Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/21/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich grüße sehr herzlich die Abgesandten des französischen Parlaments und sage für die Bundesregierung zu, dass wir mit der neugegründeten Parlamentarischen Versammlung, die wir gestern auch im Bundestag beschlossen haben, eng, gerne und vertrauensvoll zusammenarbeiten wollen. ({0}) Meine Damen und Herren, heute und morgen findet der letzte reguläre Europäische Rat vor den Europawahlen im Mai statt. Eine Frage – das verfolgen wir alle jeden Tag – hat uns in den letzten Tagen und Wochen besonders in Atem gehalten: Wie wird der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union vonstattengehen? Leider muss ich Ihnen heute sagen, dass wir auch acht Tage vor dem formalen Ausscheiden Großbritanniens noch keine definitive Antwort auf diese Frage haben. Die britische Premierministerin Theresa May hat gestern in einem Brief an Donald Tusk um zwei Dinge gebeten: Erstens. Eine positive Beschlussfassung des Europäischen Rates über das in Straßburg mit der Kommission vereinbarte Dokument, das sich mit dem sogenannten Backstop und seiner Interpretation beschäftigt. Ich glaube, dass ich heute hier sagen kann, dass wir als Europäischer Rat dieser Bitte nachkommen können, jedenfalls aus deutscher Sicht. Zweitens. Die Bitte um eine Verschiebung des Austrittsdatums auf den 30. Juni 2019. Über diese Frage werden wir heute unter uns, den 27 Staats- und Regierungschefs, intensiv diskutieren. Diesem Wunsch können wir im Grundsatz entsprechen, wenn wir in der nächsten Woche ein positives Votum zu den Austrittsdokumenten im britischen Parlament bekommen würden. Allerdings müssen wir beim konkreten Datum – 30. Juni 2019 – darauf achten, dass wir Ende Mai die europäischen Wahlen haben. Das heißt, die Zukunft und die Rechtmäßigkeit der Europawahl muss berücksichtigt werden; aber über eine kurze Verlängerung kann man dann sicherlich positiv reden. Tiefer gehende Diskussionen über unser Verhalten werden wir aber für den Fall führen, dass es in der nächsten Woche zu keinem positiven Votum oder keinem Votum des britischen Parlaments kommt. Dann werden wir uns offenhalten, ob es zu einem weiteren Treffen des Europäischen Rates vor dem Austrittsdatum kommen muss. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir eine geordnete Lösung des Austritts Großbritanniens brauchen. Das ist nicht nur im Interesse Großbritanniens – das wird in Großbritannien selbst diskutiert –, sondern das ist vor allem auch im deutschen Interesse und im Interesse der 27 Mitgliedstaaten. Ich bin überzeugt, dass das zentrale Problem, das ja im Grunde im Raume steht, letztendlich mit der Irland-Frage zu tun hat, mit dem Verhältnis der Republik Irland zu Nordirland als Teil des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland, und dass es immer wieder um diese schwierige Thematik geht: Wie kann man im Blick auf die zukünftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien einerseits die Integrität des Binnenmarktes sichern, wenn es keine Zollunion geben soll – das hat ja das britische Parlament so entschieden –, und gleichzeitig das sogenannte Good Friday Agreement erfüllen, bei dem Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland ausgeschlossen sind? Dass das keine einfache Aufgabe ist, liegt auf der Hand. Aber wenn man eine geordnete Lösung will, muss man auch in den verbleibenden Tagen alle Kraft darauf lenken, dies möglich zu machen. Ich glaube, durch die Austrittsdokumente, insbesondere die Ergänzung von Straßburg, sind hier wichtige und aus meiner Sicht auch ausreichende Schritte gemacht worden. Unabhängig vom Ausgang des Austritts streben wir aber vor allem zukünftig gute und enge Beziehungen zueinander an; ich habe das hier oft gesagt. Das gilt für die Außen- und Sicherheitspolitik, in der die Zusammenarbeit mit Großbritannien in der NATO und in den Vereinten Nationen unverändert sehr intensiv fortgesetzt werden soll. Und wenn wir als Europäer über die Verbesserung unserer Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen von NATO und Vereinten Nationen nachdenken, dann muss das Vereinigte Königreich immer Teil unserer Überlegungen sein. Das gilt aber auch für die Zusammenarbeit in der inneren Sicherheit; der Bundesinnenminister hat darauf immer wieder hingewiesen. Wir haben eine sehr enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Das gilt auch für die Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und Forschung, in denen in den letzten Jahrzehnten enge und fruchtbare Beziehungen entstanden sind. Internationale Forschungszentren wie das Genfer Kernforschungszentrum CERN oder die Internationale Raumstation ISS zeigen uns Tag für Tag, was wir leisten können, wenn wir eng zusammenarbeiten. Es bleibt der Sachverhalt: Nach dem Austritt Großbritanniens werden die Beziehungen zu Großbritannien nicht so eng sein können, wie wenn Großbritannien Teil der Europäischen Union ist. Aber die Tür für eine enge Zusammenarbeit in Freundschaft und zum gegenseitigen Nutzen steht von unserer Seite weit offen. ({1}) Sosehr wir auf eine geordnete Lösung hinarbeiten, so sehr bereiten wir uns allerdings seit Wochen und Monaten darauf vor, dass es auch einen ungeregelten Austritt Großbritanniens geben kann. Dazu wurden auf europäischer Ebene und auf nationaler Ebene, auch hier im Parlament, eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Auf europäischer Ebene wurden Regelungen getroffen, die auch nach einem ungeregelten Austritt Großbritanniens den Flug- und Güterverkehr zwischen der Europäischen Union und Großbritannien zunächst einmal sicherstellen. Erasmus-Studierende sollen ihre Studien ohne Einschränkungen fortführen können. Britische Staatsbürger sollen für Kurzaufenthalte in der EU‑27 von der Visumspflicht befreit sein. Auch hier in diesem Hohen Hause haben wir viele Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die größten Härten abzufedern. So sollen etwa britische Staatsbürger, die bei uns eine neue Heimat gefunden haben, auch weiter hier rechtssicher leben und arbeiten können. Wir haben Fragen zur Krankenversicherung in beiden Ländern gelöst und unsere Personalkapazitäten beim Zoll deutlich aufgestockt, um Engpässe bei der Warenabfertigung zu vermeiden. Ich darf heute für die Bundesregierung sagen: Auch wenn wir die wichtigsten Notfallmaßnahmen bereits getroffen haben, werden wir uns, trotz dieser getroffenen Maßnahmen, bis zum letzten Tage – ich sage: bis zur letzten Stunde – dafür einsetzen, dass diese Notfallplanung nicht zum Tragen kommt, sondern dass wir auch in den verbleibenden, zugegebenermaßen wenigen Tagen alles daransetzen, eine geordnete gemeinsame Lösung hinzubekommen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so schmerzhaft der Austritt Großbritanniens auch ist, so haben wir natürlich trotzdem sehr viel zu tun und müssen uns darauf konzentrieren – das haben wir in den vergangenen Jahren auch getan –, uns mit der Zukunft der Europäischen Union der 27 Mitgliedstaaten in einer Welt zu beschäftigen, die sich zehn Jahre nach dem Vertrag von Lissabon, zehn Jahre nach der Finanzkrise und 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erkennbar global neu ordnet. Neue Wirtschaftsmächte aus Asien, allen voran China, stellen unsere Art, zu wirtschaften und zu handeln, vor neue Herausforderungen; ich würde sagen: vor fundamentale Herausforderungen. Wir erleben, dass der Multilateralismus zunehmend unter Druck gerät. Das System der multilateralen Zusammenarbeit hat uns in den vergangenen Jahrzehnten eine bisher nie dagewesene Epoche des Friedens und des Wohlstands gebracht, und das steht für uns nicht zur Disposition. Wir gründen unsere Arbeit weiter auf die multilaterale Zusammenarbeit zum Gewinn aller. ({3}) Europa hat als gestaltende Friedensmacht heute einen festen Platz in der internationalen Politik. Die Rolle Europas wird in den nächsten Jahren allerdings zunehmen. Europa ist ein Hort der Demokratie und Menschenrechte, trotz aller Anfechtungen, die wir auch innerhalb der Europäischen Union spüren. Europa ist ein Ort, an dem Minderheiten vor Verfolgung geschützt werden. Europa bedeutet Freiheit, zu sagen, und es bedeutet eben auch, sagen zu können, schreiben zu können, glauben zu können, was jeder für richtig hält – natürlich im Rahmen unserer rechtlichen Ordnung. ({4}) Auf dieser Wertebasis hat Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern in der Vergangenheit zwei große Versprechen gegeben, die es auch in der Zukunft gilt einzuhalten: auf der einen Seite das Wohlstandsversprechen und auf der anderen Seite das Sicherheitsversprechen. Angesichts der weltweiten Dynamik ist es nicht mehr selbstverständlich, dass wir diese Versprechen auch so einfach einhalten können. Deshalb ist es folgerichtig, dass die Debatte über unser Wohlstandsversprechen ein wichtiges Thema des heutigen und morgigen Europäischen Rates ist. Wir können sagen, dass zehn Jahre nach dem Ende der internationalen Finanzkrise Europa insgesamt wieder mit einer besseren Bilanz dasteht. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem Tief, auch wenn immer noch viel zu viele Menschen, vor allen Dingen junge Menschen, ohne Arbeit sind. Die Staatsverschuldung ist insgesamt leicht zurückgegangen. Für Deutschland können wir immerhin konstatieren, dass wir die 60‑Prozent-Marke der Verschuldung in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt unterschritten haben. In den vergangenen Jahren ist die Wirtschaft der Europäischen Union als Ganzes gewachsen. Wir verzeichnen seit zwei Jahren in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union Wachstum, auch wenn sich die Aussichten zuletzt etwas eingetrübt haben. Wir sehen also, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht. Aber ich sage ganz deutlich: Das reicht nicht aus, um in vielen Bereichen mit der Weltspitze mitzuhalten oder sie sogar zu definieren. Zwei Bereiche ragen hier heraus. Das Erste ist, dass wir alles tun müssen, um unsere gemeinsame Währung zu festigen. Hier ist vieles entstanden; hier ist auch sehr viel gearbeitet worden. Ich möchte dem Bundesfinanzminister dafür danken. Wir haben Fortschritte bei der Banken- und Kapitalmarktunion gemacht, aber es geht jetzt darum, sie schnell zu vollenden. Und dabei gilt für uns natürlich: Ohne Risikoabbau kann es auch keine Risikoteilung geben. Aber das bewusste Einsetzen für einen starken Euro ist mehr als eine finanzpolitische Sache; denn das wird außerhalb Europas als ein Signal verstanden, dass Europa bereit ist, zusammenzustehen, dass Europa bereit ist, den Binnenmarkt auch wirklich zu leben, dass Europa einheitlich auftreten will. ({5}) Sie wissen, dass es den Finanzministern gelungen ist, beim Euro-Zonenbudget deutlich voranzukommen, um unsere Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz weiter zu stärken. Ausgangspunkt hierzu waren die deutsch-französischen Einigungen. Wir arbeiten mit einer Reihe von Mitgliedstaaten weiter entschlossen an der Einführung einer gemeinsamen Finanztransaktionsteuer. Allerdings ist die Geschichte der Schaffung dieser Steuer natürlich alles andere als eine einfache Sache. Und es zeigt sich: Wenn wir nicht