen Oppositionsentwurf, der die Kernprobleme des Defizits an Lehrstellen und insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit ausklammert. ({71}) - Wir tun nichts? Wir sind gehindert von einer Opposition, die sich auf eine Mehrheit im Bundesrat stützt und zerstört, was an Fortschritt in Deutschland notwendig ist! ({72}) Der Abgeordnete Jenninger gehört doch auch zu den Leuten, die immer über das reden, was nicht geschehen dürfe, anstatt mitzuwirken, daß das geschieht, was in Deutschland notwendig ist. ({73}) Die Berufsausbildung muß aus dem Abseits der vergangenen Jahre herausgeholt werden. ({74}) Die Ziele des Regierungsgesetzentwurfs sind nüchterne Ziele, es sind realistische Ziele, und sie verdienen die Zustimmung auch des Bundesrats. Ich füge noch einen Absatz über die Hochschulen hinzu, vor deren Toren sich viele Tausende drängen. Dort sind nun durch das Hochschulrahmengesetz die Voraussetzungen für eine Neuordnung des Zugangs und für die Studienreform geschaffen. Diese liegt mir sehr am Herzen. Es kommt jetzt darauf an, daß nicht mehr so lange studiert wird. Bei allem Drang zur höheren Bildung, den wir gutheißen und den wir mit herausgefordert haben, wozu wir uns bekennen und was wir nicht bereuen, bei all diesem Drang zur höheren Bildung - Bildung ist ein Wert an sich -, sollte nun aber andererseits auch verstanden und weitergesagt werden - das richtet sich nicht nur an die Opposition, sondern an jedermann -, daß höhere Bildung und eine akademische Prüfung keineswegs automatisch zu irgendeinem höheren Einkommen berechtigen. ({75}) Es ist leicht, diesen Satz zu akzeptieren, wenn man ihn im Parlament hört. Verehrte Freunde, sorgen Sie dafür, daß er sich im deutschen Volk verbreitet. Sie werden Ihre Schwierigkeiten damit haben. ({76}) - Ja, ja, das sage ich in alle Richtungen. Eine akademische Prüfung darf nicht mit dem Bewußtsein verbunden bleiben, nun habe man den Eintrittsschein für eine von vornherein auf gehobener kategorischer Ebene liegende Berufslaufbahn, die besser bezahlt wird als andere. Der Ausbau des Sozialstaats bleibt unser Auftrag, ebenso die Bewahrung der liberalen Bürgerrechte. Unsere Demokratie verträgt und braucht keine Gesinnungsschnüffelei, die doch nur Opportunismus erzeugt. ({77}) Ein Wort zu dem uns bevorstehenden Wahlkampf! Wenn heute bisweilen vor zuviel Wahlkampf oder vor zuviel Polarisation gewarnt wird, dann meine ich dabei eine bestimmte, verdeckte Scheu vor der politischen Auseinandersetzung zu spüren, nicht bei den Politikern selbst, sondern bei denen, die die Warnungen erheben. Ich denke, wenn wir zu Recht darauf stolz sind, daß es bei uns freie Wahlen gibt, dann sollten wir es ebenso als eine demokratische Lebenserfahrung fast aller Demokratien in der Welt - und manche sind ja sehr viel erfahrener in Wahlen und Wahlkämpfen als wir - hinnehmen, daß Wahlkämpfe auch Polarisierung mit sich bringen. Daß es Grenzen der Auseinandersetzung, Grenzen des Tons und der Polemik gibt und geben muß, ist selbstverständlich. ({78}) - Hoffentlich halten Sie sich auch alle daran, Herr Kollege Jenninger! Sie sind ja einer von denen, die darauf achten müssen. ({79}) Sie sind ja besonders berufen als Wächter. Ich will aber eines sehr deutlich sagen - und das sage ich einschränkend -: Wahlkämpfe können natürlich zu einer Gefahr für die Demokratie werden, wenn sich Politik im bloßen Austüfteln von Wahlkampftaktiken und -parolen erschöpft. Es wäre eine noch größere Gefährdung unserer Demokratie, wenn Parteien gegründet würden, die allein dem Zweck dienten, Wählerfang für eine Wahl zu betreiben, oder wenn man es vorsätzlich oder fahrlässig zuließe, daß solche Parteien gegründet werden. Der Abgeordnete Strauß hat sich bisher von der sogenannten Vierten Partei, die sich öffentlich auf ihn beruft, nicht ausdrücklich distanziert. ({80}) Es ist sein gutes Recht, sich so oder anders zu verhalten. Aber ich finde, daß er politisch sagen sollte - damit man mit ihm darüber streiten kann -, welche Ziele er verfolgt. Ich bitte, zu verstehen, daß es ein notwendiger Gegenstand des Streits sein muß, für dieses Haus und für jedermann, der jene Bemühungen verfolgt, eine Vierte Partei zu gründen, an der er selber gar nicht beteiligt ist - oder von der er zu verstehen gibt, er habe mit, ihr nichts zu tun, vielleicht sogar „im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun" -, ({81}) wenn ich damit die Frage aufwerfe, ob die Gründung einer solchen Vierten Partei nicht psychologisch-politische Wirkungen auslösen muß, die schnell zur Gründung einer fünften und einer sechsten Partei führen könnten. ({82}) Auf beiden Seiten des politischen Spektrums - damit Sie mich ganz richtig verstehen -, auf beiden Seiten! Es liegt hierin möglicherweise eine gewisse Gefahr der Aufsplitterung der politischen Parteienlandschaft. Es lohnt den Streit. Es ist keine angemessene Form, dies etwa durch Anzeigenkampagnen allein in den Tageszeitungen auszutragen. ({83}) Dies bedeutet möglicherweise eine Gefährdung der Stabilität unserer Demokratie. Wenn ich davon sprach, daß das auf beiden Seiten des Spektrums unserer Parteienlandschaft geschehen könnte, dann lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort einfügen. Ich gehöre zu denen, die eigentlich stolz darauf sind, daß die Kommunisten bei uns wie in keinem anderen westeuropäischen Land eine so geringfügige Rolle spielen. ({84}) Ich nehme an, daß es in diesem Bundestag kaum jemanden geben wird, der nicht der Sozialdemokratischen Partei seit den Tagen Kurt Schumachers bis heute ein entscheidendes Verdienst daran zubilligen würde. Ich rufe dies in Erinnerung, weil es immer wieder einzelne oppositionelle Agitatoren gibt, die versuchen, Führungspersonen der Sozialdemokratie in die Nähe des Kommunismus zu manipulieren. ({85}) Das ist erst jüngst, in den allerletzten Tagen, gegenüber dem Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erneut geschehen. Ich finde das ekelhaft. ({86}) Es darf nicht dabei bleiben, daß Humanität nur auf Papier geschrieben wird. ({87}) Es darf auch nicht dabei bleiben, Herr Kollege, daß Christentum nur in der Kirche zelebriert wird. ({88}) Viele Menschen jedenfalls die Menschen in der DDR - setzen ihre Hoffnungen auf die Verwirklichung dessen, was z. B. in der Schlußakte von Helsinki geschrieben wurde. Sie wollen, daß die Menschenrechte und die Grundfreiheiten hergestellt und daß sie geachtet werden. Sie wollen, daß die Bundesregierung darin fortfährt, mit der DDR - mit ihrer DDR - Einigungen herbeizuführen, die zwar gewiß nichts von der Härte der ideologischen Gegensätze wegnehmen können, die aber das Leben der Menschen im geteilten Deutschland erleichtern werden. Die elementare Voraussetzung für den Bestand der Nation bleibt das Bewußtsein ihrer Bürger, zusammenzugehören. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ist eine ungeheure Realität, eine geschichtsmächtige Realität, eine Realität, die der geteilten deutschen Nation trotz alledem für ihr Leben verblieben ist. Die Menschen hier und die Menschen in der DDR wissen - und sie wissen das ganz spontan und selbstverständlich -, daß sie Deutsche sind. So verstehen sie sich selbst, und so versteht sie doch auch jedermann sonst in der nichtdeutschen Umwelt in Ost und West. Nun ist das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit etwas geschichtlich Gewachsenes. Deshalb unterliegt es den Einflüssen der Zeiten und der Umstände. Wir wären leichtfertig, wenn wir dieses nicht auch sähen. Politisch heißt das: Eine Nation hat so lange Anspruch auf Selbstbestimmung, wie sie Nation sein will. ({89})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, zusätzlich zu Punkt 2 rufe ich jetzt die Punkte 3, 4 und 5 der Tagesordnung auf: 3. Beratung des Antrags des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974 -Drucksachen 7/2423, 7/4158 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Geßner Abgeordneter Jäger ({1}) 4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung - Drucksache 7/4616 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen ({2}) Rechtsausschuß 5. Beratung der Empfehlungen und Entschließungen der Nordatlantischen Versammlung Präsident Frau Renger bei ihrer 21. Jahrestagung vom 21. bis 26. September 1975 in Kopenhagen - Drucksache 7/4241 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({3}) Verteidigungsausschuß Wir verbinden die Aussprache zu den Punkten 2 bis 5 der Tagesordnung. In der Debatte hat zuerst Herr Abgeordneter Dr. Carstens das Wort. ({4}) - Einen Moment, Herr Kollege! Ich bitte die Damen und Herren, Platz zu nehmen. Wenn Gespräche erforderlich sind, bitte ich, sie draußen zu führen. Sie haben das Wort, Herr Abgeordneter Dr. Carstens.

Dr. Karl Carstens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000321, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat uns heute morgen wieder einen Beweis seines besonderen Redestils gegeben, einer Mischung aus ernsten, wohldurchdachten Sätzen und unsachlicher, verletzender, polemischer Demagogik. ({0}) Ich will mich mit den sachlichen Ausführungen des Bundeskanzlers sachlich auseinandersetzen. Ich werde allerdings seiner Polemik auch mit der nötigen Deutlichkeit entgegentreten, auch wenn Ihnen das nicht gefällt, meine Damen und Herren. ({1}) Der Bundeskanzler spricht wieder einmal von dem bevorstehenden wirtschaftlichen Aufschwung. Er stützt sich dabei auf Äußerungen von Sachverständigen, und wir alle wünschen, daß sie recht haben mögen. Aber zur Zeit haben wir noch mehr als 1 Million Arbeitslose. Zur Zeit leiden wir noch alle unter den Folgen der Rezession. Im Jahre 1975 mußten fast 10 000 Betriebe schließen, darunter viele an sich leistungsfähige Betriebe. Im gleichen Jahr nahm der Bund 39 Milliarden DM Schulden auf. Das ist fast dreimal so viel wie in der Zeit von 1950 bis 1969, also in 20 Jahren, zusammengenommen. ({2}) Der reale Wert aller Güter und Dienstleistungen ging um 3,5 % zurück, hauptsächlich durch ein drastisches Absinken der Investitionen. Der Bundeskanzler spricht möglichst wenig von diesen Dingen, und wenn er von ihnen spricht, dann hat er eine Erklärung zur Hand - wir haben sie auch heute wieder aus seinem Munde gehört -, die lautet: weltweite Rezession. Aber, meine Damen und Herren, hier verschweigt der Bundeskanzler den Anteil, den die Politik von SPD und FDP an der Rezession gehabt hat, ({3}) den Anteil, den sie an der Rezession durch ihre Inflationspolitik, durch ihre bewußte Inflationspolitik - ich sage: durch die bewußte Inflationspolitik des jetzigen Bundeskanzlers - in den Jahren 1969 bis 1973 gehabt hat. ({4}) Deswegen muß man dieser Bundesregierung die Tatsachen immer wieder von neuem vor Augen halten. In dem Gutachten des Sachverständigenrates, eines Gremiums unabhängiger Wissenschaftler mit hohem Ansehen, heißt es - ich zitiere -: Mehr und mehr wurde deutlich, daß es ein Irrtum war, zu glauben, man könne den Beschäftigungsrisiken ausweichen, wenn man der Inflation ihren Lauf ließ. Im Gegenteil! Der Ausweg in die Inflation erwies sich als eine Sackgasse, und je weiter man auf ihm fortschritt, um so mühsamer und verlustreicher mußte die Rückkehr zur Stabilität werden. Mühsam und verlustreich, meine Damen und Herren, ist die Rückkehr zur Stabilität geworden. Die Verlustziffern für 1975 belaufen sich auf mehr als 1 Million Arbeitslose und fast 10 000 Konkurse. So zahlt das ganze deutsche Volk für die Fehler und Irrtümer, für den Dilettantismus einer Bundesregierung, die ihm goldene Berge versprochen hatte, einen großen und bitteren Preis. ({5}) Der Bundeskanzler sagt: Es gibt keine Massenarmut in unserem Lande. Aber ich meine, es wäre doch wohl angebracht, auch von dieser Stelle einmal ein Wort darüber zu sagen, was es bedeutet, wenn Menschen mehr als ein Jahr arbeitslos sind - und das sind inzwischen mehr als 170 000. ({6}) Nach einem Jahr endet die Zahlung des Arbeitslosengeldes - 68 % des letzten Nettoeinkommens -, und an ihre Stelle tritt die Arbeitslosenhilfe in Höhe von 58 % des letzten Nettoeinkommens. Das bedeutet, daß ein Arbeitnehmer, der vor der Arbeitslosigkeit ein durchschnittliches Monatseinkommen von 1 750 DM hatte, heute von 732 DM leben muß - trotz steigender Mieten, trotz steigender Preise für Strom, Kohle und der gestiegenen öffentlichen Tarife. Das sind bittere Feststellungen, und ich meine, wir sind es denen schuldig, sie hier auszusprechen, die nicht durch eigene Schuld, sondern weitgehend durch die Verantwortung dieser Bundesregierung arbeitslos geworden sind. ({7}) Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit hat die Bundesregierung nicht genug getan. Das Programm zur Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit, das sie jetzt verkündet, kommt drei Vierteljahre zu spät. Wir haben im Frühjahr vorigen Jahres einen Antrag betreffend Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit gestellt, ({8}) Dr. Carstens ({9}) den die Bundesregierung abgelehnt und vom Tisch gewischt hat. ({10}) Damals wäre der Zeitpunkt gewesen zu handeln. ({11}) Der Bundeskanzler setzt sich mit uns wegen des Gesetzentwurfes über die berufliche Bildung auseinander. Er spricht von dem Mangel an Lehrstellen. ({12}) Herr Bundeskanzler, es wäre gut, wenn Sie auch hier der Öffentlichkeit die wirklichen Zahlen nennen würden. Über 400 000 Lehrlinge sind im letzten Jahr von der gewerblichen Wirtschaft eingestellt worden. Die Zahl derer, die Lehrstellen suchen und keine Lehrstelle gefunden haben, liegt bei ungefähr 5 000 bis 7 000. Das sind natürlich immer noch 5 000 bis 7 000 zuviel, aber man muß doch das Problem in der richtigen Dimension sehen. ({13}) Zu glauben, daß man dieses Problem dadurch lösen könnte, daß man der Wirtschaft neue finanzielle Lasten auferlegt, daß man einen Finanzausgleich, einen Lastenausgleich innerhalb der gewerblichen Wirtschaft schafft, daß man mehr staatliche Intervention, mehr staatliche Bürokratie schafft - diese These, Herr Bundeskanzler, wird Ihnen nach den Erfahrungen, die wir mit anderen sogenannten Reformgesetzen Ihrer Regierung gemacht haben, niemand abnehmen. ({14}) - Herr Kollege, Sie haben den Herrn Bundeskanzler anderthalb Stunden ungestört reden lassen. Ich bitte Sie, lassen Sie mich eine weit kürzere Zeit ungestört reden. ({15}) Die Bundesregierung sagt immer wieder - und der Bundeskanzler hat es auch heute gesagt -, daß die Arbeitnehmer durch das Netz der sozialen Sicherung geschützt seien. Dabei erweckt sie den Eindruck, als ob sie dieses Netz der sozialen Sicherheit geschaffen hätte. ({16}) Meine Damen und Herren, in Wahrheit sind die Grundpfeiler des sozialen Sicherungssystems von CDU/CSU-geführten Bundesregierungen geschaffen worden. ({17}) Mein Kollege Hans Katzer hat daran einen wesentlichen Anteil gehabt. ({18}) Auch die Arbeitslosenversicherung, die seit 1927 besteht, ({19}) ist durch von der Union geführte Regierungen bis 1969 ständig und entscheidend verbessert worden. Demgegenüber werden allerdings heute die Grundlagen der Sozialversicherung immer mehr ausgehöhlt. Trotz Anhebung der Beitragssätze muß in diesem Jahr voraussichtlich erneut mit einem Defizit von mehreren Milliarden D-Mark bei der Bundesanstalt für Arbeit gerechnet werden. In den Rentenversicherungen wird mit über 10 Milliarden Defizit gerechnet. Die Bundesregierung verschleiert jedoch diese gefährliche Situation oder tut warnende Stimmen von Fachleuten als Panikmache und Schwarzmalerei ab. Zum Schluß noch ein Wort zum Haushalt. ({20}) Der Bundeskanzler hat heute wieder über den Haushalt 1975 und den Stand der öffentlichen Verschuldung, wie er glaubte, Rühmliches oder Positives gesagt. Man muß doch aber auch hier die Dinge wirklich einmal zurechtrücken. Der Bundesfinanzminister rühmt sich, er habe im Haushalt 1975 9 Milliarden DM eingespart. Wahr ist, daß sich die Bundesregierung im abgelaufenen Jahr mit 39 Milliarden DM verschulden mußte. ({21}) Dazu operiert die Bundesregierung mit ständig sich ändernden Aussagen über die finanzielle Lage. Noch im Oktober polemisierte der Finanzminister gegen die CDU/CSU, sie betreibe mit ihren Sparvorschlägen Deflationspolitik. Der Bundesfinanzminister erklärte bei den Etatberatungen, es sei unmöglich, 500 Millionen DM im Etat 1975 einzusparen. Das war im Oktober des vergangenen Jahres. Drei Monate später rühmt er sich plötzlich, daß er acht bis neun Milliarden DM Kassenüberschuß für das Jahr 1975 erwirtschaftet habe. ({22}) Über all das versucht die Bundesregierung hinwegzugehen, indem sie von dem bevorstehenden Aufschwung spricht. Aber auch hier muß sich die Bundesregierung entgegenhalten lassen, daß sie den letzten wirtschaftlichen Aufschwung in unserem Lande durch ihre Politik verspielt und das Land über Inflation in die Rezession geführt hat. Diese Regierung bietet daher nach allem, was sie angerichtet hat, nicht die Gewähr für eine solide wirtschaftliche Zukunft. ({23}) Ich möchte mich zweitens mit der außen- und deutschlandpolitischen Lage befassen. Der Bundeskanzler hat auf einige beunruhigende Tatsachen in der weltpolitischen Entwicklung hingewiesen. Ich will sie nur noch einmal zusammenfassen, sie allerdings an einigen wichtigen Punkten ergänzen. An der Jahreswende tobten im Libanon schwere Kämpfe. In Wien gelang es einer Terrorgruppe, zehn arabische Minister als Geiseln zu nehmen und mit ihnen, von den österreichischen Behörden unbehelligt, das Ausland zu erreichen. Als Führer dieser Gruppe wurde ein gewisser Carlos identifiziert, von dem es heißt, daß er 1969 als Student an der Lumumba-Universität in Moskau eine Ausbildung erhalten Dr. Carstens ({24}) habe. Diese Vorgänge beleuchteten den Einfluß der Sowjetunion auf die Kampforganisationen der arabischen Linken. Aus Angola kamen Meldungen über schwere Kämpfe. Es wurde berichtet, daß die kommunistische Organisation MPLA durch Truppen aus Kuba und Waffen aus der Sowjetunion unterstützt würde. Inzwischen hat sich die MPLA in Angola durchgesetzt. Ebenfalls im Dezember vorigen Jahres äußerte sich die jugoslawische Presse besorgt über die weltpolitische Entwicklung. Sie warnte die Supermächte, den Versuch zu machen, Jugoslawien in ihren Bereich zu ziehen. An welche der beiden Supermächte sich die Warnung richtete, bedarf wohl keiner näheren Ausführungen. Nicht minder alarmierend - das hat der Bundeskanzler heute nicht erwähnt - waren die Nachrichten über die Entwicklung der militärischen Lage in Europa. Der Nordatlantikrat sprach Mitte Dezember 1975 mit Besorgnis von dem schnellen Wachstum der östlichen Streitkräfte, das - und nun zitiere ich wörtlich - „die erkennbaren Verteidigungsbedürfnisse übersteigt". Die Verteidigungsminister der NATO wiesen auf die Verstärkung der Panzerverbände des Warschauer Paktes hin, auf das starke Anwachsen der Seestreitkräfte einschließlich der Indienststellung einer großen Zahl von raketentragenden U-Booten sowie - nun zitiere ich wieder wörtlich - „die Schwerpunktverlagerung von der Verteidigung zu offensiven Operationen in den Luftstreitkräften des Warschauer Paktes". ({25}) Wenn, Herr Bundeskanzler, der Generalsekretär der CDU, Herr Professor Biedenkopf, diese Dinge in der Öffentlichkeit darlegt, sollten Sie ihm dafür dankbar sein, daß er der deutschen Bevölkerung die nötige Aufklärung gibt, ({26}) und Sie sollten sich die Polemik, die Sie hier gegen ihn - übrigens bei jeder Gelegenheit - anzuwenden pflegen, lieber ersparen. Man hat fast den Eindruck, als wenn sie die CDU darum beneiden, daß sie einen so hervorragenden Generalsekretär hat. ({27}) Wenn ich das alles vortrage, so geschieht es nicht, um einer antisowjetischen Politik das Wort zu reden; das wäre das letzte, was ich vorschlüge. Ich erwähne diese Tatsachen, um sie einigen deutschen Politikern vorzuhalten, die vor nunmehr sechs Jahren die neue deutsche Ostpolitik eingeleitet haben und sich ihrer heute immer noch rühmen. ({28}) Der Bundeskanzler rühmt sich dieser Politik weiterhin, obwohl die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien doch vor einem Scherbenhaufen ihrer damaligen Begründungen und Argumente stehen. ({29}) Sie wollten - so sagten Sie damals - eine realistische Außenpolitik betreiben; dazu müsse man - so hieß es - die Realitäten anerkennen. Aber jetzt stellt sich heraus, daß das geschehen ist, was die CDU/CSU immer gesagt hat: SPD und FDP haben diejenigen Realitäten anerkannt, deren Anerkennung die östlichen Partner von uns verlangten, und vor anderen Realitäten, die in dieses Entspannungsbild nicht so richtig hineinpaßten, haben sie die Augen verschlossen. Z. B. haben sie sich konstant geweigert und weigern sich noch heute, zur Kenntnis zu nehmen, was die KPdSU über die weltrevolutionären Ziele des Kommunismus sagt. ({30}) - Ich kann es nicht ändern, wenn mir der Bundeskanzler nicht zuhört; mir ist es wichtiger, daß mir die deutsche Bevölkerung zuhört. ({31}) Herr Bundeskanzler, auch Sie verfallen in den Fehler Ihres Vorgängers und vieler Ihrer politischen Freunde, wenn Sie diesen Tatbestand mit den Worten „ideologische Abgrenzung" zu umschreiben versuchen. Sie müssen unserem Volke sagen - das gehört in einen Bericht zur Lage der Nation hinein - was der Osten unter ideologischer Abgrenzung und unter Fortsetzung des ideologischen Kampfes versteht. ({32}) Er versteht darunter nämlich die Fortsetzung des Kampfes mit allen Mitteln, ausgenommen den Krieg. Dazu gehört die Unterstützung der kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern, ({33}) so der DKP in der Bundesrepublik Deutschland, finanziell, materiell und durch Direktiven, die gegeben werden; dazu gehören subversive Tätigkeiten - z. B. die Einschleusung eines Spions in das Büro des Bundeskanzlers -; ({34}) und zur Fortsetzung des ideologischen Kampfes gehört in gewissen Fällen sogar der Einsatz militärischer Mittel, nämlich dann, wenn es sich um die Unterstützung sogenannter nationaler Befreiungsbewegungen handelt wie früher in Vietnam und jetzt in Angola. „Ideologische Abgrenzung" erfaßt den Sachverhalt nicht. Der Sachverhalt, um den es geht, ist eine gewaltige, sowohl ideologische als auch machtpolitische Kraftanstrengung auf der Seite unserer östlichen Nachbarn mit weltrevolutionärer Zielsetzung. ({35}) Ich will das nur noch einmal durch ein einziges Beispiel unterstreichen, das Angola betrifft. Am 6. Januar 1976 schrieb die „Iswestija", es gebe keinen Widerspruch zwischen der Unterstützung der Dr. Carstens ({36}) MPLA in Angola und der Befürwortung der Entspannung; in der Tat fördere diese Unterstützung sogar die Entspannung. Das ist das Verständnis Ihrer sowjetischen Gesprächspartner von Entspannungspolitik! Wir müssen doch wohl feststellen, daß dieses Verständnis von Ihrem Verständnis, Herr Bundeskanzler, grundsätzlich verschieden ist. Die Politiker, die die neue Ostpolitik begannen - an ihrer Spitze Herr Brandt -, unterstützt von der FDP, behaupteten, durch ihre Politik würde der Frieden sicherer gemacht. Statt dessen ist, wie wir heute feststellen müssen, das Gegenteil eingetreten. Solch besorgte Worte, wie sie die NATO auf ihrer Dezember-Tagung im vergangenen Jahr ausgesprochen hat, hat man in Europa seit der Berlin-Krise am Anfang der 60er Jahre nicht mehr gehört. Man muß also leider feststellen, daß im Verlauf dieser Ostpolitik der Frieden unsicherer geworden ist, ({37}) sofern Aufrüstung und Vermehrung von Waffen etwas mit Gefährdung des Friedens zu tun haben. ({38}) Andere, die damals vor sechs Jahren die neue Ostpolitik anfingen, befürworteten einen Wandel durch Annäherung. Damit meinten sie, daß sich die beiden Systeme einander annähern und auf irgendeiner mittleren Linie treffen sollten. Davon ist nicht viel übriggeblieben. Statt dessen aber liefert uns Herr Kollege Brandt jetzt eine neue Variante zum Thema „Wandel durch Annäherung". Er befürwortet nämlich eine engere Verbindung zwischen den sozialistischen und den kommunistischen Parteien. ({39}) Er sagt, so etwas wie einen Weltkommunismus gebe es nicht mehr. Er erklärt, daß er für mehr Informationskontakte mit den Kommunisten in den anderen Ländern sei. ({40}) Der Bundeskanzler tut so, als ob ihn das alles gar nichts angehe. In Helsingör gerät er mit Mitterand, der in Frankreich bekanntlich eine Volksfront anstrebt, aneinander. Aber Mitterand erklärt, er sei sich mit Herrn Brandt völlig einig. ({41}) Als der Bundeskanzler nach Bonn zurückkehrt, wird er von unserem Freund Helmut Kohl aufgefordert, sich von Brandt zu distanzieren. Er lehnt das ab und läßt durch den Regierungssprecher sagen, er und Brandt seien sich völlig einig. ({42}) Wenn Sie sich noch so sehr darüber entrüsten, Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen sagen: Hier wird ein sehr gefährliches Doppelspiel mit verteilten Rollen zum Schaden der Bundesrepublik Deutschland gespielt. ({43}) Herr Brandt zeigt wieder einmal den Weg, und der Bundeskanzler, der ganz genau weiß, daß Herr Brandt und nicht er, der Bundeskanzler, in seiner Partei das Sagen hat, versucht, die deutschen Bürger zu beruhigen, Begonnen hat dieses Doppelspiel 1967, als die SPD während der Großen Koalition hinter dem Rücken ihres damaligen Koalitionspartners geheime Kontakte mit der KPI aufnahm. ({44}) - Herr Kollege Arndt, Sie rufen mir zu, das seien Märchen. Davon weiß ich nun tatsächlich mehr als Sie, Herr Kollege Arndt, ({45}) denn ich war damals unmittelbarer Zeuge dessen, was vorging. Aber, meine Damen und Herren, der deutsche Bürger läßt sich nicht länger täuschen. Er ist es endgültig leid, in das Halbdunkel sozialdemokratischer Ostpolitik und in eine undurchsichtige Annäherung an kommunistische Parteien in Westeuropa hineingezogen zu werden. ({46}) Die SPD erhielt am letzten Sonntag in dem Berliner Stadtteil Zehlendorf 23 % der Stimmen. Das mag mancherlei Gründe gehabt haben. Herr Bundeskanzler, Sie sollten aber einmal darüber nachdenken, ob es nicht auch gerade den Grund gehabt hat, den ich soeben genannt habe, daß nämlich ein zunehmender Teil der Bürger unseres Landes und gerade der Berliner Bürger, die ja sicherlich zu den wachsten Bürgern in unserem Lande gehören, damit zum Ausdruck bringen will, daß ihm diese Art des Umgehens mit Kommunisten allmählich sehr gegen den Strich geht. ({47}) Der Bundeskanzler und die SPD berufen sich auf Adenauer. Der Bundeskanzler hat es heute wieder getan. Er hat zwar gesagt, er wolle ihn nicht als Kronzeugen für seine Politik anführen, aber dann hat er gerade das getan. Das erscheint Ihnen nützlich, weil Sie natürlich wissen, daß Konrad Adenauer nach wie vor ein sehr hohes Ansehen in unserem Lande genießt, zumindest ein weit höheres als seine sozialdemokratischen Nachfolger. ({48}) Meine verehrten Damen und Herren, hier wird aber der Versuch einer Geschichtsfälschung zu Lasten von Konrad Adenauer unternommen, der man mit aller Energie entgegentreten muß. ({49}) Ich will Ihnen nur drei Unterschiede zwischen der Adenauerschen Ostpolitik und Ihrer Ostpolitik ins Gedächtnis zurückrufen: kennzeichnend für Adenauer waren Realismus und Nüchternheit; kennzeichnend für die Ostpolitik von SPD und FDP sind immer noch Verschwommenheit und weitgehend Illusionen. - Adenauer wußte, daß Politik Geben und Nehmen bedeutet und nicht bloß Geben! ({50}) 1955, als er die Beziehungen zur Sowjetunion aufnahm, verlangte er dafür eine einzige Gegenleistung, nämlich die Rückkehr von 10 000 Kriegsgefan15098 Dr. Carstens ({51}) genen. Diese 10 000 Kriegsgefangenen kamen zurück - alle, nicht nur die Hälfte!, und sie kamen ohne finanzielle Gegenleistungen. ({52}) In der Zeit, als CDU und CSU regierten, kamen auch 500 000 deutsche Aussiedler aus Polen und den Ostgebieten in die Bundesrepublik Deutschland, ({53}) und zwar ohne daß die Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt Abstriche von ihren deutschlandpolitischen Grundpositionen gemacht hätte. ({54}) Zu den deutschlandpolitischen Grundpositionen gehörte ganz klar und unmißverständlich, daß Deutschland in seinen Grenzen von 1937 rechtlich fortbesteht. Ich wünschte sehr, daß die Bundesregierung diesen durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten Satz auch in ihrem Verhalten, gelegentlich wenigstens, bekräftigte. ({55}) Zu der Aussiedlung von 500 000 Deutschen aus Polen und den Ostgebieten gibt es aus den jüngsten Tagen, vom 23. Januar dieses Jahres, eine polnische Stimme, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Radio Warschau sagte am 23. Januar 1976 - ich zitiere wörtlich -: Polen wird Menschenhandel vorgeworfen. Als ob die 500 000 polnischen Staatsbürger, die in den Jahren 1950 bis 1970 Polen in Richtung Bundesrepublik Deutschland verließen, also zu einer Zeit, als von einer Normalisierung der Beziehungen noch keine Rede war, ({56}) als ob die Emigration dieser halben Million Menschen Polen als Gegenleistung für die Ausreisegenehmigung Milliardeneinnahmen eingegebracht hätte. ({57}) Meine verehrten Damen und Herren, hier bestätigt ein polnischer Sprecher, sicherlich ungewollt, die turmhohe Überlegenheit der Adenauerschen Ostpolitik gegenüber der Ostpolitik dieser Regierung. ({58}) Dabei möchte ich ganz klar unterstreichen - der Bundeskanzler hat es gesagt, und ich bestätige es -: Es war das Ziel der Adenauerschen Politik, auch die Aussöhnung mit Polen herbeizuführen. Es ist dies unverändert das Ziel der Politik von CDU/ CSU gegenüber Polen. ({59}) Wir wollen den Ausgleich mit Polen, aber wir wollen nicht einem Vertrage zustimmen, der zu den am schlechtesten ausgehandelten Verträgen gehört, die uns in den letzten Jahren vorgelegt worden sind. Es sind doch zwei ganz verschiedene Dinge, ob ich dasselbe Ziel erreichen will, nämlich die Aussöhnung, den Ausgleich mit Polen, und ob ich einem Vertrag, von dem hinter vorgehaltener Hand die Regierung und die Mitglieder der Regierungskoalition einem selbst bestätigen, daß er seine Mängel und Schwächen hätte, dann auch noch als Opposition den Gütestempel meiner Zustimmung gebe. Das werden wir nicht tun! ({60}) Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin etwas von Wahlkampf und Wahlkampftaktik gesagt. Ich möchte Ihnen hier mit allem Ernst vorhalten: Wenn Sie diese Töne im Wahlkampf anschlagen, die Sie hier angeschlagen haben: ({61}) „Die Opposition zerstört die moralischen Grundlagen der deutschen Politik, sie stellt alles in Frage, was bisher an Aussöhnung geschehen ist", dann zerstören S i e die moralischen Grundlagen der deutschen Polen-Politik. Wenn Sie einen fairen Wahlkampf führen wollen, dann sagen Sie bitte dem deutschen Volk, sagen Sie den deutschen Wählern: Die Opposition ist ebenso wie wir, die Regierung, für Aussöhnung und Ausgleich mit dem polnischen Volkes, aber die Opposition lehnt diesen Vertrag ab, weil sie ihn für einen schlechten Vertrag hält; da sind wir, die Regierung - das werden Sie schon sagen; das verstehe ich ja durchaus , allerdings anderer Meinung. - Nur so - und nicht in der Weise, wie Sie es hier getan haben können Sie in einer staatsmännisch zu verantwortenden Weise die Auseinandersetzung führen. ({62}) ({63}) Und dann, wenn der Herr Kollege Wehner von Warschau aus der deutschen Opposition eine chauvinistische Haltung vorwirft, ist das, meine Damen und Herren, allerdings Verleumdung des politischen Gegners! ({64}) Das dient weder einer fairen Auseinandersetzung im Wahlkampf noch dem deutsch-polnischen Verhältnis. ({65}) Drittens, meine Damen und Herren: Adenauer hat sich im Gegensatz zu SPD und FDP niemals irgendwelche Illusionen über die in den politischen Zielen von Ost und West fortbestehenden Gegensätze gemacht. Sie sprechen immer von ideologischer Abgrenzung, aber das ist etwas ganz anderes. Hier handelt es sich darum, daß die Ziele der Politik der beiden Lager einander entgegengesetzt sind, und deswegen hat Adenauer während der Jahre, in denen er in der Bundesrepublik Deutschland regierte, immer und immer wieder davor gewarnt, daß wir uns auf sicherheitspolitische Lösungen einlassen, in denen die Bundesrepublik DeutschDr. Carstens ({66}) land zusammen mit anderen Staaten Mitteleuropas einem militärischen, einem verteidigungspolitischen Sonderstatus unterstellt wird. Aber just diese Gedankengänge haben Herr Kollege Wehner und kurz vor ihm Herr Kollege Pawelczyk in Warschau wieder aufleben lassen, indem sie vom Rapacki-Plan und anderen polnischen Plänen sprachen, ohne sich von ihnen zu distanzieren. Im Gegenteil, uns, der CDU/CSU, wurde vorgeworfen, auf diese Pläne negativ reagiert zu haben. Warum sind wir gegen diese Pläne? Lassen Sie mich das auch noch einmal mit aller Deutlichkeit aussprechen: Die Verwirklichung dieser Pläne würde dazu führen, daß die Sowjetunion als eine der beiden Garantiemächte dieser zentraleuropäischen Zone ein Mitspracherecht, ein Interventionsrecht im Hinblick auf die sicherheitspolitischen und die verteidigungspolitischen Vorgänge in unserem Lande hätte. Und daß das angesichts der fortbestehenden Gegensätze der politischen Ziele beider Lager ein höchst gefährlicher Weg ist, kann doch nicht zweifelhaft sein. Das mag mit den sozialistischen Zielvorstellungen des Herrn Kollegen Wehner in Einklang stehen; mit der Wahrung der Interessen des deutschen Volkes und der Bundesrepublik Deutschland hat es nichts zu tun. ({67}) Ich muß in diesem Zusammenhang aber auch ein Wort an den Außenminister richten. Auch seine politische Haltung in den Ost-West-Fragen ist nicht frei von Widersprüchen. ({68}) Jetzt entrüstet er sich - wir alle haben es vor kurzem im Fernsehen gehört - über die sowjetische Intervention und über die sowjetischen Waffenlieferungen an Angola; Moskau, so sagt er, gefährde dadurch die Entspannung. - Aber, meine Damen und Herren, dies wußte Herr Genscher, dies wußten wir alle schon vor einem halben Jahr, als sich der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister aufmachten, um nach Helsinki zu reisen ({69}) und das Dokument über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dort zu unterzeichnen. Wir haben es Herrn Genscher hier gesagt. Ich darf mich ausnahmsweise einmal selbst zitieren. ({70}) Ich sagte am 25. Juli 1975 vor diesem Hause: In letzer Zeit hat die kommunistische Freiheitsbewegung in Angola erhebliche Fortschritte gemacht. Die Hauptstadt des Landes befindet sich inzwischen in ihrem Besitz. Die kommunistische Freiheitsbewegung in Angola wird in massiver Form durch Waffenlieferungen von außen unterstützt. Ich habe die Bundesregierung davor gewarnt, über alle diese Dinge in Helsinki stillschweigend hinwegzugehen. Aber die Bundesregierung ließ sich nicht von ihrem Entschluß abbringen, fuhr nach Helsinki und unterzeichnete das Dokument. Der Bundeskanzler sagt nun: Wenn wir das nicht getan hätten, dann hätten wir uns tief isoliert. „Tief isoliert" hat er mit aller rhetorischen Kraft, deren er fähig ist, hier vorgetragen. ({71}) Es ist richtig: Helsinki ist kein Ruhmesblatt für den. gesamten Westen. ({72}) Insofern hat der Bundeskanzler recht. Aber wer war denn im westlichen Lager eigentlich der Hauptantreiber, der immer wieder darauf gedrängt hat, daß die KSZE zustande kam und schließlich das Dokument in Helsinki unterzeichnet wurde? Das war doch die deutsche Bundesregierung! Seit 1970, noch bevor die Sache überhaupt begonnen hatte, hatte sich die Bundesregierung gegenüber der Sowjetunion verpflichtet, für einen schnellen und positiven Abschluß der KSZE zu sorgen. Das können Sie doch nicht leugnen, meine Damen und Herren. ({73}) Weder die Sorgen um Berlin noch die Vorgänge in Angola noch irgend etwas anderes, was auf der Welt geschah, konnten sie davon abhalten, diesen Weg zu gehen. Herr Bundeskanzler und meine Herren Minister: Wenn Sie so Politik machen, daß Sie sich jeweils bemühen, die Forderungen, welche die Sowjetunion in ihrem Interesse erhebt, zu erfüllen, und dann mit keinem Wort die Dinge zur Sprache bringen, die uns den Westen - beunruhigen, dann können Sie sich nicht darüber wundern, daß die Sowjetunion fortfährt, an Angola Waffen zu liefern und die MPLA zu unterstützen, während sie gleichzeitig ihre Konferenzerfolge von Helsinki feiert. Genauso ist doch das Verhalten des Bundeskanzlers und der Bundesregierung gegenüber der DDR: Es wird bekannt, daß in der DDR Zwangsadoptionen durchgeführt werden, daß Kinder ihren Eltern weggenommen und an andere Eltern zur Adoption vermittelt werden. Dabei handelt es sich um Kinder von Deutschen, welche die DDR verlassen wollten, die also von einem durch die UNO geschützten Menschenrecht Gebrauch machen wollten. Es handelt sich um eine barbarische Verletzung von Menschenrechten. Ein Journalist, der nicht einmal selbst, sondern dessen Blatt über diese Vorgänge berichtet hatte, wird aus der DDR ausgewiesen - ein weiterer klarer Verstoß gegen den Grundvertrag und gegen die Vereinbarungen, die in Helsinki getroffen worden sind. Sie sagen, Herr Bundeskanzler: Wir wollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Da sind wir einer Meinung. Aber bitte: Vergegenwärtigen Sie sich einmal einen Augenblick, wie Sie reagiert haben. Es wurde protestiert; der Regierungssprecher teilte der deutschen Bevölkerung mit, der Kanzler nehme diese Vorgänge außerordentlich ernst. ({74}) Aber was geschieht? Zwei Tage, nachdem der betreffende Journalist aus Ost-Berlin ausgewiesen Dr. Carstens ({75}) wurde, unterzeichnete die Bundesregierung ein neues Verkehrsabkommen mit der DDR, auf Grund dessen sie sich verpflichtet, jährlich eine pauschale Zahlung von 400 Millionen DM an die DDR zu leisten. ({76}) Das ist kein adäquates Verhalten, wenn man eine Situation sehr ernst nimmt! ({77}) Klammern Sie sich bitte nicht an der Saalebrücke fest, Herr Bundeskanzler. Die wurde in der Tat vor vielen Jahren finanziert, als Erhard Bundeskanzler war. ({78}) Aber die Mittel, die für diesen Zweck zur Verfügung gestellt wurden, waren zweckgebunden. ({79}) Die durften nur für den Bau der Saalebrücke verwendet werden. Die 1,6 Milliarden DM, die Sie jetzt in den nächsten vier Jahren an die DDR zahlen werden, haben eben keine ausreichende Zweckbindung! ({80}) Wir fordern die Bundesregierung auf, die Verletzung der Menschenrechte in der DDR ernster zu nehmen. Ich verwahre mich dagegen, daß diejenigen, die diese Menschenrechtsverletzungen ernst nehmen und gegen sie vorgehen, des Rückgriffs auf Methoden des kalten Krieges bezichtigt werden. Und ich verwahre mich auch gegen die Kritik, die Sie, Herr Bundeskanzler, an einer Entscheidung des Kultusministers von Rheinland-Pfalz - übrigens aus sehr durchsichtigen Motiven - geübt haben. Der DDR-Kalender, von dem Sie sprachen, gelangt deswegen in Rheinland-Pfalz nicht zur Verteilung, weil er neben manchen zutreffenden Informationen nicht ein einziges Wort über die Menschenrechtsverletzungen in der DDR enthält. ({81}) Wir sind der Meinung, daß dies eine unvollständige, eine falsche Information über die Zustände in der DDR ist! Und deswegen halten wir es für richtig, daß die Verteilung dieses Kalenders dort unterbunden worden ist. Wir haben einen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung ersucht wird, jährlich im Rahmen des Berichts zur Lage der Nation auch einen Bericht über die Verwirklichung und Verletzung der Menschenrechte im geteilten Deutschland vorzulegen. Die Bundesregierung weist immer darauf hin, daß neben diesen negativen Ereignissen Positives zu berichten sei. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Die Entwicklung des Reiseverkehrs ist erfreulich stark gestiegen. Man darf allerdings nicht vergessen, daß die Bundesregierung diese Konzession der DDR durch immer neue Preise hat erkaufen müssen, zuletzt durch die Gewährung des 800-MillionenMark-Kredits, den sie der DDR zinslos im Rahmen des Interzonenhandelsahkommens zur Verfügung gestellt hat. Ich möchte darauf hinweisen, daß auch in dieser Beziehung - was den Reiseverkehr anbelangt in den letzten Tagen ein dunkler Schatten auftaucht. „Will Herr Schütz den Besucherverkehr mit der DDR einschränken?" lautete die Überschrift eines Artikels im „Neuen Deutschland" am 21. Januar. Darin polemisiert die DDR gegen den Berliner Bürgermeister, weil er völlig zu Recht erklärt hat, daß sich die Zuständigkeit der Vier Mächte auf ganz Berlin erstreckt. Wir haben es hier mit einer systematischen Haltung der Sowjetunion und der DDR gegenüber Berlin zu tun. Ich erwähne außer dieser Drohung im „Neuen Deutschland" den Protest der DDR gegen den Besuch des Bundespräsidenten in Berlin, die Angriffe der „Prawda" gegen die Sitzung eines Ausschusses des Europäischen Parlaments in Berlin und die Brüskierung der Berliner Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch den sowjetischen Botschafter in Bonn. Das sind ernst zu nehmende Vorgänge, die nicht dadurch abgegolten oder ausgeglichen werden, daß sich der Reiseverkehr, der Paketverkehr oder der Telefonverkehr verbessern, so begrüßenswert das alles ist. Diese Verbesserungen sind kein Alibi für die mangelnde Wahrnehmung der vitalen Interessen Berlins und Deutschlands. ({82}) Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang versuchen, einige grundsätzliche Ausführungen über die Situation in der wir stehen, zu machen. Die Auseinandersetzung, um die es geht, ist eine machtpolitische, aber sie ist zugleich auch eine geistige. Wir müssen uns auf beiden Feldern dieser Auseinandersetzung stellen, wenn wir als freie Bürger bestehen wollen. Dazu gehört nach meiner Auffassung, daß wir Deutschen für die Freiheit eintreten, daß wir uns mit dieser Idee der Freiheit identifizieren, so wie es Generationen von Deutschen vor uns getan haben. ({83}) Wir haben eine große liberale Tradition in Deutschland, und ihrer sollten wir uns wieder stärker bewußt werden. ({84}) Wir sollten endlich den unablässigen Versuchen linker Politiker, Pädagogen und Meinungsbildner entgegentreten, die unser Geschichtsbewußtsein verfälschen wollen, ({85}) teils, indem sie die Beschäftigung mit der Geschichte überhaupt beseitigen wollen, teils aber - was noch schlimmer ist , indem sie deutsche Geschichte selbst verfälschen, indem sie die deutsche Geschichte als eine Kette von Ausbeutungen und Missetaten darstellen. Hitler und der Nationalsozialismus erscheinen in diesen Darstellungen der deutschen Geschichte gewissermaßen zwangsweise vorgezeichnet zu sein. Dr. Carstens ({86}) Demgegenüber - so wird uns gesagt - bringt uns der Sozialismus Gerechtigkeit, Frieden und Menschlichkeit. Es gibt Schulbücher, in denen die deutsche Geschichte auf Karl Marx und Adolf Hitler reduziert wird. Marx erscheint dabei als der große Befreier, Hitler als der teufliche Zerstörer. ({87}) Wir müssen uns gegen diese einseitige Behandlung der deutschen Geschichte zur Wehr setzen. Wir wollen nicht die dunklen Epochen unserer Geschichte auslöschen oder beschönigen, und die Schreckenstaten des Hitlerregimes gehören dazu, aber auch die unseligen Folgen, die die marxistische Lehre über große Teile der Welt, ({88}) zuletzt über einen Teil Deutschlands gebracht hat. ({89}) Gegenüber diesen negativen Erscheinungen sollten wir das Bewußtsein und die Erinnerung der Deutschen an ihre eigene große freiheitliche Tradition wiedererwecken. ({90}) Man halte mir nicht entgegen, etwas Derartiges sei im Zeitalter der europäischen Einigung unangebracht. ({91}) Niemand tritt für das einige Europa nachdrücklicher ein als CDU/CSU. Wir stehen zu dem, was Konrad Adenauer vor 20 Jahren an dieser Stelle gesagt hat - ich zitiere -: Seit Jahren bemüht sich die Bundesregierung, die letzten Zweifelnden von der Notwendigkeit einer engen und unverbrüchlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker zu überzeugen. Nur wenn wir dieses Ziel rasch und entschlossen verwirklichen, werden wir vor der Geschichte unserer Völker bestehen können. Aber, meine Damen und Herren, das vereinte Europa, das wir anstreben, wird doch nicht ein Schmelztiegel von Nationen sein, so wie die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern jede der europäischen Nationen wird auch in dem vereinten Europa ihre Eigenarten, ihre Stärken und ihre Schwächen einbringen. Es scheint mir von entscheidender Bedeutung zu sein, daß die deutsche Nation in das vereinte Europa ihr freiheitliches Erbe einbringt. ({92}) Wir können dabei an das Entstehen des Nationalbewußtseins in unserem Volke vor 170 Jahren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, anknüpfen. Von ihm sagt Max Braubach, der kürzlich verstorbene Bonner Historiker - ich zitiere -: Wichtiger für die Entstehung der nationalen Bewegung aber war der Glaube an die eigene Bedeutung, den das deutsche Volk aus seinen geistigen Leistungen während der letzten Jahrzehnte gewonnen hatte. Auf den verschiedensten Gebieten war eine Kultur erwachsen, deren Träger sich zwar als Weltbürger fühlten, die aber die Menschen mit berechtigtem Stolz auf das erfüllte, was mit ihrer Sprache in Literatur, Wissenschaft und Kunst geschaffen wurde ... Die Überzeugung, daß diese geistige Gemeinschaft auch zu politisch-staatlichem Zusammenschluß gelangen sollte, brach sich angesichts der jammervollen Zerklüftung ... Deutschlands gerade auch in manchen der Männer Bahn, die nur dem Geist und der Menschheit hatten dienen wollen. Freiherr vom Stein, der junge Gentz, Wilhelm von Humboldt, Fichte, Görres, Heinrich von Kleist, Jean Paul, Gneisenau, Scharnhorst sind die großen Repräsentanten dieser Epoche, ({93}) und wir brauchen uns keines dieser Männer zu schämen. ({94}) Und schon in dieser frühesten Phase der Geburtsstunde des deutschen Nationalbewußtseins sind Einheit des deutschen Volkes, Freiheit und Gerechtigkeit seine unverwechselbaren Elemente. ({95}) „Unsere Freiheitsliebe ist Rechtlichkeitsliebe" - sagt Jean Paul 1808 -, „Rechtlichkeit verknüpft die Deutschen - und eigentlich die Menschen - und wehe dem, der das Band durchschneidet, an dem die Welt hängt und er selbst." ({96}) In dieser Freiheitsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts wurzelt die Revolution von 1848. Freiheit war ihr Leitmotiv. Das Datum der Eröffnung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 1848 bezeichnet einen der größten Momente der neueren deutschen Geschichte. Ihr Hauptanliegen war es, einen umfassenden Freiheitsschutz für das deutsche Volk durchzusetzen. Heinrich von Gagern, Beseler, Dahlmann, Droysen, aber auch Robert Blum, der Führer der Linken in der Nationalversammlung, sind Zeugen dieses damaligen Kampfes. Und an 1848 knüpft wieder die Weimarer Nationalversammlung an, indem sie erneut nach dem verlorenen ersten Weltkrieg die freiheitliche Überlieferung aufnimmt und bekräftigt. Friedrich Ebert, Gustav Noske, Philipp Scheidemann, Friedrich Naumann, Max Weber, Hugo Preuß, Matthias Erzberger sind einige der Namen, die die damalige Entwicklung getragen haben. Und an Weimar wieder knüpft der Parlamentarische Rat an, der vor 30 Jahren ({97}) vor 27 Jahren das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschaffen hat. Einheit, Freiheit und Dr. Carstens ({98}) Gerechtigkeit waren die Grundforderungen auch dieses Neubeginns in unserer Geschichte. Von den Männern, deren Namen unter dem Grundgesetz stehen, nenne ich Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano, Jakob Kaiser, Erich Ollenhauer, Paul Löbe, Enst Reuter, Theodor Heuss, Thomas Dehler und Hermann Höpker-Aschoff. In der großen freiheitlichen Tradition unseres Volkes wurzelt auch die Bewegung, die am 17. Juni 1953 im anderen Teil Deutschlands aufbrach. ({99}) Mit Spruchbändern demonstrierten Zehntausende von Deutschen an jenem Tag für Einheit, Recht und Freiheit. Sie sangen das Deutschlandlied, und einige hundert von ihnen gingen in den Tod. Warum sage ich das alles? ({100}) Weil ich meine, daß wir auf diese große freiheitliche Überlieferung in unserer Geschichte stolz sein können, und weil ich meine, daß uns dieses freiheitliche Gedankengut verpflichtet, nämlich dazu verpflichtet, die Sache der Freiheit nach innen und nach außen zu verteidigen. ({101}) Ich wende mich dabei besonders an diejenigen verehrten Kollegen in unserem Hause, die das Wort „frei" auf ihre Fahnen geschrieben haben, an die Kollegen der Freien Demokratischen Partei. ({102}) Ich bin sicher, daß Sie sich dieser freiheitlichen Tradition verpflichtet fühlen. Aber sehen Sie denn nicht, daß die Volkserhebung in der DDR am 17. Juni 1953 Ausdruck dieser freiheitlichen Kraft in der deutschen Geschichte war? Wie ist es dann möglich, daß Sie die Erinnerung an diesen Tag zurückdrängen wollen, daß Sie ihm den Charakter eines gesetzlichen Feiertages nehmen wollen und daß Sie davon außer ein paar wehmütigen Erinnerungen so wenig wie möglich mehr sprechen wollen? Können wir uns nicht wenigstens in diesem Punkte zu einer gemeinsamen Auffassung zusammenfinden? ({103}) Sie nehmen für sich in Anspruch, die einzige liberale Partei in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. ({104}) Herr Kollege Genscher hat gesagt: „Es gibt keine liberalen Konservativen." Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier muß wohl einiges zurückgerückt werden. ({105}) Zurechtgerückt werden! Wenn ein Land wie das unsere eine freiheitliche Verfassungsordnung hat, dann ist derjenige, der für die Freiheit eintritt, zugleich konservativ und liberal. ({106}) Er ist konservativ, insofern er die bestehende staatliche Wertordnung als die unerläßliche Voraussetzung für die Möglichkeit des Menschen zur Selbstentfaltung zu bewahren sucht, und er ist liberal, weil er eben für eine freiheitliche Ordnung eintritt. Aber, wer den Feinden der Freiheit die Chance einräumt, ihre Machtpositionen systematisch zu verstärken, der ist nicht liberal. ({107}) Bei einem Studentenstreik in Marburg riefen kürzlich kommunistische Studenten den Professoren zu: „Ihr reaktionären Schweine, ihr seid die ersten, die nach Sibirien kommen." ({108}) Meine Damen und Herren, in dieser Situation muß der Liberale auf die Seite der Professoren treten und nicht auf die der Studenten. ({109}) Sie aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP haben noch bis vor vier Wochen mit aller Energie gegen die Einführung eines Ordnungsrechts an den deutschen Universitäten gekämpft, das eben diese Zustände verhindern soll. ({110}) Und schließlich - das ist das Dritte, was ich Ihnen sagen möchte -: Durch Ihr Bündnis mit der SPD, das Sie nun für weitere vier Jahre erneuern wollen, beteiligen Sie sich indirekt an der Ausbreitung sozialistischer, antiliberaler Bestrebungen in unserem Lande. ({111}) In Niedersachsen entrüsten Sie sich über die vier Abgeordneten, die nicht, wie vorgesehen, für den SPD-Kandidaten gestimmt haben. Herr Kollege Mischnick meint, die vier hätten entweder aus Uneinsichtigkeit oder bösem Willen gehandelt. Aber sind Ihnen denn, meine verehrten Kollegen, die Gründe für die Einführung geheimer Abstimmungen in das deutsche Parlamentsrecht nicht mehr gegenwärtig? Erkennen Sie nicht in dem Institut der geheimen Abstimmungen ({112}) einen der Grundpfeiler unserer liberalen Ordnung? ({113}) Meine verehrten Damen und Herren von der FDP, glauben Sie wirklich, durch das Bündnis mit der von Herrn von Oertzen geführten SPD in Niedersachsen der Sache des Liberalismus zu dienen? ({114}) Erinnern Sie sich noch der Zeiten, als Herr von Oertzen für das imperative Mandat eintrat, als er Ernest Mandel zum Professor in Oldenburg machen wollte, denselben Ernest Mandel, gegen den Ihr jetziger Parteivorsitzender kurz zuvor ein Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland erlassen hatte, weil Mandel die gewaltsame Einführung des Dr. Carstens ({115}) Sozialismus und Kommunismus befürwortete? Haben Sie nicht gelesen, daß Bundesminister Egon Franke vor einiger Zeit gesagt hat, die Ansichten mancher SPD-Leute in Niedersachsen kämen dem sehr nahe, was in der DDR ist. ({116}) Aber nein, Sie klammern sich an die SPD, als wäre sie Ihr besseres Ich. ({117}) Sie wollen mit dem neugewählten Ministerpräsidenten nicht einmal ein Gespräch ohne Hinzuziehung der SPD führen. ({118}) Sie beklagen sich darüber, wenn man Sie dann als eine „Blockpartei" bezeichnet. ({119}) Aber es handelt sich keineswegs nur um Niedersachsen, meine verehrten Herren. Sie sagen, Sie seien offen nach beiden Seiten - ich glaube, Herr Kollege Genscher sagt das immer -, aber in Hessen und Berlin klammern Sie sich ebenfalls an die SPD und werden dadurch mitverantwortlich für die absolut freiheitswidrigen Zustände an einigen Universitäten in Hessen und in Berlin. ({120}) „Eine angstfreie Diskussion sei fast unmöglich" : Mit dieser Begründung hat gerade Frau Professor Pross die Universität Gießen verlassen. Im Lande Hessen aber regieren Sie, meine verehrten Damen und Herren von der FDP, zusammen mit der SPD. In Nordrhein-Westfalen stehen Sie fest an der Seite der SPD, und nach Ihren Erklärungen gilt dies ebenso in Bonn für weitere vier Jahre. ({121}) Wo bleibt da Ihre Offenheit nach beiden Seiten?! In Schleswig-Holstein wären Sie, wenn Sie die Mehrheit bekommen hätten, mit der am weitesten links stehenden SPD im ganzen Bundesgebiet eine Koalition eingegangen: mit Herrn Steffen, Herrn Matthiesen und Herrn Jansen. ({122}) In Baden-Württemberg unternehmen Sie den gleichen Versuch. An der Saar verhindern Sie eine Regierungsbildung, weil Sie sich nicht von der SPD trennen wollen. Aber - so sagen Sie - in Rheinland-Pfalz wären wir ja bereit gewesen, ({123}) eine Koalition mit der CDU zu bilden. Wenn man jedoch die Modalitäten Ihres Angebots etwas genauer untersucht, dann wird deutlich, warum Sie es machten. Sie stellten die Bedingung, daß die CDU die absolute Mehrheit verlieren müsse. Doch Sie wußten, wie jeder andere dies wußte, daß diese Bedingung nach menschlichem Ermessen nicht eintreten würde. ({124}) Ihr Angebot war das, was man im kaufmännischen Verkehr ein Scheinangebot nennt. ({125}) Sie waren davon überzeugt, daß die Bedingungen, die Sie selbst gestellt hatten, nicht eintreten würden. Die Bindung der FDP an die SPD, meine Damen und Herren, in allen nur denkbaren Lagen ist auch ein Tatbestand, der die Lage der Nation zu Beginn des Jahres 1976 kennzeichnet. Deswegen bin ich so ausführlich darauf eingegangen. Meine verehrten Damen und Herren, das deutsche Volk wünscht den Frieden. Niemals in seiner Geschichte hat es die Bewahrung des Friedens stärker gewünscht als jetzt. Haßtiraden finden bei uns kein Echo, ({126}) auch nicht die Haßtiraden, die von den Herrschenden im anderen Teil Deutschlands zu uns herüberdringen. Das deutsche Volk will in Frieden, aber es will auch in Freiheit leben. ({127}) Es will in freier Selbstbestimmung über seine staatliche Zugehörigkeit innerhalb der fortbestehenden einen deutschen Nation entscheiden können. Und es will Freiheit und freie Entfaltungsmöglichkeit für jeden einzelnen Menschen, für jeden einzelnen Bürger. Mit dieser Idee der Freiheit verbindet sich auch heute, wie an den großen Wendepunkten unserer nationalen Geschichte - ich habe das vorhin darzulegen versucht -, die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit. Die überwiegende, die überwältigende Mehrheit unseres Volkes tritt für rechtsstaatliche Grundsätze und für die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ein. Diese Grundlagen unserer nationalen Existenz lebendig zu erhalten, sie weiterzuentwikkeln, sie gegen alle Angriffe von innen und außen zu schützen, das ist die Aufgabe, die den Regierenden, dem Parlament, den Parteien und allen, die Verantwortung tragen, auferlegt ist. Lassen Sie uns ihr gerecht werden. ({128})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der Herr Abgeordnete Wehner.

Herbert Wehner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Versuch einer Antwort des Oppositionsführers auf die Regierungserklärung unseres Bundeskanzlers zur Lage der Nation hat das Thema verfehlt. ({0}) Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Deutschen Bundestag dankt dem Bundeskanzler für seine Darlegung der tatsächlichen Lage der Nation. ({1}) Dies war ein Bericht über die Lage der Nation im Gesamtzusammenhang der Politik. Herrn Carstens Versuch, die Feststellungen des Bundeskanzlers in ein schiefes Licht zu bringen, war untauglich. Das zeigt seine mißglückte Improvisation in der Sache soziale Sicherheit. Alles andere war ja vorfabriziert. Ehrlich gestanden - Herr Carstens möge mir das entschuldigen -: Sie haben mir heute leid getan. ({2}) Die Berufung darauf, das Netz der sozialen Sicherheit sei durch die Union geschaffen worden: Herr Carstens, was soll denn das? ({3}) - Herr Jenninger, auch Sie können doch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers nachlesen, falls Sie sie nicht ganz mitbekommen haben. Sie werden dann sehen, daß dies wirklich umfassend dargestellt worden ist. Da stoßen Sie z. B. auf ein solches „Phänomen", hätte ich beinahe gesagt, wie den Lastenausgleich, den wir damals alle zusammen gemacht haben. ({4}) - Heute morgen haben Sie eines verstorbenen verdienten langjährigen Kollegen gedacht. Ich könnte Ihnen einige nennen, die noch nicht verstorben sind, ({5}) denen Sie, wenn sie dann gestorben sein werden, auch zugestehen werden, daß Sie sich verdient gemacht haben. Dann werden Sie feststellen, worin die Positionen der Sozialdemokraten beim Zustandebringen solcher notwendigerweise umstrittenen Stücke dessen, was man heute zusammenfassend das soziale Netz nennt, bestanden hat. Erfahrene Parlamentarier wissen ganz genau, daß da Opposition und jeweilige Regierungsseite, wenn sie ihre wechselseitigen Rollen richtig verstehen und auch aufnehmen, durchaus Verdienst an dem haben, was am Ende dabei herauskommt. Das ist eben das Manko an der jetzigen Opposition, daß sie sich dieser Möglichkeiten nicht zu bedienen versteht. ({6}) Ich hatte gesagt, Herr Carstens hat mir heute leid getan. Ich bitte ihn für diese Feststellung um Entschuldigung. Natürlich kann man heute das, was das Netz der sozialen Absicherung bedeutet, nicht mehr bestreiten. Es ist ja in einer Bewährungsprobe. Es lockt mich, z. B. einiges aus Debatten der vorigen Woche herauszugreifen, um das deutlich zu machen. Ich unterdrücke das aber. In einer Situation, in der sich auch die wirtschaftlichen Verhältnisse wieder ändern, sind Sie natürlich in einer schwierigen Lage. Nein, nein, dieses Netz ist nur aus dem erklärbar, was der Bundeskanzler auch im Rückblick auf das Ringen in der Bundesrepublik Deutschland um soziale Sicherung und Sicherheit dargestellt hat. Es ist gar nicht notwendig, daß Sie das als Ihr Patent ausgeben wollen oder müssen. Alle haben daran ihren Anteil, nur lassen wir der Regierung, die seit 1969 in einigen Folgen die Verantwortung für alles getragen hat, was dazugekommen ist, was zum Teil neu gemacht wurde, was zum Teil an unzulänglich Gewordenem ersetzt worden ist, lassen wir uns dieses von Ihnen nicht bestreiten. ({7}) Nein, nach diesem untauglichen Versuch, Herr Kollege, muß ich noch einmal betonen, daß wir besser als die anderen vergleichbaren Industrienationen mit den Problemen einer sich dramatisch verändernden Weltwirtschaft fertig werden, daß wir eine gleichgewichtige und gerechte Gesellschaft aufbauen, daß wir Freiheit und demokratische Teilhabe aller Bürger vermehren und endlich: daß wir zu einem Aktivposten der Friedenssicherung in Europa geworden sind. Diese Feststellungen sind richtig, treffen genau das, worum es geht. Und bitte, versuchen Sie, sich etwas Besseres einfallen zu lassen. Ich unterstreiche die Bedeutung dessen, was der Bundeskanzler hervorgehoben hat, als er sagte: Vieles an unserer gemeinsamen Aufbauleistung ist sicher beispielhaft, weil wir eine erfolgreiche Verständigungspolitik betreiben - die Sie gerade wieder dabei sind, herabsetzen zu wollen -, weil unser Land über eine außerordentlich hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, weil unser dicht geknüpftes Netz der sozialen Sicherheit zu einer einzigartigen sozialen Stabilität geführt hat, weil wir eine konsequente Politik stetiger Reformen betreiben, weil wir es mit innergeselischaftlicher Solidarität und realer Freiheit des einzelnen ernst meinen. Wir haben ja gesagt - der Bundeskanzler hat das in seiner Erklärung auch gesagt -: Wir gestehen ehrlich zu, daß manches noch nicht so ist, wie wir uns das vorstellen. Aber hier liegt dann der große Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir sagen es - und der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung betont -: Der Ausbau des Sozialstaates bleibt unser Auftrag ebenso wie die Bewahrung der liberalen Bürgerrechte. Unsere Demokratie verträgt und braucht keine Gesinnungsschnüffelei, die doch nur zu Opportunismus führt. Der Sozialstaat und das, was dazu gesagt worden ist, gehören zusammen, passen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zusammen, auch in der Wechselwirkung der damit verbundenen Notwendigkeiten. Bei Ihnen aber dieses schlimme, bewußt herabsetzende Wort „Gratifikationen" für das, was soziale Sicherung ist. Das ist doch das Wort, das der große Vorsitzende der kleineren Unionsschwester, als er seinen 60. Geburtsmonat feiern ließ, in der Tageszeitung „Die Welt" hat niederschreiben lassen: „Gratifikationen". ({8}) Und dann: „die Grenzen des Sozialstaates müssen enger gezogen werden". Das ist aber keine SpezialiWehner tät des CSU-Vorsitzenden. Das habe ich auch schon von dem „Großen Klaren aus dem Norden" gehört, ({9}) als er sogar dazu gesagt hat, bei uns bestehe vielerorts schon der Eindruck, „als würden die Fleißigen von den Faulen ausgebeutet". Wenn Sie wissen wollen, wo Sie das nachlesen können: Das ist von ihm selber gesagt und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nach dem knappen Wahlerfolg geschrieben worden, den er im vorigen Frühjahr errungen hat. Also „die Fleißigen würden von den Faulen ausgebeutet". Nein, weil es bei uns so ist, daß wir in der Frage des Ausbaus des Sozialstaates und ebenso der Bewahrung der liberalen, freiheitlichen Bürgerrechte unseren Auftrag sehen, weil unsere Demokratie keine Gesinnungsschnüffelei, die doch nur zum Opportunismus führt, brauchen kann - man merkt jetzt bei einigen Auftritten, auch in Landtagswahlkämpfen, wie gefährlich diese Dinge werden -, hat es für uns auch eine andere Gewichtigkeit, wenn wir hören, wie in diesem Bericht zur Lage der Nation betont wird: „Es darf nicht dabei bleiben, daß Humanität nur auf Papier geschrieben wird", und wenn dann an die Adresse des anderen Teils Deutschlands und der Menschen, die im anderen Teil des getrennten Deutschland leben, gesagt wird: „Viele Menschen, jedenfalls die Deutschen in der DDR, setzen ihre Hoffnung auf die Verwirklichung dessen, was in der Schlußakte von Helsinki steht." Sie wollen,, daß die Menschenrechte und die Grundfreiheiten hergestellt und geachtet werden: Sie wollen, daß die Bundesregierung darin fortfährt, mit der DDR Vereinbarungen herbeizuführen, die zwar gewiß nichts von der Härte der ideologischen Gegensätze vermindern, die aber das Leben der Menschen im geteilten Deutschland erleichtern. Aber nun haben Sie, sehr verehrter Herr Oppositionsführer, hier eine Einlage zu geben versucht, als ob Entspannungspolitik eine Art Tribut an Kommunisten und an den Kommunismus sei oder als ob hier eine besondere Unzulänglichkeit im Umgang mit diesen nachweisbar sei. Aber wie man andernorts darüber denkt und auch spricht, erlaube ich mir unter Berufung auf einen sicher auch von Ihnen kaum direkt abzuwertenden Zeugen zu definieren. Der französische Staatspräsident Giscard d Estaing wurde vom „Figaro" in bezug auf Helsinki, die Entspannung und den Verkehr der Menschen und der Gedanken zwischen Ost und West gefragt, ob er wirklich an bedeutende Ergebnisse in dieser Richtung glaube. Er antworte darauf - ich beziehe mich da auf die amtliche Übersetzung aus dem Französischen-: Nein. Man muß schon offen sein, um das zu sagen. Die Einzelheiten dieser Situation müssen genau betrachtet werden. Es besteht ein sozialistisches System mit einer Gruppe von Ländern, die zu ihm in Osteuropa gehören. Man muß in dieser Hinsicht ehrlich sein. Der Zweck der Entspannung liegt nicht darin, zu versuchen, diese Systeme zu ändern. Ihr Zweck ist vielmehr, normale und friedliche Beziehungen mit ihnen zu ermöglichen. Es könnte uns zwar in den Sinn kommen, daß diese Systeme sich mit der Entspannung entwickeln könnten. Doch man darf nicht den Hintergedanken hegen, daß die Entspannung ein Instrument, ein strategisches Ziel ist, um Entwicklungen zu beschleunigen, welche die sozialistischen Länder nicht wünschen. Ebenso darf die Entspannung nicht bezwecken, ihnen zu ermöglichen, daß wir bei uns eine unerwünschte Entwicklung hinnehmen. Das sind also ziemlich klare Feststellungen über Entspannung, denen Sie schwerlich, verehrter Herr Vorredner, das anhängen können, was Sie uns hier anhängen möchten. Doch darauf komme ich noch einmal zurück. Derselbe französische Staatspräsident Giscard d'Estaing hat auf die Frage, wie denn die Kraftlinien der Politik von ihm gesehen würden, in der gleichen Zeitung gesagt: 1. Das ist der Wille zur Unabhängigkeit unserer Außenpolitik, 2. das ist der Wille zum Aufbau Europas, 3. das ist unsere Entschlossenheit zu einer Politik der Entspannung - soweit sie natürlich auf beiden Seiten praktiziert wird - statt zur Konfrontation, und schließlich 4. unser Wunsch, eine Politik der Zusammenarbeit mit den Staaten der Welt zu betreiben und besonders mit den Entwicklungsländern, d. h. der Wunsch nach einer gewissen, zu schaffenden und zu organisierenden Solidarität. Nun ist der französische Staatspräsident - Sie werden das zugeben - kein Sozialdemokrat, und schon gar kein deutscher Sozialdemokrat. ({10}) Sie sagen, Sie seien ja einverstanden mit ihm. ({11}) Nun gut, dann wäre ich froh, wenn er hier das Rederecht hätte. Aber das hat er natürlich nicht. Hier hat der Herr Carstens gesagt - und das war ja doch wohl ein ziemlich unbedachtes Wort, wenn es auch aus tiefem Grunde kam -, Helsinki sei kein Ruhmesblatt für den Westen. Ich habe eben einen der renommiertesten Staatsmänner des Westens zitiert, und die Gemeinschaft der Neun hat übrigens in einer Erklärung des Europäischen Rates über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gesagt: Der Punkt 3: Die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Staaten in Europa, die vor allem durch den Abschluß des Viermächteabkommens über Berlin und des Vertrags zwischen beiden deutschen Staaten gefördert worden ist, hat die Einberufung der Konferenz ermöglicht. Jedoch hat diese Verbesserung die Unterschiede in den Ideologien und den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen nicht ausgeräumt. Diese Unterschiede sind bei den Diskussionen auf der Konferenz zutage getreten. Sie waren auch der Grund dafür, daß es in einigen Fällen, insbesondere im Bereich der Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Informationen, nicht möglich war, weiterzugehen. Es ist aber von großer Bedeutung, daß über zahlreiche Aspekte der Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten eine eingehende Diskussion eingeleitet werden konnte und daß es möglich war, hinsichtlich aller dieser Aspekte gemeinsame Verhaltensgrundsätze aufzustellen, sowie die Absicht der Staaten, so konkret wie möglich zum Ausdruck zu bringen, überall in Europa, also auch in Berlin, die Entwicklung der Zusammenarbeit, des Austauschs und der Kontakte zu ermöglichen und zu fördern, wobei die Menschen eine wichtige Rolle spielen. Wie wollen Sie solche Vorsätze in den Wind schlagen oder damit abtun, daß das ganze Helsinki kein Ruhmesblatt für den Westen sei?! Bitte sehr, ich werde mich selbst an ein Blatt klammern, wenn damit etwas erreichbar ist, Sie überlegener Stratege! ({12}) Dann nehme ich mir noch etwas vom Herrn Bundeskanzler, der gesagt hat, es handle sich um Verhaltensregeln, welche die Sicherheit vergrößern. Er hat dann in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß wir in Wien auch mit daran arbeiten, das, was es dort an militärischen Sicherheits-, Rüstungsbegrenzungs-, Truppenverminderungsbemühungen im Rahmen unserer Bündnisverpflichtungen gibt, mit zu bewirken. ({13}) Ja sicher! Da ertappen Sie mich doch nicht bei einem Lapsus, verehrter Herr Beckmesser. Nein, nein, wir sind eingebunden in unsere Bündnisverpflichtungen und wissen, daß wir ohne sie genauso-wenig wie ohne die Vorbehaltsrechte, unter denen die Bundesrepublik Deutschland steht, nicht die Ausmaße politischen Wirkens hätten entfalten können, die für ein Land, das getrennt und das weit entfernt davon ist, einen Friedensvertrag für Deutschland als Ganzes zu bekommen, notwendig sind. Aber noch ein Zeuge! Da ist Ende November letzten Jahres in Paris dieses europäische Symposium ehemaliger Kriegsteilnehmer über die Abrüstung gewesen. Da haben die Europäische Vereinigung der ehemaligen Kriegsteilnehmer, die Internationale Vereinigung der ehemaligen Kriegsgefangenen, der Internationale Verband der Widerstandskämpfer und der Weltfrontkämpferverband, die sagen, sie vertreten 30 Millionen ihrer Mitglieder, bei der Feststellung ihrer Prinzipien erklärt, daß sie mit Genugtuung feststellen, daß diese ihre Prinzipien - Frieden, Abrüstung usw. - einen ersten Niederschlag in der diplomatischen Praxis durch die Schlußakte der Konferenz von Helsinki über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gefunden haben. Sie erachten es als eine ihrer vordringlichen Aufgaben, dahin gehend zu wirken, daß alle Festlegungen von Helsinki von allen Signatarmächten voll beachtet werden. - Das ist doch die Sprache der Vernunft, das ist auch die Sprache der Gutwilligen. Aber Sie können sich doch nicht von allen, die Vernunft haben und gutwillig sind, distanzieren wollen, verehrte Damen und Herren von der Fraktion der CDU CSU. Das hat bei Ihnen einen ganz anderen Zweck, daß Sie so rangehen. Das gehört, Herr Professor Carstens, zu der Einpeitscherrolle, die Ihnen zugedacht ist. Das Drehbuch hat der Vorsitzende der CSU geschrieben. ({14}) Das ist alles. ({15}) - Na bitte sehr! Sie kommen hierher und sagen, der Vorsitzende der SPD und der Bundeskanzler trieben ein Doppelspiel, und meinen, Sie hätten etwas besonders Schlimmes festgestellt. Sie reden von undurchsichtigen Annäherungen an kommunistische Parteien. ({16}) Das kann an Ihren Augen liegen. Ich bitte um Entschuldigung, gehen Sie mal zum Optiker. ({17}) Aber undurchsichtig ist nichts bei dem, was wir machen, nein! Und was ist mit dem Drehbuch? Es kommt Ihnen gar nicht darauf an, was Brandt oder Schmidt meinen. ({18}) - Oder auch Wehner, bitte schön, mit dem gehörigen Abstand; ich bin weder der Vorsitzende der SPD noch Bundeskanzler, jeder nach seinem Rang. Nein, nein, der große Vorsitzende der kleineren Unionsschwester hat doch gesagt und geschrieben und jetzt noch einmal bestätigt: „Da muß man die anderen immer identifizieren damit, daß sie den Sozialismus und die Unfreiheit repräsentieren, daß sie das Kollektiv und die Funktionärsherrschaft repräsentieren und daß ihre Politik auf die Hegemonie der Sowjetunion über Westeuropa hinaus läuft!" - Das ist das Drehbuch und nichts anderes. Danach bewegen Sie sich, verehrter Herr Kollege Carstens. Das ist zwar eine Ehrenrolle, die Ihnen hiermit zugedacht ist, weil der andere gerade eine Abmagerungskur macht und nicht selbst hier sprechen kann, ({19}) aber Sie sind hier nicht Autor, Sie sind nur Ausstaffierer, und das ist ja auch schon etwas. ({20}) Aber bitte, im Ernst: Das Schlimme an dieser Art von Strategie, wie man heute modisch sagt, ({21}) ist die Semantik, dem anderen alles Schlimme anzuhängen, was es nur gibt, um ihn dann abräumen lassen zu können. ({22}) Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode Wehner Das ist alles, was hinter dieser angeblichen Strategie steckt. Was aber daran so verwerflich ist, meine Damen und Herren, und das werden auch Sie, was auch sonst noch passieren wird, eines Tages zu bereuen haben: Sie zerren jene ideologischen Gegensätze, die es in der Welt mit ihren Schwierigkeiten verhindern, daß man völlig eindeutig, wenn von Entspannung die Rede ist, und völlig eindeutig, wenn von solchen Punkten wie in Helsinki die Rede ist, sagen kann: da meinen alle dasselbe! -, Sie zerren diese Gegensätze hinein in unsere innerdeutsche, bundesrepublikanische politische Auseinandersetzung! Und es ist Ihr schweres Vergehen, ({23}) daß es Ihnen nicht genügt, kalten Krieg zu machen, sondern daß Sie ihn auch noch nach hierhin transponieren. Das ist schlimm, und das werden auch Sie eines Tages als einen schweren Fehler derer, die Sie dazu verleitet haben und denen Sie gefolgt sind, weil Sie sich nicht in die Rolle einer konstruktiven Opposition haben bequemen wollen, ansehen. ({24}) Herr Carstens, Sie haben hier in einer Weise, die mich nicht mehr aufregt, weil das so zu Ihnen gehört, ({25}) von „Verleumdung" gesprochen, daß ich es Ihnen einmal zurückgeben muß. Ich lese aus „Quick" vom 13. März 1975 folgendes wörtliche Zitat, von Franz Josef Strauß signiert - - merken Sie sich das Datum und lassen Sie sich das Zitat beschaffen -: In der SPD sympathisieren weite Teile mit den Thesen und Methoden der Anarchisten. Die Stunde der Abrechnung mit der Regierung ist jetzt da. Sie hat Angst, wegen des Falles Lorenz mit Baader-Meinhof in Zusammenhang gebracht zu werden. Dabei ist das Letztere für die Entführung von Lorenz ursächlich. ({26}) Dies ist eine Ungeheuerlichkeit! Wenn Sie sich das vorlegen lassen und es einmal selbstkritisch durchlesen - ich verlange doch von Ihnen gar keine öffentlichen Sündenbekenntnisse -, dann werden Sie finden, dies war schlimm. Daß die SPD nicht aufgeheult hat, erklärt sich daraus, daß wir schon ganze Jahrzehnte lang, wenn es Ihnen gepaßt hat, von Ihnen und von denen, die es bei Ihnen gelernt haben, so gebraten und gebrüht worden sind, daß wir nicht mehr aufheulen. Diese vier Sätze aus „Quick" sind ungeheuerlich. Sie sind von Franz Josef Strauß, erschienen am 13. März 1975, signiert. ({27}) Ich muß schon sagen, mir tut Jean Paul leid, denn er gehört zu den vielen meiner Lieblingsschriftsteller; Sie lesen ihn mir vor, und ich muß Ihnen dann so etwas aus der Wirklichkeit entgegenhalten, nämlich diese vier Sätze. ({28}) Wenn es Ihnen darum geht, meine Damen und Herren: Die Entscheidung für den demokratischen Sozialismus ist für uns, für die Sozialdemokraten, die Entscheidung für Grundforderungen, die in einer menschenwürdigen Gesellschaft erfüllt sein müssen, und dazu gehören - und ich nenne sie -: Alle Völker müssen sich einer internationalen Rechtsordnung unterwerfen, die über eine ausreichende Exekutive verfügt. Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Alle Völker müssen die gleiche Chance haben, am Wohlstand der Welt teilzunehmen. Entwicklungsländer haben Anspruch auf die Solidarität der anderen Völker. Und: Wir streiten für die Demokratie; sie muß die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist. ({29}) - Sie stimmen dem doch nicht zu! Das ist ja unser Grundsatzprogramm. Dem können Sie ja nicht zustimmen; dann könnten Sie doch nicht in der Partei mit dem „C" sein. Aber bitte sehr, es ist jedem erlaubt, umzulernen, nur nicht nach rückwärts. Lesen Sie einmal nach; das alles finden Sie wörtlich in diesem Programm. Und nun passen Sie das einmal aneinander - zu dem Drehbuch, in dessen Sinne hier heute der Herr Professor Dr. Carstens hat auftreten müssen. ({30}) Ich sage hier - und ich berufe mich dabei auf des Bundeskanzlers Bericht zur Lage der Nation -, daß unsere eigene Politik gegenüber dem anderen deutschen Staat klar in vier Punkten besteht: Erstens. Unsere Politik beruht auch gegenüber der DDR auf den Normen und Wertvorstellungen des Grundgesetzes. Zweitens. Deshalb können und werden wir die bestehenden Gegensätze weder beschönigen noch verschleiern. Drittens. Wir werden uns, wo immer dies möglich ist oder wo immer wir es ermöglichen können, um Vereinbarungen bemühen, die den Menschen hüben und drüben helfen. Viertens. Wir tun dies in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten und auf der Grundlage der geschlossenen Verträge. Hier ist die Rede gewesen von der Verletzung elementarer Menschenrechte. Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht die Fälle der auf der anderen Seite angewendeten Verfahren in Verfügungen über Kinder, deren Eltern entweder in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet sind oder haben fliehen wollen, angeführt. ({31}) - Ja, in diesem Fall war das und ist das Zwangsadoption, wenn es Ihnen auf dieses Wort ankommt, Herr Vogel. Sie müssen doch nicht annehmen, daß ich mich um Worte streite. Worum ich gegebenenfalls auch mit ihnen streite, ist folgendes: daß es nicht die Lautstärke macht, in der man „Menschenrechtsverletzung" skandiert, sondern die Beharrlichkeit in den Bemühungen, solche, wenn schon nicht gleich zu verhindern, so wieder zu reparieren und sich dabei nicht abschrecken zu lassen. ({32}) Da wäre es besser, als unser gegenwärtiger Zustand ist und es auch zuläßt - bei diesem Ihrem Drehbuch ist das ja gar nicht drin; Sie können nicht, wir können nicht, sondern da ist dann das, was „Konfrontation" genannt wird -, über jede Sorge - das sage ich Ihnen - auch miteinander zu reden und nach Möglichkeiten der Lösung zu suchen. Ich habe z. B. Anfang dieser Woche - er kam am Dienstag an und war am ersten Werktag dieser Woche geschrieben worden - einen Brief bekommen: Sehr geehrter Herr Wehner! Mit der beigefügten Petition wende ich mich an Sie in der Sache von Herrn ..., - dann folgt der Name -einem ehemaligen Mitgefangenen in der DDR. Ihre zahlreichen Bemühungen um menschliche Erleichterungen in den innerdeutschen Beziehungen sind der Anlaß dafür, daß ich hoffe, in dieser Sache bei Ihnen Verständnis zu finden. Ich bitte Sie deshalb, wenn Sie diese Petition an die Bundesregierung weiterleiten, sich persönlich für das Anliegen dieser Solidaritätsaktion einzusetzen. Für Ihre bisherigen Schritte zur Freilassung politischer Häftlinge in der DDR - ich selbst - so schreibt er verdanke diesen Bemühungen auch meine Freiheit - möchte ich Ihnen an dieser Stelle danken. Und dann kommt eine Petition, unterschrieben - die Unterschriften im Original - von einer ganzen Reihe der ehemaligen Mitgefangenen eines Gefangenen, dessen Namen ich hier nicht genannt habe und nenne, und dann von solchen, die nicht direkt seine Mitgefangenen, aber auch Gefangene waren. Und dann wird in dieser, wie sie es nennen, Petition an die Bundesregierung gesagt: Wir, die Unterzeichner dieser Petition, sind in der DDR zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wir verdanken fast alle unsere Freiheit den besonderen Bemühungen der Bundesregierung für politische Häftlinge in der DDR. Wir sind uns daher der Problematik bewußt, die für die Bundesregierung darin besteht, einerseits staatspolitische Interessen und menschliche Erleichterungen, andererseits aber auch einzelne Menschenschicksale gegeneinander abzuwägen. In diesem Sinne möchten wir die Bundesregierung mit dieser Petition in ihrem Streben unterstützen, die Verhältnisse im geteilten Deutschland erträglicher zu machen. Wir wenden uns daher in der Angelegenheit eines Haftkameraden in der Strafvollzugsanstalt . . . - die wird dann genannt, der Name des Häftlings wird auch genannt an die deutsche Bundesregierung. Dann kommen seine Daten, weshalb er sitzt, wie lange er schon sitzt, weswegen sie sich für ihn einsetzen, weswegen sie ihn auch menschlich schätzen gelernt haben. Da gibt es die unter Gefangenen typischen Merkmale: Der ist in dieser und auch in jener Beziehung, die in einer Gefangenschaft besonders schwierig ist, ein guter Mann oder ein guter Junge, wie immer man das will. Dieser Mann ist zu 13 Jahren verurteilt, er ist einer von diesen sogenannten Fluchthelfern. So gibt es Fälle noch und noch. Ich habe gesagt: Über jede Sache sollten wir miteinander reden können. Dies wird und ist zum Teil schon jetzt nicht mehr möglich, weil Sie aus jeder Sache eine Anklagesache gegen die machen, die solche Verträge mit einem solchen Staat geschlossen haben. Dabei sind Verträge überhaupt die Möglichkeit, mit den anderen über Dinge zu reden. Heute ist auch von Herrn Carstens gesagt worden, früher seien z. B. aus Polen soundso viele ohne Verträge gekommen. Ich bin schon darauf gefaßt, daß Sie sagen: Überhaupt alles, was man herausholen will, geht nur ohne Verträge. Da werden Sie bald noch weitere Purzelbäume schlagen. ({33}) - Natürlich muß ich lachen über Ihre Clownhaftigkeit in einer todernsten Angelegenheit. ({34}) Dasselbe gilt für das Spiel um die Zahlen. Ich will Sie und die anderen nicht langweilen. Ich stütze mich, was die Deutschen betrifft, die aus Polen umsiedeln wollen, auf die konkreten Aussagen des gegenwärtigen stellvertretenden Generalsekretärs des Deutschen Roten Kreuzes, die ich bei mir auf dem Tisch habe. Da können Sie doch nicht mit solchen Sachen kommen, die Sie unseren Kollegen anhängen, wo Sie sagen: Zahlen werden gefälscht. Das ist ein ganz klarer Fall, der hier vorliegt. Man kann nicht über 280 000 wie ein Dogma streiten, während in Wirklichkeit in dieser Beziehung noch vieles zu untersuchen ist und das Deutsche Rote Kreuz mit gutem Grund sagt, es läßt sich nicht länger und immer und immer wieder auf bestimmte Zahlen festlegen. ({35}) Das wollte ich hier nur gesagt haben. Meine Damen und Herren, es ließe sich über vieles reden. Ich komme noch einmal auf den Bericht zurück, den der Bundeskanzler zur Lage der Nation gegeben hat. Gerade dieser Bericht hat so viele Punkte, auch einladende Punkte zum MiteinanderReden, zum Diskutieren, zum Den-Dingen-auf-denGrund-Gehen, zum Hart-miteinander-Ringen in bestimmten Sachen, daß es betrüblich ist, daß er eine so schwache Erwiderung von dem Führer der Opposition erfahren hat. Aber das werden die anderen nachholen; es soll ja lange diskutiert werden, und alle werden heute ihr Bestes tun. Ich wollte am Schluß meiner eigenen Ausführungen nur noch besonders danken für die klare Feststellung, die auch aus dem Munde des Bundeskanzlers Berlin betreffend getroffen worden ist: Den Status und die Sicherheit dieser Stadt verbürgen unsere Verbündeten, die USA, Großbritannien und Frankreich; für die Aufrechterhaltung und Kräftigung der Bindungen zu uns zu sorgen ist unsere eigene Sache. Das ist ein Gelöbnis, das ist zugleich eine Verpflichtung, auch hei allem, was es dabei an Ärgerlichem gibt, auch mit dem anderen Staat im getrennten Deutschland an Ärgerlichem gibt in bezug auf jene Abkommen und Verabredungen, die heute hier in ihrer Bedeutung, in ihrer Essenz in einer schönen und überzeugenden Art und Weise noch einmal dargelegt worden sind. Es ist für uns ein Auftrag, immer daran zu denken: Für den Status und die Sicherheit der Stadt bürgen unsere Verbündeten, aber für die Aufrechterhaltung und Kräftigung der Bindungen zu uns zu sorgen, das ist und bleibt unsere eigene Sache. Wir sollten uns von niemandem rügen und auch von keinem übertreffen lassen. Ich danke Ihnen für diese Geduld. ({36})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Professor Carstens hat sich heute zunächst ein weiteres Mal als Wirtschaftspolitiker versucht. Ich fürchte, es bleibt leider nur ein weiterer erfolgloser Versuch auf diesem Gebiet zu registrieren übrig. Meine Damen und Herren, die Behauptung von einer „bewußten Inflationspolitik" der SPD/FDP-Koalition ist doch so abwegig, daß es sich wirklich nicht lohnt, auch nur mit einem Wort auf diese Unterstellung einzugehen. ({0}) Auch Ihr anschließender Ausflug in die Haushaltspolitik, verehrter Herr Professor Carstens, hat dann doch nur das ganze Dilemma der Opposition offenbaren können. Der gute Jahresabschluß der Haushaltswirtschaft 1975, meine Damen und Herren, vermasselt der Opposition ihr ganzes so schönes Katastrophenkonzept. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, bis zu den Debatten über den Jahreswirtschaftsbericht und über den Haushalt 1976 bleibt Ihnen ja noch Zeit, Ihre Argumentationskette neu zu knüpfen. Heute, so glaube ich, können wir das Thema mit gutem Gewissen verlassen. Der Rückblick in die Geschichte, Herr Professor Carstens, war sicher ein - wie mir scheint, besonders für die Mitglieder der Opposition - nützliches Repetitorium über Persönlichkeiten, Ideen und Entwicklungen. Niemand wird sich unserer Geschichte und den daraus resultierenden Verpflichtungen entziehen wollen. Dies gilt - so hoffen wir - insbesondere für jene Aufgaben, die ein schrecklicher Krieg für unsere Generation hinterlassen hat. Aber, meine Damen und Herren, die Beschwörung der Geschichte vermag in der Gegenwart noch keine Politik zu ersetzen. Und hier haben wir Liberalen im Bündnis mit den Sozialdemokraten tatsächlich liberale Gesinnung im Interesse der Menschen praktizieren können. Meine Damen und Herren, eben das war in den vergangenen Jahren mit einer verkrusteten CDU, die dazu noch im Schlepptau der CSU hing, nicht möglich. ({2}) Meine Damen und Herren, es ist offenbar nach den Ausführungen des Fraktionsvorsitzenden über die Ost- und Deutschlandpolitik auch heute noch nicht möglich. Durch die starre Position, die Sie im Bereich dieser Politik einnehmen, versagt sich die CDU/CSU selbst jeglicher Zusammenarbeit mit einer anderen Fraktion dieses Hauses. ({3}) Gerade deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich mich nun dem Thema und der Problematik, die in dem Bericht über die Lage der Nation steckt, zuwenden. Verehrter Herr Professor Carstens, über die Lage meiner Partei brauchen Sie sich keine besonderen Sorgen zu machen. Die Lage ist schon ganz gut. Aber eine Bemerkung muß ich an dieser Stelle machen dürfen: Kein Mitglied meiner Partei und schon gar nicht der Fraktionsvorsitzende der FDP hat sich jetzt oder zu irgendeiner Zeit gegen geheime Wahlen gewandt, und das gilt auch für die Szenerie in Niedersachsen. ({4}) Aber, verehrter Herr Professor Carstens, damit ist noch gar nichts ausgesagt über das Verhältnis, das jeder einzelne Abgeordnete, dort im Lande Niedersachsen, hier im Bundestag und anderswo, in seinem Innenverhältnis zu seiner Freundes-, Kampf-und Fraktionsgemeinschaft herstellen muß, und da darf dann allerdings wohl auch Fairneß und Anstand im Umgang miteinander erwartet werden. ({5}) Meine Damen und Herren, wenn es im Deutschen Bundestag um die Lage der Nation geht, dann bedeutet das in der Tat vornehmlich eine Bilanzierung der Deutschlandpolitik, eine Pflicht, in der sich das Haus eigentlich das ganze Jahr über übt. Dieser Bereich unserer Politik - so scheint mir - ist im letzten Jahr nicht nur insgesamt erfreulicher, sondern er ist auch farbiger geworden. Mit einfachen Schwarzweißmalereien wird man der tatsächlichen Lage deshalb heute nicht mehr gerecht. Wir sollten uns daher alle davor hüten, lediglich aus dem jeweiligen Rollenverständnis von Koalition oder Opposition herausargumentieren zu wollen. Auch in der Deutschlandpolitik sind allerdings Licht und Schatten gleichmäßig verteilt. ({6}) Aber es mutet doch etwas krampfhaft an, wenn die Opposition darauf mit der totalen Verneinung der Deutschlandpolitik reagiert. Und doch, meine Damen und Herren, genauso verhält sich die Opposition! Mir scheint, dies ist immer noch die Folge eines nicht verwundenen Traumas des Jahres 1972. Damals hat der Wähler für den Grundlagenvertrag und für die Deutschlandpolitik gestimmt. Die Bundesregierung hat damals die Entscheidung bewußt gesucht. Sie hat ihre Ost- und Deutschlandpolitik in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gestellt, sie hat um Zustimmung gerungen, und sie hat diese Zustimmung gefunden. Meine Damen und Herren, Sie von der Opposition haben es damals nicht gewagt, dieser politischen Aussage mit einer ablehnenden Entscheidungskonzeption entgegenzutreten. Dies, so meine ich, hat zu Ihrem gestörten Verhältnis in der Deutschlandpolitik geführt. Meine Damen und Herren! Es werden zwar von der Opposition die juristischen Dimensionen immer wieder neu analysiert, aber die politischen Realitäten bleiben dabei völlig außer acht. Selbst wenn die Opposition inzwischen die Verträge formal bejaht, fällt es ihr immer noch schwer, sich auf den Boden dieser Verträge zu stellen, die daraus resultierenden Verpflichtungen endlich zu begreifen und danach zu handeln. Und doch haben wir trotz der heraufziehenden Wahlkämpfe die Pflicht, die Lage unserer Nation unter dem Aspekt sachlicher Nützlichkeit zu behandeln. Wir dürfen und wollen dabei keine Gegensätze verkleistern; der notwendige Streit - so meine ich - sollte aber offen und fair miteinander ausgetragen werden können. Meine Damen und Herren, zur Bilanzierung gehört eine nüchterne Aufstellung der Aktiv- und Passivpositionen. Ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die vorhandene Schwierigkeiten unter den Tisch kehren, aber ich werde andererseits auch die unbestreitbaren Fortschritte in der Deutschlandpolitik nicht und von niemandem zerreden lassen. Schon in der Aussprache vom 30. Januar 1975 sind die positiven Fakten deutlich geworden. Die Entwicklung und Fortschreibung in das Jahr 1976 ist stark von der KSZE überlagert. Seit Ende des zweiten Weltkrieges war dies der umfassendste Versuch einer Kooperation zwischen Ost und West. Die neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel hatte dazu den notwendigen deutschen Beitrag geleistet. Diese Politik hat aber nicht nur die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa überhaupt zum Konferenzthema werden konnten. Nein, die Veränderungen in Deutschland und in Osteuropa durch die Vertragspolitik dieser Bundesregierung führten zu jener Verlagerung der Schwerpunkte in den Konferenzergebnissen, die für das kommunistische Lager eine unangenehme Überraschung gebracht haben. Von den gemeinsamen Prinzipien der Schlußakte werden plötzlich als fast sensationell und wirklich überraschend nur noch die Thesen des Korbes 3 empfunden. Meine Damen und Heren, die Ostpolitik der Bundesregierung hat dies maßgebend bewirkt. Leonid Breschnew und die kommunistischen Parteien sind im Augenblick mit der Diskussion über diese Qualitätsänderung vollauf beschäftigt. Ein operatives Plus für den Westen wird hierin deutlich. Die Opposition sollte dies endlich zur Kenntnis nehmen. Kann die KSZE das Klima zwischen Ost und West tatsächlich verbessern - und die Kommunisten behaupten dies , dann wird dies nicht ohne Wirkung auf die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten bleiben können! Helsinki gab die Gelegenheit für einen Meinungsaustausch zwischen dem Bundeskanzler und dem Ersten Sekretär der SED und half damit, jene Entscheidung vorzubereiten, die zu einem Aktivposten in der Deutschlandpolitik des Jahres 1975 geworden ist. Es ist die Vereinbarung über die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse vom 19. Dezember 1975. Mit dem vorgesehenen Ausbau der wichtigsten Transitverbindung auf der Autobahn Helmstedt Berlin und dem Berliner Ring, mit der Verkürzung der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Hamburg über den neuen Grenzübergang Staaken konnte ein Jahr mühevoller Deutschlandpolitik mit einem Schritt nach vorn beendet werden. Die Vereinbarung führte zu einer Stärkung der Position Berlins. Die Bindung der Stadt an die Bundesrepublik wird durch die eindeutige Verbesserung der Verkehrsverhältnisse auf der Straße und auf der Schiene in dem entscheidenden Punkt und in entscheidender Weise gefestigt. Nun erhebt die Opposition immer wieder den Vorwurf der Doppelzahlung unter Hinweis auf die Erhöhung der Transitpauschale. Was dies angeht, meine Damen und Herren, so sollten wir am besten die Fakten sprechen lassen. Die tatsächliche Lage auf den Verbindungswegen von und nach Berlin als Ergebnis unserer Nachkriegspolitik war nämlich nicht so schön, wie manche es glauben machen möchten. Selbstverständlich bleibt richtig, daß die DDR hier ein weiteres Mal Ölscheichmentalität offenbart. Auf der anderen Seite aber steht fest, daß die DDR vor dem Viermächteabkommen von den Benutzern der Durchfahrtswege individuelle Gebühren kassiert hat, ohne diese Leistungen zweckgebunden für die Instandhaltung der Verkehrswege zu verwenden oder verwenden zu müssen. Meine Damen und Herren, mit dem Viermächte-abkommen mußte sich die DDR nicht nur fehlende Souveränität auf den Transitwegen bescheinigen lassen, sie mußte sich auch noch bereit finden, einer Pauschalierung der Gebühren zuzustimmen. Eine Vereinbarung über die Beschränkung der Verwendbarkeit der bis dahin frei verfügbaren Mittel war in diesem Augenblick nicht zu erreichen. Es war deshalb von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen, diesen Schritt im Jahre 1975 nachholen zu wollen. lm übrigen sollte es sich gerade für die Opposition verbieten, ausgerechnet die pauschale Abgeltung für Gebühren und Abgaben zu kritisieren und zu attackieren. Meine Damen und Herren, was nun die Erhöhung der Transitpauschale betrifft, so ist diese die Konsequenz eines um rund 80 % angestiegenen Verkehrs. Nachdem der Güter- und Personenverkehr tatsächlich auf eine einfache und schnelle Weise abgewickelt wird, sind die Transitstraßen zum bevorzugten Verkehrsweg geworden. Es wäre, so scheint mir, fatal, müßte sich die Bundesregierung dafür entschuldigen, daß sie dieses Ergebnis für Berlin zustande gebracht hat ({7}) und daß es dabei gelungen ist, zum erstenmal eine Vereinbarung über die Zugangswege nach Berlin zu erreichen. ({8}) Meine Damen und Herren, besonders erfreulich ist die im gleichen Rahmen vereinbarte Öffnung eines zusätzlichen Übergangs zur DDR im Norden Berlins. Niemand wird den inneren Zusammenhang übersehen, und niemand sollte deshalb eine weitere Öffnung in der Mauer geringschätzen. Bedeutungsvoll ist auch die Tatsache, daß über den Neubau der Autobahnverbindung Berlin-Hamburg und über die Öffnung des Teltowkanals für die Binnenschiffahrt neu verhandelt werden soll. Hier wird deutlich, daß sich mit dem ersten Schritt der Durchbruch für eine umfassende Normalisierung der Verkehrsprobleme abzuzeichnen scheint. Es bleibt zu hoffen, daß die nächsten Schritte schneller getan werden können. Zu registrieren bleibt weiter das am 1. Januar 1976 in Kraft getretene Gesundheitsabkommen. Es regelt die kostenlose Behandlung im Krankheitsfall bei Besuchen in der Bundesrepublik und in der DDR und sichert einen umfassenden Informationsaustausch auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Dies ist ein Stück angewandter Humanität im Interesse der Menschen in den beiden deutschen Staaten. Zu erinnern ist ferner an das Übereinkommen über den nichtkommerziellen Zahlungs- und Verrechnungsverkehr. Die nahtlose und selbstverständliche Einbeziehung Berlins in die getroffenen Regelungen hat diese Ergebnisse ermöglicht. Es steht jetzt fest, daß in Kürze als nächste Folgevereinbarung das Post- und Fernmeldeabkommen und dies ebenfalls mit einer befriedigenden Berlin-Regelung - abgeschlossen werden kann. ({9}) Meine Damen und Herren, mit Erleichterung und Genugtuung ist auch der Briefwechsel über die Hilfsmaßnahmen an der Sektorengrenze zwischen dem Senat von Berlin und der DDR zur Kenntnis genommen worden. Ein Stück Unmenschlichkeit ist dort gemildert worden. Bedauerlich ist, daß die Kulturverhandlungen bisher auf der Stelle treten. Hier wird sich die DDR an den Gedanken gewöhnen müssen, daß die Stiftung Preußischer Kulturbesitz kein Verhandlungsgegenstand ist. Auch der Rechtshilfeverkehr wird für eine weitere Zeit ohne Abkommen funktionieren müssen. Offen ist ferner eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei Wissenschaft und Technik. Zu den positiven Punkten gehört die Entwicklung der innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen im Jahre 1975. Die Lieferung in und die Bezüge aus der DDR sind gestiegen. Die DDR ist darüber hinaus 1975 endlich auf den von der Bundesregierung seit langem beharrlich vorgetragenen Vorschlag eingegangen, die Wirtschaftsbeziehungen durch Kooperationsabsprachen zu vertiefen. So konnte bereits Ende des vergangenen Jahres ein erstes Kooperationsprojekt realisiert werden. 1976 dürften weitere folgen. Diese Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen erfolgt mit dem Ziel, über bloße Kompensationsgeschäfte hinaus eine langfristige, stabile Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten und den unmittelbar beteiligten Unternehmen zu entwickeln. Meine Damen und Herren, zu den Störfaktoren dagegen rechne ich das Verhalten der DDR bei familienrechtlichen Entscheidungsfällen. Die Eingliederung von Kindern geflüchteter Eltern gegen den Willen der Erziehungsberechtigten in eine neue Familie bleibt auch unter Berücksichtigung eines kommunistischen Rechts- und Verfassungsverständnisses - ein Verstoß gegen die Völkerrechtsprinzipien. Die DDR ist hier mit Nachdruck auf die übernommenen internationalen Verpflichtungen, nicht zuletzt auch als Folgewirkung der KSZE, hinzuweisen. Die DDR muß erkennen, daß sie vor der Weltöffentlichkeit bestimmte Grenzen nicht mehr überschreiten kann. ({10}) Meine Damen und Herren, eine exzessive Anwendung des Familienrechts der DDR als politische Sanktion gegenüber Kindern geflüchteter Eltern darf nicht zur Gerichtspraxis werden. Eine dahin gehende regierungsamtliche Empfehlung sollte die DDR deshalb schleunigst korrigieren. ({11}) Bei diesem Appell an die DDR möchte ich mich allerdings nicht jener Form der Polemik bedienen, die sich am Stichwort der Zwangsadoption entzündet hat, denn diese Form der Auseinandersetzung erscheint durch die bekanntgewordenen Einzelfälle kaum gerechtfertigt. ({12}) Meine Damen und Herren, auch die Strafjustiz der DDR sollte sich vom Gesichtspunkt der Gerechtigkeit leiten lassen und nicht zum blindwütigen Handlanger kommunistischer Propaganda werden. Wir werden stets respektieren, welche Rechte und Pflichten sich für alle Beteiligten aus dem Transitabkommen ergeben. Wir werden auch der DDR die daraus resultierenden Befugnisse nicht bestreiten. Aber: Wer mit drakonischen Strafen Fluchtwillige und Fluchthelfer abschrecken will, darf nicht übersehen, daß er selbst mit der Einmauerung seiner Bürger für das nach seinem Rechtsverständnis jetzt strafwürdige Verhalten ursächlich gewesen ist. ({13}) Meine Damen und Herren, ebenso hat die DDR den Mißgriff der Ausweisung des „Spiegel"-Korrespondenten erst noch aus der Welt zu schaffen. Es muß ferner auch klar sein, daß bei der Höhe des Zwangsumtausches für die Besucher der Berliner in die DDR immer noch ein Stück Rechtsbruch der DDR übriggeblieben ist, wie denn überhaupt, meine Damen und Herren, an dem Ort, der in besonderer Weise als Entspannungsbarometer für Europa gilt, seit geraumer Zeit der Durchzug von Störfronten zu verzeichnen ist. Die DDR und die Sowjetunion üben sich neuerdings in Fehlinterpretationen des Viermächteabkommens über Berlin. Beim Abschluß des Abkommens ging es vornehmlich auch um die Frage der Zuordnung Berlins zur Bundesrepublik. Heute wie damals wissen wir, daß es sich bei diesem Teil praktischer Politik nicht um endgültige Lösungen handeln kann, sondern daß es eine Zwischenlösung im Interesse Berlins ist. Endgültig kann die Berlin-Frage nur im Zusammenhang mit der deutschen Frage gelöst werden. ({14}) Der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, hat gerade wohl deshalb einmal so formuliert: West-Berlin ist an das Schicksal der Bundesrepublik gebunden; aber das Schicksal Gesamtdeutschlands bleibt an Berlin gebunden. ({15}) Dieses Wort hat bis zur Stunde seine Gültigkeit bewahrt. Meine Damen und Herren, die deutschlandpolitische Situation ist im Augenblick vom Streit über Berlin betreffende Fragen überschattet. Der sowjetische Botschafter in der DDR meinte, die Schlüsselstelle des Viermächteabkommens sei die Festlegung, daß Berlin nicht zur Bundesrepublik Deutschland gehöre und nicht von ihr regiert werden dürfte. Die DDR versuchte da natürlich sofort mitzuhalten. Die Brandt-Breschnew-Formel von der „strikten Einhaltung und vollen Anwendung" wird von ihr flugs halbiert, und es wird nur noch vo der „strikten Einhaltung" des Viermächteabkommens gesprochen. ({16}) Die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin ist aber gerade nach dem Inkrafttreten des Abkommens zu einer Aufgabe von hervorragender politischer Bedeutung geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat dies im Grundvertragsurteil ausdrücklich hervorgehoben. Zu diesen Bindungen gehört die Einbeziehung Berlins in alle völkerrechtlichen Übereinkünfte, die von der Bundesrepublik geschlossen werden oder denen sie beitritt, soweit nicht im Einzelfall die Vorbehaltsrechte der drei Westmächte dem entgegenstehen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß der einheitliche Rechtszustand in der Bundesrepublik und in Berlin auch künftig gewahrt bleibt. Die Sowjetunion hat dazu im Viermächteabkommen erklärt, daß sie unter der Voraussetzung der Nichtberührung von Angelegenheiten der Sicherheit und des Status ihrerseits keine Einwendungen gegen die Ausdehnung völkerrechtlicher Vereinbarungen und Abmachungen haben würde. In der Anlage IV B ist diese Zusage nachzulesen. Mit der Formel „Sicherheit und Status" soll hier offenbar das zurückgenommen werden, was an klarem politischen Zugeständnis vorher eingeräumt worden ist. Im Augenblick sind so drei Verträge notleidend, Verträge, von denen im Augenblick so viel geschrieben und geredet wird: das Rechtshilfeabkommen, das Abkommen über die wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit und die Zweijahresregelung zum Kulturabkommen. Der bloße Wortlaut des Viermächteabkommens macht deutlich, in welchem Maße die Sowjetunion hier hinter den Vereinbarungen und Absichten aller Signatarmächte und der beteiligten Staaten zurückfällt. Meine Damen und Herren, es bleibt deshalb zu hoffen, daß die Absage des Berlin-Besuchs der sowjetischen Bürgermeister nicht zu einem negativen Modell einer härteren Gangart der sowjetischen Berlin- und Deutschlandpolitik wird. ({17}) Die Sowjetunion sollte jedenfalls endlich aufhören, mit der Dreistaatentheorie eine politische Leiche des kalten Krieges wieder zum Leben erwecken zu wollen. ({18}) Wenn sie ihre Entspannungsbeteuerungen nicht Lügen strafen will, muß sie die Zuordnung Berlins zur Bundesrepublik und die Außenvertretung der Stadt durch die Bundesregierung endlich so praktizieren, wie es im Viermächteabkommen vereinbart worden ist. Die Sowjetunion täte gut daran, ihr Verhältnis zu Berlin zu entkrampfen, was ihr und ihren Diplomaten im übrigen auch den Umgang mit Berliner Bundestagsabgeordneten außerordentlich erleichtern würde. Die Rückbesinnung auf das Viermächteabkommen könnte die Wahl zum Europäischen Parlament auch für die Berliner Abgeordneten zu einer konfliktfreien Selbstverständlichkeit werden lassen. Schließlich gilt der EG-Vertrag von Anbeginn ohne Einwände in Berlin; Beanstandungen hat es auch später dazu nicht gegeben. Berlin genießt als Teil der EG die Vorteile des Regionalfonds ebenso wie die des Sozialfonds. Die Wahl zum Europäischen Parlament wird dennoch nicht Anlaß zu einem Kraftakt sein müssen. Ebensowenig aber darf bei dieser Gelegenheit die bislang ungeschmälerte Stellung Berlins in der EG angetastet werden. Wenn es in Berlin auch keine Direktwahl geben wird, so sollte es die Zugehörigkeit Berlins zum Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem des Bundes andererseits rechtfertigen, die Berliner Abgeordneten aus der Kompetenz des Bundestages nach Europa zu entsenden. Damit würde sich auch die Frage nach der Stellung der Berliner Abgeordneten im Europäischen Parlament erst gar nicht auftun. Für die im Augenblick zu spürende verhärtete Haltung der sowjetischen Regierung mag es Erklärungen geben. ({19}) Wahlen und Parteitage lassen die Politik nicht nur in den USA und bei uns unbeweglicher werden. In der Sowjetunion hat dies ganz gewiß noch viel stärkere Wirkungen. Aber nicht nur die Ergebnisse der KSZE mögen die Forderungen nach einer Überprüfung der Westpolitik in der UdSSR auf den Tisch gebracht haben. Die ökonomischen Schwierigkeiten wie die Mißernten des letzten Jahres haben die innerpolitischen Auseinandersetzungen dort ganz gewiß weiter verschärft. Ernüchterung mag sich darüber eingestellt haben, daß die mit der Öffnung nach Westen angestrebte Problematisierung der Beziehungen der westeuropäischen Staaten zueinander in der EG und innerhalb des Atlantischen Bündnisses ausgeblieben ist. Nicht die Auflösung, sondern die Stärkung der Gemeinschaft ist festzustellen. Im Bündnis sind trotz nicht zu leugnender Schwierigkeiten und nicht zu übersehender Probleme an der Südflanke letztlich Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungskraft gewachsen. Dies dürfte den Kritikern Auftrieb gegeben haben und könnte die Forderung nach einer neuen Standortbestimmung des kommunistischen Lagers begreiflich machen. Sicher ist dies aber ein Grund dafür, daß die Sowjetunion mit Macht außenpolitische Erfolge an anderen Plätzen sucht und sich deshalb verstärkt im Nahen Osten und in Afrika engagiert. Die freie Welt wird alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um eine Gefährdung des Weltfriedens hier auszuschließen. Meine Damen und Herren, für die DDR ergeben sich andere, aber dabei sehr unmittelbare Probleme für den eigenen Bereich. Der Vorschlag des Programmentwurfs der SED rechtfertigt einen Rückblick auf die Deutschlandpolitik der SED, die sich in einem ideologischen Rösselsprung vollzog: Jahrelang hatte sich die SED für gesamtdeutsche Gespräche und für die Einheit der Nation eingesetzt. Noch in ihrem Programm von 1963 hat die SED geschrieben, sie kämpfe um die Überwindung der Spaltung der Nation, sie halte an der Wiederherstellung der Einheit der Nation fest, und sie wolle dem unerträglichen, feindseligen Gegenüberstehen von zwei deutschen Staaten ein Ende bereiten. Solange eine starre antikommunistische und gegen die DDR gerichtete Politik betrieben wurde, trat die SED als Vertreterin einer Entspannungspolitik auf. Die beweglichere Ostpolitik und hier vor allem die realistische und flexible Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition hat die SED dann in Schwierigkeiten gebracht. Sie hatte nun kein Interesse mehr an gesamtdeutschen Gesprächen, die auf das Gebiet der DDR hätten übergreifen können. Ihr Ziel war es, die Diskussion auf die Bundesrepublik zu beschränken. Wir erinnern uns, wie erschreckt die DDR von dem Echo war, das der Besuch von Bundeskanzler Brandt in Erfurt fand. Meine Damen und Herren, die erfolgreichen Verhandlungen der Bundesregierung über die Ostverträge hat die SED zwar positiv bewerten müssen; sie hat sich jedoch schärfstens gegen die These von innerdeutschen Verhandlungen und Vereinbarungen gewehrt. In der Verfassung von 1968 wurde die DDR zwar noch als „Staat deutscher Nation" bezeichnet. Dennoch behauptete die SED später, die Einheit der Nation sei zerstört, es gebe keine deutsche Nation mehr, die DDR sei ein deutscher Nationalstaat. Mit der Politik der sozialliberalen Koalition wurde der DDR auch die These entwunden, die Bundesrepublik wolle sich die DDR einverleiben, und von draußen drohe die Gefahr eines neuen Faschismus. Unsere Politik paßte nicht mehr in die Ulbrichtschen Klischeevorstellungen. Reaktionäre in Ost und West konnten nicht mehr eskalieren. Der Moskauer Vertrag machte der DDR bewußt, daß die Sowjetunion dabei sogar von ihrer alten Forderung abgerückt war, erst nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik ihr Verhältnis zu Bonn zu normalisieren. Meine Damen und Herren, so ist die Einheit der Nation zum offenen Streitpunkt zwischen den beiden deutschen Staaten geworden. Die DDR ist auf harten Gegenkurs gegangen. Den ersten wichtigen Schritt hat sie 1974 mit einer Verfassungsänderung getan. Mit starker Außenwirkung unternahm sie hier den Versuch, ihre Eigenstaatlichkeit rechtlich zu untermauern. Sie bezeichnete sich schlicht als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern". Mit dem Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 7. Oktober 1975 hat die DDR dann den zweiten Schritt getan. In diesem Vertrag wird von der „gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft" und der „weiteren Annäherung der sozialistischen Nationen" gesprochen. Die DDR hat sich mit diesem Vertrag an die Sowjetunion gebunden, um durch deren machtpolitisches Gewicht ihre Eigenstaatlichkeit auf Dauer garantieren zu lassen. Mit dem Programmentwurf setzt die SED jetzt ihre Bemühungen fort, den zweiten deutschen Staat von der Bundesrepublik Deutschland abzugrenzen und auf Dauer abzutrennen. Die SED will sich in einer Großnation der sozialistischen Gesellschaftsordnung ansiedeln und löst sich von den Kriterien des überkommenen Nationenbegriffs. Meine Damen und Herren, wir haben gleichwohl guten Grund, an der Definition der Nation als einer Gemeinschaft gleicher Kultur festzuhalten. Sie weist darauf hin, daß es keineswegs nur der Staat ist, der eine bestimmte Bevölkerung, nämlich seine Untertanen oder Bürger, zur Nation macht. Es gibt Nationen, die sich ihrer Einheit über Staatsgrenzen hinweg sehr bewußt sind oder sich lange Epochen hindurch bewußt waren, wie etwa die Juden und die Polen. Auch den Deutschen ist 1848, 1871 und 1918 die Gründung eines alle Deutschen umfassenden deutschen Nationalstaates mißlungen. Verständlich, daß die lebendig empfundene Einheit als die einer Kulturnation definiert wurde. Wir werden uns jedoch permanent mit dem Versuch der DDR auseinandersetzen müssen, sich in einer Großnation sozialisti15114 scher Gesellschaftsordnung anzusiedeln. Aber die DDR wird dabei erkennen, daß papierne Deklarationen über die Einheit der Nation nicht entscheiden, egal, ob es eine Verfassung, ein Vertrag oder ein Parteiprogramm ist. Entscheidend sind der Wille und das Bekenntnis der Menschen in beiden deutschen Staaten. Unsere Aufgabe ist und bleibt es daher nach wie vor, alle jene Elemente der Bewußtseinsbildung zu nutzen und zu stärken, die diesen Willen in beiden deutschen Staaten bewahren. Deshalb ist alles an Austausch, Begegnung von Menschen, Meinungen und Informationen zu fördern, was der Pflege der gemeinsamen Sprache, der gemeinsamen Kultur und dem gemeinsamen Geschichtsbewußtsein dient. Bei unseren Bemühungen um die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten werden wir in den ideologisch bestimmten Auseinandersetzungen noch einen langen Marsch vor uns haben. Seien wir dafür gerüstet, lassen wir uns durch die Aggressivität unserer politischen Gegner nicht schrecken, und bewahren wir uns vor Resignation durch Enttäuschungen, die sicher auch in Zukunft nicht ausbleiben werden! Für eine überschaubare Phase deutscher Politik wird nicht so sehr Wandel durch Annäherung die zutreffende Beschreibung der Szene sein, sondern krampfhafte Abgrenzung der Kommunisten wird den Prozeß der Normalisierung begleiten. ({20}) Sie wollen und müssen ihr System vor jenen Gefahren bewahren, die sich aus ihrer Sicht durch die Vermehrung der Kontakte zur freien Welt ergeben. Dies gilt in gesteigertem Maße für die Führer der DDR, die trotz der immer wieder beteuerten Eigenstaatlichkeit und des so häufig beschworenen Staatsbewußtseins der DDR-Bürger ihre Unsicherheit nicht verbergen können und deshalb nur eine sehr rationierte und kontrollierte Öffnung zur Bundesrepublik zulassen. Meine Damen und Herren, dennoch führt an dem Zwang zur Fortsetzung des Dialogs zwischen den beiden deutschen Staaten kein Weg vorbei; denn dieser Zwang zur Normalisierung und Entspannung ist und bleibt Teil eines weltweiten Konzepts. Mag man daran aus Überzeugung oder auch nur widerwillig als einziger Alternative zur Selbstzerstörung festhalten; jedenfalls ist das innerdeutsche Problem Teilaspekt der Entspannungspolitik, die auch in diesem Jahre von zentraler Bedeutung bleiben wird. Unsere Deutschlandpolitik werden wir daher, wie die Entspannungspolitik überhaupt, als Bestandteil unserer Außenpolitik nicht im Alleingang, sondern im Verbund mit der Neunergemeinschaft Europas und den Partnern im Atlantischen Bündnis fortsetzen. Es ist ein erfreuliches und ermutigendes Zeichen, daß sich in der Europäischen Gemeinschaft die Bereitschaft und die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln spürbar verstärkt hat. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit für die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und bei den Abrüstungsgesprächen haben dieses positive Ergebnis gefördert, und wir haben Grund, mit Genugtuung und Erleichterung zu vermerken, daß es dabei möglich war, die Deutschlandpolitik zu einem integrierten Teil der Politik der Europäischen Gemeinschaft und des Atlantischen Bündnisses zu machen. Eine Alternativposition zu dieser Politik gibt es nicht. Auch die Opposition hat sie bis zur Stunde nicht formulieren können. Sie erschöpft sich deshalb in der Kritik von Randerscheinungen oder in der Behauptung, daß das alles noch sehr viel schöner und besser zu machen sei. ({21}) Meine Damen und Herren, völlig unverständlich wird die Haltung der Opposition für mich aber immer dann, wenn sie die Bundesregierung dort attakkiert, wo ein mit den europäischen Freunden in der Gemeinschaft gemeinsam erarbeitetes Konzept nach außen vertreten wird. Dies ist aber in jüngster Zeit gleich mehrfach geschehen. Zunächst hat sich die Opposition mit Macht gegen den Beitrag der Bundesregierung am Zustandekommen der Ergebnisse von Helsinki gewehrt. Nach Meinung der Opposition hätte sich die Bundesrepublik als einziges Land der Mitwirkung an der Formulierung der Prinzipien der KSZE entziehen müssen. Alleingang und Isolation waren die Empfehlung der Opposition. Dasselbe hat sich dann im Zusammenhang mit den Ergebnissen der 7. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen wiederholt. Gerade dort, wo die Bundesregierung durch ihren Beitrag den Weg für das Gespräch mit den Staaten der Dritten Welt öffnen konnte, dort, wo es gelang, die Konfrontation zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern zu vermeiden, ist die Bundesregierung von der Opposition kräftig gescholten worden. Auch hier hat die Opposition offenbar übersehen oder will nicht erkennen, daß es nicht mehr möglich ist, isolierte nationale Politik zu treiben, sondern daß man die deutschen Interessen nur in die Gesamtinteressen der Europäischen Gemeinschaft einfügen kann, einer Gemeinschaft, der sich sonst auch die Opposition, jedenfalls in ihren Erklärungen, sehr verbunden fühlt. ({22}) Auch hier war der Kompaß der Opposition in die falsche Richtung - auf Alleingang - gestellt. Dieser Vorgang hat sich dann wiederholt, als die Bundesregierung im Rahmen des atlantischen Verteidigungsbündnisses den Abrüstungsvorschlägen in Wien zustimmte, einer Entspannungskonzeption, die im Einvernehmen mit den Partnern formuliert wurde. Im übrigen dürfte hier eine Verhandlungsstrategie entwickelt worden sein, die, wie die Informationen der letzten Tage zeigen, so erfolglos, wie die Opposition behauptet, offenbar nicht zu sein scheint. Die Opposition aber hat um den Preis der Kritik willen auch diesen Schritt gemeinsamer politischer Aktionen verurteilt. Meine Damen und Herren, bei der anstehenden Entscheidung über die Polen-Vereinbarungen ist die Opposition offenbar entschlossen, ihre Neinsagerrolle konsequent weiterzuspielen. Die zweite Lesung und die Schlußabstimmung über das Rentenabkommen werden Gelegenheit geben, sich in der Sache noch einmal gründlich mit den Argumenten der Opposition auseinanderzusetzen. Aber schon hier und heute sei so viel gesagt: daß eine gescheiterte Vertragspolitik mit Polen die Bundesrepublik außenpolitisch unglaubwürdig, wenn nicht verhandlungsunfähig machen müßte. ({23}) Die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat sollte deshalb sorgfältig prüfen, ob sie der Bundesregierung aus innenpolitischen Gründen tatsächlich ein Bein stellen will. Innenpolitisch aber würde eine solche Haltung die bestehenden Gegensätze verschärfen; ja, politische Gegnerschaft könnte in Feindschaft umschlagen. Was wir mit der konstruktiven Politik der Aussöhnung an schlimmer Vergangenheit in unseren außenpolitischen Beziehungen überwinden wollen, könnte uns dann für unsere innenpolitische Zukunft unheilvoll bevorstehen. Es bleibt also zu beklagen, daß die Opposition zwar kritisieren und nein sagen kann, aber keine in sich geschlossene politische Gegenkonzeption anzubieten vermag. ({24}) Meine Damen und Herren, wie wäre es um die Bundesrepublik heute bestellt, würde die Bundesregierung den Empfehlungen der Opposition folgen oder würde diese Bundesrepublik heute von der Opposition regiert, ({25}) und Sie würden, was kaum zu glauben ist, dann das tun, was Sie anderen raten? Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik wäre in Europa isoliert; ({26}) in der Europäischen Gemeinschaft und im atlantischen Bündnis wäre sie als Störenfried ins Abseits geraten, und von dem Dialog mit der Dritten Welt, der den Nord-Süd-Konflikt überwinden soll, hätte sie sich selbst ausgeschlossen. Vor einer solchen Politik der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten gilt es die Bundesrepublik zu bewahren. In die Isolierung dürfen wir uns durch eine an den Tagesinteressen orientierte Politik der Opposition nicht abdrängen lassen. ({27}) Nüchtern, realistisch und geduldig müssen wir Politik in Deutschland treiben - gerade wegen der Situation in unserem geteilten Land. Realpolitik ja, Isolationspolitik nein! Gerade für jene, die in der Opposition das Erbe Konrad Adenauers beschwören, sollte eine Erkenntnis endlich Geltung gewinnen, Geltung gewinnen für alle und damit auch für die Opposition selbst, jene Erkenntnis nämlich, nach der der erste Bundeskanzler dieser Republik zu handeln bereit war: Nichts ist gefährlicher für unser geteiltes Volk, für unser Land, als isoliert dazustehen. ({28})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, wenn auch Ungewißheit über den Ablauf einer Debatte oft das einzige Gewisse ist, so möchte ich doch sagen, daß sich die Zahl der noch vorliegenden Fragen erheblich verringert hat, so daß Sie damit rechnen können, daß die Debatte möglicherweise bereits um 15 Uhr wieder aufgenommen werden kann. Wir treten jetzt in die Mittagspause ein und beginnen um 14 Uhr mit der Fragestunde. ({0}) ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 7/4632 Hierzu muß ich etwas vorausschicken. In der heutigen Fragestunde sind eine Reihe von Fragen für unzulässig erklärt worden. Dies bedeutet nicht, daß sich der Fragesteller unparlamentarisch aufgeführt oder seine Kompetenzen überschritten hat, sondern es hängt einzig damit zusammen, daß wir heute eine umfassende politische Debatte haben und nach den Richtlinien für die Fragestunde all diejenigen Fragen nicht zugelassen werden dürfen, die während der allgemeinen Debatte behandelt werden können. Das ist in sonstigen Sitzungswochen nur in wenigen Fällen der Fall. Die Fragesteller, die Fragen gestellt haben, die heute in der Debatte behandelt werden können, haben sozusagen Pech gehabt. Dies zur Erläuterung vorweg. Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatssekretärin Schlei zur Verfügung. Die Frage 92 ist für unzulässig erklärt. Dann kommt die Frage 93 des Abgeordneten Jäger ({0}) : Billigt die Bundesregierung die Art und Weise, mit der Staatsminister Moersch in der Fragestunde des Deutschen Bundestages auf Fragen von Abgeordneten zu reagieren pflegt?

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Herr Kollege Jäger, die Bundesregierung hält die Art und Weise, in der Staatsminister Moersch seit nunmehr fast sechs Jahren - und dabei in dieser Legislaturperiode auf weit über 1000 Fragen, ohne Zusatzfragen - antwortet, für im Inhalt prä15116 zise, in der Gedankenführung brillant, im Vortrag lebendig und im besten Sinne parlamentarisch. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, halten Sie z. B. folgende Fragebeantwortung durch Staatsminister Moersch am 16. Oktober letzten Jahres, nämlich: „Herr Abgeordneter, Sie dürfen meinen Antworten immer das entnehmen, was ich gesagt habe. Was Sie dann selbst hinzukommentieren, ist Ihre Sache. Ich habe nicht die Absicht, meine Antworten zu kommentieren.", für ein dem parlamentarischen Stil entsprechendes Verhalten des Herrn Moersch?

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie an der Antwort irritieren könnte, Herr Kollege; denn er verläßt sich ja auf Ihren Sachverstand.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, halten Sie es für eine mit dem in diesem Hause geübten Stil in Einklang stehende Weise der Fragebeantwortung, wenn Herr Staatsminister Moersch in sehr häufigen Fällen auf Ausschußsitzungen, Ausschußprotokolle und ähnliche interne Besprechungen verweist, die den Mitgliedern dieses Hohen Hauses gar nicht bekannt sein können und die deswegen das Wissensbedürfnis, das ja nicht nur das des Fragestellers, sondern des ganzen Hauses ist, in keiner Weise befriedigen können? ({0}) Frau Schlei, Parlamentarischer Staatssekretär: Aber, Herr Kollege, erstens ist das keine unsittliche Lektüre, auf die Sie da verwiesen werden, und zweitens sind Ihnen auf Wunsch die Protokolle zugänglich zu machen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Czaja.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, halten Sie die Feststellung des ehemaligen Bundesjustizministers Jahn, daß auch Staatssekretäre und Staatsminister im Rechtsstaat bei der Befragung im Parlament die Wahrheit über Tatsachen zu sagen haben, für richtig, und wie beurteilen Sie dann das monatelange Verschweigen der Schikanierung und tatsächlichen Verfolgung Deutscher und der völkerrechtswidrigen Enteignung deutschen zivilen Vermögens auf zahlreiche Fragen im Bundestag durch Herrn Moersch? ({0})

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Herr Abgeordneter, im Zusammenhang mit der erstgestellten Frage kann ich Ihre Frage nicht mehr als für mich akzeptabel ansehen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, Sie haben sich auf den Sachverstand meines Kollegen Jäger bezogen. Wäre es nicht die Aufgabe des Staatsministers oder Staatssekretärs, unseren Sachverstand durch eine präzise Beantwortung der an ihn gestellten Fragen noch zu vermehren?

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Aber, Herr Kollege, ich habe den Eindruck, daß er sich mit bewundernswerter Geduld darum bemüht.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.

Otto Fircks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, halten Sie es wirklich für einen angemessenen Stil, wenn am 16. Oktober 1975 Herr Staatsminister Moersch eine Antwort - wenn man es so nennen will - mit dem Satz abschließt: „Ich verstehe nicht, wie man solche Fragen stellen kann"? ({0})

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Nach einer sehr langen Fragestunde, wie wir sie ja manchmal erleben, ist das doch eine sehr sanfte Äußerung. ({0}) Sie müssen zur Bewertung einer solchen Situation, wie wir sie hier immer wieder erleben, auch die Anzahl und die Art der Zwischenrufe beachten, die man zusätzlich zu verarbeiten hat. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die nächste Zusatzfrage stellt Herr Abgeordneter Niegel.

Lorenz Niegel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung - das sage ich auch auf die Gefahr hin, daß mich der Herr Präsident jetzt rügt -, daß die Absetzung meiner Frage aus dem auswärtigen Bereich nicht den Richtlinien des Deutschen Bundestages entspricht? Denn meine Frage zu Angola hat mit der Tagesordnung nichts zu tun.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, Sie können diese Frage nicht stellen; denn die Frau Staatssekretärin dürfte niemals die Präsidentin des Deutschen Bundestages kritisieren, zumindest nicht in diesem Hohen Hause. ({0}) Vizepräsident Dr. Jaeger - Herr Abgeordneter, Sie haben viele Möglichkeiten, in Presseerklärungen und wo immer Sie wollen, ein Mitglied des Präsidiums des Deutschen Bundestages zu rügen, aber nicht in einer Sitzung des Deutschen Bundestages. Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002156, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretär, wollen Sie denn wenigstens zur Kenntnis nehmen, daß bei der Beantwortung von Fragen von Abgeordneten durch Herrn Staatsminister Moersch der amtierende Präsident mehrfach eingegriffen hat, um den Herrn Staatsminister auf eine korrekte Beantwortung hinzuweisen?

Marie Schlei (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001979

Es gibt keinen einzigen formellen Ordnungsruf, Herr Kollege. ({0}) - Ein Eingreifen kommt oft vor, wie Sie eben bei Ihrem Kollegen gesehen haben, der einen Vorwurf in Richtung des Präsidenten geäußert hat. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Seiters, ich glaube, Ihre Frage ist erledigt. Es liegen keine Zusatzfragen mehr vor. Die Frage 94 des Herrn Abgeordneten Josten ist für unzulässig erklärt. Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretär. Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Hier sind die Fragen 63 und 95 unzulässig. Ich komme zur Frage 96 des Abgeordneten Hansen: Trifft es zu, daß die Firma Rheinstahl beabsichtigt, bei Versagung einer Exportgenehmigung durch die Bundesregierung 300 Schützenpanzer „Marder" über ihre Zweigniederlassung in Belgien an Saudi-Arabien zu liefern? Wer spricht für das Auswärtige Amt? - Der schon erwähnte Herr Staatsminister Moersch. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident, ich bitte die Fragen 96 und 97 zusammen beantworten zu dürfen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ja, bitte sehr! Ich rufe also auch die Frage 97 des Abgeordneten Hansen auf: Wird die Bundesregierung die Ausfuhr der Schützenpanzer genehmigen?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, die Firma Rheinstahl hat bisher keine konkretisierte Ausfuhrgenehmigung für einen Export über ihre Zweigniederlassung in Belgien beantragt. Ich nehme an, daß Sie mit Ihrer zweiten Frage sowohl den Direktexport als auch den Export über ein Drittland ansprechen wollen. Für beide Fälle gilt folgendes: Die Genehmigung eines solchen Waffenexports - dies ist von Bedeutung - würde nach ständiger Übung der Zustimmung des Bundessicherheitsrates bedürfen, der bisher nicht mit dieser Frage befaßt worden ist. Maßgebliche Rechtsgrundlagen sind die Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes. Für die Entscheidung wäre es ohne Belang, ob die Panzer nicht unmittelbar, sondern über ein drittes Land geliefert werden sollen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, falls die Firma Rheinstahl - es soll sich dem Vernehmen nach inzwischen um 800 bis 900 Schützenpanzer handeln - dennoch beabsichtigen sollte, diese Panzer in Einzelteilen über ein NATO-Land - wie in diesem Falle Belgien - an ein drittes Land zu liefern, sehen Sie dann hier nicht eine Lücke in den Exportbeschränkungen, die sich die Bundesrepublik selbst auferlegt hat, sowie eine Manipulation des Endverbleibs?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, abgesehen davon, daß es nicht möglich ist, auf hypothetische Fragen Antworten zu geben, die die Bundesregierung binden könnten, ist im Kriegswaffenkontrollgesetz völlig klargestellt, daß entsprechende Rüstungsgüter der Kontrolle unterliegen. Ich glaube, daß es hier keine Definitionsschwierigkeiten gibt. Eine andere Frage ist es, wenn Rüstungsgüter nicht in unserem Lande hergestellt werden. Wenn die Teile hier hergestellt und anderswo montiert werden, ist es im Prinzip dasselbe, wie wenn Fertigteile von hier aus exportiert würden.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, gilt das, was Sie zuletzt gesagt haben, auch für Einzelteile, die in der Bundesrepublik fabriziert worden sind und erst - wie in diesem Falle - in Belgien zusammenmontiert werden?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, dies hängt natürlich von der Art der Einzelteile ab. Es ist Ihnen wahrscheinlich auch klar, daß beispielsweise Räder exportiert werden können. Es gibt jedoch auch Räder, die dann als Teile für Kriegsfahrzeuge dienen; dann sähe die Angelegenheit vielleicht anders aus. Ich meine, daß ein Blick in den Wortlaut des Gesetzes viele Einzelfragen klärt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, darf ich - da Sie das Gesetz erwähnen - davon ausgehen, daß Sie mit mir der Meinung sind, der Export solcher Einzelteile zum Zwecke der Endmontage in einem anderen Land falle dann unter § 7 des Kriegswaffenkontrollgesetzes und sei verboten, weil hiermit unter Umständen eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker verbunden sein kann, wenn diese Waffen dann in ein Spannungsgebiet oder in ein Gebiet, das einem Spannungsgebiet benachbart ist, geliefert werden?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, grundsätzlich kann die Bundesregierung den Inhalt eines Antrages nur beurteilen, wenn er ihr vorliegt. Die gesetzlichen Grundlagen sind eindeutig. Hier wird von Spannungsgebieten gesprochen. Es muß natürlich im Einzelfall entschieden werden, was ein Spannungsgebiet ist; sonst brauchte man nicht ein besonderes Gremium, das über diese Definition im einzelnen zu entscheiden hat, weil sich die Welt seit dem Erlaß dieses Gesetzes ja geändert und sich der Gesetzgeber nicht in der Lage gesehen hat, bestimmte Gebiete zu kennzeichnen; er hat vielmehr diesen Begriff „Spannungsgebiete" gewählt. Das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz sehen Definitionen dessen vor, was unter die Einschränkung des Exports fallen kann. Dies hängt, wie gesagt, von der Art der Teile ab. Sie werden mir zugeben - ich möchte nur einmal ein Beispiel nennen -, daß der Export von Zündkerzen nicht darunterfällt; genausowenig werden - wir haben den Fall hier ja schon einmal erörtert - Hosenknöpfe dann zu militärischem Material, wenn sie an eine Uniform angenäht werden.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ihre letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.

Karl Heinz Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, vor dem Hintergrund der Tatsache, daß es im Nahen Osten etwa ein Dutzend Befreiungsbewegungen der verschiedensten Art gibt, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir darin zustimmen, wenn ich sage, daß die Lieferung von Waffen in ein Gebiet, das einem unumstritten als Spannungsgebiet anzusehenden Raum benachbart ist, unter Umständen die Entwicklung dieses Gebiets von einem politischen Spannungsgebiet zu einem militärischen Gebiet zu fördern geeignet ist.

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, die Zahl der Möglichkeiten ist fast unbegrenzt. Sie haben in Ihrer Frage schon dadurch Einschränkungen angebracht, daß Sie sagen „unter Umständen". Eben auf diese Umstände käme es an.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Ey.

Richard Ey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung mit mir der Meinung, daß der Empfängerkreis von Ersatzteilen für Kriegsgerät nicht exakt abgrenzbar und kontrollierbar ist, und zwar schon deswegen nicht, weil oft Ersatzteile für Kriegsgerät und für Zivilgerät identisch sind?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich habe versucht, dies darzulegen. In der Frage ging es jedoch nicht um Ersatzteile.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Haase ({0}).

Lothar Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist sich die Bundesregierung bei der Entscheidung über den besagten Exportauftrag darüber im klaren, daß eine Verweigerung der Genehmigung die Beschäftigungssituation für 3 000 Arbeitnehmer auf drei Jahre hinaus in diesem Kasseler Unternehmen ({0}) auf das schwerste ({1}) beeinträchtigt würde ({2}) und daß die Verweigerung der Genehmigung für die nordhessische Wirtschaft schwerwiegende negative Weiterungen bewirken würde? ({3})

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter Haase ({0}), die Tatsache, daß ein Betrieb in bestimmte Schwierigkeiten geraten kann, wenn er einen Auftrag nicht erhält, ist so allgemein, daß das nicht nur für diesen speziellen Fall gelten kann. Der Gesetzgeber in diesem Hause hat in Kenntnis solcher Möglichkeiten ein Gesetz erlassen. Die Bundesregierung muß und wird sich an den Inhalt dieses Gesetzes halten. Wenn Sie der Meinung sind, daß dieses Gesetz den speziellen Belangen der von Ihnen erwähnten Region zuwiderläuft, dann haben Sie als Abgeordneter selbstverständlich die Möglichkeit, hier die Änderung des Gesetzestextes oder die Aufhebung des Gesetzes zu beantragen. Bisher liegt dem Deutschen Bundestag ein solcher Antrag von Ihrer Seite nicht vor.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Sie haben nur eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Haase.

Not found (Gast)

Es waren aber zwei Fragen, die ich beantwortet habe.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ja, richtig! Entschuldigung!

Lothar Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, sieht die Bundesregierung angesichts der Situation in diesem Teil des Nahen Ostens oder Mittleren Ostens eine Möglichkeit, hier eine Regelung herbeizuführen, die sowohl dem Geiste des Gesetzes als auch den Wirtschaftsinteressen unseres Landes Rechnung trägt?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, der Geist ist eine Sache und der Buchstabe eine andere, und die wirtschaftlichen Interessen sind eine dritte Sache. Die Bundesregierung sieht keine MöglichStaatsminister Moersch keit, vom Gesetzestext abzuweichen. Geist hin oder Geist her, das ist nicht das Problem. Das Problem ist die Vorschrift, die der Deutsche Bundestag mit Zustimmung der übrigen Verfassungsorgane erlassen hat. Darum geht es hier ganz konkret. Ich weiß, daß sich diese Fragen - und das weiß jedermann in diesem Hause - in einer Zeit der überhitzten Konjunktur, als dieses Gesetz beraten wurde, anders gestellt haben als in einer Zeit, in der es Beschäftigungsschwierigkeiten in einzelnen Teilen der Wirtschaft gibt. Sie werden mir aber zugeben, daß die Definition des Spannungsgebiets nichts mit der Beschäftigungslage in der Bundesrepublik Deutschland zu tun hat. Ich weiß, daß daher auch Schwierigkeiten in bestimmten Unternehmen und Betrieben entstehen können. Sie dürfen sicher sein, daß die Bundesregierung alles Menschenmögliche tun und die Interessen abwägen wird, bevor sie eine Entscheidung trifft. Diese Entscheidung kann sie erst treffen, wenn ein konkreter Antrag im Sinne der Frage des Kollegen Hansen - im Augenblick geht es um Belgien - vorliegt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kliesing.

Dr. Georg Kliesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001130, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist es nicht für jede Bundesregierung schwer, mit dem Begriff „Spannungsgebiet" umzugehen, da sich die Lage sehr schnell ändern kann, wie sich im Laufe dieser Woche im Falle Algerien gezeigt hat?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, das ist eine völlig zutreffende Feststellung, die Sie in Frageform gekleidet haben. Wenn ich die Gesetzesmaterialien noch richtig in Erinnerung habe, die zu diesem Gesetz geführt haben, so hat ein scharfsinniger Kollege damals - glaube ich - bemerkt, es könnte sogar sein, daß erst durch die Lieferung von Waffen Spannungsgebiete entstünden, die vorher gar keine gewesen seien. ({0}) Das heißt, hier ist im Grunde der Versuch gemacht worden, etwas in gesetzestechnischer Form einzufangen, was in der Tat den Veränderungsmodalitäten in der Welt überhaupt unterliegt. Das gilt sowohl nach der einen wie nach der anderen Seite.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Keine Zusatzfrage mehr. Die Frage 98 des Abgeordneten Rollmann ist unzulässig. Ich rufe dann die Frage 99 des Abgeordneten Dr. Hupka auf: Trifft es zu, daß die Bundesregierung eine möglichst baldige Umsetzung ({0}) in die Praxis befürwortet, und - wenn ja - auf Grund welcher Kriterien ist die Bundesregierung zu diesem Ergebnis gekommen?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat mehrfach die Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen als einen wichtigen Beitrag für die künftige Gestaltung der Beziehungen zwischen beiden Ländern gewürdigt. Die Bundesregierung sieht das Ziel dieser Bemühungen erst dann verwirklicht, wenn deutsche und polnische Schüler, die in Kürze die mündigen Bürger ihrer Länder sein werden, die Gelegenheit erhalten, im Schulunterricht die Empfehlungen der deutschen und polnischen Wissenschaftler kennenzulernen, um auf diese Weise das gegenseitige Verständnis zu fördern.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ich hatte nach den Kriterien gefragt, die doch wohl vorhanden sein müssen, wenn die Bundesregierung diese deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen befürwortet. Gibt es da ein Gutachten?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat hier wiederholt zu dieser Frage Stellung genommen. Schulbuchempfehlungen sind Arbeitsergebnisse wissenschaftlicher Kommissionen. Es liegt allein in der Verantwortung der Länderkultusbehörden, in diesem Falle Genehmigungen für Schulbücher zu erteilen. Ich hoffe, daß Sie mit mir der Meinung sind, daß wir ein hohes Maß an Pluralität in unserem Lande und im Bereich der Schule zu wahren haben, da die Benutzung von Schulbüchern zudem noch von den Lehrern zu verantworten ist.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß es Gutachten gibt, die den Schluß nahelegen, diese Schulbuchempfehlungen nicht zu befürworten, und daß auf Grund dieser Gutachten einige Bundesländer gar nicht in der Lage sind, diese Schulbuchempfehlungen in Schulbuchtexte umzusetzen?

Not found (Gast)

Die Bundesregierung hat, wenn es so ist, zur Kenntnis zu nehmen, daß es Kultusverwaltungen gibt, die anderer Meinung sind. Ich jedenfalls bin der Ansicht, daß es in einem freien Land nützlich ist, sehr verschiedenartige Positionen auch Schülern gegenüber zur Kenntnis zu bringen. Ich bin überzeugt, daß sie durch die schulische Erziehung die erforderliche Kritikfähigkeit besitzen, z. B. auch Gutachten gegenüber.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, darf ich aus dieser Antwort an den Kollegen Hupka schließen, daß sich die Bundesregierung solchen Entscheidungen einer Landesregierung gegenüber toleranter zeigen wird, als das heute früh der Herr Bundeskanzler in der Frage des gesamtdeutschen Kalenders gegenüber der rheinland-pfälzischen Regierung war?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß das irgend etwas miteinander zu tun hat. Sie verwechseln hier zwei grundlegende Dinge. Es handelt sich einmal um die Frage der Publikation im Bereich eines Ministeriums, die von unabhängigen Journalisten - unter Nennung des Namens - verantwortet wird. Auch hier, meine ich, wäre ein hohes Maß von Toleranz im Sinne des Art. 5 des Grundgesetzes für alle Seiten des Hauses nützlich. Insofern kann ich die Kritik, die Sie in dieser Frage üben, nicht teilen. Zum zweiten geht es bei Schulbüchern um einen Bereich, von dem anerkanntermaßen nirgends behauptet wird, daß die Bundesregierung irgendeine Aufgabe, eine Verantwortung oder eine Kompetenz habe, sich hierzu inhaltlich zu äußern. Das ist vielmehr Sache der Länder. Wenn Länderkultusverwaltungen der Meinung sein sollten, daß eben das, was in den Empfehlungen steht, nicht gelehrt werden solle, so gebietet es die Fairneß - davon bin ich überzeugt -, daß diese Länderkultusverwaltungen ihre Meinung hinreichend begründen. Dann wird man sich mit dieser Begründung auseinanderzusetzen haben, auch, wie ich meine, in Parlamenten; das wird wohl ihre Aufgabe sein.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, beeinflußt Ihre grundsätzliche Befürwortung nicht der Umstand, daß die Empfehlungen die völkerrechtliche Teilung Deutschlands propagieren und als vollzogen unterstellen - entgegen der hier oft geäußerten Auffassung der Bundesregierung und vor allem entgegen den für alle Staatsorgane, also auch für die Unterrichtsverwaltung, verbindlichen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich möchte wiederholen, was ich hier schon mindestens fünfmal in Beantwortung von Fragen gesagt habe, nämlich daß die Bundesregierung zum Inhalt keine Stellung zu nehmen hat ({0}) und daß sie daran auch weder Kritik noch etwas anderes üben wird. Ich stelle fest, daß in Ihrer Frage Behauptungen enthalten sind, die ich jedenfalls aus den Empfehlungen nicht herauslesen kann. Sie sehen daran schon, wie unterschiedlich die Wertungen sein können.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.

Otto Fircks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, würden Sie bestätigen, daß auch Ihnen bekannt ist, daß das Ergebnis der Schulbuchkonferenz von namhaften Wissenschaftlern nicht nur als wissenschaftlich, sondern auch als stark politisch motiviert bezeichnet wird?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, wenn das so ist - mir ist das nicht bekannt -, dann überrascht mich das keineswegs. Ich habe noch nie erlebt, daß Wissenschaftler, die an einer Gutachterkommission nicht beteiligt waren, bereit waren, die Arbeit ihrer Kollegen in vollem Umfang zu unterstützen. ({0}) Das gehört zum Wesen der Wissenschaft. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Dr. Hupka auf: Kann die Bundesregierung dem Urteil der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz zustimmen, daß „insbesondere Inkonsequenzen bei der Durchführung der Entnazifizierung und der gerichtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen und zu anderen Ländern in vieler Hinsicht belastet haben", und wenn nein, was gedenkt sie zu unternehmen, um ihrer abweichenden Ansicht Geltung zu verschaffen?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich habe in diesem Hause schon mehrfach ausgeführt, daß die Empfehlungen der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen Ergebnisse von Gesprächen von Wissenschaftlern beider Länder darstellen und die darin zum Ausdruck gebrachten Vorschläge und Feststellungen keinen amtlichen Charakter haben. Weder die Bundesregierung noch andere staatliche Stellen der Bundesrepublik Deutschland haben auf den Inhalt der Empfehlungen in irgendeiner Form Einfluß genommen. Die Bundesregierung nimmt daher auch keine Stellung zum Inhalt der Empfehlungen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, auf der einen Seite befürwortet die Bundesregierung die Berücksichtigung dieser Schulbuchempfehlungen hinsichtlich der Schulbuchtexte, zum anderen wollen Sie aber zum Inhalt nicht Stellung nehmen. Bevor Sie etwas empfehlen, müssen Sie doch aber erst einmal den Inhalt kennen und beurteilen. ({0})

Not found (Gast)

Ich glaube, wir drehen uns mit dieser Fragestellung in der Tat im Kreise. Sie erwarten ganz offensichtlich, daß die Bundesregierung eine Zensur ausübt. Wir respektieren die unabhängige Wissenschaft, und das entspricht unserer Verfassung, nämlich dem Art. 5. Im übrigen, Herr Abgeordneter, wäre es sehr aufschlußreich, das Zitat, das Sie in Ihrer Frage mit erwähnt haben, hier in seinem ganzen Gehalt vorzutragen. Dann ist möglicherweise auch die Beurteilung eine andere. Ich mache mir die Ihre nicht zu eigen; ich möchte dem Hohen Hause nur Gelegenheit geben, den Zusammenhang kennenzulernen. Sie haben aus einem Absatz zitiert, der mit der Überschrift versehen ist: „4. Bewältigung der Vergangenheit". Ich möchte jetzt - mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten - den gesamten Absatz zitieren und es dann dem Urteil mündiger Bürger überlassen, ob die in der Frage angezogene Kritik angesichts des Gesamtzitates noch aufrechtzuerhalten ist. Hier heißt es nämlich wörtlich: Überaus nachhaltig ist das deutsch-polnische Verhältnis durch die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft belastet worden. Polen hat - mehr noch als andere besetzte Länder - durch die Gewaltpolitik des Hitler-Regimes schwere Verluste erlitten ({0}). Auch das deutsche Volk hat den Terror der nationalsozialistischen Herrschaft und die Schrecken des Krieges erlebt. Weiter heißt es: Erst nach Kriegsende jedoch wurde dem deutschen Volk das volle Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen in Europa deutlich. Nachdem die Hauptverantwortlichen durch die alliierten Militärgerichte abgeurteilt worden waren, wie es in den Potsdamer Beschlüssen vorgesehen war, übertrugen die Alliierten den deutschen Behörden die Entnazifizierung der Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen. Diese Maßnahmen wurden Anfang der 50er Jahre abgeschlossen. Erst danach setzte die grundsätzliche geistige und moralische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in größerem Umfang ein. Die Art und Weise, wie die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit häufig geführt wurde, insbesondere Inkonsequenzen bei der Durchführung der Entnazifizierung und der gerichtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen, haben die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen und zu anderen Ländern in vieler Hinsicht belastet. In Ihrer Frage, Herr Abgeordneter, beginnt das Zitat erst mit dem Halbsatz, den ich am Schluß vorgelesen habe, nämlich mit den Worten: ''... insbesondere Konsequenzen". Nachdem ich den ganzen Absatz vorgelesen habe, frage ich mich nachträglich, was eigentlich an dieser Darstellung, wenn die Bundesregierung Stellung zu nehmen hätte, von ihr kritisch gewürdigt werden sollte. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, nächstens werden wir seitenlang zitieren, wenn wir Fragen stellen. Nun die Frage: Ist es nicht etwas seltsam, daß in diesen deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen Urteile der polnischen Seite über Vorgänge in der Bundesrepublik Deutschland zu Papier gebracht worden sind, aber umgekehrt keinerlei Kritik deutscherseits an Vorgängen in Polen geübt wird, etwa dergestalt, daß bis heute noch kein Urteil über diejenigen gefällt ist, die während der Vertreibung Verbrechen an Deutschen begangen haben?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, wenn ich den Text der Empfehlungen und den ganzen Hergang richtig verstehe, ist es doch weitgehend so, daß in den Empfehlungen unterschiedliche Standpunkte nebeneinanderstehen. Ich gehe jetzt einmal davon düs, daß Sie mit mir der Meinung sind, daß ein Geschichtslehrer in der Bundesrepublik Deutschland, der, wenn er an höheren Schulen unterrichtet, eine wissenschaftliche Ausbildung zu absolvieren hatte, in der Lage ist, diese Empfehlungen zur Grundlage eines Unterrichts zu machen, der objektiv ist und der Fähigkeit zur kritischen Beurteilung der Vergangenheit dient. Allerdings werden Sie nicht erwarten können, daß wir durch Mehrheitsbeschluß feststellen, was objektive Wahrheit in der Geschichte ist. Das wird niemandem gelingen und ist bisher auch niemandem gelungen. ({0}) - Frage: Für wen? ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Czaja zu einer Zusatzfrage.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß diese falsche Behauptung in dem Schlußzitat, das allein der Frage zugrunde liegt, betreffend die unzureichende gerichtliche Verfolgung von NS-Verbrechen vom Ostblock - von der DDR und Polen - ständig als Begründung dafür benutzt wird, die Bundesrepublik des Bruchs der UN-Charta und des Verstoßes gegen die Bedingungen zur Beendigung des Kriegszustandes in Deutschland zu beschuldigen, während gleichzeitig in Polen bisher kein einziger polnischer Verbrecher gegen die Menschlichkeit wegen Untaten an Deutschen verurteilt worden ist?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, Sie werden mich auch durch solche Zusatzfragen nicht veranlassen, zu einer Beurteilung dessen, was in den Empfehlungen steht, überzugehen. Ich habe mir lange überlegt, was mit dieser Frage gemeint sein könnte, und ich bin auf den Gedanken gekommen, es könnte damit gemeint sein, was auch in diesem Hause besprochen wurde, nämlich daß es doch eine merkwürdige Erfahrung für viele unserer Landsleute war, jetzt bei den Verfahren wegen Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen worden sind, auf der Anklagebank den Untergebenen des Mannes zu sehen, der in diesem Prozeß als Zeuge aufgerufen wurde, aber nach unserem Recht nicht mehr angeklagt werden konnte, weil er bereits von alliierten Gerichten abgeurteilt war. Dies ist doch der Fall, der natürlich dreißig Jahre nach diesem Geschehen bei vielen, die nicht die Feinheiten der Gesetzgebung der Alliierten kennen, die Frage aufwirft, ob es eigentlich der Gerechtigkeit dienen könne, wenn so verfahren werden müsse, wie es in den Gesetzen steht. Es ist die Spannung zwischen Recht, Gerechtigkeit und Gesetzen, die hier zum Ausdruck kommt. So habe ich es jedenfalls verstanden. Man lernt aus Ihrer Frage, daß man es offensichtlich auch ganz anders verstehen kann.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, nachdem Sie sich hier ganz offensichtlich nicht von dem falschen Inhalt der Behauptung in dem Vorschlag der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz distanzieren wollen, frage ich Sie, ob die Bundesregierung die Gefahren übersieht, die in einem solchen unwidersprochen stehengelassenen Satz liegen, weil die Öffentlichkeit in der Welt diese Dinge mithört und mitsieht und aus Ihrer Reaktion für die Bundesrepublik Deutschland sehr nachteilige Schlüsse ziehen wird.