globale Übereinstimmung über bestimmte Dinge haben, dann ist es auch sehr schwer, sie lokal in der Europäischen Union umzusetzen. Nichtsdestotrotz haben wir jetzt die Chance, einen ersten Schritt zu machen. Dafür noch einmal Dank an Olaf Scholz! ({6}) Meine Damen und Herren, es geht neben der Festigung der Währung zweitens darum, im Zeitalter der Digitalisierung zukünftig Arbeitsplätze in Europa nicht nur zu erhalten, sondern auch neue zu schaffen. Unstrittig ist dafür die europäische Industrie der Schlüssel. Sie steht für 80 Prozent unserer Exporte, und sie steht für 30 Millionen Arbeitsplätze in der Europäischen Union. Aber unstrittig ist auch, dass diese industrielle Basis vor großen Herausforderungen steht. Vieles ist heute definiert über das Management von großen Datenmengen, Big Data, und über die künstliche Intelligenz. Daran wird sich entscheiden, wie die Produkte von morgen aussehen. Aber nur ein kleiner Teil der europäischen Unternehmen bestimmt dabei den Gang der Dinge. Viel zu viele Innovationen kommen aus den Vereinigten Staaten von Amerika und aus Asien. Da gilt es, in einem fairen Wettbewerb aufzuholen. Natürlich lebt unsere industrielle Basis vom Mittelstand. Aber die Wahrheit ist auch, dass mit Blick auf Plattformen, Wirtschaft und anderes große Player notwendig sind, um Marktmacht zu erreichen und dem Mittelstand eine Entwicklungschance zu geben. Deshalb werden wir morgen auf dem Europäischen Rat über strategische Fragen der Industriepolitik sprechen. Deutschland und Frankreich haben hierfür einen Vorschlag gemacht. Viele andere Mitgliedstaaten haben auch ihre Vorstellungen eingereicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte uns, nicht immer reflexartig darauf zu reagieren, wenn es um Industriepolitik und um strategische Industriepolitik geht. ({7}) Das heißt mitnichten, dass der Staat an die Stelle der Wirtschaftsunternehmen tritt. Ich mache es an einem Beispiel deutlich: Wenn wir im Bereich der Automobilindustrie eine Vielzahl von ordnungsrechtlichen Regelungen machen, insbesondere im Bereich des Klimaschutzes, wenn wir vorgeben, dass bis 2030 die Pkw-Flotten der einzelnen Hersteller die CO 2 -Emissionen gegenüber 2020 um 37,5 Prozent mindern müssen, wenn wir feststellen, wie die Lkws sich entwickeln, wenn wir jahresscheibengerecht im Nicht-ETS-Bereich, also im Nichtversteigerungsbereich von Zertifikaten, festgelegt haben, wie hoch die CO 2 -Emissionen jedes nationalen Staates in der Europäischen Union in den nächsten Jahren bis 2030 sein werden, dann kann man doch nicht blind einfach sagen: Das machen wir alles ordnungsrechtlich als Leitplanken, aber um die Frage, wie sich die Mobilität in Europa entwickelt, wie dabei Arbeitsplätze erhalten bleiben, machen wir uns keine Gedanken. Ich sage eindeutig: Ich stimme dem Bundeswirtschaftsminister zu, wenn er sagt: Wir können nicht einfach zusehen, wenn große Teile der Wertschöpfungskette in Europa überhaupt nicht mehr angesiedelt sind. ({8}) Deshalb ist es doch natürlich wichtig, industrielle Partner zu finden, wenn es um eine Batteriezellenproduktion geht. ({9}) Wir können doch nicht zuschauen, wenn uns Jahr für Jahr erklärt wurde, das sei vielleicht nicht so wichtig – glücklicherweise hat sich diese Meinung jetzt verändert –, ({10}) sondern wir müssen proaktiv und ausbrechend aus dem klassischen Beihilferahmen, der uns das nicht ermöglicht, Projekte – – ({11}) – Nein, Frau Baerbock, der klassische Beihilferahmen ermöglicht es uns nicht. ({12}) Deshalb hat die Europäische Union auch sinnvollerweise strategische Projekte definiert, die wir schon in der Chipproduktion anwenden ({13}) und die wir jetzt auch in der Batteriezellenproduktion anwenden können. Nationale Fördermittel plus europäische Fördermittel können so gebündelt werden, dass wir aus dem Binnenmarkt auch wirklich Profit ziehen und transnational, nämlich über unsere nationalen Grenzen hinweg, große Innovationen begleiten. Das ist richtig, meine Damen und Herren. Deshalb ist es wichtig, dass wir über eine solche Industriestrategie sprechen. ({14}) Anders werden wir im Übrigen das Potenzial des Binnenmarktes nicht heben können, weil ansonsten jeder für sich allein arbeitet. Wir werden genauso eine Vernetzung in den Fragen der disruptiven Innovationen brauchen. Wir werden genauso eine Vernetzung brauchen bei den Fragen der Chipproduktion – das haben wir schon angestoßen – und auch bei den Vernetzungen der künstlichen Intelligenz. Deutschland und Frankreich wollen hier vorangehen. Meine Damen und Herren, natürlich muss das alles mit den Herausforderungen zusammengedacht werden. Dazu gehört auch eine kohlenstofffreie Produktion im Laufe dieses Jahrhunderts. Der industrielle Sektor wird einen Riesenbeitrag dazu leisten müssen. ({15}) Aber zu glauben, Ordnungsrecht sozusagen in einzelnen Bereichen anzusetzen und sich ansonsten über die Gesamtentwicklung keine Meinung zu bilden, das wäre der falsche Weg. Deshalb halte ich diese Diskussion über Industriepolitik für ausgesprochen wichtig. ({16}) Ein weiterer großer Punkt ist: Wie definieren wir unsere Handelsbeziehungen? Hier haben wir eine Vielzahl von Fortschritten gemacht. Ich erinnere nur an das Freihandelsabkommen mit Japan. Es stehen jetzt Gespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika auf der Tagesordnung. Ich sage ganz offen: Wir haben in den Gesprächen alles Interesse daran, dass wir nicht neue Zölle einführen, sondern dass wir Zölle abbauen. Dem fühlt sich die Bundesregierung verpflichtet. ({17}) Allerdings stimme ich der französischen Position zu: Wir brauchen ein Maß an Reziprozität. – Wenn wir zum Beispiel zu amerikanischen Märkten bei öffentlichen Ausschreibungen in vielen Bundesstaaten keinen Zugang haben, dann muss sich das auf die Frage „Wer hat von der amerikanischen Seite Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen in Deutschland?“ in gewisser Weise auswirken. Die Frage der Reziprozität gilt noch mehr, wenn wir über China sprechen. Am 9. April wird es einen EU-China-Gipfel geben. Den werden wir auf dem Europäischen Rat vorbereiten. Das passt auch sehr gut zu der Diskussion über die strategischen Industriefragen. Natürlich ist auf der einen Seite China strategischer Partner, auf der anderen Seite ist China strategischer Wettbewerber. Ich bin der Europäischen Kommission sehr dankbar, dass sie ein Positionspapier ausgearbeitet und in vielen Teilen, in denen es um die Beziehungen zu China geht, klar formuliert hat, dass wir in gewisser Weise in einem Systemwettbewerb stehen. Wir setzen auf die freiheitlich geprägte soziale Marktwirtschaft; China setzt auf eine gelenkte Staatswirtschaft. ({18}) Diese Widersprüche zu benennen, heißt ja nicht, nicht gut zusammenarbeiten zu wollen. Man darf sich nur überhaupt keine Illusionen machen, dass wir in zwei unterschiedlichen Systemen arbeiten. Deshalb kommt es darauf an – und daran hat es in der Vergangenheit sehr oft gemangelt –, dass wir als Europäische Union, als die 27 Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position gegenüber unseren Partnern auf der Welt vertreten. Das gilt gegenüber China, das gilt gegenüber den Vereinigten Staaten und gegenüber jedem anderen Land, meine Damen und Herren. ({19}) Das zweite große Versprechen, das wir den Bürgerinnen und Bürgern Europas gemacht haben, ist das Sicherheitsversprechen. Die Einsicht, dass wir in Europa mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen, teilen wir, glaube ich, alle. ({20}) Das zeigen uns auch die Geschehnisse vor unserer Haustür: ob ich an die Ukraine erinnere, wo die widerrechtliche Annexion der Krim gerade noch einmal im öffentlichen Fokus stand, oder ob ich an Syrien und andere Konfliktherde erinnere. Damit Europa zukünftig Antworten auf die neuen geopolitischen Herausforderungen geben kann, müssen wir natürlich nach innen und außen die Voraussetzungen dafür schaffen. In den letzten Jahren und auch heute noch hat uns das Thema Migration in besonderer Weise beschäftigt. Wir sind an einigen Stellen der europäischen Asylpolitik durchaus vorangekommen. Ich will an eine Selbstverständlichkeit – eigentlich – erinnern, die wir jetzt endlich in Angriff nehmen – ich bedanke mich beim Bundesinnenminister, dass das auch vorangetrieben wird –, nämlich an das EU-weite Ein- und Ausreiseregister, das 2020 dann auch wirklich funktionsfähig sein kann. Eigentlich – das sage ich mal im Rückblick – hätte man es mit der Einführung des Schengen-Raums sofort vereinbaren müssen. Das ist klar, wenn wir uns heute die Dinge anschauen. ({21}) Es ist eigentlich eine Trivialität, dass man, wenn man einen gemeinsamen Raum hat, auch weiß, wer drin ist und wer ausreist. ({22}) Aber lieber spät als nie, sage ich mal. Jetzt geht es darum, das schnell zu schaffen. Wir haben einen besseren Schutz der Außengrenzen, wir haben auch eine neue Partnerschaft mit Afrika definiert, an deren Umsetzung wir allerdings noch viel zu arbeiten haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir längst nicht alles erreicht haben. Es geht jetzt um die Frage: Kann man unter den 27 Mitgliedstaaten unterschiedliche Formen der Solidarität bei dem Thema „Bekämpfung der illegalen Migration“ und bei der Einführung einer regulären, legalen Migration haben? Können Mitgliedstaaten unterschiedliche Verantwortungen übernehmen? Ich sage eindeutig: Ja. Aber ich sage auch deutlich: Es kann nicht sein, dass einzelne Mitgliedstaaten erklären, dass sie sich an einer solidarischen Verteilung von Flüchtlingen nicht – gar nicht und überhaupt nicht – beteiligen. ({23}) Es geht also um Prinzipien; aber es kann natürlich ansonsten unterschiedliche Gewichte geben. Dann, meine Damen und Herrn, geht es um unsere Handlungsfähigkeit nach außen – ich sage ausdrücklich: in Zusammenarbeit mit der NATO und nicht anderweitig –, ({24}) und da ist die Schaffung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, PESCO, von großer Bedeutung. ({25}) – Von großer Bedeutung! – Sie wird dazu führen, dass wir eine militärische Kohärenz unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreichen, gerade auch, was die Fähigkeit im Einsatz anbelangt. ({26}) Sie wird auch dazu führen, dass wir eine Rüstungsindustrie haben und Waffensysteme haben, die nicht so vielfältig sind, wie das heute der Fall ist. ({27}) Vielmehr werden wir gemeinsame Waffensysteme für die Zukunft entwickeln. Das ist allemal effizienter und besser hinsichtlich des Mitteleinsatzes. ({28}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier sind wir in einem Gebiet, das uns alle beschäftigt und in dem es niemandem ganz leicht fällt, die Aufgaben der Zukunft auch wirklich zu akzeptieren und vollumfänglich unseren Beitrag zu leisten. Da geht es auf der einen Seite um die finanzielle Ausstattung; darüber ist ja ausführlich diskutiert worden. Ich bitte, dass wir nicht nur das, was wir noch nicht geschafft haben, in den Mittelpunkt stellen, sondern vielleicht auch mal das, was wir seit den Beschlüssen von Wales schon auf den Weg gebracht haben. Wir sind gestartet bei 1,18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der gestern vorgestellte Haushaltsentwurf sagt 1,37 Prozent voraus – das in Zeiten des Wachstums. Das ist ein Schritt. Man kann sagen: „Das reicht noch nicht“, aber wir sollten uns nicht selbst demotivieren. Deshalb sage ich: Das sind wichtige Schritte, die wir gemacht haben im Hinblick auf die Bundeswehr, aber auch im Hinblick auf das Vertrauen in unsere Arbeit. ({29}) Ich sage aber auch: Wir haben für 2024 mit 1,5 Prozent eine Verpflichtung bei der NATO abgegeben. Das wirkt sich natürlich auch auf die Strukturierte Zusammenarbeit in der Europäischen Union aus, die noch nicht die Erwartungen aller im Bündnis erfüllt. Aber dass wir diese abgegebene Verpflichtung nun wirklich auch einhalten, dafür stehe ich, und dafür steht auch die Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({30}) Das wird uns Kraft abverlangen. Dann haben wir einen zweiten Punkt. Wir alle sprechen sehr schnell von europäischen Streitkräften. Wir sprechen davon, dass wir natürlich europäische Waffensysteme entwickeln müssen. Und das wird natürlich nur in Kooperation gehen. Meine Damen und Herren – ich will jetzt hier gar keinen sozusagen ins Visier nehmen –: Es ist vollkommen unstrittig, dass vernetzte Kooperation bei der Schaffung zukünftiger Waffensysteme – zum Beispiel eines zukünftigen Panzers unter deutscher Führung oder eines zukünftigen Flugzeugsystems unter französischer Führung – ({31}) Verlässlichkeit zwischen den Partnern bedeutet und es nicht etwa durch Nichtlieferung von wenigen Teilen dazu kommen darf, dass andere überhaupt nicht mehr aktionsfähig sind. ({32}) Jetzt kommen wir an einen Punkt, den ich heute hier nur ganz abstrakt benennen will – ich könnte konkret das Urheberrecht nehmen, bei dem wir uns in diesen Tagen über den Artikel 13 sehr auseinandersetzen –: Wir machen hier zu Hause eine Koalitionsvereinbarung; wir schreiben etwas hinein, finden das auch alle richtig und stehen dazu. Jetzt sind wir Partner innerhalb der Europäischen Union, und jetzt kommt ein anderer Partner mit aus seiner Perspektive genauso guten Gründen und sagt: Ich sehe das aber anders. – Beim Urheberrecht hat Frankreich gesagt: Ihr könnt nicht alle Start-ups beim Leistungsschutz ausnehmen; das geht nicht; das würde dazu führen, dass es nur noch Start-ups gibt und überhaupt keinen Leistungsschutz für die Kreativen mehr. – Wir haben gesagt: Wir sehen das ein bisschen anders. – Das Europäische Parlament, Europa, hat fast eine Dekade diskutiert, um zu einem Leistungsschutzrecht zu kommen. Müssen wir am Ende bereit sein, ein Stück von unseren Positionen abzugeben, damit auch andere Kompromisse eingehen, oder sagen wir: „Nein, einmal niedergeschrieben, Koalitionsvereinbarung 2018, null Veränderung“? Ich glaube, dann können wir keine guten Partner sein. Das ist natürlich hart, das ist schwierig, und wir werden ja nun auch versuchen, ohne die in der Richtlinie gar nicht genannten Uploadfilter auszukommen. Ich sage das genauso für unsere Rüstungsexporte: Wenn Großbritannien oder Frankreich eine andere Haltung zu der Frage haben, wie man Einfluss auf arabische Partner nimmt, um den Jemen-Krieg zu beenden, als wir, die wir eine andere Methode für richtiger halten, kann es da sein, dass wir dann sagen: „Von uns gibt es kein Teil mehr für irgendein Produkt, das in Großbritannien oder Frankreich gefertigt wird“? Das sind die Fragen, vor denen wir stehen, und zwar nicht nur heute. Vor denen werden wir immer und immer wieder stehen. ({33}) Deshalb wünsche ich mir in diesem Hohen Hause darüber eine sehr grundsätzliche Debatte. Ansonsten gelten wir nämlich als moralisch überheblich – das kommt mir entgegen –, ({34}) oder wir gelten als zu prinzipientreu, oder wir gelten als kompromissunfähig. ({35}) Wir können noch so viele Lippenbekenntnisse für ein tolles Europa abgeben und dazu, wie wir alle zusammenarbeiten wollen, die Wahrheit ist konkret, meine Damen und Herren. Das ist leider in vielen Fragen der Fall. ({36}) Sind wir also bereit, dieses Europa zu stärken? Ich finde, alles spricht dafür, dass wir das tun sollten, weil 60 Jahre Freiheit, 60 Jahre Frieden, 60 Jahre Wohlstand damit verbunden sind, weil Europa bei allen Problemen, die wir haben, im Verhältnis zu vielen anderen Regionen in der Welt saubere Luft ({37}) und gute Bildung für unsere Kinder bedeutet, weil Europa die beste medizinische Versorgung auf der Welt bietet, die höchsten Standards beim Verbraucherschutz und beim Datenschutz, weil die Marktwirtschaft den Menschen Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung und gleichzeitig sozialen Schutz bietet. Lohnt es sich, für dieses Europa weiter zu kämpfen? Ich sage: Ja. Es gibt aus meiner Sicht keine Möglichkeit, anderweitig unseren deutschen Wohlstand, unsere Art, zu leben, besser zu schützen als in einem gemeinsamen Europa. Das bestimmt das Handeln der Bundesregierung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({38})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alexander Gauland. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss nicht jede Wendung im Brexit-Drama für einen Ausweis jahrhundertealter Staatsklugheit in London halten, um dennoch hohen Respekt vor dem Ringen einer Nation um eine Grundfrage zu empfinden. England war immer zugleich drinnen und draußen, halb Europa, halb Indien, zugleich europäische Macht und Weltmacht. Wie hat es Churchill einmal so unnachahmlich literarisch gegenüber de Gaulle ausgedrückt? Wenn ich mich zwischen Ihnen und Amerika, zwischen Ihnen und dem offenen Meer entscheiden muss, entscheide ich immer für das offene Meer. – Und es wäre wirklich eine ironische Volte, sollte eine Parlamentsregel, die auf das Jahr 1604 zurückgeht, eine dritte, diesmal vielleicht erfolgreiche Abstimmung über den Deal verhindern. Darf ich dieses Haus daran erinnern, dass die Entscheidung zum Brexit auf demokratischem Wege gefallen ist? ({0}) Die Mehrheit der Briten hat beschlossen, die EU zu verlassen. Ja, das war eine knappe Mehrheit; doch diese Konstellation ist heute normal und historisch. Bedeutende Entscheidungen sind oft durch knappe Mehrheiten herbeigeführt worden. Es war eine demokratische Entscheidung, also etwas, was in der EU eher selten vorkommt. ({1}) Was wir derzeit erleben, ist der Versuch, das unerwünschte Ergebnis einer demokratischen Entscheidung vielleicht doch noch rückgängig zu machen. Meine Damen und Herren, Spott ist kaum angebracht, wenn einer unserer ältesten und wertvollsten Verbündeten sich in politischen Krämpfen windet. Es sind eben nicht die Fehlinformationen der Brexit-Befürworter, die zu dieser Situation geführt haben; es sind die zwei Seelen in der Brust jedes Engländers, die dieses Dilemma herbeigeführt haben. Deshalb wäre es auch die Aufgabe der Bundesregierung, nicht beiseitezustehen und dem shakespearehaften Drama seinen Lauf zu lassen, sondern beherzt einzugreifen, Frau Bundeskanzlerin, ({2}) das Paket wieder aufzuschnüren oder zumindest mit zusätzlichen Erklärungen zu versehen. ({3}) Es kann doch nicht so schwer sein, den Briten den einseitigen Ausstieg aus dem Backstop zu ermöglichen, und es fällt den 27 bei Gott kein Zacken aus der Krone, für eine kurze Übergangszeit die Niederlassungsfreiheit auszusetzen. ({4}) „Rosinenpickerei“ ist dafür das falsche Wort – angesichts eines Dramas, das die Zukunft unseres Kontinents bestimmt und darüber entscheiden wird, ob Großbritannien, das uns jahrelang in Berlin verteidigt hat, uns auch künftig freundschaftlich verbunden bleibt. Denn Verletzungen, meine Damen und Herren, an den Seelen der Völker sind schwerer zu heilen als materielle Schäden. Gerade wir Deutschen können davon ein Lied singen. ({5}) Regelbasierte Multilateralität – das kam bei Ihnen auch wieder vor, Frau Bundeskanzlerin – ist ein wohlklingendes Abstraktum, ({6}) das niemanden zu seelischen Anstrengungen verführt und, von Herrn Barnier repräsentiert, eher abschreckt und spaltet als zusammenführt. ({7}) Ein Appell der Bundeskanzlerin an die Verhandelnden, einen kleinen Schritt aufeinander zuzugehen, könnte da vielleicht Wunder wirken. ({8}) Allerdings müsste man dafür von dem Gedanken Abstand nehmen, der in Brüssel immer mitgedacht wird: die Briten dafür zu bestrafen, dass sie einen Weg gehen wollen, der in manchen Hauptstädten des Kontinents für politisch inkorrekt gehalten wird ({9}) und der niemals auf eine Weise ins Freie führen darf, die Nachahmer anspornen könnte. ({10}) Doch gerade darin müsste sich die Stärke der Europäischen Union erweisen: dass sie niemanden gegen seinen Willen festhält. Es ist unsouverän und ein Zeichen von fehlendem Vertrauen in die eigene Attraktivität, wenn man sich bei einer Trennung so aufführt wie die EU momentan gegenüber den Briten. ({11}) Die Europäische Union, so ihre eifrigen Befürworter, sei kein Zwangsverband, sondern eine freiwillige Übereinkunft, die jedes Volk, jeder Staat jederzeit auflösen können, wenn sie es für nötig halten. ({12}) Es ist an der Zeit, dass die europäischen Regierungen das beweisen und Großbritannien eine ebenso faire wie kluge Chance geben, Frau Merkel. Ich appelliere an Sie: Machen Sie damit den Anfang! ({13}) Man wird nämlich den Eindruck nicht los, dass es der EU um anderes als um den Frieden in Irland geht, nämlich darum, zu verhindern, dass Großbritannien zu einem deregulierten, von niedrigen Löhnen und niedrigen Steuern geprägten Wettbewerber der EU wird. Ihr Quidproquo: Wenn Großbritannien weiter den vollen Zugang zum EU-Markt will, muss es sich weiter an die EU-Standards zu Besteuerung, Beschäftigung, zu Wettbewerb und Umwelt halten – also praktisch ein Mitglied ohne Mitspracherecht. Zartere Gemüter würden das Erpressung nennen. ({14}) Wenn wir die Zeitungen aufschlagen, lesen wir immer von dem wirtschaftlichen Schaden, der den Briten durch den Brexit entstehen wird. Wir lesen aber nichts über den Schaden für die EU. Denn auch wir verlieren, meine Damen und Herren: Deutschland zuvörderst. ({15}) Geben wir den Briten etwas mehr Zeit, aber nicht das Gefühl, aus einem Gefängnis ausbrechen zu müssen. Dazu müsste man freilich von all den Affekten, die zu einer schmutzigen Scheidung führen, zur Vernunft zurückkehren. Ich kann nur noch mal wiederholen, Frau Merkel: Machen Sie damit den Anfang! Denn das ist Politik im deutschen Interesse. Ich bedanke mich. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der SPD, Andrea Nahles. ({0})