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter, ich bedaure sagen zu müssen, daß Sie ganz offensichtlich den Hinweis auf Art. 5 und auf die Verantwortung der Wissenschaft nicht zur Kenntnis genommen haben. ({0}) Hier geht es um Empfehlungen, die von wissenschaftlichen Kommissionen ausgesprochen werden und die auf der Freiheit nach Art. 5 beruhen. Sie haben in Ihrer Frage - meiner Ansicht nach nicht unbedingt im Einklang mit den Richtlinien für die Fragestunde - Wertungen vorgenommen, was falsch und was richtig ist. Ich kann mir das, was hier behauptet worden ist, unter gar keinen Umständen zu eigen machen. Ich jedenfalls habe das gesamte Zitat, das ich vorgelesen habe, als eine Möglichkeit der Darstellung der Probleme empfunden. Daß die Darstellung nach Ihrer Auffassung ergänzt werden oder anders sein müßte, ist Ihre persönliche Ansicht. Ich meine, es ist höchste Zeit, daß wir uns ganz offen über die Frage auseinandersetzen - und zwar politisch, nicht in Form von Rede und Antwort in der Fragestunde -, ob es eigentlich irgend jemandem in diesem Lande dient, wenn der Versuch gemacht werden sollte, Geschichtsunterricht sozusagen mit Mehrheitsmeinungen zu verwechseln. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, ich glaube, Sie hatten sich nicht zu einer Zusatzfrage gemeldet. Ich würde Ihnen aber gern das Wort geben. ({0}) Danke schön, Herr Abgeordneter Wehner! Ich weise darauf hin, daß die Fragen 101 des Abgeordneten Jäger ({1}), 102 des Abgeordneten Niegel sowie 103 und 104 des Abgeordneten Dr. Czaja nicht zugelassen wurden. Ich darf Ihnen, Herr Staatsminister, danken. Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Die Fragen 41 und 42 des Abgeordneten Ey und 45 des Abgeordneten Graf Stauffenberg wurden nicht zugelassen. Die Fragen 43 und 44 werden auf Wunsch des Fragestellers, des Abgeordneten Holtz, schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Tietjen auf: Welche Finanzmittel sind für welche Maßnahmen von 1970 bis heute vom Bund aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und aus den Konjunkturprogrammen der Bundesregierung nach Ostfriesland vergeben worden?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Der Raum Ostfriesland, Herr Kollege, ist seit Inkrafttreten der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in den Genuß umfangreicher öffentlicher Hilfen, insbesondere des Bundes gekommen. So wurden im Zeitraum vom 1. Januar 1972 bis 30. September 1975 - Daten für frühere Zeiträume stehen uns nicht zur Verfügung - für private Investitionen in Höhe von rund 1,3 Milliarden DM, mit denen nach den Angaben der Unternehmen rund 9 100 neue Arbeitsplätze bereits entstanden sind oder noch entstehen werden und rund 100 gefährdete Arbeitsplätze bereits gesichert sind oder noch gesichert werden, Zuschüsse aus Gemeinschaftsaufgabenmitteln in Höhe von 11 Millionen DM, davon 50 % durch den Bund, bereitgestellt. Hinzu kommen steuerfreie Investitionszulagen von zirka 95 Millionen DM; davon werden rund 47 % vom Bund getragen. Daneben wurden im selben Zeitraum für kommunale Investitionen in Höhe von 96 Millionen DM Gemeinschaftsaufgabenzuschüsse im Umfang von 41 Millionen DM bereitgestellt; auch hier war der Bund wieder mit 50 % beteiligt. Ferner wurden im Zeitraum von 1972 bis Mitte 1975 zinsgünstige Darlehen aus dem ERP-Regionalprogramm für kleine und mittlere Unternehmen in Höhe von 23 Millionen DM und aus dem ERP-Gemeindeprogramm der Jahre 1972 bis 1975 für kommunale Investitionen bisher rund 8 Millionen DM zugesagt. Im Rahmen des Sonderprogramms vom Februar 1974 erhielt der Raum Ostfriesland für kommunale und Bundesinvestitionen rund 29 Millionen DM. Aus dem Sonderprogramm vom September 1974 wurden weitere 15 Millionen DM bereitgestellt. Aus dem Programmteil „Arbeitsmarktmaßnahmen" des Konjunkturprogramms vom Dezember 1974 wurden für den Raum Ostfriesland - hier für die Arbeitsamtbezirke Emden und Leer - rund 30 Millionen DM bereitgestellt. Entsprechende Angaben für die Programmteile „Bundesinvestitionen" und „Befristete Investitionszulagen" liegen noch nicht vor. Schließlich kommen im Rahmen des Bau- und Investitionsprogramms vom August 1975 allein für kommunale Investitionen rund 37 Millionen DM Zuschüsse des Bundes sowie rund 9 Millionen DM zinsgünstige Darlehen des ERP-Sondervermögens sowie der Kreditanstalt für Wiederaufbau hinzu. Aus dem Programmteil „Stadtsanierung" wurden für den Raum Ostfriesland weitere rund 7 Millionen DM Zuschüsse des Bundes und rund 2 Millionen DM Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitgestellt. Hinzu kommen aus den Programmteilen „Bundesinvestitionen", „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen", „Wohnungsmodernisierung" und „Zwischenfinanzierung von Bausparverträgen" weitere Hilfen. Im einzelnen liegen hierüber zur Zeit keine Angaben vor.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage.

Günther Tietjen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, könnte die Ablehnung des von der oppositionellen CDU-Minderheitsfraktion im Niedersächsischen Landtag eingebrachten Ostfriesland-Planes darin begründet sein - dieser Plan ist u. a. mit den Stimmen ostfriesischer CDU-Abgeordneter abgelehnt worden -, daß auch von den Antragstellern erkannt worden ist, daß seitens der Bundesregierung - zusammen mit der Landesregierung - sehr viel für Ostfriesland getan worden ist und daß ein Schauplan nicht die Erwartungen erfüllen kann, die man hinsichtlich der Strukturverbesserung hat? ({0})

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Herr Kollege, ich kann zur Motivation der Abgeordneten, die diesen Plan abgelehnt haben, nichts aussagen. Aber die Zahlen, die ich vorgetragen habe, zeigen ja die gemeinsamen Bemühungen von Bund und Land, hier Förderungsmaßnahmen wirksam werden zu lassen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage. Ich bitte Sie aber, sich auf die Bundespolitik und nicht auf die Landespolitik zu beziehen.

Günther Tietjen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, Herr Präsident! Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, den Nachweis dieser hervorragenden Leistungen dem Wahl-Ostfriesen-Kollegen Nordlohne für seine Wahlkampfauseinandersetzungen mit dem Kollegen Dr. Ehrenberg zur Verfügung zu stellen? ({0})

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Herr Kollege Nordlohne ist über diese Zahlen informiert. Wir stehen in einem ständigen Schriftwechsel. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich komme dann zur Frage 47 des Abgeordneten Tietjen: In welchem Umfang und in welchen Wirtschaftsbereichen haben sich die Exporte wirtschaftlicher Güter in welche osteuropäische Länder seit 1970 entwickelt, und sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, diesen wirtschaftlichen Austausch zu steigern?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Die deutschen Ausfuhren in die osteuropäischen Länder UdSSR, Polen, Rumänien, CSSR, Ungarn und Bulgarien haben sich seit 1970 sehr dynamisch entwickelt. Insgesamt hat sich der Export von 8,8 Milliarden DM im Jahre 1970 auf voraussichtlich 16,3 Milliarden DM im Jahre 1975 fast verdoppelt. Besonders stark stieg der Export in die Sowjetunion; die Steigerung von 1,5 Milliarden DM auf 7,3 Milliarden DM entspricht fast einer Verfünffachung. Bei der strukturellen Aufgliederung unserer Ausfuhren läßt sich eine Konzentration auf Waren der gewerblichen Wirtschaft beobachten. Während 1970 noch rund 8 % unseres Exports aus landwirtschaftlichen Gütern bestand, ist dieser Anteil 1974 auf rund 3 % zurückgegangen. Besonders stark vertreten sind die Bereiche Chemieprodukte mit 14,6 %, Eisen und Stahl mit 26,3 % und Maschinen mit 27,8 %. Hier haben auch die Ostausfuhren größere Bedeutung im Rahmen unseres Gesamtexports erlangt, so bei Eisen und Stahl mit 18,5 % und Werkzeugmaschinen mit 18,3 %. Sollten Sie an weiteren Einzelheiten interessiert sein, so bin ich gerne bereit, meine Mitarbeiter zu beauftragen, Ihnen ausführliches Material zu übermitteln. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so ist die Bundesregierung der Ansicht, daß der Spielraum für eine Ausweitung des Wirtschaftsverkehrs mit den hier angesprochenen Ländern noch längst nicht ausgeschöpft ist. Der Anteil der deutschen Ausfuhren nach Osteuropa an unseren gesamten Ausfuhren lag Ende November 1975 erst bei 7,2 %. Eine Ausweitung des Wirtschaftsaustausches wird allerdings entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, die Lieferungen dieser Länder in die Bundesrepublik zu steigern. Hohe deutsche Überschüsse sind inzwischen bei mehreren Ostländern zu einem ernsten Problem für den weiteren Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen geworden. Abhilfe kann hier vor allem von einem weiteren Ausbau der industriellen Kooperation, die der Schaffung einer für den deutschen Markt interessanten Exportstruktur dient, erwartet werden. Außerdem ist die Kooperation im Rohstoff- und Energiebereich, in dem besonders die UdSSR und Polen über große Reserven verfügen, noch ausbaufähig.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tietjen.

Günther Tietjen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von Ostfriesland nach Osteuropa: Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung - die Zahlen, die Sie genannt haben, sind ja irgendwie auch arbeitsmarktstabilisierend für die Bundesrepublik Deutschland , daß diese Steigerung der Exporte in osteuropäische Länder auch auf die Politik der Verständigung und des Ausgleichs mit den osteuropäischen Ländern zurückzuführen ist?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Ich teile die Auffassung, daß ohne eine politische Flankierung diese Ausweitung in einem solchen Umfang wohl kaum möglich gewesen wäre.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Keine Zusatzfrage mehr, Abgeordneter Tietjen? - Dann komme ich zu der Zusatzfrage des Abgeordneten Ey.

Richard Ey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, hat sich die Bezahlung der exportierten Güter in ähnlichem Maße vervielfacht, wie die Exporte in die betreffenden Länder zugenommen haben?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Das ist der Fall, Herr Kollege.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sind die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit diesen Exporten, die Sie soeben angeführt haben, darauf zurückzuführen, daß auf ein Exportvolumen von 7 %, das Sie gerade genannt haben, ein Bürgschaftsvolumen der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von 27 % des gesamten Bürgschaftsvolumens entfällt, daß also diese Exportförderung weitgehend auf deutschen Pump erfolgt?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Herr Kollege, das ist nicht richtig, denn eine Bürgschaftsgewährung bedeutet nicht eine Kreditierung, sondern lediglich die Absicherung eines möglicherweise eintretenden Risikos, das allerdings nach den bisherigen Erfahrungen mit den Ostländern nicht eingetreten ist.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stahl.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, haben Sie Zahlen darüber bzw. gibt es Erkenntnisse darüber, daß aus der Erweiterung der Exporte in Ostblockstaaten auch die einschlägige Industrie in Ostfriesland insofern Vorteile gezogen hat, als sie dadurch Aufträge bekommen hat und Arbeitsplätze gesichert wurden?

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Generell sind die Ausweitung unseres Exports und die Vertiefung unserer Wirtschaftsbeziehungen für die Arbeitsplätze in unserem Lande gerade in der jetzigen konjunkturellen Situation von besonderer Bedeutung. Ich vermag speziell im Blick auf Ostfriesland hier keine Aussage zu machen, weil ich die Exportstruktur der dortigen Wirtschaft nicht konkret genug kenne.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Keine Zusatzfrage. Die Frage 48 des Abgeordneten Höcherl wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Das gleiche gilt für die Frage 49 des Abgeordneten Nordlohne. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zuerst die Frage 50 des Abgeordneten Dr. Wagner ({0}). - Er ist nicht im Hause. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Burger auf: Hält es die Bundesregierung für zweckmäßig, daß grundsätzlich nur ein Werkstattyp für Behinderte gelten soll, und ist in diesem Zusammenhang des Zusammenbringen von geistig Behinderten und geistig nicht Behinderten von Kinder- und Jugendpsychologen untersucht worden? Herr Staatssekretär Buschfort steht zur Verfügung.

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Burger, die Werkstatt für Behinderte ist durch das Schwerbehindertengesetz neu definiert, ihre Konzeption in den wesentlichen Grundzügen gesetzlich festgelegt worden. Einer der tragenden Grundsätze dieser Konzeption ist die Forderung, daß die Werkstatt allen Behinderten offenstehen soll, die auf einen Platz in einer solchen Einrichtung der beruflichen Rehabilitation angewiesen sind - unabhängig von der Art ihrer Behinderung. Die Forderung „Alle Behinderte unter einem Dach" ist Teil des Grundsatzes der einheitlichen Werkstatt, der ein Nebeneinander zweier verschiedener Werkstatt-Typen für Behinderte mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit oder verschiedener Art der Behinderung ausschließt. Der Gesetzgeber hat diesen Grundsatz - wie ich meine, aus wohlerwogenen Gründen - auf Vorschlag der Bundesregierung in § 52 Abs. 3 des Schwerbehindertengesetzes verankert. Denn eine Doppelspurigkeit im Werkstattbereich hätte sich für die Behinderten zwangsläufig nachteilig ausgewirkt. Die langjährigen Erfahrungen mit dem Grundsatz „Alle Behinderte unter einem Dach" haben auch keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß der nichtgeistig Behinderte in der Entwicklung seiner Persönlichkeit und seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird, wenn er mit geistig Behinderten zusammenarbeitet. Die Bundesregierung würde sich neuen Erkenntnissen, die in der Praxis erprobt worden sind, nicht verschließen. Derzeit besteht aber kein Anlaß, den Grundsatz der einheitlichen Werkstatt in Frage zu stellen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Burger.

Albert Burger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000310, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, gibt es bereits Werkstätten, in denen geistig und körperlich Behinderte gemeinsam arbeiten, und gibt es auch schon Erfahrungen mit dieser Form von Einheitswerkstätten?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Ja. Die Mehrzahl der Werkstätten ist, glaube ich, so konzipiert, und die Erfahrungen sind - soweit sie uns bekanntgeworden sind - gut. Nachteilige Mitteilungen sind uns nicht zu Ohren gekommen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Burger.

Albert Burger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000310, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gibt es Äußerungen kritischer Art von Elternverbänden? Ist Ihnen sonst irgendeine Stellungnahme der Elternverbände bekannt?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Nein, mir sind solche Stellungnahmen persönlich nicht bekannt. Ich will nicht ausschließen, daß das in den Fachabteilungen schon ein wenig anders aussehen kann. Ich möchte aber anmerken, daß die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. diesen Grundsatz bejaht hat. Wir wissen freilich, daß die Blindenverbände hier eine andere Auffassung haben. Im Bereich der Blinden sind aber auch Ausnahmen möglich.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Die Frage 52 wird auf Wunsch der Fragestellerin, der Abgeordneten Frau Grützmann, schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen zu der Frage 53 des Abgeordneten Dr. Franz. - Er ist nicht im Saal. Dann werden die Fragen 53 und 54 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Rollmann auf: Ist es richtig, daß für Abiturienten, für die bisher eine Waisenrente und Krankenversicherung von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz bezahlt wurden, der Anspruch auf diese Leistungen auch dann entfällt, wenn diese Abiturienten wegen des „Numerus clausus" weder einen Studienplatz noch wegen der Arbeitslosigkeit bis zum Antritt des Wehrdienstes oder der Erlangung eines Studienplatzes einen Arbeitsplatz bekommen können, und wird die Bundesregierung im Interesse der Betroffenen gegebenenfalls Abhilfe schaffen?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Rollmann, das Kindergeld und die Waisenrenten der Sozialversicherung werden allgemein bis zum 18. Lebensjahr der Kinder gezahlt, über dieses Lebensalter hinaus unter anderem dann, wenn die Kinder in Schul- oder Berufsausbildung stehen. Die Zeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, etwa zwischen Abitur und Studium, zählt mit zur Ausbildung, so daß die genannten Leistungen erhalten bleiben. Steht aber fest, daß das Kind keinen Studienplatz und auch keine andere Ausbildungsmöglichkeit erhält, die Ausbildung also nicht weitergeführt werden kann, so ist der Ausbildungstatbestand sowohl beim Kindergeld als auch bei der Waisenrente nicht mehr erfüllt. Nimmt das Kind eine Beschäftigung auf, so entstehen im allgemeinen keine besonderen wirtschaftlichen Probleme. Anders ist es im Falle der Arbeitslosigkeit des Kindes. Soweit es weiterhin von den Eltern unterhalten werden muß, können diese die Aufwendungen für den Unterhalt im Rahmen eines Steuerfreibetrages bis zu einem Höchstbetrag von 3 000 DM jährlich geltend machen. Die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob diese Erleichterungen ausreichen. Ich werde Sie über das Ergebnis unterrichten. Es trifft zu, daß mit der Waisenrente auch die Versicherung in der Krankenversicherung der Rentner entfällt. Dies bedeutet aber nicht, daß die Möglichkeiten des Krankenversicherungsschutzes für solche Kinder fehlen. Personen, die sich bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen um einen Studienplatz beworben haben, können sich in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichern. Das gilt auch bei ablehnendem Bescheid, sofern sich der Studienbewerber jeweils für das nächste Semester um einen Studienplatz neu bewirbt. Die Familienhilfe der gesetzlichen Krankenversicherung kann außerdem für das Kind in Frage kommen, wenn es gegenüber dem Versicherten unterhaltsberechtigt ist, nicht anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hat und die gesetzlich festgesetzte Altersgrenze nicht überschritten hat. Endet die Familienhilfe, so kann das Kind der gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb eines Monats beitreten. Selbstverständlich können sich auch junge Menschen bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichern.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Rollmann zu einer Zusatzfrage.

Dietrich Wilhelm Rollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001878, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, es ist sehr schwierig, die Antwort, die Sie mir sehr schnell gegeben haben, sofort zu überblicken. Dies veranlaßt mich zu der Frage, ob Sie nicht in der Frage der Krankenversicherung, hinsichtlich der Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, doch neben anderen Dingen noch eine zusätzliche wirtschaftliche Härte für eine solche Familie sehen, wo der Fall eintritt, den ich in meiner Frage geschildert habe.

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Rollmann, genau aus diesem Grunde habe ich gesagt, die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob diese Erleichterungen ausreichen, die es bisher gibt. Ich will damit andeuten, daß wir uns Gedanken machen und sowohl im Kindergeldbereich als auch im Krankenversicherungsbereich Überlegungen anstellen, wie wir im Rahmen der Möglichkeiten helfen können.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Zu einer zweiten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Rollmann.

Dietrich Wilhelm Rollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001878, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann kann ich also, Herr Staatssekretär, der Mutter, die mir diesen Fall, der meiner Frage zugrunde liegt, geschildert hat, schreiben, daß wir auf das Ergebnis der Bemühungen und Überlegungen der Bundesregierung zu warten haben.

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Rollmann, bevor Sie schreiben, würde ich Ihnen vielleicht doch anraten, wenn es sich um einen Krankenversicherungsfall handelt, noch einmal mit unseren Fachleuten in Verbindung zu treten. Wir haben nämlich festgestellt, daß es gerade im Bereich der Krankenversicherung schon heute vielfältige Möglichkeiten der Weiterversicherung gibt oder aber auch ein Anspruch auf Versicherung besteht, die nur von den Eltern nicht wahrgenommen werden. Vielleicht erledigt sich dann das Problem im Einzelfall von selbst. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Dann komme ich zur Frage 56 des Abgeordneten Dr. Hauser ({0}) : Trifft es zu, daß witterungsbedingte Arbeitsausfälle an den Baustellen der Staustufe Iffezheim, die links des Rheins - also auf französischem Boden - liegen, nicht anerkannt werden, obwohl laut Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Ausbau des Rheins zwischen Kehl/Straßburg und Neuburgweier/Lauterburg vom 4. Juli 1969 und dem Ratifikationsgesetz zu diesem Vertrag vom 10. Juli 1970 ({1}) die Bundesrepublik Deutschland für die gesamte Staustufe Iffezheim Bauherr ist und in der Folge gemäß Artikel 2 des Ratifikationsgesetzes „die als deutsches Hoheitsgebiet geltenden Baustellen und Bauwerke als Inland" gelten, und wenn ja, wird sie sich für die Anerkennung der Arbeitsausfälle einsetzen?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Hauser, es trifft zu, daß das Arbeitsamt Rastatt und das Landesarbeitsamt Baden-Württemberg die Zahlung von Schlechtwettergeld für angezeigte witterungsbedingte Arbeitsausfälle abgelehnt haben, die für Bauarbeiter inländischer Baubetriebe auf den linksrheinisch gelegenen Baustellen der Staustufe Iffezheim eingetreten sind. Die Entscheidung stützt sich darauf, daß die Schlechtwettergeldregelung nach Sinn und Zweck und organisatorischer Ausgestaltung ausschließlich auf die innerstaatlichen Verhältnisse abstellt. Auch die Rechtsprechung schließt deshalb eine Zahlung von Schlechtwettergeld für Arbeitsausfälle auf inländischen Baustellen aus. Nach dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik vom 4. Juli 1969 werden die Staustufen allerdings steuerrechtlich jeweils als Einheit, Iffezheim demzufolge als deutsches Hoheitsgebiet behandelt. Angesichts dessen habe ich den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit gebeten, die Entscheidung des Landesarbeitsamtes Baden-Württemberg zu überprüfen. Der Präsident der Bundesanstalt hat mir am 27. Januar 1976 fernschriftlich mitgeteilt, daß er das Arbeitsamt Rastatt anweisen wird, die ablehnenden Entscheidungen aufzuheben und Leistungen im Rahmen der Winterbauförderung auch für Arbeiten zu gewähren, die im Rahmen des deutsch-französischen Vertrages auf dem linksrheinisch gelegenen Teil der Staustufe Iffezheim auszuführen sind. Das schließt die Zahlung von Schlechtwettergeld für witterungsbedingte Arbeitsausfälle ein.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Wir kommen zur Frage 57 des Herrn Abgeordneten Geisenhofer: Wird die Bundesregierung veranlassen, daß auch kleinere, aber spezialisierte Werkstätten für Behinderte, die nicht über die vorgeschriebene Mindestzahl von Plätzen verfügen, anerkannt werden können, damit die in diesen Einrichtungen tätigen Behinderten in den Genuß des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter kommen?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege Geisenhofer, die Konzeption der Werkstätten ist in § 52 des Schwerbehindertengesetzes gesetzlich geregelt. Eine bestimmte Mindestzahl von Werkstattplätzen als Voraussetzung für die Anerkennung einer Werkstatt ist im Gesetz nicht vorgeschrieben. Der Gesetzgeber ging aber davon aus, daß die fachlichen Anforderungen, insbesondere das Vorhandensein einer Eingangs- und Trainingsstufe sowie die Ausstattung mit den erforderlichen begleitenden Diensten, nur bei einer bestimmten Größenordnung der Werkstatt verwirklicht werden kann. Darüber hinaus muß die Werkstatt, will sie auch leistungsschwächere Behinderte aufnehmen, ein möglichst differenziertes Angebot von Arbeiten, insbesondere eine Vielzahl einfacher Arbeitsvorgänge anbieten; auch aus diesem Grunde ist daher eine bestimmte Mindestgröße der Werkstatt unerläßlich. Der Verzicht auf eine solche Mindestgröße würde eindeutig zu Lasten der Behinderten gehen. Die Bundesanstalt für Arbeit, die sich seit 1970 mit der finanziellen Förderung von Werkstätten befaßt, hatte bereits in der Anordnung Rehabilitation vom 2. Juli 1970 eine Mindestgröße der Werkstätten von 120 Arbeitsplätzen gefordert. An diese Erfahrungen hat die Bundesregierung in den „Mindestvoraussetzungen für die vorläufige Anerkennung einer Werkstatt für Behinderte" vom 5. Dezember 1974 angeknüpft und ebenfalls eine Zahl von 120 Werkstattplätzen verlangt. Um hierbei Härten zu vermeiden, ist zugelassen, daß es ausreicht, wenn die Zahl von 120 Plätzen im Endausbau erreicht wird; außerdem können kleinere Teilwerkstätten zu einer einheitlichen Gesamtwerkstatt zusammengefaßt werden. Vermieden werden soll allerdings, daß sich mehrere Kleinwerkstätten, die nicht zu einer Kooperation bereit sind, am selben Ort untereinander Konkurrenz machen. Im Zuge des Verfahrens zur Vorläufigen Anerkennung der Werkstätten sind Schwierigkeiten, die sich aus der Mindestanforderung von 120 Plätzen ergeben könnten, nicht bekanntgeworden. Wie Sie, Herr Kollege Geisenhofer, wahrscheinlich wissen, sind von 279 Anträgen insgesamt 234 Anträge positiv beschieden worden; nur 23 Anträge wurden abgelehnt, 22 Anträge sind noch anhängig. Die Bundesregierung sieht daher vorerst keinen Anlaß, von der geforderten Mindestgröße von 120 Werkstattplätzen abzugehen. Dies um so mehr, weil gerade nach den jüngsten Erfahrungen mit einem steigenden Bedarf an Werkstattplätzen zu rechnen ist, so daß sich die geforderte Mindestgröße durchweg verwirklichen läßt.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Geisenhofer.

Franz Xaver Geisenhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000653, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, welchen Zeitraum bis zum Endausbau der Werkstatt würden Sie gelten lassen?

Hermann Buschfort (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000315

Herr Kollege, ich weiß nicht, ob wir dies bisher definitiv festgelegt haben. Ich würde Ihnen das gern schriftlich mitteilen, da ich nicht weiß, ob es dabei durch Anordnung oder Runderlaß schon irgendwelche Festlegungen gibt. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung sind zum Teil von den Fragestellern zurückgezogen worden - das betrifft die Fragen 61 und 62 des Abgeordneten Möhring sowie die Frage 64 des Abgeordneten Böhm ({0}) -, zum Teil bitten die Fragesteller um schriftliche Beantwortung; hier handelt es sich um die Fragen 58 des Abgeordneten de Terra sowie 59 und 60 des Abgeordneten Schröder ({1}) ; die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Ich komme damit zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Der Abgeordnete Biehle bittet um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 17; die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich komme zu Frage 65 des Abgeordneten Dr. Jens. - Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet und die Antwort als Anlage abgedruckt. Die Fragen 66 des Abgeordneten Schäfer ({2}) und 67 des Abgeordneten Pensky werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Auch hier werden die Antworten als Anlage abgedruckt. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen. Sie werden nicht benötigt. Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Frage 68 des Abgeordneten Hösl gilt als unzulässig. - Ich rufe damit Frage 69 des Abgeordneten Eigen auf: Trifft es zu, daß im Kalender Blick in die DDR" die Zwangskollektivierung der Bauern der DDR verherrlicht und als Äquivalent bezeichnet wird, die Bauern wären im Sozialismus zur herrschenden Klasse aufgewertet worden, und - wenn ja - wie konnte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen diese Auslegung zulassen?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Herr Kollege Eigen, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Es trifft zu, daß im Kalender 1976 „Blick in die DDR" die Zwangskollektivierung der Bauern der DDR verherrlicht - ({0}) - Entschuldigung: Es trifft nicht zu, daß die Zwangskollektivierung der Bauern im Kalender 1976 verherrlicht und daß es als Äquivalent bezeichnet wird, die Bauern wären im Sozialismus zur herrschenden Klasse aufgewertet worden. Zur Klarstellung darf ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus dem Kalender zitieren: Die rigorose Umwandlung von bäuerlichem Wirtschaften zur industrieähnlichen Produktion in der Landwirtschaft hat die SED von Anfang an betrieben. Die „demokratische Bodenreform", die alle Großgrundbesitzer nach Kriegsende entschädigungslos enteignete, schuf die Voraussetzung für eine Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Zusammenlegung von Bauernland zu größeren Einheiten verlief natürlich nicht ohne Schwierigkeiten und rigorose Eingriffe in althergebrachte Besitzverhältnisse. Dafür wurde der Bauernstand durch den Sozialismus zusammen mit der Arbeiterschaft zur „herrschenden Klasse" aufgewertet. Der Traktorist und die LPG-Bäuerin wurden zu heroisierten Lesebuchfiguren ... Herr Kollege, da ich weiß, daß Sie den Kalender in Ihrem Besitz haben, ist es Ihnen sicherlich ein leichtes, nachzulesen, daß in dem von mir eben zitierten Abschnitt Begriffe aus dem DDR-Sprachgebrauch wie „demokratische Bodenreform" oder „herrschende Klasse" in Anführungszeichen gesetzt sind, so daß man sicherlich erkennen kann, daß der Verfasser des Beitrags nicht glorifizieren wollte, sondern lediglich referiert hat.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, offensichtlich haben Sie selbst das Gefühl gehabt, daß die erste Beantwortung, die Sie hier gegeben haben, doch wohl die korrektere ist. Man müßte den ganzen Artikel über die Landwirtschaft in der DDR lesen, um doch festzustellen, daß es zu einer Verherrlichung der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR kommt. Sind Sie nicht mit mir einer Meinung, daß es angesichts der Tatsache, daß die Bauern der DDR, meine Berufskollegen, leider wiederum nicht zur Grünen Woche nach Berlin kommen konnten, außerordentlich bedauerlich ist und es geradezu wie Zynismus erscheint, wenn in diesem Machwerk solche Ausführungen stehen?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Ich möchte das Wort „Machwerk" entschieden zurückweisen; der Kalender ist ein Beitrag zur Unterrichtsgestaltung. Wer ihn annehmen will, kann das tun. Denjenigen, der ihn ablehnt - wie das Land Rheinland-Pfalz -, muß man als Demokrat respektieren. Ich möchte hier nur sagen, daß wir keineswegs das Regime oder einen Berufsstand in der DDR glorifiziert haben, wie Sie das gerade andeuteten. Wenn Sie außerdem nach dem Besuch der Grünen Woche fragen, weise ich darauf hin, daß auch die Bundesregierung seit je bedauert, daß Landwirten in der DDR der Besuch nicht ermöglicht wird.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Dr. Eigen, haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Nein. Dann komme ich zu einer Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Berger.

Lieselotte Berger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, zu Ihrem erneuten Stichwort „Rheinland-Pfalz", das fast zu einem Trauma wird, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, daß der FDP-Schulsenator von Berlin, Herr Rasch, im Landespressedienst des Senats von Berlin den Kalender - in einer, wie ich meine, wenig schmeichelhaften Weise - dahin kommentiert hat, daß er für den Unterricht überhaupt nur verwertbar sein könnte, wenn man ihm handfeste Informationen über die DDR beigäbe?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Die Bundesregierung und ich selbst haben hier in diesem Hause mehrfach erklärt, daß dieser Kalender allein nicht Unterrichtsmaterial sein kann und sein darf. ({0}) So werte ich auch den Brief des Herrn Senators Rasch aus Berlin.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sicherlich ist es bedauerlich, daß die Landwirte der DDR nicht zur Grünen Woche kommen. Aber besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Kalender, der hier angesprochen wurde, und dem Nicht-besuchen-Können der Grünen Woche, wie vom Kollegen Eigen hier wohl in etwa angedeutet wurde?

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, muß es der Leser, etwa der Sohn eines von drüben herübergekommenen Landwirts, nicht als den Ausdruck einer ausgesprochenen Verhöhnung empfinden, wenn er dort lesen muß, daß zwar seinem Vater das Land weggenommen wurde, daß aber der Bauer drüben dadurch zur herrschenden Klasse aufgewertet worden sei?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Herr Kollege Jäger, ich bedauere sehr, daß Sie das, was hier schon einige Male gesagt worden ist, ganz einfach nicht begreifen wollen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Staatssekretär, ich glaube nicht, daß man einem Mitglied dieses Hauses vorwerfen darf, daß er etwas nicht begreifen will. Man kann ihm vielleicht vorwerfen, daß er das nicht begreifen kann. Daß er das nicht begreifen will, darf, glaube ich, ein Mitglied oder ein Vertreter der Regierung keinem Mitglied des Hauses vorwerfen.

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Herr Präsident, ich hatte nicht gewagt, das zu sagen. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie begreifen, daß aus meiner Fraktion so viele Fragen zu dieser Sache an Sie und an Ihr Haus sicherlich nicht deshalb gestellt werden, weil wir die Sache parteipolitisch eng sehen, sondern weil wir den Eindruck haben, daß dieser Kalender seinerseits eine parteipolitische Einseitigkeit beinhaltet, die wir nicht dulden wollen und die auch die Bundesregierung nicht dulden sollte?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Herr Kollege Marx, es ist Ihr gutes Recht, daß Sie das nicht dulden wollen oder können. Und ich bin Ihrer Fraktion und Ihnen sehr dankbar, daß durch diese Diskussion, die Sie nun bereits in der dritten oder vierten Fragestunde führen, unser Kalender eine derartige Publizität - ({0}) - - bekommt er eine Publizität, die nicht unbedingt schlecht sein muß. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Meine Damen und Herren, die Fragen der Abgeordneten Kunz ({0}) und Dr. Abelein - außer der Frage 73 des Abgeordneten Abelein - sind nicht zugelassen. Ich rufe daher die Frage '73 auf - ({1}) - Er wünscht schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die übrigen Fragen sind alle nicht zugelassen außer den Fragen 83 und 84 des Herrn Abgeordneten von Fircks, die ich hiermit aufrufe: Kann die Bundesregierung eine in einem kirchlichen Pressedienst veröffentlichte Nachricht bestätigen, daß die Grenzkommandos der „DDR" Deutsche aus Polen oder den deutschen Ostgebieten unter polnischer Verwaltung, die außerhalb der nur sehr selten gewährten legalen Einwanderung von Polen nach Mitteldeutschland um Aufnahme in die „DDR" bitten, auf Grund einer Geheimklausel zum Grenzabkommen zwischen der „DDR" und Polen von 1972 wieder nach Polen zurückschicken? Wenn ja, steht nach Auffassung der Bundesregierung die Verweigerung der Aufnahme im Einklang mit der Vereinbarung von Helsinki, und ist die Bundesregierung gewillt, von der „DDR" die Einhaltung der in der Schlußakte von Helsinki vereinbarten Grundsätze zu fordern?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Herr Kollege von Fircks, ich darf Ihre beiden Fragen im Zusammenhang beantworten. Ich kann dazu nur sagen, daß ich Ihre Mitteilung nicht bestätigen kann, daß der Bundesregierung keine Erkenntnisse in dieser Richtung vorliegen.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zusatzfrage.

Otto Fircks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, muß ich Ihre Antwort dahin verstehen, daß Ihnen bisher keine entsprechenden Informationen vorlagen, und sind Sie bereit, auf Grund dieser Meldung im kirchlichen Nachrichtendienst der EKD die Angelegenheit einer näheren Prüfung zu unterziehen?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Das wäre doch ohne weiteres möglich gewesen, Herr Kollege von Fircks, wenn Sie uns diese Dinge schon früher zur Verfügung gestellt hätten. Ich bin aber gerne bereit, dies auch jetzt noch nachzuprüfen. Das haben wir j a schon in der Vergangenheit getan.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine zweite Zusatzfrage.

Otto Fircks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000547, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie etwa bestätigen, daß im Gegensatz zu der erwähnten Pressemeldung Flüchtlinge aus dem polnischen Machtbereich in die DDR dort ebenso aufgenommen werden wie hier und daß ihnen die vollen Schutzrechte als deutsche Staatsangehörige gewährt werden?

Karl Herold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000884

Ich habe meine Frage, die Sie mir gestellt haben, beantwortet. Die Zusatzfrage, die Sie jetzt stellen, betrifft meines Erachtens nicht Ihre erste Frage.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Keine Zusatzfragen mehr? - Frage 85 ist nicht zugelassen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Frage 89 bittet der Fragesteller um schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen dann zu den Fragen 90 und 91 des Abgeordneten Dr. Todenhöfer. ({0}) - Er ist nicht im Saale? Dann werden die Fragen 90 und 91 schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für Ihr Kommen. Meine Damen und Herren, damit ist die Fragestunde abgeschlossen. Wir fahren nunmehr fort mit dem heute vormittag behandelten Tagesordnungspunkt. Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen dem Hohen Hause einen nüchternen Bericht über die Lage der Nation erstattet, und ich denke, daß dieser Bericht Anspruch darauf erheben kann, eine sachliche und fundierte Stellungnahme der Opposition zu erhalten. ({0}) Nach den Ausführungen des Kollegen Professor Carstens wissen wir zwar einmal mehr, was die Opposition nicht will, aber wir wissen noch immer nicht, was sie will in den Fragen, die unser Land angehen. ({1}) Meine Damen und Herren, bevor ich mich mit dem Thema dieser Debatte befasse, vorweg auf einige Bemerkungen, die Herr Professor Carstens in diesem Zusammenhang - etwas aus der Wahlkampfdiskussion in das Haus herübergezogen -zur FDP machte, eine Entgegnung. Wer ihn heute morgen zu der Frage gehört hat, welche Koalition die Freien Demokraten abschließen oder nicht abschließen, der konnte das Resumee seiner Ausführungen mit folgenden Worten ziehen: Gute Liberale sind solche, die mit der CDU koalieren, schlechte koalieren mit den Sozialdemokraten. ({2}) Und wenn dann zufällig einmal eine Große Koalition besteht, wie 1966 bis 1969 zwischen CDU und Sozialdemokraten, dann scheint es das vordringliche Ziel der CDU in einer solchen Koalition zu sein, durch eine Manipulation des Wahlrechts die Partei aus dem parlamentarischen Leben auszuschalten, die man heute als Partner ruft und die man, wenn sie nicht kommt, als Blockpartei zu diffamieren versucht. ({3}) - Sehen Sie, Herr Professor Carstens, ich habe ja viel Verständnis für eine Auseinandersetzung über diese Frage, und natürlich haben Sie wie wir registriert - die Wahlergebnisse des Jahres 1975 weisen das aus -, daß immer mehr Bürger in unserem Lande die in der Sache eigenständige, aber als Partner in einer Regierung verläßliche Rolle der Freien Demokraten zu schätzen wissen. ({4}) Und nun denke ich, sollten Sie noch einmal überprüfen, wie Sie Ihrem politischen Gegner im demokratischen Lager gegenübertreten. Wir haben heute eine Aussprache über die Lage der Nation. ({5}) Sie wissen so gut wie ich, daß in diesen Stunden Millionen von Mitbürgern in der DDR am Rundfunk und am Fernsehen diese Debatte verfolgen. Für diese Mitbürger in der DDR, Kollege Carstens, ist der Begriff der Blockpartei das Wort, unter dem Ulbricht die demokratischen Parteien in der damaligen sowjetischen Besatzungszone unter das Joch der SED gezwängt hat. ({6}) Ich denke, Herr Kollege Carstens, bei aller Gegensätzlichkeit sollten Sie in der Lage sein, für eine von Ihnen nicht gern gesehene Zusammenarbeit zwischen zwei demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland einen anderen Begriff zu finden als den, den Ulbricht für ein solches Ziel einmal gefunden und formuliert hat. ({7}) Wenn Sie heute zur Klärung der politischen Auseinandersetzung hätten beitragen wollen, wäre dafür zum Beispiel Anlaß genug gewesen, der Aufforderung des Bundeskanzlers zu folgen und sich davon zu distanzieren, daß der Wirtschaftsrat der CDU den Mitbestimmungsentwurf der Koalition mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen hat. ({8}) Wenn Sie es schon nicht aus Ihrem Demokratieverständnis heraus tun, dann vielleicht demjenigen aus Ihrer Partei zuliebe, der davon gesprochen hat, dieser Entwurf sei Geist vom Geist der CDU. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um der Redlichkeit der Auseinandersetzung in einer so wichtigen Debatte willen lassen Sie mich einen dritten Punkt erwähnen, der ebenfalls der Klärung bedarf. Herr Kollege Carstens hat heute morgen auch den 17. Juni 1953 erwähnt. Ich denke, daß niemand in diesem Raume sein wird, der sich nicht schmerzlich an jenen Tag erinnert, an dem wir alle gemeinsam mit heißem Herzen, aber doch ohnmächtig haben zusehen müssen, wie Deutsche drüben in der DDR versuchten, unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur die Fahne der Freiheit zu errichten. Das ist ein gemeinsames geschichtliches Erlebnis, das die Nation eint, die, die daran teilgenommen haben, und die, die zusehen mußten. ({10}) Ich finde, das kann nichts hergeben für die innenpolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland. ({11}) - Ich komme darauf! Und nun sagen Sie: Aber sehen Sie denn nicht, daß die Volkserhebung in der DDR Ausdruck dieser freiheitlichen Kraft in der Geschichte war? Und Sie werfen uns vor, wir wollten die Erinnerung an diesen Tag zurückdrängen, weil die Frage diskutiert wird, ob der 17. Juni ein gesetzlicher Feiertag sein soll. Herr Kollege Carstens, es wird wohl kaum jemand in unserem Volke sein, der nicht doch an diesem gern als Feiertag in Anspruch genommenen 17. Juni seine Gedanken manchmal in die DDR hinübergehen läßt zu denen, die davon ganz unmittelbar betroffen waren und die diesen Tag nicht als Feiertag, sondern als Gedenktag begehen. Und auch der handelt verantwortungsvoll, der darüber nachdenkt, ob man nicht diesen Feiertag in einen würdigen Gedenktag umwandeln sollte, aber eben nicht sozusagen als sozialen Besitzstand betrachtet, als weiteren arbeitsfreien Tag. Das sollte man ihm zugestehen. Und Sie sollten sich daran erinnern - wenn Sie schon über dieses Thema sprechen und wenn Sie meinen, daraus einen Streitpunkt gegen die Freie Demokratische Partei oder die gegenwärtige Regierung machen zu müssen -, daß es eine Regierung war, die von der CDU/CSU getragen wurde, die einen CDU-Bundeskanzler hatte, die hier im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf einbrachte, in dessen Begründung es heißt: Es erscheint darum gerechtfertigt und angemessen, die Bestimmung des Tages der deutschen Einheit zum gesetzlichen Feiertag aufzuheben. Dies ist nachzulesen in der Drucksache V/2818 des Deutschen Bundestages vom 3. April 1968. Sie wissen, wer damals Bundeskanzler war; es war Herr Dr. Kiesinger. Ich habe damals als Abgeordneter der Opposition diesen Gesetzentwurf für einen verantwortlichen Versuch gehalten, dem 17. Juni eine würdige Ausgestaltung zu geben. Wenn Sie heute in der Opposition sind und wenn bei den Regierungsparteien wiederum über diese Frage nachgedacht wird, dann sollten Sie sich zu schade sein, diejenigen, die das tun, innenpolitisch herabzusetzen. Sie sollten sich daran erinnern, daß eine von Ihnen mitgetragene Regierung einmal denselben Versuch unternommen hat. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muß in dieser Debatte darum gehen, herauszufinden, wo und wie die außenpolitischen Rahmenbedingungen gestaltet werden müssen, unter denen die Bundesrepublik Deutschland unsere spezifischen nationalen Belange wahrnehmen kann, die spezifischen nationalen Belange eines Volkes, das gezwungen ist, in zwei Staaten zu leben, die spezifischen nationalen Belange einer geteilten Nation; denn - und hierin unterscheidet sich die Notwendigkeit und Zielsetzung unserer Außenpolitik von der anderer Länder - zusätzlich zur Politik der Friedenssicherung, die uns mit unseren Verbündeten eint, haben wir in besonderer Weise den Interessen der geteilten Nation zu dienen. Ich denke, es erfüllt uns alle mit Zuversicht, daß wir wissen, daß wir uns dabei auf unsere Verbündeten verlassen können. Es geht darum, daß wir in unserer Innen- und Außenpolitik, daß wir in der internationalen Diskussion, vor den Vereinten Nationen, bei den Zusammenkünften mit unseren Partnern immer wieder darauf hinweisen, daß unser Volk geteilt ist, daß es getrennt ist, daß es unser Ziel ist, in dieser Phase die Teilung erträglicher zu machen und die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Einheit zu schaffen. Wenn wir an einem solchen Tag über die Lage der Nation sprechen, wenn hier dargelegt wird, welche Reisemöglichkeiten in den letzten Jahren als Ergebnis unserer Politik geschaffen wurden, und wenn wir es auch als Erfolg buchen, daß die Zahl derjenigen, die von diesen Reisemöglichkeiten Gebrauch gemacht haben, immer größer wird, dann soll nicht verschwiegen werden, daß es viele gibt, die diese Reisemöglichkeiten nicht, noch nicht in Anspruch genommen haben. Wer drüben war, wer mit unseren Mitbürgern in der DDR gesprochen hat, wird wissen, wie sehr die Menschen dort auf uns warten, auf unsere Besuche, und wie sie dankbar sind für jedes kleinste Zeichen der Zusammengehörigkeit. Deshalb dürfen wir dieses Zeichen nicht verweigern; denn keine Außenpolitik kann durchsetzen, was die Menschen ernsthaft nicht mehr wollen. Der Wille zur nationalen Einheit - der Wille, getragen von den Bürgern hier und dort - gibt unserer Politik ihr moralisches Fundament und ihre Glaubwürdigkeit. Deshalb wollen wir auf einen Zustand des Friedens und der Sicherheit in Europa hinwirken, in dem wir unser nationales Ziel erreichen können. Deshalb, meine Damen und Herren, ist unsere Außenpolitik in einer so engagierten Weise Friedenspolitik, Friedenspolitik, durch die wir - in guter Nachbarschaft in Europa und vertrauensvoller Partnerschaft mit den Staaten der Dritten Welt - auch das Klima für unsere Belange verbessern wollen. Ich sage noch einmal: Für unsere europäischen Partner und unsere Verbündeten jenseits des Atlantik ist der Frieden eine Art außenpolitisches Endziel, ein Zustand, in dem sich die Völker frei von Furcht um die Wohlfahrt ihrer Länder kümmern können. Das gilt auch für uns. Aber zugleich ist Frieden für uns auch die Voraussetzung für das Zusammenleben der Nation. Deshalb, meine Damen und Herren, reden wir im Rahmen unserer Friedenspolitik von Europa, vom Bündnis. Wir sprechen auch davon, wenn wir in den Vereinten Nationen das Wort ergreifen. Was also muß, um diese Rahmenbedingungen für die Lösung der deutschen Frage zu schaffen, geschehen? Wo liegen unsere außenpolitischen Verpflichtungen? Zunächst einmal ist es notwendig, für diesen Teil unseres Volkes, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt, jenes Maß an Sicherheit zu schaffen, das uns in die Lage versetzt, eben diese Politik des Friedens in Sicherheit und ohne Risiko zu vertreten. Allein das Bündnis schafft uns und unseren Partnern die politische Bewegungsfreiheit, die notwendig ist, um auch eine aktive und nicht mit Risiko belastete Politik der Entspannung betreiben zu können. Meine Damen und Herren, nun ist in der letzten Zeit - und darüber muß auch im Bericht über die Lage der Nation bei uns als Bündnispartner gesprochen werden - über den Zustand des Bündnisses diskutiert worden. Ich habe an der Verteidigungsdebatte vor einigen Wochen nicht teilnehmen können. Herr Kollege Leber hat hier die Position der Bundesregierung vertreten. Ich habe diese Debatte nachgelesen. Ich habe - wenn ich das am Rande einmal bemerken darf; Sie sollten sich vielleicht selber das Protokoll noch einmal ansehen - Zwischenrufe zur Rede des Kollegen Leber gelesen, bei denen ich mich gefragt habe: Wie kann jemand so etwas eigentlich gegenüber einem solchen Mann verantworten? Ich sage Ihnen: Wir können stolz darauf sein, einen solchen Verteidigungsminister in der Bundesrepublik Deutschland zu haben. ({13}) Nun wissen wir, meine Damen und Herren, daß einige unserer Partner mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Wir alle wissen aus leidvoller eigener Geschichte, wie leicht wirtschaftliche Instabilität auch zu politischer Instabilität führen kann. Deshalb gehört zur Solidarität in einem Bündnis auch die wirtschaftliche Solidarität mit den Partnern. Das ist der Grund dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, aber auch gegenüber solchen Partnern, die dem Bündnis angehören, ohne Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu sein, auch zu wirtschaftlicher Hilfe dort, wo es notwendig ist, bereit ist. Wenn wir die Südflanke der NATO betrachten, so können wir feststellen, daß neben besorgniserregenden Entwicklungen auch Fortschritte, die nicht verschwiegen werden sollten, vorhanden sind. In Portugal konnte vor fast zwei Jahren die Diktatur abgelöst werden. Wenn wir auf den Beginn des Jahres 1975 zurückblicken, so können wir heute, zu Beginn des Jahres 1976, feststellen: Die Aussichten für die Sicherung und den Aufbau der Demokratie in Portugal sind erheblich besser geworden, nicht zuletzt durch das Engagement der Bundesrepublik Deutschland und der demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Meine Damen und Herren, Griechenland kann heute auf politische Stabilität verweisen. Griechenland hat erhebliche ökonomische Probleme. ({15}) - Ich möchte Ihnen dazu sagen, Herr Kollege, daß die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung, das erste Land war, das Griechenland nach Beendigung der Diktatur mit einer erheblichen wirtschaftlichen Hilfe zur Seite getreten ist. Das ist die Antwort auf Ihre Frage: Was haben Sie denn dazu beigetragen? ({16}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat bei seinem Besuch in Athen zur Jahreswende mit Recht festgestellt, daß sich die Bundesrepublik Deutschland darum bemühen wird, Griechenland die Tür zur Europäischen Gemeinschaft zu öffnen. Es wird niemand hier in diesem Saal sein, der nicht wüßte, daß die Aufnahme Griechenlands erhebliche Probleme - nicht nur für Griechenland in der Übergangszeit, sondern auch für die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland - bringen wird. Wir wollen diese Lasten tragen, weil wir der Meinung sind, ein demokratisches Griechenland, das Partner im NATO-Bündnis ist, ist uns als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft in einer zusätzlichen Weise verbunden und stellt damit eine zusätzliche Sicherung für das demokratische Europa dar. ({17}) Meine Damen und Herren, auch das ist ein Beitrag zur Verbesserung der Lage unserer Nation. In diesen Tagen hat die spanische Regierung deutlich gemacht, daß sie in ihrem Land den Weg zur Demokratisierung beschreiten will. Ich denke, daß wir auch diese Entwicklung in Spanien in jeder Beziehung unterstützen sollten, eine Entwicklung, die darauf gerichtet ist, dieses wichtige Land, das unveräußerlich zur Gemeinschaft der europäischen Völker gehört, in einer Weise zu bewegen, die es näher an die Ideale der Europäischen Gemeinschaft heranbringt, um ihm schließlich den Weg in diese Gemeinschaft zu öffnen. Meine Damen und Herren, das westliche Bündnis ist ein Bündnis von Demokratien. Je stabiler diese Demokratien sind, um so besser für das Bündnis selbst. Ich glaube, daß wir gerade in dieser Phase von einer Revitalisierung des Bündnisses sprechen können, von einer zunehmenden Erkenntnis bei den Verantwortlichen, daß die Sicherheit der Demokratien in Europa zusätzliche politische, wirtschaftliche und militärische Anstrengungen erfordert. Dazu gehört, daß die Politiker die Kraft haben, ihrer Öffentlichkeit die Lage so zu schildern, wie sie ist. Das hat der Verteidigungsminister getan. Das haben wir als Partner der NATO nach der NATORatstagung im Dezember 1975 getan. Herr Kollege Carstens hat heute dieses Kommuniqué der NATO erwähnt. Er hat es in einen Zusammenhang gestellt, als ob die Bundesregierung das eher etwas verniedliche. Die NATO sagt nun wirklich, wie es ist, meine Damen und Herren. Wir sind ein tragendes Mitglied der NATO, und die Aussagen in diesem Kommuniqué sind auch die Aussagen der Bundesregierung. Wir sind ja diejenigen, die in der NATO in besonderer Weise unsere Verpflichtungen erfüllen, was allseits anerkannt wird. ({18}) Ich meine, daß es aber nicht ausreicht, Herr Kollege Carstens, nur diesen Teil des Kommuniqués der NATO zu lesen. Vielmehr haben wir als Deutsche besondere Veranlassung, gerade in dieser Debatte in Erinnerung zu rufen, was unsere Partner mit uns gemeinsam noch festgestellt haben, und zwar im Zusammenhang mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki: ({19}) teilten die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, daß ihre Politik, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, mit der Schlußakte von Helsinki voll und ganz im Einklang steht. Meine Damen und Herren, zusammen mit der Feststellung, daß die Konferenzergebnisse überall, also auch in Berlin gelten müßten, wird hier ein hohes Maß an sachlicher Übereinstimmung, an Solidarität erkennbar. Das wollen wir unserem Volk in dieser Debatte auch sagen. Ich frage Sie: Wie viele solcher gemeinsamen Feststellungen des ganzen Bündnisses zu unserer nationalen Frage hat es in der Vergangenheit gegeben? ({20}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die NATO ist heute - und das zeigen gerade diese politischen Aussagen - nicht allein ein Verteidigungsbündnis, sondern eine Gemeinschaft von Staaten mit klaren übereinstimmenden konkreten politischen Zielen. Die Bundeswehr stellt in diesem Bündnis einen wichtigen Faktor in der konventionellen Kampfkraft dar. Wir sind der Meinung, daß unsere eigenen Verteidigungsanstrengungen, die Ernsthaftigkeit unseres eigenen Verteidigungswillens und unserer eigenen Verteidigungsbereitschaft die beste Garantie dafür sind, daß auch die anderen Partner ihre Verpflichtungen erfüllen, ({21}) wie auch für die Anwesenheit der Vereinigten Staaten in Europa. In Ottawa haben wir noch einmal festgestellt, daß die Staaten des Bündnisses in Europa nicht nur die Freiheit der europäischen Partner sichern, schützen und verteidigen, sondern auch die Freiheit und die Sicherheit der Partner in Amerika. Meine Damen und Herren, nun wird - es ist wichtig, das im Zusammenhang mit dem Bündnis zu erwähnen, denn für uns ist ja das Bündnis die Grundlage unserer Entspannungspolitik - immer wieder die Frage nach dem Ergebnis, nach dem Sinn, nach den Erfolgen der Entspannungspolitik gestellt. Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß der Prozeß der Entspannung ein langwieriger ist, daß er ein Prozeß mit Höhen und Tiefen ist, mit unterschiedlichem Tempo in der Entwicklung, und daß er überhaupt nur dann auch langfristig zu Ergebnissen führen kann, wenn man diese langfristige Anlage berücksichtigt. Wenn wir so sehr auf das Bündnis verweisen, dann aus der Erkenntnis heraus, daß unsere Entspannungspolitik, die wir als eine realistische bezeichnen, nicht das Bündnis ersetzen soll. Sie kann es auch nicht ersetzen, denn Entspannung schafft nicht automatisch Sicherheit. Aber Entspannung schafft die Instrumente, die uns befähigen sollen, Konflikte schon im Entstehen zu verhindern, entstandene Konflikte auf politischem Wege zu lösen, und zwar ohne die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes. ({22}) - Herr Kollege Mertes, wenn Sie einmal sehen, welcher Faktor der Unsicherheit, der internationalen Krisen und Belastungen Berlin vor dem Viermächteabkommen war, dann werden Sie mir zugeben, daß ungeachtet aller Schwierigkeiten, die wir auch heute noch haben, die wir nicht leugnen, jedenfalls diese Gefahren durch das Viermächteabkommen ausgeschaltet worden sind. ({23}) Ich denke, daß dieses Viermächteabkommen über Berlin neben der Verbesserung der Lage der Berliner, ihrer Bewegungsfreiheit auf den Zufahrtswegen auch ein Stück Friedenspolitik in Europa darstellt. Auch diesen Wert und Stellenwert sollten wir nicht übersehen. ({24}) Wenn wir unsere Politik an den Problemen und Bedürfnissen der geteilten Nation messen, müssen wir uns doch die Frage vorlegen: Kann es zu dem Bemühen um Entspannung - realistisch verstanden, also unter der Voraussetzung der Sicherung im Bündnis - überhaupt irgendeine ernsthaft diskutierbare Alternative geben? Glaubt denn wirklich jemand - ich kann es mir nicht vorstellen -, daß uns eine Rückkehr zum kalten Kriege der Lösung unserer nationalen Problem näher brächte als beharrliches Bemühen um Entspannung? ({25}) Das bedeutet, daß diese Entspannungspolitik kontinuierlich fortgesetzt werden muß. Wir haben uns nie der Illusion hingegeben - auch das lassen Sie mich feststellen -, daß die Entspannungspolitik die Sowjetunion veranlassen könnte, ihre langfristigen Ziele aufzugeben. Ich glaube, derjenige gäbe sich einer Illusion hin, der überhaupt annähme, er sei befähigt, irgendeine Politik zu machen, die die Sowjetunion dazu bewegen könnte, ihre langfristige Zielsetzung aufzugeben. Dennoch muß es im Interesse des Friedens, seiner Erhaltung und Sicherung ein gemeinsames Bemühen um Entspannung geben. Wenn wir diese langfristige Zielsetzung der Sowjetunion einkalkulieren, kann die Antwort darauf eben nicht sein, keine Politik zu machen, sondern die Antwort darauf kann nur sein, die Risiken, die sich aus dieser langfristigen Zielsetzung ergeben könnten, dadurch zu vermeiden, daß wir diese Entspannungspolitik nicht allein und nicht wehrlos, sondern als Partner in einem handlungsfähigen Bündnis betreiben. Das ist unser Verständnis dieser Entspannungspolitik. ({26}) - Herr Kollege, ich wäre dankbar, wenn ich wie meine Vorredner meinen Gedankengang ohne Unterbrechungen entwickeln kann. ({27}) - Herr Kollege Klepsch, es wäre nett, wenn Sie auch einmal zuhörten. Ich habe Ihnen auch schon zugehört, ohne Sie zu unterbrechen. ({28}) Nun ist es unbezweifelbar, daß wir in Mitteleuropa ein Übergewicht der Sowjetunion an konventionellen Streitkräften haben. Das Nordatlantische Bündnis hat deshalb seine Dezember-Sitzung zum Anlaß genommen, darauf hinzuweisen, daß es sich dabei um einen Faktor der Instabilität in Europa handelt. ({29}) Dem Ziel, diese Instabilität zu überwinden, dienen die Vorschläge der NATO bzw. der daran beteiligten Staaten für die Verhandlungen in Wien, wo wir durch Vorlage konstruktiver Vorschläge den Versuch machen, zu einer Vereinbarung zu kommen, an deren Ende die Überwindung der Disparität und die Erreichung eines Gleichgewichts steht. Das ist konstruktive Politik, ({30}) das ist Sicherheitspolitik, und das ist realistische Entspannungspolitik. Wer das kritisiert, mag sagen, wie man es anders machen soll. ({31}) - Wenn Sie mir erlauben, Herr Kollege, darf ich das Stichwort aufnehmen, um zur KSZE zu kommen, weil das für Sie ja ein besonderer Punkt ist. Wir haben im Deutschen Bundestag ausführliche Debatten über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit geführt. Die Bundesregierung hat von Anfang an erklärt, daß sie unter Wahrung ihrer politischen Ziele bereit ist, an dieser Konferenz konstruktiv mitzuwirken, um durch diese Mitwirkung Konferenzergebnisse zu schaffen, die es uns ermöglichen, mit dem Titel dieser Konferenzergebnisse auf Fortschritte für die Menschen in Europa zu dringen. Meine Damen und Herren! Wenn Sie heute, nach sechs Monaten, fragen: Wo sind diese Ergebnisse?, wenn Sie glauben, Sie müßten nach sechs Monaten eine Konferenz dieses Ausmaßes messen, so möchte ich zunächst sagen: Ich habe auch hier manchmal den Eindruck, daß diejenigen die größten Erwartungen in diese Konferenz setzen, die uns zuvor empfohlen haben, dieser Konferenz fernzubleiben. ({32}) Meine Damen und Herren, ich wiederhole, was ich hier vor diesem Hause in der Abschlußdebatte gesagt habe: Diese Konferenz und ihre Ergebnisse geben eine Chance, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wir sind gemeinsam aufgerufen - und damit meine ich nicht nur die demokratischen Parteien in diesem Lande, sondern alle unsere Bündnispartner, unsere nicht-gebundenen Freunde in Europa, die sich zu den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie bekennen -, nun in der Verfolgung der Ziele dieser Konferenz auf Verwirklichung ihrer Resultate zu dringen. Ich glaube, hier ist ein Feld gemeinsamer Aktivität. Aber man wird nur glaubwürdig auf die Verwirklichung dieser Ziele dringen können, wenn man nicht gleichzeitig die eigene Regierung wegen der Unterzeichnung der Konferenzdokumente attackiert, meine Damen und Herren. ({33}) Ich denke, man soll den Tag nie vor dem Abend loben, aber man soll auch nie den Abend als vertan abschreiben, bevor man die Entwicklung erkannt hat. ({34}) Meine Damen und Herren, Sie haben uns damals empfohlen, an dieser Konferenz nicht teilzunehmen, ({35}) nicht nur wegen Angola, Herr Kollege Carstens. ({36}) Sie sind sicher mit mir einer Meinung: Wenn die Bundesrepublik Deutschland die Unterschrift verweigert hätte, wäre die Entwicklung in Angola nicht anders verlaufen, aber wir wären heute außenpolitisch total isoliert. Das wäre die Lage. ({37}) - Herr Kollege Carstens, sie müssen damit fertigwerden, daß Sie uns empfohlen haben, im Gegensatz zu allen unseren Partnern im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft diese Konferenzdokumente nicht zu unterzeichnen. ({38}) Damit hätten wir eine Solidarität aufgegeben, die wir dringend brauchen, um genau diese unsere nationalen Probleme zu lösen, über die wir heute in dieser Debatte zu sprechen haben. ({39}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, über Ihre Auffassung in dieser Frage wird die Entwicklung hinweggehen, und Sie werden eines Tages erkennen, daß es notwendig ist, in der Gemeinschaft der verbündeten Nationen das durchzusetzen zu versuchen, was uns auch eint. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Debatte, in der wir über die Notwendigkeit der Entspannungspolitik sprechen, darf jene Frage nicht unerwähnt bleiben, die in diesen Tagen und Wochen die Öffentlichkeit mit Recht beherrscht, ich meine die Frage, ob wir nun zu einer Verabschiedung der Vereinbarungen mit der Volksrepublik Polen kommen werden oder nicht. ({40}) Die Bundesregierung hat sich dazu entschieden, auf Grund der Gesprächsergebnisse des Bundeskanzlers mit dem polnischen Parteichef in Helsinki nicht nur das Rentenabkommen abzuschließen, sondern auch die Kreditvereinbarung und das Ausreiseprotokoll. Wir haben das getan, weil wir der Meinung sind, daß wir im Interesse auch der Aussöhnung mit dem polnischen Volk diesen Schritt jetzt endlich, da er möglich ist, tun sollten. ({41}) Wir haben es auch getan - das ist gerade heute zu erwähnen, wenn wir über die Lage der Nation reden - im Interesse der Menschen, die Deutsche sind, die in Polen noch 30 Jahre nach Kriegsende zu leben gezwungen sind, die auch zur Nation gehören und die zu uns kommen möchten. Es geht eben darum, Herr Kollege, daß 125 000 Deutsche in den nächsten vier Jahren ausreisen dürfen und daß die Chance für die, die unter diesen 125 000 nicht sind, auch danach noch offengehalten worden ist. Ich glaube, daß die steigende Zahl der Ausreisegenehmigungen in den letzten Monaten die Ernsthaftigkeit der polnischen Seite unter Beweis stellt, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Meine Damen und Herren, wie bei jeder vertraglichen Regelung wird dieser oder jener diesen und jenen Einwand zu machen haben. Aber jeder wird sich fragen müssen, ob die Bedenken, die er hat oder zu haben glaubt, wirklich ausreichen können, um damit in dieser Phase ein Nein zu diesem Schritt deutsch-polnischer Aussöhnung und auch ein Nein zur Ausreise von 125 000 deutschen Menschen zu sagen. ({42}) Ich wiederhole: Auch sie gehören zur Nation. In der Argumentation in der Öffentlichkeit - ich konnte Ihnen hier Flugblätter und Zeitungsausschnitte zeigen - spielt der Begriff Geld eine große Rolle. ({43}) - Gut, Sie sagen: Geld spielt eine große Rolle. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege: ich wünschte, daß in der Vergangenheit Deutsche gegenüber Polen nur Dinge getan hätten, die man wirklich mit Geld wiedergutmachen könnte. ({44}) Dann wäre unsere Lage heute leichter. ({45}) - Sehen Sie, Herr Kollege, Sie verweisen auf die Vertriebenen. Wir alle wissen, was es bedeutet hat, daß nach dem Krige Millionen deutscher Mitbürger zwangsweise ihre Heimat verlassen mußten. Nur, wir wollen uns doch, meine verehrten Kollegen, sicher in einem Punkt einig sein: Daß diese Millionen Deutschen ihre Heimat verlassen mußten, ist nicht das Versagen irgendeiner demokratischen Partei, sondern den deutschen Osten hat die Regierung des Dritten Reiches verspielt. Das können wir uns nicht gegenseitig anlasten. ({46}) Was wir heute tun, ist, auch hier die Wunden der Vergangeheit zu überwinden versuchen und denjenigen, die unter der Vergangenheit am meisten zu leiden haben das sind diejenigen, die nach 30 Jahren noch nicht dort leben können, wo sie leben möchten -, so schnell wie möglich und so sicher wie möglich zu uns zu führen. Darum geht es auch bei diesen Vereinbarungen. ({47}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung stellt sich mit ihrer Politik der Entspannung der Diskussion hier in diesem Hohen Hause. Sie ist sich der Tatsache bewußt, daß mancher - wahrlich nicht nur bei den Befürwortern - Erwartungen an diese Politik geknüpft hat, die im nachhinein höher erscheinen, als sie berechtigt waren. Dennoch gibt es zu dieser Politik keine vertretbare Alternative. Wir betreiben sie nicht allein, wir betreiben sie zusammen mit unseren Alliierten. Wir meiden die Gefahr, in die Isolierung zu geraten; denn wir glauben, daß die gemeinsame Kraft unserer Freunde in der Welt, unserer Verbündeten, die an unserer Seite stehen, allein in der Lage ist, uns zu helfen, das zu tun, was wir im wohlverstandenen Interesse der gemeinsamen, der geteilten und uns doch in ihrer Gänze verpflichtenden Nation tun müssen. Deshalb werden wir unsere Politik fortsetzen, unbeirrt, zäh und geduldig; wir werden uns von Rückschlägen nicht entmutigen lassen. Wir tun es gemeinsam mit unseren Partnern, verantwortlich vor der ganzen Nation. Wir stellen uns mit dieser Politik dem Urteil der Öffentlichkeit, und wir sind überzeugt, wir werden mit dieser Politik bestehen. ({48})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx. ({0})

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat heute morgen um 9 Uhr begonnen, es ist jetzt 14 Minuten vor 16 Uhr. Abgesehen von der Mittagspause und einer verkürzten Fragestunde hat für die Fraktion der CDU/CSU hier der Fraktionsvorsitzende gesprochen, wenn ich recht sehe, eine Stunde und acht Minuten. Es haben gesprochen der Bundeskanzler eineinhalb Stunden, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Wehner, eine halbe Stunde; ({0}) der Kollege Hoppe eine Stunde, der Kollege Genscher 40 Minuten. ({1}) - Meine Damen und Herren, Ihnen, die Sie dazu Beifall klopfen, muß ich sagen, ich bewundere Ihre demokratische Geschmacklosigkeit. ({2}) Herr Bundesaußenminister, ich muß leider sagen und Ihnen leider vorwerfen, daß es ein gehöriges Stück Unfairneß war, jetzt als dritter Redner der Koalition hierherzukommen; denn ich kann mich daran erinnern, Sie haben einmal hier gestanden, als unser Parteivorsitzender Herr Kohl in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz aufgerufen war. Sie bestanden hier auf Ihrem Rederecht, das Ihnen ja niemand schmälert. Aber Sie haben damals begründet, es sei Übung dieses Hauses und es sei demokratischer Brauch - ({3}) - Sie müssen nicht stören. Hören Sie zu, damit Sie ein bißchen von demokratischem Selbstverständnis lernen! ({4}) Herr Genscher, Sie haben damals hier erklärt, es sei demokratischer Brauch, Rede und Gegenrede zu hören: einer von der Regierungsseite, einer von der Opposition. Sie machen sich die Geschäftsordnung und Ihre Interpretation zurecht, wie Sie es gerade brauchen können, immer so, daß es jedesmal Ihnen nützt, damals und heute. Gehen Sie davon aus, daß wir dies zurückweisen und daß wir diese Methode nicht schätzen! ({5}) Meine Damen und Herren, ich glaube, Herr Kollege Genscher hätte eine ganze Reihe seiner parteipolitisch motivierten Sätze durchaus zu einem späteren Zeitpunkt sagen können. Herr Genscher, Sie hätten auch Ihre Bemerkungen zum Thema „Blockpartei" zu einem späteren Zeitpunkt anbringen sollen. Ich möchte Ihnen im Namen meiner Fraktion sagen, daß natürlich niemand von uns daran denkt, wirklich niemand, wenn er die Formulierung „Blockpartei" verwendet, sie im Ulbrichtschen Verständnis anzuwenden. ({6}) - Herr Kollege Wehner, daß Sie in diesem Augenblick, wo der Name Ulbricht fällt, so lachen, kann ich mir aus den in Ihrer eigenen persönlichen Erfahrung und Geschichte ruhenden Vorgängen allerdings erklären. ({7}) - Ich bin kein Verleumder, aber Herr Kollege Wehner, wenn ich Sie so ansehe und Ihre Zwischenrufe höre, dann weiß ich, warum Willy Brandt gesagt hat, das anständige Deutschland stünde auf seiner Seite. ({8}) Herr Kollege Genscher, ich möchte es ganz klar machen: Der Begriff „Block", was die Zusammenarbeit verschiedener Parteien anlangt, kommt oft vor, kommt z. B. als „Bürgerblock" vor. So verstehen wir es. Wir verstehen aber auch eine besondere Art von Blockpartei in dem eben geschilderten Verständnis darunter, wenn z. B. zu Beginn einer Legislaturperiode Freie Demokraten und Sozialdemokraten sich treffen und einander das Versprechen geben, daß sie während der ganzen Legislaturperiode keine abweichenden und gegeneinander gerichteten Abstimmungen durchführen. ({9}) Ich frage mich: was ist das für eine Liberalität? ({10}) Ich frage mich: was ist das für eine Demokratie? ({11}) Was für einen Sinn hat die ganze Diskussion, wenn man ohnehin weiß: Die beiden Fraktionsvorsitzenden haben sich vorher versprochen, daß es niemals eine gegenläufige Abstimmung geben wird. Es gab eine Ausnahme, nämlich den § 218, aber sonst nichts. Und dies muß man, weil Sie, Herr Kollege Genscher, gesagt haben, die Bevölkerung höre zu und man müsse das der Bevölkerung draußen sagen, ihr in der Tat sagen, und man muß sie auch über die Art und Weise unterrichten, wie Sie die Geschäftsordnung dieses Hauses bis an den Rand des Erträglichen für sich und Ihre Freunde ausnutzen. ({12}) Meine Damen und Herren, der Außenminister hat gesagt, wir hätten davon abgeraten, zur KSZEKonferenz zu gehen. ({13}) Ich möchte darum bitten, daß wir uns hier auf dem Boden der Tatsachen bewegen. Diese Fraktion hat - wie keine andere Kraft in irgendeinem anderen der Länder - eine Große Anfrage eingebracht, und die haben wir hier - ich glaube, gründlich - diskutiert. Und beide Seiten - Sie und wir - haben sich große Mühe gegeben, die Themen, die damals auf dem Tisch lagen, mit dem notwendigen Ernst und der notwendigen Genauigkeit zu besprechen. Ich, Herr Kollege Genscher, habe damals das gesagt, was Sie eben für sich zitierten: es sei eine Chance, mehr nicht. Wir haben damals nicht dagegen gesprochen, nach Genf zu gehen, um sich dort in den Verhandlungen zu bewähren und ein möglichst gutes Ergebnis herauszuholen. ({14}) - Lassen Sie mich diesen Gedanken noch zu Ende darstellen. - Wir haben uns dann allerdings, Herr Kollege Genscher, wie Sie wohl wissen, bei einer zweiten Debatte im Sommer letzten Jahres in einer Sondersitzung des Parlaments zu den damals vorliegenden Ergebnissen geäußert, und Sie selbst werden wissen, daß es in Ihrem Hause - auch in der Regierung, auch in Ihrer Partei und auch in der anderen, mit Ihnen verbündeten Partei - viele Leute gab, die bei einer ganzen Reihe von Formulierungen, die vorgelegt worden waren, schwere Bedenken hatten. Sie müssen der Opposition schon erlauben, daß sie -- das ist ihre Aufgabe - diese Bedenken hier in diesem Hause zusammenfaßt, politisch würdigt, daraus ihre Schlüsse zieht und daraufhin der Bundesregierung ihren eigenen Vorschlag macht. - Bitte sehr!

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Genscher. ({0})

Hans Dietrich Genscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich möchte nur zur Klärung beitragen, wenn Sie an der Klärung interessiert sind. Können wir uns dahin verständigen, daß Ihre Fraktion die Bundesregierung durch einen Antrag aufgefordert hat, die Schlußdokumente nicht zu unterzeichnen?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau das ist es, Herr Kollege Genscher, was ich in der Form einer ausführlichen Darstellung gegen Ihre Darstellung, die ich für falsch erkläre, hier gesagt habe. Wir hatten zwei Debatten, und wir haben Sie ermuntert, nach Genf zu gehen. Wir haben Ihnen gesagt, welche Vorstellung wir davon haben, was in Genf herauskommen soll. Und wir haben dann, als Sie mit diesen Ergebnissen hier ins Haus kamen, allerdings in einem Antrag das formuliert, wobei wir bleiben. Denn, Herr Kollege Genscher, niemand von all den 35, die unterschrieben haben, ist in vielen dort niedergelegten Fragen so berührt wie unser eigenes Land, und Sie können uns nicht behandeln wie Abgeordnete aus, sage ich einmal, Italien oder Spanien; die sind zwar interessiert, aber ihr Interesse daran ist distanzierter. Dieses Land hier ist geteilt. Um dieses Land ist es gegangen! Und Sie wissen wie ich, daß Molotow und seine Nachfolger seit 1954, um die deutsche Frage auch auf diesem Wege in den Griff zu bekommen, eine solche Sicherheitskonferenz und einen Teil - ich gebe zu: einen Teil - der Ergebnisse, die dort erreicht worden sind, formuliert und vorgeschlagen hatten. Ein Weiteres, Herr Kollege Genscher: Bitte korrigieren Sie sich. Sie haben eben auf die letzten NATO-Äußerungen Bezug genommen und haben gesagt, daß die Zustimmung des Bündnisses zu unseren nationalen Fragen so, wie es dort vorgekommen sei, in früheren Zeiten kaum zu finden gewesen sei. Lassen Sie sich bitte in Ihrem Hause die große Dokumentation der auswärtigen Politik zur Verfügung stellen; sehen Sie sich bitte die NATO-Handbücher an; lesen Sie einmal nach, was, seit es Konrad Adenauer gegen den Willen Ihrer heutigen Freunde gelungen ist, uns als Mitglied in die NATO zu bringen, damals bei den NATO-Sitzungen, bei den NATO-Reden und bei den Mittagessen der NATOAußenminister mit unserem jeweiligen Außenminister gemeinsam für die Interessen unseres Landes gesagt worden ist. Ich bitte Sie, im Gegensatz zu dem, was heute morgen Herr Schmidt gesagt hat, auch an einer Sache unverrückbar festzuhalten, nämlich an den von uns mit den Alliierten erarbeiteten Deutschlandsätzen, dem Deutschlandvertrag, dem Artikel 7; denn der ist bei dieser Politik langsam untergegangen. Verhindern Sie, daß er wirklich untergeht, machen Sie ihn zum festen Gegenstand unserer Deutschlandpolitik und der Politik mit unseren Alliierten! Dann haben Sie ein Verdienst. ({0}) Es ist heute morgen von dem Bundeskanzler und jetzt von dem Außenminister das Thema Polen angesprochen worden. Ich stehe nicht an, zu sagen: Die beiden Herren sind hinsichtlich ihrer politischen Darstellung Leute, die beanspruchen können, nicht nur geachtet zu werden, sondern sie verfügen über ein hohes Maß an Intelligenz. Aber, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, Sie sollten dann Ihre Intelligenz nicht dafür benutzen, uns - die Opposition - in unseren Motiven zu verdächtigen und ungerechte, falsche und demagogische Sätze der Öffentlichkeit vorzutragen, die mit unserem Wollen und Wissen, mit unseren politischen Absichten, überhaupt nichts gemein haben. ({1}) Der Bundeskanzler hat heute morgen behauptet, wer den Vereinbarungen widerspreche, verbaue 125 000 Deutschen den Weg nach Deutschland. Haben Sie eigentlich bedacht, daß nicht wir verbauen, sondern jene, die diese Leute festhalten? Wo haben Sie eigentlich 1970 das Gewissen gehabt, als es darum ging, die Zahlen festzulegen? ({2}) Heute, Herr Genscher, müssen Sie doch in der Auseinandersetzung zu Ihrem Vorgänger und zur früheren linken Koalitionsregierung zugeben, daß Sie dazu eben nicht fähig waren. Weil alles so hastig und so rasch gehen mußte, weil Sie mit Erfolgen glänzen mußten, haben Sie damals eine Information abgeschlossen, die in ihrem Inhalt und in ihrer Bedeutung leider nicht das enthalten hat, was notwendig gewesen wäre, um den Ausreisewilligen die Ausreise wirklich zu ermöglichen. ({3}) Es ist eben gesagt worden - ich will gar nicht die Polen-Debatte vorwegnehmen, aber wir müssen natürlich antworten, wenn Sie auf diese Themen eingehen -, wir müßten dem Rentenabkommen bitte zustimmen. Der Kollege Carstens hat heute morgen einen Kommentator von Radio Warschau - ich wiederhole: vom 23. Januar 1976 - zitiert. Herr Kollege Carstens, vor Ihrem Zitat stehen einige andere Sätze, die ich dem Hause, der Öffentlichkeit und auch Ihnen, Herr Außenminister, nicht vorenthalten möchte. Da heißt es nämlich: Die westdeutschen rechten Presseorgane haben unter völliger Mißachtung des Wortlautes dieser Abkommen Polen vorgeworfen, es ignoriere die Interessen der betroffenen Personen. Das bezieht sich auf die sogenannte Abgeltung von Rentenansprüchen, obwohl das Abkommen deutlich beschließt, daß es Ansprüche von Einzelpersonen nicht betrifft. Das soll die Öffentlichkeit jetzt noch einmal aus polnischem Mund erfahren. ({4}) Bitte, gehen wir auf die Tatsachen ein! Kleben wir nicht ständig falsche Etiketten an Flaschen, wohin sie nicht gehören. ({5}) Eine weitere Bemerkung. Das, was Herr Wehner heute vorgetragen hat und was der Kollege Fried15138 rich in den letzten Tagen landauf, landab unter Bezugnahme auf eine vertrauliche Sitzung des Auswärtigen Ausschusses vom 14. dieses Monats unter die Leute zu bringen versucht, lautet, die Zahl der Ausreisewilligen sei nicht 280 000. ({6}) - Herr Kollege Friedrich, ich will argumentieren, dann bitte Ihre Frage. - Die Zahl stimme nicht, sie sei heruntergemindert. Meine Damen und Herren, niemand kann hier eine feste Zahl nennen, bei der lebendigen Wirklichkeit, da heute Leute kommen, sich morgen neue melden, andere ihren Antrag zurückziehen, die einen Angst haben, weil der Druck auf sie zu stark ist, weil andere fürchten, daß sie ihren Beruf verlieren, weil andere gestorben sind, weil andere sich neu einrichten und sagen: Gut, wir bleiben. ({7}) Unruhe auf der Regierungsbank. Es wäre mir, Herr Kollege Herold, lieber, wenn Sie da drüben säßen und von dort aus argumentierten. ({8}) Sie dürfen uns nicht in eine solche Stimmung versetzen, wie wir das vorhin bei Ihnen, Herr Kollege Herold, in der Fragestunde in Sachen DDR-Kalender erlebt haben und jetzt von der Regierungsbank. Hier ist der Platz, hier können wir diskutieren. ({9}) Ich möchte gern den Gedanken fortsetzen und sagen, meine Damen und Herren: Daß 280 000 eine sozusagen in Erz gegossene Zahl sei, hat niemand behauptet. ({10}) -- Hört! Hört!, Kollege Wehner, natürlich! Aber der Vorgang ist folgender. Ich möchte das bitte dem Hause vortragen. Im Jahre 1969 betrug die Zahl der Ausreisewilligen in den Gebieten ostwärts von Oder und Neiße 271 000. Man hat daraufhin im Zusammenhang mit der Entwicklung der deutsch-polnischen Verhandlungen, die zum Vertrag vom Dezember 1970 geführt haben, eine sogenannte Aktualisierung mit über 360 000 Briefen gemacht, in denen man Leute, deren Namen bekannt waren, die oder deren Verwandte sich gemeldet hatten, fragte, ob sie über die Rot-Kreuz-Organisationen ausreisen wollten.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Marx, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Friedrich?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte erlauben Sie mir, Herr Präsident, noch einmal zu wiederholen. Ich möchte diesen Gedanken deshalb zu Ende führen, weil der Kollege Friedrich, der sich eben meldet, dazu Dinge gesagt hat, die ich für falsch halte. Wenn ich damit fertig bin, kann er natürlich seine Frage stellen, denn ich habe hier immer Fragen zugelassen und mich nicht auf vorbereitete Texte zurückgezogen, wie das mancher Kollege hier zu unserem großen Arger immer wieder tut. ({0}) Meine Damen und Herren, diese sogenannte Aktualisierung ergab, daß sich etwa 90 000 der vorher Gemeldeten nicht mehr rührten. Aus welchen Gründen, darüber kann man nur phantasieren, das kann man sich nur vorstellen. Ich habe eben einige Gründe genannt. Es haben sich aber eine große Anzahl neuer Ausreisewilliger gemeldet, so daß die Zahl, die ja bestätigt ist, Herr Kollege Friedrich, wie Sie sehr wohl wissen - ich will hier nicht die Bemerkungen aus dem Auswärtigen Ausschuß Wortlaut zitieren - etwa 280 000 betrug. Es werden intern und draußen Spekulationen darüber angestellt, was denn sein wird, wenn nach vier Jahren 120 000 bis 125 000 draußen sein werden. ({1}) Aber das sind Spekulationen. Wer will wirklich vor andere hintreten und sagen: Ich sage euch die verläßliche Zahl. Man kann das ausrechnen und sagen: 280 000 minus 120 000 oder 125 000. Jedermann weiß aber, auch wir, Herr Außenminister, daß dies eine Zahl ist, die niemand wirklich wird bestätigen können; ({2}) denn wer weiß, was in vier Jahren ist? Es könnte ja sein, daß diese Regierung an der Macht bleibt und daß ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik bei uns die Verhältnisse weiterhin so ruiniert. Dann werden sehr viele gar nicht mehr in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen wollen, ({3}) weil sie Bedenken haben, daß sie hier keine Möglichkeit haben, sich beruflich entsprechend bewegen zu können. Meine Damen und Herren, ich möchte aber gern noch eine Bemerkung machen, weil der Bundeskanzler heute morgen sagte, die Zahl wüßten weder wir noch die andere Seite. ({4}) Ich empfinde, daß dies eine Korrektur der Äußerungen des Bundesaußenministers in der ersten Lesung der Polen-Verträge war. ({5}) Herr Bundesaußenminister, an Ihrer Stelle würde ich mir das kabinettsintern verbitten, denn Sie haben am 26. November des letzten Jahres wörtlich gesagt, nach den Kenntnissen, die Sie hätten, sei die Zahl zumindest 280 000. ({6}) Sie können bitte davon ausgehen, daß in einer solchen Sache, wo wir alle miteinander die Sorge teilen sollten, die Opposition dieses Hauses die ZahDr. Marx len, die der Außenminister vorlegt, ernst nimmt und sich entsprechend verhält. ({7}) Herr Kollege Friedrich!

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem Sie hier den schweren Vorwurf, Herr Kollege Marx ({0}) - ich komme zur Frage -, des Bruchs der Vertraulichkeit erheben, ohne ihn zu belegen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß am 12. Januar, zwei Tage vor der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes im Deutschlandfunk auf die Frage: „Es war von 280 000 die Rede, nicht wahr?" erklärte: Wir bestätigen keine Zahlen mehr, weil, wie ich ganz offen sagen muß, mit diesen Zahlen in der Öffentlichkeit sehr viel Unfug getrieben worden ist. Und sind Sie deshalb bereit, Ihre gestrige Erklärung zurückzunehmen, das Deutsche Rote Kreuz habe die Zahl von 280 000 Ausreisewilligen bestätigt?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, das sind also zwei verschiedene Fragen. Erstens, ich habe keinerlei Grund, eine Erklärung zurückzunehmen, die sich ganz eindeutig auf den Wortlaut der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses bezieht. Zweitens. Herr Kollege Friedrich, da ich auch früh aufstehe, brauchte ich das nicht nachzulesen, sondern ich habe das im Deutschlandfunk gehört. Ich habe da gehört - das muß ich jetzt allerdings zu meiner Verteidigung offen sagen -, daß irgendeiner der Kollegen im Auswärtigen Ausschuß den dort vortragenden Herrn des Roten Kreuzes gefragt hat, wie er dies denn gemeint habe; damit sei viel „Unfug" getrieben worden. Und er hat - wenn Ihr Gedächtnis gut ist, bestätigen Sie mir das bitte - gesagt, es gehe nicht um irgend jemanden aus dem politischen Bereich, sondern man habe mit dieser Zahl in journalistischen Bereichen viel Unfug getrieben. Er hat dann versucht, den Ausdruck „Unfug" etwas herabzumildern. Dies ist die Wahrheit. Sie können diese Bernerkung überhaupt nicht gegen die Argumente stellen, die ich vorgetragen und die ich deshalb eingeführt habe, weil Sie in den letzten Tagen auch in den internen Informationen Ihrer eigenen Partei landauf, landab den Eindruck erwecken, wir würden mit falschen Zahlen handeln. Ich habe diese Argumente eingeführt, um jedermann deutlich zu machen, daß die Zahlen, die wir wiedergeben, gesicherte Zahlen sind, soweit es in dieser Welt, bei diesen ganz besonders schwierigen Verhältnissen dem Roten Kreuz hier oder dem Roten Kreuz dort, Ihnen oder uns, überhaupt gelingen kann, sichere Zahlen zu nennen. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege Marx, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Friedrich?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr!

Bruno Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000590, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Marx, Sie haben die Tatsachenbehauptung des Bruches der Vertraulichkeit nicht belegt. Könnten Sie das bitte tun?

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Friedrich, dazu möchte ich Ihnen folgendes sagen: Wir haben ein ganzes Bündel von Äußerungen und von dpa-Meldungen zum Beispiel von Ihrer Rede, die Sie in Nürnberg gehalten haben, wo Sie sich auf Mitteilungen im Auswärtigen Ausschuß beziehen. Sie wollten uns dort gern in eine Lage bringen, daß wir uns nicht verteidigen können. Solange Sie, Herr Kollege Friedrich, dies so machen, so fingerfertig, so ein bißchen unter der Decke, wie Sie es gemacht haben, muß natürlich in diesem Hause und nicht nur durch Presseerklärungen darauf geantwortet werden. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte diesen Teil mit folgender Bemerkung abschließen: Ich selbst bedauere es sehr - ich sage dies in aller Offenheit -, daß Diskussionen so geführt werden müssen, aber ich bitte Sie auch einzusehen, daß, wenn man uns ständig einen groben Klotz vorhält, darauf natürlich ein grober Keil gehört. ({1}) Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zur Rede, die der Herr Bundeskanzler heute morgen gehalten hat. Der Herr Bundeskanzler hat es darin für richtig gehalten, den Kollegen Kohl zu attackieren und dabei - ich habe ihm dazwischengerufen, er wisse genau, daß es anders war - die „Quick" zu zitieren. Sie wissen, es handelt sich um ein schriftlich vorgelegtes Interview, und Sie wissen, daß drei Fragen - nicht nur eine - von dem Herrn Ministerpräsidenten Kohl, unserem Parteivorsitzenden, zurückgegeben worden sind mit dem Hinweis, er möchte diese Fragen jetzt nicht beantworten. Daß die Illustrierte diese Fragen dann abgedruckt und daruntergeschrieben hat: „keine Antwort", ist ihre Sache. Aber ich meine, derjenige, der sich mit Herrn Kohl auseinandersetzen will, sollte sich mit seinen Ausführungen auseinandersetzen, die er hier bei der ersten Debatte zu den Polen-Verträgen gemacht hat. Hier wäre der eigentliche Ort, sich mit dem, was hier gesagt wird, auseinanderzusetzen. ({2}) Und man sollte es sich nicht so bequem machen, wie es hier geschehen ist. ({3}) - Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe Sie nicht verstanden. ({4}) - Oh, er ist kein Sozialdemokrat! ({5})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Marx!

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich entschuldige mich, meine Damen und Herren, aber die Frage mir so zu stellen - weil Sie sie nicht gehört haben, wiederhole ich sie; die Frage lautete, ob er denn woanders auch so spreche wie hier -, das ist wirklich ein Angriff, den man nur in der Weise, wie ich es eben getan habe, beantworten kann. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun eine Bemerkung machen zu einem Ereignis in der auswärtigen Politik, das wir vor etwa 14 Tagen registrieren konnten. Damals war der sowjetische Außenminister Gromyko in Japan und wir haben damals erfahren, daß er eigentlich ohne Verhandlungserfolg zurückkehrte. Seine dortigen Gesprächspartner hatten sich nicht bereit gezeigt, jene japanischen Nordinseln nördlich von Hokaido, die die Sowjetunion kurz vor Ende des letzten Weltkrieges neben anderen besetzt hatte, abzuschreiben. Meine Damen und Herren, ich habe es noch einmal nachgelesen und möchte dem Hause diese Sätze vortragen. Ich sagte: Die Sowjetunion hat Japan kurz vor Ende des Krieges angegriffen, obwohl am 13. April 1941 zwischen Moskau und Japan ein Nichtangriffs- und Neutralitätspakt abgeschlossen worden war. Der Artikel 1 dieses Pakts - nur ihn lese ich Ihnen vor - lautet: Die beiden Vertragschließenden Teile verpflichten sich, friedliche und freundschaftliche Beziehungen untereinander zu unterhalten und gegenseitig die territoriale Integrität und Unantastbarkeit des anderen Vertragschließenden Teils zu achten. ({1}) Dies sind ja Begriffe, die wir aus unserer gegenwärtigen Diskussion sehr genau kennen, „friedliche und freundschaftliche Beziehungen", „Unantastbarkeit der territorialen Integrität". Trotz dieser eindeutigen Verpflichtung hat die Sowjetunion Japan mit Krieg überzogen, und wenn man in die Akten sieht, findet man, daß dies in Jalta auf der Krim vorbereitet worden war. Es zeigt sich aber auch, daß es im ganzen japanischen Volk kein Regierungsmitglied, daß es keine Partei gibt - nicht einmal die kommunistischen Parteien -, die bereit wären, ihrer Regierung zu empfehlen, die vier nördlichen Inseln aufzugeben. ({2}) Diese Entscheidung, meine Damen und Herren, und diese Haltung sind nach meiner Meinung von beispielhafter Bedeutung. ({3}) Denn dort, in Japan, hat eine fremde Regierung nach dem Grundsatz gehandelt, den jüngst ein deutscher Minister in Jerusalem verkündete. Herr Kollege Genscher, Sie waren in Jerusalem und haben dort, wenn die Zeitungen richtig berichtet haben, gesagt, es gebe einen Grundsatz, der laute, Territorien, die mit Gewalt erworben worden seien, dürfe man nicht behalten. ({4}) Meine Damen und Herren, für unser Volk ist es sehr merkwürdig, zu erleben - das muß ich schon sagen -, wie solche politischen Weisheiten anderen gepredigt werden, wie sie von einem anderen Volk, das den zweiten Weltkrieg ebenfalls verloren hat, nämlich dem japanischen Volk, beherzigt werden, wie sie bei uns selbst aber keineswegs zur Grundlage der Politik gemacht worden sind. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist notwendig, in dieser Auseinandersetzung zu sagen, daß man hierzulande seit dem Machtantritt der ersten linken Regierung unter den Stichworten „Entspannung" und „Versöhnung" mit unseren eigenen Interessen zu großzügig umgegangen ist. So hat nach meiner Meinung Herr Brandt seiner emotionalen Politik, in der ja wichtige Rechtstitel „juristischer Schnickschnack" oder „Formelkram" - ich zitiere Herrn Brandt - gewesen sind, ({6}) allerlei verschwommene Hoffnungen und Vorstellungen unterlegt, die überhaupt nicht in Erfüllung gehen konnten. Die Welt ist viel härter, meine Damen und Herren! Sie ist leider anders, als es sich mancher utopische Sozialist vorstellt. Wenn wir noch einmal auf die seit dem Jahre 1970 hier jährlich vorgelegten Berichte zur Lage der Nation zurückblicken und wenn wir noch einmal die amtlichen Reden und die begleitenden Argumentationen, die Vertreter der Regierung dazu gehalten und vorgebracht haben, Revue passieren lassen, dann müssen wir feststellen - und ich sage dies nicht aus Vergnügen -: Dies sind leider Zeugnisse einer Politik des Versagens gegenüber jener Aufgabe, die man sich selbst in völliger Überschätzung der eigenen Kräfte und unter folgenschwerer Verkennung der gegnerischen Methoden und Absichten vorgenommen hat. Meine Damen und Herren, wir sprechen heute zum „Bericht zur Lage der Nation". Herr Genscher, ich gestehe Ihnen zu und wiederhole dies ausdrücklich, daß Sie in Ihrer Rede eben einmal die Formulierung vom „gespaltenen Deutschland" verwendeten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang aber daran, daß wir seinerzeit, als diese Berichte eingeführt wurden, eine Überschrift wählten, die der wirklichen Situation unserer Nation sehr nahe kam, nämlich „Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland". Warum, frage ich mich - und wir haben ja im vergangenen Jahr und im Jahr davor schon danach gefragt und nie eine Antwort bekommen -, warum eigentlich ist dieser Beisatz „im gespaltenen Deutschland" weggefallen? ({7}) Stimmt es vielleicht nicht? Hat diese Politik wirklich so große Erfolge gebracht? Ist die Spaltung wirklich - wie Herr Wehner sagte erträglicher geworden? ({8}) Sind die Gräben wirklich zugeschüttet worden? Ist es wirklich gelungen, z. B. an der Grenze Schießbefehl und Schießhandlung, Minenfelder und Stacheldraht und Mauern abzuschaffen? Dieses ist doch alles nicht der Fall. Das gespaltene Deutschland ist noch gespalten. Aber, meine Damen und Herren, heute, da der Wind umgeschlagen ist und der Bundesregierung ins Gesicht bläst, sind jene - ({9}) - Selbst. Herr Nannen und Herr Augstein; ich will sie um Gottes willen nicht als Zeugen berufen. Aber wenn selbst dort - ({10}) - Herr Kollege Wehner, niemand von uns hatte den „stern" angestiftet, gegen Ihren engsten Freund Wienand so hart vorzugehen, wie er es getan hat. ({11}) Meine Damen und Herren, da Herr Wehner dazwischengerufen hat: „Vielleicht waren Sie doch dabei!" und die Stenographen das aufgenommen haben, möchte ich nur, damit es jeder hört, sagen: Nein, dieser Methoden bedienen wir uns nicht. Aber von Ihnen erwarten wir immer noch eine Antwort, wie es sich eigentlich mit dem, was man Herrn Wienand damals vorgeworfen hat, verhält. ({12}) Meine Damen und Herren, ich glaube, man wird sagen können, daß in der Phase einer gewissen Euphorie viele wichtige Positionen geräumt worden sind. Es sind Verträge abgeschlossen worden - ich sage nach wie vor - mehr schlecht als recht formuliert, Verträge ohne Revisionsklausel, Verträge ohne zeitliche Begrenzung. Jetzt wäre doch - erlauben Sie - nach fünf Jahren die Frage zu stellen: Gibt es einen erfolgreichen Zwischenbericht? Was kann man denn mitteilen, nachdem man uns damals gesagt hat, man werde nun Berlin aus den Schlagzeilen der Weltpresse bringen, und es sei sicher, daß Berlin auch dem Osten gegenüber durch die Bundesregierung immer vertreten werde? Wir würden gern wissen: Was ist eigentlich mit jenem Grundsatz, von dem man uns immer wieder gesagt hat, er sei das Credo dieser Deutschlandpolitik: Vom Gegeneinander - hieß es - zum Nebeneinander, vom Nebeneinander zum Miteinander! Meine Damen und Herren, dies ist doch alles gar nicht erreicht worden. Im Gegenteil, seit dies so eingeleitet worden ist - ({13}) - Dem Herrn Wehner ist das wahrscheinlich peinlich. Deshalb versucht er durch Zwischenrufe zu stören. ({14}) - Trotzdem, Herr Wehner, sage ich Ihnen, daß, seit dies so eingeleitet worden ist, die Abgrenzung der anderen Seite, das Handeln und das Reden der Verantwortlichen der anderen Seite weit schärfer und die Spaltung des Landes unangenehmer, bitterer, blutender geworden sind als vorher. ({15}) Meine Damen und Herren, es war doch wirklich ein Schwall von Worten. Ein Kollege dieses Hauses, der nicht unserer Fraktion angehört, hat dies heute in der Mittagsstunde gesagt: Es waren auch solche merkwürdig täuschenden Formeln wie z. B. „Wandel durch Annäherung", die in unserer Bevölkerung viele Wünsche geweckt und Hoffnungen erregt hatten. Das deutsche Volk, und zwar nicht nur hier, sondern auch - Herr Kollege Genscher hat eben daran erinnert, daß sie mithören - die drüben jenseits der Demarkationslinie, ist viel hellhöriger, viel mißtrauischer geworden gegenüber all diesen Formulierungen. Meine Damen und Herren, Sie können eben nicht verdecken, daß die Verträge - der Grundvertrag zumal - keinen Durchbruch in der deutschen Frage geschaffen haben. Man kann, wenn man einem Gefühl für Systematik nachgäbe, sagen: Die Ostpolitik, soweit wir sie bisher überblicken können - ich bin zwar nicht der Meinung von Herrn Hoppe, daß die Deutschlandpolitik ein Teil der Außenpolitik ist -, ({16}) - ja, das hat er heute morgen gesagt - Außenpolitik und Deutschlandpolitik sind natürlich sehr eng miteinander verwoben. Das eine lebt mit dem anderen. Das eine ist mit dem anderen konstruiert und durchgeführt. Das eine kann nur mit dem anderen bedacht werden. Ich möchte gerne sagen, daß man das, was wir von dieser Politik jetzt überschauen, in zwei Phasen einteilen kann: Die erste Phase ist die völkerrechtliche Fixierung eines großen Teiles jener Dinge, die bei der kommunistischen Gipfelkonferenz im April 1967 in Karlsbad als das nächste strategische Ziel formuliert worden ist. ({17}) Die zweite Phase - und, meine Damen und Herren, da hilft nichts ist der Griff in die deutsche Kasse. ({18}) Das muß man sehen. ({19}) Meine Damen und Herren, für diesen Griff in die Kasse gibt es allerlei und allerhand Begründungen. Man hält unser Land für in der Zeit des Kapitalismus so reich geworden, daß man es unter Hinweis auf erwünschte Bußfertigkeit gern zur Ader läßt. Nun, meine Damen und Herren, es gibt in der jüngsten Zeit - der Bundeskanzler hat in den ersten Minuten seiner Darstellung darauf hingewiesen - eine neue und, wie ich glaube, wichtige Entwicklung. Es gibt einen neuen Vertrag, Herr Kollege Arndt, vom 7. Oktober 1975 - vielleicht können wir uns zumindest über die Bewertung des Vertrages verständigen - zwischen Ost-Berlin und Moskau. Mancher glaubt, es handle sich da einfach um ein Stück Papier. Andere waren flugs mit der Formel zur Hand, dieser Vertrag „berühre" die anderen Verträge, z. B. das Berlin-Abkommen der Vier-Mächte, nicht. Das ist im völkerrechtlichen Sinne auch durchaus richtig. ({20}) - Natürlich! Der Vertrag zwischen der DDR und der Sowjetunion berührt, völkerrechtlich gesehen, diese Vereinbarung nicht. Natürlich, Herr Kollege Arndt, halten wir das fest. Wir schneiden uns doch nicht die Nase aus dem Gesicht. Aber, Herr Kollege Arndt, dieser Vertrag hat eine starke politische Wirkung. Er ist nicht eine bloße ostblockinterne Sache, sondern er ist ganz offenkundig in Inhalt und politischer Bedeutung gegen die Absichten des Westens, gegen unsere Deutschlandpolitik, gegen die Verträge selbst gerichtet, weil er auch das Berlin-Abkommen einseitig interpretiert und versucht, diese einseitige Interpretation durch dauernde Wiederholungen und Propaganda durchzusetzen. ({21}) - Lieber Herr Kollege Arndt, ich verstehe, daß Sie jetzt ein bißchen nervös sind. Aber seien Sie bitte nicht vorschnell! Ich will jetzt auf die Sache eingehen, und dann können Sie hören, was ich wirklich sage, nämlich nicht das, was Sie bedauerlicherweise vermuten. ({22}) Jedermann, meine Damen und Herren, weiß, oder jederman sollte wissen, daß im Viermächteabkommen über Berlin wörtlich festgestellt wird - das ist jener Teil, den die Drei Mächte unterschrieben haben; ich zitiere -: . . . , daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschlands aufrechterhalten und entwickelt werden, wobei sie berücksichtigen, daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil ({23}) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden. Im Vertrag zwischen Moskau und Ost-Berlin kommt aber ganz offen, und zwar trotz dieses eindeutigen Wortlauts des Viermächteabkommens, die konstant durchgehaltene sowjetische Linie gegenüber West-Berlin zum Ausdruck. Dies ist eine Linie, die in der letzten Zeit - es ist heute morgen schon einmal von dem Nichtbesuch der sowjetischen Bürgermeister die Rede gewesen; wir haben das bei der Nichteinladung unserer Berliner Kollegen erlebt - zum Ausdruck kam. Meine Damen und Herren, man muß auf allen Seiten des Hauses doch bitte sehen, daß die sowjetische Seite in West-Berlin nicht nur ein Mitspracherecht zu beanspruchen versucht, sondern daß die Westmächte aus Ost-Berlin hinausmanövriert werden sollen und daß die DDR, die mit diesem Viermächteabkommen überhaupt nichts zu tun hat, jetzt ins Spiel gebracht werden soll. Wenn Sie sich den Text, den ich gleich zitieren werde, genau anhören, so werden Sie feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland und die DDR auf die gleiche Stufe gebracht werden und beide durchaus vergleichbare Verbindungen zu West-Berlin haben sollen. ({24}) Der Artikel 7, meine Damen und Herren, des Abkommens zwischen Ost-Berlin und der Sowjetunion lautet - ich zitiere -: In Übereinstimmung mit dem vierseitigen Abkommen vom 3. September 1971 werden die hohen vertragschließenden Seiten ihre Verbindungen zu Westberlin ({25}) ausgehend davon unterhalten und entwickeln, daß es kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland ist und auch weiterhin nicht von ihr regiert wird. Sie können allein beim genauen Lesen, beim genauen Hinhören die substantielle Veränderung der Aussage und auch eine Veränderung hinsichtlich des unterschriebenen Textes spüren; denn er wird nicht insgesamt wiedergegeben, sondern es wird nur der zur Durchsetzung ihrer Interpretation dienliche Teil wiedergegeben. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute noch einmal einen Satz gesagt, den wir, die CDU/CSU, in unser erstes Berlin-Papier, das wir im Frühjahr 1970 vorgelegt haben, als einen Kernsatz geschrieben hatten, nämlich Berlin sei in der Tat der Prüfstein für all das, was man Entspannung nennt. Wir halten an diesem Satz fest. Wir möchten auch gerne - ich habe jetzt nicht das Vergnügen, mit dem Bundeskanzler zu sprechen - dem Bundeskanzler sagen, daß nicht, wie er sagt, das Aufgeben von Entspannungspolitik neue Gefahren heraufbeschwört. Wir müssen uns, wenn überhaupt, einmal darüber unterhalten, was der einzelne unter dem Wort „Entspannung" und „Entspannungspolitik" wirklich versteht. ({26}) Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, der Westen ist zwar nicht ganz, aber doch ziemlich einheitlich der Meinung, daß Entspannung ein Abbau von Spannungsursachen sein soll, daß Entspannung Handel und Wandel möglich macht, nicht nur Gespräche zwischen den führenden Politikern, auch einen ungehemmten Austausch von Personen, Sachen und Informationen, und daß Entspannung so etwas wie die Vorstufe zum Frieden ist. Ob die sowjetische Seite das ebenso versteht, muß man nach allem, was man lesen und hören kann, verneinen. Ich möchte dem Bundeskanzler sagen: Neue Gefahren für Berlin beschwört hier niemand; aber wir sehen, daß einige dabei sind, sich auf neue Auseinandersetzungen einzurichten und gegenüber Berlin eine Politik zu betreiben, die jenseits der feierlichen Verabredungen liegt, die man beim Viermächteabkommen getroffen hatte. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte zu dem Vertrag der DDR mit der Sowjetunion noch folgendes sagen. Ich glaube, daß die Festlegungen, die dort getroffen worden sind, etwa in der Präambel und in den ersten drei Artikeln, etwas deutlich machen, von dem ich wünschte, daß wir uns alle in diesem Hause und draußen in der Öffentlichkeit damit beschäftigten. Ich fürchte, daß sich hier ein großer Schritt zur Einverleibung der DDR in den Verband der UdSSR zeigt. Es wird von der „Annäherung der sozialistischen Nationen" gesprochen, so z. B. Herr Honecker kürzlich bei seinem Besuch in der Tschechoslowakei. Meine Damen und Herren, dies ist ein Terminus technicus von Lenin, und er ist genau dort zu finden, wo Lenin davon spricht, wie später andere Nationen in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aufgenommen werden könnten. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich diese Formeln in dem Vertrag ansehen, dann werden Sie feststellen: es handelt sich nicht um irgendwelche Leerformeln, das ist keine diplomatische Kaschierung, sondern dies sind Formulierungen, die genau so gemeint sind, wie sie hier stehen. Da heißt es nämlich, dieser Vertrag werde „als enges brüderliches Bündnis" angesehen, das auf der „Gemeinsamkeit der sozialistischen Ordnung" und der „Endziele" beruht. Der Vertrag dient „der weiteren Vervollkommnung der politischen und ideologischen Zusammenarbeit", der „Entwicklung und Vertiefung der sozialistischen ökonomischen Integration". Ich darf darauf aufmerksam machen, daß es Integration bisher nur bei uns gibt, dagegen nicht im Rahmen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Hier wird aber jetzt eine gemeinsame ökonomische Integration angestrebt. Wenige Wochen bevor dieser Vertrag abgeschlossen wurde, haben die Vertreter der Sowjetunion und der DDR mite nander die Volkswirtschaftspläne für die nächsten fünf Jahre so abgestimmt und so aufeinander zugeordnet, daß dies wirklich eine Amalgamierung, eine Einschmelzung, des einen in den anderen ist. ({27}) Meine Damen und Herren, sehen Sie, da wird gelobt, und zwar fast in der Sprache anakreontischer Studentenverbände: „ewige und unverbrüchliche Freundschaft", „allseitige Zusammenarbeit", „allseitige Hilfe und Unterstützung". Ich muß auch sagen, es fällt auf, daß hier das bedeutungsschwere Wort „Vereinigung" immer wieder verwendet wird, und zwar bei der Anstrengung, die die beiden Seiten zur „Errichtung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft" unternehmen wollen. Herr Leonid Breschnew hat gesagt - und in Hunderten von Kommentaren wird das seit der Zeit wiederholt -, dieser Vertrag sei eine Sache, die „Kurs auf die weitere Annäherung unserer beiden Länder und Völker" nehme. Honecker hat das mit der Bemerkung quittiert, es handele sich um einen „Bruderbund" und um das Zentrum, den „Kern des sozialistischen Lagers". Der Bundesaußenminister hat soeben von Erfahrungen mit der DDR gesprochen. Ich bestreite nichts davon. Aber, Herr Bundesaußenminister, da könnte man noch sehr viel hinzufügen, z. B. Erfahrungen aus vielen Gesprächen mit Arbeitern aus sogenannten volkseigenen Betrieben, die Ihnen sagen, wieviel ihrer Arbeitskraft und wieviel ihrer Arbeitszeit sie für fremde Staaten, für fremde Dienste opfern müssen. Auch das ist ein Teil der deutschen Wirklichkeit, auch das gehört zu einer resümierenden Betrachtung der Lage unserer Nation im gespaltenen Deutschland. In früheren Berichten zu diesem Thema in diesem Hause hat man gesagt - ich fasse das jetzt einmal zusammen -, man müsse wohl den Umweg machen über die Anerkennung zweier deutscher Staaten, über den Abschluß völkerrechtlicher Verträge mit der DDR, über die Aufnahme beider Teile Deutschlands als Staaten in die Vereinten Nationen, über die Anerkennung der DDR in allen Staaten der Welt, weil das schließlich die Voraussetzung begründe, um danach bessere Aussichten für die Wiedervereinigung herbeizuführen. ({28}) Wir haben dieser These, die mit sehr viel propagandistischem Aufwand verbreitet worden ist, nie zugestimmt; wir haben sie als geschichtswidrig, als unlogisch, als falsch zurückgewiesen. Wir halten den Gedanken für absurd, wonach man die Teilung mit all ihren Konsequenzen zunächst anerkennt, um sie dann zu überwinden. Leider haben sich auch hier die Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen der Bundesregierung nicht bestätigt, und unsere Prognosen hatten den Nachteil, sage ich, daß sie richtig gewesen waren. ({29}) So sagte auch der sowjetische Propagandasender „Frieden und Fortschritt" am 21. Oktober 1975 in einer Kommentierung zu diesem Vertrag - ich zitiere -: Nur Phantasten und politische Abenteurer können noch von einer Wiedervereinigung sprechen. An dieser Stelle, Herr Bundesaußenminister, habe ich eine Bitte. Sie selbst, Ihr Haus und das Presseund Informationsamt der Bundesregierung geben Broschüren heraus, die Dokumente enthalten. Da ist jetzt wieder eine Broschüre in der dritten Auflage erschienen; sie heißt: „Dokumentation zur Entspannungspolitik der Bundesregierung". Sie bringen darin die Verträge und Briefwechsel, z. B. den deutsch-sowjetischen Vertrag. Ich hätte gerne eine Erklärung für den uns sehr irritierenden Vorgang, daß in dieser Broschüre z. B. die gemeinsame Entschließung dieses Hauses vom 17. Mai 1972 fehlt, ({30}) obwohl uns damals diese Entschließung als ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland dargestellt worden ist, was wir gerne hören und festhalten. Aber es muß ja einen Grund geben, und irgend jemand muß ja wohl dafür die Verantwortung tragen, daß diese Entschließung in einer solchen Dokumentation nicht enthalten ist. ({31}) Zur Lage der Nation gehört es auch, einen Blick auf die Tätigkeit der DDR in vielen Ländern der Welt und in den Vereinten Nationen zu werfen. Seit der Grundvertrag unterschrieben worden ist, hat sich die DDR in sehr vielen Ländern eingerichtet und ihre diplomatischen und konsularischen Missionen eröffnet, und sie hat kräftig das ausgenutzt, was unser damaliger Kollege Scheel seinerzeit als Außenminister in einer seiner ersten Weisungen im frühen Winter 1969 an die diplomatischen Missionen in die Formel kleidete: „Wir wollen unseren Landsleuten die Vorteile, die ihnen aus diesen Begegnungen entstehen können, nicht verwehren, nicht schmälern. Nicht überall ist es heute schon so; denn die linientreuen Kader sind noch nicht überall herangebildet. Aber man muß doch sehen - Herr Bundesaußenminister, ich bin überzeugt davon, daß Sie selbst das auch mit großer Sorge betrachten und sich viele Berichte aus den diplomatischen Missionen vorlegen lassen --, daß die Sendboten Ost-Berlins in manchen Ländern begonnen haben, mit einer manchmal geradezu eleganten und höchst wirksamen Kulturpropaganda zu wirken, daß sie sich in anderen Ländern mit einer oft grob geschnitzten Agitation als d i e Deutschen darstellen, als das bessere, das fortschrittliche Deutschland. Die Peinlichkeiten, die dabei oft draußen entstehen, sind mitunter grotesk. Meine Damen und Herren, die DDR wirft erhebliche Geldmittel in diesen von ihr geführten Kampf. Sie deckt die Empfänger - und darunter auch viele, die sich oft über Deutschland nur informieren wollen, die kaum etwas wissen und verstehen von der Bitternis unserer Teilung - mit ganzen Bündeln von gedruckten - ich sage es - Hetz- und Propagandabroschüren zu, sie zeigt zugkräftige Filme, organisiert Einladungen, Kongresse, Symposien, Kinderferien in der DDR, Kulturtage, den Austausch von Studenten und Schülern - z. B. neuerdings, was bemerkenswert ist, auch in westlichen Ländern -, Sportveranstaltungen, Preisausschreiben und andere Wettbewerbe, und sie verteilt draußen Güter und Geldmittel, die sie zu Hause ihrer Bevölkerung entzogen hat. ({32}) Ich sehe, daß hier die gelbe Lampe brennt. ({33}) - Jetzt gerade rot; aber rot ist immer eine Farbe - ({34}) - Gut! Herr Brandt hat einmal zu Jochen Steffen gesagt: „Nichtwahr lieber Jochen, wir lassen uns die schöne Farbe nicht vermiesen!" Ich denke immer daran, daß rot eine schöne Farbe ist: Der Purpur der Perser war schon eine Farbe der Würde. Aber ich sehe auch bei jeder roten Verkehrsampel, daß rot auch ein Zeichen für „Halt" sein kann, Herr Kollege Arndt. ({35}) Meine Damen und Herren, ich muß also deshalb zum Schluß kommen. Herr Präsident, ich bitte, mir dies noch zu erlauben. Wir, die Fraktion der CDU/ CSU, fordern den Bundeskanzler und den zuständigen Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen auf - wobei wir mit dem Blick in die heutigen Zeitungen ausdrücklich wünschen, daß dieses Ministerium mit seiner unaufgebbaren Aufgabe erhalten bleibt -, ({36}) nicht nur den halben Teil der Wahrheit hier vorzutragen, sondern die ganze Wahrheit. In der heutigen Darstellung haben wichtige politische Felder gefehlt. Der Bundeskanzler hat kein Wort gesagt zur Lage an der Demarkationslinie, kein Wort zur Militarisierung im anderen Teil unseres Landes, nichts über die Aufrüstung dort und die sowjetischen Truppen in der DDR. Er hat nur in einer Andeutung über die politischen Gefangenen gesprochen und zuwenig über die immer tiefer gehende Beugung und Unterdrückung der Freiheits- und Menschenrechte drüben. Meine Damen und Herren, wir wünschen auch, daß das Wort „Selbstbestimmung" aus unserem Vokabular, und zwar nicht aus einem formelhaften, sondern aus einem sehr ernst gemeinten Vokabular, das einer der entscheidenden, der prinzipiellen Inhalte unserer Deutschlandpolitik ist, in diesem Hause und von seiten der Regierung nicht getilgt wird. ({37}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute dort, wo er den Mangel in seinen eigenen Darstellungen wohl selbst klar spürte und wo es eben nichts von Erfolgen zu berichten gab, entweder gepaßt, oder er ist zu anderen Themen geflüchtet. Die Fraktion der CDU/CSU wird bei ihren Erörterungen einen solchen Ausweg nicht suchen. Wir werden unsere wohlbegründete Meinung zu allen Dingen und Vorgängen, die sich mitten in Deutschland abspielen, sagen: Wir werden beobachten und kritisch würdigen; aber wir werden zugleich bereit bleiben, in den entscheidenden Fragen unserer Nation nach einer möglichst einhelligen Beurteilung zu suchen. ({38}) - Natürlich hätten wir es uns, Herr Kollege Wehner, bequemer machen können! Wir hätten diese Politik natürlich mit einigen kritischen Anmerkungen mal da, mal dort ebenso passieren lassen können. Sicher ist es immer leichter, mit dem Strom zu schwimmen. Wer aber nicht opportunistisch ist, wer nicht den leichteren Weg gehen will, sondern wer seinen Einsichten folgt, wer seinem Gewissen folgt - ({39}) - Herr Bardens, ich lasse mit mir nicht über mein Gewissen und was es mir gebietet reden, ({40}) sondern ich sage: Wer seinem Gewissen folgt, wer seinen politischen Einsichten folgt, der muß auch Unbequemes auf sich nehmen, er muß auch bereit sein, eine Zeitlang gegen den Strom zu schwimmen. Meine Damen und Herren. Wir wissen heute, daß die mit Emphase und Erwartungen begonnene Ost-und Deutschlandpolitik in unserer Bevölkerung nicht mehr auf die überwiegende Zustimmung trifft. Allzu viele Enttäuschungen und Mißerfolge haben die erregten Erwartungen abgekühlt. Es wäre eine politische und nicht nur eine rhetorische Leistung gewesen, wenn der Bundeskanzler seine Darlegungen heute auf solche Einsichten gegründet hätte. Das ist leider nur partiell geschehen. Wir sind sicher, daß unser Volk heute unsere politische Haltung, unsere Prinzipien besser versteht als vor einigen Jahren. Wir, meine Damen und Herren, die CDU/CSU, werden auch künftig wachsam bleiben, um die Interessen nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern um die unveräußerlichen Interessen aller Deutschen im politischen Gewissen der Welt wachzuhalten. ({41})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Dr. Marx ({0}) stellt immerhin einen Bruch dessen dar, was heute eigentlich hier zur Debatte steht, ({1}) und dessen, was bisher in der Debatte gelaufen ist. ({2}) Ich muß Ihnen sagen, Herr Dr. Marx, Sie haben hier einige schwere Beleidigungen ausgesprochen, die Sie sich sehr genau überlegen sollten. Auf die Dauer - das würde ich Ihnen gern sagen - werden Sie dieses Verhältnis in diesem Hause nicht aushalten, wenn Sie so global und brutal den Versuch machen, Menschen zu denunzieren, um sie in Abfälligkeit zu bringen. Wir werden uns das nicht gefallen lassen. ({3}) Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Ihre Rede, besonders am Anfang, war eine einzige Provokation. Im Grunde genommen - das war mein Eindruck, und ich glaube, meine Kollegen haben ihn geteilt - haben Sie gegenüber der politischen Wirklichkeit zur Zeit eine solche Unsicherheit, daß Ihnen nichts weiter übrigbleibt, als die Auseinandersetzung auf diese Ebene zu bringen. ({4}) - Ich komme darauf. ({5}) Ich möchte zunächst ein paar Bemerkungen machen. ({6}) - Ach, Herr Wohlrabe, das können Sie mir doch ersparen und sich auch. ({7}) Sie sind doch sonst ein so freundlicher Kollege! ({8}) Warum wollen Sie denn hier so ausfallend werden? ({9}) Nein, nein, was Sie wollen, weiß ich, Herr Reddemann. Sie wollten ja schon gehen. Warum sind Sie eigentlich nicht gegangen? ({10}) Sie haben doch soeben gesagt, jetzt machten Sie Pause, als Sie meinen Namen gehört haben. Es war doch nicht ganz so, was? Na ja, bleiben Sie ruhig hier, ich sage noch einiges. ({11}) Ich will Herrn Dr. Marx den Gefallen tun und nicht bei meinem Manuskript bleiben. Ich will erst einmal ein paar Fragen beantworten, die Sie hier gestellt oder aufgeworfen haben. Aber zunächst noch eines. Wenn Sie „Die Welt" gelesen haben, Herr Dr. Marx, in der Ausführungen über die vertrauliche Aussprache im Auswärtigen Ausschuß, Bemerkungen, die Herr Außenminister Genscher als Berichterstatter gemacht hat, gestanden haben, dann wissen Sie, daß dieser Ausschuß leider nicht mehr so dicht ist, wie er sein müßte, um ernsthaft vertrauliche Gespräche zu führen. Ich habe das in der letzten Sitzung schon festgestellt, und wir sollten uns einmal darüber Gedanken machen, wie wir das abstellen, sonst würde ich es der Bundesregierung nicht übelnehmen, wenn sie nicht mehr so offen berichten würde, wie es bisher geschehen ist. ({12}) Herr Dr. Marx hat hier ein paar Thesen aufgestellt, die ich für so wichtig halte, daß sie beantwortet werden müssen. Er hat gesagt: Der Deutschland-Vertrag geht allmählich in unserer Politik unter. Herr Dr. Marx, wenn Sie das so gemeint haben, dann müssen Sie sich doch einmal die Frage vorlegen, was daran untergeht; Sie müssen sich auch die Frage vorlegen: Ist denn der Vertrag von Ihrer Regierung so geschlossen worden, daß etwas davon untergehen kann? Ja, was untergegangen ist, Herr Dr. Marx, das haben wir hier schon oft gesagt. Das geht Ihnen nicht recht ein. Untergegangen ist nämlich die Formel, um nicht zu sagen die Floskel, auf die Sie die Wiedervereinigung Deutschlands in diesem Vertrag aufbauen zu können glaubten. 21 Jahre sind ins Land gegangen, und diese Formel ist zur Floskel geworden, weil Ihre Vorstellungen auf illusionärer Grundlage aufgebaut waren, obwohl Sie sonst immer sagen, wir machten die Verträge nicht klar genug. Die Klarheit, die in dieser Darstellung im Deutschland-Vertrag vorhanden ist, hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir heute angekommen sind, daß wir nämlich genau wissen: Die Wiedervereinigung Deutschlands wird es so, in dem Sinne, wie Sie es von dem Vertrag erhofft haben, nicht geben. Allerdings, wer zur damaligen Zeit, im Jahre 1955, denken konnte, hat es auch damals schon gewußt. Ansonsten, verehrter Herr Kollege, ist der Deutschland-Vertrag in seinem Kern Bestandteil unserer Politik und der Politik unserer Alliierten. ({13})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes ({0})?

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mattick, stehen Sie nach wie vor zu folgendem Satz der gemeinsamen Entschließung, die vom ganzen Deutschen Bundestag am 17. Mai 1972 verabschiedet wurde: „Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die fortdauernde und uneingeschränkte Geltung des Deutschland-Vertrages - achten Sie auf die letzten sechs Worte - und der mit ihm verbundenen Abmachungen und Erklärungen von 1954 sowie die Fortgeltung des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR am 13. 9. 1955 geschlossenen Abkommens von den Verträgen nicht berührt wird."

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hat doch mit den Verträgen überhaupt nichts zu tun, Herr Kollege Mertes; es hat etwas damit zu tun, daß im Deutschland-Vertrag Vereinbarungen getroffen worden sind, die nicht bindend sind, und Vereinbarungen über die Wiedervereinigung Deutschlands getroffen wurden, die weder Hand noch Fuß hatten. Das ist das, was untergegangen ist, worauf Herr Dr. Marx ganz zu Recht hingewiesen hat, völlig unabhängig von den Verträgen, die wir jetzt abgeschlossen haben. Das wollte ich damit ausdrücken. ({0}) - Was heute von Ihnen hier alles an schwer Schädigendem gesagt wurde, Herr Dr. Marx, das werden wir noch aufzeigen. Ich habe es nämlich bedauert, daß muß ich Ihnen schon sagen, wie Sie mit unserer Politik umgehen, wo doch auch die Menschen im anderen Teil Deutschlands zuhören. Ich muß mich an einen Tag erinnern, Herr Dr. Marx, den ich noch sehr genau in meinem Gedächtnis habe, um Ihnen einmal deutlich zu machen, was Vertragsauslegungen oder Drohungen bewirken können. Am 28. November 1957 bin ich im Auftrag meines Landesvorstandes mit dem damaligen Senator Günther Klein nach Bonn gekommen. Das war nach dem Tag der Ultimatumsverkündung Chruschtchows gegen Berlin. Ich habe es sehr genau in Erinnerung, wie bis tief in die Regierungskreise hinein damals die Vorstellung vorhanden war: Dieses Ultimatum wird uns an den Punkt bringen, so ist es unter Kollegen hier gesagt worden, wo Leute wie Mattick und andere entweder nur noch hier sind oder nur noch in Berlin sind. So haben Sie z. B. heute, Herr Dr. Marx, den Vertrag zwischen der DDR und der Sowjetunion ausgelegt, als wenn der Vertrag eine neue Provokation gegen Grundvertrag und Vierervereinbarung sein soll.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich bitte den Gedanken zu Ende sprechen! Dann bis ich dazu bereit. Herr Dr. Marx, dieser Vertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR drückt etwas ganz anderes aus. Es ist die Sorge der Sowjetunion, daß durch die neue Entwicklung die Bindungen zwischen der Sowjetunion und den Ostblockländern zu sehr leiden und sich auflockern. Denn eines haben Sie nicht gesagt. So ungefähr in jedem Paragraphen finden Sie die Formulierung: Die Sowjetunion, die DDR und die anderen Bruderparteien ...; oder: Die Sowjetunion und die DDR unter Einschluß der anderen Verbündeten ... So hat der Vertrag meiner Ansicht nach vor allen Dingen die Aufgabe, die Zangenbewegung uni den Ostblock zu verstärken, ({0}) und hat gar nicht viel zu tun mit dem Einfluß auf unsere Politik, hat gar nichts zu tun mit den Beziehungen zu Westdeutschland und den Beziehungen zu Berlin; ({1}) denn da sind andere Bedingungen festgelegt. Und in Art. 7 steht, daß die DDR die Beziehungen ({2}) verändern will, aber es steht nichts darin, was uns in neue Abhängigkeit bringt, Herr Dr. Marx. ({3}) Das ist die Frage unserer eigenen Politik, und da liegen Sie meiner Ansicht nach immer schief, weil Sie immer erst einmal davon ausgehen, daß die Sowjetunion provokativ ist und wir uns erpressen lassen. Sie sind immer auf dein Wege des Bangemachens der Bevölkerung. Wir lassen uns aber nicht bangemachen, weil wir ein reales Verhältnis zu dieser Politik haben.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege Mattick, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte!

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mattick, weil Sie von den Deutschen drüben sprachen: Haben Sie sich einmal überlegt, wie es auf diese Deutschen, die diese Debatte hier verfolgen, wirken muß, wenn Sie sagen, ein Vertrag von 1955 mit dreien der vier Mächte, die für Deutschland als Ganzes zuständig sind, in dem es klar heißt, daß man sich verpflichtet, für ein Deutschland in Freiheit und Demokratie nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland einzutreten, sei ein Vertrag, der nicht Hand und Fuß habe?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben mich wohl nicht recht verstanden. Ich habe gesagt, daß diese Vereinbarung im Deutschland-Vertrag ohne jede Bindung ist, ({0}) daß sie ohne jede Zielvorstellung und ohne Wirklichkeit ist. - Ja, das weiß ich, natürlich ist der Vertrag vollgültig. Aber Sie fragen ein halbes Jahr nach der Schlußakte von Helsinki: Was ist denn nun schon auf den Tisch gelegt worden? ({1}) Und da muß ich Ihnen sagen: 21 Jahre ist in der Frage der deutschen Einheit überhaupt nichts geschehen, was auf der Grundlage dieses Vertrages läge. ({2}) Ja, ich weiß. Ich meine, Sie haben ja 20 Jahre Zeit gehabt, auf diesem Gebiet etwas zu tun. Aber in Wirklichkeit haben Sie auf dem Gebiet ja gar nichts getan. ({3}) Wenn Sie einmal überlegen, daß 1961 die Mauer gebaut worden ist - -({4}) - Aber sie hat es gewußt! Wissen Sie, das ist auch schon etwas wert. Sie hat es vorher gewußt, wir nicht. ({5}) Aber nun will ich Ihnen etwas sagen. Von 1961 bis 1968 ist nichts geschehen, was den Menschen in Berlin und auf der anderen Seite irgendwie behilflich oder dienlich gewesen wäre. Nichts ist geschehen! ({6}) Wenn Sie sich heute hier hinstellen, Herr Marx, und sagen: Berlin ist nicht aus den Schlagzeilen gekommen, die Spaltung ist blutiger geworden - das haben Sie von hier aus gesagt: die Spaltung ist blutiger geworden -, ({7}) frage ich Sie: Was für eine Vorstellung haben Sie denn davon, wie die Spaltung vor unseren Ver15148 trägen war? Haben Sie denn gar kein Erinnerungsvermögen? ({8}) Wissen Sie denn nicht, in welchen Schwierigkeiten Berlin lag, was auf den Wegen los war, daß die Menschen drüben keine Beziehungen mehr zu uns hatten? Sie richten hier heute die nationale Fahne auf. Die nationale Fahne ohne unsere Verträge? Die Brücke zu den anderen Menschen dort drüben haben wir doch erst wieder aufgebaut! ({9}) Wenn Sie, Herr Dr. Marx, überlegen, was im Bericht zur Lage der Nation über das steht, was an neuen Beziehungen, Verbindungen, Begegnungen zwischen beiden Teilen Deutschlands durch unsere Verträge geschaffen worden ist, und sich dann hier hinstellen und so tun, als hätten diese Verträge für die deutsche Einheit, für das nationale Bewußtsein, für das Zusammengehörigkeitsgefühl und für die Menschlichkeit nichts gebracht, dann ist das eine Verleugnung der Wirklichkeit, weil Sie das bei Ihrer Politik nötig haben, weil Sie eine Rechtfertigung vor sich selber, vor Ihrem Nein suchen und sie in der Wirklichkeit nicht finden. Daher verleugnen Sie hier eine Politik, die durch die Verträge zum Vorteil aller Menschen in Deutschland entstanden ist. ({10}) Sie sagen: Der Grundvertrag ist kein Durchbruch in der deutschen Frage. Sie hätten erläutern müssen, was Sie darunter verstehen. Wir haben nie behauptet, daß wir mit dem Grundvertrag die Frage der deutschen Wiedervereinigung auf den Tisch legen können. Das war nicht unsere Vorstellung, weil es dafür keine Realitäten gibt. Ich möchte gern von Ihnen wissen, was Sie damit meinen: Der Grundvertrag ist kein Durchbruch in der deutschen Frage. Wenn wir aber die Frage anders stellen, nämlich „Hat der Grundvertrag den Deutschen auf beiden Seiten schon etwas genützt?", dann sehen Sie sich den Bericht zur Lage der Nation an, um zu wissen, was er genützt hat. ({11}) Ich möchte eine Bemerkung zu der Auseinandersetzung um die Polen-Zahlen machen. Erstens möchte ich Herrn Bruno Friedrich in Schutz nehmen. Ich finde es unerhört, was Sie dazu gesagt haben; er hat keinen Vertrauensbruch begangen. Sie wissen ganz genau, daß das so ist. Aber nun eines zu den Zahlen selbst. Es ist doch unbestreitbar - jetzt plaudere ich aus den Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses, weil es schon bekannte Dinge sind; ({12}) lassen Sie mich doch einmal ausreden -, daß Ihre Kollegen im Auswärtigen Ausschuß ständig mit Zahlen operieren, die im Grunde genommen unwirklich und zum großen Teil überholt sind. Das ist unbestreitbar, und das hat uns schon der Herr vom Roten Kreuz deutlich gemacht. Weiter will ich nichts sagen. ({13}) Sie formulierten, Sie nähmen dazu gar keine Stellung, weil man alles nicht genau wisse. Natürlich weiß man alles nicht genau, aber Ihre Kollegen behaupten doch, daß sie die Zahlen ganz genau wußten und registriert haben. ({14}) In Wirklichkeit ist es nämlich so, daß Registrierungen erfolgt sind, ohne die Zahlen nach dem Bild der heutigen Zeit zu verändern. Es geht nicht nur um die Frage: Wer ist gekommen, wer wollte kommen? Die Registratur ist doch auf Vorhandensein und nicht auf Willensäußerungen aufgebaut. Damit ist, glaube ich, die Zahl 125 000 eine wirklich gute Plattform, um dafür zu sorgen, daß die Menschen, die nach Hause wollen, nach Hause kommen können. Es ist meiner Ansicht nach keine gute Sache, wenn Sie jetzt noch einmal mit diesem Zahlenspiel anfangen und damit Unsicherheit in die Reihen der Menschen bringen, welche die Absicht haben, nach Hause zu kommen, die ihren Antrag laufen haben, denen wir mit unserem Vertrag helfen wollen. ({15}) Ich meine, es wird Zeit, daß wir diese Frage der menschlichen Hilfe so weit auf die legale und reale Basis stellen, daß wir die Chance haben, tatsächlich in den vier Jahren zum Abschluß zu kommen, damit die Menschen, die nach Hause kommen wollen, nach Hause kommen können.

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hupka?

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, wenn Sie mir die Zeit anrechnen, Herr Präsident.

Dr. Herbert Hupka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000982, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mattick, können Sie den Bundespräsidenten bestätigen, der am vorigen Freitag in Berlin gesagt hat, daß die Zahl von 125 000 eine willkürlich gegriffene Zahl ist. Und können Sie den Bundesaußenminister bestätigen, der am 7. November im Bundesrat und am 26. November im Bundestag gesagt hat, daß man von mindestens 280 000 Wünschen auf Aussiedlung auszugehen habe? ({0})

Kurt Mattick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist ja nur die Frage, ob uns das Zahlenspiel noch hilft und einen Sinn hat. Ich sage Ihnen eines: Hier kommt es darauf an, daß wir mit der polnischen Regierung auf der Basis der Zusagen zäh und real über die Rückführung sprechen. Das Angebot ist da. Ich bin überzeugt: Die polnische Regierung meint das ernsthaft. Wir kennen auch die Komplikationen, die es in Polen darüber gegeben hat und sicher auch noch geben wird. Meiner Ansicht nach ist es keine gute Sache, wenn wir nach der Vereinbarung dieses Zahlenspiel mit der Auswertung von Möglichkeiten fortsetzen und unterstellen, daß die polnische Regierung mit falschen Zahlen argumentiert. Dies hilft uns nicht weiter. Darauf würde ich verzichten; darauf werde ich auch nicht mehr weiter eingehen. Ich möchte noch eine Bemerkung machen zu der Ausführung von Dr. Marx im Zusammenhang mit dem Besuch von Gromyko in Japan. Hier wird eigentlich am deutlichsten, Herr Dr. Marx, von welcher irrationalen Vorstellung aus Sie die Deutschlandpolitik immer gemacht haben und wie Sie auch heute noch denken. ({0}) Wie ist denn ein solcher Vergleich möglich? Bei uns handelt es sich um ein geteiltes Land, um eine geteilte Stadt und um ein Berlin, das innerhalb einer besonderen Situation in ein Land eingebettet ist, das unter einer anderen Lebensform steht als wir hier und wo die Menschen täglich und stündlich unter Druck standen und in Gefahr lebten. Und durch die Verträge, die wir abgeschlossen haben, Herr Dr. Marx, sage ich Ihnen jetzt auf Ihre Bemerkung, was sich geändert hat: Es hat sich unendlich viel geändert. ({1}) Dies ist doch nicht die Frage der japanischen Inseln! Was ist denn das für ein Vergleich? Die Japaner haben Zeit, bei denen geht es um Geographie. Bei uns geht es um die Menschen, um die Millionen Menschen, die unsere Hilfe täglich brauchen, die den Zusammenhang brauchen, die die Besuche brauchen! Es geht darum, schrittweise zwischen den beiden Teilen Deutschlands Verhältnisse herzustellen, die trotz der Spaltung den menschlichen Bedingungen gerechter werden, als das der Fall war und heute noch ist. Da wird der Vergleich gebracht, daß die Japaner mit Ruhe Herrn Gromyko warten lassen könnten. Natürlich, das könnten wir auch. Und wir haben auch erlebt, daß Sie sowas versucht haben. Wir haben doch von 1961 bis 1968 die Mauer gehabt, ohne daß etwas Neues geschehen ist. Dies ist ja nicht vergleichbar, Herr Dr. Marx! Ich möchte meinen Landsleuten auf der anderen Seite diesen Vorschlag nicht machen, zu warten, bis die Kräfteverhältnisse ausgeglichener sind als heute zwischen Japan und Moskau. ({2}) - Natürlich haben Sie das gesagt, uns Vorwürfe gemacht, das Beispiel Japan gesetzt und gesagt, wie die stehen. Wir würden unser Land verkaufen und zahlen nur, so ungefähr haben Sie gesagt. Ich meine, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Man kann natürlich, wenn man in der Opposition ist, einen solchen Standpunkt vertreten und es der Regierung und der Mehrheit des Hauses überlassen, sich beschimpfen zu lassen und dennoch Politik zu machen, die den Menschen hilft. Das nehmen wir auch geruhsam zur Kenntnis. Meine Damen und Herren, mir liegt daran, noch ein paar Bemerkungen zu der allgemeinen Lage und der Debatte zu machen, die wir bisher hatten. Ich habe so den Eindruck, daß ein großer Teil der westlichen Gemeinschaft und auch des Hauses auf Angola starrt und die Frage stellt - sie ist auch im Ausschuß gestellt worden -: Ist Angola nicht der Schnittpunkt oder Bruchpunkt der Entspannungspolitik? ({3}) - Diese Frage, verehrter Herr Kollege, kann ich nicht verstehen: „Welcher Entspannung?" ({4}) - Entspannung ist das dauernde Bemühen auf unserer Seite, Wege zu finden, die die Kriegsgefahr und die Gefahr der Eskalation, die sich auch außerhalb des Krieges ergeben kann - wie wir es bei der Berliner Blockade und an der Mauer erlebt haben -, so weit wie möglich abzubauen und Entwicklungen einzuleiten, die zwischen den spannungsgeladenen Partnern Formen entwickeln, in denen der Frieden sicherer wird und den Menschen geholfen wird. Das ist Entspannungspolitik! ({5}) Nun sage ich Ihnen: Angola ist nicht der Schnittpunkt, wo die Entspannungspolitik in Frage gestellt ist. ({6}) Genau umgekehrt: Weil wir heute in Entspannungspolitik leben, ist Angola kein Gefahrenpunkt für die westliche Welt und kein Gefahrenpunkt, der sich weiter auswirken wird. Nur durch die Entspannungspolitik ist ein Vorgang wie Angola sozusagen einzugrenzen und darauf zu beschränken. ({7}) Ich frage Sie jetzt ({8}) - lassen Sie mich den Gedanken zu Ende führen -, warum in Angola kommunistischer Einfluß möglich wurde. Sie sagen, die Kommunisten in Angola oder die Russen betrieben in Angola eine Politik gegen die Entspannung. Aber das hat auch mehrere Bedingungen und Beziehungen. Auf meine Frage gibt es von mir aus eine Antwort: Weil durch die Kolonialpolitik Portugals und auch durch die Politik Europas, d. h. sein Verhalten zu Portugal und sein Stillhalten in bezug auf die portugiesische und spanische Kolonialpolitik, die Entkolonialisierung in An15150 gola für einen normalen vernünftigen Übergang viel zu spät kam und weil sie unvorbereitet kam; denn die Entkolonialisierung ist mit dem Zusammenbruch des Systems ohne lange Übergänge entstanden. Dort, wo Not und Elend sind und wo die Gesellschaft, die führt und verantwortet, auf dem Sektor des sozialen Zusammenlebens, der Gemeinschaft, versagt, dort ist der Humusboden für Kommunismus. ({9}) Die Sowjetunion ist z. B. dort, wo dieser Boden nicht vorhanden ist, gar nicht in der Lage zu intervenieren. Sie müssen hier auch noch etwas anderes sehen. ({10}) - Nein, es geht um die Frage, die immer wieder von Ihnen gestellt wird, nämlich um die Differenz zwischen Entspannung und kommunistischen Gefahren. Das ist doch die Debatte, die Sie dauernd führen. Ich sage Ihnen eines: Dort, wo der soziale Ausgleich durch eine Politik der maßgeblichen und führende Kräfte so weit wie z. B. in unserem Lande entwickelt worden ist, dort gibt es für den Kommunismus keinen Boden. Das ist aber die erste Voraussetzung dafür, daß dort auch keine Intervention möglich ist. So müssen Sie Angola sehen; so müssen Sie auch vieles andere sehen. Denn die Entspannungspolitik ist das Bemühen, trotz der ideologischen und politischen Differenzen strittweise einen Ausgleich zwischen den spannungsgeladenen Ländern herzustellen und dafür zu sorgen, daß dann, wenn irgendwo ein Konfliktherd entsteht, dieser durch die Entspannungspolitik eingeigelt werden und sich nicht auf die Partner ausbreiten kann, die diese Entspannungspolitik eingeleitet haben. Wenn Sie sich vor Augen halten, wieviel Brennpunkte es zur Zeit in der Welt und in Europa gibt, und sich fragen, ob da überhaupt die Kommunisten dahinterstecken, dann werden Sie sehr schnell zu der Erkenntnis kommen müssen, daß dies nicht der Fall ist. Denken Sie an Zypern, Griechenland, die Türkei oder Irland! ({11}) - Natürlich wird das immer wieder behauptet. Wo Differenzen sind, wo Schwierigkeiten oder Gefahren bestehen, da. sehen Sie erst einmal rot. ({12}) Darum gibt es urn diese Frage überhaupt keine normale Debatte. Deswegen sage ich Ihnen, daß die Entspannungspolitik in Angola keine Niederlage erlebt hat. Im Gegenteil: Durch die Entspannungspolitik konzentriert sich in Angola die Auseinandersetzung, ohne daß sie sich ausbreitet. ({13}) - Herr Jäger, Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen. Ich glaube sehr gerne, daß Sie diese Überlegungen mit mir nicht teilen können, weil Sie ja doch davon ausgehen, daß überall, wo Unruhe oder Schwierigkeiten herrschen, diese auf Ost-West-Spannungen beruhen. In Wirklichkeit sieht das ganz anders aus. ({14}) Damit sollten Sie sich einmal beschäftigen. Lassen Sie mich ein paar Schlußbemerkungen machen. ({15}) Ich frage mich immer: Was wäre heute ohne unsere Politik der Entspannung, der Verträge und der Entwicklung, die wir durch die Verträge eingeleitet haben? ({16}) Wir hätten keinen Grundvertrag, wir hätten keine Viermächtevereinbarung, wir hätten keine Reiseerleichterungen, wir hätten keine Massenbegegnung, und wir hätten - jetzt sage ich Ihnen noch etwas sicherlich auch keine Balkankonferenz. Vielleicht denken Sie einmal daran, daß Sie heute eine Balkankonferenz erleben, bei der sich Griechenland mit Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien an einen Tisch setzt, um gemeinsame politische Entwicklungen zu durchdenken. Dies wäre ohne unsere Entspannungspolitik niemals möglich gewesen. Dort finden Sie den Aufhänger dafür, daß die Entspannungspolitik eine Entwicklung einleitet, aus der Frieden, Auflockerung und Bewegung zu einem anderen Europa hin als heute entstehen können. ({17}) Heute schreibt - wenn ich dies noch mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren darf; damit möchte ich auch zum Schluß kommen Herr Theo Sommer in der neuen Ausgabe der „Zeit": Die Entspannung hat sich für den Westen durchaus gelohnt. Sie eröffnete den Amerikanern, als sie sich hoffnungslos in den Dschungel Vietnams verrannt hatten, ein neues reputierliches Feld auswärtiger Politik. Sie gestattete Washington und Moskau wenigstens einen Anfang bei der Begrenzung der strategischen Rüstung. Sie gab der Bundesrepublik die Möglichkeit, ihren Sonderkonflikt mit Osteuropa abzubauen, den von Deutschland begonnenen und verlorenen zweiten Weltkrieg für alle praktischen Zwecke zu beenden und gegenüber dem europäischen Osten Politik fortan nicht mehr aus schlechtem Gewissen, sondern aus kühler Interessenabwägung zu treiben. Sie verbesserte den Kontakt zwischen den Deutschen hüben und drüben. Sie machte aus dem Pulverfaß Berlin, das zweimal binnen 20 Jahren beinahe den dritten Weltkrieg ausgelöst hätte, eine relativ harmlose Reibungsfläche, die seit vier Jahren allenfalls kalte Funken sprüht. Europa ist noch immer die Walstatt ost-westlicher Rivalität, ({18}) aber es ist nicht länger die gefährdetste, gefährlichste Krisenzone der Erde. ({19}) Dies ist also eine Bestätigung von einem Mann, dem Sie sicherlich eine gewisse Objektivität zutrauen. Dies sollten Sie sich nach meiner Meinung zu Herzen nehmen, und Sie sollten prüfen, ob Ihre Politik überhaupt noch zu verantworten ist. ({20})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Bangemann, FDP.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung gibt den Bericht zur Lage der Nation vor dem Parlament in der Absicht ab, ihn mit dem Parlament zu diskutieren. ({0}) Deswegen ging Herr Kollege Marx von einer falschen Voraussetzung aus, als er sich darüber beklagte, daß er als zweiter Oppositionsredner erst so spät zu Wort gekommen sei; denn Gesprächspartner der Regierung ist in dieser Frage das Parlament, nicht die Opposition. Daher zeugt es auch nicht von mangelndem Demokratieverständnis, wenn der Außenminister als erstes Regierungsmitglied nach dem Bundeskanzler - nachdem in der Runde drei Vertreter der Fraktionen gesprochen hatten - das Wort ergriff. ({1}) - Ob es früher anders war oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, Herr Marx; ich wollte nur Ihr Verständnis von dem Verhältnis der Regierung zum Parlament zurechtrücken. ({2}) In diesem Falle haben Sie sich nicht in erster Linie als Mitglied der Opposition zu fühlen - obwohl Sie selbstverständlich so gesprochen haben -, sondern als Mitglied des Parlaments. Wenn man den Bericht zur Lage der Nation in diesem Parlament diskutieren will, kann man die Diskussion - und dazu besteht sicherlich auch ein logischer Anlaß - in die beiden Teile „äußere Situation" und „innerer Zustand" aufsplittern. Ich möchte mit dem inneren Zustand beginnen und kann dabei natürlich nicht umhin, mich mit den Ausführungen von Herrn Professor Carstens zu beschäftigen, obwohl er sich eigentlich nicht mit dem Zustand der Nation, sondern vorwiegend mit dem Zustand meiner Partei befaßt hat. ({3}) - Natürlich ist meine Partei ein Teil der Nation. Sie gestatten mir die Unbescheidenheit, zu sagen: ein Teil der Nation, der unverzichtbar ist, ({4}) der übrigens auch dadurch nicht überflüssig gemacht werden kann, daß Ihre Partei den Versuch macht, alle die unterschiedlichen politischen Strömungen, die in unserer Nation lebendig sind, für sich - wenigstens verbal - zu beanspruchen, um dadurch vor der politischen Öffentlichkeit den falschen Eindruck zu erwecken, man könne eine Einheitspartei gründen - ich benutze bewußt den Ausdruck „Einheitspartei" , die sowohl sozialistisch ({5}) als auch konservativ als auch liberal ist. Genau das versuchen Sie nämlich derzeit in Baden-Württemberg. Ihr Ministerpräsident dort, Herr Filbinger, kann sich nicht genug tun mit dem Bekenntnis, er und die CDU repräsentierten die eigentlich liberale Partei. ({6}) - Ich weiß, daß Sie im ironischen Beifall immer besonders groß sind. Dieser Beifall kann nicht anders als ironisch sein, denn wenn man sich allein das anhört, was Herr Carstens heute hier gesagt hat, dann weiß man, was man von dieser Aussage und dieser Behauptung zu halten hat. Herr Carstens hat die große liberale Tradition in Deutschland beschworen und hat auch einige Namen genannt, Namen, auf die er sich ohne Rücksicht darauf berufen hat, welche parteipolitische Richtung sie im gegebenen politischen Zusammenhang vertreten haben. ({7}) - Ich finde das auch nicht schlecht; denn die Tradition einer Nation kann - im wesentlichen jedenfalls - in den Gemeinsamkeiten bestehen. Sie wird sicherlich auch in manchem bestehen, was uns auch heute noch trennt, aber sie kann und muß im wesentlichen Gemeinsames enthalten. Deshalb fand ich die Bemerkung, die er als Zwischenruf mit Bezug auf die Kurilen gemacht hat, mit Bezug auf die japanische Haltung und die Frage, daß Herr Brandt den Nobelpreis erhalten hat, während wir Gebiete hergeben mußten, besonders deplaciert. ({8}) Zunächst einmal ist sie sachlich falsch, denn der verstorbene japanische Ministerpräsident Sato hat tatsächlich auch den Friedensnobelpreis bekommen. Aber über sachliche Irrtümer von Herrn Carstens regen wir uns ja schon gar nicht mehr auf. ({9}) - Nein, sie ist auch deswegen vor dem Hintergrund dessen, was er zur Nation und der Tradition gesagt hat, so erschreckend, weil es ganz offenbar der deutschen Nation - jedenfalls einem Teil davon - vorbehalten zu sein scheint, ihre eigenen Friedensnobelpreisträger bei jeder denkbaren Gelegenheit wegen der Tatsache, daß sie den Preis bekommen haben, zu kritisieren. ({10}) Statt daß wir uns gemeinsam in diese nationale Tradition finden und sagen: Wir haben einen Friedensnobelpreisträger, und wir sind ungeachtet parteipolitischer Grenzen stolz darauf, daß die deutsche Nation in Zukunft einen solchen haben wird!, versucht man, damit in einem unzulässigen Vergleich politisch irgend etwas zu gewinnen ({11}) und verliert an nationaler Tradition und nationaler Würde. ({12}) - Herr Jäger, lassen Sie mich bitte erst einmal eine Weile fortfahren, weil Ihre Zwischenrufe bekanntlich erst zu ertragen sind, wenn man etwa eine halbe Stunde geredet hat! ({13}) - Ja, dann kann man es ertragen, wenn man daran gewöhnt ist - bei allem Respekt, Herr Kollege Jäger. Meine Damen und Herren, diese Frage der Nation ist natürlich eine Frage, die wir in der Aussprache über einen Bericht zur Lage der Nation auch in dieser Weise behandeln müssen, wie Herr Carstens es zu tun versucht hat. Es ist eine Frage nach der Tradition. Es ist auch eine Frage, an der sich eine politische Orientierung deutlich machen läßt, eine politische Orientierung mehr an einem konservativen Ideal, an einer sozialistischen oder liberalen Vorstellung von dem, was richtig ist. ({14}) Sie haben völlig zu Recht gesagt, daß das Konservative sich daran deutlich machen lasse, daß man das Gute bewahre. Ich behaupte gar nicht, daß man als Konservativer auf Grund dieser Haltung manchmal auch in Gefahr ist, das Schlechte zu bewahren, obwohl das die eigentliche politische Gefahr des Konservativismus ist. ({15}) - Nein, die Freiheit zu bewahren und dafür zu kämpfen - dies haben Sie als das liberale Element charakterisiert. Dieses, Herr Professor Carstens, ist auch richtig. Ich begrüße das auch sehr, denn Sie tragen dazu bei, das zu widerlegen, was Teile Ihrer Partei und nicht unmaßgebliche Männer Ihrer Partei immer wieder versuchen, nämlich diese Unterschiede vergessen zu machen. Meine Damen und Herren, Demokratie lebt von den Unterschieden. ({16}) Wenn Sie den Vorwurf der Blockpartei erheben, dann muß ich Ihnen leider folgendes sagen. Der Vorwurf, daß Sie mit „sozial", „konservativ", „liberal" besetzen wollen, was sich an unterschiedlichen politischen Strömungen bei uns parteipolitisch unterschiedlich ausgedrückt hat, ist genauso zu werten wie Ihr Versuch, von einer Blockbildung zwischen SPD und FDP zu sprechen. ({17}) - Es tut mir leid, daß ich Ihnen, Herr Jäger und Herr Mertes, das sagen muß. Wir sind, wenn wir unseren Koalitionspartner, die SPD, betrachten, nicht auf der Suche nach dem besseren Ich, wie Herr Professor Carstens es ausgedrückt hat. In aller Unbescheidenheit ({18}) - und bei Liberalen ist die Unbescheidenheit vielleicht auch manchmal zu Hause -: Wir sind der Überzeugung, bessere als uns gibt es sowieso schon einmal gar nicht. ({19}) - Herr Professor Carstens, die Koalitionsfrage ist eine Frage nach dem besseren Du - nicht nach dem besseren Ich -, nach dem besseren Partner. Es ist eine Frage, die sich natürlich auch immer in der Alternative an die Opposition richtet. Meine Damen und Herren, das, was hier heute sachlich auch von Herrn Marx behandelt worden ist, bestätigt nun leider die Haltung meiner Parteifreunde, die in der Sache eine gemeinsame Plattform mit Ihnen suchen und sie nicht finden. Das ist die eigentliche Frage der Koalition - aber auch die Frage, wie Sie sich uns gegenüber einstellen, auch die Frage, wie Sie mit solchen Ausdrücken wie „Blockpartei" umgehen, auch die Frage, was davon zu halten ist, wenn der Ministerpräsident von Baden-Württemberg im LandDr. Bangemann tagswahlkampf von der FDP behauptet, sie entferne sich von den Grundlagen der Demokratie, ({20}) aber zur gleichen Zeit Ihr Spitzenkandidat in Niedersachsen die FDP fast schon auf den Knien darum bittet, in Niedersachsen mit Ihnen eine Koalition zu schließen. ({21}) - Herr Professor Carstens, einen Konservativen auf den Knien zu sehen, ist für einen Liberalen natürlich immer ein erhebender Anblick. Das ist doch ganz klar. ({22}) Ob wir das möchten, ist eine ganz andere Frage. Wir möchten eines - das möchte ich Ihnen gerade an dieser Stelle, an der vom Wahlkampf viel die Rede war, in aller Deutlichkeit sagen. Wir möchten von der CDU/CSU sicherlich als politische Gegner, die andere Auffassungen vertreten, behandelt werden, als eine Partei aber, die mit dem gleichen Recht, auf der gleichen demokratischen Basis Politik macht wie Sie auch. Das ist das, was wir möchten. ({23}) - Das bestreitet Herr Filbinger. Schauen Sie sich das doch an! Meine Damen und Herren, es sind doch von der CDU aus Baden-Württemberg nicht zufällig immer wieder Äußerungen gekommen, die die Möglichkeit einer Partnerschaft, die vielleicht da und dort vorhanden ist, immer wieder schwer belastet haben. Welcher Bundeskanzler hat denn gesagt: Nun katapultieren wir die FDP aus allen Landesparlamenten!? ({24}) Dies sagte er einen Tag, nachdem er uns ein Bündnis bis in das Jahr 1980, bis in die letzte Kommune hinein, angeboten hatte. Welcher Generalsekretär hat denn behauptet, die FDP sei im Grunde genommen überflüssig geworden? Wenn Sie die Existenz einer Partei angreifen, wenn Sie den Liberalismus im Kern angreifen, dann werden Sie mit dem geschlossenen Widerstand der gesamten Liberalen zu rechnen haben. ({25}) Meine Damen und Herren, die äußere Situation, in der wir diesen Bericht diskutieren, ist für die Bundesrepublik sicherlich nicht einfacher, sondern komplizierter geworden, ohne daß - darüber werden wir uns einig sein -, wir, Opposition ebenso wie Regierung, dafür Verantwortung zu tragen haben. ({26}) Wir haben eine Situation, die zunächst einmal - unter Gesichtspunkten reiner Machtpolitik - von einem bloßen bipolaren Verhältnis, das klare Fronten erlaubte, zu einer Multipolarität übergegangen ist, die unter machtpolitischen Gesichtspunkten wesentlich schwieriger zu beherrschen ist und die deswegen auch eine feinfühligere Reaktion als im Falle eines bipolaren Verhältnisses verlangt. Aus dem Gegeneinander des kalten Krieges sind wir nicht nur deswegen herausgekommen, weil wir das wollten, sondern wir sind auch deswegen herausgekommen, weil sich die äußere Situation entsprechend veränderte, so daß der Versuch, diese Situation des kalten Krieges mit Willen zu überwinden, eine Konsequenz der äußeren Entwicklung war. Wir haben den Nord-Süd-Konflikt bekommen, der diese alten Fronten überlagerte. Wir haben eine ganz andere Situation im Verhältnis von Industrieländern zu Nichtindustrieländern, die in der Tat eine neue Ebene solcher machtpolitischen Auseinandersetzungen gebracht hat, die nicht mit den alten Kategorien zu erfassen war. Wir haben auch im alten bipolaren Gegensatz zwischen Ost und West Entwicklungen in beiden Teilen, die zum Teil durch technische, zum Teil durch politische Gründe entstanden sind. Der Gedanke, daß die militärische Abschreckung eine Garantie für einen Friedenszustand sein könne, ist heute angesichts des hundertfachen, des zweihundertfachen Potentials zur Zerstörung der gesamten Welt von einem niedrigeren politischen Wert, als er es damals war, als man diese Möglichkeit zunächst erwogen hatte. Es gibt natürlich auch politische Entwicklungen, und zwar gerade im Ostblock. Man kann doch nicht übersehen, daß auch innerhalb des Kommunismus unterschiedliche politische Richtungen miteinander im Streit liegen. Wenn man kluge Politik betreibt, muß man solche Unterschiede selbstverständlich ausnutzen. Die politischen Bemühungen der Bundesregierung dienen doch dazu, aus diesem starren Gegeneinander herauszukommen, um mit den Auflockerungen, die sich innerhalb der kommunistischen Bewegung ergeben haben, auch Politik machen zu können. Dies ist doch nicht zuletzt die Schwierigkeit, vor der auch der Ostblock steht. Hier ist die Balkan-Konferenz erwähnt worden. Man kann auch eine Konferenz erwähnen, die bisher nicht stattgefunden hat, nämlich die Konferenz der kommunistischen Parteien der gesamten Welt, die nicht stattfinden kann, weil die Gegensätze ideologisch, politisch so groß geworden sind, daß der Kommunismus befürchten muß, durch eine solche Konferenz eher einen Rückschlag zu erleiden, als weitere Erfolge zu verzeichnen. Wenn das so ist, müssen wir uns in unserer Politik flexibel darauf einstellen, diese Möglichkeiten tatsächlich auch nutzen zu können. Nichts anderes bedeutet eigentlich der Begriff „Entspannung", wenn man ihn in einem offen15154 siven Sinn verstehen will. Ich verstehe ihn offensiv. Für den Frieden offensiv einzutreten, kann kein aggresiver Akt sein. ({27}) Offensive Entspannungspolitik ist, wenn sie ehrlich betrieben wird, sicherlich immer auch ein Moment der Friedenserhaltung. ({28}) Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation, daß wir von uns selbst wissen -- ob wir nun der Regierung oder der Opposition angehören -, daß wir das ehrlich meinen. ({29}) Wir wissen aber ebenso, daß es auch auf der anderen Seite Menschen gibt - nicht alle, aber doch einige -, die es nicht ehrlich meinen. Ich bestreite nicht - ich glaube, niemand, schon gar nicht unser Bundesaußenminister, wird dies bestreiten; er hat es neulich ausdrücklich erklärt -, daß selbstverständlich ein traditioneller orthodoxer Kommunismus Vorstellungen beinhaltet, die wir als Demokraten nicht akzeptieren können: Diktatur des Proletariats, Auslöschung demokratischer Rechte und Meinungsfreiheiten, Mißachtung prinzipieller Menschenrechte, die in allen demokratischen Ländern des Westens und in der ganzen Welt zum Bestandteil demokratischer Verfassungen gehören. Das wird von Kommunisten nicht akzeptiert, ({30}) das ist nicht ihr politisches Ziel. Sie werden versuchen, andere Ziele durchzusetzen. Ich glaube, es lohnt nicht, darüber zu streiten. Die einzige Frage, die sich in dem Zusammenhang ergeben kann, ist mithin: Mit welchen Methoden, mit welchen politischen Mitteln setzen wir unser Ziel, das jenem Ziel entgegengesetzt ist, durch, selbst im Miteinander mit solchen Kommunisten, die diese traditionellen Ziele des Kommunismus verfolgen? Vor dieser Frage dürfen auch Sie nicht ausweichen. ({31}) Man könnte sie so beantworten, wie man sie früher zu Zeiten des kalten Krieges beantwortet hat. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, daß Sie das wollen. Ich glaube, wir sind uns einig, daß eine solche Antwort nicht weiterträgt: Aufrüstung um jeden Preis, kein Versuch, einer Konfrontation auszuweichen, sondern im Grunde genommen ist Konfrontation das einzige Mittel, mit solchen politischen Auffassungen fertig zu werden. - Ich glaube, das ist ein Konzept, das wir nicht wollen und das Sie nicht wollen. Es bleibt also die Frage nach dem dann gültigen Konzept übrig. Meine Damen und Herren, so leid es mir tut: Das ist das Konzept der Bundesregierung. Es gibt keine andere Möglichkeit. Das steht dahinter, wenn man immer wieder sagt: Es gibt keine Alternative zu dieser Politik. ({32}) - Wenn es eine Behauptung ist, müßten Sie jetzt den Gegenbeweis antreten und sagen: Unsere Konzeption sieht so und so aus. Nun sagen Sie aber immer nur: Im Grunde genommen verfolgen wir ja dieselbe Konzeption; nur, wir würden es besser machen. Wir würden die Fehler vermeiden, die die Regierung begangen hat. Daß das nicht glaubwürdig ist, sieht man an den Beispielen, die Sie wählen. Wenn Herr Marx z. B. in seinen Ausführungen davon spricht, daß wir, die Bundesregierung, das Prinzip des „do ut des" verlassen hätten, daß die Bundesregierung ({33}) - Ich bitte um Verzeihung! Ich habe im Moment einen Lapsus linguae begangen, der nicht unter das Prinzip Hoffnung einzurangieren ist, Herr Kollege Mertes! ({34}) Wenn Sie also sagen, daß diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen eine Politik verfolgen, die mit der Politik gleichzusetzen ist, bei der Gebiete aufgegeben worden sind - das ist doch das Beispiel Japan gewesen; das ist das, was Herr Marx ausdrücklich gesagt hat -, so wird daran deutlich, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen dem, was Sie als Entspannungspolitik verstehen, und dem, was wir als Entspannungspolitik verstehen, besteht. Sie kritisieren gar nicht nur die Fehler der Regierung, was natürlich Ihr gutes Recht wäre, sondern Sie wollen eine andere Entspannungspolitik, die sich aber im Ergebnis als Nicht-Entspannungspolitik herausstellen würde. ({35}) - Ja, sicherlich! ({36}) - Herr Marx! Wenn wir beide uns mit Kommunisten vergleichen, gebe ich Ihnen zu: Wir beide sind uns näher, als jeder von uns einem Kommunisten nahe ist. Das unterscheidet mich beispielsweise von Herrn Filbinger. Herr Filbinger würde diese Unterscheidung nicht so machen. ({37}) - Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Jäger: Ich habe mich damals, als Herr Brandt das Wort vom „SicherDr. Bangemann heitsrisiko" mit Bezug auf Sie gebrauchte, öffentlich dagegen gewandt und habe erklärt: In einer demokratischen Auseinandersetzung, auch in einem Wahlkampf, wo es sicherlich manchmal hart zugeht, kann man sachlich unterschiedlicher Meinung sein. Es muß auch einmal zu einer Konfrontation kommen, wie es der Bundeskanzler heute hier gesagt hat. Aber dieses Wort ging über die Grenzen einer demokratischen Auseinandersetzung auch in einem Wahlkampf hinaus. Ich muß Ihnen nun aber genauso sagen: Was Herr Filbinger uns in Baden-Württemberg vorwirft, nämlich daß es um die Alternative freiheitlicher Staat - diesen vertrete die CDU und sozialistische Gesellschaft - diese verträten die SPD und die FDP; die FDP bewege sich sogar vom Boden der Demokratie fort -, gehe genauso über die Grenzen einer fairen Auseinandersetzung hinaus. ({38})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja!