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Premierministerin May hat gestern um einen Aufschub für die Brexit-Frist gebeten. Wir schließen eine solche Verschiebung nicht aus. Klar ist aber auch: Eine Verschiebung beantwortet die Frage nach einem geordneten Brexit natürlich nicht. Diese Antwort muss endlich von den Briten kommen. Und was wir hier in den letzten Monaten erleben mussten, kann man nicht anders als ein akutes Versagen der britischen Politik bezeichnen. ({0}) Die britische Regierung ist zum wiederholten Mal nicht in der Lage gewesen, den ausgehandelten Deal durch das Parlament zu bringen, und jetzt will Frau May zum dritten Mal genau denselben Antrag vorlegen. Das ist eine Hochrisikostrategie. Ich sage angesichts der Bedeutung, die das für Briten und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Großbritannien, aber auch für ganz Europa hat: Frau May, gehen Sie endlich auf die Opposition zu! Suchen Sie eine überparteiliche Lösung! Sie haben es in der Hand, auf dieser Schussfahrt nach unten noch zu wenden. Frau May, Sie haben es in der Hand. ({1}) Enttäuscht bin ich als langjährige deutsche Parlamentarierin allerdings auch von meinen britischen Kolleginnen und Kollegen. Wenn man sieht, dass es eine Regierung über Monate in einer so entscheidenden Frage für ein Land nicht hinkriegt, dann muss man doch als Parlament irgendwann selbst das Heft des Handelns in die Hand nehmen, dann muss man doch selber nach überparteilichen Lösungen suchen. Ich appelliere deshalb auch an die Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordneten in Westminster, von Parlament zu Parlament: Suchen Sie jetzt endlich eine überparteiliche Lösung! Haben Sie den Mut zu einer verantwortlichen Entscheidung für Ihr Land! ({2}) Anders wird es doch am Ende gar nicht gehen. Jetzt, so kurz vor dem Ende der Frist, muss man doch auch mal sagen: Wenn es die Regierung nicht schafft, wenn es das Parlament nicht schafft, dann muss man das Volk fragen, und dann brauchen wir ein zweites Referendum. Das ist die logische Konsequenz, die sich daraus ergibt. ({3}) Ich kann wirklich nur hoffen – und ich glaube, das tun alle in Europa –, dass wir an dieser Stelle Bewegung sehen. Die Zeit ist knapp. Der Brexit, egal wie er jetzt kommt, ist eine Zäsur. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber es ist auch festzuhalten: Der Brexit entscheidet nicht über das Schicksal Europas. Wir entscheiden über das Schicksal Europas, und zwar bei der Europawahl am 26. Mai. Ich halte das für die wichtigste Europawahl seit Jahrzehnten. ({4}) Es muss von dieser Europawahl ein Signal ausgehen für den Zusammenhalt in Europa, für Demokratie. Das ist das Entscheidende. Einer der Gründerväter der Europäischen Union, Jean Monnet, hat einmal gesagt: Jenseits aller Differenzen und geografischen Grenzen gibt es ein gemeinsames Interesse. – Auf dieses gemeinsame europäische Interesse hat auch Präsident Macron erneut hingewiesen, und er hat etwas Neues gemacht, mit dem er auf Deutschland zugekommen ist: Er hat das Thema „soziales Europa“ endlich auch mal ausbuchstabiert, und deckungsgleich mit dem deutschen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD fordert Macron jetzt europäische Mindestlöhne, eine europäische Grundsicherung in jedem europäischen Land und den Kampf gegen Lohndumping. Ja, meine Damen und Herren, da sollten wir doch einschlagen, wenn Präsident Macron so etwas vorschlägt. Das ist doch genau auf der Linie unserer deutschen Politik. ({5}) Denn ein soziales Europa ist im ureigensten deutschen Interesse. Es ist im Interesse der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn wir sie mit der Entsenderichtlinie vor Lohndumping schützen. Es ist aber auch im Interesse der deutschen Unternehmen, wenn wir für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen. Es ist schlicht und ergreifend ein gemeinsames deutsches und europäisches Interesse. Deswegen ist es auch wichtig. Denn wir haben ein Riesenwohlstandsgefälle in Europa. Wenn Europa nur noch als Wirtschaftsraum wahrgenommen wird, wenn es eben nicht als ein Ort für alle Menschen, in dem es auch Wohlstand für alle gibt, wahrgenommen wird, werden wir den Populismus in Europa nicht besiegen. Deswegen ist ein soziales Europa im deutschen Interesse; deswegen müssen wir ein soziales Europa voranbringen. ({6}) Wir dürfen aus dieser Brexit-Geschichte eines lernen – es ist doch ganz klar –: Wenn auf der europäischen Ebene immer nur gefragt wird: „Wo ist denn der nächste Rabatt? Wer kann am meisten aus der EU rausholen?“, dann wird das nicht funktionieren. Was für die Demokratie gilt – dass wir Demokraten brauchen, die sie aktiv tragen –, das gilt genauso für Europa. Wir brauchen in Europa Europäerinnen und Europäer mit nationalen Wurzeln, aber auch einem kräftig schlagenden europäischen Herz. Auch darum muss es bei dieser Europawahl gehen. ({7}) Es geht nicht darum – um es sehr deutlich zu sagen, weil das ja immer wieder unterstellt wird –, nationale Differenzen und Interessengegensätze zu negieren. Die gibt es nämlich. Aber die Antwort auf die Frage, wie wir die Auseinandersetzungen darüber austragen, ist doch der große Fortschritt in Europa: nicht mehr in den Schützengräben, sondern in Redeschlachten. So hat es einmal Heidemarie Wieczorek-Zeul gesagt. Das ist genau der Punkt. Ich sage an dieser Stelle: Es geht darum, unsere Konflikte zum Wohle aller aufzulösen. Deshalb braucht Deutschland Frankreich. Deshalb braucht Frankreich Deutschland. Und deshalb braucht Europa Frankreich und Deutschland. Und deswegen ist es so toll, dass wir wichtige Fragen immer im Duett beantworten, wie in Aachen und mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, und so ist es auch in vielen Punkten. Danke auch an die französischen Kolleginnen und Kollegen an dieser Stelle! ({8}) Vor diesem Hintergrund muss ich mich wundern, dass auch hier in Deutschland die innenpolitische Brille bei einigen den Blick aufs Wesentliche verstellt. Wir haben in Europa weiß Gott Wichtigeres zu tun, als unsere französischen Freunde mit europapolitischen Symboldebatten zu provozieren und den EU-Sitz in Straßburg infrage zu stellen. Ich glaube tatsächlich, dass wir weitaus Wichtigeres in Europa zu bereden haben. ({9}) Und ich sage an dieser Stelle auch Folgendes sehr klar: An der deutschen Regierung – an dieser Bundesregierung – scheitert in Europa derzeit nichts, ({10}) weder die Urheberrechtsrichtlinie ({11}) noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. ({12}) An dieser deutschen Regierung scheitert auch nicht das Euro-Zonenbudget – da bin ich Frau Merkel für ihre klaren Worte dankbar – noch eine, wie ich finde, wichtige Frage, nämlich, dass wir endlich zu einer gerechten, gemeinsamen Besteuerung auch von Amazon, Google und Facebook kommen. Auch da sind wir Vorreiter, auch das treibt diese deutsche Bundesregierung voran. ({13}) Ich sage an dieser Stelle sehr klar: Ich bin Bruno Le Maire und Olaf Scholz sehr dankbar, dass sie diesen Vorschlag gemacht haben. Vier europäische Länder waren dagegen. Das entmutigt uns nicht. Es ist nicht untypisch, dass man im ersten Anlauf auf europäischer Ebene nicht immer alle sofort einsammelt. Das haben wir bei der Finanztransaktionsteuer leidvoll erfahren. Aber diesmal wollen wir, dass der Vorschlag schneller zum Erfolg führt. Gemeinsam haben sich jetzt alle darauf verständigt, eine gemeinsame Mindestbesteuerung in der OECD herbeizuführen. Das ist doch hervorragend. Wenn das gelänge, wäre das sogar die beste Lösung. Wenn es nicht gelingt, dann werden wir das zum Schwerpunktthema der deutschen Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr machen. Wir werden es ganz klar zum zentralen Punkt der Auseinandersetzung machen. Aber es ist nun einmal so: Wir brauchen die Kooperationsbereitschaft anderer Europäer, um hier zum Erfolg zu gelangen. ({14}) Es ist ein Paradebeispiel dafür, dass nationale Lösungen überhaupt nicht mehr ausreichen. ({15}) Wir müssen es gemeinsam schaffen, müssen es europäisch schaffen. Und wenn es am Ende nicht alle sind, dann machen wir es trotzdem europäisch – mit denen, die es wollen, genau wie bei der Finanztransaktionsteuer. Das ist der Weg, und deswegen brauchen wir Europa: um gemeinsam handlungsfähig zu sein. ({16}) Ich sage an dieser Stelle auch sehr klar, dass ich der Meinung bin, dass an dieser deutschen Bundesregierung eine gemeinsame erfolgreiche Industriestrategie – das ist ja auch Thema des Europäischen Rates – in keinster Weise scheitern darf und auch nicht scheitern wird. Denn ich glaube, dass auch die deutschen Unternehmen sehr wohl ein Interesse haben – um es sehr klar zu sagen: ein gemeinsames Interesse daran haben –, dass beispielsweise deutsche Unternehmen und Bürger sichere europäische Server haben, wo sie ihre sensiblen Daten ablegen können, und nicht auf andere angewiesen sind. Auch gemeinsame Strategien in der KI- und Forschungspolitik, die wesentlich ambitionierter sein müssen, als sie es derzeit sind, liegen im Interesse der deutschen Unternehmen und Bürger. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Auch da – ja – schlagen wir ein. Dafür brauchen wir Europa. Wir wollen gemeinsam Politik machen. Wir wollen gemeinsam zu Stärke gelangen. Wir wollen nicht nationale Interessen in den Vordergrund rücken, sondern gemeinsame europäische Strategien weiterentwickeln. Das ist unsere Politik. ({17}) Der Europäische Rat wird sich auch mit der Klimapolitik befassen. Und ich sage auch an dieser Stelle sehr klar denjenigen, die in diesem Parlament auch zur Fraktion der Klimawandelleugner gehören: Es wird keine Diskussion darum geben, ob wir unsere Klimaziele einhalten, sondern nur darum, wie wir diese Klimaziele erreichen. ({18}) Allerdings müssen wir da auch ganz genau gucken, dass wir die richtigen Schritte gehen. Ich bin der Bunderegierung deswegen dankbar, dass sie gestern beschlossen hat, ein Klimakabinett zu bilden, wo die Vertreter unterschiedlicher Interessen an einem Tisch zusammenkommen ({19}) und alle wesentlichen Fragen – sowohl die Interessen des Klimaschutzes, die Interessen der deutschen Industrie im Zuge der Transformationsnotwendigkeiten als auch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – gleichrangig verhandeln und zu einem erfolgreichen Ende führen werden. ({20}) Es ist eine gute Idee, eine hervorragende Lösung, dieses Klimakabinett ins Leben zu rufen. Ich freue mich, dass viele junge Menschen für diese Frage jeden Freitag auf die Straße gehen. Und ich muss an dieser Stelle auch sagen: Wir sollten sie ernst nehmen. Wir sollten nicht versuchen, mit Fehlstundendebatten abzulenken, denn es geht hier nicht um Fehlstunden. ({21}) Es geht darum, dass sich eine ganze Generation von jungen Menschen politisiert, und das ist doch verdammt noch mal eine gute Nachricht für unser Land und für ganz Europa! ({22}) Die Europawahlen im Mai sind deswegen wichtiger denn je. Ich möchte deswegen alle Bürgerinnen und Bürger bitten: Machen Sie von Ihrem Wahlrecht Gebrauch! Stimmen Sie für sozialen Zusammenhalt in Europa und für Demokratie! ({23}) Vielen Dank. ({24})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Was wir seit Jahren, Monaten, Wochen, Tagen in London erleben, hat shakespearehafte Züge. Es ist die Selbstschädigung der europäischen Gesellschaft, und es legt auch die Axt an Vertrauen und Glaubwürdigkeit einer ganzen politischen Klasse. Es kann einen nicht kaltlassen, wenn sich ein Partnerland selbst in eine so schwierige Lage manövriert. Herr Gauland, Sie haben hier das Referendum der Briten über den Brexit sozusagen als eine Sternstunde der Demokratie dargestellt. Wir haben auch Respekt vor dem souveränen Willen anderer Völker, aber der Brexit wird nicht als Sternstunde der Demokratie in Erinnerung bleiben, sondern als Scherbenhaufen, den Populisten mit falschen Argumenten hinterlassen haben! ({0}) Die Hoffnung stirbt zuletzt. Unsere liberal-demokratischen Partner in Großbritannien plädieren bereits seit langer Zeit für ein zweites Referendum. Sollte es diese Chance geben, müsste die Europäische Union sie durch Verhandlungen darüber beantworten, unter welchen Bedingungen die Briten in der Europäischen