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bangemann, wäre es Ihnen möglich, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Ministerpräsident von Baden-Württemberg keineswegs die Koalitionsparteien mit dem Weg zum Sozialismus gleichgesetzt hat, sondern daß er mit diesem Vergleich die Gefahr aufgezeigt hat, die droht, wenn weiterhin - auch in Baden-Württemberg - eine solche Koalition regierte, die Gefahr, daß wir also eines Tages dann dort landen, wo die einzige Alternative und der einzige Ausweg dieser Weg zum Sozialismus ist? ({0})

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Jäger, ich kann Ihnen das leider nicht bestätigen, denn es gab einen Satz in dem Wahlmanifest der CDU für den Parteitag in Sindelfingen, der hieß: Es geht in diesem Landtagswahlkampf um die Alternative „freiheitlicher Staat" oder „sozialistische Gesellschaft". Sie wissen ganz genau, daß an der Auseinandersetzung in Baden-Württemberg die FDP beteiligt ist! Wir lassen uns nicht in diese Alternative hineinzwingen! Das ist es, was ich Ihnen als Unfairneß vorwerfe. ({0})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Kollege Bangemann, Herr Abgeordneter Gallus bittet Sie um eine Zwischenfrage.

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte!

Georg Gallus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000628, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Bangemann, können Sie mir bestätigen, daß - die Opposition hat hier von einer Gefahr gesprochen - diese Gefahr sechs Jahre lang - von 1966 bis 1972 - viel größer gewesen ist, als die CDU in Baden-Württemberg mit der SPD regiert hat? ({0})

Dr. Martin Bangemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000089, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bestätige solche Gefahren nicht. Die Große Koalition ist sicherlich eine Koalition, die manche Mängel hat. Aber den Mangel, Herr Kollege, lieber Freund Schorsch Gallus, daß man sich bei ihr von den demokratischen Grundlagen entfernt habe, kann ich Ihnen nicht bestätigen. Das werde ich auch nicht tun. Ich werde Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Wenn wir zu einer Auseinandersetzung auf gemeinsamer Basis finden wollen, dann müssen sich alle Beteiligten so verhalten; dann darf niemand dem anderen demokratische Glaubwürdigkeit absprechen. Das ist das Problem aller Wahlkämpfe, vor dem wir immer wieder stehen werden. Ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, die CDU/CSU oder sonst irgend eine Gruppierung, die in diesem Hause hier vertreten ist, als undemokratische Partei zu bezeichnen. ich habe sogar schon im Wahlkampf in Baden-Württemberg öffentlich dazu aufgefordert, daß möglichst viele Leute CDU wählen sollten, ({0}) denn wir brauchen im nächsten Landtag eine starke Opposition. ({1}) Meine Damen und Herren, ich möchte hier einen Gesichtspunkt einführen, der nach meiner Meinung in der Debatte bisher zu kurz gekommen ist, obwohl angesichts dieser komplizierten äußeren Situation und auch der inneren Schwierigkeiten, die Demokratien ohne jeden Zweifel in der Welt heute haben, von großer Bedeutung ist. Die Demokratien sind in der Minderheit. Die Demokratien sind immer in der Gefahr das sieht man in vielen anderen Ländern, in Indien beispielsweise , auf Grund plötzlicher Ereignisse nicht mehr vorhanden zu sein, weil Menschen glauben, einem plötzlichen Ereignis, einer plötzlichen Notlage nur dadurch begegnen zu können, daß sie zu totalitären Strukturen ihre Zuflucht nehmen. Das ist eine große Gefahr für Demokratien. ({2}) - Ich rede jetzt von mir und nicht von Herrn Bahr, und ich rede auch für die FDP und nicht für die SPD! Diese Gefahr für die Demokratie wird nur zu bestehen sein, wenn die Demokratien in Europa das Ideal dieser Staatsform, das ja in Europa entstanden ist, auch in ihrer alltäglichen Praxis zu stärkerer Kraft und Wirksamkeit, auch zu mehr Selbstbewußtsein bringen. Meine Damen und Herren; was wir manchmal in den Vereinten Nationen erleben, ist ein mangelndes Selbstbewußtsein der westlichen Demokratien gegenüber Ländern, die weiß Gott keinen Anlaß haben, uns Vorwürfe zu machen, was Menschlichkeit und demokratische Rechte angeht. ({3}) Hier verstehe ich Ihren Beifall als Beifall auch unserem Außenminister gegenüber, der in seiner Rede vor den Vereinten Nationen diese Haltung, dieses Selbstbewußtsein eines Demokraten, glaube ich, eindrucksvoll dargetan und unter Beweis gestellt hat. ({4}) - Vielleicht ist es so: Es liegt nicht daran, daß er es nicht immer tut, sondern es liegt daran, daß Sie ihn manchmal anders beurteilen als zu guten Zeiten. Manchmal haben Sie gute Tage, dann beurteilen Sie ihn völlig richtig, aber dann trübt eine schlechte Laune Ihren Blick wieder, und Sie können das nicht richtig beurteilen, was Herr Genscher macht.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben wir denn heute einen guten oder schlechten Tag?) Meine Damen und Herren, zum Selbstbewußtsein und zur Stärkung der westlichen Demokratien gehört der Zusammenschluß Europas. Wir müssen uns darüber völlig im klaren sein, daß dieser nicht nur eine Frage der Rohstoffversorgung, nicht nur eine Frage größeren Wohlstandes oder eines Zusammenschlusses der Größe wegen ist. Es gibt ja Menschen, die auch von der Größe fasziniert sind. Wir haben es hier mit einer Frage des Überlebens der Demokratien in Europa und damit in der Welt zu tun. ({0}) Deswegen bitte ich Sie, diesen Gesichtspunkt in dieser Debatte nicht aus den Augen zu verlieren, der sowohl in den Ausführungen des Bundeskanzlers als auch insbesondere in den Ausführungen des Bundesaußenministers zum Ausdruck gekommen ist. Ich glaube, in diesem Punkt werden wir uns vielleicht im Vergleich unserer Regierung mit anderen europäischen Regierungen sogar einigen können, denn unserer Regierung, der Regierung insgesamt wie auch dem Außenminister persönlich, wird man eines bestätigen können, nämlich daß sie sich im Prinzip um diesen Zusammenschluß Europas bemüht hat, daß sie nicht den nationalen Egoismus gepflogen hat, der bei manchen anderen europäischen Regierungen leider immer wieder festgestellt werden muß. Hier gibt es einen Impetus, der von der Bundesrepublik und dieser Regierung ausgegangen ist, und der in die richtige Richtung weist. Dazu wird es notwendig sein, daß wir dieses Europa auch mit Inhalten erfüllen, die eine Demokratie ausmachen. Dieses Europa darf kein Europa allein der Wirtschaft und einer gemeinsamen Währung sein, so wichtig das auch ist. Es muß ein Europa einer gemeinsamen Verfassung sein, in der die Grundrechte für jeden europäischen Bürger in der gleichen Weise gelten wie in den nationalen Mitgliedstaaten. ({1}) Es muß ein demokratisches Europa werden, und deswegen müssen wir uns so für die Direktwahl des Europäischen Parlaments einsetzen. Es muß - ich sage das im besonderen den Kollegen, die das vielleicht mehr aus dem Blickwinkel unseres Parlaments sehen werden - in Zukunft auch um mehr Kompetenzen dieses Parlaments gehen. ({2}) Diese Kompetenzen dürfen nicht nur vom Ministerrat geholt werden, sondern sie werden auch, liebe Kollegen - lassen Sie mich das deutlich sagen -, einen Verzicht unseres Hauses auf Kompetenzen bedeuten. Ich hoffe, daß unser Haus die Bedeutung dieser Idee so einschätzt, daß es nicht dem Egoismus einer nationalen Kompetenz folgt, sondern daß es bereit ist, diese Kompetenzen an das Europäische Parlament abzugeben. ({3}) Lassen Sie mich zum Schluß zu dem Begriff der Nation noch etwas sagen, das auch im Zusammenhang mit diesem europäischen Gedanken steht. Herr Professor Carstens hat darauf abgehoben, als er sagte, dieses Europa könne ja nicht entstehen, wenn man nicht die nationalen Besonderheiten in es hineintrüge, sie in diesem Europa wirksam werden lasse. Das ist richtig. Nur muß man auch die Grenzen dieses nationalen Gedankens erkennen. Was hat den nationalen Gedanken, der in seiner Entstehung einmal emanzipatorisch, liberal in einem guten Sinne war, politisch so diskreditiert? Was hat ihn lange Zeit für die Entwicklung humaner Demokratien gefährlich werden lassen? Es war die nationalstaatliche Struktur, die man diesem Gedanken übergestülpt hat. Die Nation, meine Damen und Herren, ist nicht. an Grenzen gebunden. Die Nation ist nicht an eine staatliche Verfassung gebunden. Wer könnte das eher und besser sagen als wir, die wir als eine Nation in getrennten Staaten, getrennt durch Grenzen leben? Der Gedanke der deutschen Nation ist in dem Moment wieder kraftvoll geworden und hat sich von seinen geschichtlichen Fehlern befreit, als wir alle erkannt haben, daß Nation und Nationalstaatlichkeit unterschiedliche Dinge sind, daß eine Nation auch dann leben kann, wenn sie sich in einem Staatsgebilde befindet, das nicht ihre volle Weite ausmacht, das Begrenzungen aufzeigt, die man als Nation nicht zu akzeptieren geneigt ist und auch nicht akzeptieren muß. Dasselbe gilt für Europa in einem umgekehrten positiven Sinne. Wir müssen nationale Eigenheiten, die Kultur, die wir alle repräsentieren, in unterschiedlichen Ausformungen in dieses Europa einbringen, ohne dabei enge nationale Grenzen aufrechtzuerhalten. Wir dürfen uns in Europa als Deutsche fühlen, und wir müssen unsere deutschen Traditionen, unsere deutschen Werte einführen, aber in dem Bewußtsein, die Grenzen, die damit gleichzeitig gesetzt sind, auch zu überschreiten. Das heißt, wir müssen zu einem kulturellen Miteinander kommen, das dieses Europa zu mehr macht als zu einer Addition von Nationalstaaten. Wenn wir nur zusammenfügten, was wir in Europa an nationalen Eigenheiten und kulturellen Gütern haben, kämen wir zu einem Gebilde, das dann nur als staatliche Struktur, aber nicht als eigene europäische Kultur und damit als eigene europäische Nation existiert. Deswegen wird von uns verlangt, daß wir unsere Traditionen einbringen. Dazu gehört auch der Gedanke der Freiheit, der in Deutschland wie auch in anderen Mitgliedsländern seine Tradition hat. Aber lassen Sie mich auch das in aller Offenheit sagen: Wir müssen dabei auch erkennen, daß diese Tradition der Freiheit, die Deutsche für sich in Anspruch nehmen können, natürlich auch durch viele geschichtliche Erfahrungen belastet ist, die wir und andere mit uns gemacht haben und die diesem Ideal nicht entsprochen haben. Wir sollten also nicht übermütig werden. Auch andere Nationen haben das Ideal der Freiheit - zum Teil in Revolutionen - erkämpft, bei denen wir eher ein Bild der Zerrissenheit, nicht ein Bild der Aktion geboten haben. Deswegen sollten wir uns nicht - und so habe ich Sie auch nicht verstanden - auf das hohe Roß setzen, nicht glauben, daß wir mit dieser Tradition der Freiheit die einzigen in Europa wären. Wir sind viele unter vielen Europäern, die die gleiche Tradition haben. Das, meine Damen und Herren, macht den Wert dieses europäischen Gedankens aus. Wenn die Bundesregierung auf diesem Wege fortfährt, dann wird sie uns Jahr für Jahr den Bericht zur Lage der Nation vorlegen können, und wir werden ihr in der Diskussion auf diesem Wege folgen können, werden sie zu den Erfolgen beglückwünschen und werden sie alle in diesem Gedanken unterstützen. Ich meine, wenn das eines der Ergebnisse einer solchen Debatte wäre, die man vielleicht außerhalb des Wahlkampfgetöses vermerken könnte, dann wäre das schon sehr viel für uns alle. ({4})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Abelein ({0}).

Prof. Dr. Manfred Abelein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000001, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt fast 18 Uhr, und erst der dritte Redner der Opposition hat Gelegenheit, das Wort zu nehmen. ({0}) Das ist ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie, das Regierung und Koalitionsparteien hier demonstrieren, lassen Sie sich das einmal sehr deutlich sagen. Im übrigen, Herr Bangemann, ist Ihre Theorie von Parlamentarismus, die Sie in diesem Zusammenhang eingangs demonstriert haben, von vorgestern. Sie sind doch kein Gesprächspartner der Regierung, das ist doch zum Lachen! Sie und die Regierung sind eine Gruppe, und wir sind eine andere Gruppe. Das entspricht im übrigen auch dem modernen Verständnis einer parlamentarischen Demokratie. Jedenfalls müßte daraus für den Ablauf einer solchen Debatte der Schluß gezogen werden, daß die Opposition auch zeitlich einen anderen Anteil hat, als sie ihn heute bekam; Sie demonstrieren doch überdeutlich, daß Sie einen Block bilden, meinetwegen einen demokratischen Block. Über dieses Adjektiv ist nicht zu streiten. Meine Herren von der FDP, so interessant sind Sie nun auch wieder nicht! Sie kommen mir vor wie eine Dame, die mit einem neuen Liebhaber flirtet, um sich dem alten Partner interessant zu machen. ({1}) Der Sprecher der FDP, der werte Kollege Hoppe, stellte zum Schluß seiner Ausführungen die dramatische Frage, und Herr Mattick hat sie dann sinngemäß wiederholt: Was wäre, wenn die CDU/CSU Gelegenheit gehabt hätte, ihre Politik zu praktizieren? ({2}) Dann stünde es besser um Deutschland, und zwar auf allen Gebieten! ({3}) Sie, lieber Herr Wehner, ({4}) haben es für nötig befunden, Herrn Carstens vorzuwerfen, er sei im Grunde ja nur ein Exekutor, ein Ausführender dessen, was ein anderer ausdenkt und plant. - Übertragen Sie doch nicht Ihre Probleme auf unsere Partei. ({5}) Wir wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen Ausführenden oder Machern, Macherkanzlern und Kanzlermachern. Die sitzen auf völlig verschiedenen Bänken bei Ihnen. ({6}) Der eine ist die Galionsfigur, zwar imponierend anzusehen - das sieht man ja auch sonst in Museen -, aber wir wissen es alle: niemand kommt auf die Idee, die muskulösen Galionsfiguren als die Steuerleute anzusehen; die sind doch nur vorne an den Bug des Schiffes genagelt, aber der Steuermann sitzt ganz anderswo. So ist Ihre Situation. Mit der unseren hat sie nichts zu tun. Sie wissen auch ganz genau, wen ich namentlich damit meine. ({7}) Eine Zeitlang haben auch wir geglaubt, meine Damen und Herren, Helmut Schmidt würde auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik - darauf möchte ich die Debatte konzentrieren; Sie versuchen ja sehr sorgsam gerade von diesem für Sie unangenehmen Thema in eine Feld-, Wald- und Wiesendebatte abzuleiten, das ist typisch für Ihr Verständnis von der Lage der Nation -, wir haben also geglaubt, unter Helmut Schmidt würde eine nüch15158 ternere und realistischere Politik betrieben werden. Aber wir haben uns sehr getäuscht. Wir haben geglaubt, es würden wenigstens clic wirtschaftlichen und finanziellen Mittel deutlicher und entschiedener eingesetzt werden für Zwecke der Deutschlandpolitik und der deutschen Nation. Aber davon ist leider nicht sehr viel übriggeblieben. Im Gegenteil, noch nie wurde auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik das Geld in einer derartigen Weise ohne eine entsprechende Gegenleistung aus dem „östlichen Fenster" hinausgeworfen wie unter diesem Bundeskanzler. ({8}) Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas zur Entstehungsgeschichte dieser Deutschlandpolitik sagen. Ich will es sehr kurz machen, denn es ist schon genügend darüber gesprochen worden. ({9}) Bahr meinte einmal, die politische Vokabel Ostpolitik werde auf der ganzen Welt als gleichbedeutend mit der Zuversicht verstanden, daß jahrzehntelange Gegensätze ausgeglichen werden, daß Menschen wieder zueinanderkommen und daß Gewalt aus den Beziehungen der Staaten verbannt werden könnte. ({10}) Das entspricht vielleicht den Erwartungen dieser Bundesregierung, aber in der Zwischenzeit ist die Vokabel Ostpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung zu einem Synonym für verfehlten Verhandlungsstil, getäuschte Hoffnungen und geplatzte Illusionen geworden. ({11}) Im übrigen ist das bezeichnend für den Stil, mit dem der gegenwärtige Bundeskanzler die Deutschlandpolitik betreibt, was er uns heute in dieser Debatte demonstriert hat, als er davon sprach, es handele sich um einen „überholten Alleinvertretungsanspruch". Hier distanziert er sich sehr eindeutig von Dokumenten und Beschlüssen, die dieser Bundestag noch vor wenigen Jahren gemeinsam getragen hat, und er stellt sich hier letztlich auch in einen Gegensatz zu so wichtigen Rechtsdokumenten wie der Londoner Schlußakte und dem Deutschland-Vertrag, in dem die westlichen Alliierten sehr deutlich gegenüber der deutschen Alleinvertretung in die Pflicht genommen sind. Ein solcher Stil, wie er hier von diesem Bundeskanzler demonstriert wurde, ist an Leichtfertigkeit kaum zu überbieten, denn zusätzlich zu den finanziellen Leistungen verschleudert er auch noch die letzten politischen Positionen, die wir in den Händen haben. ({12}) Begonnen hat diese Deutschlandpolitik - es wurde heute schon einmal geschildert - mit Gesprächen von Mitgliedern der SPD mit Kommunisten Italiens und der SED. Das heißt, am Anfang der neuen Deutschlandpolitik standen so etwas wie Volksfrontverhandlungen, woraus sich ergibt, daß die neuerdings geäußerten Neigungen Brandts in dieser Richtung keineswegs neu und sehr ernst zu nehmen sind. Verwunderlich bei diesen Gesprächen war eigentlich nur, daß Herbert Wehner damals nicht schon dabei war, dessen Spezialität doch sonst Auftritte und Aufträge im Ausland sind. Aber man kann davon ausgehen, daß er die Fäden im Hintergrund in der Hand hatte. ({13}) Damals haben Sie im Grunde bereits die wesentlichen Grundsätze Ihrer neuen Deutschlandpolitik ausgemacht, nämlich Anerkennung einer gleichberechtigten DDR als eines zweiten deutschen Staates, Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen in Europa und damit Anerkennung der völkerrechtswidrigen sowjetischen Annexionen durch Staaten Osteuropas in der Form einer Vorleistung auf einen noch nicht abgeschlossenen Friedensvertrag, und drittens haben Sie damals die Wiederzulassung der Kommunistischen Partei mit abgemacht. Das Ganze vollzog sich in für Sie typischen konspirativen Formen, ({14}) die uns leider auch für die Zukunft nichts Gutes versprechen. Sie haben sich allerdings nicht getraut, dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit diese Dinge klarzustellen. Noch im September 1968, als diese Dinge bei Ihnen bereits liefen, haben Sie einen Beschluß des Bundestages mit getragen, in dem es hieß: Die Anerkennung des anderen Teils Deutschland als zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht. ({15}) Darin lag eine bewußte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit, ({16}) die dann nach den Wahlen im Jahre 1969 korrigiert wurde, als Sie genau das vollzogen haben, was nicht zu vollziehen Sie vorher in der ersten Regierungserklärung Willy Brandts beschlossen hatten. ({17}) Noch einmal zurück, um die Herkunft sehr deutlich zu machen: Das ganze Vertragswerk und der Inhalt Ihrer sogenannten Ostverträge und des Grundlagenvertrages, die in einem großen Zusammenhang zu sehen sind, sind dann letztlich im Bahr-Papier niedergelegt, das von Hause aus ein Gromyko-Papier ist ({18}) und das dann dadurch, daß Herr Bahr es entgegennahm, zum Bahr-Papier wurde. ({19}) Es zeigt sehr deutlich, wessen Interessenlage letztlich den Inhalt dieser neuen Deutschlandpolitik diktiert hat. Es war eine formelreiche und folgenreiche Deutschlandpolitik: vom Gegeneinander zum Nebeneinander, zum Miteinander, Wechsel durch Annäherung. Ich gebe zu: In dem Erfinden neuer, auch einprägsamer Formeln sind Sie auch für uns fast unerreichbare Meister. Auf diesem Gebiet können wir von Ihnen einiges lernen. Der Grundlagenvertrag sollte den Interessen der Menschen in weiten Teilen Deutschlands dienen. Ich führe jetzt einmal auf, was Sie versprochen haben und was nachher daraus geworden ist; denn was hier von dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und den übrigen Rednern der Koalition betrieben wurde, sofern sie überhaupt zu diesem Thema gesprochen haben, war reine Schönfärberei, war genau dasselbe, was in diesem Kalender „Blick in die DDR" beschrieben wurde. Die Bundesregierung als Kalendermacher macht natürlich nur Kalender in ihrem Sinne, in dem die deutschen Realitäten in keiner Weise objektiv angesprochen sind. Ich möchte einen Augenblick bei diesem Kalender verweilen. Ein Kalender „Blick in die DDR" sollte doch eigentlich das Typische eines Staates oder einer Gegend erfassen. Man erwartet von einem Kalender über Paris, daß er natürlich den Eiffelturm darstellt; denn den gibt es nur einmal, nämlich in Paris. Und in Deutschland gibt es Mauer, Stacheldraht, Zaun, Morde entlang der Mauer! ({20}) Das ist einmalig auf der ganzen Welt, und das sollte in einem solchen Kalender ebenfalls gezeigt werden. ({21}) - Es ist Ihnen unangenehm, Herr Wehner, diese Dinge zu zeigen, weil das deutliche Demonstrationen dafür sind, daß Ihre meinetwegen gutwillig begonnene Deutschlandpolitik letztlich zu keinen guten Ergebnissen geführt hat. ({22}) - Wer hier zum Arzt soll und zu welchem Arzt, Herr Wehner, das mögen die Kliniker entscheiden. ({23}) Der Pathetiker Brandt rief im Mai 1970 ekstatisch, daß durch die neue Politik „die Schlacken der alten Epoche abgeworfen und die Konturen für eine neue festgelegt werden" sollten. Niedergeschlagen - es gibt Dokumente genug hat sich dann das Bündel Ihrer Erwartungen und Versprechungen in den sogenannten Kasseler Punkten. ({24}) Danach sollten zwischen den beiden Staaten hauptsächlich die Voraussetzungen für den Zusammenhalt der deutschen Nation vereinbart werden. Die Menschenrechte in Deutschland sollten realisiert und alle Handlungen unterlassen werden, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker und der beiden Staaten in Deutschland zu stören. Alle Angehörigen der beiden Staaten sollten - vertraglich gesichert - zu einer einzigen Nation gehören. Freizügigkeit zwischen den beiden deutschen Staaten sollte erreicht werden. Die Grenze sollte durchlässiger, das Morden entlang von Mauer und Stacheldraht abgebaut werden. Bahr erklärte nahezu wörtlich, man werde in einigen Jahren feststellen, daß der Abschluß des Grundlagenvertrags der Anfang vom Ende des Schießens entlang der innerdeutschen Grenze sei. ({25}) Was steht nun - das ist die Frage, die heute behandelt werden muß - den Programmen und Versprechungen dieser Bundesregierung an erzielten Leistungen auf dem Gebiet der Deutschland- und Ostpolitik gegenüber? Was ist denn tatsächlich erreicht worden? Zuerst einmal ist die DDR als zweiter deutscher Staat aufgewertet worden. Während bis dahin die Bundesrepublik Deutschland Deutschland und die Deutschen international allein vertreten hat und ihr Alleinvertretungsrecht auf der ganzen Welt anerkannt war - mit Ausnahme von etwa 14 Staaten inklusive aller Ostblockstaaten -, sind jetzt zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden in der UNO. Sie vertreten Deutschland. Und zwei sind mehr als ein. Selbst mit dem kleinen Einmaleins auch der Politik kann man darin keinen Schritt hin zur deutschen Einheit entdecken. Damit hat die Bundesregierung - insofern kommt ihr eine gewisse Originalität zu - tatsächlich eine neue Entwicklung eingeleitet, aber eine unheilvolle. Ich werde nachher noch davon reden: In irgendeiner auch nur angenäherten Kontinuität zu der Außenpolitik Adenauers steht diese Bundesregierung nie und niemals. ({26}) Im übrigen zeigt sich an dieser Unterstützung, die vorangegangene Bundesregierungen für ihre Deutschlandpolitik gefunden haben, auch, daß wir durchaus in Übereinstimmung mit dem großen Teil der Staatenwelt handelten - was ich bei Ihnen jetzt schon und in naher Zukunft sehr bezweifle. Ich bin mir durchaus im unklaren, ob das Liebäugeln Ihres Vorsitzenden mit gewissen Tendenzen zu Volksfrontallianzen nicht eventuell geeignet ist, das Mißtrauen des Auslandes, besonders des westlichen Auslandes gegenüber Ihrer Art von Deutschland- und Ostpolitik noch erheblich zu stärken. ({27}) Messen wir die Bundesregierung an ihren eigenen Versprechungen, an ihren eigenen Maßstäben! Wir bemühen uns um Objektivität. Die Union schätzt Verbesserungen des Verkehrs auf den Transitstraßen und Eisenbahnstrecken, die Möglichkeiten von Besucherreisen, die Ausweitung des Post- und Telefonverkehrs nicht gering ein. Aber Sie müssen bitte auch die Schattenseiten anführen: Die Viel15160 zahl von Tausenden, aufgehaltenen Postsendungen. Wenn Sie jetzt ein Abkommen auf diesem Gebiet ankündigen, werden wir bald sehen - wir sind sehr gespannt -, was Sie an tatsächlichen Verbesserungen gegenüber der bisherigen Situation erreichten. Aber eines muß angemerkt werden: Die Zahl der Telefongespräche ist sicher nicht der entscheidende Maßstab für die Einheit einer Nation. Sie haben horrende Gegenleistungen erbracht. Sie haben nahezu alle politischen Positionen, die die Bundesregierung besaß, aus der Hand gegeben, internationale Anerkennung, Mitgliedschaft in der UNO, Alleinvertretung durch die einzige demokratisch legitimierte Regierung in Deutschland, Deutschland als Ganzes. Welchen Stellenwert diese wichtige Position hat, hat in einer überdeutlich deprimierenden Art Bundeskanzler Helmut Schmidt bei seinen Ausführungen über die „überholte Alleinvertretung" heute gezeigt. Die Bundesregierung hat die politischen Forderungen der DDR in vollem Ausmaß erfüllt. Nach der Weggabe der politischen Positionen folgt jetzt unter Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Politik der finanziellen Verschwendung. Stellt man die finanziellen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an die DDR in Zusammenhang mit den letzten Verkehrsvereinbarungen, so zeigen sich die angeblichen Erfolge in einem ganz anderen Licht. Für Arbeiten an der Autobahn an verschiedenen Stücken bezahlt sie 260 Millionen DM. Sie haben es nicht durchgesetzt, die deutsche Bauindustrie, der es in der Bundesrepublik Deutschland fürwahr nicht gut geht, wenigstens teilweise an diesen Bauten zu beteiligen. Die sogenannte Transitkostenpauschale - man kann das nicht deutlich genug sagen - ist auf 400 Millionen DM angehoben worden, und Sie machen noch einen Erfolg daraus, hauptsächlich deswegen, weil die DDR 600 Millionen DM gefordert hat und Sie „nur" 400 Millionen DM gezahlt haben. ({28}) Zu einer Zeit, da die Bundesregierung sich anschickt, einen großen Teil des Streckennetzes der Bundesbahn im Wege der „Verbesserung der Lebensqualität" in der Bundesrepublik Deutschland abzubauen, wo sie um jeden Kilometer Autobahn in der Bundesrepublik Deutschland aus Gründen des Sparprogramms feilscht, zeigt sie eine unerwartete Großzügigkeit in Richtung östlicher Regierungen. Ich finde das Beispiel mit der Saale-Brücke sehr gut. Die Saale-Brücke hat damals 9 Millionen DM gekostet. Man wußte ganz genau, wofür dieser Betrag verwandt wurde, und Sie bezahlen jetzt jährlich 400 Millionen DM und wissen überhaupt nicht, wofür dieser Betrag verwandt wird. ({29}) Es ist Ihnen nicht gelungen, durchzusetzen, daß Sie auch nur einen Verwendungsnachweis für diese jährlich zu bezahlenden Riesensummen erhalten. Leider ist nicht auszuschließen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Geldes wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückfließt zur Finanzierung kommunistischer Gruppen für die Arbeit gegen diesen Staat. Man fühlt sich in einer makabren Weise an Lenin erinnert, der meinte, die Kapitalisten lieferten selbst den Strick, mit dem sie nachher erhängt werden. Das ist das Licht, in dem sich Ihre Deutschland- und Ostpolitik zeigt. ({30}) Die finanziellen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland haben in der Zwischenzeit ein Ausmaß erreicht, das - wenn man alles zusammenrechnet - Milliardenbeträge ausmacht. Gemessen an Leistung und Gegenleistung zeigt sich, daß Ihre Politik in keiner Weise zu einem angemessenen Ergebnis geführt hat. Für diese Gegenleistungen kann auch ein politischer Stümper diese Ergebnisse in jeder Apotheke kaufen. ({31}) Ihre Gründe für diese finanzielle Großzügigkeit und die von Helmut Schmidt, von dem ich nicht glaube, daß er eine allzu tiefe innere Beziehung zu diesem Thema hat, liegen wahrscheinlich darin, daß Sie glauben, mit viel Geld wenigstens kurzfristig vorübergehend bis zum nächsten Bundestagswahltermin eine zu schroffe Haltung Ihrer osteuropäischen sozialistischen Gesprächspartner vermeiden zu können, ({32}) und auf diese Weise gegenüber der deutschen Bevölkerung noch einmal die kurzfristige Illusion einer angeblich doch nicht völlig erfolglosen Deutschland-und Ostpolitik erwecken. ({33}) Die Grenzanlagen, die mitten durch Deutschland führen, sind doch durch diese Politik keineswegs - wie Sie versprochen haben - durchlässiger gemacht oder abgebaut worden. Die Versprechung Willi Brandts, die neue Deutschlandpolitik werde zur Überwindung innerdeutscher Grenzverhaue und Mauern beitragen, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, die Lage hat sich seit 1969 entschieden verschlechtert. Das zeigen doch alle Berichte des Bundesgrenzschutzes ({34}) oder der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter, die Sie allerdings nur vertraulich behandeln und die Sie nicht einmal dem Parlament zugänglich machen, was nicht dafür spricht, daß Sie bei dieser Sache ein gutes Gewissen hätten oder gar selbst an die hier verbreiteten und verkauften angeblichen Erfolge Ihrer Deutschland- und Ostpolitik glaubten. ({35}) Die innerdeutschen Grenzbefestigungen wurden in der Zwischenzeit ausgebaut. Ein perfektes System der Grenzsicherung und Abgrenzung der beiden deutschen Staaten wurde aufgebaut, bestehend aus doppeltem Stacheldrahtzaun, Metallgitter, SchutzDr. Abelein streifenzaun, Kraftfahrzeugsperrgräben, Kolonnenwagen, Lichtsperren, Erdbunker, Beobachtungstürme, Hundelaufanlagen, alles ist großenteils nach Beginn Ihrer neuen Deutschlandpolitik, die das doch alles beseitigen sollte, aufgebaut worden. In der Zwischenzeit sind an der Zonengrenze über 11/2 Millionen Minen verlegt worden. Das heißt auf je zehn Bewohner der DDR kommt eine Mine. Das zeigt, wie teuer jeder Einwohner der DDR ist. Es handelt sich hier um das größte Minenfeld der ganzen Welt. Fürwahr, ein trauriger deutscher Rekord, auch wenn er nicht in Ihrem Kalender „Blick in die DDR" steht. Denn diese Dinge wollen Sie der deutschen Öffentlichkeit ja gern unterschlagen. In der Zwischenzeit sind die technischen Einrichtungen modernisiert worden. Der wiederholte Hinweis dieser Bundesregierung, der Schießbefehl werde nicht mehr so streng praktiziert, hat eine grausam makabre Bestätigung dadurch erfahren, daß das Morden entlang der innerdeutschen Grenze in der Zwischenzeit automatisiert worden ist. Der technische Fortschritt in Deutschland hat sich den modernsten automatischen Selbstschußanlagen zugewandt. Es gibt nichts Moderneres als die Mordanlage des Typs SM 70. Die Erstellung der Grenzsicherungsanlagen an der Zonengrenze - ohne Berücksichtigung der Mauer in Berlin - hat das SED-Regime in Ostberlin etwa 5,5 Milliarden DM gekostet, und es ist leider nicht auszuschließen, daß ein Großteil der Summen, die diese Bundesregierung bezahlt hat, für diese Zwecke - sicherlich nicht für humane Zwecke - verwendet worden ist. ({36}) Um die Jahreswende ist ein neuer Höhepunkt der Unmenschlichkeit in Deutschland durch die Zwangsadoptionen von Kindern von aus der DDR geflüchteten Eltern bekanntgeworden. Wir machen die Bundesregierung dafür sicher nicht verantwortlich. Peinlich war aber, wie sich die Bundesregierung bemüht hat, diese Dinge bis auf den heutigen Tag als belanglos herunterzuspielen und teilweise sogar noch den betroffenen Eltern die Schuld an diesen tragischen Fällen zu geben. Wenn im übrigen der Bundeskanzler sagt, man habe jetzt Anzeichen dafür, daß diese Zwangsadoptionen künftig nicht mehr vorgenommen werden sollen, so ist das ein deutlicher, in der Zwischenzeit wohl auch von der Bundesregierung selbst eingesehener Beweis dafür, daß die bisherige Leisetreterei dieser Bundesregierung nichts genützt hat, ({37}) daß man die Dinge deutlich ansprechen muß, um kommunistische Funktionäre von ihren unmenschlichen Praktiken abzubringen. Nach wie vor schmachten in den Gefängnissen der DDR Tausende von politischen Gefangenen. Sie haben sie heute mit keinem Wort erwähnt, obwohl sich darunter auch viele hundert Einwohner der Bundesrepublik Deutschland befinden. In diesen Zahlen spiegeln sich erschütternde menschliche Schicksale. Viele Kollegen dieses Hauses von allen politischen Parteien, die in Einzelfällen damit befaßt sind, können davon berichten. Wenn es irgendwo in Chile oder in Spanien zur Inhaftierung von politischen Gegnern kommt, dann hören wir aus der linken Ecke dieses Hauses laute Proteste. ({38}) Wenn aber das gleiche und noch viel Grausameres in Deutschland praktiziert wird, dann läßt das die gleichen Leute völlig kalt. ({39}) Wir wollen die Menschenrechte und ihre Realisierung überall auf der Welt, aber auch und vor allen Dingen in Deutschland, d. h. in beiden Teilen Deutschlands. Es ist erschütternd, in den Berichten und Äußerungen des Leiters der Zentralen Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen in Salzgitter einen Satz wie den folgenden zu lesen, der lautet: Es knallt praktisch jeden Tag mehrmals in den Grenzhindernissen. Mal sind es Schüsse, mal sind es Minen. Die Unfälle - auch die Todesfälle sind viel häufiger, als sie statistisch eigentlich erfaßt sind. Es handelt sich hier um eindeutige und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Es handelt sich auch um Verletzungen des Grundlagenvertrages und von Abmachungen der KSZE. Ich frage mich, wie lange sich denn die Bundesregierung noch mit Ausflüchten begnügt, bis sie endlich einmal etwas dagegen unternimmt. Der Immobilismus dieser Bundesregierung ist nicht zu überbieten. ({40}) In der Zwischenzeit hat die Bundesrepublik Deutschland eine Weltspitzenstellung in der UNO derart erreicht, daß sie den dritthöchsten Beitrag in die Kassen dieser Weltorganisation bezahlt. Aber diese Bundesregierung getraut sich nicht, ihre ureigenen Probleme, die Probleme dieses Landes und der davon betroffenen Menschen, in geeigneter Form in der UNO zur Sprache zu bringen. Sie wollten doch den Aktionsradius Ihrer Politik ausdehnen; aber Sie benutzten auch das bescheidene Instrumentarium, das Ihnen verblieben ist, überhaupt nicht. Einige meiner Kollegen werden diese Dinge noch im einzelnen darstellen. Es handelt sich noch um viele Dinge, die völlig im argen liegen, die teilweise schlechter als zuvor sind. Der Rechtsschutz für inhaftierte Einwohner der Bundesrepublik Deutschland in der DDR ist völlig unzureichend. Das Schicksal der Verhafteten bleibt lange Zeit im ungewissen. Die Herabsetzung der Altersgrenze für Besucherreisen ist nicht erreicht worden. Der Mindestumtausch ist nicht völlig rückgängig gemacht worden. Das alles sind im Grunde die Ergebnisse Ihrer Deutschland- und Ostpolitik. Von Erfolgen kann hier überhaupt keine Rede sein. In der Zwischenzeit hat natürlich auch die Bundesregierung kalte Füße bekommen. Vom missionarischen Schwung der „Gründerjahre" ist bei Ihnen nicht mehr viel zu spüren. In der Zwischenzeit geben Sie auch Erklärungen ab, die besagen, die große, weltpolitische Lage habe Sie dazu gezwungen. Das ist mehr die Haltung von Trittbrettfahrern als von kühnen Neuerern, die Sie heute zeigen. Aber auch dieses Alibi wirkt nicht sehr überzeugend. Darf ich einmal fragen, wieviel Redezeit ich noch habe? ({41})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Sie können noch einige Minuten sprechen, um zum Abschluß zu kommen, noch etwa drei bis fünf Minuten!

Prof. Dr. Manfred Abelein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000001, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dann überschlage ich das meiste, weil ich feststellen muß, daß die Opposition offensichtlich hier nicht in deutlicher Weise und ausreichend zu Wort kommen darf, was ich im übrigen sehr bedauere. Aber ich komme dann allmählich in weiteren fünf Minuten zum Abschluß meiner Ausführungen. ({0}) Eines, meine Damen und Herren, von der Bundesregierung und der Regierungskoalition, muß man Ihnen lassen: Um Einfälle sind Sie nicht leicht verlegen, vor allen Dingen dann nicht, wenn Ihnen das Wasser am Halse steht. So habe ich mitunter während der Feiern des 100jährigen Geburtstags Adenauers den Eindruck gehabt, daß Adenauer eigentlich ein SPD-Mitglied gewesen sein müßte. Dieser Trick ist Ihnen reichlich spät eingefallen. Wenn Tote lachen können, dann würde ein homerisches Gelächter von Rhöndorf her ertönen angesichts dieser Theorie, Sie stünden in der Kontinuität der Ostpolitik Konrad Adenauers. Größere Gegensätze lassen sich überhaupt nicht feststellen. Der Stil Konrad Adenauers in der Deutschlandund Ostpolitik unterschied sich diametral von dem, was diese Bundesregierung seit den ausgehenden 60er Jahren praktiziert hat. Dieser Stil ist klassisch bei den deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Jahre 1955 praktiziert worden, und zwar in außergewöhnlich schwierigen Jahren. Adenauer ließ sich weder einschüchtern noch erpressen. Er wies sogar darauf hin - und das in unmittelbarer Nähe zum Zweiten Weltkrieg -, daß nicht nur von uns in einer unseligen Phase der deutschen Geschichte Unrecht begangen wurde. Eine ähnliche Haltung haben wir bei dieser Bundesregierung bisher vergeblich erwartet. Wie lange sollen wir uns denn eigentlich noch auf die internationale Büßerbank setzen? Wie viele Generationen sollen denn noch für die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs bezahlen? Wieso bringt denn diese Bundesregierung nicht endlich einmal zum Ausdruck, daß wir zwar bereit sind, schuldhaft angerichteten Schaden zu bezahlen, daß dieses Völkerrechtsprinzip aber auch für andere gilt. ({1}) Der Stil Konrad Adenauers - um es kurz zu sagen - ist völlig verschieden von dem Ihren. Er war sich des Unterschiedes bei Verhandlungen mit demokratischen und totalitären Großmächten stets bewußt, ein Bewußtsein, das diese Bundesregierung leider niemals besaß. In dem einen Fall sind Vorleistungen möglich, im anderen Fall müssen Leistung und Gegenleistung Zug um Zug erfolgen, Grundsätze, gegen die Sie ständig verstoßen haben. Das sind die Adenauerschen Grundsätze, und das sind unsere Grundsätze auch heute. Dort liegt im Grunde unsere Alternative zu Ihrer Politik. Diese Alternative ist heute so aktuell wie zu Zeiten Adenauers. Für Konrad Adenauer war auch seine Entschlossenheit bezeichnend, sich unter gar keinen Umständen einem irgendwie gearteten Erfolgszwang oder einem selbstgeschaffenen Zeitdruck auszusetzn. Eng verbunden damit war auch der Wille, im Falle eines Risikos für die eigenen unverzichtbaren Positionen einen Abbruch der Verhandlungen ohne Rücksicht auf innenpolitische Konsequenzen oder Wahlergebnisse in Kauf zu nehmen. Darin liegt die Größe Adenauers. Deswegen war er ein Staatsmann, ein Prädikat, das doch niemand Bundeskanzlern wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt erteilen würde. Adenauer wäre nie auf die Idee gekommen, einen Vertrag, der die Grundlagen der Beziehungen der beiden Teile Deutschlands regelt, zu einem kurzfristigen Wahlkampfschlager zu machen, wie Sie es getan haben. Sie haben sich dadurch mit Sicherheit auch nicht den Respekt der östlichen Seite erworben, sondern Adenauer stand mit Sicherheit in der Wertschätzung der Sowjets sehr viel höher als Leute wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt, ({2}) obwohl er ein sehr unbequemer Verhandlungspartner war - und vielleicht gerade deswegen. ({3}) Lassen Sie mich zum Abschluß noch sagen: Wir wollen die Kooperation mit allen Staaten. Wir wollen keine Konfrontation, auch nicht mit der Sowjetunion und mit Pankow. Wir wollen menschliche Erleichterungen, aber wir wollen eine Politik betreiben, die den Menschen tatsächlich zugute kommt ({4}) und die sich durch ein angemessenes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung auszeichnet. Wir haben das letzte Mal im einzelnen viele Vorschläge hinsichtlich dessen gemacht, was man noch tun könnte. Ich möchte sie nicht wiederholen. Man darf sich bei der Deutschlandpolitik auch nicht durch eine übermäßige Eile auszeichnen, wie Sie es gemacht haben. Man muß in der Lage sein, ohne Aufgabe wesentlicher Positionen den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. ({5}) Ich bin im übrigen der Überzeugung, daß die deutsche Nation kräftiger ist als alle Bemühungen der Abgrenzung gegen die deutsche Nation durch die DDR, aber auch kräftiger als die nachlässige Handhabung der deutschen Nation durch diese Bundesregierung. Lassen Sie mich für diejenigen, die auf der anderen Seite der innerdeutschen Demarkationslinie diesen Ausführungen in diesem Bundestag vielleicht zuhören, sagen: Für uns ist die Einheit Deutschlands nach wie vor ein aktuelles Problem. Wir lassen über vieles mit uns reden, auch über das, was im Interesse des Ostens liegt. Aber wir lassen mit uns nicht über eine endgültige Teilung Deutschlands reden. ({6}) Wenn hin und wieder der Eindruck aufgekommen sein sollte, im Grunde liege uns gar nicht so sehr viel an der deutschen Einheit, dann möchte ich hier zum Schluß gerade an die Deutschen drüben in der DDR sehr deutlich sagen: Wir werden Sie nicht im Stich lassen, wir zählen Sie zu uns, auch nach unserer Rechtsordnung sind Sie Deutsche wie wir. Daran soll sich auch in Zukunft für uns nichts ändern. ({7})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höhmann ({0}).

Egon Höhmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000919, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte bei dem beginnen, was Herr Kollege Abelein zum Schluß gesagt hat, nämlich man sei gesprächsbereit nach allen Seiten, man wolle Kooperation und keine Konfrontation. Dies Ganze sah mir so aus - und der Beifall war auch wie in einem Fußballstadion -, als käme hier jener Fußballspieler, der seinem Gegenspieler zunächst einmal - bewußt unfair - kräftig gegen das Schienbein tritt, um hinterher, wenn der kampfunfähig ist, zu sagen: ich gebe Dir die Hand, es war nicht so gemeint. Das ist Konfrontation und nicht Kooperation, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({0}) wie überhaupt in der ganzen Rede ein schwarzer Faden zu sehen war. Schon die ganze Ausdrucksweise war wohl so, daß man fragen muß: Worüber reden wir eigentlich? Reden wir hier unter Demokraten, oder ist hier einer auf dem Wege, einen heiligen Glaubenskrieg zu führen - im Notfall auch gegen die Sozialdemokraten hier in diesem Hause? Wenn einer über die Deutschlandpolitik sagt, es begann mit einer bewußten Täuschung der deutschen Öffentlichkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({1}) so hat der Volksmund, lieber Herr Kollege Dr. Kunz, dafür den richtigen Ausdruck; er nennt solche Handlungsweise: das Maul wetzen. ({2}) - Warum schreien Sie eigentlich? - Diese Maulwetzereien, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind erstens der Sache nicht dienlich und zweitens - nun will ich Ihnen noch einen guten Rat geben - auch der CDU/CSU nicht dienlich. Das macht Sie und das, was Sie zur Deutschlandpolitik sagen, bei der Bevölkerung im Grunde unglaubwürdig. ({3}) - Verehrte Frau Kollegin Berger, was die Wähler sagen werden, werden wir erfahren. Wir haben es 1972 erfahren, und wir werden es am Wahltag dieses Jahres erfahren. ({4}) - Verehrte Frau Kollegin, Sie sind kein Prophet, ich bin es auch nicht, deshalb wage ich solche Prophezeiungen nicht. ({5}) Aber ich will meine Ausführungen fortsetzen. Wenn jemand sagt, es habe Kontakte und Geheimgespräche mit kommunistischen Parteien gegeben, als sei Orientierung über das Wollen anderer Parteien soviel wie ein Kontakt und soviel wie Vaterlandsverrat, so sollte das doch heißen: Im Grunde war alles mit den Kommunisten abgesprochen. Wenn jemand sagt, die Tendenz zu Volksfrontallianzen lasse sich in der Sozialdemokratischen Partei erkennen, so muß ich hier in aller Deutlichkeit feststellen: Wir weisen dies zurück. Solche Unverschämtheiten stammen eigentlich aus der Terminologie der Braunhemden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Damit diese „Volksfrontkontakte" in Deutschland einmal deutlich werden, will ich das „Neue Deutschland" vom 20. Januar 1976 zitieren. Dort schreibt man über diese Sozialdemokratische Partei - und Sie werden daran die innige Liebe erkennen, die zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in der Bundesrepublik oder in Deutschland insgesamt herrscht -: Das eben ist die Logik des revisionistischen und opportunistischen Weges, der mit Lassalle, Bernstein und Kautsky seinen Anfang nahm. Wer grundsätzliche Arbeiterforderungen preisgibt und Klassenkollaboration betreibt, kann für das werktätige Volk nicht die Macht erobern. Nicht der Sozialismus ist das Ergebnis, sondern die Erhaltung der Ausbeuterherrschaft des Monopolkapitals. So geht es weiter. Sie werden solche Äußerungen, gerichtet an die Sozialdemokratische Partei der Bundesrepublik, doch wohl nicht gerade als Freundlichkeiten oder Ansätze von Kollaboration verbreiten wollen. Zum Redestil meines Herrn Vorredners ist noch zu sagen, daß die Ausdrucksweise, der man sich hier manchmal befleißigt, ganz sicher dem Hohen Hause nicht angemessen ist, wenn es nämlich heißt: „Der Pathetiker Brandt" - so der Neurotiker Abelein - habe davon gesprochen, „die Schlacken der alten Epoche seien abgeworfen und die Konturen für eine neue festgelegt" worden. In der Tat, abgesehen davon, daß er, Herr Abelein, vom Pathetiker redet, war genau dieses die große geschichtliche Leistung des Kabinetts Brandt/Scheel. Was ansonsten hier an Querelen aufkommen mag, was angesprochen wird, was jeden Tag zu Riesenproblemen aufgebauscht wird: die meisten sind wie Seifenblasen zerplatzt. Wenn wir von Zwangsadoptionen reden, Herr Kollege Dr. Abelein - Sie unterhalten sich gerade freundlich mit Ihrem Nachbarn, Sie sollten zuhören -, dann sollte sich hier nicht jemand hinstellen und so tun, als wisse er nicht, wie es sich tatsächlich verhält, nachdem er doch im Ausschuß in allen Einzelheiten darüber belehrt worden ist. Ich hoffe, der Minister für innerdeutsche Beziehungen nimmt noch die Gelegenheit wahr, diese Einzelheiten auch dem Hohen Hause in aller Offentlichkeit mitzuteilen, damit man merkt, wie viel Krampf dahintersteckt, wie viel Krampf auch hinter dem aufgebauschten Fall Lange steckte, der angeblich irrtümlich mit seinem Motorbötchen oder Paddelbötchen in der Zone gelandet war und dort schrecklich mißhandelt wurde. ({6}) Auch dies war eine Seifenblase. Genauso war es eine Seifenblase - das wissen Sie doch sehr viel besser, Frau Kollegin - der Fall mit dem türkischen Jungen in Berlin, der klinisch tot war, bevor jemand zur Hilfe kommen konnte. Solche Dinge, aufgebauscht, tragen nicht dazu bei, in der deutschen Bevölkerung die Aufklärung zu bewirken, die notwendig ist. Wir müssen, wenn wir über die Deutschlandpolitik reden, versuchen, uns einen Vergleichsmaßstab zu schaffen. In der Deutschlandpolitik gibt es nicht solche Maßstäbe, wie wir sie in der Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik oder Finanzpolitik kennen. Dort haben wir eine Meßlatte, indem wir sagen: So steht die Bundesrepublik Deutschland da, und so sieht es in allen Staaten um uns herum aus; daran können wir ermessen, ob wir so gut sind wie die anderen, schlechter als die anderen oder besser als die anderen. In der Deutschlandpolitik kann man nur die Meßlatte aus der Politik der Bundesrepublik Deutschland anlegen, und zwar aus dem geschichtlichen Werdegang eben dieses Problems. Da müssen wir einmal genau analysieren: Wie war es denn zu Ihrer Zeit, und wie ist es zu unserer Zeit? Ich glaube, das kann wirklich als Vergleichsmaßstab dienen. Wir können dann, wenn wir uns dieses Problem einmal genau vornehmen, sagen: Da und da stehen wir, das hat sich verbessert!, oder: Das ist nichts, wir hätten am liebsten alles. Ich erinnere mich der Politik der 50er Jahre, und diejenigen, die seitdem diesem Parlament angehören, erinnern sich auch noch des berühmten Ausspruchs von Konrad Adenauer, der da lautete: Der Schlüssel zur Wiedervereinigung liegt in Moskau. Das mag im Jahre 1958 so gewesen sein. Heute, nach so vielen Jahren, betet der Kollege Dr. Abelein genau den gleichen Satz nach und meint, in der Zwischenzeit habe sich überhaupt nichts verändert, obwohl schon Adenauer damals sicher nicht recht hatte mit seiner Aussage. Herbert Wehner hatte damals auch in einer Erwiderung ganz hintersinnig gefragt: Wer hat denn den Schlüssel dort eigentlich hinterlegt? In diesen zwei Sätzen kristallisiert sich nämlich genau der Unterschied in den Auffassungen zur Deutschlandpolitik heraus. In diesen beiden Aussagen ist eben alles enthalten. Die eine Richtung versuchte, Deutschlandpolitik über die DDR hinweg, an ihr vorbei oder unter ihr hindurch allein mit Moskau zu machen. Wir wissen, wo das geendet hat. ({7}) Die andere Richtung ging davon aus, daß Deutschland- und Außenpolitik untrennbar miteinander verbunden sind. Das hat der Herr Kollege Dr. Marx ja heute auch dargestellt. Für Adenauer war die DDR ein Unstaat, und für seine beiden nächsten Nachfolger war sie ein „Gebilde", war sie ein „Phänomen", war sie alles Mögliche, nur eben nicht ein Staat. ({8}) - Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Briefe offizieller Stellen ({9}) - das wissen Sie noch, Herr Kollege Dr. Mertes -aus der DDR landeten damals in der allgemeinen Rundablage, nämlich im Papierkorb. ({10}) Ob gelesen oder ungelesen, will ich dabei völlig dahingestellt sein lassen. Damals gab es in bezug auf Verhandlungen mit der DDR überhaupt nur einen einzigen Fall. ({11}) - Jetzt werde ich ganz geschichtlich. - Das war damals, als der Finanzminister Fritz Schäffer nach Ost-Berlin reiste, dort mit einem befreundeten Armeegeneral redete und dann, als er zurückkam, hier zusammengestaucht wurde. Das war der einzige direkte Kontakt, den es gegeben hat. ({12}) Es gab damals keinen Austausch von Gedanken, es gab kein Gespräch, kein Abkommen, dafür aber Sonntagsreden, die zu nichts nutze waren. Das war die Politik des kalten Krieges. ({13}) Das war die Vergangenheit. Das ist die Meßlatte. Nun sagt der Herr Kollege Dr. Abelein:Inzwischen ist ja gar nichts geschehen, von Erfolgen kann überHöhmann haupt keine Rede sein; denn eigentlich haben wir viel mehr bezahlt, als die ganze Geschichte wert ist; wir haben so viel Geld ausgegeben, daß die Erfolge eigentlich einzig auf der Seite der DDR liegen! - So kann man es auch darstellen. Aber ich glaube, man muß einmal in allen Einzelheiten das in der Ostpolitik Erreichte darstellen. Ausgehend von der Tatsache, daß man in der Deutschlandpolitik mit allen in Frage Kommenden reden müsse, mit den Sowjets wie auch mit den Polen, um die Aussöhnung zu betreiben und mit ihnen einen Vertrag abzuschließen, wie auch mit der DDR, ist es zum deutsch-sowjetischen Vertrag und zu dem anderen großen außenpolitischen Vertragswerk, dem deutsch-polnischen Vertrag, gekommen. Und folgerichtig schlossen sich an - es wird doch niemand bestreiten, daß der nächste Vertrag eine logische Folge aus dem war, was in Moskau untereinander verabredet war - erstens das Viermächteabkommen vom 3. September 1971, - zweitens die Transitvereinbarung vom 17. und 20. Dezember 1971, - drittens der Verkehrsvertrag vom 26. Mai 1972, - viertens der Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972; dann die Folgeverträge: - fünftens Vereinbarungen über den Zahlungs- und Verrechnungsverkehr vom April 1974, - sechstens das Gesundheitsabkommen vom April 1974, - siebtens die Vereinbarungen über Schadensbekämpfung und die Reinhaltung von Grenzgewässern vom 20. September 1973, - achtens die Regelung des Grenzverlaufs in der Lübecker Bucht vom Juli 1974, - neuntens das Protokoll über Errichtung von Ständigen Vertretungen vom März 1974, - zehntens die Vereinbarungen über den Sportverkehr vom Mai 1974, - elftens die Fortentwicklung des innerdeutschen Handels, von dem auch geredet wird, wenn der Swing an der Reihe ist, als würde hier Geld verschenkt - in Wirklichkeit stimmt es gar nicht und wird genau dadurch die Öffentlichkeit irre geführt -, ({14}) zwölftens die Vereinbarungen über den Berlinverkehr und - dreizehntens das Post- und Fernmeldeabkommen. Das ist also das, was sich seitdem getan hat. Von all diesem distanziert sich die CDU. Sie sagt: Die Bundesregierung hat von allem Anfang an alles falsch angelegt. Man tut so, als gebe es Mauer und Stacheldraht, Schießbefehl und Minen erst, seitdem Sozialdemokraten und Freie Demokraten in der Bundesrepublik regieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen an der Zonengrenze und in Berlin ({15}) wissen dieses besser, denn sie haben es seit viel längerer Zeit erfahren; ({16}) sie wissen, daß wir dieses seit dem Jahre 1952 an der Zonengrenze haben. So sieht es aus! Die Menschen an der Zonengrenze wissen auch: Vorher war nichts an Kontakten mit der Bevölkerung drüben, und heute gibt es viele Vereinbarungen, die den Menschen das Leben in Deutschland erleichtern. Wenn es nicht so traurig wäre: Wir Sozialdemokraten könnten uns freuen über die Haltung der CDU/CSU oder CSU/CDU - so sieht es in der Deutschlandpolitik wohl in Wirklichkeit aus -, denn sie macht allen klar, daß die CSU/CDU mit dieser Deutschlandpolitik nichts, aber auch nichts zu tun hat und die Erfolge allein auf das Konto von Freien Demokraten und Sozialdemokraten als Koalition und das der Bundesregierung gehen. ({17}) - Lieber Herr Jäger, Sie werden doch nicht so von Herrn Springer beeinflußt sein, daß Sie nicht nur DDR, sondern auch Erfolge in Anführungszeichen setzen! ({18}) - Das ist ja zum Lachen! Das eine freut uns allerdings: Sie können nicht eine einzige Blume aus diesem großen Strauß von Verbesserungsmaßnahmen an Ihren Hut stecken! So ist es in der Tat: Die CSU/CDU hat überhaupt keinen Anteil daran. Nun das Problem: „Wir bezahlen und bekommen nichts." Der Herr Kollege Dr. Abelein hat hier so einiges wieder gesagt und hat seine Sprüche von der Apotheke losgelassen. Es sei eine riesige finanzielle Verschwendung eingetreten unter diesem Kabinett Schmidt/Genscher. Ich glaube, daß der Bundeskanzler recht hat mit seiner Frage, die er heute morgen gestellt hat: Wie kann man denn Menschenschicksale in der Weise mit Geld in Verbindung bringen, daß man sagt, es sei des Guten zuviel getan?! Wir wollen doch froh sein über jedes menschliche Schicksal, das wir erleichtern, mit welchen Mitteln auch immer. Wenn es mit Geld geschieht, ist das noch das allerbilligste Zahlungsmittel auf dieser Welt. ({19}) - Ich meine, verehrter Herr Kollege Dr. Mertes: Hier zeigt sich Krämergeist und auch Pfeffersackmentalität. ({20}) Man kann dem Kollegen Dr. Abelein eigentlich nur raten, er möge in die Apotheke gehen und dort die Dinge kaufen, die er verlangt. Wir werden jedenfalls die Politik, die wir so angelegt haben, wie ich dargestellt habe, fortführen, unbeirrt. Wir werden nicht warten bis zum Sankt-NimmerleinsTag, bis es anderen einmal gefällt, heute oder morgen sofort freie Wahlen zuzulassen, an der Wiedervereinigung Deutschlands zu arbeiten. Zu dieser „Mentalität, alles mit Geld aufzuwiegen", muß ich nun doch einmal, nachdem er hier so hoch gelobt worden ist, den Bundeskanzler Konrad Adenauer zitieren, der gesagt hat: Sie wissen so gut wie ich, daß Herr Ulbricht namens der SED es abgelehnt hat, die Erfüllung der von ihm vorgebrachten Kreditwünsche mit der Schaffung von Erleichterungen für den innerstädtischen Berliner Verkehr zu verbinden. Was war denn das für eine Politik? Hier war Geld für Erleichterung in Berlin angeboten worden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Nur, die andere Seite hat damals nicht gewollt. Wir haben auch Geld angeboten und die Beziehungen bekommen, weit über das hinaus erfüllt bekommen, was man damals überhaupt träumen konnte. ({21}) - Was heute realisiert ist, wissen wir, lieber Herr Kollege van Delden. Was Sie damals gewollt haben, wissen wir auch. Was Sie nicht erreicht haben, wissen wir auch. Wir sind nur nicht bereit, über die Zukunft große Prognosen zu geben, weil Verhandlungen nicht nur von uns abhängen. ({22}) Ich habe dieses Zitat Konrad Adenauers nicht gebracht, damit Sie sich Ihres Kanzlers erinnern und auch sehen, wie weit er damals dachte. ({23}) Ich bringe auch jetzt das Zitat von Rainer Barzel nicht, um Ihnen in Erinnerung zu bringen, was Ihnen inzwischen an Fraktionsführung verlorengegangen ist. ({24}) Er hat nämlich gesagt: Wir haben in Moskau als Preis für die Wiedervereinigung oder auch nur, um den Weg dorthin freizulegen, ökonomisch mehr und Besseres angeboten, als die SBZ leisten kann und je leisten wird. Das stammt aus einer Aussage in „Foreign Affairs" und wurde auf dem CDU-Parteitag am 22. März 1966 gesprochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so neu ist diese Geschichte also gar nicht; was hier geschieht - daß man das heute ablehnt, was damals der große Kanzler gefordert hatte -, sind meiner Meinung nach nur dialektische Bocksprünge; denn nicht immer haben Sie so geredet. Nun habe ich in der Tat den Eindruck, daß man bei Ihnen darauf aus ist, so etwas wie einen heiligen Glaubenskrieg gegen den Kommunismus aufzuziehen. Ich will dazu zwei Feststellungen treffen. -Erstens. Wir Sozialdemokraten führen keinen heiligen Glaubenskrieg, sondern wir setzen uns mit den Kommunisten politisch auseinander, und wir haben die Auseinandersetzung bisher glänzend bestanden. ({25}) - Zweitens. Noch nie hat die CSU/CDU eine Antwort auf die Frage gegeben: Wie würden Sie es denn machen? - Dann tut Sie es doch endlich einmal heute, meine Damen und Herren! ({26}) - Sie, Herr Jenninger, geraten vielmehr in die Gefahr - und das sollten Sie sich klarmachen -, bei Ihrem heiligen Glaubenskrieg gegen den Kommunismus schon dabei zu sein, mehr Unschuldige als Schuldige zusammenzureiten; denn von den 17 Millionen Deutschen - das wissen Sie ja auch sehr genau - sind etwa 2 Millionen Mitglieder der SED. ({27}) - Ob Mitläufer oder nicht, Herr Kollege Hupka, darüber will ich überhaupt nicht streiten. Ich möchte auch von Ihnen nicht behaupten, Sie seien einer, wie ich solches überhaupt von keinem Menschen dieses Hauses behaupten möchte. ({28}) - Ich hoffe, das Protokoll hat den Zwischenruf des sogenannten Abgeordneten Hupka mitbekommen. ({29})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Herr Abgeordneter Höhmann, vielleicht können Sie zu einer Klärung der Dinge beitragen. Wollen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx zulassen?

Egon Höhmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000919, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. ({0}) Herr Präsident, ich stelle hier fest - das Protokoll wird dieses erweisen -, daß der Herr Kollege Hupka zu mir gesagt hat: „Sie waren ein Nazi". ({1}) Wenn Sie sich weiterhin erregen wollen, will ich etwas '01 auf die Wogen gießen. ({2}) Ich habe dies in der Tat so verstanden, Herr Kollege Hupka. Das mag durch die Turbulenz so gekommen sein. Ich stehe nicht an, diesen Ausdruck, nachdem ich feststelle, daß Sie das nicht gesagt haben, mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückzunehmen. ({3}) Ich komme zum Thema zurück, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich hatte versucht, klarzumachen, daß es hier nicht nur darum geht, mit zwei Millionen Mitgliedern der SED zu kämpfen in einem Staat, in dem 15 Millionen Bürger politisch nicht so gebunden sind. Hier werden Sie mit allen Verträgen, die Sie eventuell einmal in ganz ferner Zukunft schließen könnten, nicht selektieren können. Man kann es nicht. Deshalb ist auch Ihr Kompaß, den Sie in deutschlandpolitischen Fragen haben, völlig durcheinander; er dreht und wendet sich wie am Nordpol. Deshalb ist in diesen Fragen auch Ihre Partei etwas durcheinander. Ich darf noch mit einem Zitat von Konrad Adenauer schließen. ({4}) - Hören Sie genau zu, weil das eine Meßlatte ist; Adenauer dreht sich nicht im Grab um und spielt auch nicht Propeller darin. Adenauer hat nämlich 1960 in einem NRZ-Interview gesagt: „In allen Dingen, die mit der Zone zusammenhängen, denke ich immer zuerst an die Menschen." - Bravo! ({5}) „Es geht mir nicht um die Grenze, sondern um die Menschen." Ich wiederhole es noch einmal, Herr Dr. Mertes: „Es geht mir nicht um die Grenze, sondern um die Menschen." ({6}) In einem anderen Interview hat er gesagt: Die Bundesregierung aber ist weiterhin bereit, alles für unsere Brüder in der Zone zu tun, und damit sind auch unsere Brüder und Schwestern in Ost-Berlin gemeint. Menschliche Überlegungen - und jetzt kommt der Clou spielen für uns eine noch größere Rolle als nationale. ({7}) So, und jetzt sage ich Ihnen: Bei Ihnen spielen juristische Überlegungen eine größere Rolle als menschliche. ({8}) Herr Kollege Jäger, Sie können nachher hochgehen und dies am Bundesverfassungsgerichtsurteil messen, weil ich weiß, daß das Ihre Spezialität ist. Vielleicht können Sie es inzwischen auch auswendig. ({9}) Soweit, daß wir über die Grenze nicht nachdenken wollten oder die nationale Frage an zweiter Stelle stünde, sind wir mit keinem Vertrag mit der DDR gegangen, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({10}) Diese Meßlatte sollte Ihnen vorgesetzt werden und Ihnen zeigen, daß wir über das hinaus wollten und gekommen sind, was Sie früher einmal angepeilt hatten. ({11}) - Lassen Sie mich zum Schluß ein Wort über die Materialien zur Lage der Nation verlieren. ({12}) - Herr Dr. Mertes, ich kann Sie hier nicht verstehen, ebenso schlecht wie Herrn Kollegen Hupka. Ich käme sonst wieder in die Verlegenheit, so vorzupreschen; es wäre mir in der Tat peinlich, wenn mir das zum zweitenmal unterliefe. Wir haben einen Antrag vorliegen, der besagt, dieses Haus möge die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974 zur Kenntnis nehmen und die Bundesregierung die Vorlage wissenschaftlich aufbereiteter Maßnahmen zum Bericht zur Lage der Nation fortführen. Wir meinen: In den bisher herausgebenen Materialien zur Lage der Nation sind die Grundlagen überhaupt gelegt worden. Wir haben einen reichhaltigen Fundus an Darstellungen des tatsächlichen, realen Lebens auf kulturellem, sozialem, staatlichem und wirtschaftlichem Gebiet von der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Wir gehen deshalb davon aus, daß die künftigen Materialien auf diesen Grundlagen aufbauen oder sie punktuell ergänzen, je nachdem, wie Zeitumstände und politische Umstände dies hergeben. Diese Interpretation darf ich auch im Namen der FDPFraktion abgeben. ({13})

Dr. Hermann Schmitt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002033

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Stauffenberg von der CDU/CSU.

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich möchte eigentlich ganz gerne auf das Thema zurückkommen, über das wir heute beraten, nämlich den Bericht, den der Herr Bundeskanzler heute morgen abgegeben hat. Aber vielleicht vorher noch ein Wort zu meinem Herrn Vorredner, dem Herrn Kollegen Höhmann. Nachdem auch Sie sich in die Reihe derer aus Ihrer Partei eingereiht haben, die versuchen, sich sozusagen mit der Feder Konrad Adenauers zu schmükken - das ist ja Mode geworden; anscheinend ist es so, daß Sie selber keine eigenen Erfolge vorweisen können und sich daher auf Konrad Adenauer berufen müssen -, kann ich nur sagen: Folgen Sie in allem Konrad Adenauer, folgen Sie in jedem Punkt Konrad Adenauer, tun Sie alles, was Konrad Adenauer getan hat! Dann müssen Sie die Politik der CDU/CSU verfolgen und müssen aus Ihrer Partei austreten. Das ist doch das Ergebnis. ({0}) Ich möchte mich zu einem anderen Argument noch gern äußern. Ich glaube, es war der Herr Bundesaußenminister, der heute darauf hingewiesen hat, daß es keine demokratische Regierung war, die die ) deutschen Ostgebiete verspielt hat; ich glaube, so ähnlich war der Ausdruck. Da gibt es überhaupt nichts zu streiten. ({1}) Aber ich möchte hier doch eines in aller Deutlichkeit sagen, weil es der Vollständigkeit halber auch zur Lage der Nation gesagt werden muß: Wenn man dies schon sagt und wenn man feststellt, daß es das Unrechtsregime des Nationalsozialismus gewesen ist, dem wir das Unglück in Europa nach dem Krieg weitgehend zu verdanken haben, ist doch, meine Damen und Herren, unabhängig von dem, was vorher gewesen ist, auch die Vertreibung aus der Heimat nach dem Krieg Unrecht. ({2}) Ich glaube, dies muß hier - nur der Vollständigkeit halber - noch einmal gesagt sein. ({3}) Es gibt hier keinen Widerspruch, keine Kontroverse; ich wollte nur um der Vollständigkeit willen auf diese Feststellung Wert legen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht, den der Herr Bundeskanzler heute morgen vorgetragen hat, war im Grunde genommen weniger ein Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland als vielmehr eine Selbstdarstellung der Bundesregierung. Natürlich ist es menschlich verständlich, daß dieser Bericht dann auch mit allen Subjektivitäten und Fehlern der Selbsteinschätzung behaftet gewesen ist. ({4}) Das Bild, das der Bundeskanzler zeichnete, mag vielleicht auch darauf abgestimmt gewesen sein, so am Anfang dieses Wahljahres in seinem Sinne oder im Sinne seiner Partei die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Aber mit der ganzen Realität in Mitteleuropa, mit der umfassenden Realität in unserer Nation ist dieses freundliche Bild höchstens teilweise zu vereinbaren. In der Innen-, Wirtschafts-, Gesellschafts-, in der Außen- und Deutschlandpolitik stehen die Bundesregierung und die sie tragende Koalition - Herr Professor Carstens hat es heute morgen so genannt vor dem Scherbenhaufen ihrer einstmals erklärten Programme. Lassen Sie mich nur auf ein Detail hinweisen, weil auch das, wie ich glaube, zu diesem Bericht gehört. Auf vier wesentlichen und grundsätzlichen Feldern sind die Koalitionsparteien und mit ihnen die Bundesregierung an die Grenze unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestoßen, erstens beim Schutz des werdenden Lebens, zweitens bei der Freiheit von Forschung und Lehre, drittens bei der Wahrung von Eigentumsrecht und Tarifautonomie - also dem Fundament unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung - und viertens bei den Grundlagen der gesamten Deutschland- und Ostpolitik. In all diesen Bereichen bedurfte es eines Richterspruches oder der Furcht vor einem Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, um die SPD und die FDP auf den Boden des Grundgesetzes zurückzurufen. ({5}) Meine Damen und Herren, all diese Verfassungskonflikte - Konflikte nicht mit irgendwelchen Verfassungsbestimmungen, sondern ganz grundsätzlicher Art - fanden allein in dieser Legislaturperiode statt. Ich glaube, man muß sich dies vergegenwärtigen, wenn man jenen Satz im Godesberger Programm liest, daß - ich glaube, ich zitiere richtig - mit dem Sozialismus die Demokratie erfüllt werde. Man muß sich die Frage stellen, ob das etwa heißt, daß nicht nur - wie einmal in Ihren Reihen gesagt wurde - die Wirtschaft auf ihre Belastbarkeit hin erprobt werden soll, sondern mit Ihrem Demokratiebegriff auch das Grundgesetz auf seine Belastbarkeit hin erprobt werden soll. ({6}) Die seinerzeitigen frohen und gläubigen Erwartungen, die Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, zu Beginn Ihrer Koalition bei sehr vielen Menschen in unserem Lande noch einzupflanzen und erfolgreich zu pflegen wußten, sind längst enttäuscht worden. Sie sind verkümmert. Darüber ist heute schon geredet worden. Das gilt gerade und besonders auch für die DeutschlandGraf Stauffenberg und Ostpolitik, also dort, wo sich das Schicksal unserer Nation in erster Linie oder in besonderem Maße entscheidet. Bundeskanzler Schmidt hat die Ankündigung in seiner ersten Regierungserklärung wahrgemacht, daß er die Politik seines Vorgängers und Parteivorsitzenden Brandt weiterführen werde; „konzentriert" und „kontinuierlich", wie es damals hieß. In der Tat: konzentriert und kontinuierlich mit allen Fehlern, Unzulänglichkeiten und Einseitigkeiten bis hin in die jüngste Zeit. ({7}) Das zeigen die tatsächlichen Ergebnisse z. B. auch von Helsinki, jener spektakulären Konferenz, über die hier schon einige Male geredet worden ist. Ich möchte einen besonderen Aspekt herausgreifen. Unter der feierlichen Deklaration des Korbes 3 der Konferenzergebnisse über die Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Meinungen war die Unterschrift noch nicht trocken, als der Herr Bundeskanzler Schmidt in seinen Vereinbarungen mit Herrn Gierek dokumentierte, wie Freizügigkeit in Europa tatsächlich gehandhabt wird und zu verstehen ist, unter dieser feierlichen Proklamation von mehr Menschlichkeit: auf der einen Seite eine Protokollnotiz über die Inaussichtstellung von Ausreisen, auf der anderen Seite fest vertraglich zugesicherte Zahlungen in Milliardenhöhe, dabei aber nichts von Volksgruppenrechten, von Minderheitenrechten, von irgend etwas, was denjenigen Deutschen, unseren Landsleuten, die weiterhin drüben bleiben müssen, weil sie nicht in die Quote von 125 000 fallen, ({8}) oder denjenigen, die in ihrer Heimat bleiben wollen, ein bißchen mehr an Grundrechten einer Volksminderheit zusichern würde. Man muß sich vergegenwärtigen - auch das gehört zum Bericht zur Lage der Nation -, daß am 7. Dezember 1970 der frühere Bundeskanzler von Warschau aus den deutschen Fernsehzuschauern zusicherte - ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren -: „Der Vertrag von Warschau soll einen Schlußstrich setzen unter die Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit". Unter „Schlußstrich" ist nicht verstanden worden, daß fünfeinhalb Jahre später noch einmal ein Vertrag mit nochmaligen Leistungen notwendig ist, um die Opfer und Leiden der Vergangenheit aus der Welt zu schaffen, zu denen übrigens die Opfer und Leiden der Vergangenheit vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehören. ({9}) Der Herr

Not found (Kanzler:in)

Der Vertrag soll eine Brücke schlagen zwischen den beiden Staaten und den beiden Völkern. Er soll den Weg dafür öffnen, daß getrennte Familien wieder zusammenfinden können, und daß die Grenzen weniger trennen als bisher. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das waren die Ankündigungen Ihrer Ostpolitik, mit denen Sie begonnen haben. An diesen Ankündigungen und dieser Propaganda, mit der Sie die Ostpolitik damals dem deutschen Bürger und dem deutschen Wähler klargemacht und verkauft haben, müssen Sie sich heute messen lassen, und danach wird heute beurteilt, wieweit Sie gekommen sind. ({0}) Kaum einer in unserem Lande, der das damals gehört hat, hat das so verstanden, daß fünf Jahre lang nichts geschehen werde, ja, daß sogar weniger geschehen werde als in der Zeit vor dem Warschauer Vertrag, daß zusätzliche Leistungen notwendig sind, um ein selbstverständliches Minimum an Menschlichkeit - und das auch nur für einen begrenzten Personenkreis - in nähere Aussicht zu stellen ({1}) Meine Damen und Herren von der SPD und der FDP, nicht einmal bei der Technik der Verhandlungen und der Konstruktion ihrer Vertragswerke hat die jetzige Bundesregierung aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt. Das zeigt die Konstruktion der jüngsten Polenvereinbarung: hier Protokollnotiz, dort mehrere Verträge, vertragliche Vereinbarungen. Man redet einerseits von „Zusammenhang", dann redet man wieder nicht von einem konstitutiven Zusammenhang oder nicht von einem Gesamtvertrag; kein Mensch kennt sich da richtig aus.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt?