Union bleiben wollen, statt nur zu gestalten, wie der Austritt erfolgen soll. ({1}) Der Brexit – so oder so – bietet allerdings auch eine Chance für uns Europäerinnen und Europäer, nämlich eine Chance auf Erneuerung europäischer Politik und ihrer Institutionen. Es ist ein Appell an uns, uns auch neu unserer gemeinsamen europäischen Werte zu vergewissern. Nehmen wir unsere europäischen Werte ernst – auch in unseren eigenen Parteienfamilien! Und wenn wir europäische Werte ernst nehmen, dann kann eine Partei wie die von Viktor Orban nicht Partner einer Partei sein, die sich in der Nachfolge von Konrad Adenauer und Helmut Kohl sieht. ({2}) Volkswagen baut Arbeitsplätze ab. Bayer baut Arbeitsplätze ab. Wir erleben möglicherweise eine Bankenfusion in Deutschland, die massiv zulasten von Arbeitsplätzen geht. Die Konjunktur in Deutschland trübt sich ein. Und da stellt sich eine Bundeskanzlerin bei der Regierungserklärung hierhin und sagt, wirtschaftspolitisch seien wir eigentlich auf dem richtigen Weg? Da stimmen wir nicht zu, Frau Bundeskanzler. Wir sehen uns nicht auf dem richtigen Weg, weder in Europa noch in Deutschland. Ganz im Gegenteil: Wir müssten jetzt das Ölzeug anziehen und uns wetterfest machen, weil stürmische Zeiten auf uns zukommen. ({3}) Was gibt es da an Angeboten, mit denen wir in Europa werben könnten? In Deutschland wird nach Ihrem Haushaltsentwurf ausgerechnet im Ministerium für Bildung und Forschung gekürzt, statt zusätzlich investiert. Das ist doch kein Signal nach Europa vor einem europäischen Gipfel, bei dem es um Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherung von Arbeitsplätzen geht. ({4}) Wo sind die Initiativen für Freihandel, für einen digitalen Binnenmarkt, für Technologien, ja, auch für Entlastungen und für Investitionen? Was wir von Frau Nahles und von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, gehört haben, ist ausgerechnet das Hohelied auf eine Steuererhöhung. Sie nennen es Finanztransaktionsteuer. In Wahrheit werden aber nach dem Plan von Herrn Scholz und anderen gar nicht Finanztransaktionen ins Zentrum gestellt, sondern die Aktienkäufe von privaten Kleinaktionären. Das ist kein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit, sondern ein Beitrag zur Verschärfung von Verteilungskonflikten. ({5}) Also, wir wünschen uns in Deutschland und in Europa eine Politik, die tatsächlich Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliche Stärke und Arbeitsplätze sichert. Das steht auch im Zusammenhang mit einer gestalterischen Klimapolitik. Ja, das Weltklima macht Menschen Angst. Aber der Klimawandel und die darauf antwortende Politik verursachen auch Verteilungskonflikte. Das ist die Spannbreite, in der wir uns bewegen: zwischen Greta und Schülerprotesten einerseits und den Protesten der Gelbwesten in Frankreich andererseits, hinter denen harte Verteilungskonflikte stehen. Das beantwortet man dadurch, dass wir Klimaschutz mit einer Politik verbinden, die Freiheit und Wohlstand sichert. ({6}) Sie, Frau Merkel – ich kann das gar nicht höflicher sagen –, haben hier mit der kurzen Szene, in der Sie beschrieben haben, wie in Jahresscheiben sektorübergreifend Klimaziele in Europa dargestellt werden, geradezu eine Karikatur der Planwirtschaft vorgetragen. ({7}) Sie haben dann im Anschluss begründet, warum man jetzt Industriepolitik machen müsste, zum Beispiel durch staatlich arrangierte Batteriekonglomerate. Frau Merkel, Sie bieten schlechte Lösungen für Probleme an, die Sie selbst geschaffen haben. ({8}) Was wir bräuchten, wäre Technologieoffenheit. Ja, selbstverständlich, Batteriefertigung in Europa muss gesichert werden, ebenso die Forschung. Aber ich würde erwarten, dass die deutsche Bundesregierung mit Blick auf unsere Schlüsselindustrie Automobilbranche in Brüssel vorstellig würde und erklären würde: Wir wollen die Klimaziele auch im Verkehrsbereich erreichen. Wir wollen auch die ambitionierten Flottenziele beim CO 2 -Ausstoß erreichen. Aber wir setzen uns für Technologieoffenheit ein. ({9}) Deshalb werden zukünftig auch synthetische Kraftstoffe und negative Emissionen auf die Flottenziele angerechnet. ({10}) Das wäre Marktwirtschaft, Technologieoffenheit, und es wäre im deutschen Standortinteresse. Nichts dergleichen hören wir. Übrigens: Wer den Menschen Flugreisen rationieren will, der wird nicht auf dauerhafte Zustimmung treffen. Dagegen werden sich die Menschen wehren. Die Antwort ist nicht, den Menschen die Fernreisen zu verbieten, sondern die Antwort wäre, dass Europa der weltweit führende Spitzenstandort für Flugmobilität auf Wasserstoffbasis wird; denn diese ist CO 2 -neutral und erlaubt es den Menschen, die Welt zu sehen. ({11}) Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Frau Merkel, an einer Stelle Ihrer Rede waren Sie besonders leidenschaftlich. Das war ausgerechnet die Stelle, an der Sie begründen, warum wir versuchen sollten, ohne Uploadfilter auszukommen, also die europäische Frage, die gegenwärtig die meisten Menschen gegen die Europäische Union auf die Palme bringt. ({12}) Ausgerechnet da zeigen Sie einmal Leidenschaft. Ich halte Ihre Leidenschaft an diesem Punkt für nicht glaubwürdig, Frau Merkel. Es war doch Deutschland, das in den vergangenen Jahren in der Energie- und Klimapolitik und insbesondere in der Migrationspolitik fortwährend Alleingänge gegen unsere europäischen Partner gemacht hat. Selbst Frau Kramp-Karrenbauer hat das inzwischen eingeräumt. Da ist das Hohelied auf Multilateralismus nicht angezeigt. ({13}) Man fragt sich – Herr Präsident, mein letzter Gedanke –, wenn wir schon in Europa angesichts der Ereignisse in der Welt und auf unserem Kontinent auf Sicht fahren: Wer sitzt am Steuer? Auf die Vorschläge von Emmanuel Macron antwortet nicht die Bundeskanzlerin, sondern die neue CDU-Vorsitzende. ({14}) Das mag ja in Ordnung sein. Aber ob jetzt das europäische Leitprojekt wirklich ein Flugzeugträger sein muss, während unser Segelschulschiff kein Wasser unter dem Kiel hat, halte ich für eine Frage, mit der man das europäische Einigungsprojekt schnell der Lächerlichkeit preisgibt. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Redner haben mit dem Brexit begonnen. Ich glaube, das ist angesichts der Dinge, die wir momentan erleben, auch notwendig. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur auf zwei Dinge hinweisen. Erstens. Egal was momentan in Großbritannien passiert, egal wie und ob wir uns ärgern: Die Briten bleiben unsere Freunde. Die Tür für Großbritannien, meine Damen und Herren, bleibt offen. ({0}) Die zweite Bemerkung ist: Eigentlich wollen wir uns ja jetzt dem Europawahlkampf widmen. Wir wollen darum ringen: Was sind die besten Konzepte für die nächsten fünf, für die nächsten zehn Jahre in Europa? Ein bisschen tragisch aber ist: Wir sprechen über den Brexit. Deswegen sollten wir vielleicht trotz aller Mühen, die wir momentan in Brüssel haben, den Akzent unserer Diskussionen in den nächsten Wochen verschieben. Wir sollten darum ringen, welche Definition wir von diesem Europa haben. Wer darum gerungen hat, ist unser Spitzenkandidat Manfred Weber. Er hat nämlich ein Bewerbungsvideo gemacht. Wer Bewerbungsvideos dieser Art kennt, der könnte sich vorstellen, dass er in seinem Video als Spitzenpolitiker zu sehen ist, der in Brüssel mit anderen wichtigen Menschen spricht. ({1}) Manfred Weber hat es genau anders gemacht. In dem Video, mit dem er sich um das das europäische Spitzenamt bewirbt, zeigt er sein niederbayerisches Heimatdorf. Er zeigt, wie er dort in den Laden geht. Er zeigt, wie er mit Freunden im Gasthaus sitzt. Er zeigt, wie er dort in die Kirche geht. ({2}) Ich glaube, das ist die Botschaft von diesem Europa: Wir haben ein Europa der verschiedenen Heimaten. Europa ist halt nicht nur Brüssel, sondern Europa ist Niederbayern, Europa ist Piemont, Europa ist Normandie, Europa ist Siebenbürgen, Europa ist Kreta. Europa sind die Regionen, mit denen wir stark werden. Wenn wir mit diesem Europa in den nächsten Wochen argumentieren, dann haben wir auch gute Chancen, erfolgreich zu sein, meine Damen und Herren. ({3}) Ich glaube, wir werden den Menschen klarmachen können, dass Europa diesen Heimaten nichts wegnimmt, sondern dass Europa etwas dazugibt, wenn wir es richtig machen. ({4}) Es ist in der vergangenen Zeit in diesem Europa sehr viel richtig gemacht worden. Wir gefallen uns gerne darin, immer anzuführen, was falsch gelaufen ist. Es ist aber viel richtig gemacht worden. Wir haben mit der Europäischen Union eine Plattform entwickelt, mit der wir gemeinsam Probleme lösen. Wir haben gemeinsame Märkte geschaffen. Wir haben auch gemeinsame Umweltstandards gesetzt. Wir haben Mechanismen entwickelt, die dann zum Einsatz kommen, wenn es in dem einen oder anderen Land nicht so gut läuft. Wir haben viele andere Dinge in diesem Europa zusammen auf den Weg gebracht. Ich möchte noch an eine andere Sache erinnern. Dieses Europa hat viele Krisen überstanden und ist daraus stets stärker hervorgegangen. Diese Europäische Union hat den Kalten Krieg nicht nur überstanden, sondern ist daraus stärker hervorgegangen. Diese Europäische Union hat die Balkanauseinandersetzungen nicht nur überstanden, sondern ist daraus stärker hervorgegangen. Die Balkanländer sind heute zum Teil Mitglied unserer Europäischen Union bzw. Kandidatenländer und werden keine Kriege mehr gegeneinander führen, meine Damen und Herren. Dieses Europa hat die Bankenkrise überstanden und ist daraus stärker hervorgegangen. Dieses Europa – die Bundeskanzlerin hat die Wirtschaftszahlen gerade genannt – ist aus der Staatsschuldenkrise stärker hervorgegangen. Wir haben die Arbeitslosenzahlen gesenkt. Wir haben auch die Staatsverschuldung gesenkt. Man mag sich nur anschauen, wie hoch die Verschuldung in Europa ist und wie hoch sie in den Vereinigten Staaten ist. Wir sind aus solchen Krisen immer stärker hervorgegangen. Wir haben das Leben der Menschen, meine Damen und Herren, besser gemacht. Wir leben hier seit 74 Jahren in Frieden. Das hat ganz viel mit der Europäischen Union zu tun. Es leben Völker in Freiheit, die vor 30 Jahren nicht darüber nachgedacht haben, je in Freiheit leben zu können. Es haben Menschen in Teilen von Europa Wohlstand erlangt, die noch vor 20 Jahren bitterarm waren. Meine Damen und Herren, es ist in diesem Europa so viel richtig gemacht worden. Darüber sollten wir einfach mal reden, auch in diesem Europawahlkampf. ({5}) Natürlich ist niemand so naiv und sagt: Es ist alles gut. – Um Gottes willen, nein, das ist es nicht. Wir können die Geschichten erzählen – diese sind Legion –, von der Gurke bis hin zu missglückten Verhandlungen zu Rettungspaketen. Das ist doch wahr, das ist doch richtig. Daraus können wir aber zwei Schlüsse ziehen. Der eine Schluss ist: Wir reißen dieses Europa mit all den Sachen, die ich gerade beschrieben habe, wieder ein, weil wir denken, dass es national besser geht. Der zweite Schluss – das ist unsere Antwort – ist: Nein, wir wollen dieses Europa besser machen. Wir wollen es weiterentwickeln. Ich möchte Ihnen einige Beispiele dafür geben, wie wir dieses Europa weiterentwickeln können. Nehmen wir den wirtschaftlichen Bereich. Der ist wichtig, weil durch Wirtschaft