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerkennen, was der Rechtsausschuß bereits zu diesem Thema beschlossen hat, daß nämlich in der völkerrechtlichen Verbindlichkeit keinerlei Unterschied besteht zwischen diesem Protokoll und dem Vertrag? ({0})

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß das, Herr Kollege, und hoffe auch, daß sich nicht nur aus unserer Sicht, sondern auch in der Bewährung der Abkommen, in der Verwirklichung und Praktizierung dieses Vertrages die Auffassung des Rechtsausschusses einwandfrei und klar durchsetzen wird. Ich hätte nur erwartet, daß man von Anfang an jeden geringsten Zweifel ausgeschlossen hätte. ({0})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Graf Stauffenberg, besteht nicht auch nach Ihrer Auffassung das Problem darin, daß die vortreffliche Auffassung des Rechtsausschusses möglicherweise nicht die Auffassung der polnischen Regierung ist?

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mertes, ich habe gerade versucht, dies nicht so deutlich zum Ausdruck zu bringen, um unserer Bundesregierung die Sache nicht noch schwerer zu machen, als sie sowieso schon ist. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an einen anderen Fernsehauftritt Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt erinnern. Es war am 12. August 1974 nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages. Herr Brandt sagte damals aus Moskau: Morgen sind es neun Jahre her, daß die Mauer gebaut wurde. Heute haben wir - so hoffe ich zuversichtlich - einen Anfang gesetzt, damit der Zerklüftung entgegengewirkt wird, damit Menschen nicht mehr im Stacheldraht sterben müssen, damit die Teilung unseres Volkes hoffentlich überwunden werden kann. ({1}) Das war vor 51/2 Jahren. Aber die Kluft in Europa, die Kluft zwischen den beiden Teilen unseres Landes besteht fort, und es ist nicht eine Kluft, wie auf Ihrer Seite gern verniedlichend gesagt wird, zwischen unterschiedlichen oder nicht recht vergleichbaren oder unvergleichbaren Gesellschaftssystemen, sondern es ist die Kluft zwischen Freiheit und Unfreiheit nach 51/2 Jahren, nicht nur ebenso, sondern noch stärker als vor diesen 51/2 Jahren, als Willy Brandt damals vor dem Fernsehen sprach. Unser Volk ist nach wie vor geteilt, nicht weniger als vor 51/2 Jahren, und nach wie vor sterben die Menschen im Stacheldraht. Der Schießbefehl besteht fort - darüber ist vorher gesprochen worden -, die Todesmaschinen und Mordautomaten an der Zonengrenze sind perfekter und schlimmer geworden, als sie es vor 5 1/2 Jahren waren, der Druck auf unsere Landsleute drüben ist nicht geringer geworden; auch davon war heute schon die Rede unter dem Stichwort „ideologische Abgrenzung" - man sollte besser sagen: ideologische Quarantäne für drüben und aggressive Klassenkampfpolitik gegenüber dem Westen. Die Selbstherrlichkeit der Diktatoren drüben und ihrer Erfüllungsgehilfen ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Ihre militärische Macht und damit ihre politische Erpressungskapazität wird nicht geringer, sondern bedrohlicher und drohender. Nun, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, Sie reden von diesen Dingen nur mehr selten, und wenn, dann tun Sie es unwillig, weil dieses Bild der bitteren Realität unserer Nation im geteilten Deutschland und im geteilten Europa in Ihr Bild der Selbstdarstellung nicht paßt. Dafür bedankt sich aber der Herr Bundeskanzler ausdrücklich bei den Machthabern in der Sowjetunion am 8. Mai 1975 für - so wörtlich „soviel Hilfe, Versöhnungsbereitschaft, gute Nachbarschaft und Partnerschaft". Er bedankt sich bei den sowjetischen Machthabern im gleichen Atemzug für das Gleiche und in dem gleichen Maße wie bei unseren europäischen Bündnispartnern und den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, wollen immer noch die Illusion aufrechterhalten, mit der Sie Ihre Ostpolitik begonnen haben. Sie haben das mit großem propagandistischem Aufwand in Szene gesetzt. In Wirklichkeit haben Sie sich damals dem sowjetischen Begriff der „friedlichen Koexistenz" angeschlossen. Sie haben vielleicht gemeint, Sie könnten diesen sowjetischen Begriff der „friedlichen Koexistenz" für sich okkupieren und mit anderem Inhalt versehen, ähnlich wie Sie später versucht haben, den Begriff der „Friedenspolitik", der „Mitte", das „anständige Deutschland" und schließlich auch die Leistungen Konrad Adenauers für sich in Anspruch zu nehmen und mit neuem Inhalt zu füllen. Aber Sie sind in den Sog der sowjetischen „friedlichen Koexistenz" geraten, und dort stehen Sie noch heute. Dies ist nichts anderes - von der Sowjetunion aus gesehen -- als die Politik der Fortsetzung des Klassenkampfes mit allen Mitteln, auch mit dem Mittel der Gewalt: in dem Augenblick, in dem die Gewalt einen Erfolg der Weltrevolution verspricht. ({2}) Dies ist die Politik der friedlichen Koexistenz, die Willy Brandt selber proklamiert hat als ein Ziel beziehungsweise eine Zukunftsaussicht für die neue Gestalt Europas. Habe ich noch Zeit?

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Zwei Minuten! ({0}) -- Der Redner hat Zwischenfragen zugelassen; ich muß ihm also ein paar Minuten zusätzlich geben.

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich überschlage einiges, aber ich möchte gern noch über folgenden Punkt sprechen: Der Herr Bundeskanzler hat heute von Rückschlägen gesprochen, die die Politik der Entspannung erlitten hat, und er hat in diesem Zusammenhang das scheußliche Kapitel der Zwangsadoptionen erwähnt. Wir alle wünschen, daß sich die jüngsten Informationen und Meldungen, daß Ost-Berlin wenigstens in diesem Bereich seine unmenschlichen Praktiken korrigiert habe, auf die Dauer bestätigen. Aber, meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler kann dieses Ergebnis ja nun wirklich nicht als Erfolg auf seine Fahne schreiben. Ich möchte Sie daran erinnern, wie sich die Bundesregierung damals verhalten hat. Herr Abelein hat darüber bereits gesprochen. Es war der bayerische Ministerpräsident, der mit seiner klaren und, wie ich meine, doch selbstverständlichen Haltung das Gewissen der Öffentlichkeit und das Gewissen der Welt auf den Plan rief. Ich glaube, man sollte hier einmal klar aufzeigen, daß Ministerpräsident Goppel als Regierungschef eines Landes in einem Bundesstaat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht erkannt hat, für fundamentale Rechte aller Deutschen im ganzen Deutschland einzutreten. ({0}) In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch auf die jüngsten Ankündigungen von Herrn Brandt über die Informationskontakte und den Wandel des Weltkommunismus zu sprechen kommen. Der Herr Bundeskanzler Schmidt hat sich heute morgen hier vor seinen Parteivorsitzenden gestellt. Es war offenbar notwendig, dies zu tun. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort von der Manipulation, das hier gebraucht worden ist, daß also etwas manipuliert gewesen wäre, stimmt doch sicherlich nicht. Die Kontakte vom Herbst 1967 und im Frühjahr 1968 mit italienischen Kommunisten gingen doch weit über das hinaus, was man lediglich als Informationsaustausch bezeichnen könnte oder rechtlicherweise bezeichnen würde. Wenn dies Informationskontakte sind, die angekündigt worden sind, dann ist dies schon sehr viel mehr und es gerät in die Nähe einer echten Kooperation. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter, ich muß Sie nun aber bitten, zum Schluß zu kommen.

Franz Ludwig Schenk Stauffenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002222, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Schluß. Herr Wehner hat heute morgen die Freundlichkeit gehabt, Franz Josef Strauß zu apostrophieren, und dazu möchte ich noch ein Wort sagen und als Antwort vielleicht ein Zitat anführen. Ein prominentes Mitglied der SPD, Frau Wieczorek-Zeul, die Vorsitzende der Jungsozialisten in der SPD, weilte Ende November des vergangenen Jahres in der Sowjetunion. Zum Abschluß ihres Besuchs gab sie ein Interview, in dem viel von Kontakten und von Zusammenarbeit zwischen den Jungsozialisten und den kommunistischen Jugendorganisationen in der UdSSR die Rede war. Schließlich sagte sie - befragt nach ihren Eindrücken in der Sowjetunion - folgendes - ich darf zitieren, Herr Präsident! -: Ein weiterer - hören Sie gut zu! eher privater Aspekt ist, daß wir in Gesprächen und Diskussionen immer den Eindruck gehabt haben, daß die Menschen dort fröhlich und entspannt sind und ihre Lebensbedingungen als angenehm empfinden. ({0}) Wir hatten das Gefühl, so sagte sie weiter daß Sozialismus eine Sache ist, die Freude macht, die Spaß macht, und dies ist wichtig. Meine Damen und Herren von der SPD - und vielleicht ist dies auch für Ihren Koalitionspartner, die FDP, sehr wichtig -: Eine prominente Sozialistin, I die den Sozialismus will, nennt das, was sie unter der sowjetischen Diktatur findet, Sozialismus und sagt, daß dies „Freude macht und Spaß macht". Dazu kann ich nur sagen: Kraft durch Freude. Dies sollte man an dieser Stelle wirklich auch einmal bedenken: Wenn uns hier vorgeworfen wird, Sie würden von uns in eine falsche Ecke gedrängt, in der Sie sich nicht fühlen, dann fragen Sie doch einmal bei Ihrer Genossin Wieczorek-Zeul an, wie es darum steht, und verübeln Sie es uns nicht, wenn wir auch nach den Äußerungen dieser prominenten Genossin Ihre Partei, Ihre Politik und die Bundesregierung, die von dieser Partei getragen wird, beurteilen. ({1})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.

Egon Franke (Minister:in)

Politiker ID: 11000570

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Öffentlichkeit und jeder in diesem Hause kennt zur Genüge, ja zum Überdruß die Dauerkontroverse, die hier zwischen Regierung und Opposition über Fragen der Deutschlandpolitik stattfindet. Dieser Streit wird immer wieder aufs neue angefacht, ja, wir haben den Eindruck, daß er von bestimmten Vertretern der Opposition, die sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, gesucht und geschürt wird. (1 Ein besonderes Beispiel dafür war heute der Vortrag des Herrn Kollegen Abelein. Bevor ich hierher kam, hatte ich seine unkorrigierte Rede vorliegen. Was er dann tatsächlich vorgetragen hat, war schon in wesentlichen Punkten korrigiert. Aber er hat es erst einmal so in die Öffentlichkeit gepustet, und die Zeitungen werden es sicherlich auch so bringen. Darin steht wieder allerhand, was diese meine Aussage nur bekräftigt und verstärkt. Sie wollen ja gar nicht kooperativ sein, Sie wollen ja die Konfrontation, Sie wollen den Streit. Das wird sehr deutlich. ({0}) Ich denke auch an die Darstellung jenes angeblichen Geheimtreffens. So etwas habe ich in der Nazizeit einmal mitgemacht; damals mußte ich es tun, um am Leben zu bleiben. ({1}) - Ja, warten Sie nur ab. Ich komme noch darauf zurück. Ich möchte Ihnen gar nichts ersparen. Gerade diesen Teil werde ich hier gern behandeln. Ich habe es als eine Ehre empfunden, daß ich damals von der Sozialdemokratie beauftragt wurde, an einem Gespräch teilzunehmen, bei dem es darum ging, zu erkunden, wie sich andere Kommunisten - nicht nur die deutschen Kommunisten - die Entwicklung in Europa vorstellen und wie es mit der Zusammenarbeit und ähnlichem aussehen kann. Was alles wird jetzt da hineingehext: die große Konzipierung der Ostpolitik, die Besprechungen zur Gründung einer Volksfront! Und dabei suchen Sie mich als den Handlungspartner aus, meine Damen und Herren. Ich weiß wirklich nicht, was nun eigentlich richtig ist. Manchmal benutzen Sie mich als Kronzeugen gegen Dinge, die in dieser Partei angeblich unerträglich sind, und auf der anderen Seite verdächtigen Sie mich, als sei ich im Grunde genommen einer der Schlimmsten, als sei ich jemand, der die freiheitliche Grundordnung mit zu unterminieren bemüht ist. Allmählich müssen Sie sich aber nun eines davon aussuchen und sagen, was Sie wirklich wollen. Es ging allerdings in der Tat um folgendes, und dies sage ich Ihnen noch einmal. So, wie sich auch Ihre Parteivertreter nicht scheuen, mit Kommunisten zu sprechen, werden wir es ebenfalls tun, nur mit dem ganz großen Unterschied: Wir haben in unserer 110jährigen Geschichte große Erfahrungen mit den Kommunisten gesammelt. Wenn Sie uns als Sozialdemokraten auch nur andeutungsweise unterstellen wollen - ich will gar nicht die vielen Variationen derer mit in Anspruch nehmen, die sich auf ein gewisses Gedankengut berufen -, daß es auch nur eine Annäherung an die politischen Ideologien der Kommunisten oder sogar eine Zusammenarbeit geben könnte, dann ist das unerträglich unfair. Lassen Sie mich das so sagen, wie ich es zu sagen vermag. ({2}) Sehen Sie, meine Damen und Herren, genauso ist das mit der Aussage zu anderen Dingen. Auch dadurch, daß Graf Stauffenberg das soeben noch einmal wiederholt hatte, wurde daraus keine Geheimkonferenz. Diese Begegnung fand im größten Hotel in Rom unter den Augen der Öffentlichkeit statt. Da konnte - vor allen Dingen bei der Zusammensetzung der Gesprächspartner - überhaupt nicht das passieren, was Sie sagten. Außerdem ist das keine Institution geworden. Ich freue mich darüber, daß auch Sie versuchen, mit den politischen Freunden Ihrer Couleur in anderen Ländern zusammenzukommen. Diese haben dort aber eine ganz andere Vorstellung über Zusammenarbeit mit Kommunisten, als das bei meinen politischen Freunden dort der Fall ist. ({3}) - Gucken Sie sich doch einmal die Bemühungen an, die es in Italien gibt, um eine neue Regierung zu bilden, was da alles läuft! ({4}) - Unterscheiden Sie auch in Italien zwischen Sozialisten und Sozialdemokraten! ({5}) - Entschuldigen Sie, ich hätte dieses Thema hier nicht so verbreitet. Ich hätte diese Vorgänge nicht so aufgebauscht. Das zeigt aber, wie wenig Fundiertes Sie überhaupt antreffen, um daran konkret etwas aufzeigen zu können. Das, was Sie da bemüht haben, ist so albern und banal, daß ich mich an Ihrer Stelle genieren würde, das so breit auszuwalzen. ({6}) Man könnte den Streit, den es gibt, der konstruiert und immer wieder auch an anderen Dingen aufgezogen wird, als einen Streit bezeichnen, der sich zwangsläufig in der parlamentarischen Auseinandersetzung ergibt, ja, der geradezu zum Stil, zum Selbstverständnis der Opposition gegenüber der Regierung gehört. Aber so ist es ja nicht, meine Damen und Herren. Man tut dann so, als sei es sogar notwendig, daß die Opposition immer noch ein bißchen mehr drängen müsse. Wenn es so wäre, wäre es ja gut. Aber Sie ignorieren ja alles. Sie sind ja nicht einmal bereit, irgend etwas anzuerkennen. Ich habe in den beiden letzten Reden, die von Ihrer Seite gehalten worden sind, immer nur gehört, daß Sie vom völligen Nichts, von Trümmerhaufen und Scherben sprachen. Das sagen Sie trotz der millionenfachen Kommunikation, die für die Menschen, die davon ausgeschlossen waren, danach erst möglich geworden ist. Meine Damen und Herren, dieser Streit hat mittlerweile Formen angenommen und Grenzen überschritten, die zeigen, daß er längst eine politische Eigenqualität angenommen hat. Darum muß dieser Streit hier einmal zum Thema gemacht werden. Er darf in einer Debatte zum Bericht zur Lage der Nation 1976 nicht fehlen. ({7}) - Ich will Ihnen mal etwas sagen: Sie haben seit 1969 von nichts anderem als vom Zusammenbruch unserer Politik, als vom völligen Versagen gesprochen. Sie waren nicht einmal bereit, die sehr sachlichen und nüchternen Zahlen, die von Monat zu Monat stiegen und der Beweis für die Durchlässigkeit der Mauer waren, anzuerkennen, bis Sie jetzt plötzlich in Berlin auf den Gedanken kamen, die Bevölkerung aufzurufen, sich mehr an den Reisen in die DDR zu beteiligen. Das war nach vielen Jahren das erste Mal, daß ich von Ihnen gehört. habe, daß Sie die von uns geschaffenen Möglichkeiten auch Ihren Freunden und damit auch der gesamten Bevölkerung zur Nutzung anempfohlen haben. ({8}) Meine Damen und Herren, ich glaube, die Diskussion hier und in der Öffentlichkeit ist an einem Punkt angelangt, wo wir klar und deutlich sagen müssen, was es mit der Deutschlandpolitik der Opposition wirklich auf sich hat. Die Opposition verfügt nämlich über keine wie auch immer geartete Deutschlandpolitik.

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Jäger ({0}) zu einer Zusatzfrage.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, würden Sie dem Hause gegenüber die Freundlichkeit haben mitzuteilen, daß die wichtigsten jener Reiseerleichterungen, auf die Sie sich so gerne und auch jetzt wieder als Ergebnis Ihrer Politik berufen, nicht die Folge des Grundvertrags waren, sondern die Folge des Verkehrsvertrags, dem alle Fraktionen dieses Hauses zugestimmt haben? ({0})

Egon Franke (Minister:in)

Politiker ID: 11000570

Nein, ich bin nicht bereit, Ihnen das zu bestätigen. Ich bin nur bereit, folgendes zuzugeben und zuzugestehen; Herr Kollege Jäger, Sie wissen auch, daß das in der Tat so ist: Das Ganze kann nicht aufgelöst werden, sondern es gibt Überschneidungen und Überlappungen in der politischen Wirkung, wo Ursache und Wirkung zusammengesehen werden müssen. Machen Sie sich bitte damit vertraut. Wenn Sie jedes Ding für sich allein sehen wollen, können Sie natürlich mit Ihrer buchhalterischen Aufrechnung das eine mit mehr Plus und das andere mit mehr Minus darstellen. Nur, Politik ist wohl auch aus der Kausalität der Dinge zu sehen. Politik ist nämlich die Kunst des Möglichen und nicht die Kunst des unermeßlichen Forderns, ({0}) wie Sie das zu tun belieben. Auch wir versuchen, uns hohe Ziele zu stecken und danach zu streben. Nur, wir gehen Schritt für Schritt voran. Und begleiten Sie uns bitte nicht nur mit negierender Kritik, sondern versuchen Sie, dem Ganzen im Interesse der Menschen, um die es geht, auch etwas Positives abzugewinnen. ({1}) Denken Sie an die Millionen Bewohner der DDR, die erstmals nach dieser Vertragspolitik Besuch von Menschen aus dem freien Teil Deutschlands, aus der Bundesrepublik Deutschland, erhalten konnten! ({2}) Denken Sie daran, daß die Berliner erst auf Grund der Verträge nach vielen, ja, nach zehn Jahren das erste Mal wieder in den Ostteil ihrer Stadt und in die gesamte DDR reisen konnten! Wenn Sie das nicht hören wollen, wenn Sie das langweilt, dann philosophieren Sie weiter über Staatstheorien. Dann aber laufen Sie Gefahr, die drüben lebenden Menschen zu vergessen. Praktisch sind Sie ja auf dem Wege dazu. ({3}) Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen hier schon gesagt, daß Sie als Opposition praktisch keine Deutschlandpolitik vorzuweisen haben. ({4}) Sie haben keine Alternative zur jetzigen Politik. ({5}) - Aber ich behaupte es! Sie können es ja widerlegen. Sie können Ihre Alternative ja konkret darlegen, melden Sie sich doch! - Sie haben - ich wiederhole es - keine Alternative. ({6}) - Ich schätze Sie auch sehr. Sie können mir glauben, daß ich auch frei reden kann. Sie dürfen es mir glauben. ({7}) Aber gerade weil ich Sie kenne, lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Wenn es um diese Punkte geht, halte ich mich ans Manuskript, weil ich weiß, wie einem in vielen Fällen das Wort im Munde umgedreht wurde ({8}) und ganz konkrete Tatbestände geleugnet werden, weil sie Ihnen nicht in den Kram passen. Meine Damen und- Herren, lassen Sie es sich noch einmal sagen: Sie haben keine Alternative zur jetzigen Politik. Vielleicht möchten auch tonangebende Kräfte in der Opposition am liebsten zur früheren Politik des völligen Ignorierens der DDR und des Nichtverhandelns zurückkehren. Diesen Eindruck muß man gewinnen. Sie sagen zwar auch, Sie seien für Verhandlungen; aber das, worüber man verhandeln kann, wollen Sie nicht wahrhaben. So ist es nach 20 Jahren Nichtstun höchste Zeit geworden, daß wir angefangen haben. ({9}) Und wenn, meine Damen und Herren, dieser Wunsch bei irgend jemandem von Ihnen vorhanden wäre und insgeheim gehegt würde, so fehlte es dann an der Courage, das deutlich und unmißverständlich zu sagen. Sie tun immer so, als ob; aber es muß immer noch mehr sein, und darum ist all das, was wir tun, gar nichts. Weiter möchte ich feststellen, daß die Opposition auch keine in sich schlüssige Variante zur jetzigen Politik hat. Auch das wäre ja zumindest theoretisch denkbar, theoretisch! Das kann man ja erörtern. Wir haben uns in den Jahren, die hinter uns liegen, lange gestritten, Sie haben nichts bewegt, Sie haben gar nichts bewegt. Nur, wenn Sie heutzutage beklagen, daß die Trennung schmerzlicher geworden ist, ({10}) so darf ich hinzufügen: Unsere Erkenntnisse sind noch schmerzlicher geworden. Denn alle die Dinge, auf die wir gemeinsam gesetzt haben, haben sich nicht so bestätigt. Wir haben mit unserer Politik die Grenzdurchgänge geschaffen, durch die die Bundesbürger millionenfach strömen können und auch strömen. Nur, viele, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen könnten, benutzen sie nicht. Unsere Erwartungen waren viel höher geschraubt. Wir waren davon ausgegangen, daß die Verbundenheit der Familien ausgeprägter sei, als es sich erwiesen hat. ({11}) - Ach, kommen Sie doch nicht mit solchen Sachen! Wenn Sie sich angucken, wie bereit man ist, Opfer zu bringen, ({12}) um für die Nation einzustehen, wenn sich Bürger dann an den Devisengeldern oder an den Umtauschkosten orientieren, dann ist das ein sehr niedriger Stand nationaler Opferbereitschaft. Das darf ich doch dann wohl auch einmal sagen. ({13}) Im übrigen: Gerade im grenznahen Bereich, in dem Tagesbesuche unkompliziert möglich sind, hat nur ein Bruchteil der Bevölkerung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. ({14}) - Ach, entschuldigen Sie mal! - Früher hätte uns so etwas kaum stören können, wenn es darum ging, nach Berlin zu gehen, trotz der Schwierigkeiten, die es damals gab. Wir haben das alle in Kauf genommen. Jetzt bei den Erleichterungen fehlt bloß noch, daß man sagt: Nun kommt noch her und unterhaltet uns nett und schön; wir wollen es gerne vor der Haustür haben. Ein klein wenig muß jeder selbst mittun, wenn der Bestand der Nation gewahrt bleiben soll, und dazu gehören auch solche Opfer. Wir haben es den anderen durch die Verhandlungen abgezwungen. ({15}) Sehen Sie, meine Damen und Herren, nun kommt es darauf an, daß wir uns bestätigen, daß wir einen Bedarf dafür nachweisen, und da ist jeder einzelne aufgerufen, mitzumachen und nicht dagegenzuhalten. ({16})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kunz ({0})?

Egon Franke (Minister:in)

Politiker ID: 11000570

Ja, bitte!

Gerhard Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, darf ich Sie darauf hinweisen und Ihnen zugleich mitteilen, daß ich aus Anlaß meines letzten Besuchs in der DDR von vielen Bekannten, die ich immer besuchen konnte, um Verständnis dafür gebeten wurde, einzusehen, daß sie mich diesmal nicht sehen könnten, weil sie große Angst haben, irgendwelchen Maßnahmen der dortigen Behörden ausgesetzt zu sein? ({0})

Egon Franke (Minister:in)

Politiker ID: 11000570

Herr Kollege, das habe ich überhaupt nicht in Abrede zu stellen oder zu bestreiten. ({0}) - Entschuldigen Sie, zwischen dem absoluten Erfolg und den Schritten dahin besteht ein großer Unterschied, das gebe ich gerne zu. ({1}) - So ist das nicht. Es gibt auch viele Millionen, die drüben dankbar für jeden Besuch sind. Fragen Sie doch einmal die anderen, oder nehmen Sie einmal die Berichte zur Hand, die Sie auch bekommen oder die Sie selbst geben können. ({2}) Nehmen Sie die vielen Zeichen des Dankes mit entgegen, die uns entgegengebracht werden, daß wir nicht vergessen. Ich sage wir, und damit meine ich uns alle. Steigen Sie ein, Sie haben noch viel vor sich. Ich muß noch einmal auf die bei Ihnen fehlende deutschlandpolitische Konzeption zurückkommen. Wir wissen von der deutschlandpolitischen Vorstellungswelt der Opposition nur, daß sie die jetzige Politik in Bausch und Bogen rundheraus ablehnt, wobei in Bausch und Bogen heißt: sowohl grundsätzlich, vom Ansatz her, als auch in der Durchführung. Es gibt genügend Zitate, die das zweifelsfrei belegen. Nun beteuert aber die Opposition hin und wieder, auch sie erkenne die Gültigkeit der geschlossenen Verträge an, also auch des Grundlagenvertrages mit der DDR. ({3}) Wenn dieser Vertrag grundsätzlich, im Ansatz, schon falsch ist, jedenfalls nach Ihrer Meinung, meine Damen und Herren, muß die Frage erlaubt sein, wie Sie dann darauf eine richtige Politik aufbauen wollen. Dann müssen Sie konsequenterweise dabei bleiben und auch diesen Vertrag in Zweifel ziehen und als nicht existierend betrachten. ({4}) Sehen Sie, meine Damen und Herren, es ist doch widersprüchlich, wenn Sie behaupten, Sie seien grundsätzlich und überhaupt gegen die jetzige Deutschlandpolitik, und wenn Sie sich gleichzeitig anheischig machen, die Entwicklung der Beziehungen mit der DDR und die Politik der Entspannung, wie sie diese Regierung im Sinn hat, besser praktizieren zu können. Mit dieser Doppelbödigkeit und gespaltenen Argumentation sind Sie schon einmal gescheitert. ({5}) Wir werden dafür sorgen, daß Sie auch beim zweiten Versuch damit keinen Erfolg haben. Was wollen Sie erreichen? Sie wollen zum einen den Beifall und die Stimmen derer auf sich lenken, die die Deutschland- und Ostpolitik seit 1969 grundsätzlich ablehnen, weil sie geistig in den 50er Jahren stehengeblieben sind. ({6}) - Ja, natürlich, die Ihnen da folgen sollen. ({7}) Zum anderen wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, den Anschluß an die vernünftige Mehrheit nicht verlieren. Darum sprechen Sie, wenn es um Reiseverkehr geht, nicht mehr so gedämpft. Ich habe noch das Wort vom „Rinnsal" im Ohr, dessen weitere Verwendung bei über drei Millionen Reisenden im Jahr doch ziemlich unglaubwürdig wäre. Statt dessen schwingen Sie sich auf den Wagen, indem Sie die Bevölkerung aufrufen, die von der Bundesregierung geschaffenen Reiseerleichterungen zu nutzen. ({8}) Ich begrüße das. Die Bundesregierung freut sich über diesen Appell, vor allen Dingen deswegen, weil uns noch in frischer Erinnerung ist, wie die Voraussetzungen für diese Erleichterungen gegen Ihren Widerstand, gegen Ihren Willen, von der sozialliberalen Koalition erkämpft werden mußten. ({9}) So ist das. Es gibt sonst allerdings nicht sehr viele Zeichen besserer Einsicht. Sie tun alles, Sie lassen sich keine Gelegenheit entgehen, um unserer Politik Stolperdrähte in den Weg zu spannen. Wie oft haben Sie allein im Laufe des letzten Jahres versucht, die Bundesregierung in Aktionen zu treiben, die der Verhandlungspolitik schädlich sind? Ich erinnere nur an Ihre Forderungen im Zusammenhang mit den sogenannten Zwangsadoptionen. Schon die unbelehrbare Beharrlichkeit, mit der Sie an dem Ausdruck „Zwangsadoptionen" festhielten, spricht für sich. ({10}) Im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen habe ich dieses Problem an vielen Einzelbeispielen erläutert. Kein teilnehmender Kollege hat nach dieser Information den Begriff Zwangsadoption in Verbindung mit den zur Diskussion stehenden Fällen aufrechterhalten können. Zum Teil spielten bei diesen Fällen kriminelle Gesichtspunkte eine Rolle, die bei uns genauso dazu führen würden, den Eltern das Erziehungsrecht abzusprechen. Bringen Sie das nicht durcheinander. ({11}) Und noch eines dazu. Von Ihnen wurde in Anspruch genommen, daß der laute Protest zum Erfolg geführt habe. Das Gegenteil ist der Fall. ({12}) - Natürlich! Herr Filbinger hat einmal ein Brautpaar zusammengebracht. Ich habe daraufhin eigentlich all die schwierigen Fälle, die Sie mir der Reihe nach antragen, an Herrn Filbinger weiterleiten wollen. Er hätte sich dafür sehr bedankt. ({13}) Es ist einfach unerhört, so zu tun, als wenn Sie etwas bewegen könnten, obwohl wir seit vielen Jahren, angefangen zur Zeit anderer Bundesminister, bemüht waren, den Menschen mit der entsprechenden Diskretion zu helfen. Inzwischen sind es Tausende, denen geholfen werden konnte. Sie selber tragen Fälle an mich heran, in denen es mir zweifelhaft erscheint, ob wir uns bemühen sollten. Darunter befinden sich offensichtlich auch kriminell Belastete. Sehen Sie, was mich bei dieser ganzen Geschichte am meisten stört: Wenn wir aus der DDR Leute freibekommen haben - zu Weihnachten sogar eine Sonderquote -, dann steht hier in den Zeitungen, da sei wieder eine Garde von 90 kriminell Verdächtigen abgeschoben worden. Schlimmer kann die Diffamierung dieser Erfolgsbemühungen um die einzelnen Menschen doch wohl nicht sein. ({14}) Jeder einzelne von den Zehntausenden, die wir seit 1969 - Jahr für .Jahr sind es mehr geworden - herausgeholt haben, waren Einzelfälle und taugen nicht für eine schablonenhafte Betrachtungsweise. ({15}) - Das habe ich Ihnen auch nicht unterstellt, daß Sie etwas dafür können. ({16}) - Nein, ich habe das nur kritisiert. Das darf ich doch wohl. Das entspricht aber doch der Mentalität, die da in einem Klima gewachsen ist, das nicht nur von einem unverständigen Journalisten produziert wurde; sondern es gibt ja wohl auch Leute, die ihrem Herrn und Brotgeber besonders gefällig sein wollen und dann solche Dinge konstruieren, um vielleicht ein bißchen mehr Zeilengeld zu bekommen. ({17}) - Nein! Wir haben gesagt: Jeder Deutsche wird von uns betreut, und unsere Sorgepflicht gilt jedem. Wenn wir unterscheiden und uns anmaßen würden, die Urteilsmaßstäbe, die dort drüben angewandt werden, zu übernehmen, dann müßten wir in der Tat manchen als Kriminellen einstufen. Für uns ist das kein Maßstab, sondern für uns spielen die Verpflichtungen, die wir haben, eine Rolle. Lassen Sie uns dieses Thema bitte in Zukunft aus der öffentlichen Auseinandersetzung heraushalten! Das ist unerträglich! Wir bekommen von Jahr zu Jahr - das sind Folgewirkungen unserer Vertragspolitik - mehr Menschen frei. Wir mögen es beklagen, daß die Freizügigkeit dort drüben nicht gegeben ist. Sie ist nicht da. Wir können sie nicht erzwingen. Dann lassen Sie uns aber die Wege beschreiten, die wir beschreiten können, um es wenigstens vielen einzelnen zu ermöglichen, bei uns zu sein. ({18}) - Natürlich hat der öffentliche Protest nichts verhindert. Sie müssen den Hintergrund kennen. Sie, Herr Kollege Jäger, wissen besonders gut, daß wir im Ausschuß sehr oft berichten, wie die Verhandlungsstränge laufen. Wir haben manchem Bescheid geben müssen: Dein besonderer Fall kann noch nicht schlüssig beantwortet werden; schwierige Ermittlungen müssen angestellt werden. Das dauert manchmal jahrelang. Ich will Ihnen etwas sagen: Wir haben auch die Kinder nicht vergessen, die während des Mauerbaus im Jahre 1961 von ihren Eltern getrennt wurden. Die haben wir zu Hunderten erst in den Jahren 1972 und 1974 freibekommen. Wir haben sie nicht vergessen, auch wenn es viele Jahre dauerte. ({19}) Nennen Sie mir einen Fall, in dem es in Verbindung mit der Flucht aus der DDR oder einem Fluchtversuch zu einer Zwangsadoption gekommen ist! Bringen Sie mir einen konkreten Fall, in dem es eine Zwangsadoption gegeben hat! Darum werden wir uns kümmern. Wir haben solch einen Fall nicht. Zwar gibt es seit dem Jahre 1965 das Familiengesetzbuch der DDR, das solche Möglichkeiten zuläßt. Soweit ich weiß, waren Sie damals an der Regierung beteiligt. Ich habe nicht in Erinnerung, daß Sie damals, als die Anfänge hierzu gemacht wurden, überhaupt protestiert oder Krach geschlagen hätten. Damals haben Sie das hingenommen, ({20}) oder Sie haben es nicht verhindern können. Aber sehen Sie einmal: Es hat doch keinen Zweck, daß wir uns das so vorrechnen: Ich wollte nur einmal mit Ihnen Tacheles reden, damit Sie wissen, daß Sie Ihre Dinge nicht so gut in Ordnung hatten, wie Sie das immer meinen. Sie glauben, Sie könnten hier berechtigterweise als Ankläger auftreten. ({21}) - Er hat über dieses Thema gesprochen! ({22}) - Sehr geehrter Herr Kollege Jäger, Sie waren stundenlang dabei, als ich das Thema behandelt habe. Es gibt keinen Fall von Adoption oder der Übertragung des Sorgerechts auf andere und von Zwangsadoption als zusätzliche Strafe für Republikflucht oder für den Versuch der Republikflucht, wie es drüben heißt. Bringen Sie den bei! Sie werden sehen, daß wir das korrigieren, wenn Sie überhaupt einen solchen Fall finden. ({23}) - Wir haben in engster Verbindung die Formulierung miteinander abgesprochen. Was soll denn das, sich an diesen Dingen jetzt aufhängen zu wollen? Nehmen Sie mir das bitte ab! Meine Damen und Herren, bis vor etwa einem Jahr bekämpfte die Opposition unsere Deutschlandpolitik mit dem Argument, sie sei gescheitert. Zahlen ließ sie nicht gelten, obwohl doch diese Zahlen einwandfrei belegen, daß infolge unserer Vertragspolitik die menschlichen Kontakte in Deutschland einen enormen Aufschwung genommen haben. Die Vertragspolitik dieser Bundesregierung hat die jahrelang ruinösen Verfallsentwicklungen im Bereich der menschlichen Kontakte nicht nur zum Stehen gebracht, sondern wieder ins Positive, in eine steigende Tendenz, umgewandelt. Das ist die Wahrheit, das kann von niemandem bestritten werden. Das entspricht genau der erklärten Absicht, in der wir unsere Politik vor sechs Jahren begonnen haben. Hier geschieht in Wirklichkeit etwas für die Nation, was für ihren Zusammenhalt unendlich wertvoller und wirksamer ist als alle politischen und programmatischen Erklärungen von offizieller Seite. Und ich meine hier alle Seiten, unsere Seite eingeschlossen. Seit einem Jahr etwa glaubt die Opposition, nun endlich das Patentrezept gefunden zu haben, wie sich die Politik für die Menschen im geteilten Deutschland am besten diffamieren und untergraben lasse, mit dem Argument nämlich, sie koste zuviel Geld. Das klang hier auch den ganzen Nachmittag wieder durch. Dabei spielt es keine Rolle, wofür das Geld ausgegeben wird. Hauptsache, es geht an die DDR, wobei schon nicht mehr interessiert, daß diese dafür Bauleistungen erbringt. Es interessiert letztlich auch nicht, daß diese zu erbringenden Bauleistungen für eine der wichtigsten Lebensadern Berlins bestimmt sind. Ihnen ist jedes Mittel recht, um zu versuchen, an dieser Politik herumzuknabbern, ({24}) auf der einen Seite so, und auf der anderen Seite so! Dies werden wir nicht mehr zulassen! Auch beim innerdeutschen Handel wird mittlerweile das Geld-Argument strapaziert. Wir haben an diesem Handel auch und vor allem ein politisches Interesse; deshalb fördern wir ihn aus öffentlichen Mitteln. In der Argumentation der Opposition wird daraus eine Förderaktion für das kommunistische Regime in der DDR. Wie soll man da trennen? Wir wissen nur, daß die Deutschen in der DDR den höchsten Lebensstandard innerhalb des Ostblocks haben. Das liegt sicher nicht am innerdeutschen Handel. Ihren Lebensstandard verdanken unsere Landsleute in der DDR ihrer eigenen harten Arbeit. Er ist durch und durch selbst verdient. Aber trotzdem dürfen wir uns in der Bundesrepublik sagen, daß die Bedingungen des innerdeutschen Handels ergänzend hinzukommen und so zum volkswirtschaftlichen Gesamtergebnis der DDR mit beitragen. Alle diese Tatsachen und Erwägungen gehen in der finanzpolitischen Agitation der Opposition einfach unter. Ob Berlin oder der innerdeutsche Handel oder auch der Transitverkehr: Für die Ablehnung genügt, daß dabei Geld an die DDR gezahlt wird. Ich bin sehr dafür, jeden Pfennig umzudrehen, auch in Verhandlungen mit der DDR. Aber ich bin dagegen, jede Ausgabe schon deshalb abzulehnen, weil auch die DDR davon einen Nutzen oder Profit hat. ({25}) Mit diesem Argument kann jedes Verhandlungsergebnis abgelehnt und fertiggemacht werden und die öffentliche Meinung dagegen aufgewiegelt werden. Ich habe das schon einmal angedeutet, welche Auswirkungen das dann hat. Auf diese Weise kann allmählich hier in der Bundesrepublik ein Klima erzeugt werden, in dem die Interessen der Menschen bei uns und in der DDR, die Interessen der Nation, die Interessen Berlins und die Interessen der humanitär betroffenen Menschen rigoros untergepflügt werden. Diese Gefahr besteht; ich habe schon öfter darauf hingewiesen. Ich meine, sie muß besonders in einer Debatte über die Lage der Nation beim Namen genannt werden. Ferner muß ich auch hier nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres und der letzten Jahre überhaupt festhalten: Die Opposition hat auf Biegen und Brechen die Einleitung unserer Deutschlandpolitik bekämpft. Ebenso bekämpft sie jetzt die Durchführung dieser Politik. Ihre Aktionen und Argumente lassen keine eigenständige deutschlandpolitische Konzeption erkennen. Die Mischung aus Geschrei und Verhandlungen, die sie der Bundesregierung immer wieder andienen will, ist ein unbrauchbarer Verschnitt aus Komponenten, die sich gegenseitig ausschließen. ({26}) Den Aktionen und Reaktionen der Opposition liegt offensichtlich nur e i n durchgängiges Moment zugrunde: das ist die Absicht, die Verhandlungspolitik der Bundesregierung, die notwendigerweise mit Kompromissen arbeiten muß, zu stören, zu behindern, zu diskreditieren. Diesem Zweck dient auch die Kritik der Opposition an der deutschlandpolitischen Öffentlichkeitsarbeit. Diese läßt sich in sachlicher Diskussion aber jederzeit rechtfertigen. Ein besonders übles Beispiel für unsachliche Kritik in dieser Richtung bot erst gestern Herr Wohlrabe. Als Mitglied des Haushaltsausschusses wissen Sie ja, Herr Kollege Wohlrabe, sehr wohl, daß unser Angebot an Informationen, Material und Unterlagen der Art seit Jahren einen Zuspruch findet, den sich das Ministerium zu Zeiten der CDU-Minister nur erträumen konnte. Es ist auch keineswegs so, daß wir nur qualifiziertes Material für Wissenschaftler und Experten herausbringen, obwohl wir uns über das sicherlich unbeabsichtigte Kompliment, das in Ihrer Aussage lag, natürlich freuen; denn es ist ja wichtig, gerade Experten und Spezialisten besonderes Material an die Hand zu geben. ({27}) - Wollen Sie die deutschlandpolitische Diskussion fördern oder nicht? Dann müssen wir eben ein vielschichtiges Angebot bringen, ({28}) ja sogar provokativ sein. Wenn Sie sich nur empören, hat das dazu beigetragen, daß jetzt auf ein gewisses Informationsmittel Nachdruck gelegt werden muß. Wir sind Ihnen für diese Hilfe durchaus dankbar. ({29}) Ich habe auch aus Ihren Reihen Briefe zugeschickt bekommen, in denen man sich für den interessanten Kalender bedankt hat. Dazu möchte ich sagen: Das geschieht nicht nur, weil wir in der Karnevalszeit leben, sondern wahrscheinlich auch deshalb, weil auch da eine eigene Urteilskraft besteht ({30}) und man erkennt, daß es Dinge gibt, die man zusammen machen sollte. Aber soviel ist sicher richtig: Unsere Veröffentlichungen sind weitaus weniger reißerisch, als es Titel versprechen, mit denen zu CDU-Zeiten deutsch15178 landpolitische Öffentlichkeitsarbeit getrieben wurde. Ich zitiere einige dieser Titel, damit wir Vergleiche haben. Passen Sie einmal auf, wie das heißt: „Dreimal durch den Zaun", „Rote Sterne glühen", „Ich floh in Casablanca", „Die Chruschtschow-Orgel" , „Den ich küssen werde". ({31}) - Ich will Ihnen mal etwas sagen! Ich hätte das nie gelesen? ({32}) - Ich habe Ihnen eben gesagt, daß wir diese Titel - ({33}) - Entschuldigen Sie einmal! ({34}) - Ich habe das im einzelnen ja gar nicht qualifiziert! Ich habe nur dargestellt, daß wir die Dinge nicht so reißerisch behandeln. Ich gebe gerne zu, daß wir da nicht mithalten können und wollen. Diese Art von Information über die DDR haben wir tatsächlich eingestellt. Aber mindestens ebenso unbegründet wie die Kritik an unserer Öffentlichkeitsarbeit ist das, was der Oppositionsvertreter, Herr Wohlrabed, gestern über die angeblichen Haushaltskürzungen beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen verbreitet hat. ({35}) - Sie sprachen von einer Schrumpfung um 28 °/o ({36}) - 28 °/o! - und knüpfen daran abwegige politische Spekulationen wie die, daß der Bundeskanzler sich damit dem Willen der DDR beuge, weniger im innerdeutschen Bereich zu unternehmen. Tatsächlich liegt der Ansatz des Einzelplans 27 für 1976 um einige Prozente unter den vergleichbaren Ist-Ausgaben des Vorjahres. Dieser Rückgang erklärt sich aus der allgemeinen Spartendenz des Bundeshaushaltes 1976, die von der Opposition mitgetragen wird. Ich berufe mich jetzt noch auf die Gemeinsamkeit. Auf die 28 °/o Schrumpfung kommt der Herr Oppositionssprecher durch schiere Manipulation, indem er Zahlen vergleicht, die nicht vergleichbar sind. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses wissen genau, wovon ich spreche. Hören Sie zu, Herr Wohlrabe: Seit 1964 sind in den IstAusgaben des Ministeriums Jahr für Jahr für bestimmte Zwecke überplanmäßige Ausgaben enthalten, die aus bestimmten Gründen nicht offen im Haushaltsplan eingesetzt werden können. ({37}) Diese Praxis und ihre Gründe waren bisher unstrittig. Auch Sie, Herr Wohlrabe, sind als Mitglied des Haushaltsausschusses damit vertraut; und dennoch kommen Sie jetzt mit einem billigen Trick, der nicht für jedermann sofort durchschaubar ist, um der Offentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Wenn Sie schon nach solchen Mitteln greifen müssen, um gegen die Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung, gegen das innerdeutsche Ministerium oder mich persönlich zu Felde zu ziehen, dann muß unsere Politik wirklich außerordentlich gut sein. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Eigenständige deutschlandpolitische Konzeptionen haben Sie nicht; die Mischung aus Geschrei und Verhandlungen habe ich Ihnen dargestellt als Ihren Beitrag zum Geschehen. Ich möchte meinen, es lohnte sich heute, noch einmal sehr deutlich die Positionen aufzuzeigen. Ich denke, wir werden im innerdeutschen Ausschuß Gelegenheit haben, noch manches Wort miteinander zu wechseln, in der Hoffnung, daß auch nach einer deutlichen Aussprache hier trotzdem ein Weg zur Gemeinsamkeit offenbleibt. ({38})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat Herr Abgeordneter Baron von Wrangel.

Olaf Wrangel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister Franke, von Ihnen hätte die CDU/CSU erwarten können, daß Sie den Bericht zur Lage der Nation ergänzen. Statt dessen haben Sie den Versuch gemacht, in polemischer und falscher Form die Opposition anzugreifen. Dies war eigentlich nicht Ihre Aufgabe. ({0}) Herr Bundesminister, ich möchte aber auf einen Punkt besonders eingehen. Es scheint Ihnen unangenehm zu sein, wenn wir Sie als Zeugen dafür anrufen, daß Sie gesagt haben, einiges, was die Linken in Ihrer Partei tun, kommt dem nahe, was in der DDR ist. ({1}) Ich muß Ihnen sagen, es hat doch punktuelle Aktionen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gegeben. ({2}) - Was heißt, was soll das? Mir ist eben eingefallen, daß ist ja noch gar nicht so lange her, daß anläßlich der Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin Herr Roth Herrn Honecker, Herrn Brandt und Herrn Breschnew als Friedenshelden gefeiert hat. Schumacher, Erler und Reuter hätten sich so etwas verbeten. Diese Regierung tut es nicht. ({3}) Meine Damen und Herren, offenkundig scheint diese Regierung von der Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition nichts zu halten. Sie verfährt nach dem Motto: Unparlamentarisch ist jede Kritik an der Regierung. Meine Damen und Herren, haben Sie denn noch nie etwas davon gehört, daß Ihr Parteifreund Ellwein gesagt hat: Die Opposition ist die institutionelle Kritik in diesem Parlament. Wir werden von dieser Aufgabe vollen Gebrauch machen. ({4}) Wissen Sie, Herr Bundesminister Franke, ich möchte Ihnen eines sagen: Es wundert mich doch, daß wir bei vielen Diskussionen, die wir in diesem Hohen Hause geführt haben, von Ihnen immer wieder hören, wir sähen das Positive nicht, wenn es um den Reiseverkehr geht. Offenbar hören Sie nicht zu. Wir sagen dies immer wieder, und der Kollege Jäger hat es in seinem Zwischenruf auch wieder gesagt. Was wir kritisieren, ist die Tatsache, daß die Leistung und die Gegenleistung überhaupt in keinem Verhältnis zueinander stehen. ({5}) Das nächste. Herr Bundesminister Franke, Sie haben sich mehrfach auf die Beratungen im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen bezogen. Ich muß Ihnen erklären, wir haben dort in einer nicht vertraulichen Sitzung mehrfach die Frage nach der Zweckbindung in Ziffer 18 Abs. 1 des Transitabkommens gestellt. Sie haben keine Antwort gegeben. ({6}) Sie haben nur gesagt, die Zweckbindung konnte nicht erreicht werden. - Ja, meine Damen und Herren, was für einen Sinn haben denn Texte noch, wenn Sie die Erwartungen, die in den Texten stehen, noch nicht einmal erfüllen können? ({7}) Und weiter: Haben Sie denn nicht von uns - ich will es jetzt einmal aus meiner Sicht wiederholen gehört, daß wir, wenn man von Zahlungen an die DDR spricht, die Zweckbindung und die Zahlungsmodalität kritisieren? Man könnte sich doch bei einer Maßnahme zugunsten der Menschen überlegen: das erste Drittel, wenn's beginnt, das zweite Drittel, wenn's fertig ist, und das letzte Drittel, wenn's ein paar Jahre funktioniert. Das wäre eine Politik Zug um Zug, aber nicht die Politik der permanenten Vorschüsse, die Sie betreiben. ({8}) Wenn hier schon von der SPD von „Glaubenskrieg" gesprochen wird, so möchte ich fragen, meine Damen und Herren: Wer war es denn, der seine Deutschlandpolitik ständig mit irrationalen Glaubenssätzen meinte begleiten zu müssen? Das waren doch Willy Brandt und Egon Bahr ({9}) mit ihrer falschen Einschätzung der Vertragspolitik und der Möglichkeiten, die es in der Ost- und Deutschlandpolitik gibt. Dann sagen Sie wieder einmal, wir würden doch den Grundlagenvertrag als geltendes Gesetz akzeptieren. Dies ist richtig; es ist eine bare Selbstverständlichkeit. Aber Ihre Verwunderung kann ich überhaupt nicht mehr verstehen. Wir akzeptieren ihn als geltendes Recht, aber die Interpretation muß doch auf der Grundlage der Entschließung vom 17. Mai 1972 erfolgen, und wir werden ihn so interpretieren, wie es uns das Verfassungsgericht auferlegt, und niemals anders. Darin liegt doch der Unter-. schied zwischen uns und Ihnen. Meine Damen und Herren, gerade durch solche Beiträge wird der Bericht zur Lage der Nation, der ja nun nicht mehr „im geteilten Deutschland" heißt, ({10}) zu einer Pflichtübung degradiert, und genau dies wollen wir nicht. Wir haben gesagt, daß die Anlage Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik falsch ist. Weil sie falsch ist, hat sich doch in das gesamtdeutsche Bewußtsein, in das Freiheitsbewußtsein eine Art Degeneration eingeschlichen. ({11}) Ein degeneriertes Deutschlandbewußtsein hat doch gerade in letzter Zeit in fataler Weise, wenn es um den internationalen Protest ging, die deutsch-deutschen Beziehungen erschwert. Was wir in dieser Debatte heute vermissen, sind Zukunftsperspektiven; Sie vermögen uns keine zu nennen. Ich möchte auf einen Punkt besonders eingehen, der von Ihnen nicht erwähnt worden ist. Ich empfinde es auch in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des innerdeutschen Ausschusses als besonders bedrückend, daß aus Gründen der Opportunität der spezifisch innerdeutsche Aspekt der deutsch-deutschen Beziehungen von Ihnen immer mehr ins Zwielicht gerückt wird. Sie, Herr Kollege Franke, der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, haben formal die Gesamtkoordinierung der Vertragsverhandlungen mit der DDR. Dem Ausschuß wird aber eine korrespondierende Zuständigkeit von der Mehrheit dieses Hauses nicht zugestanden. ({12}) Meine Damen und Herren, wer käme denn sonst in Frage? Dieser Ausschuß ist doch der Sachverwalter des Parlaments in innerdeutschen Fragen. Oder nicht, Herr Bundesminister? ({13}) Sie sollten daran ein Interesse haben, es sei denn, Sie sagen hier, Sie wollten den innerdeutschen Vorbehalt preisgeben. Meine Damen und Herren, ich will auf Einzelheiten dessen, was wir zu diesem speziellen Thema gesagt haben, jetzt nicht mehr eingehen. Ich will mich mit der Frage der nationalen, der demokratischen und der moralischen Vertretungspflicht, die die Bundesrepublik Deutschland hat, beschäftigen. Ich will Ihnen auch sagen, daß Sie uns - auf die Absichtserklärung und die Anhänge des Grundlagenvertrages gehe ich hier nicht ein - doch in der Debatte über die heute schon mehrfach erwähnte Schlußakte von Helsinki im Sommer 1975 immer wieder erklärt haben, dies werde sich sehr fruchtbar für die innerdeutschen Beziehungen auswirken. Unsere Skepsis, Herr Kollege Carstens, wurde wie immer als Schwarzmalerei, Hysterie usw. angeprangert. Sie, Herr Bundesminister Franke, erklärten z. B., die Bedeutung der KSZE - ich zitiere - bestehe darin, daß die von der KSZE aufgestellten Entspannungskriterien als Minimalwerte für die Erfüllung der Verpflichtungen heranzuziehen sind, welche die beiden deutschen Staaten im Grundlagenvertrag eingegangen sind. ({14}) Ist es nicht unsere Pflicht, heute zu fragen: Wo bleibt denn die Erfüllung dieser Verpflichtungen? ({15}) Der Kollege Mattick meinte damals, nach der Unterschrift in Helsinki müßte sich im innerdeutschen Verhältnis noch einiges verändern. Gerade im Hinblick auf die schon von meinen Kollegen benannten Belastungen im innerdeutschen Bereich haben wir doch positive Veränderungen nicht gespürt. Der Bundeskanzler sagte - ich zitiere jetzt wieder wörtlich -: „Alle Beteiligten stehen, auch was den Korb 3 anbelangt, unter einem gewissen Erfolgszwang." Was wir erleben - und das finde ich gerade im Hinblick auf die deutsche Verhandlungspolitik schlecht -, sind doch immer wieder frisierte Erfolgsmeldungen. Genau dies können wir in der Deutschlandpolitik nicht gebrauchen, wenn wir unsere Verhandlungsposition halten wollen. ({16}) Man hat uns einige Monate lang in diesem Hohen Hause und im Ausschuß gesagt, man sei noch nicht soweit. Ich habe immer wieder die Frage gestellt - sie ist heute von dem Herrn Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der CDU/CSU auch gestellt worden -: Wo bleibt denn eine geschlossene Konzeption dieser Regierung, die sich an die Schlußakte von Helsinki anlehnt? Sie ist leider nicht da, meine Damen und Herren. ({17}) Jetzt will ich einmal Punkt für Punkt fragen. Wie steht es mit der Ausreiseerlaubnis zur Pflege regelmäßiger Begegnungen auf der Grundlage familiärer Beziehungen? ({18}) Das ist, Herr Kollege Marx, ein besonders trostloses Kapitel. Wie steht es mit einer umfassenden Familienzusammenführung im, wie es dort heißt, positiven und humanitären Sinne? Mir werden Sie, Herr Bundesminister Franke, nicht vorwerfen können, daß ich den Versuch mache, den Teil, den Sie angesprochen haben, über die Freilassung von Menschen an die Öffentlichkeit zu zerren. Wie steht es mit den geregelten Heiratsmöglichkeiten? Auch dies ist doch ein wichtiger Punkt. Oder wie steht es mit den umfassenden Reisemöglichkeiten? Herr Bundesminister, wir können doch nicht, solange sich dies auf einer Einbahnstraße vollzieht, von Freizügigkeit reden! Dies ist doch eine fatale Verwirrung der Begriffe, die wir nicht vornehmen sollten. ({19}) Und wie steht es mit dem umfangreichen Jugendaustausch? Oder bleiben solche Begegnungen, wie es mein Kollege Graf Stauffenberg bereits angedeutet hat, Jungsozialisten vorbehalten, die zum Nachteil der deutschen Position im trauten Miteinander mit Kommunisten ihren Volksfrontträumereien nachhängen? ({20}) - Wollen Sie die Jungsozialisten in Schutz nehmen? Das finde ich interessant, was Sie sagen. Wie steht es denn mit dem Informationsaustausch, der sich doch auf alle Medien erstrecken soll, oder mit dem Kulturaustausch? Meine Damen und Herren, dies alles sind Dinge, die sich an die Schlußakte von Helsinki anlehnen. Bis zum heutigen Tage wird hier ein bißchen und dort ein bißchen verhandelt. Aber ein geschlossenes, in sich logisches, dynamisches Verhandlungskonzept gibt es nicht. Ich glaube, es ist notwendig, daß die Bundesregierung - und wir werden die Bundesregierung nicht aus ihrer Verpflichtung entlassen - diesem Hohen Hause im Interesse aller Deutschen endlich ein solches Konzept vorlegt. Meine Damen und Herren, dies kann doch nicht durch irgendwelche internen Richtlinien geschehen. Dies alles muß doch gleichzeitig mit großer Intensität in allen internationalen Gremien erfolgen: In den Vereinten Nationen natürlich - eine Genscher-Rede macht ja noch keinen gesamtdeutschen Sommer - in den dort vorhandenen Kommissionen, in der Europäischen Gemeinschaft, im Europarat, insbesondere vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat dafür gesorgt, daß die DDR international hoffähig gemacht worden ist. Sie hat diesen für die deutsche Einheit katastrophalen Tatbestand politisch zu verantworten. Sie muß sich ungeachtet von Verträgen zu dieser nationalen Vertretungspflicht bekennen, die uns niemand, kein Vertrag, abnehmen kann. Wir alle, meine Damen und Herren, haben diese Bürde vor allem auch als Demokraten zu tragen. Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nur noch eines sagen: Wer heute nicht deutlich macht, daß er die Vertretungspflicht für ganz Deutschland offensiv wahrzunehmen gedenkt, wird morgen - ich halte es für sehr wichtig, daß wir dies jetzt schon sagen - eine gefährliche Identitätskrise der deutschen Nation im Ganzen herbeiführen. ({21}) Wer aber, wie Egon Bahr und andere es tun, Koexistenz auf deutsch buchstabieren will, und ungeachtet der Grausamkeiten im anderen Teil Deutschlands - man höre! - immer noch von gutnachbarlichen Beziehungen spricht, der, meine Damen und Herren, ist doch im internationalen Bereich gar nicht in der Lage, der notwendigen nationalen, demokratischen und moralischen Vertretungspflicht nachzukommen. Ich bedauere es, daß durch die Debattenbeiträge der Bundesregierung und der Koalition diese deutschlandpolitische Debatte immer wieder auf Nebengleise geschoben worden ist. Für uns, die CDU/CSU, ist der deutschlandpolitische Vorbehalt ein Eckpfeiler unserer gesamten Politik. Herr Bundesminister Franke, Sie werden weiter damit rechnen müssen, daß wir Sie ungeachtet Ihres Rückzuges an die Verantwortung erinnern, die die Bundesrepublik Deutschland für alle Deutschen zu tragen hat. ({22})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat Herr Abgeordneter Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Überall war es zu lesen und auch im Rundfunk war es zu hören, daß heute die große Abrechnung mit der Regierung über die Deutschlandpolitik, die Außenpolitik und über ihr Verhalten insgesamt stattfindet. Ich habe bis zu dieser Minute auf Neues gewartet und kann jetzt nur feststellen: Außer der Wiederholung der Thesen, die wir schon immer gehört haben, war nichts Neues zu vernehmen. ({0}) Das einzige Neue war, daß wir im Gegensatz zu anderen Debatten dieser Art hier heute wiederum neue Abkommen, die in der Zwischenzeit abgeschlossen worden sind, präsentieren konnten. ({1}) Die Regierung ist weitergekommen, die Opposition ist bei Klagerufen stehengeblieben, ohne zu sagen, wie es anders weitergehen könnte. Nichts Neues! Das war nicht anders zu erwarten. Wir haben deutlich gemacht, daß wir nicht mit Scheuklappen an diese Politik herangehen, sondern daß wir im Gegenteil die Schwierigkeiten, die Sorgen und Nöte realistisch betrachten, die uns in der Deutschlandpolitik bedrücken. Aber wir sind nie auf die Idee gekommen, den Fehler zu machen, um der Sorgen und der Nöte willen zu vergessen, daß man handeln muß, wenn man weiterkommen will, und daß man hier über die Dinge nicht nur reden darf. Es ist vom Kollegen von Wrangel davon gesprochen worden, daß die Debatte auf Nebengleise abgeschoben wurde. Ich werde mich mit ein paar Punkten von diesen Nebengleisen auseinandersetzen. Aber es sind nicht Nebengleise, die wir eingeführt haben, sondern solche, die von Ihren Kollegen, insbesondere von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, hier eingeführt worden sind. Sie sagen, man sollte doch nicht behaupten, die Opposition erkenne das Positive nicht an. ({2}) Wir sind gern bereit, das aufzunehmen; aber Sie begehen dabei einen Denkfehler. Das, was Sie bereit sind als positiv anzuerkennen, wäre gar nicht möglich gewesen, wenn die Vertragspolitik, die wir gemacht haben, nicht vorausgegangen wäre. ({3}) Das ist doch der entscheidende Punkt; dies müssen Sie ganz nüchtern sehen. Ein weiteres! Sie haben wieder einmal versucht - wie auch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion -, die Mittel, die wir für den Ausbau, den Umbau und die Erweiterung der Autobahn nach Berlin bereitstellen - und nur sie sind vergleichbar mit den Aufwendungen für die Saalebrücke im Jahre 1965 - mit der Transitpauschale in einen Topf zu werfen. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie an die Saalebrücke denken, müssen Sie sich daran erinnern, daß damals - von uns nicht kritisiert und gemeinsam akzeptiert - auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland die Baustelle mit einem hohen Zaun abgeriegelt wurde und daß die Vopo auf diesem Teil Wache halten und notfalls auch schießen durfte. Wenn wir auf die Idee gekommen wären, bei einem dieser Punkte so etwas auch nur andeutungsweise zu tun - ich hätte dieses Geschrei hören mögen! ({4}) Ich wiederhole: Wir haben es damals um des Baus der Brücke willen gemeinsam akzeptiert, sowohl diejenigen, die in der Regierung waren, als auch diejenigen, die in der Opposition waren. Wenn so viel nüchterne Betrachtung heute bei anderen Fragen Platz griffe, könnten wir manche Dinge besser und leichter lösen. Vielleicht denken Sie auch darüber einmal nach. ({5}) - Sie sagen jetzt „kein Vergleich". Das ist nicht richtig. Es ist doch ein Vergleich. Wenn Herr Kollege von Wrangel davon sprach, die ganze Reisetätigkeit sei nur eine Einbahnstraße, ({6}) dann muß ich dem folgendes entgegenhalten. Was die Einbahnstraße angeht, so haben Sie insofern recht, als die Vielzahl der Reisenden von 3 Millionen Menschen von der Bundesrepublik in die DDR und von 3 Millionen von West-Berlin nach Ost-Berlin und in die DDR nicht in gleicher Weise beur15182 teilt werden kann, weil es eben noch die Bestimmungen über das Rentenalter gibt. Auf dieser Einbahnstraße hat aber doch schon ein wenig Gegenverkehr eingesetzt. Wir haben tatsächlich mehr als 60 000 Fälle von Reisenden, die unter dem Rentenalter liegen und die vor der vertraglichen Vereinbarung nicht gekommen wären, jetzt aber kommen konnten. Insofern sind wir auch in diesem Punkte ein Stückchen weitergekommen. ({7}) Dies muß man doch sehen. Wenn man Positives anerkennt, sollte man dies nicht verschweigen. Nun gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zu den Ausführungen des Kollegen Carstens. Ich habe Verständnis dafür, wenn er möglicherweise im Augenblick etwas anderes tun muß. Warum ich erst jetzt dazu komme, ihm zu antworten, habe ich vorhin schon festgestellt. Ich hatte immer noch gehofft, daß ganz neue Erkenntnisse vorgebracht werden würden. Der Kollege Carstens sprach davon - und er war es, der von der Tagesordnung abgewichen ist; das sage ich, weil Sie das kritisiert haben, Herr Kollege Abelein -, wir würden entschuldigend stets von weltweiter Rezession reden, dabei aber eine bewußte Inflationspolitik getrieben haben. Er hat weiter davon gesprochen, daß die Grundlagen der Sozialversicherung erschüttert würden, und noch andere Behauptungen dieser Art aufgestellt, die nun wahrlich mit dem Bericht unmittelbar nichts zu tun haben. ({8}) Ich wäre dankbar, wenn die Kollegen der Union einmal in aller Ruhe darüber nachdächten, wie sie sich verhalten haben, als von uns bei der Behandlung des Rentenberichts auf drohende Entwicklungen hingewiesen wurde, die ja schon im Jahre 1963 erkennbar waren. Als wir Sie damals mahnten, bei all diesen Fragen sorgfältig und langfristig zu operieren, antwortete der Kollege Blank auf meine Mahnungen: Diese Schwarzmalerei mit 18 °/o Beiträgen, das ist nur eine Verunglimpfung unserer Reform; mit Klauen und Zähnen werden wir daran festhalten! - Wir haben längst die 18 °/oigen Beiträge. Vielleicht denken Sie einmal selbst darüber nach, was Sie damals an Fehlern gemacht haben, die Sie heute anderen in die Schuhe schieben wollen. Nun hat der Herr Kollege Carstens in einem Exkurs - Herr Hoppe ist darauf schon eingegangen - Persönlichkeiten der Geschichte dargestellt. Ich habe den Eindruck, daß er zu diesem Zweck sehr eifrig Veröffentlichungen der Friedrich-Naumann-Stiftung nachgelesen hat. ({9}) Das ist sehr begrüßenswert; wir freuen uns über jeden, der sich mit liberaler Politik und liberaler Tradition auseinandersetzt. Zum Schluß hat er dann auch Thomas Dehler genannt. Als der Name Thomas Dehler fiel, erinnerte ich mich daran, daß ich als parlamentarischer Geschäftsführer im Jahre 1960, bevor Thomas Dehler Vizepräsident werden sollte, mit einem Ihrer Kollegen, der leider nicht mehr unter uns weilt, tagelange Gespräche führen mußte, um das an sich unbestrittene Recht einer Fraktion, denjenigen zum Vizepräsidenten vorzuschlagen, den die Fraktion angibt, bei der CDU/CSU durchzusetzen; ({10}) man wollte ihn nicht wählen. Heute wollen Sie Thomas Dehler für Ihre Argumentation in Anspruch nehmen. ({11}) Oh, wie habt ihr euch verändert! Nur haben wir eben nicht vergessen, wie es damals war. Als es um die Frage der Koalition und um das Gerede von der Blockpartei ging, war schon von Ihrer Doppelstrategie die Rede. Dabei ist auf die Rede des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Filbinger hingewiesen worden. Auch in Baden-Württemberg wird von der CDU versucht, die alten Liberalen in Anspruch zu nehmen. Ich möchte hier für etwas mehr Klarheit sorgen, denn ich habe den Eindruck: Tote Liberale scheinen immer gute Liberale zu sein, den lebenden allerdings will man die Liberalität absprechen. ({12}) Ich darf deshalb hier mit Genehmigung des Präsidenten aus dem Brief eines lebenden Liberalen aus Baden-Württemberg, des früheren Finanzministers Dr. Hermann Müller, an den Ministerpräsidenten Filbinger vom 19. Januar 1976 zitieren. Mir scheint es gut zu sein, daß das im Protokoll steht. Vielleicht erleben wir in zwölf oder fünfzehn Jahren wieder eine solche Inanspruchnahme. Dann kann man darauf verweisen. Er schreibt: Zwar sind Ausführungen wie diejenigen, daß die CDU die einzige liberale und soziale Volkspartei sei, daß die Freiheit des menschlichen Individuums allein durch die CDU garantiert werde und ähnliche Behauptungen absolut unwahr, und Sie stecken sich damit ein falsches Etikett an, weil Sie und Ihre Partei noch nie liberal gewesen sind, sondern Liberalismus allein durch die FDP verkörpert wird. ({13}) Außerdem sind alle drei demokratischen Parteien Verteidiger des demokratischen Rechtsstaates. Aber das sind immerhin noch Ausführungen, die man an Verunglimpfungen im Rahmen eines Wahlkampfes verkraften können muß und die man im Wahlkampf widerlegen kann. ({14}) Daß Sie aber die heutige Regierung und die Koalition aus SPD und FDP in einer Weise verteufelt haben, daß Sie von einem Sozialistenblock, der die demokratische Grundlage unseres Staates in Gefahr gebracht hat, sprechen, ist nicht mehr zu vertreten, sondern stellt eine Diffamierung demokratischer Parteien dar, die sich bis jetzt in diesem Land noch niemand geleistet hat. Zu dieser Verteufelung gehören auch die Behauptungen, - jetzt wird Herr Filbinger wörtlich zitiert -„es gehe bei der Wahl um den demokratischen Staat oder die sozialistische Gesellschaft" bzw. „den Marsch in den Sozialismus kann und will die FDP nicht aufhalten" oder „es geht darum, ob in diesem Land auch in Zukunft Solidarität und Partnerschaft mehr gelten als Volksverhetzung und Klassenkampf". Es wären noch mehr Entgleisungen dieser Art zu erwähnen. Als Landesvorsitzender der CDU haben Sie damit die Fairneß und den Anstand, den Parteien und Parteiführer auch in einem Wahlkampf gegegenüber anderen demokratischen Parteien zu üben haben, verlassen. ({15}) Als Ministerpräsident aber haben Sie das Dekorum dieses hohen Amtes gröblichst verletzt. ({16}) Sie haben sich als solcher praktisch disqualifiziert, und alle guten Demokraten unseres Landes müssen sich schämen, daß an der Spitze unseres Staates ein Ministerpräsident steht, der sich derart vergißt. Und das ohne Not. Nirgends in unserem Lande oder auch im Bund ist irgendwo vom Verlassen der Demokratie oder der Einführung des Sozialismus oder einer sozialistischen Gesellschaft die Rede. Das war nicht der Fall in den drei Jahren, in denen Herr Kiesinger als Bundeskanzler mit der SPD im Bund regiert hat, und das war auch nicht der Fall, als Sie von 1966 bis 1972 im Land Baden-Württemberg mit der SPD regiert haben. Genausowenig ist es der Fall in den Bundesländern, in denen heute die SPD mit der FDP regiert, und Sie haben überhaupt keinen Anhaltspunkt für solche Behauptungen, wenn Sie die Regierung Helmut Schmidt/Hans-Dietrich Genscher in Bonn betrachten. Mit Ihren unqualifizierten Äußerungen haben Sie zudem die Männer, die mit Ihnen lange Jahre in einer Regierung gesessen sind ({17}) und die Ihnen auch danach in kollegialer Weise mit der nötigen Achtung begegnet sind, schwer beleidigt. Im Grunde genommen muß es eigentlich mit Ihrem CDU-Wahlkampfprogramm und mit dem Vorweisen Ihrer Regierungstätigkeit seit 1972 schlecht bestellt sein, wenn Sie zu solchen Wahlkampfmethoden greifen müssen. Was aber das Übelste dabei ist, ist die Tatsache, daß Sie der gewachsenen Demokratie in diesem Lande einen schweren Schlag versetzt haben. ({18}) Ich habe bewußt diesen Brief zitiert, um dies in das Protokoll des Deutschen Bundestages zu bringen. ({19}) - Da gehört es hin, nachdem Sie und Ihr Fraktionsvorsitzender hier in diesem Parlament so getan haben, als könnten Sie liberale Politiker der jüngsten und längeren Vergangenheit für sich in Anspruch nehmen. Sie haben kein Recht dazu, denn Sie sind keine liberale Partei. ({20})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mischnick, wären Sie bereit, den strengen Maßstab, den Sie uns aus dem Brief des früheren Ministers Müller vorgetragen haben, auch auf den Bundeskanzler und Chef der Koalition, der Sie angehören, anzuwenden, der es heute früh in seiner Regierungserklärung für nötig hielt, die demokratische Opposition in diesem Haus auf die gleiche Stufe wie die kommunistischen Ultras zu stellen, und uns beschuldigte, uns gegenseitig die Alibis zu liefern?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Jäger, so ist es eben nicht richtig, wie Sie das hier darstellen. ({0}) Das hat der Kanzler nicht getan. ({1}) - Dann lesen Sie es selbst auch einmal nach, gesagt wurde etwas ganz anderes. ({2}) - Herr Hupka, wenn Sie immer so genau auf alles, vor allem auf die Antworten, die auf Ihre Fragen gegeben werden, aufpassen würden, dann würden Sie so viele zusätzliche Fragen gar nicht stellen. Ich habe aber manchmal den Eindruck, daß Sie nicht aufgepaßt haben. ({3}) Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns alle in diesem Hause vertretenen Parteien nicht nur demokratische Parteien sind, sondern daß sie auch miteinander regierungsfähig sind, in welcher Konstellation auch immer. Aber wenn Sie sagen, wir würden als Blockparteien auftreten, ({4}) um damit den Eindruck zu erzeugen, als sei das eine kommunistische Blockbildung, dann begeben S i e sich aus dem Spektrum der demokratischen Parteien heraus, nicht wir. Das ist doch der entscheidende Unterschied. ({5})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte!

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001025, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wenn Sie schon den früheren Finanzminister Müller zitieren und meinen, diesen Mann ausgerechnet als Kronzeugen der Moral anführen zu können, dann möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß er vor einiger Zeit die Landesregierung Baden-Württembergs als „schwarze Brut" bezeichnet hat und den Kultusminister Hahn öffentlich in der Presse als „schwarzen Bock" diffamiert und kritisiert hat?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mich überrascht, daß Sie das jetzt sagen, denn ich kann mich sehr genau an den Parteitag der Freien Demokraten in Lübeck 1953 erinnern, als der von Ihnen jetzt im baden-württembergischen Wahlkampf oft beschworene frühere Ministerpräsident Maier von dem schwarzen Gewürm sprach, dem man auf Schwanz und Bauch treten müsse. Das hat Ihnen offensichtlich auch nichts ausgemacht, sonst würden Sie ihn nicht zitieren. Daß man sich in der Auseinandersetzung manchmal „heißer Vokabeln" bedient, ({0}) haben Sie eben durch dieses Zitat bewiesen. ({1}) Auf der anderen Seite stelle ich fest, daß dabei nicht in Zweifel gezogen worden ist, daß - insgesamt gesehen - diese politischen Gruppierungen eine gemeinsame demokratische Verantwortung und Grundlage haben. Das haben wir nie in Zweifel gezogen. Das werden wir auch nicht in Zweifel ziehen. ({2}) - Nein, ganz und gar nicht! Wissen Sie, wenn Sie Fußball spielten, wüßten Sie genau, was ein Eigentor ist. Ein Eigentor hat nämlich Herr Jenninger gemacht. Niemand anders, auch nicht ich, hat hier ein Eigentor geschossen. ({3}) - Wenn Sie früher soviel Fußball gespielt hätten wie ich, könnten wir uns gerne darüber verständigen. Daß ich heute nicht mehr aktiv sein kann, ist bekannt. ({4}) Aber eines könnten wir beide noch tun: bei einer der nächsten Trainingsmöglichkeiten können wir einmal probieren, wer mehr Tore schießen kann. ({5}) Aber mit Ihnen, Herr Hupka, über Sport zu sprechen, hat nicht viel Sinn. Dazu braucht man nämlich Fairneß, und diese ist bei Ihnen selten vorhanden. Das ist mein Eindruck. ({6}) Meine Damen und Herren, noch ein paar Bernerkungen zu dem, was von unserem Kollegen Marx hier gesagt worden ist, nämlich daß wir das Wollen der CDU/CSU falsch darstellten, und zwar in dem Sinne, daß man die Versöhnung mit Polen nicht hoch genug werte und nur die Kritik an Ihrem Verhalten in den Vordergrund stelle. Sehen Sie, das ist doch genau der Punkt. Es nützt nichts, sich in diesen Fragen immer wieder verbal zur Versöhnung zu bekennen, aber bis zur Stunde hinsichtlich der praktischen Entscheidung, die vor uns steht, nicht klar zu sagen, ob man diese Verträge aus innenpolitischen Gründen zu Fall bringen will oder nicht. ({7}) - Lieber Herr Carstens, wieso ist das unter irgendwelchem Niveau? ({8}) Sie haben bis zur Stunde durch Ihren Vorsitzenden immer wieder erklären lassen, daß er gegen die Verträge sei. Heute ist die Frage an Sie gerichtet worden, ob Sie diesen Vertrag, das Rentenabkommen, im Bundesrat scheitern lassen wollen oder nicht. Es ist keine Antwort darauf gekommen. ({9}) Wenn Sie sagen, das sei hier nicht der richtige Ort, wenn Sie zum Ausdruck bringen, Sie wollten die Versöhnung, Sie stimmten hier dagegen, und im Bundesrat solle der Vertrag angenommen werden, dann wäre das eine Marschrichtung. ({10}) Bis zur Stunde haben Sie sich aber nicht bekannt, ob Sie die Versöhnung durch Annahme dieses Abkommens wirklich praktizieren wollen ({11}) oder ob Sie immer nur beschwören und alle Appelle - auch jene, die nicht von den politischen Parteien kommen, eingeschlossen die Appelle der Kirchen - in den Wind schlagen wollen. ({12}) Die Reaktion auf die Äußerung der evangelischen Kirche macht mir allerdings deutlich, ({13}) daß selbst die Appelle aus diesem Bereich Sie nicht davon abbringen können, diese Frage offensichtlich mehr unter propagandistischen Aspekten und weniger aus einer sachlich notwendigen Betrachtungsweise heraus zu sehen. Das ist der Punkt, um den es hier geht. ({14})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hösl?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte!

Alex Hösl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000933, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mischnick, würden Sie das Ergebnis dieser Vereinbarung mit Polen für gut ansehen, wenn 160 000 ungewisse Schicksale übrigbleiben und Sie von der Humanität nur in bezug auf 125 000 sprechen? ({0})

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich habe hier schon anläßlich der ersten Lesung gesagt, wer die Frage der Üersiedlung von 125000 Menschen unter dem Begriff „alles oder nichts" sieht, handelt hier va banque, aber nicht politisch. ({0}) Das ist eben der Unterschied in der Betrachtungsweise. Wenn wir die 125 000 Aussiedlungen ermöglichen, ist es für die anderen, deren Zahl offensichtlich umstritten ist - es hat keinen Zweck, darüber zu streiten, ({1}) durchaus möglich, zu weiteren Vereinbarungen zu kommen. ({2}) Scheitert das Abkommen, wird es auch keine weiteren Vereinbarungen und Möglichkeiten geben. Das ist der Tatbestand. ({3})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte!

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mischnick, teilen Sie meine Auffassung, daß man bei gleichem Verständigungs- und Aussöhnungswillen sehr verschiedener Meinung darüber sein kann, ob ein bestimmter konkreter Vertrag per saldo der Verständigung und Aussöhnung auf Dauer wirklich dienen wird?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich schließe nicht aus, daß man unterschiedlicher Meinung über die Gesamtwirkung auf Dauer sein kann. Ich muß mir aber die Frage stellen, ob dann die Folgen eines Neins so groß oder so klein sind, daß ich mir dieses Nein leisten kann oder nicht leisten kann. Hier scheint mir die Opposition noch nicht die richtige Wertung gefunden zu haben. Wir sind davon überzeugt, daß das, was langfristig an Möglichkeiten besteht, besser mit einem Ja, nicht aber mit einem Nein zu realisieren ist. Das ist der Unterschied in der Betrachtung. ({0})

Dr. Alois Mertes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001482, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mischnick, Sie sind also der Meinung, daß es sich hier nicht um eine Frage der politischen Motivationen und der guten Gesinnung, sondern um eine Frage der politischen Einschätzung handelt?