Einkommen, Arbeit und Wohlstand generiert werden. Wir müssen die Wirtschaftsplattform Europa weiterentwickeln. Die entsprechenden Begriffe sind alle gefallen; sie sind zutreffend. Wir brauchen eine Kapitalmarktunion, damit das Geld überall in Europa dahin kommen kann, wo es gebraucht wird. Wir brauchen eine Digitalmarktunion. Es ist ganz einfach so: Wir haben tausend Jahre lang unterschiedliche Entwicklungen im Güter- und Dienstleistungsmarkt gehabt. Wir versuchen mühsam, das im Rahmen der Europäischen Union zusammenzuführen. Jetzt haben wir eine neue Welt, die digitale Welt; wir können sie von Anfang an gemeinsam aufbauen. Das ist doch eine großartige Gestaltungschance für uns alle. Wir haben gerade über Energie geredet. Ja, wir brauchen eine Energiemarktunion. Stromerzeugung überwiegend aus erneuerbarer Energie ist unser Ziel. Aber dafür brauchen wir unsere Partner. Das geht europäisch viel besser als national. ({6}) Wir brauchen einen gemeinsamen Ausbildungsmarkt. Der gemeinsame Arbeitsmarkt funktioniert gut. Aber es ist doch nicht akzeptabel, dass junge Menschen in Spanien und Griechenland arbeitslos sind, während hier in Deutschland die Lehrstellen nicht besetzt werden können. ({7}) Meine Damen und Herren, wir brauchen auch gemeinsame, harmonisierte Steuersysteme. Lieber Olaf Scholz, ich würde mir wünschen, dass wir bei unseren Anstrengungen für eine gemeinsame Unternehmensteuerbemessungsgrundlage mit Frankreich etwas schneller vorankommen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Es wurde schon angesprochen – Herr Lindner, Sie haben recht; ich glaube, Sie haben es gesagt –: Freihandel, von dem unser Standort lebt, funktioniert nur europäisch. Wir haben ein Freihandelsabkommen abgeschlossen mit Japan, eines mit Singapur. ({8}) Hätten wir doch bloß auch eines mit den Vereinigten Staaten, das TTIP-Abkommen, abgeschlossen. ({9}) Aber Europa ist doch nicht nur eine Wirtschaftsplattform. Europa ist auch eine Innovationsplattform. Die Strategie in Bezug auf künstliche Intelligenz beruht darauf, dass wir sehr viel Geld in die Hand nehmen. Das werden wir nicht alleine schaffen. Das werden wir doch nur im europäischen Kontext schaffen. Wir brauchen gemeinsame europäische Universitäten, damit die Forschung gemeinsam organisiert wird und die Menschen entsprechend zusammenkommen. Wir brauchen gemeinsame europäische Gesundheitsinitiativen. Der Kampf gegen Krebs, gegen Infektionskrankheiten, gegen Demenz wird doch nur europäisch funktionieren, meine Damen und Herren. Europa ist darüber hinaus eine Problemlösungsplattform für Probleme, die wir nicht alleine lösen können. Sie sind alle angesprochen worden. Es glaubt doch keiner – ich komme aus Nordrhein-Westfalen –, dass die Kriminalität an der belgischen und niederländischen Grenze haltmacht. Wir brauchen eine wirkliche europäische Polizei. Wir brauchen eine gemeinsame Ausbildung der Polizeikräfte. Wir brauchen gemeinsame Datenverarbeitungssysteme. Es ist noch so unendlich viel zu tun, womit wir dieses Europa bessermachen können. Wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Zivilschutz. Wir müssen auch im Bereich der äußeren Sicherheit zusammenarbeiten; das ist doch ganz klar. Wir brauchen meines Erachtens einen gemeinsamen europäischen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um gemeinsam für unsere 450 Millionen Menschen mit einer starken Stimme zu sprechen. Wir brauchen einen europäischen Sicherheitsrat. Da kann man auch die Briten mitnehmen; das ist doch eine gute Gelegenheit, um die Bande zu Großbritannien weiter zu stärken. ({10}) Natürlich müssen wir unsere Armeen europäisieren und gemeinsame Rüstungsprojekte in Angriff nehmen, Frau Bundeskanzlerin. ({11}) Wenn wir gemeinsame Rüstungsprojekte in Angriff nehmen, was wir alle wollen – nicht nur, weil es billiger ist, sondern weil es uns auch zusammenbindet –, brauchen wir gemeinsame Rüstungsexportregeln, meine Damen und Herren. ({12}) Ich will jetzt nicht darüber reden – ich glaube, das ist uns allen klar –, dass wir auch im Bereich Migration zusammenkommen müssen und dass wir das nur gemeinsam hinkriegen. Wir als Deutsche können uns nicht vom Acker machen, wenn es darum geht, Außengrenzen zu schützen, und können das nicht andere für uns machen lassen. Wir brauchen einen gemeinsamen Asylraum. Wir brauchen gemeinsame Institutionen, die das Ganze voranbringen. Und es gibt noch viele andere Sachen, die wir nur gemeinsam europäisch regeln können. Dazu gehört natürlich auch der große Bereich des Klimaschutzes. Aber Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsplattform. Europa ist nicht nur eine Innovationsplattform. Europa ist nicht nur eine Problemlösungsplattform. Der große Gedanke von Europa ist vielmehr, dass es Menschen zusammenbringt und Menschen nicht trennt. Hier sitzen viele im Saal, die am Erasmus-Programm teilgenommen haben. Wir müssten in dem Bereich noch viel mehr machen. Wir müssten Erasmus auf die Berufsausbildung ausweiten. Wir müssten vielleicht sogar dafür sorgen, dass es für gewisse Studiengänge verpflichtend ist. Ich denke, das ist großartig. Wir müssen dafür sorgen, dass wir unsere Sprachen lernen. Eigentlich sollte es so sein, dass jeder europäische Schüler mindestens eine, am besten zwei europäische Fremdsprachen beherrscht. Und wir müssen, meine Damen und Herren, dafür sorgen, dass dieses Europa eine offene Gesellschaft bleibt – fest in ihren Werten, aber neugierig und offen für neue Entwicklungen. Das ist die Kultur von Europa in den letzten zweitausend Jahren gewesen. In dieser Hinsicht haben wir der Welt einige Botschaften zu übermitteln. ({13}) Meine Damen und Herren, wenn ich „wir“ sage, dann meint das nicht alleine die EVP, unsere europäische Parteienfamilie, dann meint das nicht nur die CDU, sondern dann meint das auch unsere Fraktion im Deutschen Bundestag. Denn: Wir haben eine Rolle in diesem Europa, definiert durch das Grundgesetz und durch die europäischen Verträge. Diese Rolle bedeutet, dass wir der Bundesregierung nach Artikel 23 Grundgesetz Leitplanken für die Verhandlung mit auf den Weg geben können, dass wir die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überprüfen können, dass wir haushaltsrechtlich überprüfen müssen, was passiert, dass wir Dinge, die europäisch beschlossen werden, in nationales Recht umsetzen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen diese Rolle annehmen – nicht, indem wir bremsen, sondern indem wir dieses Europa gestalten. Wenn Sie sich all das angehört haben, was ich eben gesagt habe, dann werden Sie die wesentlichen Elemente in der Sorbonne-Rede von Präsident Macron, in vielen Namensartikeln, nicht nur von Annegret Kramp-­Karrenbauer, sondern auch von Kolleginnen und Kollegen aller Parteien in der Mitte des Hauses, wiederfinden. Denn eines ist bei all den Unterschieden, über die wir uns streiten, richtig: Wir haben wesentlich mehr gemeinsam. Das ist doch das Große an Europa. Ich komme noch mal zurück auf das Video von Manfred Weber – Stichwort: das Europa der Regionen. ({14}) Es ist natürlich so, dass der Ostwestfale anders ist als der Sizilianer. Das sieht man irgendwie auch; und es ist auch gut so, dass das so ist, meine Damen und Herren. ({15}) Aber die Botschaft von Europa ist: Das, was wir gemeinsam haben, ist wesentlich mehr als das, was uns unterscheidet. ({16}) Mit dieser Botschaft gehen wir in die nächsten Wochen, und damit werden wir versuchen, die Menschen von diesem Europa zu begeistern. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Sahra Wagenknecht. ({0})

Dr. Sahra Wagenknecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004183, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa – das waren einmal die großen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, solidarisches Miteinander. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben vorhin auf das Wohlstandsversprechen verwiesen. Aber was ist davon geblieben? Seit gut 30 Jahren wird die Politik in Europa von einer Agenda bestimmt, die das exakte Gegenprogramm zu den einstigen Werten darstellt: Aus der Freiheit wurde die bloße Freiheit des Marktes und der großen Unternehmen, an die Stelle der Gleichheit trat die Rechtfertigung wachsender Ungleichheit, und das solidarische Miteinander wurde ersetzt durch die politische Legitimierung von Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Gier. Und da wundern Sie sich, dass sich die EU heute in dem Zustand befindet, in dem sie sich befindet? Dafür sind tatsächlich nicht die Salvinis, Orbans und auch nicht die britischen Brexiters verantwortlich. Die ernten nur, was die Politik der letzten Jahre und was ganz besonders die deutsche Regierung gesät hat. ({0}) Die EU ist nicht deshalb krank, weil immer mehr Menschen antieuropäische Parteien wählen, sondern die Antieuropäer werden gewählt, weil die EU krank ist, ({1}) weil sie von Regierungen gestaltet wurde und wird, die sich nicht mehr als Anwalt und Schutzmacht ihrer Wähler verstehen, sondern vor allem als Interessenvertreter großer Wirtschaftsunternehmen und Banken. Dass die Bundesregierung jetzt daran mitwirkt, aus zwei Zockerbanken, die den Steuerzahler in der Vergangenheit schon kräftig gemolken haben, eine noch größere Bank zu machen, die den Staat in der nächsten Krise noch besser erpressen kann, ist doch nur das jüngste Beispiel genau dieser absurden Politik. ({2}) Woran sind eine echte Finanztransaktionsteuer, die natürlich Derivate einschließen müsste, Regeln zur Offenlegung konzerninterner Gewinnverschiebungen oder auch die Digitalsteuer letztlich gescheitert? Es war nicht der Bodyguard der superreichen Steuerhinterzieher an der Spitze der EU-Kommission, und es waren auch nicht primär Malta und Irland, die das verhindert haben. Nein, es war die traurige Figur des deutschen Finanzministers, der mit voller Rückendeckung der Kanzlerin jeden Schritt hin zu mehr Steuergerechtigkeit in Europa blockiert hat. Das ist doch ein Armutszeugnis! ({3}) Dass Frankreich jetzt die Digitalsteuer im Alleingang einführt, zeigt übrigens auch, wie faul die Ausrede ist, man könne auf nationaler Ebene nichts gegen das Steuerdumping der Konzerne machen. Man kann sehr viel machen, auch ohne den Segen der EU. Man muss nur das Rückgrat haben, solche Schritte gegen einflussreiche Wirtschaftslobbys durchzusetzen. Das ist doch das Kernproblem. ({4}) Sehen Sie denn nicht, wie sich das Gesicht Europas in den letzten Jahren verändert hat? Die früher breite Mittelschicht, ohne die es keine stabile Demokratie geben kann, steht in allen EU-Ländern unter Druck. Fast ein Viertel aller EU-Bürger lebt heute in Armut, während die Zahl der Milliardäre sich seit der Finanzkrise mehr als verdoppelt hat. Also, wer das für eine gute Bilanz hält, der hat wirklich die falschen politischen Prioritäten. Ich finde das erschreckend. ({5}) Diese soziale Spaltung ist zunehmend auch eine räumliche: Immer mehr Menschen werden abgehängt, weil sie an Orten leben, für die sich in Brüssel und Berlin schlicht niemand interessiert. An Orten, in denen die öffentliche Infrastruktur verwahrlost ist, wo kein Zug mehr hält und oft genug nicht mal mehr ein Bus, wo es keine guten Schulen gibt und auch keinen Arzt und wo