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist sowohl eine Frage der Moral wie der Politik, beides, denn im Verhältnis zu Polen können wir beides aus der geschichtlichen Entwicklung heraus leider nicht trennen. Das muß man ganz klar sehen. ({0}) Wenn man das nicht versteht, bedaure ich das. Der Kollege Abelein hat hier noch einmal ein paar Punkte aufgeführt und unter anderem davon gesprochen, daß alles, was wir politisch gemacht hätten, reine Schönfärberei sei, daß schöne Sprüche gemacht würden, aber praktisch nichts herauskomme. Der Kollege Marx hat davon gesprochen, daß die Spaltung unangenehmer, bitterer und blutender geworden sei. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wieso im Jahre 1975 3 Millionen Reisende aus der Bundesrepublik in die DDR, 3 Millionen aus West-Berlin nach Ost-Berlin in die DDR, über i Million aus der DDR in die Bundesrepublik, insgesamt 60 000 unter dem Rentenalter die Dinge schlechter gemacht haben sollen, vermag niemand einzusehen, der noch ein bißchen logisch denken kann. ({1}) Das Ganze ist doch weiter nichts als der neuerliche Versuch, tatsächliche Erfolge eben doch abstreiten zu wollen, sie zu verkleinern. Wir wissen sehr genau, daß damit noch nicht die Freizügigkeit erreicht ist. Wir wissen sehr genau, daß damit die optimalen Ziele, die wir uns setzen, noch nicht erreicht sind. Aber wir haben nie verschwiegen, daß das ein sehr schwieriger, ein sehr langwieriger Weg mit sehr viel Steinen sein wird, den wir zu überwinden haben. Wir halten eine sachliche Auseinandersetzung darüber durchaus für richtig und notwendig; sie kann sehr hilfreich, aber nur dann, wenn man nicht immer wieder das Ganze in Frage stellt, sondern sich überlegt, wie man Punkt für Punkt besser machen kann. Sie stellen immer wieder das Ganze in Frage, statt Punkt für Punkt zu versuchen, da oder dort zu einer besseren Lösung zu kommen. Gerade die Verteufelung, die ja in diesem Zusammenhang immer wieder erfolgt, stößt auf ein wachsendes Unverständnis auch bei den Menschen in der DDR, die mit Recht immer wieder mahnen: Wir haben Verständnis, wir wissen, wie notwendig es ist, eine solche Vertragspolitik zu treiben; wir bitten euch aber, darauf aufzupassen, daß die Grundideen dabei nicht über Bord geworfen werden. Dieselben Menschen, die das mahnend zu uns sagen, warnen uns aber auch davor, doch nicht ein Schauspiel zu bieten, in dem sich demokratische Parteien, die an sich einen Grundkonsens haben sollten, bei diesen Fragen gegenseitig so verteufeln, wie das hier oft geschieht. Wir wissen ganz genau, wie viele noch warten und wie sehr manche in Sorge sind, daß ihnen bei Besuchen Schwierigkeiten bereitet werden können. Aber das werden wir nicht dadurch überwinden, daß wir die gesamte Vertragspolitik in Frage stellen, sondern wir werden es überwinden können, wenn wir diesen Weg, den wir mit den Verträgen eingeschlagen haben, konsequent weitergehen, ihn ausbauen, Mängel, die bestehen, nicht nur erkennen, sondern sie zu beseitigen versuchen und deutlich machen, daß unsere Grundhaltung, die gesamte deutsche Situation zu sehen, damit nicht etwa über Bord geworfen ist, sondern daß wir nur andere Wege, andere Notwendigkeiten heute in den Vordergrund stellen müssen, als das gestern oder vorgestern als möglich angesehen wurde. Ich bin überzeugt: Wer in der Politik für die gesamte Nation auf Dauer die Voraussetzungen dafür erhalten will, daß sich die Menschen in den beiden deutschen Staaten noch als zugehörig zu einer Nation betrachten, muß alles tun, um den Weg fortzusetzen, den wir begonnen haben; denn nur so kann der menschliche Zusammenhalt erhalten bleiben und wieder ausgebaut werden. Der Weg der Konfrontation, der von Ihnen zum Teil gefordert wird, ließe diese Fäden abreißen und würde denjenigen am ehesten die Ernte in die Scheuer schaffen helfen, die eine endgültige Teilung wollen. ({2}) Gerade weil wir diese Spaltung auf Dauer überwinden wollen, müssen wir die Verbindungsmöglichkeiten ausbauen, jede Chance nutzen, jeden Schritt wohlüberlegt prüfen, ihn aber bewußt in einer Weise tun, die diese Verbindungsmöglichkeiten verbessern hilft und sie nicht abreißen läßt. Wenn Sie darüber einmal nicht nur in Ruhe nachdächten, sondern auch zu einem Ergebnis kämen und Ihre ständigen Versuche, die Deutschland- und Außenpolitik als Hauptthema der innerpolitischen Wahlkampfauseinandersetzungen zu benutzen, beiseite lassen wollten, dann könnten wir nach meiner Überzeugung gemeinsam mehr erreichen, als es heute möglich ist. Es liegt an Ihnen, ob Sie diesen Weg freimachen oder weiterhin bei Ihrer Biockierung verharren. ({3})

Dr. Richard Jaeger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001006

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Barche.

Hermann Barche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000092, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte von dem sprechen, was in der Deutschlandpolitik durch die sozialliberale Koalition an Positivem geschehen ist, im Gegensatz zu den Ausführungen des Vorsitzenden des innerdeutschen Ausschusses, Herrn Olaf von Wrangel, der nur von dem gesprochen hat, was nicht geschehen ist. Ich könnte mir vorstellen, daß der Vorsitzende dieses Ausschusses, ohne Schaden an seiner politischen Seele zu nehmen, auch von dem hier hätte sprechen können, was dieser Ausschuß an Erleichterungen der mitmenschlichen Beziehungen in all den Jahren gemeinsam mit dem zuständigen Ministerium erreicht hat. Herr von Wrangel, Sie haben aber auch insbesondere die Sozialdemokraten und den Minister für innerdeutsche Fragen, den wir stellen, dazu ermahnt, mehr als bisher an die Vertretungspflicht für ganz Deutschland zu denken. Ich möchte Ihnen dazu dies sagen, Herr von Wrangel: Wenn wir nicht nur die Zeit von 1969 bis heute betrachten, sondern auch einmal in die Geschichte unseres Volkes bis zum Jahre 1918 oder, wenn Sie wollen, noch davor zurückgehen, stellen wir fest, daß es seit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei keine Partei in diesem Lande gibt, die in jeder 1 schwierigen Situation dieses Volkes stärker und mehr an Deutschland und an seine Menschen gedacht hat, als die Sozialdemokraten es getan haben. ({0}) Ich meine, auch das einmal im Laufe dieser Diskussion sagen zu sollen. Ich möchte das Folgende besonders an die Adresse jener Kollegen dieses Hauses richten, die gleich mir aus der Generation kommen, die die Weimarer Zeit und den Niedergang der Weimarer Zeit erlebt hat und die Ursachen hierfür am eigenen Leibe mit erfahren hat. Auch damals, in der Zeit von 1918 bis 1933, in der Zeit bis zum Tod dieser ersten deutschen Republik wurde von deutschnationalen und faschistischen Kräften systematisch - ähnlich wie heute - systematisch versucht, die Sozialdemokraten in eine Ecke, in eine kommunistische Ecke zu drängen, was letzten Endes mit dazu geführt hat, daß der Niedergang der Weimarer Republik beschleunigt wurde. ({1}) Ich warne Sie davor, dieses Spiel weiter zu treiben, mit dem heute der Auftakt zu dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf gegeben worden ist. Es könnte für uns alle ein schreckliches Ende nehmen. ({2}) - Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; die Zeit ist schon zu weit fortgeschritten! ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte über das sprechen, was ich anfangs genannt habe, und möchte mich eigentlich nicht noch einmal auf den Altbundeskanzler Adenauer berufen; aber ich muß es tun, um Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, daran zu erinnern, was Sie im Geiste von Konrad Adenauer in Ihrer Deutschlandpolitik von 1949 bis 1969 versäumt haben. ({4}) Ich will auch nicht an die Zitate von Konrad Adenauer aus den frühen fünfziger Jahren erinnern, die belegen, daß er gegenüber westlichen Politikern wegen seiner Politik der Westintegration auf eine Wiedervereinigung Deutschlands verzichtet hat. Ich will aber daran erinnern, daß er, wenn es um die Menschen im anderen Deutschland ging, mahnte, nicht nur an die Grenzprobleme zu denken, sondern an die Menschen, daß er zum Ausdruck brachte, daß das Deutschlandproblem eine menschliche Frage ist, und daß er in seiner Stellungnahme zu Berlin und zu den Brüdern und Schwestern, wie er sich ausdrückte, in der Zone ebenfalls davon sprach, daß menschliche Überlegungen für ihn eine größere Rolle spielten als nationale. Ich glaube, das sollten sich einige Herren, die meinen, diese Politik kritisieren zu müssen, ins Stammbuch schreiben. Ähnliches hat man auch von Ludwig Erhard anläßlich seiner Reise und seines Aufenthaltes in den USA gehört. Lassen Sie mich aber auch an die Regierungserklärung vom 12. April 1967 betreffend die Erleichterung der Lebensverhältnisse erinnern. In dieser Regierungserklärung wird zum Ausdruck gebracht, wie sich damals die Regierung der Großen Koalition unter dem Kollegen Kiesinger die Politik vorstellt. Dort wird von verbesserten Reisemöglichkeiten, vor allem für Verwandte, mit dem Ziel der Entwicklung eines normalen Reiseverkehrs gesprochen, von einer Passierscheinregelung in Berlin und zwischen den Nachbargebieten beider Teile Deutschlands, von einer Erleichterung des Zahlungsverkehrs durch innerdeutsche Verrechnung und beiderseitige Bereitstellung von Reisezahlungsmitteln, von der Erleichterung des Empfangs von Medikamenten und Geschenksendungen und von der Ermöglichung der Familienzusammenführung, insbesondere der Kinderrückführung. Das war im Jahre 1967. Dies alles, meine Damen und Herren, was ich eben bewußt zitiert habe, war von jeher die Meinung der SPD in der Deutschlandpolitik und ist insbesondere seit 1969 zur Basis für die Deutschlandpolitik der sozialliberalen Bundesregierung und der sie .tragenden Parteien SPD und FDP geworden. Humanität und Menschlichkeit sind für Sozialdemokraten noch nie leere Lippenbekenntnisse gewesen; sie sind echte Postulate unserer Politik - und das seit mehr als 110 Jahren. ({5}) - Ja, das wollen Sie wahrscheinlich nicht hören. Diese Begriffe sind für Sie fremd. Sie sind auch bestimmend für unsere Deutschlandpolitik, insbesondere wenn es darum geht, das Schicksal und die Lebensverhältnisse der im anderen Teil Deutschlands lebenden Menschen zu erleichtern. Meine Damen und Herren, es geht letzten Endes darum, die Lebenslage derjenigen zu erleichtern, die als Folge einer inhumanen und unmenschlichen Politik des deutschen Faschismus nicht nur vom übrigen deutschen Volk getrennt, sondern dadurch auch ausgesperrt von dem freiheitlich-demokratischen Teil Deutschlands, unter einem kommunistischen Zwangssystem leben müssen. Für diese Deutschen und für unsere 2,1 Millionen Westberliner betreiben wir diese Deutschlandpolitik der menschlichen Erleichterungen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß wir gerade mit dieser Politik einen wertvollen Beitrag zur Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und zur Bewahrung des Friedens in Europa leisten. Die Opposition dieses Hauses sieht seit 1969, seitdem ihr durch die aktive Deutschlandpolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt ihr Versagen auf diesem Gebiet täglich demonstriert wird, ihre Aufgabe darin, alles, was an positiver Entwicklung geschehen ist, madig zu machen und herunterzureißen. Was hat unser Volk von den ehemaligen Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger gehört? - Schöne Deklarationen und Regierungserklärungen zu dieser Frage, die teilweise die Unterstützung des ganzen Hauses gefunden haben. Im übrigen aber - in der praktischen Politik für menschliche Erleichterungen, für die Verstärkung der mitmenschlichen Beziehungen zwischen den in der Bundesrepublik, insbesondere im Zonengrenzraum, und den in der DDR lebenden Deutschen - haben die CDU und die CSU als in der Regierungsverantwortung stehende Parteien von 1949 bis 1969 sehr wenig getan. Das ist noch milde ausgedrückt. Das wird auch nicht dadurch abgeschwächt, daß in der Deutschlandpolitik und in unserer Politik der mitmenschlichen Erleichterungen von einem Teil Ihrer Fraktion eine andere Haltung eingenommen wurde. Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal an das erinnern, was ich eben aus der Regierungserklärung von 1967 zitiert habe. Ich muß Sie deshalb, auch wenn es teilweise heute schon einige Male angeklungen ist, mit den nüchternen Zahlen strapazieren, was seit 1969 bis zum heutigen Tag geschehen ist. Im Telefonverkehr gab es beispielsweise zwischen dem Bundesgebiet und der DDR bis 1970 nur 34 handvermittelte Leitungen. Im April 1975 waren es 278, zum Teil vollautomatisch; zwischen Berlin ({6}), der DDR und Berlin ({7}) bis 1970 keine, April 1975 411, überwiegend vollautomatisch. Nun können Sie sagen: Was soll das? Aber welche Bedeutung das Telefonieren für den mitmenschlichen Bereich hat, erleben wir ja in diesen Tagen ({8}) - bei den Diskussionen in unserem Lande über den Zeittakt, Herr Dr. Marx! ({9}) Aus der Bundesrepublik gab es an Personenverkehr in die DDR 1967 1 423 738; 1975 waren es 3 132 491. ({10}) - Herr Dr. Marx! Die Materialien haben auch Ihre Kollegen aus dem Innerdeutschen Ausschuß, nur werden sie geflissentlich nicht auf den Tisch gelegt. Im Personenverkehr nach Berlin ({11}) waren es 1967 3 997 386; 1975 mehr als eine Verdoppelung auf 7 196 798! Reisen von West-Berlin nach Ost-Berlin und in die DDR: An Gesamtreisen nicht nur von West- nach Ost-Berlin, sondern auch in die DDR: 1967 keine, von Ostern 1972 bis zum 15. Dezember 1975 10 007 374. Sie können sich Ihre eigenen Gedanken darüber machen. Die Rentnerbesuche aus der DDR in die Bundesrepublik waren allerdings schon seit 1964 möglich. Sie sind von 1967 mit 1 072 000 auf 1 330 000 im Jahre 1975 gestiegen. Reisen von DDR-Bewohnern in die Bundesrepublik, die noch nicht im Rentenalter sind: 1967 keine, 1975 40 442. Meine Damen und Herren! Wer wie ich als Zonengrenzwahlkreisabgeordneter unmittelbar seit Jahren und täglich mit den Sorgen der Menschen an der Grenze konfrontiert wird, weiß, was es bedeutet, wenn nach Abschluß des Grundlagenvertrages im grenznahen Verkehr allein 1975 463 190 Bürger aus der Bundesrepublik diese Möglichkeit benutzen konnten, um unmittelbaren Kontakt mit ihren Verwandten im geteilten Deutschland aufnehmen zu können, oder aber auch aus touristischen Gründen in die DDR gereist sind und bei dieser Gelegenheit dazu beigetragen haben, daß die bedrohliche Entwicklung des Auseinanderlebens während des kalten Krieges beendet wurde. Nach dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages hat sich der Reiseverkehr von der Bundesrepublik in die DDR weit mehr als verdoppelt. 1969 waren es 1 107 077 Reisen, 1975 3 123 491. Seit Inkrafttreten des Transitabkommens, also seit 43 Monaten, haben insgesamt etwa 48,9 Millionen Westdeutsche und Westberliner die Transitwege benutzt. Auf dem Gebiet der Familienzusammenführung - sicher ein Problem, das uns alle am Herzen liegt - konnten auf Grund des Art. 7 des Grundlagenvertrages im ersten Halbjahr 1975 2 500 Erwachsene unterhalb des Rentenalters und 400 Kinder mit ihren Familienangehörigen in der Bundesrepublik bzw. Berlin ({12}) zusammengeführt werden; von 1964 bis 1969 waren es lediglich 1 904 Personen. ({13}) - Ich verstehe Sie nicht, Herr Dr. Marx; Sie müssen lauter reden. Seit 1970 konnten 11 500 Personen auf dem Wege der Familienzusammenführung aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisen. Ebenfalls seit 1970 konnte für 5 829 politische Häftlinge die Entlassung aus Gefängnissen in der DDR erreicht werden; zu dem menschlichen Problem dieser letzten Zahl hat heute morgen mein Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner die notwendigen Ausführungen gemacht. Zu den menschlichen Erleichterungen gehört auch - weil auch Maßnahmen der Infrastruktur damit verbunden sind - die Arbeit der Grenzkommission. Wesentliche Verbesserungen im Gesundheitswesen sind erreicht worden, aber auch eine nicht unwesentliche Verbesserung des Versands und der Mitnahme von Geschenken in die DDR. ({14}) Meine Damen und Herren, es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Debatte noch auf die weiteren Verbesserungen einzugehen, die erreicht worden sind. Aber wie sieht dies alles aus der Sicht eines deutschlandpolitischen Experten der Opposition aus? Der Saarländische Rundfunk hatte mit Herrn Professor Abelein ein Interview und stellte ihm folgende Frage: Herr Professor Abelein, Sie können doch nicht in Abrede stellen, daß diese Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung es zumindest dahin gebracht hat, daß die Begegnungen zwischen Deutschen in beiden Teilen Deutschlands größer geworden sind, daß der Reiseverkehr zunimmt, daß die Menschen sich näherkommen? Darauf antwortete Herr Abelein: Ich habe immer anerkannt, daß diese Deutschlandpolitik nicht nur Nachteile gebracht hat. Es gibt eine Reihe von Punkten, die die Opposition und selbst ein so harter Kritiker der Bundesregierung, wie ich es bin, anerkannt hat. Die Zahlen auf den Transitwegen sind gestiegen, die Zahlen des Besucherverkehrs von West nach Ost sind gestiegen. Aber dann, meine Damen und Herren, kommt wieder der Pferdefuß, kommen wieder die übliche Negation und das Herunterreißen all dessen, was geschehen ist. Und Herr Professor Abelein erhebt den Vorwurf - nicht mit diesen Worten, in denen ich es sage, aber sinngemäß -, daß die Bundesregierung in der Deutschlandpolitik noch nicht die Sterne vom Himmel geholt hat ({15}) und daß die in der Zeit des kalten Krieges erstellte unmenschliche Grenze noch nicht beseitigt ist. Barche Herr Dr. Marx, wenn Sie einmal an die Regierung kommen, wünsche ich Ihnen, daß Sie uns dann demonstrieren, wie Sie alles das, was wir heute noch nicht erreicht haben, erreichen werden. ({16}) Dazu wünsche ich Ihnen viel Glück! Und ich glaube, Herr Dr. Marx, Sie unterschätzen das System auf der anderen Seite. ({17}) - Das tun Sie auf jeden Fall; sonst würden Sie wahrscheinlich den Leistungen der sozial-liberalen Koalition auf diesem Gebiet der Deutschlandpolitik und auf diesem Gebiet der menschlichen Erleichterungen eine höhere Anerkennung zuteil werden lassen, als Sie es seit Jahren und auch heute tun. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben bisher noch nicht bewiesen, daß Sie die uns alle bedrückenden Probleme der Deutschlandpolitik mit mehr Menschlichkeit und besserem politischen Sachverstand lösen können, als es die sozial-liberale Koalition seit 1969 mit Erfolg versucht und getan hat. Wir Sozialdemokraten und die von uns geführte Regierung erbringen keine Vorleistungen für ein Gesellschaftssystem, das nicht das unsere sein kann. Wer uns das unterstellt, dem muß man bewußte Demagogie vorwerfen. Wir machen eine Politik für die Menschen, die mit uns das Schicksal des geteilten Deutschlands teilen müssen. ({18})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gradl.

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine verehrten Kollegen! Das Urteil über den Verlauf der heutigen Debatte wird draußen wie hier im Hause sicher sehr unterschiedlich sein. Aber eines wage ich in der Annahme, daß mir die meisten zumindest hier zustimmen werden, doch zu sagen: So, wie die Debatte gelaufen ist, entspricht sie nicht dem, was sich die Erfinder der Idee von einem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland darunter gedacht haben. ({0}) Es steht mir nicht zu, hier Schuldanteile oder Zensuren zu verteilen; diese Absicht habe ich auch nicht. Das Unglück fing schon mit dem Bericht des Bundeskanzlers an; denn in diesem Bericht des Bundeskanzlers waren alle politischen Probleme, welche die Bundesrepublik und uns hier ständig bewegen, eingefügt. Das, was eigentlich der Gegenstand sein sollte, nämlich die Wirklichkeit der deutschen Teilung, die Chancen und Hindernisse ihrer Überwindung, die Wirkung auf die Menschen - alles das trat dadurch dann natürlich auch in der Debatte in den Hintergrund. Ich kann Ihnen nur sagen: In diesem Falle stimme ich dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt völlig zu. Er hat nämlich am 14. Januar 1970, als er den ersten Bericht zur Lage der Nation als Kanzler erstattete, gesagt: „Dieser Bericht muß sich vorrangig mit dem Problem der Teilung beschäftigen". Dies ist es, was uns heute in der Hauptsache hätte beschäftigen müssen. Vielleicht hätten wir dann auch alle gar nicht so viel zu sagen gewußt; das ist möglich, denn das Thema ist ja, so, wie die Fronten hart sind, nicht gerade sehr entfaltungsfähig. Nun gut, es ist alles ganz anders gelaufen. Wir sollten uns aber gemeinsam für die nächste Debatte über den Bericht zur Lage der Nation vornehmen, daß wir es besser machen. Dieser Vorbemerkung möchte ich eine zweite anfügen. Der Bundeskanzler hat heute einleitend in seinem Bericht bis 1966 zurückgeblickt. Ich habe mich ein bißchen gewundert, daß in diesem Bericht heute nicht viel weiter zurückgeblickt wurde, nämlich um 30 Jahre. Ich verstehe, daß die Bundesregierung aus taktisch-diplomatischen Überlegungen heraus vielleicht eine Hemmung hat, dies alles sehr deutlich auszusprechen. Ein Hinweis aber hätte gegeben werden können; denn es ist tatsächlich so, daß fast auf den Monat genau vor 30 Jahren das eigentliche Elend der deutschen Spaltung angefangen hat. Auf den Monat genau ist vor 30 Jahren im sowjetischen Besatzungsbereich durch den Eingriff der Besatzungsmacht die demokratische Freiheit der gerade erst entstehenden deutschen demokratischen Parteien zutiefst erschüttert worden. Ich erinnere daran - es war im Dezember 1945 -, als zum erstenmal die Vorsitzenden einer der drei Parteien, nämlich der CDU, durch die sowjetische Besatzungsmacht abgesetzt wurden - Hermes und Schreiber, zwei Jahre später Kaiser und Lemmer -; die Partei wurde dann gleichgeschaltet. Ich erinnere mich daran - das ist auch genau 30 Jahre her -, daß die Sozialdemokratische Partei im sowjetischen Besatzungsbereich unter massivem Druck stand und der List, Tücke und Gewalt ausgeliefert war, mit der die Zwangsfusion mit den Kommunisten betrieben wurde. Dies soll man sich doch - zumal, wenn es sich so jährt - mit dem Blick auf die geteilte Nation gelegentlich in Erinnerung rufen; nicht nur, aber auch deshalb, weil wir alle in diesem Hause - CDU, SPD und die frühere LDP bzw. jetzige FDP - Grund haben, auch an die zu denken, die damals für die deutsche Demokratie und Selbstbestimmung eingestanden haben unter Aufopferung ihrer Freiheit und nicht selten ihres Lebens. Das verdient unser aller Gedenken, unsere Achtung und unseren Dank. ({1}) Ich habe noch einen anderen Grund, weshalb ich darauf hinweise. Ich erinnere daran, weil immer neue Jahrgänge in die Verantwortung für die deutsche Zukunft hineinwachsen. Diese können keine unmittelbare Erfahrung von dem haben, was damals geschehen ist und zur deutschen Spaltung geführt hat. Ich wiederhole: Damals fing die deutsche Spaltung an, nicht bei späteren wirklichen oder vermeintlichen Versäumnissen. Was damals geschehen ist, müssen wir immer aufs neue den Heranwachsenden und Nachwachsenden, die Verantwortung für unser Volk und Land übernehmen, gegenwärtig und bewußt machen, damit sie wissen, daß die deutsche Aufgabe, die Überwindung der Teilung nicht eine gestorbene Sache ist, hinter dem geschichtlichen Horizont untergegangen, sondern daß dies eine bleibende menschliche und nationale Pflicht ist. ({2}) Aber nun zur Sache, zu dem, was mich beim Überlegen meines Beitrages zum Bericht zur Lage der Nation bewegt hat. Es ist die harte Wirklichkeit, in der die Menschen im anderen Teil Deutschlands leben müssen. Der Bericht, der heute erstattet worden ist, gibt dazu keinen eigentlichen Einblick. Ich will darüber nicht rechten. Regierung ist Regierung, und sie ist in besonderer Situation. Aber einiges hätte doch gesagt werden können. Der Herr Bundeskanzler hat hingewiesen auf die materielle Situation, wie sie sich in der DDR entwickelt hat. Natürlich ist das wichtig. Es ist wichtig für das Leben der Menschen dort. Aber wichtiger, meine ich, ist die bedrückende Atmosphäre, in der die Menschen drüben zu leben gezwungen sind. Darüber, wie gesagt, findet sich in dem Bericht nichts und damit fehlt Wesentliches. Ich will dies etwas verdeutlichen, weil ich meine: Wenn wir es hier nicht aussprechen - die Menschen drüben können es nicht -, wer sonst soll es denn aussprechen? Und vielleicht kann man es aussprechen, ohne in den Verdacht zu kommen, man sei ein Prediger des kalten Krieges. Bei einer Versammlung, die ich im vergangenen Herbst abhielt, trat am Schluß ein junges Paar auf mich zu; es war aus der DDR gekommen. Der Mann war Ingenieur. Beide sagten mir einiges, und daraufhin habe ich sie gebeten, mir ihre Eindrücke und das, was sie in ihrer Erinnerung mitgebracht haben, aufzuschreiben. In dieser Darstellung war eine der zentralen Feststellungen diese: Die DDR-Bürger werden mit höchster Intensität politisch und ideologisch bearbeitet, kontrolliert und überwacht. Die Erwerbstätigen werden durch eine geschickte Kaderpolitik in den Betrieben und Institutionen in völlige Abhängigkeit gebracht. Und dann heißt es in der Darstellung wörtlich - ich bitte, das verlesen zu dürfen, Frau Präsident -: Die personelle Besetzung und Tätigkeit der sogenannten Kaderabteilungen in Betrieben und sonstigen Einrichtungen der DDR, in denen Menschen arbeiten, lernen oder studieren, hat auffallende Veränderungen erfahren. Die Kaderleitstellen werden über die Kreisleitungen der SED immer häufiger mit betriebsfremden, zwar fachlich meist nicht qualifizierten, aber politisch unbedingt zuverlässigen Genossen besetzt. Diese Genossen kommen jetzt vielfach aus der Nationalen Volksarmee, die ihr Offizierskorps verjüngt und vornehmlich solche Offiziere entläßt, die sich aus Altersgründen nicht mehr für eine weiterführende oder höhere Ausbildung eignen. Die immer stärker gesellschaftspolitisch orientierten Kaderakten, für deren ordnungsgemäße Führung der Kaderleiter verantwortlich ist, werden jährlich mit einer Beurteilung über jeden Kollegen eines Betriebes vervollständigt. So weit das wörtliche Zitat! Nun muß man dabei bedenken, daß die Aussagen der Kaderakten ungemein wichtig sind, nicht zuletzt deshalb, weil ja viele Dinge nur noch mit Zustimmung des Betriebes möglich sind, ob es um die Aufnahme eines Studiums geht oder um die schnellere Beschaffung einer Wohnung oder um die beschleunigte Beschaffung eines Telefonanschlusses oder um die Verschickung zur Kur, oder was es auch immer sein mag. Immer spielen diese Kaderakten eine wesentliche Rolle. Dies, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist der eine Einwirkungskomplex, unter dem die Menschen drüben leben. Aber neben der systematischen Einflußnahme der Organe am Arbeitsplatz, an der Arbeitsstelle im weitesten Sinne, steht das allgemeine Beobachtungsnetz, das alle Bürger zu kontrollieren vermag; neben dem SSD stehen die Hauswarte, die Hausbuchführer, die Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei, die Vorsitzenden der Hausgemeinschaftsleitung, der Wohnparteiorganisationen und so weiter. „Natürlich" - so heißt es dann in dieser Darstellung hierzu - „kann nicht jeder Bürger unentwegt überwacht werden." Das wissen die Menschen drüben auch. „Aber" - so heißt es dann weiter -„schon die Existenz dieses Beobachtungsnetzes, das Wissen darum bewirkt Druck, Unfreiheit und zwingt zumindest zu scheinbarem Wohlverhalten." Dies, meine ich, muß man sich vergegenwärtigen, und nicht nur sich selber, denn dies ist harte Wirklichkeit. Jedem, der dies beiseite schieben will, muß ich folgendes sagen: Jeder von uns, der dies auf sich wirken läßt, muß sich doch fragen, ob er selbst unter einem solchen System leben will. ({3}) Sicher nicht, aber daraus ergeben sich doch dann auch Pflichten für uns. Ein Anderer, der jüngst aus der DDR kam, hat mir das Verhältnis des DDR-Staates zu seinen Bürgern auf andere Weise deutlich gemacht. Er hat nämlich nichts weiter getan, als alle die Parolen, denen die Menschen drüben ständig ausgeliefert sind, zusammenzustellen. Dadurch entsteht dann das Bild, das sich die DDR-Führung von ihrem Idealbürger macht. Dieses Bild sieht für sie etwa so aus: Er baut mit hohem sozialistischem Bewußtsein die sozialistische Gesellschaft auf; er stellt jederzeit seine persönlichen Interessen und Wünsche zurück; er sieht in der SED die alleinige Führungskraft des werktätigen Volkes; er wertet die Dokumente der SED-Parteitage und der SED-Führungsgremien gründlich - und natürlich richtig - aus; er erzieht seine Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten; er tritt täglich dem Klassenfeind klassenbewußt entgegen; er spornt ständig zu neuen Taten in der Produktion an; er grenzt sich zur Bundesrepublik hin ab, und er glüht in heißer Liebe zur Sowjetunion. Dies sind in etwa die Ansprüche, die gestellt werden. Man könnte diesen Katalog noch sehr verlängern, meine verehrten Kollegen; er ist, ich wiederhole es, nicht von mir zusammengestellt - ich möchte mich nicht mit fremden Federn schmücken, sofern dies überhaupt Federn sind -, sondern von Menschen, die noch bis in das vergangene Jahr hinein drüben gelebt haben. Wenn man diesen Katalog auf sich wirken läßt, dann wirkt er in einer tragischen Weise komisch. Aber lachen kann darüber ja wohl niemand von uns; lachen könnten doch höchstens die Betroffenen, denn Lachen kann ja auch Ausdruck höchster Verzweiflung sein. Es ist nicht so, daß es drüben nichts gibt, über das wir positiv nachdenken müßten. Es gibt drüben zum Beispiel nicht eine solche schamlose Verwilderung der Moral in Dingen der Sexualität und der Abartigkeit, wie sie sich bei uns in aller Offentlichkeit vollzieht. Wenn Sie einmal Menschen hören, die von drüben herüberkommen, dann können Sie oft feststellen, daß sie über das, was sich bei uns in dieser Hinsicht tut, zutiefst erschüttert sind. Ich bin nun nicht so naiv zu meinen, daß man beides gegeneinander aufrechnen könnte; keineswegs! Aber auch in diesem Bereich, meine verehrten Kollegen, muß der innerdeutsche Wettbewerb um die Zustimmung der Nation gewonnen werden. Aber dies nur nebenbei! Eine so harte kritische Darstellung der DDR-Wirklichkeit, wie ich sie eben gegeben habe, wird gern als kalter Krieg abgewertet. Ich wiederhole jedoch: Jeder der genannten Ansprüche wird tagtäglich über die Funktionäre und Medien unmittelbar und mittelbar an die Bevölkerung gestellt, und die Überwachungsapparatur ist offen erkennbar. Im übrigen aber nimmt es die andere Seite unter der zwielichtigen Parole friedlicher Koexistenz als ganz selbstverständlich für sich in Anspruch - hier bei uns und in ihrem eigenen Bereich -, den ideologischen, systempolitischen und klassenbestimmten Kampf gegen die Bundesrepublik zu führen. Sie kann das bei uns sogar mit ihr nahestehenden Organisationen und Hilfstruppen tun. Insofern brauchen wir uns nach meiner Meinung also nicht zu scheuen und dürfen uns auch nicht scheuen, bei einer Beurteilung der deutschen Gesamtsituation über die harte DDR-Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt „Lage der Nation" deutlich zu sprechen. Wenn man es zusammenfassen will, muß man sagen: Die Situation der Menschen drüben ist gegenüber dem Staats- und Parteiapparat exakt - im krassen Sinne - die Situation von Untertanen. ({4}) Frau Präsident, man hat mir gesagt, ich hätte eine halbe Stunde Redezeit. Aber ich sehe, hier leuchten schon Lampen. ({5})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, angemeldet war das nicht. Es sind jetzt 20 Minuten vergangen.

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte um eine halbe Stunde gebeten und meine, wenn der Beifall abgerechnet wird, der vereinzelt kommt, dann blieben vielleicht noch ein paar Minuten übrig. ({0})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Gradl, ich gebe Ihnen gerne 10 Minuten dazu.

Dr. Johann Baptist Gradl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000717, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Kollegen, ich will meine Ausführungen über den Reise- und Besuchsverkehr - da hatte ich mir einiges vorgenommen - sehr straffen. Ich bitte, das zu verstehen. Ich möchte zum Reiseverkehr folgenden Hinweis geben: Es ist erwähnt worden, daß die Rentnerreisen bereits im Jahre 1964 - Kollege Barche hat das, glaube ich, gesagt - in Gang gekommen sind. Wenn man nun den tatsächlichen Reiseverkehr von Ost nach West einmal unter Ausschaltung der Rentner sieht, dann kommt heraus, daß im letzten Jahr noch nicht einmal 3 von 1 000 DDR-Bewohnern die Möglichkeit hatten, einmal nach Westdeutschland oder West-Berlin zu fahren. Ich habe den Eindruck - ich will niemandem zu nahe treten -, daß unsere Seite angesichts der Hartnäckigkeit etwas gelähmt ist, mit der sich die SED gegen eine Erweiterung dieses Reiseverkehrs sperrt. Nun - und aus diesem Grunde sage ich das hier - muß ich daran erinnern, daß diese Regelung für Ausnahmereisen in dringenden Familienfällen in der allerletzten Phase vor der Entscheidung über die Verträge mit Moskau und Warschau errungen worden ist, in der allerletzten Phase, und zwar unter dem Druck meiner Fraktion, der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, die damals in der besonderen Situation einen solchen Druck im Hinblick auf die bevorstehende Ratifikation der Verträge ausüben konnte. Damals gingen wir davon aus - und durften wir davon ausgehen -, daß diese kleine Lockerung ein Anfang, ein Zeichen späteren guten Willens sei, die Tür weiter zu öffnen. Aber nichts dergleichen ist seitens der DDR geschehen, auch nicht stufenweise. Nun, meine ich, wird es Zeit, darauf hinzuweisen, daß mittlerweile Fakten entstanden sind, die uns - der Bundesrepublik -, aber auch den Bürgern in der DDR ein Recht darauf geben, daß der Reiseverkehr von Ost nach West freigegeben wird. ({0}) Die Charta der Vereinten Nationen, der jetzt in Kraft getretene internationale Pakt vom Dezember 1966, die Deklaration von Helsinki, alle diese Pakte geben doch Ansprüche, auch wenn sie nicht immer im förmlichen Sinne rechtlich begründet sind; aber politische und morale Ansprüche geben sie auf jeden Fall. Hinzu kommt aber, daß diese Bestimmungen, diese menschenrechtlichen Präzisierungen sowohl für die Bundesrepublik wie für die DDR in einer besonderen Weise rechtlich verbindlich sind, nämlich auf Grund des Art. 2 des Grundlagenvertrages. ({1}) In ihm steht ausdrücklich, daß sich beide Seiten - wir natürlich auch - auf die Prinzipien und Ziele verpflichten, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Und wörtlich heißt es da: „ . . . , insbesondere . . . der Wahrung der Menschenrechte . . ." ({2}) Wenn das so ist - und so ist es -, dann, meine ich, sollten wir, auch die Bundesregierung, wesentlich energischer darauf bestehen, daß diese Bestimmungen endlich in die Wirklichkeit umgesetzt werden. ({3}) Die Bundesregierung ist dazu rechtlich legitimiert und menschlich verpflichtet. Meine Damen und Herren, ich komme am Schluß zu einem Thema, an dem mir viel liegt; das ist der DDR-Vertrag. Der Kollege Marx hat heute schon darauf hingewiesen. Woran mir lag und was ich ausführlich behandeln wollte - was ich aber jetzt wegen der vorgerückten Stunde sehr konzentriere -, ist dieses: Der DDR-Vertrag, so wie er von Moskau mit der Ostberliner Führung geschlossen worden ist, ist nach meiner Überzeugung ein massiver Verstoß gegen die Geschäftsgrundlage des Moskauer Vertrages. ({4}) Dies kann man exakt beweisen. Die Sowjetunion weiß, daß der Anspruch auf nationale Einheit und ihre Wiederherstellung für uns ein Grundanliegen sind. Wir haben es ihr vor der Ratifikation des Vertrages deutlich zur Kenntnis gebracht. Die Bundesregierung hat es der sowjetischen Regierung in dem Brief zur deutschen Einheit schriftlich gegeben, und wir als Bundestag haben dasselbe in unserer einmütig angenommenen Entschließung getan. Dies ist auch der sowjetischen Regierung bewußt gewesen. Denn Herr Gromyko - ich werde jenen Sonntagnachmittag im August 1970 nicht vergessen, an dem uns die Regierung das mitgeteilt hat - hat zur Erleichterung der Ratifikation sehr frühzeitig eine zunächst gesperrte Aussage gemacht, die lautet: „Die dritte Frage, in der wir" - gemeint ist die Sowjetregierung - „Ihnen entgegengekommen sind, ist die Wiedervereinigung Deutschlands als zukünftige Perspektive." Das bedeutet also, daß der deutsche Anspruch von sowjetischer Seite als eine reale und legitime Zukunftsperspektive anerkannt ist. Wenn das so ist - und so ist es, andernfalls müßte Herr Gromyko gelogen, getäuscht oder geheuchelt haben -, dann ist der DDR-Vertrag wirklich eine profunde Verletzung der Grundlage unseres Moskauer Vertrages. In ihm wird die DDR behandelt, als ob sie Bestandteil der Sowjetunion werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt darf ich sagen, ich habe mich zutiefst darüber gewundert, daß die Bundesregierung nicht sofort hart und energisch auf diesen DDR-Vertrag reagiert hat. Das, was in den Äußerungen der Bundesregierung erkennbar gewesen ist, war ungemein dürftig. ({5}) Hier handelte es sich um einen Vorgang, hinsichtlich dessen die Bundesregierung durch ihren Botschafter in Moskau in geeigneter Weise hätte kundtun müssen, daß dies nach deutschem Verständnis mit dem Vertrag der Bundesrepublik mit der Sowjetunion nicht vereinbar ist. ({6}) In diesem Fall geht es doch um etwas ganz unerhört Wesentliches. Meine verehrten Kollegen, ich verzichte auf eine wohlklingende Schlußbetrachtung. Ich gehe hier ganz schlicht weg und hoffe nur, daß Sie nicht allzu sehr das Gefühl haben, die späte Stunde, mit der ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe, sei eigentlich vergeudet. ({7})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Kunz ({0}).

Prof. Dr. Max Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001258, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Programmatischer Ausgangspunkt der Deutschlandpolitik der SPD/FDP-Regierung seit 1969 war der Punkt 1 der 20 Punkte von Kassel. Ich zitiere ihn noch einmal, um das Ergebnis dieser Politik nach nunmehr sechs Jahren daran messen zu können. Er lautet: Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, die in ihren Verfassungen auf die Einheit der Nation ausgerichtet sind, vereinbaren im Interesse des Friedens sowie der Zukunft und des Zusammenhalts der Nation einen Vertrag, der die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland regelt, die Verbindungen zwischen der Bevölkerung der beiden Staaten verbessert und dazu beiträgt, bestehende Benachteiligungen zu beseitigen. In Art. 7 des Grundvertrages und im Zusatzprotokoll zu diesem Artikel werden dann schließlich jene Bereiche aufgezählt, die offenbar als vorrangig regelungsbedürftig erachtet wurden. Ich möchte gleich am Anfang darauf hinweisen, daß die wichtigsten Punkte für die Menschen drüben in dieser Aufzählung überhaupt fehlen, wie z. B. die entDr. Kunz ({0}) scheidende Frage, wann die SED endlich bereit ist, auch in ihrem Machtbereich dem Selbstbestimmungsrecht Geltung zu verschaffen, oder z. B. die Frage, wann sich endlich die SED bereit erklärt, die einfachen Menschenrechte allen ihrer Macht Unterworfenen zu gewähren, oder wann endlich die Zonengrenze mitten in Deutschland ihres barbarischen Charakters entkleidet wird. Es ist doch für den Ausgangspunkt dieser Regierung bezeichnend, daß exakt jene Bereiche wie Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, die das Bundesverfassungsgericht später als mit dem Grundvertrag unvereinbar erklärte, in diesem Katalog des Art. 7 überhaupt keinen Niederschlag gefunden haben. ({1}) In diesem Art. 7 und in seinem Zusatzprotokoll vereinbarten beide Vertragspartner den Abschluß einer Reihe von vertraglichen Regelungen, so z. B. auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Technik, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, auf dem Kultursektor, auf dem Gebiet der innerdeutschen Sportbeziehungen und des Umweltschutzes und nicht zuletzt auf dem elementaren Sektor des gegenseitigen Bezugs von Büchern, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehproduktionen, einem Gebiet also, das für uns deswegen als so elementar angewiesen wird, weil die Vorenthaltung von Informationen und Meinungen zur menschenrechtswidrigen Praxis in der DDR zählt. Schließlich sollte noch ein Abkommen über den nichtkommerziellen Zahlungs- und Verrechnungsverkehr abgeschlossen werden. Die im Zusatzprotokoll zu diesem Art. 7 des Grundvertrags in Aussicht genommenen weiteren Verbesserungen des Verkehrs wurden durch verschiedene Maßnahmen der DDR stark belastet. Ich erinnere noch einmal an die im Dezember 1974 vorgenommene Verdoppelung der Zwangsumtauschsätze unter Einbeziehung der Rentner, deren vollständige Reduzierung im sogenannten Paket vom 9. Dezember 1975 nach wie vor nicht erreicht wurde, auf die wir bis heute warten, obwohl die DDR seinerzeit durch die Neugestaltung der sogenannten Swing-Regelung in den Genuß eines zinslosen Kredites von 850 Millionen DM gelangt ist. Auf die Erschwernisse des Reiseverkehrs wurde schon verschiedentlich eingegangen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß nach wie vor eine Senkung der Altersgrenze für die Ausreise nicht in Sicht ist, und daß vor allem die Ausreise, wie es heißt, „in dringenden Familienangelegenheiten" scharfen Einschränkungen und quälenden Schikanen ausgesetzt ist. ({2}) Der Ausbau der Autobahnen zwischen Westdeutschland und Berlin schließlich wurde im Zusammenhang mit der neuerlich vorgenommenen Pauschalierung der Transitgebühren offensichtlich zu teuer bezahlt. Von all den in Aussicht genommenen Verträgen sind bisher nur zwei und, wie wir heute hörten, nun ein dritter zustande gekommen. Auf dieses neue Abkommen möchte ich heute nicht näher eingehen, weil die Texte darüber noch nicht vorliegen. Unabhängig davon will ich aber auf die Kriterien hinweisen, die unsere Fraktion in einer Presseerklärung veröffentlicht hat. An diesen Kriterien werden wir das neue Abkommen messen. Lassen Sie mich nun kurz die vorliegenden Verträge beleuchten. Am 25. April 1974 wurde das Abkommen über den Transfer von Unterhaltszahlungen zusammen mit einer Vereinbarung über den Transfer von Guthaben „in bestimmten Fällen" abgeschlossen. Seit der Teilung Deutschlands und der Zerstörung der innerdeutschen Zahlungsmöglichkeiten über die Zonengrenze hinweg bestand stets die Notwendigkeit, daß viele Einwohner Westdeutschlands, die über Konten in Mitteldeutschland verfügen, endlich in die Lage kamen, entsprechende Beträge von ihren Konten drüben in die Bundesrepublik Deutschland transferieren zu können. Der DDR hingegen ging es vor allem darum, die auf westdeutschen Konten in Höhe von 75 Millionen DM aufgelaufenen Unterhaltszahlungen als Devisen kassieren zu können. In den Verhandlungen selbst gelang es nun der SED, die Bundesregierung voll hereinzulegen. Statt ein Gesamtabkommen zu schließen, das alle regelungsbedürftigen Fragen umfaßt hätte, schloß man zwei Abkommen: einmal über den Transfer von Unterhaltszahlungen, zum anderen das Abkommen über den Transfer aus Guthaben in sogenannten „bestimmten Fällen". ({3}) Dadurch kam die SED an die Devisen im Wert von 75 Millionen DM aus den aufgelaufenen Unterhaltszahlungen heran - das wollen Sie nicht wahrhaben, Herr Wehner , während das Abkommen über den Transfer aus Guthaben „in bestimmten Fällen" mit zahllosen Mängeln behaftet ist. Jene Vereinbarungen enthalten zwar die formale Gegenseitigkeit, d. h., auch die Einwohner der DDR können, sofern sie in der Bundesrepublik Deutschland ein Guthaben unterhalten, Geld in die DDR überweisen und es sich dort zum Kurs von 1 : 1 auszahlen lassen. ({4}) Aber der Artikel 3 der Vereinbarung über den Transfer aus Guthaben in bestimmten Fällen enthält eine sogenannte Zug-um-Zug-Klausel, die lautet - ich zitiere -: Insgesamt können die Überweisungen aus dem einen Staat nicht höher sein als die Überweisungen aus dem anderen Staat. Da nun erwartungsgemäß die Transferierung von D-Mark ({5}) nach Mitteldeutschland kaum in Anspruch genommen wurde - weil dieser Austausch einen Wertverlust von etwa 35 °/o bedeutet hätte -, war das Abkommen infolge der Zug-umZug-Klausel alsbald blockiert, d. h., nach wenigen Zahlungen aus der DDR kam der Transfer ins Stocken. Seitdem läuft er nur noch tropfenweise. Darüber hinaus wurde in jenen Vereinbarungen durch einen zusätzlichen Protokollvermerk eine große Anzahl jener, die Konten in Mitteldeutschland 15194 Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode Dr. Kunz ({6}) unterhalten, vom Transfer im Rahmen des Abkommens von vornherein ausgeschlossen. In diesem Zusatzprotokoll heißt es nämlich - ich zitiere -: Die Vereinbarung findet keine Anwendung auf Guthaben, die wegen der unterschiedlichen Rechtspositionen zu den ungeregelten Vermögensfragen gehören. Zudem ist in Nr. 4 dieses Protokollvermerks noch einmal ausdrücklich festgestellt, daß sich der Transfer nicht auf - ich zitiere - „in der Deutschen Demokratischen Republik bestehende Guthaben aus Grundstückserträgen" erstreckt. Von dieser restriktiven Bestimmung sind Tausende in der Bundesrepublik Deutschland betroffen. Aber noch nicht genug damit, daß sie von ihren Konten nichts abheben können. Viel schlimmer: Mit Hilfe ihres neuen Devisengesetzes vom Dezember 1973 startete die SED den umfassendsten Angriff gegen das Eigentum überhaupt, das sich in Händen von Westdeutschen befindet. Das Transferabkommen ist für die Menschen in Deutschland das schlechteste der drei Abkommen, die es nun gibt. Am selben Tag im April 1974 wurde übrigens zwischen den beiden Vertragspartnern das Gesundheitsabkommen unterzeichnet, das ja nun seit 1. Januar dieses Jahres in Kraft ist. Dieses Abkommen regelt an sich nur das, was ohnehin in der Praxis schon bestand. So weit, so gut. Entscheidend ist jedoch, daß es der DDR gelang, das Bundesgesundheitsamt in Berlin faktisch aus jenem Bereich der innerdeutschen Beziehungen auszuschalten, in dem es auf Grund des neuen Abkommens hätte tätig werden können. Dafür wurde in einem Briefwechsel zum Vertrag ausdrücklich ein Kölner Institut benannt. Das ist der erste negative Punkt dieses Abkommens, aber nicht der einzige. Die Berlin-Klausel dieses Vertrages enthält eben nicht nur die sogenannte Frank-Falin-Formulierung, soindern in bezug auf Berlin eine folgenschwere Ergänzung. Ich zitiere: Vereinbarungen zwischen dem Senat und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu Fragen des Gesundheitswesens werden dadurch nicht berührt. Damit erreichte die DDR mehr, als es im Augenblick den Anschein hat; denn, wie wir wissen, wurde unmittelbar nach dem Abschluß der Verhandlungen im April 1974 zwischen dem Senat und der Regierung der DDR ein Protokoll unterzeichnet, in dem die bisher bestehenden praktischen Regelungen zwischen Berlin und der DDR mit dem Inhalt des neuen Abkommens synchronisiert wurden. Damit ergibt sich der Tatbestand, daß das Gesundheitsabkommen in Berlin ({7}) nicht etwa gilt auf Grund der Berlin-Klausel aus Art. 8, sondern durch den eben zitierten Zusatz auf Grund des Protokolls, das zwischen dem Senat von Berlin und der DDR abgeschlossen wurde. Damit ist aber einer äußerst gefährlichen Sonderentwicklung die Tür geöffnet insofern, als durch Sonderbeziehungen zwischen dem Senat von Berlin und der Regierung der DDR die niemals aufgegebene SED-Forderung mit Leben erfüllt wird, daß nämlich Berlin ({8}) eine selbständige politische Einheit sei. ({9}) Diese Tür muß die Bundesregierung schleunigst wieder schließen. Und wir alle hoffen, daß in dem neuen Abkommen über das Post- und Fernmeldewesen nicht auch noch eine entsprechende Klausel enthalten ist. Zum Inhalt des Gesundheitsabkommens möchte ich noch anfügen, daß einem wesentlichen Bedürfnis gerade der mitteldeutschen Bevölkerung nicht Rechnung getragen wurde, nämlich dem nach freiem Arzneimittelbezug über die Zonengrenze hinweg, der ja bisher nur den SED-Funktionären möglich ist, nicht aber der Masse unserer Landsleute. Waren es im Falle des Transferabkommens die Devisen, die der DDR das Geschäft schmackhaft machten, so war es im Falle des Gesundheitswesens die statusrechtliche Verpackung, die ihr den Abschluß dieses Abkommens nützlich erscheinen ließ. ({10}) Doch über diese drei Abkommen hinaus kamen die Verhandlungen bald ins Stocken, weil es Schwierigkeiten über die Frage der Einbeziehung Berlins gab oder die SED derart unzumutbare Forderungen stellte, daß selbst diese Bundesregierung, die es ja nie an großzügigen Konzessionen und Vorleistungen gegenüber dem Osten fehlen ließ, es nicht mehr glaubte verkraften zu können, und das, meine ich, will schon etwas heißen! ({11}) So sollen die Verhandlungen über ein Rechtshilfeabkommen schon daran festgefahren sein, daß die SED nicht nur nicht bereit war, das Rechtsstaatsprinzip auch bei sich anzuerkennen, sondern daß sie sogar forderte, ihrem Unrechtsstaatsprinzip in den gegenseitigen Rechtsbeziehungen in der Bundesrepublik Deutschland Geltung zu verschaffen. Oder z. B. die Verhandlungen über das Kulturabkommen! Die von der SED in aller Öffentlichkeit vorgetragene Forderung nach Herausgabe wertvoller deutscher Kulturgüter entbehrt nicht nur jeder Grundlage; diese Forderung ist vor allen Dingen auch deshalb grotesk, weil wir doch alle wissen, welches Selbstverständnis die SED hat und wie sich das seit 1945 in der Praxis gerade am Beispiel unseres deutschen Kulturgutes auswirkte. Ich möchte nur erwähnen, daß 1950 das Berliner Schloß gesprengt, 1967 die Potsdamer Garnisonkirche zerstört wurde und daß die völlig unversehrte Leipziger Universitätskirche mittels Dynamit aus dem Weg geräumt wurde. Zahllose Denkmäler und Schlösser wurden beseitigt, ganze Bibliotheken und Gemäldegalerien wurden zu Spottpreisen verramscht. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. ({12}) Dr. Kunz ({13}) Gemessen an den vorgeblichen Zielen, wie sie schon in den Kasseler Punkten genannt sind, ist die Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung und ihrer Vorgängerin gescheitert. Für das, was bisher an Abkommen und Vereinbarungen erzielt wurde, mußte durch die Anerkennung der DDR ein zu hoher Preis gezahlt werden. Die deutsche Frage ist seitdem mit einer Hypothek befrachtet, die eine Wiedervereinigung in Freiheit sehr erschwert, aber eine Wiedervereinigung unter Hammer und Zirkel sicherlich erleichtert. ({14}) Das ist sehr freundlich, aber dies fällt auf den Autor zurück. ({15}) n der Wiege dieser Politik. stand die Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Jüngste Äußerungen über und Sympathiekundgebungen für Kommunisten durch führende Sozialdemokraten lassen die Befürchtung aufkommen, es könnte schon damals, also bei diesen ersten Verhandlungen, nicht nur eine funktionelle Kooperation, sondern auch ein gedanklicher Gleichklang bestanden haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser Gleichklang mit „wahrhaft demokratischen Kommunisten" und dem, was alles darunter verstanden wird, auch heute noch besteht. Die Empfehlung eines Karsten Voigt in der Neuen Gesellschaft" vor etwa zwei Monaten, ({16}) mit kommunistischen Parteien zu paktieren, wenn diese Zusammenarbeit für den demokratischen Sozialismus nützlich ist, muß aufhorchen lassen. Bezeichnenderweise, Herr Kollege, ist dieser Karsten Voigt der Nachfolger für den in seinem Frankfurter Wahlkreis von seinen eigenen Genossen abgehalfterten Verteidigungsminister Leber. ({17}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Äußerung erklärt auch, warum sich die Fronten in der Bundesrepublik so verhärtet haben. Die deutsche Nation ist in Wirklichkeit gespalten durch die Auseinandersetzung über die künftige Ausrichtung auf Freiheit oder Sozialismus. ({18}) Diese - wie Minister Franke vorhin sagte - bis zum Überdruß erfolgte Auseinandersetzung muß geistig ausgetragen werden, wenn unsere Nation jemals ihre Einheit in Freiheit erreichen will. Weil vergleichbare Auseinandersetzungen längst auf das ganze westliche Europa übergegriffen haben, kommt demAusgang dieser geistigen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik europäische Bedeutung zu. ({19}) Hierin kann und hierin muß der Beitrag der deutschen Nation für ein freiheitliches Europa liegen. ({20})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Wohlrabe.

Jürgen Wohlrabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bedaure es eigentlich, daß bisher wenig Gelegenheit war, die Problematik Berlins ein wenig mehr zu vertiefen. Ich möchte dazu einen Beitrag leisten. Bevor ich das tue, darf ich jedoch auf eine Bemerkung des Herrn Bundesministers Franke eingehe Er sagte, wir hätten in unserer Politik bisher alle Zahlungen an die DDR abgelehnt. Ich bin dem Satz einmal nachgegangen und habe mir in der Zwischenzeit eine Aufstellung der Bundesregierung Tiber die Zahlungen an die DDR besorgt, Herr Kollege Franke. ({0}) Wir ha ben im Jahre 1975 gel eistet - nur einmal zur Kenntnis der Kollegen - Zahlungen und Vergünstigungen an die DDR - ich nehme das immer zusammen, weil es ja irgendwo ein finanzieller Beitrag ist; ich kann es hier einzeln vorlesen, wenn Sie wollen; es führt bloß nicht weiter, weil Sie es überall nachlesen können. Wir haben geleistet insgesamt 1.(ì73 Milliarden DM. Natürlich schlägt allein der Swing mit einer großen Vergünstigung zu Buche. Ich säge Ihnen nur dies: Die CDU/CSU hat - aus denn Haushaltsausschuß weiß ich das, und aus der Politik, die wir betreiben - bisher nur einer Zah Jung nicht zugestimmt. Es ist nämlich die nicht zweckgebundene Zahlung bei der Transitpauschale. Wir werden auch in Zukunft dieser nicht zweckgebundenen Zahlung an die DDR, die dort sachfremd verwandt wird, nicht zustimmen. ({1}) Im kommenden Jahr wird diese Zahlung insgesamt die Mehrheit der Summen wird erhalten bleiben, vielleicht mit gewissen Verschiebungen - um 165 Millionen DM allein bei der Transitpauschale zunehmen, neuerdings bei dem Postabkommen noch einmal 3 1/2 Millionen DM. Im übrigen haben wir gegen diese Postausgleichszahlungen hier nie ein Wort gesagt. Dies alles sage ich nur zur Richtigstellung, damit die Verallgemeinerungen aufhören. Der Bundeskanzler hat heute in seiner Erklärung mit dem schönen Satz gesagt: Wir hätten gerne eine stärkere Zweckbindung dieser Gelder erreicht. Ich nehme ihm sogar ab, daß das sein Bemühen war. ({2}) Nur, wissen Sie, wer Möglichkeiten leichtfertig verschenkt, mit der DDR eine ausgewogene Absprache zu treffen; wer nämlich z. B., ohne Gegenleistung ) den Swing erhöht, an dem die DDR so interessiert war, der darf sich nicht wundern, daß dann keine Chance ist, bei den Zahlungen der Transitgebühren, die Verpflichtungen des Artikels 18 des Transitabkommens einzufordern. ({3}) Dies sind die Punkte, die wir als unsorgfältige Vertragspolitik bezeichnen. Es kann doch im Grunde genommen auch niemand abstreiten, daß Leistung und Gegenleistung von Ihnen, der Sie ja die Federführung in diesen Dingen haben, offensichtlich nicht ausgewogen gesehen, auf jeden Fall aber nicht richtig in das politische Vertragsgeschäft eingesetzt worden sind. Das ist so ein typisches Beispiel, Herr Kollege Franke, bei dem eine andere, erfolgreichere Politik für die Bundesrepublik Deutschland, wie wir meinen, möglich gewesen wäre. ({4}) Ich möchte aber ein paar Bemerkungen zum Thema Berlin machen, weil es guter Brauch ist, daß in einer Debatte zur Lage der Nation auch Berlin eine besondere Rolle spielt. Das Thema ist heute schon mehrfach angesprochen worden. Auch der Bundeskanzler hat im Vergleich zum vergangenen Jahr diesmal dem Thema Berlin ein Stück mehr gewidmet als es in der Vergangenheit der Fall war. Nach unserer Auffassung ist Berlin-Politik ein wesentlicher Teil der Ost- und Deutschlandpolitik, wobei hinzukommt, daß eben die exponierte Lage Berlins als der alten deutschen Hauptstadt ein besonders empfindlicher Gradmesser für Erfolg und Mißerfolg der sogenannten Entspanungspolitik ist. ({5}) Ich räume hier freimütig ein und sage das auch als Berliner: Anzuerkennen ist, daß die Transitwege leichter genutzt werden können. Aber genauso deutlich muß gesagt werden, von normalen, freien unkontrollierten Verbindungswegen kann bis heute überhaupt keine Rede sein; denn auch diese Transitregelung ist keine Normalität, meine Damen und Herren. Der Besucherverkehr zwischen Ost und West ist angestiegen. Dafür haben wir uns immer ausgesprochen. Wir haben nie Hinderer dieses Besucherverkehrs sein wollen. Wer ehrlich ist, weiß dies auch. Aber jeder weiß, der Besucherverkehr - dies ist heute schon Gegenstand der Debatte gewesen - verläuft einseitig im Wesentlichen von West nach Ost. Für unsere Mitbürger von drüben ist eine derartige Selbstverständlichkeit der freien Bewegung bis heute nicht möglich. Wenn der Bundeskanzler in seiner letzten Rede zur Lage der Nation im vergangenen Jahre die Meßlatte für die Erfolge in der Ost- und Deutschlandpolitik selbst geliefert hat mit dem Wort, ein angemessenes Verhältnis von Kosten und Nutzen sei herzustellen, so sollte dies sicher nicht nur eine unterschwellige Kritik an seinem Amtsvorgänger Brandt sein, sondern gleichzeitig auch Maßstab für zukünftiges Handeln. Meine Damen und Herren, von Versprechungen, Verheißungen vergangener Jahre, insbesondere von der erzeugten Euphorie der Amtsvorgänger - ich nenne nur die Herren Brandt und Bahr stellvertretend für viele -, ({6}) sollte - das war unser Eindruck auch in Berlin - mit dem Regierungswechsel offensichtlich Abschied genommen werden. Wir erinnern uns alle, und daran erinnere ich: als die sozialliberale Koalition antrat, hat sie mit großem Eifer geradezu hymnisch ein neues Zeitalter angekündigt, und der Erwartungshorizont der Bürger draußen im Lande wurde maßlos überzogen. Insbesondere waren davon die Berliner betroffen. Es sei nur daran erinnert, Herr Brandt verhieß der Berliner Bevölkerung, daß es jetzt - ich zitiere - „gute Chancen für eine Zukunft ohne Berlin-Krisen gäbe", so hieß es damals. ({7}) Nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages lesen wir im regierungsamtlichen Bulletin: „Wenn der Vertrag in Kraft tritt, kann Berlin nicht mehr wie früher ein Objekt der Repressionen und ein Spannungsherd sein." - Jeder weiß heute, daß dies nicht die Wahrheit war; Berlin ist weiter Spannungsherd geblieben, meine Damen und Herren, und es hat eben täglich weiter Repressionen auszuhalten. ({8}) Als die Lage der Nation im letzten Jahr zur Diskussion stand - Herr Kollege Hoppe ist dankenswerterweise noch da -, hat er im Grunde genommen dasselbe gesagt wie heute. Wer einmal Ihre beiden Reden vergleicht, findet damals und heute den Satz: Die Einbeziehung Berlins in die Verträge wird auch hier zum Gradmesser der Ernsthaftigkeit der Entspannungspolitik. Ich halte hier nur fest: Das ist richtig. Wir unterstützen den Satz. Nur ist die Einbeziehung Berlins nicht besser geworden. Sie ist eher schlechter geworden. Die Erfolge auf diesem Sektor sind in diesem vergangenen Jahr an keiner Stelle sichtbar geworden, meine Damen und Herren! ({9}) Die Bedenken der CDU/CSU, die sich leider inzwischen bewahrheitet haben, wurden in dieser euphorischen Stimmung, die manchmal auch heute hier noch anklang - in Berlin klingt sie übrigens mittlerweile nicht mehr so; ich werde darauf noch ein kurzes Wort gerade unter dem Gesichtspunkt der Veränderungen und des Beitrages des Kollegen Mischnick verwenden -, achtlos vom Tisch gewischt. Wir werden heute noch und dagegen wehre ich mich - als Miesmacher, ja als Friedensfeinde verketzert. Die Solidarität der Demokraten sollte ja eigentlich, meine Damen und Herren, ein viel zu hoch einzuschätzender Wert sein, als daß wir vor den eklatanten Widersprüchen, die in all den letzten Jahren eingetreten sind, so sehr die Augen verschließen. Es gehört schon ein gerüttelt Maß an Verblendung dazu, nicht zu sehen, wie in aller Welt mahnende Stimmen die sogenannte Entspannungspolitik von Anfang an verfolgten, wie namhafte Politiker und Publizisten in aller Welt, nicht zu vergessen die russischen Dissidenten, die ich hier einmal erwähnen möchte, die aus ihrer eigenen leidvollen Erfahrung heraus geradezu beschwörend vor diesem Weg gewarnt haben. Noch heute werden Niederlagen als große Erfolge gepriesen, so daß man nur fragen kann: Ist denn diese Bundesregierung blind? Ist sie verstockt? Merkt sie nicht, wie sich die Menschen draußen im Lande oder auch gerade die Berliner - die Wahlergebnisse in Berlin zeigen es doch; ({10}) ich will sie nur als einen Gradmesser nehmengeprellt fühlen durch das, was hier früher gesagt worden ist? Wer ehrlich ist, stellt doch fest, wie sehr die Stimmung auch bei denen in Katzenjammer umschlägt, die die Politik der Bundesregierung früher stark bejubelten. Viele publizistische Helfer der sogenannten neuen deutschen Ost- und Berlin-Politik verlassen bereits das sinkende Schiff. Ich nenne hier nur: Zuerst - das war das Eigenartige - das Magazin „Der Spiegel" mit seiner Serie „Ende einer Ara" . Er machte eine gewaltige Absetzbewegung. Selbst einer der eifrigsten, unermüdlichsten Herolde der Entspannungspolitik, der „Stern"-Chefredakteur Henri Nannen, ({11}) der sich bei jeder Vertragsunterzeichnung ins Bild drängte, wohl, weil er wie weiland Goethe glaubte, als publizistischer Geburtshelfer einer neuen Epoche beigewohnt zu haben, übte kürzlich Selbstkritik, indem er ein sehr interessantes Zitat schrieb, das ich kurz vortragen möchte: Wir haben - so Henri Nannen die Ostverträge in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mit durchgesetzt. ({12}) - „Wir" ! Darum ja: wie weiland Goethe! ({13}) - Ja, man kann das nicht ganz vergleichen. Er möchte sich vielleicht vergleichen, bloß, die Geschichte wird anderes zeigen, meine Damen und Herren! Aber wenn jemals ein Quentchen - so Nannen Sentimentalität dabei war, ein Stück Hoffnung, es möge über diese Verträge mit der Sowjetunion und mit Polen zu einem Wandel durch Annäherung, vielleicht sogar zu einer echten Freundschaft kommen, ({14}) so ist es jetzt wohl an der Zeit, solchen Illusionen ade zu sagen. ({15}) Was für ein Satz von Herrn Nannen, wenn man daran denkt, wie nicht nur zur Wahlzeit der Bevölkerung eine heile Welt vorgegaukelt wurde, wie Träume und Illusionen damals auch von ihm für Realität ausgegeben worden sind! ({16}) - Ich könnte darauf antworten: Ich habe das vom Bundeskanzler gelernt! Aber da ich mich hier nicht als Schauspieler empfinde, sondern als jemand, der versucht, einen ernsthaften Beitrag zu leisten, identifiziere ich mich nicht mit Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege! ({17}) Der Kurswert der Freiheit in der Politik ist in jüngster Zeit auf Kosten des Zauberwortes „Entspannung" gesunken. Dies wird gerade in Berlin besonders deutlich registriert. Die politischen Folgen daraus - Gefahren für Berlin in neuer Gestalt werden oft überspielt. Die Gefahr, daß Berlin in den Hintergrund gedrängt wird, besteht. Nicht unschuldig an dieser Entwicklung sind jene Politiker, die den Traum von Berlin als normaler Stadt als Realität ausgegeben haben. Berlin in seiner heutigen Lage - das ist unsere tiefe Überzeugung - mit seinen heutigen Schwierigkeiten ist keine normale Stadt, ist nicht vergleichbar mit anderen Städten irgendwo in diesem Lande. Wer das nicht erkennt, wer dies bewußt oder unbewußt außer acht läßt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, die Interessen Berlins angemessen zu vertreten. Die Bundesregierung muß sich einfach fragen lassen, ob sie in der zurückliegenden Zeit die Interessen Berlins mit dem nötigen Nachdruck vertreten hat. Ist sie in der Frage der Bindungen Berlins an den Bund vorangekommen? Hat sie genügend getan, die Zukunftschancen Berlins zu verbessern? Hat sie für Zugeständnisse beispielsweise auf den Transitwegen abgewogene Gegenleistungen erhalten oder hat sie vor der Politik des Abblockens, der Abgrenzung seitens der DDR und der Sowjetunion resigniert? Wir meinen - ich habe nur einige Punkte genannt -, daß sehr, sehr viele Unterlassungssünden gerade in der Abgewogenheit der Möglichkeiten in der Berlin-Politik in den letzten Jahren sehr deutlich geworden sind. Davon kann auch diese Bundesregierung eben nicht freigesprochen werden. Trotzdem - damit komme ich auf den Beitrag vom Kollegen Mischnick, der fragte: Was gibt es denn überhaupt Neues seit dem letzten Jahr? - Es I 5198 gibt Neues! Es gibt Zeichen der Umkehr, meine Damen und Herren, Zeichen der Umkehr auch bei ({18}) Kollegen aus Koalitionskreisen in Berlin. Man höre einmal die Töne in den Ausführungen des Regierenden Bürgermeisters Schütz und auch des Bürgermeisters Oxfort. Wer Zwischentöne hört, hat dies heute sogar beim Kollegen Hoppe erkennen können. Es gibt Äußerungen differenzierter Betrachtung. Ich hoffe, daß dies nicht nur auf die Wahlergebnisse in Berlin zurückzuführen ist, sondern auf eine ehrliche Überzeugung und auch durch den Mißerfolg, der sich in all den Jahren gerade in der Berlin-Politik eingestellt hat. ({19}) Ich sage außerdem: Die CDU/CSU begrüßt es, wenn sich der Regierende Bürgermeister von dem Mythos, Berlin sei eine normale Stadt, absetzt. Wir vergessen aber auch nicht, meine Damen und Herren -- ich glaube, das muß der Vollständigkeit halber hinzugefügt werden -, daß gerade Schütz es war, der voran zu den Förderern und lautstarken Predigern einer Vorleistungspolitik gehörte. ({20}) Wir hoffen, daß die Zeichen der Umkehr und der Einsicht auch bei der Bundesregierung bemerkt und im Rahmen der zukünftigen Politik berücksichtigt werden. ({21}) Die Politik der letzten Jahre hat deutlich gemacht: Entscheidende Fortschritte in Berlin sind ausgeblieben. Bis heute ist das Herzstück der Berlin-Verträge, die Bindungen zur Bundesrepublik auszubauen, umstritten. Weder bei der DDR noch bei der Sowjetunion ist ein echter Sinneswandel festzustellen. Wer Berlin wirklich helfen will, muß sich an einigen wichtigen grundsätzlichen Punkten orientieren, ({22}) die vielleicht nicht das große Wort der Alternative darstellen, die aber doch in diesen wichtigen Punkten berücksichtigt werden sollten. Erstens. Wer Berlin und den Berlinern wirklich helfen will, darf ihnen nichts vormachen wollen. ({23}) Berlin-Politik muß ohne Illusionen und Schönfärberei realitätsbezogen auf festen Füßen stehen und nüchtern betrieben werden. ({24}) Herr Brandt und Herr Bahr haben den Berlinern jahrelang etwas vorgemacht. Die Erfolge, die sie uns genannt haben - ich habe vorhin Zitate gebracht , sind nicht eingetreten. ({25}) Zweitens. Abmachungen und Vereinbarungen helfen Berlin nur, wenn sie klar und eindeutig sind. Sie dürfen nicht Fehlerinterpretationen Tür und Tor öffnen und Möglichkeiten zu laufender Erpressung geben, so wie es heute der Fall ist. ({26}) Drittens. Berlin-Politik muß mit den Alliierten, mit den westlichen Schutzmächten, rechtzeitig und gründlich abgesprochen werden. ({27}) Vermutungen um Geheimabsprachen, Aspekte des Zwielichts, eine Politik des Augenzwinkerns zum Osten müssen der Vergangenheit angehören. Viertens. Anmaßungen Ost-Berlins und Moskaus sind entschieden und entschlossen zurückzuweisen. In letzter Zeit haben sich auffällig viele - ich meine: sich nicht zufällig, sondern auffällig häufende Verstöße zur Aushöhlung des Status von Berlin gezeigt. Die Aushöhlung des Status von ganz Berlin stellt immer wieder unter Beweis, daß der östliche Vertragspartner mit seinem deutschen Satelliten keinen Millimeter von dem strategischen Ziel der Isolierung West-Berlins bis heute abgewichen ist. ({28}) Die Latte der Verstöße ist groß. Sie reicht vom Boykott der Grünen Woche bis zu der Frage, ob Ost-Berlin Bestandteil des Viermächteabkommens für Berlin ist. Ich brauche das hier alles gar nicht zu nennen; das hat heute hier schon mehrfach eine Rolle gespielt. ({29}) Hier gilt es aber, entschieden den Anfängen zu wehren. Hier gilt es, Wohlverhalten und Nachgiebigkeit nicht zum Erfolg führen zu lassen. Die Rechte und die Freiheit Berlins können eben wirklich nur gesichert werden, wenn alle entschlossen und hartnäckig, so wie es heute in Berlin viele Politiker tun, diese Werte verteidigen. Die Zukunft der alten deutschen Hauptstadt hängt davon ab, wie der Westen vor allem die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus führt, ob sich schwächliches oder ängstliches Zurückweichen durchsetzt oder eine ruhige und feste Haltung, wie die Union sie fordert, Platz greift. Die CDU/CSU wird den Mut zu einer solchen klaren Politik haben, auch auf die Gefahr hin, als unangenehmer Mahner mißverstanden zu werden. Die geographische und die politische Lage Berlins geben die einmalige Chance, entscheidend zum Erhalt der Nation beizutragen. Wer über die Jahre der Spaltung und Trennung hinweg die Einheit Deutschlands als politisches Ziel wirklich will, dar muß Berlin besonders unter dem Ziel des Mittlers und Förderers des Erhalts der Einheit der Nation sehen. Berlin, meine Damen und Herren, sollte wieder mehr als in der Vergangenheit ein Ziel bekommen, ein Ziel, das sich nicht darin erschöpft, nur die wirtschaftliche Lage als gut zu befinden, sondern das dem Bürger deutlich und wert macht zu wissen, warum er in Berlin wohnt und was er an Berlin hat. Berlin sollte, so meine ich, wieder Leuchtturm der Freiheit für die Menschen im anderen Teil unseres Vaterlandes und auch Mahnmal für den Westen sein. Denn man wird immer wieder daran erinnert - dies halte ich psychologisch aus Berliner Sicht für sehr wichtig -: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern sie muß in zäher Arbeit Tag für Tag neu gesichert werden. Berlin könnte für uns alle in diesem Bemühen ein gutes Beispiel sein. ({30})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grimming.

Jürgen Grimming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000729, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wohlrabe, der wie ich den Vorzug hat, aus Berlin zu kommen, hat, wie er sicher meint, in sehr eindrucksvoller Weise nachgewiesen, was sich alles geändert habe. Er hat allerdings wie das seine Art ist - eine Sprache gewählt, die sicherlich davon beeinflußt wird, daß er Zeitungen liest, die bei uns zu 80 % den Markt beherrschen, und das färbt auf die Dauer doch ab. „Blind und verstockt" sind die Politiker in Berlin, und Bahr und Brandt - -({0}) - Binverstanden! Auch das weise ich zurück, weil cs genauso töricht ist. ({1}) Lassen Sie mich doch ausreden! Wir werden ja gleich auf den Punkt kommen, wer die falsche Rede hat. Besser die falsche Rede und die richtige Politik als umgekehrt. Wir sind jedenfalls an dem Punkt heute abend angekommen, wo ich mich frage, ob wir uns wirklich einen Gefallen tun, wenn wir um 22 Uhr von der Union als der ersten - ({2}) - Aber lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Kollege Marx; ich habe bei Ihnen doch auch aufmerksam zugehört, auch wenn Sie sich beklagt haben. Sie haben doch sehr viel früher gesprochen als ich. Ich quäle mich jetzt um 22 Uhr hier um Ihre Aufmerksamkeit und kann verstehen, daß es Ihnen schwer fällt, zuzuhören, noch dazu, wo die Stunde so spät ist. ({3}) Aber lassen Sie mich doch bitte zur Sache kommen. Sie haben Ihre Politik vorgetragen, und Herr Kollege Wohlrabe hat zumal davon gesprochen, er rufe nach der Umkehr. Er hat nur nicht gesagt, wohin er sich eigentlich umkehren will. ({4}) - Auch zur Nüchternheit! Natürlich sind wir nüchtern. ({5}) Herr Kollege Wohlrabe, bei uns hat niemand, im Gegensatz zu Herrn Nannen, Illusionen gehabt. Vielmehr haben diese Bundesregierung, die sozialliberale Koalition und alle, die sie tragen und Verantwortung haben, von Anfang an klar gesagt, daß das ein langer und unendlich schwieriger Weg ist. Daß Sie uns bei diesem Weg nicht behilflich waren, macht nichts besser und verbessert auch nicht Ihren kritischen Ansatz heute abend. Aber, meine Damen und Herren, die Frage, die sich stellt, wenn man einen solchen Beitrag hört, in dem im Jahre 1976 vom Leuchtturm der Freiheit gesprochen wird - das Element der Freiheit klang heute abend durch die eine oder andere Ihrer Reden, und darauf werde ich noch kommen -, und wenn man sich vorstellt, daß möglicherweise Menschen in Pankow, in Friedrichshain und in Treptow, aber auch in Leipzig und in Guben und in Dresden zuhören ({6}) - möglicherweise auch in Zehlendorf, Herr Kollege Kunz ({7}), ich hoffe es sogar -, dann fragen sich doch alle: Was haben wir ihnen denn mitzuteilen gehabt? Ich bedaure es sehr, daß ein Beitrag wie der des Kollegen Gradl, dem ich meine Hochachtung aussprechen möchte, so spät kam und leider nicht das Klima bei Ihnen bestimmte. ({8}) Das Klima bei Ihnen bestimmen in der Tendenz leider Kollegen - ich will es in aller Zurückhaltung sagen - wie Herr Kollege Abelein, die überhaupt keine Informationen wollen und nicht dazu beitragen wollen, daß überhaupt etwas besser wird. Er genießt es vielmehr, daß es Opfer an der Grenze gegeben hat. So glaubt er, uns damit in die Verantwortung zu bringen. ({9}) Sein Beitrag zum DDR-Kalender ist der beste Beweis dafür. Es ist doch geradezu schändlich! Sie wollen keine Information, sondern Sie wollen Feindbilder verbreiten, und zur gleichen Zeit rufen Sie auf zu Reisen in einen Bereich, den Sie bei uns in jeder Weise diskreditieren, ohne sich an den Tatsachen orientieren zu wollen. Nicht alle, sondern der Herr Kollege Abelein! ({10}) - Kerr Kollege, Sie haben doch nie an den Ausschußberatungen teilgenommen. Heute ist Herr Kollege Abelein - dieses Kompliment will ich gern nachschicken - geradezu zurückhaltend gewesen. Deshalb bin ich es auch. ({11}) Meine Damen und Herren! Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, eine sehr ernste Frage an die Adresse Ihres Fraktionsvorsitzenden zu richten, der mich mit seinem Gedankengang, wir sollten uns zu Sachwaltern der Freiheit machen, sehr wohl erreicht hat. Sie, Herr Professor Carstens, haben - wenn ich mir diese Bemerkung mit allem Respekt erlauben darf - im Zusammenhang mit der Frage der Freiheit eine Reihe von Namen ausgeführt. Das ist sicherlich verdienstvoll, weil Sie damit über die Parteigrenzen hinweggegangen sind. ({12}) Ich will - wenn das zu so später Stunde noch erlaubt ist - noch eine Anmerkung machen: Der von Ihnen erwähnte Ernst Reuter würde auf Grund seiner Vergangenheit bei Ihrer heutigen Haltung nicht einmal mehr in den öffentlichen Dienst kommen. Er hat Glück, daß er erst sehr viel später in Ihre Betrachtung gelangt ist. ({13}) Nun lassen Sie mich mal ausreden! Über unseren Parteivorstand denken wir selbst nach, ({14}) und zwar so, daß diese Partei nicht nur handlungsfähig ist, sondern auch im Oktober ein weiteres Mal das Vertrauen der Deutschen - jedenfalls derer, die frei wählen dürfen - erwerben wird. ({15}) Ihnen wird es nicht gelingen - das möchte ich an dieser Stelle hinzufügen -, diejenigen, die als Arbeitsgemeinschaft in der deutschen Sozialdemokratie Jungsozialisten genannt werden, von uns wegzudividieren und ihnen die Belastung für das, was sich in Deutschland in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, zuzuschieben. Kollege von Wrangel sprach davon, daß die Jungsozialisten der deutschen Position schaden. Ich muß sagen - mit allem Respekt als Neuling -: Herr von Wrangel, dafür werden Sie keinen Nachweis finden. Die Jungsozialisten sind Teil der deutschen Sozialdemokratie und der Parteitag in Mannheim hat bewiesen, daß man da keinen Keil dazwischentreiben kann. ({16}) Lassen Sie mich nun auf das zurückkommen, Herr Kollege Carstens, was Sie mit der Idee der Freiheit angesprochen haben. Es war mehr als interessant; es hat nur den Nachteil - das ist der Spannungsherd in dieser Auseinandersetzung über die Entspannungspolitik -, daß Sie nicht gesagt haben, wo der Gedanke des Friedens bei Ihnen angesiedelt ist. Sie haben sich darauf zurückgezogen - wie einige Redner nach Ihnen und wie auch der Kollege Wohlrabe; der Kollege Kunz ({17}) hat ja fast den ganzen Leitartikel des Herrn Hertz-Eichenrode vorgelesen -, von der Lage der Nation im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sozialismus zu sprechen. ({18}) - Im Gegenteil! Sie wissen doch, Herr Kollege Wohlrabe, daß ich frei genug bin, in Berlin gegen manche törichte Forderung an dieses Verlagshaus nicht nur Widerspruch geleistet zu haben, sondern auch bessere Argumente gehabt zu haben. Aber Sie kommen doch nicht daran vorbei, daß hier die interessante Frage aufgeworfen wird: Was ist die Lage der Nation? Dann kommt die Antwort: Der Kampf um Freiheit oder Sozialismus spaltet die Nation. Sie haben den ganzen Tag über, immer wenn Sie gesprochen haben - was der Herr Marx als zu knapp empfunden hat; darüber kann man aber streiten -, den Nachweis zu führen versucht, daß wir Sozialisten sind und daß der Sozialismus, den Sie bei uns entdecken, gleich Kommunismus ist. Dadurch kommt eben dieser interessante Widerspruch: Herr von Wrangel hat dann ausgeführt, es gebe keinen roten Faden in unserer Politik, keine geschlossene Konzeption, und Herr Abelein stellt sich hin und weist nach - so wie er es versteht -, daß seit 1968 bei uns in hohem Maße durchgängig eine konspirative Politik entwickelt worden sei, die bis zum heutigen Tag und weit darüber hinaus reiche. Nein, so einfach - ich sage das allen Ernstes an Ihre Adresse, Herr Carstens, weil der Gedanke so interessant ist und in unseren Auseinandersetzungen nicht untergehen sollte - ist das nicht, daß man Freiheit und Sozialismus gegeneinanderstellt und dann die alte Gleichsetzung bringt und die Sozialdemokratie am Ende doch als den Untergang des Abendlandes bezeichnet, wie es Herr Filbinger - etwas vornehmer - auf den Jahrgang 1976 gerechnet, formuliert hat. So einfach können Sie es sich nicht machen, auch nicht diejenigen, die heute Herrn Wehner angegriffen haben. Ich bin nicht derjenige, der ihn verteidigen muß. Das kann er sehr gut selbst, das wissen Sie auch. Aber es gibt einen Punkt der Miesigkeit, Menschen und Politiker anzugreifen, von dem wir uns zurückhalten sollten. Herr Kollege Gradl hat dafür ein eindrucksvolles Beispiel geliefert. Meine Damen und Herren, nun einige Bemerkungen zu dem, was - wie ich meine - der Kollege Wohlrabe leider unterlassen hat zu erwähnen, als er sich hier für Berlin meldete. Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zur Lage der Nation enthielt zwei wichtige und bemerkenswerte Aussagen. Sie haben das dramatisch „Gradmesser" genannt. Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß Berlin der „Prüfstein" bleibt. Ich sehe darin keinen großen Unterschied. ({19}) - Bleibt, Herr Kollege Kunz! Wir brauchen uns hier ja nicht darüber zu streiten. ({20}) - Nein, das ist nicht der Weg der Umkehr. Der umgekehrte Weg ist der Weg in die Erfolglosigkeit, den Sie uns vorgelebt haben. ({21}) Hier geht es vielmehr darum, daß Berlin der Prüfstein dieser Politik bleibt. In diesem Punkte ist die Bundesregierung im Gegensatz zu Ihnen weder blind noch verstockt, sondern beharrlich und ausdauernd und - das- füge ich hinzu - erfolgreich. Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen, die für unser Verständnis aus Berliner Sicht wichtig ist. Daß der Status und die Sicherheit der Stadt durch unsere Verbündeten verbürgt werden, hat der Bundeskanzler heute vormittag ja gesagt, und für die Aufrechterhaltung und Kräftigung der Bindungen zu uns, nämlich zwischen Berlin und dem Bund, zu sorgen ist unsere eigene Sache. In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, folgendes sagen. Dabei können nun Sie, Herr Wohlrabe, wirklich nicht Herr Oxfort, für den ich nicht zu sprechen brauche, und den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Herrn Schütz, als Kronzeugen für Ihre Politik in Anspruch nehmen. ({22}) - Nun, was diesen „Weg der Umkehr" angeht, so ist dazu wohl schon alles gesagt worden, und Ihnen fällt dazu weiter nichts mehr ein! Mit der Umkehr ist das so eine Sache. Sie sollten einmal die Ausführungen des Regierenden Bürgermeisters sorgfältig nachlesen. Er ist ja, wie Herr Abelein heute sagte, einer derjenigen, die man nicht als ,,Architekt", sondern er verwendete einen anderen Begriff dafür - ({23}) - Sie sind ja bekannt für die Plastizität Ihrer Ausdrücke. Das ist es ja, was ich vorhin beklagt habe: Offensichtlich fühlen Sie sich in den Ruinen wohl, und es kann ihnen nicht genug kalter Wind um die Nase wehen; nur ernüchtert er sie nicht, sondern sie werden immer berauschter davon. Das ist das Problem. Meine Damen und Herren, die Frage ist also nicht, was wir mit „Weg der Umkehr" oder sonstwie beschreiben, sondern die Frage geht dahin: Was können wir für Berlin tun, und was wird für Berlin getan? Insofern wäre es nach meiner Meinung gut gewesen, wenn wir alle ein Wort des Dankes beispielsweise an die Industrieunternehmen gefunden hätten, die jetzt in - wie der Bundeskanzler sagte - 37 Vorstandsetagen Berlin-Beauftragte benannt haben, denn damit wird konkrete Hilfe und Arbeit für Berlin geleistet. ({24}) Ich füge hinzu - und deswegen werden Sie mich wohl nicht gleich des Klassenkampfes verdächtigen -: Ihre Bindungen und Verbindungen zu bestimmten Vorstandsetagen sind doch viel enger; dadurch hätten Sie doch schon längst durch Solidarität der Tat für Berlin etwas bewirken können. Das ist leider unterblieben. Eine weitere Bemerkung dazu, was für Berlin ganz praktisch erreichbar ist, möchte ich machen. Lassen Sie uns doch bitte unabhängig von dem Streit, den wir hier austragen, versuchen, die Menschen in unserem Lande - vor allem die jüngeren - davon zu überzeugen, daß Berlin gerade heute und auch in Zukunft ein Platz ist, an dem anzusiedeln sich lohnt, zumindest auf Zeit, vielleicht aber auch auf Dauer, daß man dort seine Berufsausbildung weiterführen kann, daß es dort erstklassige Kultureinrichtungen und Universitäten gibt auch wenn Sie hier manches schwärzer malen, als es in Wirklichkeit ist -, daß dort exzellente Ausbildungsmöglichkeiten vorhanden sind und daß für manche junge Familie dort der Platz der Zukunft ist. Lassen Sie uns doch - losgelöst von aller Schwarzmalerei - durch nüchterne Unterrichtung dafür werben, daß Berlin auf diese Weise einen vernünftigen normalen Zuzug bekommt. Vielleicht darf ich mir dazu eine Klammerbemerkung erlauben. Herr Kollege Wohlrabe, Sie haben doch eine bemerkenswerte Erklärung um die Jahreswende in Berlin abgegeben. - Lassen Sie uns also auch dafür sorgen, daß durch die Annahme des Polen-Vertrags die Deutschen, die von dort in die Bundesrepublik kommen wollen, überhaupt kommen können und dann verstärkt die Möglichkeit der Ansiedlung in Berlin erhalten. Das setzt doch voraus, daß Sie ja sagen, daß Sie nicht nein sagen und damit den Weg versperren. Das war aber nur eine Klammerbemerkung. Meine Damen und Herren, die späte Stunde veranlaßt mich, diszipliniert zum Ende zu kommen. ({25}) - Herr Kollege, Sie sind ja fast so ein Schulmeister wie mancher andere in Ihrer Fraktion. Aber mit Zensurengeben ist doch nichts erreicht. Sie können ja hierherkommen, darauf antworten, und dann können wir in Rede und Gegenrede prüfen, was wir zu sagen haben. ({26}) - Ja, ich weiß! Es ist schwierig, wenn Einladungen plötzlich angenommen werden. Aber so geht es Ihnen ja schon seit Jahren, seit diese Koalition hier regiert und Politik zum Wohle der Menschen macht. Das ist doch Ihr Problem. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Berlin, wie es sich heute darstellt, ist sicherlich nicht frei von Problemen. Das hat auch niemand behauptet. Aber es ist nicht so, wie Sie es in Ihrer - ich drücke dies wieder sehr zurückhaltend aus - parteipolitisch bedingten Schwarzmalerei gern darstellen möchten und damit Berlin eben nicht gerade nützlich sind. ({27}) Berlin ist - und daran kann eben auch Herr Wohlrabe, wenn er hier vom Weg der Umkehr und von Krisen redet und hier Zitate aus dem Zusammenhang reißt, nicht vorbei -, gestützt auf die Präsenz und auf die Garantien der alliierten Schutzmächte und auf der Basis des Viermächteabkommens, sicherer geworden. Die feste Einbeziehung Berlins in die Politik dieser Bundesregierung ist eine Größe, an der eben nicht gewackelt wird. Es gibt eben keine Verträge z. B. mit der DDR, wenn die Einbeziehung Berlins nicht gesichert ist. Dieses Berlin ist in die Politik der Bundesregierung eingebettet und von daher zusätzlich abgesichert. Wenn Sie hier immer wieder - wofür ich Verständnis habe - in scharfen Worten das System, das „Regime", wie Sie es nennen, in der DDR geißeln, und wenn Sie hier das ist sehr ernst, dazu will ich gern etwas sagen, Herr Kollege Abelein - darauf hinweisen, daß an dieser innerdeutschen Grenze immer noch auf schreckliche Weise Menschen verwundet werden oder ums Leben kommen, dann ist das ein Punkt, den niemand von uns bagatellisiert und leicht nimmt. Nur, auch hier bitte ich, nicht bloß über die zu sprechen, die betroffen sind, sondern auch über die zu sprechen, die möglicherweise gezwungen sind zu schießen, die nicht freiwillig schießen, und klarzumachen, daß wir wissen, in welcher Gewissensnot sich möglicherweise der eine oder andere dort befindet, und daß es im anderen Teil Deutschlands junge Menschen gibt, mit denen wir in Kontakt kommen wollen. Da sind eben ein Weltjugendfestival und ein Austausch nur in eine Richtung, nämlich von uns nach drüben, viel wichtiger als jede Fensterrede, die Sie hier heute im Laufe des Tages gehalten haben. ({28}) Meine Damen und Herren, ich schließe ab. Diese Debatte - ich komme noch einmal auf die Ausführungen des Kollegen Gradl zurück - hat sicherlich nicht jeden Wunsch erfüllt, von dem diejenigen -und das unterstelle ich auch Ihnen -, die ehrlichen Herzens darum ringen, daß die Dinge in Deutschland besser werden, hoffen, daß er erfüllt wird. Aber sie hat gezeigt, daß ganz offensichtlich bei uns, in unserem Lande, ein Prozeß im Gang ist, der es aber noch nicht ermöglicht, über die Parteigrenzen hinweg die Dinge zu sehen, um die es wirklich geht. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wie immer man das moralische Bekenntnis des einzelnen einschätzt, wir möchten, daß die Politik in diesem Lande und für dieses Land und für Berlin auch aus einer Position der Moral betrachtet wird, und nicht nur moralisierend, wie es einige von Ihnen getan haben. Für uns gilt - und dabei bleibt es -, daß bei uns am Anfang und am Ende jeder Politik, auch wenn es um die Nation als Ganzes geht, zunächst einmal der Mensch steht - und nur der Mensch -, und daran lassen wir uns messen. Wenn Sie diesen Vergleich aushalten, dann sind Sie herzlich eingeladen, mit uns gemeinsam diese Politik fortzusetzen. ({29})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Abgeordnete Kunz ({0}).

Gerhard Kunz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keine Debatte ist in dem Maße eine Bilanz wie die Debatte zur Lage der Nation und - wie ich weiter hinzufüge - zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland. ({0}) Unter diesem Blickwinkel ist eine Aufstellung der Positiva und Negativa insbesondere für die Zeit vorzunehmen, für die Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihre Erfolgsbilanz einer neuen Ostpolitik vorlegen. Ich glaube, daß man, wenn man Berlin - zu Recht - als Prüfstein anführt, sehr in Schwierigkeiten kommen muß, wenn man gerade am Beispiel Berlins belegen will, wie gut diese Politik sei. ({1}) Ich möchte mich heute einem einzigen Punkt zuwenden. Ich möchte untersuchen, was aus der berühmten Klausel „strikt einhalten und voll anwenden" im Laufe der Zeit geworden ist, ({2}) wobei ich gleich vornwegstellen kann, daß ich die große Befürchtung habe, daß das wirkliche Thema im Moment nur „strikt einhalten" zu sein scheint, und das mit einer Tendenz, die einer schiefen Ebene sehr nahe kommt. ({3}) Bevor ich im einzelnen dazu komme, gestatten Sie mir einige Eingangsbemerkungen. Wir müssen leider - und dies ist ein markanter Punkt der heutigen Bilanz - feststellen, daß sich die Politik der Sowjetunion und der DDR weiter konsequent gegen die freiheitliche Existenz Berlins richtet. Ich bin darüber hinaus der Meinung, daß diese Konsequenz nicht einmal durch das Viermächteabkommen und die Zusatzbestimmungen unterbrochen worden ist. Sie ist das kontinuierliche Element der sowjetischen Politik schlechthin. ({4}) Auf diesem Wege - dieser Weg ist als strategisches Ziel der Sowjetunion gekennzeichnet - gibt es Zwischenziele. Das vorrangigste Zwischenziel scheint mir dies zu sein, daß die Sowjetunion mit Beharrlichkeit bestrebt ist, die Verfestigung des Sonderstatuts von Berlin ({5}) zu begründen, wobei die Sowjetunion Mitbestimmung für die Westsektoren der Stadt beansprucht, gleichzeitig aber Ost-Berlin als integralen Bestandteil der DDR gewertet wissen will. Das zweite Zwischenziel, wie ich es sehe, ist der konsequente Abbau der Zugehörigkeit Berlins zum Bund unter Erschütterung der gewachsenen Bindungen. ({6}) Kunz ({7}) Das dritte Nahziel schließlich ist die Entwicklung von Verbindungen zwischen der DDR und Berlin ({8}) in Sinnentstellung und Verdrehung der Bestimmung über die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund. ({9}) Ich bin mit dem Kollegen Gradl der Meinung, daß der Freundschaftsvertrag zwischen der DDR und der Sowjetunion geradezu der Herzstoß in die Architektur des Moskauer Vertrages ist. ({10}) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch sagen, daß die Berlin-Klausel des Gesundheitsabkommens wie des Postabkommens eine eindeutige Stoßrichtung in sich trägt. Die Unberührtheitsklausel von Abreden zwischen dem Senat von Berlin und der DDR stellt in Wirklichkeit die Hintertür für die Dreistaatlichkeit in Deutschland dar. ({11}) Ich glaube, daß man dies alles sehen muß. Man muß feststellen, daß der Ostblock mit konsequenter Zielstrebigkeit versucht, das Berlin-Abkommen in genau diese Richtung umzumünzen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die östliche einengende Auslegung des Abkommens zunehmend zu einer Gefahr für Berlin wird und daß Berlin im Gefolge dieser Entwicklung Funktionen zu verlieren droht. Auf diesem Wege sind neue Formeln Zwischenstationen. Eine sehr gefährliche Station scheint mir im Moment zu sein, was aus „strikt einhalten und voll anwenden" zu werden droht. ({12}) Ich erinnere daran, daß sich Generalsekretär Breschnew und der damalige Bundeskanzler Brandt am 21. Mai 1973 angesichts der bereits damals bestehenden Schwierigkeiten über die Auslegung des Abkommens - die Tinte war eigentlich noch nicht trocken ({13}) mühsam auf die Formel von der „strikten Einhaltung und vollen Anwendung" des Viermächteabkommens einigen konnten, wobei der Formelkompromiß von Anfang an gegeben war. Die Sowjetunion88 konnte nicht im Auge haben, uns verpflichten zu müssen, das Abkommen strikt einzuhalten. Denn daß wir das tun, daran bestand nie der geringste Zweifel. Also kann nur eine andere Stoßrichtung, insbesondere mit den ersten Worten dieser Formel, nämlich mit den Worten „strikt einhalten", gemeint gewesen sein. Wenn wir uns einmal die Beispiele ansehen, die praktisch die Ausfüllung dieser „Strikt-EinhaltungsTendenz" geworden sind, so ist die Bilanz wiederum in sich erschütternd. Es ist nicht mehr zu übersehen, daß die Sowjetunion nicht nur jedweder Entwicklung der Bindungen entgegentritt, sondern auch im Bereich dessen, was immer gegolten hat, Abstriche zu machen versucht, also weit hinter den Besitzstand, der beim Abschluß des Viermächteabkommens vorausgesetzt wurde, zurückzugehen versucht. Ich möchte, um dies im einzelnen zu belegen, ein paar Beispiele bringen. Erst kürzlich hat sich die DDR wieder gegen den Besuch des Bundespräsidenten in Berlin gewandt. ({14}) Stets haben Bundespräsidenten die Stadt besucht, und man darf sich sehr freuen, daß alle Bundespräsidenten dies mit großer Regelmäßigkeit getan haben. ({15}) Es hat also immer gegolten. Im Lichte des Viermächteabkommens konnte die Zulässigkeit dessen um so weniger strittig sein, als in dem Abkommen zwar steht, daß der Bundespräsident in Berlin zwar nicht mehr gewählt werden darf; nur, mehr steht hinsichtlich dieses Punktes nicht drin. Wir wehren uns dagegen, daß jetzt nicht einmal mehr sein Besuch zulässig sein soll. ({16}) Dies will die Sowjetunion, wenn sie sagt: „strikt einhalten." ({17}) Ein zweites Beispiel. Die DDR hat mehrfach gegen die Anwesenheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Berlin protestiert. Das Viermächteabkommen verbietet aber keinesfalls, wie wir alle wissen, die Anwesenheit einzelner Fraktionen. Gleichwohl wird versucht, auch dies in Frage zu stellen, obwohl sich wiederum keine Belegstelle dafür in den Verhandlungen über das Viermächteabkommen finden läßt. Hier zeigt sich also wiederum die Tendenz zum Status quo minus. Ein weiteres Beispiel. Moskau und die DDR erklärten, daß das Viermächteabkommen ernsthaft dadurch verletzt worden sei, daß sich der amerikanische Außenminister in Begleitung des Bundesaußenministers in Berlin aufgehalten habe. Auch dies hat es immer gegeben, und auch hier wird wieder deutlich, daß die Sowjetunion unter „strikt einhalten" Daumenschraube und weitere Limitierung versteht. ({18}) Ich muß sagen, es ist schon ein eigentümlicher Vorgang, daß der Wunsch einer Signatarmacht, sich durch den Bundesaußenminister auch aus seinem Verständnis heraus in Berlin begleitet zu wissen, als eine Verletzung des Viermächteabkommens aufgefaßt wird - gewissermaßen ein Höhepunkt der Erfolgsbilanz in und um Berlin. ({19}) Kunz ({20}) Die Sowjetunion protestierte gegen die Konferenz der Landesinnenminister in Berlin. Konferenzen der Landesminister hat es immer gegeben, und ich kann nur hoffen, daß sie auch in Zukunft dort stattfinden werden. Wiederum soll versucht werden, ein Stück aus dem Gefüge, das uns geblieben ist, herauszubrechen. Die DDR protestierte gegen den Einsatz von Polizeikräften aus dem Bund in Berlin aus Anlaß der damaligen Entführung von Peter Lorenz. Was soll daran denn gegen das Viermächteabkommen verstoßen? Darüber hinaus kommt der Protest von einer Macht, die seit erheblicher Zeit unter vollständigem Bruch jeglicher alliierter Bestimmungen die Wehrpflicht auf Ostberlin erstreckt hat, während es bis heute keinen einzigen Soldaten von uns in den Westsektoren der Stadt gibt. ({21}) Die DDR erhob bei den Verhandlungen mit der Bundesrepublik über ein Kulturabkommen Pressemeldungen zufolge Einspruch gegen die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin ({22}). ({23}) Zu keinem Zeitpunkt während der Verhandlungen über das Viermächteabkommen sind hiergegen Einwände, jedenfalls soweit mir bekannt ist, erhoben worden; aber die DDR erhebt jetzt Einwände. Die Sowjetunion protestierte beim Generalsekretär der Vereinten Nationen gegen die Berufung des Chefs des Bundeskartellamtes in eine UNO-Kommission, weil das Bundeskartellamt seinen Sitz in Berlin ({24}) hat. Dies ist bekanntlich seit 1958 der Fall. Das Bundeskartellamt gehört also zum Besitzstand, dessen Wahrung - ich darf es wiederholen - das Viermächteabkommen wiederum vorausgesetzt hat. Die DDR bezeichnete schließlich - ich will dies als letztes Beispiel bringen - den Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Rabin in Berlin als „offensichtliche Verletzung des Viermächteabkommens". Besuche von ausländischen Regierungschefs gab es immer. ({25}) Ich erinnere mich an die Debatte, die wir im letzten Jahr hatten, wo Herr Kollege Wohlrabe festgestellt hatte, daß seit langem niemand mehr da war. Wir freuen uns sehr, daß Herr Rabin nach Berlin gekommen ist. ({26}) Auch dies darf kein Einzelfall bleiben, ({27}) wie ich bereits jetzt, um zum zweiten Teil überzuleiten, sagen möchte. - Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Eines ist klar, nämlich daß die Sowjetunion und in ihrem Gefolge die DDR die Worte „strikt einhalten" restriktiv und daumenschraubenartig als Instrument ihres weiteren Vorstoßes gegen Berlin verwenden will. Es soll ans „Eingemachte" gehen. ({28}) - Bitte, lassen Sie sich die Frage von Ihrer Frau beantworten. ({29}) Nun könnte eingewandt werden, diese Proteste habe es immer gegeben. Natürlich, die Proteste hat es immer gegeben! Aber sie erscheinen nach Abschluß des Viermächteabkommens, das bestimmte Sachverhalte klar fixiert hat - bestimmte Sachverhalte so geregelt hat, andere Dinge so -, in einem neuen Licht. Die Sowjetunion muß die Berechtigung ihrer Proteste daran messen lassen, ob sie den Maßstäben des Viermächteabkommens gerecht werden oder nicht. Das ist der Prüfstein des Prüfsteins Berlin im Speziellen. ({30}) Gerade wegen der erklärten Angriffe auf Berlin können und dürfen wir uns nicht auf die bloße Abwehr von Angriffen auf den Besitzstand beschränken. Wir müssen den unverminderten östlichen Angriffen auf die Zugehörigkeit Berlins zum Bund durch Festigkeit und Konsequenz in der Entwicklung der Bindungen entgegentreten. Ich kann überhaupt nicht entdecken, daß das etwas mit Kraftmeierei oder mit Markigkeit zu tun haben soll. Das hat nur etwas zu tun mit voller Anwendung des Abkommens. ({31}) Volle Anwendung bedeutet im besonderen - ich möchte diesen Punkt sehr hoch ansetzen -, daß die Bundesrepublik nicht darauf verzichten kann, Bundesinstitutionen im Rahmen des Viermächteabkommens nach Berlin zu bringen. Die Errichtung des Umweltbundesamtes darf nicht der Schlußstein einer langen Entwicklung sein. Es darf nicht so sein, daß nach der Brandt-Breschnew-Formel „strikt einhalten und voll anwenden" nur noch übrigbleibt, daß die Belastbarkeit des Berlin-Abkommens nicht getestet werden dürfe. ({32}) Diese Formel ist auf der Regierungsbank hinlänglich bekannt. Diejenigen, die dort sitzen, wissen um die Urheberschaft dieser Formel natürlich bestens Bescheid; denn niemand anders als der Herr Bundeskanzler hat hier das Urheberrecht zu beanspruchen. Allerdings hat Erich Honecker diese für ihn durchaus brauchbare Formel, sie strikt einhaltend und sogar voll anwendend, schnell aufgegriffen. Wir müssen auch grundsätzlich bemüht sein. europäische Institutionen nach Berlin zu bringen. Wir sollten uns besonders stark um NiederlassunKunz ({33}) gen und Forschungsinstitutionen der Europäischen Gemeinschaft bemühen. Ähnliches gilt für Einrichtungen der Vereinten Nationen. Berlin bietet gute Ansätze für weitere Rechen- und Datenzentren. Hier hätte die Bundesregierung wesentlich aktiver tätig sein müssen, beispielsweise im Bereich der Chemiedokumentation. Ich glaube, sie voll nach Berlin zu verbringen, wäre ein sehr lohnenswerter Ansatz in Würdigung dessen gewesen, was bereits, zumindest noch, da ist. Und was ist mit dem „Luftkreuz Berlin", das der Regierende Bürgermeister mehrfach gefordert hatte? ({34}) Wird überhaupt noch in irgendeiner Weise versucht, hier aktiv zu werden? Aktuell bleibt die Einbeziehung Berlins in Verträge mit den Staaten des Ostblocks. Ich glaube, Herr Kollege Grimming, in einem sind wir uns in der Tat einig, nämlich darin, daß es kein Rechtshilfeabkommen, kein Kulturabkommen mit der DDR - entsprechende Abkommen auch nicht mit der Sowjetunion - geben darf, ohne daß Berlin gesichert in den Geltungsbereich dieser Verträge einbezogen bleibt. Hohe Aufmerksamkeit genießt gegenwärtig die Einbezogenheit Berlins in die Europäische Gemeinschaft. Diese Einbezogenheit steht ebenfalls in keiner Weise im Widerspruch zum Viermächteabkommen. ({35}) Sie ist in den Römischen Verträgen festgelegt, die bekanntlich lange vor dem Viermächteabkommen in Kraft gesetzt worden sind. ({36}) An dieser Rechtssituation hat das Viermächteabkommen nichts geändert. Es ist sicherzustellen, daß gerade im Fall der echten Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments Abgeordnete Berlins voll mitarbeiten können. ({37}) Es ist sicherzustellen, daß Berlin an dem Fortschreiten der Integration Europas voll teilnimmt. In dem Maße, in dem die Europäische Gemeinschaft politischer wird, sollten zusätzliche Möglichkeiten für Berlin erwachsen. Ich glaube, das ist der spezifische Berlinpunkt des Europaprogramms, das uns alle verbinden sollte. Der Regierende Bürgermeister hat am Jahresende erklärt, daß das Viermächteabkommen im letzten Jahr nicht voll ausgeschöpft worden sei. Er wollte das allerdings nicht als Kritik an der Bundesregierung verstanden wissen. Wir aber üben diese Kritik an der Bundesregierung. Sie ist wesentlicher Teil unserer Bilanz. Daß die Pressionen des Ostblocks anhalten, ist im Grunde weder neu noch überraschend. Das alles zwingt uns nicht in die Knie. Fatal wäre es allerdings, wenn die Bundesregierung östlichen Druck honorierte. Herrn Wehners Worte, das Berlin-Abkommen nicht zu überziehen, weisen ebenso in diese Richtung ({38}) wie die Worte des Bundeskanzlers, keine unnötigen Streitfälle in die Welt zu setzen. Die sowjetische Interpretation von „strikt einhalten" trägt Früchte. Die Bundesregierung scheint sich in bestimmten Fällen schon daran halten zu wollen, in dem Glauben, sich daran halten zu müssen. Dies alles kommt doch einer selbst auferlegten Beschränkung gleich. Es sind doch nicht wir, die gefährden und belasten! Wir vertreten unser Recht. Und wer sein Recht vertritt, darf es sich nicht gefallen lassen, als Vertragsverletzer denunziert zu werden. ({39}) Meine Damen und Herren, die Aufgabe Berlins kann nicht aus der Perspektive „Modell einer modernen Großstadt" gesehen werden. Dies ist ein kommunalpolitischer Ansatz, der für Berlin allein, so wichtig er auch ist, nicht genügen kann. Für uns bleibt Berlin das Symbol unseres Weges zur Einheit. Und dies ist der innere und tiefere Grund nicht nur für die strikte Einhaltung, sondern für die volle Anwendung des Viermächteabkommens über Berlin. ({40})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Meine Damen und Herren, es ist verständlich, daß zu dieser Stunde Fragen aus dem Hause nach dem weiteren Ablauf gestellt werden. Ich möchte deswegen sagen: Wir haben noch zwei Wortmeldungen zu dieser verbundenen Debatte und danach zwei Wortmeldungen zu den verbundenen Punkten 6 und 7, die allerdings vergleichsweise kurz seien, wie mir gesagt wurde. Zu Punkt 8 wird vermutlich auch keine sehr lange Zeit in Anspruch genommen werden, so daß wir damit rechnen, vielleicht, wenn wir uns konzentrieren, in etwa einer Dreiviertelstunde schließen zu können. Das Wort hat der Abgeordnete Böhm.

Wilfried Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000218, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Juli 1973 wurde der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in einem Illustrierteninterview gefragt: Menschliche Begegnungen, Schluß mit den Schüssen an der Mauer und an der Grenze zur DDR, das sind Erwartungen, die man jetzt hier zugrunde legt. Kann man nach Inkrafttreten des Vertrages - gemeint war der Grundlagenvertrag die Hoffnung haben, daß die streng bewachte Grenze unblutig und durchlässiger wird? Brandt antwortete wörtlich: „Es sind nicht mehr nur Erwartungen und bloße Hoffnungen", - und erging sich dann in der Schilderung angekündigter Erleichterungen bei Reisemöglichkeiten. So redete damals Böhm ({0}) Brandt den Bürgern unseres Landes ein, daß der mörderische Schießbefehl, die blutige Grenze bald überwunden sein würde. ({1}) Doch wie sieht es heute, zweieinhalb Jahre später, an der Grenze mitten in Deutschland aus? Im Zuge ihrer Abgrenzungspolitik gestaltet die DDR ihre sogenannte „moderne Grenze". ({2}) Von 1971 bis jetzt wurde der Metallgitterzaun von 406 auf 990 km ausgedehnt. ({3}) Rund 200 km der Zonengrenze sind mit automatischen Tötungsanlagen versehen. Betonsperrmauern, Sichtblenden, Kraftfahrzeugsperrgräben, Hundelaufanlagen und Lichtsperren gehören zum Alltag ebenso wie Beobachtungstürme, Erdbunker, die alle gegen diejenigen Bürger der DDR gerichtet sind, die vom Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen wollen. Von 1970 bis 1975 hat die DDR in ihrem Sperrgebiet zur Bundesrepublik Deutschland 503 Gebäude abgerissen, um ein freies Blick- und Schußfeld zu erhalten. ({4}) Von 1965 bis 1969 waren es 256 Gebäude. Die deutschen Mitbürger in der Sperrzone der DDR, die auf diese Weise nach dem Willen der Machthaber systematisch verödet wird, müssen in einem permanenten Ausnahmezustand leben. Die steigende Zahl der in die Luft gesprengten und abgerissenen Gebäude ist ein Beweis für die rücksichtslose Politik der Kommunisten. Sterbende Dörfer im Herzen Deutschlands stehen im Gegensatz zu allen Beteuerungen der DDR, zum Grundlagenvertrag und nicht zuletzt zu den Vereinbarungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Das, meine Damen und Herren, ist die von der DDR praktizierte Politik der verbrannten Erde im Herzen Deutschlands 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. ({5}) Die automatischen Tötungsanlagen - sie sind nichts anderes als die Automatisierung des unmenschlichen Schießbefehls ({6}) entziehen die Ausführung dieses Befehls dem menschlichen Gewissen. Hier wurde von dem Soldaten gesprochen und von seinem schweren Gewissenskonflikt, in dem er stehen kann, wenn er auf Flüchtlinge schießt. Der Soldat der Grenztruppen der DDR, der einen Flüchtling entdeckt, hat vor seinem Gewissen zu entscheiden, ob er schießt, und wenn er schießt, ob und wo er das Opfer trifft. Die automatische Tötungsanlage aber handelt ohne Gewissen. Sie schleudert ihre Dumdumgeschosse gegen jeden, der die Auslösedrähte berührt. 14 deutsche Menschen wurden Opfer dieser Mordmaschinen, tödlich oder schwer verletzt. ({7}) - Zu verantworten haben das, Herr Kollege Dr. Marx, die roten Schreibtischtäter in Pankow. ({8}) Meine Damen und Herren, eine weitere Perfektionierung der Grenzsperren ist zu erwarten. Die Soldaten der DDR-Grenztruppen sind, wie es heißt, „zur schöpferischen Mitarbeit" in sogenannten „Neuerer-Kollektivs" aufgerufen, um zur - wie es wörtlich heißt - „Verbesserung der Mittel und Methoden zur Grenzsicherung" beizutragen. ({9}) Aus den 1973 bis 1974 eingereichten makabren „Verbesserungsvorschlägen" wurde ein Gerät realisiert, mit dem die DDR-Grenztruppen nachts auf Flüchtlingsjagd gehen, mit dem die Schützen von Maschinenpistolen und Maschinengewehren bei Nacht ihre Ziele schneller erfassen und treffen können. ({10}) Meine Damen und Herren, das ist die Wirklichkeit im geteilten Deutschland, und das muß die Welt über diese Wirklichkeit im geteilten Deutschland wissen. ({11}) Wenn Sie die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion angreifen, die diese Tatsachen, diese schrecklichen Realitäten in Deutschland hier beschreiben, dann kommen Sie mir vor wie jemand, der nicht die Verantwortlichen für diese Untaten verantwortlich machen will, sondern diejenigen, die den Mut haben, heute noch darüber zu sprechen. ({12}) Kommen Sie mir nicht mit der Behauptung, „papierne Proteste", wie Sie das immer nennen, taugten nichts. So lauten doch Ihre stereotypen Formeln: Proteste seien niemandem zunutze. Meine Damen und Herren, wer zur Verletzung der Menschenrechte schweigt, der verzichtet darauf, das moralische Gewissen der Bürger unseres Landes und das der Welt zu schärfen und gegen die Unterdrückung der Menschenrechte zu mobilisieren. ({13}) Das moralische Gewissen aber ist die entscheidende Kraft der Menschen in Freiheit, in ihrem Widerstand gegen kommunistische Unterdrückung. Voraussetzung zur Mobilisierung des moralischen Gewissens ist die sachliche Information über die von den Kommunisten zu verantwortende Wirklichkeit im geteilten Deutschland. Gerade aber dieser Aufgabe entzieht sich die Bundesregierung. Wo ist die Fortschreibung jener Dokumentation, die von früheren Bundesregierungen erBöhm ({14}) stellt wurde über die Verletzung der Menschenrechte im geteilten Deutschland? ({15}) Wo ist diese Dokumentation? Wir meinen, daß das Geld, das dafür zur Verfügung steht, von dieser Bundesregierung nicht mehr zur Beschreibung der Realitäten in Deutschland benutzt wird, sondern allein zur Propagierung ihrer Regierungspolitik. Damit wird es mißbraucht und in den Dienst einer schlechten Sache gestellt. ({16}) Diese Dokumentation, die seinerzeit den Vereinten Nationen überbracht wurde, muß auch jetzt wieder den Vereinten Nationen vorgelegt werden, wenn sie auf den neuesten Stand gebracht worden ist. Nun kommen Sie mir nicht mit dem Argument, in den Vereinten Nationen seien die Mehrheitsverhältnisse nicht so, daß es sich lohne, die deutsche Sache dort mit Aussicht auf Erfolg zu vertreten! Das haben wir oft genug von Ihnen gehört. Nein, meine Damen und Herren, wer da kapituliert und nicht bereit ist, für die Menschenrechte auch dort und gerade angesichts der dort vertretenen Dritten Welt einzutreten und zu kämpfen, der wirft die Flinte zu früh ins Korn; er verzichtet darauf, die Vereinten Nationen, so wie er es doch angekündigt hatte, zum Forum des Kampfes für die Verwirklichung der Menschenrechte auch in Deutschland zu machen. ({17}) Wenn solche Mehrheiten heute dort nicht vorhanden sind, dann müssen wir eben darum kämpfen, diese Mehrheiten in den Vereinten Nationen zu erreichen. Wir sind die natürlichen Verbündeten der unterdrückten Völker in allen Teilen der Welt, und wir haben unser deutsches Anliegen mit ihnen gemeinsam zu vertreten. Erschüttert nahmen wir alle miteinander - ich hoffe auch Sie - das Umfrageergebnis zur Kenntnis, nach den Informationen der Bürger unseres Landes seien die Lebensverhältnisse der Bürger in der DDR in den letzten zehn Jahren um so vieles schlechter geworden. ({18}) Wer trägt daran wohl die Schuld? Sie, Herr Bundesminister Franke haben statt sachlicher, leicht verständlicher Information zwar viel bedrucktes Papier geliefert, das aber nahezu ausschließlich der Regierungspropaganda diente und nicht der Aufgabe, die Lebensverhältnisse der mitteldeutschen Bevölkerung darzustellen und ihre Situation den Bürgern der Bundesrepublik vertraut zu machen. ({19}) Der grobe Mißgriff des heute so nachdrücklich auch vom Bundeskanzler verteidigten Kalenders „Ein Blick in die DDR" ist ja doch nur das letzte Glied einer Kette verhängnisvoller Fehler in der Informationspolitik der Bundesregierung. ({20}) Wer behauptet, sachlich und objektiv über das Leben der Menschen in der DDR zu informieren und dabei, wie es in diesem makabren Kalender geschieht, die seelische und physische Not verschweigt, die die eingesperrten Menschen quält, wer dabei Mauer, Stacheldraht und automatische Tötungsanlagen verschweigt, handelt wie jemand, der das Nazireich beschreiben will, aber Konzentrationslager, Judenverfolgung und den Widerstand gegen die Nazis dabei geflissentlich übergeht. ({21}) Herr Minister Franke und andere ergingen sich heute wieder im Zahlenrausch des steigenden Reiseverkehrs. Natürlich ist es gut, wenn mehr menschliche Begegnungen zustande kommen. ({22}) - Es ist noch gar nicht so lange her, Herr Kollege Dr. Arndt, daß ich drüben war. Ich hoffe, daß auch Sie häufig in die DDR fahren. ({23}) Wir tun das, wir sprechen dort mit den Menschen mehr als Sie denken. Deshalb wissen wir auch über die wirkliche Lage in der DDR besser Bescheid als Sie. ({24}) Wir begrüßen vermehrte menschliche Begegnungen. Sie sind teuer genug erkauft worden: mit harter D-Mark, mit staatlicher Anerkennung der DDR, mit der Öffnung des Weges zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Staaten dieser Welt und durch den gemeinsamen Einzug in die Vereinten Nationen. Nehmen wir als Beispiel die Möglichkeit der Tagesaufenthalte. Stolz verkündet die Regierung, 6,5 Millionen Bundesbürger könnten zu solchen Fahrten in die DDR reisen. ({25}) Ebenso stolz verkündet sie in der Hoffnung, man habe die Zahl 6,5 Millionen vergessen, 443 000 hätten dies im Jahre 1975 getan. ({26}) Aber was sagt denn diese Zahl schon bei kritischer Betrachtung? Daß eben nur 7 °/o derer, die reisen Böhm ({27}) könnten, auch gefahren sind. Warum sind diese 6,5 Millionen Menschen nicht in die DDR gefahren? Wir haben vom Bundesaußenminister und auch von Ihnen, Herr Minister Franke, heute dafür eine unglaubliche Erklärung gehört, nämlich - so klang es aus Ihren Worten, besonders aber auch aus denen des Herrn Genscher - die Politik der Bundesregierung könne nicht erreichen, was das Volk nicht wolle. Ist jetzt also der Bürger der Bundesrepublik Deutschland im grenznahen Gebiet daran schuld, daß er nicht reist, oder sind nicht vielmehr die von Ihnen ausgehandelten Bedingungen für die Reisen so schlecht, daß man nicht fahren kann, so oft man will? ({28}) Die geschaffene Möglichkeit wird doch zugleich durch ein bürokratisches Antragsverfahren, zu wenige Grenzübergänge, willkürliche Entscheidungspraxis und allzu hohe Kosten wieder erschwert. Ist Ihnen denn gar nicht aufgefallen, daß Sie bei den Verhandlungen in diese Falle der DDR getappt sind? Statt der Weltöffentlichkeit das Bild eines reibungslosen sogenannten kleinen Grenzverkehrs, wie Sie es zu nennen pflegen, vorzugaukeln - ({29}) - Sie nicht! Herr Minister Franke, ich gestehe Ihnen zu, Sie haben das nicht gesagt. Aber in amtlichen Schreiben des Finanzministeriums steht es; auf offiziellen Schildern des Verkehrsministeriums wird vom „kleinen Grenzverkehr" gesprochen, und die Abgeordneten der Koalition reden vom „kleinen Grenzverkehr". Sie sollten nicht das Bild eines „kleinen Grenzverkehrs" vorgaukeln; Sie sollten sich, Herr Minister Franke, gründlich für eine Aufklärung der Bürger über Reisemöglichkeiten einsetzen und nicht so viel Regierungspropaganda betreiben. ({30}) Sie sollten nicht lockerlassen und einen wirklichen „kleinen Grenzverkehr" mit dem spontanen Hin und Her der Menschen anstreben und sollten nicht achselzuckend verkünden, die DDR gehe eben auf Ihre Bemühungen und auf Ihre Wünsche nicht ein. Wir wollen, daß alle Chancen zu Kontakten mit unseren Mitbürgern in der DDR genutzt werden, und wir rufen alle Bürger der Bundesrepublik auf, die schwachen sich bietenden und teuer erkauften Möglichkeiten zu nutzen und auch die damit verbundenen hohen Kosten nicht zu scheuen, um die Bürger in Mitteldeutschland zu besuchen. Sprechen Sie in diesem Zusammenhang auch offen von der Geldschneiderei der DDR! Ein Rentnerehepaar, das einen eigenen Wagen hat und das alle Tagesaufenthalte nutzen möchte, die es formal nutzen könnte, muß dafür - einschließlich Zwangsumtausch, Visa- und Straßenbenutzungsgebühren -1 380 DM im Jahr aufbringen.

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kreutzmann?

Dr. Heinz Kreutzmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Böhm, finden Sie es nicht merkwürdig, daß Sie auf der einen Seite sagen, es seien nahezu unmögliche Bedingungen hinüberzufahren, daß Sie sich auf der anderen Seite aber rühmen, wie oft Sie drüben gewesen sind? ({0})

Wilfried Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000218, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Kreutzmann, ich nehme eben diese Bedingungen gern auf mich, ({0}) um mit den Menschen drüben in Mitteldeutschland Kontakte zu haben. ({1}) Und das tun auch viele Freunde von der Jungen Union bei uns in Nordhessen. Ich würde mich freuen, wenn die Mitglieder Ihrer Jugendorganisation mehr die Möglichkeit zu Tagesaufenthalten nutzen würden, ({2}) statt sich über Probleme zu erregen, die fern Deutschlands liegen. Bei Ihren Freunden hört man doch immer nur Äußerungen über Chile, über Unterdrückung in Afrika oder sonst irgendwo, aber nur allzu selten ein Wort über die Unterdrückung unserer Brüder und Schwestern in Mitteldeutschland. ({3}) Meine Damen und Herren, die DDR ist nun am Zuge, Leistungen auf dem Gebiet der menschlichen Erleichterungen zu erbringen. Sie haben ihr noch und noch Vorleistungen gewährt; Sie haben diese Situation zu vertreten. Jetzt müssen Sie verhandeln. Ab Herbst werden wir darüber zu verhandeln haben, wie in Deutschland menschliche Erleichterungen herbeizuführen sind, und zwar auf einer ganz klaren Grundlage der Leistung und der Gegenleistung und nicht der Vorleistung. Das ist die Alternative der CDU zu Ihrer Politik. Wir sind in der Deutschlandpolitik nicht erpreßbar, weil wir keine künstlichen Erwartungen hochgezüchtet haben. ({4}) Wir sind die einzige politische Kraft in Deutschland, die in der Lage ist, im nationalen Interesse unsere Politik zu vertreten und unsere Politik mit einem Ziel zu führen, ({5}) das den Menschen in allen Teilen Deutschlands gerecht wird. Sie haben bewiesen, daß Sie es nicht können. ({6})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat Herr Abgeordneter Jäger ({0}).

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs Jäger ({0}) eine kleine Vorbemerkung zu den Behauptungen machen, die der Bundeskanzler heute früh und der Herr Kollege Mischnick heute im Laufe des Abends zur Frage der Zustimmung oder Nichtzustimmung zu den Abmachungen mit der Volksrepublik Polen aufgestellt haben. Beide Herren haben hier behauptet, mit dieser Zustimmung oder Nichtzustimmung gehe es um eine Politik des Alles oder Nichts. Es wird damit gleichzeitig die Behauptung verbunden, wer hier nein sage, gefährde jede Möglichkeit und Chance der Aussiedlung Deutscher aus den deutschen Ostgebieter und der Volksrepublik Polen. ({1}) Diese Argumentation muß ich als zutiefst unredlich zurückweisen. ({2}) Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat einstimmig, Herr Kollege Arndt, mit Ihrer Stimme beschlossen, daß die Information der polnischen Regierung von 1970 unabhängig von dem jetzigen Protokoll als Grundlage der polnischen Aussiedlungsverpflichtung bestehen bleibt. Wenn das richtig ist, kann die Nichtratifizierung dieser derzeitigen Abkommen nichts anderes bedeuten, als daß die Bundesregierung auf dieser Grundlage neu mit Polen verhandeln muß. Alle Ihre Behauptungen, es kämen dann keine Deutschen mehr heraus, gehören in den Bereich des politischen Märchens, mit dem man uns dazu erpressen will, gegen unsere Überzeugung einer Sache zuzustimmen, die schlecht ist. ({3}) Meine Damen und Herren! Ein wichtiges Problem der deutschen Politik hat in der Erklärung des Bundeskanzlers und auch in dem, was die Herren Bundesminister vorgetragen haben, nahezu keine Rolle gespielt: das wichtige und von Jahr zu Jahr wichtiger werdende Probleme der Menschenrechte. Die Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition, die heute wieder auf dem Prüfstand gestanden hat und als zu leicht befunden wurde, wurde von Anfang an auch als ein Instrument zur Durchsetzung dieser Menschenrechte angepriesen. ({4}) Bei seiner Regierungserklärung zur Lage der Nation am 14. Januar 1970 erklärte der damalige

Not found (Kanzler:in)

Was sind die Ziele, an denen deutsche Politik in diesem Zusammenhang orientiert sein soll? Er sagte dann: Die dritte Antwort ist, daß wir unseren Beitrag leisten, damit mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert werden. In ähnlicher Weise äußerte er sich auch ein Jahr später bei der Regierungserklärung vor fünf Jahren. Wie sieht das Ergebnis von sechs Jahren sozialliberaler Koalition in diesem Bereich heute aus? Wie ist die Wirklichkeit? Nehmen wird doch einmal ein paar Beispiele von Menschenrechten in diesem geteilten Deutschland! Das Recht auf Leben: Das Töten an der Demarkationslinie - ich brauche es nicht näher zu schildern; es ist oft genug dargestellt worden - ist nach wie vor an der Tagesordnung. Das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit: Jedermann, der auch nur die Tagespresse aufmerksam liest, weiß, daß es tausendfach verletzt wird durch willkürliche Festnahmen von Bürgern drüben, die keine rechtstaatliche Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren. Das Menschenrecht auf einen humanen. Prozeß und auf einen humanen Strafvollzug: Erst diese Woche wurde uns wieder ein Beispiel geliefert - es ist heute schon erwähnt worden -: 15 Jahre Zuchthaus für die Fluchthilfeleistung eines Mannes, der hier einem Grundrecht, einem Menschenrecht zur Verwirklichung für andere verholfen hat, sind ein neues und aktuelles Beispiel dafür, was die DDR von einem humanen Prozeß und humaner Urteilsfindung hält. Oder: unmenschliche Behandlung in den Strafanstalten! Die Bundesregierung erklärt dies für Einzelfälle, und sie schweigt deshalb tunlichst darüber. ({0}) Lassen Sie mich deswegen einmal aus dem Bericht eines Häftlings zitieren, der im Herbst 1974 herübergekcmmer ist und folgendes schrieb: ..Jetzt - nachdem er im Gefängnis saß habe ich nichts mehr zu verlieren. Ich sage Aufsehern und Anstaltsleitern meine Meinung. Sie schicken mich dafür in den berüchtigten Tigerkäfig. Die Haare werde mir bis zur Wurzel abgeschoren. Ich muß auf einer Betonpritsche schlafen. Es gibt fast nichts zu essen, und Ausdrücke wie „Dreckschwein" oder „Parasit" gehören noch zum feineren Teil des Wortschatzes von Oberst Ackermann, des Anstaltsleiters von Brandenburg. Gemeinsamer Strafvollzug mit Mördern, Räubern und Sexualverbrechern. In einer Zelle von 6,60 m Länge, 3,80 m Höhe, 15 Mann, 2 Waschbecken, 1 Toilette, 5 dreistöckige Betten, 2 Tische, 3 Spinde und 15 Hocker. ({1}) Nur wenn die Kommissionen kommen, gibt es Essen, das diesen Namen einigermaßen verdient. Meine Damen und Herren, so sieht es aus. Rund 6 000 politische Häftlinge leben unter diesen oder ähnlichen Bedingungen! Wahrlich, meine Damen und Herren: Ein Archipel Gulag auf deutschem Boden, über den wir von dieser Bundesregierung kein einziges Wort hören! ({2}) Das Grundrecht auf Freizügigkeit wird mißachtet. Es wird täglich mißachtet! Und das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. ({3}) Jäger ({4}) Schauen Sie sich doch mal an, wie junge Christen drüben behandelt werden, die eine aktive Haltung einnehmen und ihren Glauben praktizieren! Ihnen werden die Berufschancen kaputtgemacht, sie werden kaum zu einem Studium zugelassen, es sei denn, sie betätigen sich aktiv in der Partei oder in anderen staatlich geförderten Organisationen. Oder untersuchen Sie einmal das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit. Jeder DDR-Bürger weiß, wie es damit bestellt ist. Jeder, der hinüberfährt, weiß, wie es damit bestellt ist. Und wenn nicht die Westsender und die Westfunkanstalten wären, hätten diese Menschen überhaupt keine Möglichkeit, sich zu informieren, wie es bei uns und in der Welt aussieht. Auch hier wissen wir, daß es Kräfte gibt, die vor allem in Ihrer Fraktion, in der SPD-Fraktion, sitzen, die heute und schon seit Jahren daran arbeiten, einige dieser Sender, die immer noch als Stimme der Freiheit nach drüben senden, zum Schweigen zu bringen. ({5}) Wie sieht es mit dem Recht auf Familie aus? Die Zwangsadoptionen haben Sie, Herr Bundesminister Franke, hartnäckig auch heute wieder bestritten, wobei Sie einen erschreckenden Formalismus an den Tag legen. Was der Bundeskanzler heute morgen genannt hat, ist nichts anderes als eine zwangsweise Wegnahme von Kindern von ihren Eltern. Wir nennen das Zwangsadoption. Da hilft keine Formulierungskunst darüber hinweg, Herr Minister! Das ist ein harter und klarer Verstoß gegen das Menschenrecht auf Familie. Nehmen Sie das Recht auf Privatleben und freien Schriftverkehr. Nach dem Grundvertrag ist dieses Recht auf Schriftverkehr mit dem Westen doch beschränkt worden. Ganze Gruppen von Menschen, sogenannte Geheimnisträger, sind darauf vergattert worden, ({6}) nicht mehr mit ihren Angehörigen, Verwandten und Freunden im Westen Schriftverkehr zu pflegen. Erst vor wenigen Tagen hat Herr Staatssekretär Herold vor dem Bundestag bestätigt, daß dies auch heute noch für weite Gruppen in der DDR gilt. Oder nehmen Sie das Recht - meine Damen und Herren, auch daran muß man wieder einmal erinnern - auf freie Wahl. Auch dies ist ein Grundrecht, das in den internationalen Pakten der Vereinten Nationen verankert ist. Jedermann kennt doch die Farce der Einheitswahlen in der DDR. ({7}) Meine Damen und Herren, das waren nur Beispiele aus der Fülle dessen, wie Menschenrechte nach wie vor brutal mit Füßen getreten werden. Das zeigt, daß der hohe Anspruch, mit dem der Bundeskanzler seine Politik begonnen hat, in keiner Weise erfüllt worden ist. Sie müssen es zugeben, wenn Sie redlich sind: Auch in diesem Punkt ist Ihre Politik gescheitert! ({8}) Meine Damen und Herren, ich möchte nur der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß dies auch für die deutschen Ostgebiete und auch für die Gebiete, die unter polnischer Herrschaft stehen, gilt, wo Freizügigkeit, Diskriminierungsverbot, Vereinigungsfreiheit und kulturelle Gruppenrechte den Deutschen nach wie vor vorenthalten werden. ({9}) Es gehört, meine Damen und Herren, zu den schwersten Mängeln der jüngsten Abmachungen mit der Volksrepublik Polen, daß es Ihnen nicht gelungen ist, ja, daß Sie nicht einmal ernste Anstrengungen unternommen haben, den Deutschen, die dort drüben bleiben, diese Menschenrechte zu gewähren und dafür zu sorgen, daß sie erhalten werden. ({10}) Meine Damen und Herren, vor den Vereinten Nationen hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen am 23. September 1974 folgendes erklärt: „Dieser Gedanke führt zu einem zentralen Punkt der Bestrebungen der Vereinten Nationen, dem auch diese Generalversammlung ihre volle Aufmerksamkeit widmen sollte. Ich meine die Frage der individuellen Menschenrechte, den Schutz des einzelnen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft." „Es bedarf", so sagte Minister Genscher, „nicht nur der formellen Anerkennung der Menschenrechte, sondern ihrer praktischen Durchsetzung und Anwendung, um den äußeren Maßnahmen zur Friedenswahrung auch die innere Festigung und Überzeugungskraft zu verleihen." ({11}) Das sind gute Worte, meine Damen und Herren! Aber in der Praxis dieser Bundesregierung merkt man davon nichts, nicht einmal eine umfassende Unterrichtung der Bundesregierung über die Menschenrechtsverletzungen oder über die Menschenrechtswahrung in der Bundesrepublik ist heute vorhanden. Und ich sage Ihnen: Das ist der entscheidende Grund dafür, warum wir den Antrag Drucksache 7/4616 vorgelegt haben, von dem wir hoffen, daß er von allen Fraktionen dieses Hohen Hauses unterstützt wird. Der Antrag hat eine interessante Vorgeschichte. Am 29. März 1968 erklärte der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Mommer in diesem Hohen Hause - er war damals stellvertretender Vorsitzender seiner Fraktion -, als er damals ein solches Memorandum über die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland verlangte: „Ich habe gesagt: Memorandum über die Menschenrechte in Deutschland, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in beiden Teilen Deutschlands." Herr Staatsminister Wischnewski hat ihm darauf geantwortet: „Ich bin besonders dankbar für die Anregung, den Vereinten Nationen ein Memorandum über die Frage der Menschenrechte in beiden Teilen Deutschlands vorzulegen. Jäger ({12}) Die Bundesregierung wird Ihre Anregung, Herr Kollege Dr. Mommer, aufgreifen." Seitdem haben wir davon nichts mehr gehört. Und als die sozialliberale Koalition ans Ruder kam, tat der Kollege Herold die erneute Frage danach mit der läppischen Antwort ab, dies sei für das Menschenrechtsjahr 1968 gedacht gewesen. Nachdem man es dafür nicht zustande gebracht habe, sei ja wohl die Aktualität dafür nicht mehr vorhanden. Meine Damen und Herren, für Menschenrechte gibt es keinen Tag in Deutschland, an dem die Aktualität nicht vorhanden wäre! ({13}) Zur KSZE und ihren Menschenrechtsbestimmungen haben bereits andere Kollegen gesprochen. Lassen Sie mich deshalb zu dem anderen bedeutenden Dokument ein Wort sagen, das hier von größter Wichtigkeit ist. Vor wenigen Tagen ist der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte in Kraft getreten, ein Pakt, dem jetzt durch die 35. Unterschrift völkerrechtliche Geltung verliehen worden ist und den auch die DDR ratifiziert hat. Er gilt jetzt auch in diesem Teil Deutschlands. ({14}) In Art. 2 dieses Pakts steht wörtlich - ich darf mit Genehmigung der Frau Präsident zitieren -: Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied der Sprache, der Religion, der Hautfarbe, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status zu gewährleisten. Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren - nicht mit seiner Verfassung! und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen sind. Meine Damen und Herren, wo ist das Konzept dafür, daß die Bundesregierung nun endlich in Verhandlungen mit der DDR eintritt, um zu erreichen, daß diese in der DDR heute als geltendes Recht in Kraft befindliche Bestimmung zugunsten der Menschen endlich durchgeführt wird? Meine Damen und Herren, wir bestehen darauf, daß die Bundesregierung dieses Konzept endlich entwickelt und vorlegt und sich nicht in Ausflüchte rettet, darüber lasse sich mit dieser Regierung nicht verhandeln. Meine Damen und Herren, Ihre Pflicht ist es, das zu tun. Ich glaube, dieses deutsche Volk und die leidenden Menschen dort, denen die Menschenrechte vorenthalten werden, haben Anspruch darauf, daß diese Regierung hier endlich aktiv wird. Meine Damen und Herren, als der Bundeskanzler Erhard im Jahre 1966 in diesem Bundestag die Friedensnote an die ganze Welt vortrug, sagte der damalige Vorsitzende unserer Fraktion im Deutschen Bundestag einen Satz, der für uns heute noch gilt: Das deutsche Volk will Frieden durch Menschenrechte! Das ist unser Konzept, meine Damen und Herren; folgen Sie uns auf diesem Weg, dann können wir gemeinsam zugunsten der Menschen in unserem geteilten Land aktiv werden. ({15})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arndt ({0}).

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute abend - und nicht nur heute abend, sondern schon den ganzen Tag über - sehr viel davon gehört, daß die Menschenrechte in diesem Lande gewahrt werden müssen, daß sie jenseits der Zonengrenze verletzt würden, daß die UNO-Erklärung über die Menschenrechte durch den Beitritt der DDR zur UNO auch für diesen Staat Geltung erlangt habe, daß die KSZE-Schlußakte in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung habe, weil auch sie auf die Menschenrechte verweist, und weil nunmehr durch die Ratifikation seitens der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik der internationale Pakt über bürgerliche und soziale Rechte insgesamt in Kraft getreten sei und auch für die DDR gelte, da die DDR zu den 35 Ratifikanten gehört. Meine Damen und Herren, niemand wäre glücklicher als wir Sozialdemokraten, wenn diese Papiere überall in der Welt die Realität widerspiegelten und ihr entsprächen. ({0}) Wir haben eine 110 Jahre alte Tradition im Kampf für die Menschenrechte und die Freiheit der Menschen. Wir wären die letzten, die sich nicht freuten und begeistert wären, wenn dies überall in der Welt - und dabei können Sie nicht, wie es hier manchmal geschieht, Chile oder irgendein Land ausklammern -, also in Chile und in der DDR oder wo auch immer in der Welt erreicht wäre. Wir machen da keinen Unterschied. ({1}) - Nein, Deutschland ist nicht näher als draußen; wenn es um Menschenrechte geht, geht es um die Rechte von lebendigen Menschen, und insofern sind jedenfalls wir Sozialisten nicht bereit, ({2}) Dr. Arndt ({3}) nach Nationalität zu unterscheiden. Wir kennen in diesem Punkte keine nationalen Unterschiede. ({4}) Wenn Menschen gequält werden, dann werden wir an ihre Seite treten, überall in der Welt! Merken Sie sich das einmal! ({5}) - Natürlich, Herr Marx! ({6}) Herr Marx, tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht wüßten. Sie kennen mich seit unserer gemeinsamen Studienzeit und wisse, war mir dieses Wort bedeutet. ({7}) Meine Damen und Herren, wie ich sagte, wären wir glücklich, wenn die ganzen rechtlichen Fixierungen der Menschenrechte auch die Realität widerspiegelten. Wir sind aber nicht blind für Realitäten, denn gerade solche Blindheit wäre selbst ein besonders schwerer Anschlag auf die Menschenrechte. Sie verkennt, daß Menschsein und Menschenrechte immer die Rechte individueller Menschen bedeuten; Schmerz und Freude, Leid und Qual können immer nur einzelne Menschen fühlen. Es sind schon schlimme Vorgänge, wenn einzelne Menschen um abstrakter Prinzipien willen gequält, verfolgt und geschunden werden. ({8}) - Ja, aber hören Sie bitte auch den zweiten Teil des Satzes an. - Noch schlimmer aber ist es, wenn Menschenrechte als Schlagwaffe im politischen Machtkampf mißbraucht werden, ({9}) wenn sie zum Mittel der Erinnerung politischer Macht mißbraucht werden. ({10}) - Lassen Sie mich ausreden, dann werden Sie es hören. ({11}) - Das werden Sie ganz klar hören, Herr Pfeffermann! Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube und sage Ihnen von dieser Stelle aus, daß die Berufung auf die Menschenrechte durch viele, die heute hier gesprochen haben, in meinen Ohren geklungen hat ({12}) wie der Einsatz eines Mittels um die Macht am 3. Oktober dieses Jahres. Das sage ich Ihnen als meine Überzeugung. ({13}) - Wir sind nicht gegen Berichte. Wir sind dafür, daß auch die Öffentlichkeit im Kampf um die Erringung der Menschenrechte eine Waffe ist. Wir werden daher auch dafür sorgen, daß Ihr Antrag eingehend beraten wird. Wir werden daher beantragen, so wie es auch in der Tagesordnung ausgedruckt ist, daß der Antrag an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen überwiesen wird, damit wir dort eingehend darüber sprechen können. Aber auch an den Rechtsausschuß wird der Antrag entsprechend unserem Vorschlag überwiesen werden. ({14}) Wir werden diesem Vorschlag entsprechen und dann eingehend in den Ausschüssen - daraus sehen Sie, wie ernst wir das nehmen - den Antrag beraten. ({15}) Meine Damen und Herren, eines will ich Ihnen aber sagen: Es kommt uns entscheidend darauf an, daß etwas Praktisches für gequälte Menschen herauskommt. Für uns kann es nicht darum gehen, hier lediglich Deklamationen, Proklamationen und öffentliche Erklärungen abzugeben. Wir werden auch diese Mittel einsetzen, wenn es uns notwendig erscheint. Nicht zuletzt deshalb hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion als einzige dieses Hauses eine besondere Arbeitsgruppe für Menschenrechtsfragen eingesetzt. Wir werden alle Mittel einsetzen, aber so, daß sie den Menschen nützen. ({16}) Das ist sehr häufig die ganz stille Arbeit, die es ermöglicht, den Menschen zu helfen, Menschen aus den Konzentrationslagern - ebenso in Santiago wie in Bautzen oder sonst irgendwo in der Welt - herauszuholen. ({17}) - Herr Reddemann, ich nehme von Ihnen keine Zwischenfrage entgegen. ({18}) Ganz still werden wir daran arbeiten. Ich will Ihnen hier ganz deutlich ein persönliches Erlebnis aus Hamburg schildern: Ich habe zweieinhalb Jahre Dr. Arndt ({19}) um den ganz konkreten Fall einer jungen Frau aus Magdeburg gekämpft. Als ich bereits die Information hatte, daß diese junge Frau herkommen könnte, um hier zu heiraten, hat sich der Verlobte, der in Hamburg lebt, diese Nachricht noch nicht besitzend, gleichzeitig noch an ein Hamburger Mitglied der CDU gewandt. Er hat gemeint, wenn sich Abgeordnete verschiedener Fraktionen um sie bemühten, dann werde die junge Dame eher kommen. Das war wenige Tage vor ihrer Ankunft in Hamburg. Die einzige Aktivität, als diese junge Dame dann ankam, war, das „Hamburger Abendblatt" und die „Welt" mit den Fotografen auf den Hamburger Hauptbahnhof zu bestellen und hier einen großen Bahnhof zu machen und sich danebenzustellen. Sehen Sie, es ist ein Unterschied, ob man zweieinhalb Jahre arbeitet oder ob man sich nach 14 Tagen auf dem Bahnhof fotografieren läßt. Das ist der Unterschied! ({20}) - Die nehme ich auch nicht in Schutz!

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Wir haben es in der letzten Stunde wirklich fertiggebracht, einander zuzuhören. Ich glaube, das sollten wir jetzt zum Abschluß des Abends auch tun. ({0}) - Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich, sich so zu verhalten, daß wir die Sitzung so zu Ende führen können, wie wir sie in den letzten zwei Stunden geführt haben. ({1})

Prof. Dr. Claus Arndt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000048, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Pfeffermann, wenn Sie sprechen wollen, kommen Sie her und stellen Sie eine Zwischenfrage! Aber machen Sie nicht systematisch das Sprechen unmöglich. ({0}) - Ich habe gesagt, von Herrn Reddemann lasse ich keine zu. ({1}) Ich kehre zu dem zurück, was ich hier sagen wollte: Wir werden still arbeiten, still und energisch, wie wir es gewohnt sind und wie es den Menschen hilft. Wir werden aber, wenn wir das im Einzelfall als ein wichtiges und zweckdienliches Mittel erachten, auch die öffentliche Proklamation und Demonstration wählen. Es kommt darauf an, mit welchen einzelnen Mitteln wir im konkreten Fall das Beste und das Meiste erreichen können. Das ist für uns der Maßstab, und nichts anderes. ({2}) Unter diesem Gesichtspunkt allein können wir diese Frage der Menschenrechte betrachten. Wir müssen es daher zurückweisen, wenn irgendwo der Versuch unternommen wird - teilweise ist er heute unternommen worden -, die Menschenrechte als Schlagwaffe im politischen Kampf zu gebrauchen. - Wir werden so stimmen, wie der Ältestenrat vorgeschlagen hat, und den Antrag an die beiden Ausschüsse überweisen. ({3})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Marx.

Dr. Werner Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001431, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich sollte zunächst einmal sagen, daß unser Entschließungsantrag nach unserem Wunsch dem Rechtsausschuß, dem innerdeutschen und dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden soll. Darum möchten wir Sie bitten. Herr Kollege Arndt, Sie haben recht, wir kennen uns seit sehr langer Zeit. Deshalb war unser und mein Entsetzen so stark, als Sie die Prioritäten Ihrer eigenen Überzeugungen erst als Sozialist und dann als Deutscher dargestellt haben. ({0}) Aber wir nehmen das ad notam. ({1}) - Sie haben, glaube ich, dreimal diese Reihenfolge genannt. Aber bitte, wir nehmen das zur Notiz. Ich möchte nicht, daß wir heute abend noch in eine weitere leidenschaftliche Debatte über Bekenntnisse verfallen, die der eine oder andere in diesem Augenblick glaubt vortragen zu müssen. Sie haben, Herr Kollege Arndt, gesagt, Ihre Partei habe im Kampf für die Menschenrechte eine große Tradition. Darin liegt ein wirklicher Grund für viele unserer Appelle an Sie. Denken Sie bitte an die Rede, die unser Freund Guttenberg hier gehalten hat, ({2}) in der er damals mit großer Anstrengung und, wie ich glaube, wirklich mit dem, was man die innere Kraft, das Herzblut nennen kann, an Sie alle appel15214 lierte. Er hat damals an die Toten in den Konzentrationslagern - er wußte, wovon er sprach - erinnert und an Sie appelliert - gerade weil Sie im Verlauf der deutschen Geschichte so viele Opfer für die Freiheit und für die Menschenrechte gebracht haben -, in der Auseinandersetzung mit einem anderen menschenrechtswidrigen System, auf diesem Kurs zu bleiben. Eine weitere Bemerkung, Herr Kollege Arndt. Sie haben Chile angeführt. Man kann viele andere Länder - leider! - anführen, in denen Menschenrechte gegeißelt, in denen Menschen gefoltert werden und deren Vertreter sich in der UNO hinstellen und den Eindruck erwecken, in ihrem Lande herrsche eine wirkliche Demokratie - und zu Hause werden die Leute umgebracht. Wir sind daran interessiert, auch Chile zu nennen, natürlich! Aber wir machen - und hier nehme ich noch einmal auf, was Ihnen der Kollege Wohlrabe zurief - doch einen qualitativen Unterschied. Sie können natürlich sagen: Menschen sind es überall. Aber - ich wiederhole es - wir machen in unserer Auseinandersetzung mit dem anderen Teil Deutschlands einen qualitativen Unterschied; denn die Menschen dort sind Deutsche. Ich habe es immer sehr bedauert, wenn es Leute gab, die uns gegenüber mit einem so merkwürdigen Lächeln die Formel „Brüder und Schwestern" quittiert haben. Das sind im ganz echten, im nationalen Sinne - und wir sprechen über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland - unsere - wie ich es einmal nennen will - engeren Brüder und Schwestern. ({3}) Daher dieses Engagement! Herr Kollege Arndt, es hat keinen Sinn, eine solche Debatte mit einem Vorwurf ausgehen zu lassen; ich bitte Sie, diesen Vorwurf nicht aufrechtzuerhalten. Sie haben gesagt, wir benützten die Menschenrechte als eine Schlagwaffe und würden sie mißbrauchen. Dies ist ein schwerer Vorwurf, meine Damen und Herren. ({4}) Diesen Vorwurf sollten Sie, ungeachtet aller notwendigen Auseinandersetzung und Schärfe, wegen der in diesem Hause notwendigen gemeinsamen Grundlage nicht aufrechterhalten. Denn wohin kommen wir, wenn der eine dem anderen vorwirft, daß er Menschenrechte zur politischen Schlagwaffe macht! ({5}) Meine Schlußbemerkung: Ich nehme das, was der Herr Kollege Jäger aus Wangen, der eigentlich als letzter für und von uns hier sprechen sollte, gesagt hat, gerne auf und möchte damit auch schließen. Damit es keinerlei Mißverständnis gibt: Allerdings, Herr Kollege Arndt, wir kämpfen um die Verwirklichung der Menschenrechte! ({6}) Das ist das eigentliche Problem. ({7}) - Verzeihen Sie, Herr Mattick, mit Ihnen kann ich mich auf Grund des ersten Teils Ihrer Rede heute und in nächster Zeit nicht mehr ernsthaft auseinandersetzen. ({8}) Herr Kollege Arndt, ich wollte sagen: Lassen Sie uns in der Verwirklichung der Menschenrechte wetteifern und um ihre Durchsetzung im anderen Teil Deutschlands kämpfen. Dann haben wir eine gemeinsame Basis gefunden. ({9}) Meine Damen und Herren, ich bin hier noch einmal hinaufgegangen, weil ich fand, daß ein Tag, an dem wir zusammen mit vielen Kontroversen über die Lage der Nation debattierten, nicht mit einem so schrillen Ton ausklingen dürfe. Ich bitte Sie, das so zu verstehen und Ihrerseits dann auch zu honorieren. ({10})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlußfassung über den Antrag des Ausschusses unter Punkt 3 der Tagesordnung. Wer dem Antrag des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. ({0}) - Das ist der Antrag des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen auf Drucksache 7/4158: „Der Bundestag wolle beschließen, 1. die Unterrichtung durch die Bundesregierung ... zur Kenntnis zu nehmen ..." Dies ist ein Antrag des Ausschusses. Können wir darüber abstimmen? - Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Bei Punkt 4 der Tagesordnung ist der Überweisungsvorschlag strittig. - Herr Dr. Marx, welchem Ausschuß soll Ihr Antrag federführend überwiesen werden? ({1}) - Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen - federfühVizepräsident Frau Funcke rend - und an den Rechtsausschuß - mitberatend vor. ({2}) - Sie wollen hinzusetzen: Auswärtiger Ausschuß - mitberatend -, es aber bei der Federführung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen belassen. ({3}) Ist das streitig? ({4}) - Dies müssen wir als Änderungsantrag gegenüber dem Vorschlag des Ältestenrates betrachten. Wer dem Vorschlag der CDU/CSU folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen! Wir kommen zum Überweisungsvorschlag unter Punkt 5 der Tagesordnung. Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß - federführend - und den Verteidigungsausschuß - mitberatend - vor. Gibt es darüber abweichende Meinungen? - Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen. Ich rufe nunmehr die Punkte 6 und 7 der Tagesordnung auf: 6. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kreutzmann, Barche, Büchler ({6}), Zebisch, Niegel, Böhm ({7}), Hösl, Dr. Warnke, Wolfgramm ({8}) und Genossen betr. Förderung des Zonenrandgebietes - Drucksachen 7/4117 7/4422 Berichterstatter: Abgeordneter Hösl Abgeordneter Dr. Kreutzmann 7. Beratung des Berichts und des Antrags des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen ({9}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den erweiterten Verkehrswegeplan für das Zonenrandgebiet hier: Bericht des Bundesministers für Verkehr 1974 über den Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes - Drucksachen 7/2992, 7/4471 - Berichterstatter: Abgeordneter Böhm ({10}) Abgeordneter Zebisch Die Debatte über die beiden Punkte wird verbunden. Wünscht einer der beiden Berichterstatter das Wort? - Das ist nicht der Fall. Zur Aussprache hat Herr Abgeordneter Kreutzmann das Wort. ({11}) - Vielen Dank. Es haben alle verzichtet. Demnach liegen keine Wortmeldungen mehr vor, und wir können zur Beschlußfassung über Punkt 6 der Tagesordnung kommen. Wir stimmen über den Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/4422 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist so beschlossen. Wir kommen zur Beschlußfassung über Punkt 7 der Tagesordnung. Zur Abstimmung steht der Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/4471. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig so beschlossen. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: Beratung des Berichts und des Antrags des Innenausschusses ({12}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament betr. allgemeine unmittelbare Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments - Drucksachen 7/3366, 7/3768 - Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kempfler Das Wort hat der Berichterstatter, Herr Dr. Kempfler.

Dr. Friedrich Kempfler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001085, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte vielmals um Nachsicht, wenn ich zu dieser Stunde meinen schriftlichen Bericht noch durch einige mündliche Ausführungen ergänze. Ich bin selber nicht sehr glücklich darüber, aber nicht schuld daran, daß das zu dieser späten Stunde erfolgen muß. Immerhin, die Wichtigkeit dieser Materie, nämlich die erstmalige Behandlung der Direktwahl zum Europäischen Parlament, läßt es wohl nicht zu, daß man diesen Antrag in der Plenarsitzung ohne irgendein Wort einfach über die Bühne gehen läßt. Vielleicht ist es ganz gut, wenn man nach einem aufregenden Tag eine Materie, vorläufig noch einverständlich, ruhig und kurz behandelt. Ich sage „kurz" und betone, daß ich nicht mehr als fünf Minuten rede. Um das glaubhaft zu machen, bin ich schon ohne Konzept hier erschienen. ({0}) - Ich weiß gar nicht viel mehr zu sagen, Herr Carstens. Die allgemeinen und direkten Wahlen zum Europäischen Parlament sind schon 1957 durch den EWG-Vertrag vorgeschrieben worden. Die Vertretung durch von den Parlamenten bestimmte Abgeordnete galt als Provisorium. Der Herr Bundeskanzler hat heute schon darauf hingewiesen, daß dieses Provisorium jetzt schon fast 20 Jahre dauert. Aber es ist vielleicht ein Zeichen unserer Zeit, daß Provisorien so lange dauern. Jedenfalls hat das Parlament verschiedentlich versucht, durch Entwürfe die Direktwahl einzuführen. Der letzte Entwurf stammt aus dem Jahre 1960. Er ist im Rat eingefroren worden, und es bedurfte erst einer Entschließung der Staats- und Regierungschefs, um die Dinge wieder loszueisen. Diese haben nämlich prägnant erklärt, daß die allgemeinen und direkten Wahlen 1978 stattfinden müssen, und haben die Regierungen entsprechend angewiesen. Ein revidierter Entwurf wurde dann auch dem Rat vorgelegt und uns, dem Deutschen Bundestag, zur Kenntnisnahme überwiesen. Der Innenausschuß hat darüber beraten und schlägt Ihnen vor, und zwar einstimmig, diesen Entwurf zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Meine Damen und Herren, das wäre die erste Hürde auf dem Weg zu allgemeinen und direkten Wahlen. Sie wird leicht zu nehmen sein. Schwieriger wird das, was folgt, nämlich das nationale Gesetz. Es werden ja zunächst einmal nationale Wahlgesetze geschaffen werden müssen, in denen dann alle Probleme zur Sprache kommen, so die Frage des Wahlverfahrens, wie die Frage der Vereinbarkeit des europäischen Mandats mit den nationalen Mandaten, wie die Frage der Wahl in Berlin etc. Daß sich über die Wichtigkeit dieser Wahlen und über die Bedeutung eines durch diese Wahlen gewählten Europäischen Parlaments alle klar sind, ist selbstverständlich. Wir können das dann noch bei den Verhandlungen über das Wahlverfahren zur Sprache bringen. Ich jedenfalls - jetzt sind genau fünf Minuten verstrichen - bitte das Hohe Haus um Zustimmung zu dem Vorschlag des Innenausschusses. ({1})

Dr. h. c. Liselotte Funcke (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000620

Ich danke dem Herrn Berichterstatter. - Das Wort wird nicht begehrt. Wir kommen zur Abstimmung über den eben genannten Antrag des Ausschusses. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen. Meine Damen und Herren, wird sind am Ende eines langen Tages. Er ging einmütig zu Ende. Ich berufe das Haus auf morgen Freitag, den 30. Januar 1976, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.