junge Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen wollen, eigentlich nur noch eine Chance haben, nämlich abzuwandern. Es waren vor allem solche Orte, an denen viele Menschen in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben. Und es waren solche Orte, aus denen in Frankreich die Hunderttausenden kamen, die in gelben Westen auf die Straße gegangen sind. Sie, Frau Merkel, und Ihre Koalition wollen uns weismachen, Sie seien proeuropäisch. Also, ich finde, es gibt kaum ein Feld, in dem Anspruch und Realität weiter auseinanderklaffen. Jeder weiß doch, dass das deutsche Modell, durch einen großen Niedriglohnsektor immer höhere Exportüberschüsse aufzutürmen, Europa spaltet und unsere Nachbarn gegen uns aufbringt. ({6}) Der deutsche Mindestlohn von kläglichen 9,19 Euro ist einer der niedrigsten in ganz Westeuropa. Magere Renten und Hartz IV drücken auf den privaten Konsum. Und nicht nur der Staat verweigert die nötigen Investitionen, auch die deutschen Unternehmen legen immer mehr Geld auf die hohe Kante. Ganze 4 Euro von 100 Euro Gewinn werden heute noch investiert. Dass die Union in einer solchen Situation schon wieder Unternehmensteuersenkungen ins Gespräch bringt, zeigt leider nur, dass Sie wirtschaftliche Zusammenhänge nicht verstehen. ({7}) Denn es liegt doch nicht am fehlenden Geld in den Unternehmenskassen, dass die Konjunktur gerade einbricht. ({8}) Es liegt an der hoffnungslosen Abhängigkeit vom Export, der in einer Zeit weltwirtschaftlicher Unsicherheit und neuer Handelskriege eben nicht mehr als Wachstumsmotor taugt. Es ist erfreulich, dass sich inzwischen bis in die deutsche Regierung herumgesprochen hat, dass der Markt nicht alles richtet. Frau Bundeskanzlerin – sie ist gerade nicht anwesend –, ({9}) Industriepolitik heißt doch nicht, das zahnlose europäische Kartellrecht noch weiter auszuhöhlen und die größten Unternehmen noch größer zu machen. Noch mehr Marktmacht bedeutet ganz sicher nicht mehr Innovation. ({10}) Bei der neuen CDU-Chefin ist es ja ohnehin nicht so sehr die digitale oder auch solare Zukunft, die sie umtreibt. Frau Kramp-Karrenbauer zieht es eher dahin, wo schon weiland Kaiser Wilhelm Deutschlands Platz an der Sonne vermutet hat: auf einen Flugzeugträger. Herr Lindner hat ja schon etwas dazu gesagt. Ich muss sagen: Wenn man bedenkt, dass der deutsche Staat heute kaum noch in der Lage ist, zivile Flughäfen zu bauen oder die Flugbereitschaft in Schuss zu halten, ({11}) dann hat man doch wirklich das Gefühl, Frau Kramp-­Karrenbauer habe sich einen ihrer berüchtigten Karnevalsscherze erlaubt. ({12}) Aber spätestens seit die Bundeskanzlerin sich dahintergestellt hat, war klar: Das war wirklich ernst gemeint: ein deutsch-französischer Flugzeugträger, ein Milliardengrab, das auf den Weltmeeren schippert, um künftige Interventionskriege vorzubereiten. Meint irgendjemand hier in diesem Hohen Haus, dass es das ist, worauf die Europäerinnen und Europäer gewartet haben? Also wir glauben das auf jeden Fall nicht. ({13}) Frau Merkel, Sie haben auch das europäische Sicherheitsversprechen erwähnt. Aber das Leben in Europa wird garantiert nicht dadurch sicherer, dass wir Trumps Wünsche nach neuer Hochrüstung pflichtschuldig erfüllen, und es wird schon gar nicht dadurch sicherer, dass wir die Rüstungsexportrichtlinien noch weiter aufweichen, wie Sie es gerade empfohlen haben; Herr Brinkhaus hat auch noch einmal dafür geworben. Im Jemen sterben Kinder. Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie wirklich den Saudis weiterhin die Mordwerkzeuge dafür liefern, und das noch unter dem Vorwand europäischer Kompromissbereitschaft? Ich finde, eine schlimmere Pervertierung des europäischen Gedankens kann man sich kaum vorstellen. ({14}) „Stirbt der Euro, dann stirbt Europa“, haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, einmal gesagt. Inzwischen erleben wir: Wenn die vielen immer weniger Euros haben und die wenigen immer mehr, wenn die großen Ideen der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, solidarisches Miteinander – nicht mehr die Politik bestimmen, dann stirbt Europa. Wir als Linke wollen nicht, dass Europa stirbt. Deswegen sind wir überzeugt: Wir brauchen eine andere Politik in Europa, und dafür brauchen wir allerdings wirklich eine andere Bundesregierung; denn dass Sie das nicht hinkriegen, merkt man sehr deutlich. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie werden auf dem jetzt anstehenden Gipfel wieder mit den Folgen des Chaos in der britischen Politik konfrontiert sein. Wenn man sich anschaut, wie die Europäische Union bisher mit den Folgen des Brexit-Chaos umgegangen ist, dann sieht man: Es war geprägt von Entschlossenheit und Solidarität. Das ist vielleicht das einzig Positive in dieser Tragödie. Selbstverständlich bleibt uns Großbritannien weiter und dauerhaft willkommen. Aber was wir nicht zulassen dürfen, was Sie nicht zulassen dürfen, ist, dass das Chaos der britischen Politik auf die Europäische Union und die Europawahl übergreift. Deshalb muss man ganz klar sagen: Fristverlängerung nur dann, wenn es eine Idee davon gibt, wofür die zusätzliche Zeit genutzt werden soll. ({0}) Und mit Entschlossenheit und Solidarität geht man auch am besten die großen Herausforderungen an, vor denen Deutschland und die Europäische Union stehen. Das ist ein konsequenter Klimaschutz, das ist beispielsweise der Erhalt unseres Wohlstands bei verstärktem Wettbewerb mit anderen Systemen wie zum Beispiel dem diktatorischen, aber erfolgreichen China, das ist die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit – all dies wird kein Nationalstaat alleine schaffen. Eine selbstbewusste und solidarische Europäische Union ist das beste Mittel, um diese politischen Ziele zu erreichen. ({1}) Das Problematische ist nur: Von Entschlossenheit und Solidarität kann in Ihrer Europapolitik leider keine Rede sein. Bei zentralen Projekten stehen Sie auf der Bremse. Nehmen wir die Steuer für Digitalkonzerne. Frau Nahles spricht davon, dass Herr Scholz da nicht im Wege stand. Herr Scholz hat mit dazu beigetragen, dass die Digitalsteuer so kleingehäckselt worden ist, dass man sie fast nicht mehr erkennen konnte. ({2}) Ich frage mich ehrlich gesagt schon, warum ein sozialdemokratischer Finanzminister auf der Seite von Apple, Google, Facebook steht. Wo sind denn Ihre Wurzeln? Kämpfen Sie doch dafür, dass diese Konzerne auch in Europa endlich Steuern zahlen! ({3}) Und wenn Herr Brinkhaus von dem Video von Herrn Weber schwärmt, dann kann man nur sagen: Die Uploadfilter schaden Urhebern, und damit verlieren Sie die junge Generation. Aber vielleicht hätten die Uploadfilter dazu beigetragen, uns mit diesem Video zu verschonen. Dann hätten sie wenigstens einen Zweck erfüllt. Wir hören, dass Frau Merkel davon schwärmt, dass es endlich eine Batteriefabrik in Deutschland und in Europa geben sollte, damit die Elektromobilität durchgesetzt werden kann. Wir hören das zwar, fragen uns aber: Frau Merkel, wissen Sie, dass Herr Scheuer Ihr Verkehrsminister ist? ({4}) Herr Scheuer ist eines der Haupthindernisse für die Umsetzung der emissionsfreien Mobilität in Deutschland und in Europa. ({5}) Sie müssen endlich für eine andere Verkehrspolitik sorgen. Sie müssen endlich dafür sorgen, dass die Infrastruktur in Deutschland ausgebaut und benutzbar wird. Dann würden wir anfangen, daran zu glauben, dass Ihren Worten auch Taten folgen. Besonders problematisch ist, wie Sie mit unserem wichtigsten Partner Frankreich umgehen. Von einem einzigen Beispiel, den Rüstungsexporten, abgesehen, hören wir seit vielen Jahren nur dröhnendes Schweigen aus dem Kanzleramt auf all die Appelle, die Macron an uns gerichtet hat. Ausgerechnet bei den Rüstungsexporten wollen Sie nun die europäische Fahne hochhalten und sprechen davon, dass am Ende die Wahrheit konkret ist. Die Wahrheit ist konkret: Wir haben europäische Rüstungsexportrichtlinien, und zwar seit 2008. Diese sind an klaren menschenrechtlichen Standards ausgerichtet. Deshalb sage ich Ihnen an diesem Beispiel: Wenn Sie hier wirklich Europa verteidigen wollen würden, dann würden Sie nicht gemeinsam mit Frankreich gegen Europa und gegen europäische Regelungen agieren, sondern würden versuchen, die europäischen Regelungen, die jetzt seit über zehn Jahren in Kraft sind, zur Geltung zu bringen. ({6}) Problematisch ist auch, dass man den Eindruck hat, dass die Zuständigkeit für diesen gesamten Bereich vom Kanzleramt ins Konrad-Adenauer-Haus gewandert ist; denn von dort kam nach vielen Jahren des Schweigens eine Antwort auf die Fragen des französischen Präsidenten. Dazu kann man nur sagen: Wenn die CDU-Vorsitzende geschwiegen hätte, dann wäre sie eine Europäerin geblieben. Die Antwort Ihrer Vorsitzenden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, provoziert nämlich mit Absurditäten wie der Straßburg-Debatte und der bereits erwähnten Idee eines gemeinsamen Flugzeugträgers mit Frankreich, der in keiner einzigen seriösen Verteidigungsdebatte wirklich eine Rolle spielt. Zu all dem könnte man noch sagen: Mein Gott, das ist eben ein bisschen lächerlich. – Doch Frau Kramp-­Karrenbauer legt damit die Axt an die Wurzel der Gemeinschaftsmethode. Und das ist hochproblematisch. ({7}) Sie hatten in Ihrem Koalitionsvertrag noch davon gesprochen, dass Sie „einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln“ wollen. Sie hatten davon gesprochen, dass Sie einen „Aufbruch für Europa“ organisieren wollen. Nach dieser Antwort der CDU-Vorsitzenden und dem lauten Schweigen der SPD bei den entscheidenden Punkten muss man leider sagen: Nach einem Jahr des Nichtstuns ist von dieser Koalition auch nichts mehr zu erwarten. Wir haben die große Sorge, dass diese Koalition europapolitisch fertig hat. Und das wäre mehr als bitter für die Europäische Union. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Martin Schulz, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die Tagesordnung dieses Rates genau betrachtet, wird feststellen, dass die Themen dieses Rates zeigen, dass das 21. Jahrhundert mit dem vergangenen Jahrhundert nicht mehr vergleichbar sein wird. Wir gehen in eine neue Ordnung der Welt. Und das ist kein G‑7-Prozess und kein G‑20-Prozess mehr. Es droht ein G‑2-Prozess. Die Entscheidungen werden im 21. Jahrhunderts in Peking und in Washington getroffen werden und nicht mehr in Budapest oder in Warschau, in Berlin oder in Paris. Es muss uns gelingen, die Europäische Union so zusammenzuschließen, dass ihre wertebasierte Wirtschaft und die damit verbundene Wirtschaftskraft gegenüber einem expansiven Staatskapitalismus Chinas einerseits und einem brutal egozentrischen Kurs der USA andererseits als Machtmittel eingesetzt werden, und zwar nach dem Motto: Wir werden auf Augenhöhe, aber als Wertegemeinschaft mit denen konkurrieren, weil wir uns zusammenschließen gegen diejenigen, die glauben, Europa mit dem Ignorieren des Klimawandels, mit der Negierung von Menschenrechten und der Negierung von ökologischen, ökonomischen und individuellen Grundrechten aushebeln zu können. – Dafür müssen wir uns in der Europäischen Union zusammenschließen. ({0}) In einer Zeit, in der Weltregionen miteinander konkurrieren – darum geht es nämlich – und in der der ökonomische Wettbewerb auch ein Konkurrenzkampf von politischen Systemen ist, gibt es natürlich Leute, die die Renationalisierung propagieren. Renationalisierung würde bedeuten, dass Länder wie Belgien, Luxemburg, Österreich oder die Tschechische Republik den Dispositionen, die in Washington oder Peking getroffen werden, ohne den Schutz der europäischen Stärke ausgeliefert wären. ({1}) Das bedeutet die Renationalisierung. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft, die mehrheitlich aus kleinen Staaten besteht, und ich habe den Eindruck, dass einige dieser Staaten noch nicht begriffen haben, dass sie kleine Staaten sein werden, wenn es keine europäische gemeinschaftliche Stärke gibt. ({2}) Die Renationalisierer verspielen die Chancen der nächsten Generation, mit anderen Regionen dieser Welt auf Augenhöhe und unter Wahrung unseres Demokratie- und Gesellschaftsmodells reden zu können. Deshalb ist dieser Renationalisierungskurs gefährlich. Er ist nicht für diejenigen gefährlich, die ihn propagieren, sondern für die nächste Generation. ({3}) Macron hat Vorschläge unterbreitet, meine Damen und Herren, und in einem Artikel, der in Zeitungen aller 28 Länder der Europäischen Union erschienen ist, eine gemeinsame Debatte vorgeschlagen. Das finde ich toll. Lassen Sie uns diese Debatte doch führen! Das gelingt aber nicht mit einem Artikel in einem deutschen Sonntagsblatt als Antwort, bei dem man den Eindruck hat, dass die wesentlichen Botschaften dieses Artikels das Gegenteil dessen sind, was große Christdemokraten im Rahmen der multilateralen Denke, die die CDU immer ausgezeichnet hat, und große Europäer wie zum Beispiel Helmut Kohl bisher vorgeschlagen und vorgetragen haben. ({4}) Ich finde, dass dieser Artikel auf keinen Fall eine Antwort sein kann. Es bedarf einer Antwort der Bundesregierung. Ja, wir haben einen Koalitionsvertrag. Dieser trägt die Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Das Kapitel, das wir dazu in diesen Koalitionsvertrag geschrieben haben, könnte die deutsche Gegenposition bzw. die deutsche Komplementärposition zu Macron sein. Das, worum es dabei geht, ist: Macron hat etwas erkannt, was auch wir erkennen müssen. Frankreich ist eine Atommacht. ({5}) Frankreich ist ein vetoberechtigtes Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Frankreich ist ein G‑7-Staat, und Frankreich hat einen Präsidenten, der angesichts dieser Ausgangslage – G‑7-Staat, atomar gerüstete Vetomacht des Sicherheitsrats – sagt: Unsere nationale Souveränität reicht nicht mehr; sie muss durch eine europäische Souveränität ergänzt werden. Macrons Botschaft an uns lautet im Wesentlichen: Wenn wir uns nicht zusammenschließen, wenn wir nicht als deutsch-französisches Duo die Europäische Union so anführen, dass sie im Wettbewerb der Weltregionen auf Augenhöhe mitspielen kann, werden wir zu Spielbällen der Machtinteressen anderer werden. ({6}) Deshalb sage ich: Machen wir doch einen Anfang! Diskutieren wir doch mit Macron! Man kann im Detail anderer Meinung sein als er, aber nichts zu sagen oder seine Vorschläge a priori und pauschal abzulehnen, ({7}) ist der völlig falsche Weg. Die Europäische Union – das ist völlig klar – wird sich auf die großen Fragen dieses 21. Jahrhunderts konzentrieren müssen. Dazu gehören der Klimawandel und die dramatischen Folgen des Klimawandels, die übrigens für uns Europäerinnen und Europäer und auch für die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika weniger dramatisch sind als zum Beispiel für die Menschen in Afrika oder in Lateinamerika. Und wenn wir diesen Klimawandel nicht endlich stoppen, wenn wir nicht umdrehen, ({8}) dann werden Sie erleben, dass in vielen Regionen dieser Erde zum Beispiel der Zugang zu Wasser immer mehr zum Überlebensproblem und zum Gegenstand von Konflikten und irgendwann auch zum Ausgangspunkt für kriegerische Auseinandersetzungen wird, dass dann an uns Europäerinnen und Europäer wieder die Frage gerichtet wird: Welche Position habt ihr dazu? Schickt ihr da Soldaten hin? Schickt ihr da Waffen hin? Das zeigt: Die Tagesordnung dieses Rates ist davon geprägt, dass in dieser Welt alles mit allem zusammenhängt. Viele Leute kapieren im Detail natürlich nicht, wie die Dinge zusammenhängen, aber sie spüren es im Bauch. Und die jungen Menschen, die nicht zur Schule gehen, weil sie demonstrieren, ({9}) spüren in ihrem Bauch, dass die Beantwortung dieser Fragen über ihr Schicksal und das ihrer Kinder entscheidet und darüber, ob sie noch eine lebenswerte Welt haben. Deshalb, finde ich, sollte man nicht darüber diskutieren, ob sie die Schule schwänzen dürfen oder nicht. Vielmehr müssten wir eigentlich gemeinsam mit ihnen auf die Straße gehen und sagen: Wir werden alles tun, damit über die Europäische Union und ihre Kraft das Pariser Klimaabkommen endlich durch- und umgesetzt wird. ({10}) Frau Merkel, ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf diesem Rat, weil ich glaube, dass dieser Rat eine Weichenstellung vornehmen muss, die von epochaler Bedeutung ist – vielleicht auch der Sonderrat, der noch kommen wird, kann sein. Sie haben eben angedeutet, dass das möglich ist. Aber eine Sache ist völlig klar: Wenn nach dem Brexit die 27 verbleibenden Staaten nicht den Mut aufbringen, zu sagen: „Wir wollen den Renationalisierern nicht die Straße und die Lufthoheit an den Stammtischen überlassen“, wenn wir nicht begreifen, dass im 21. Jahrhundert der Verzicht auf nationale Souveränität in Teilbereichen und ihre Übertragung auf Europa der Rückgewinn dieser nationalen Souveränität sein wird, wenn wir keine Veränderungen innerhalb der Europäischen Union hinbekommen, wenn wir diese Kraft nicht aufbringen, dann gehen wir in Europa schweren Zeiten entgegen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, ich wünsche Ihnen viel Mut, und ich wünsche Ihnen, ehrlich gesagt, auch massive Energie, damit wir endlich mal sagen können: Die deutsche Bundeskanzlerin ist an der Spitze dieser Bewegung. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der AfD, Dr. Alice Weidel. ({0})

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Unsicherheit gesprochen, die der Brexit bringen wird. Nicht, dass wir dabei viel Neues erfahren hätten: Es war nämlich Ihre erprobte Mischung aus Phrasen und Baldrian. Eines ist klar: Dieser Brexit wird teuer – teuer für die EU und deshalb per Definition teuer für die deutschen Steuerzahler: teuer wie die Bankenrettung, die Griechenland-Rettung, die Energiewende, die Grenzöffnung, die Zerstörung der deutschen Automobilindustrie, der Schlüsselindustrien und die gigantische Inflationierung unserer Gemeinschaftswährung. Zukunftsweisende Politik sieht anders aus, sehr geehrte Damen und Herren. ({0}) Nun also der Brexit und Ihr Anteil daran; denn den hatten Sie, im besten Fall aus Fahrlässigkeit. Aber es war eher unterlassene Hilfeleistung. Die historisch guten Beziehungen zum Vereinigten Königreich werden auf diese Weise gefährdet. Was hatte David Cameron denn so Fürchterliches verlangt? Keine Sozialhilfe sofort und für alle, stärkere nationale Parlamente, weniger EU-Bürokratie. Doch in Brüssel hat er damit auf Granit gebissen. Dabei wäre eine schlankere Gemeinschaft, die sich auf ihre Kernaufgabe besinnt, einen gemeinsamen Markt zu schaffen und zu erhalten, eine große Chance gewesen. Aber nein, das ging auf keinen Fall. Da setzten Sie lieber den Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten aufs Spiel. Jetzt kriegen wir die Rechnung: 15 Milliarden Euro an britischen Beiträgen werden künftig im Budget fehlen. Zwar weiß jede Familie, dass man den Gürtel enger schnallt, wenn die Einnahmen schrumpfen, aber nicht die EU. Muss sie auch nicht, solange der deutsche Steuerzahler der Zahlmeister ist. Größer als das Loch im EU-Etat sind die Kosten für die deutsche Wirtschaft. Das Vereinigte Königreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, so groß wie die 19 kleinsten zusammen. Ökonomisch gesehen schrumpft die EU also nicht auf 27, sondern auf 9 Staaten zusammen. Die Sorglosigkeit, ja Gleichgültigkeit, die Brüssel und Berlin angesichts dieser Größenordnung an den Tag legen, grenzt an pathologische Realitätsverweigerung, sehr geehrte Damen und Herren. ({1}) Für Deutschland ist das Vereinigte Königreich der größte Handelspartner in der EU. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind so eng wie mit keinem zweiten Land. Es liegt eindeutig im deutschen Interesse, Handel und Investitionen weiter ungehindert zu tätigen. Hier stehen deutscher Wohlstand, deutsche Arbeitsplätze auf dem Spiel. Sie aber stellen sich in Nibelungentreue hinter Frankreich, das den Briten sogar den Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt verweigern will. Sie erwägen ja sogar die Möglichkeit, den Briten keinen Zugang zum europäischen Wirtschaftsraum einzuräumen, weil Paris das ablehnt. Das wäre ja auch alles viel zu viel: viel zu viel Freihandel, zu viel frische Luft auf den Märkten, zu viel Wettbewerb und zu viel Konkurrenz um die besten Wirtschaftsstandorte. Von Eigenständigkeit ist nichts zu sehen in dem von Ihnen unterzeichneten Aachener Vertrag, der als Krönung des Élysée-Vertrages gepriesen wird. Welch ein Dünkel! Der Aachener Vertrag trägt eine französische Handschrift, von vorne bis hinten. Dieses Europa, für das das zentralistisch organisierte Frankreich mit einer gescheiterten Industrie- und Wirtschaftspolitik als Blaupause dient, kommt schneller, als man denkt. ({2}) Spätestens dann, wenn im Europäischen Rat das nächste Mal abgestimmt wird, sehen wir nämlich ganz genau: Die teuerste Konsequenz des Brexits ist, dass Deutschland keine Sperrminorität mehr im Rat zustande bringt. In der aktuellen EU der 28 vertritt Deutschland 16 Prozent der Bevölkerung, Großbritannien 13 Prozent. Macht zusammen fast 30 Prozent. Mit einigen kleineren Ländern – Dänemark, Niederlande, Österreich – war die Sperrminorität von 35 Prozent immer gesichert. Damit konnte man sich gegen den Griff in die Gemeinschaftskasse krisengeschüttelter „Club Med“-Staaten sowie Frankreichs wehren. Das ist durch den Austritt Großbritanniens nun bald Geschichte. Und es wird deutlich: Ohne Reformen kann es in der Europäischen Union doch gar nicht weitergehen. Wo ist Ihre Strategie? Sie haben überhaupt gar keine. Fangen wir bei Artikel 50, der den Austritt regelt, an. Er ist vollkommen schwammig formuliert. Konkret ist nur der Hinweis darauf, wie mit Abtrünnigen, mit Verrätern umzugehen sei: nach Artikel 218, also wie bei jedem x-beliebigen Drittstaat. Kann man eigentlich für einen Partner, mit dem man 40 Jahre in guten wie in schlechten Zeiten zusammengelebt hat, nicht einen anderen Modus finden als für Paraguay oder Papua-Neuguinea, sehr geehrte Damen und Herren? ({3}) Das ist ja wohl der blanke Hohn. Verwundert es da noch, wenn die Briten hinter jedem Manöver aus Brüssel bösen Willen vermuten? Brexit-Unterhändler Barnier soll seinerzeit Freunden anvertraut haben – ich zitiere –: Meine Mission wird ein Erfolg sein, wenn … die Bedingungen … für die Briten so brutal sind, dass sie es vorziehen …, in der Europäischen Union zu verbleiben. ({4}) Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, sehr geehrte Damen und Herren. ({5}) Von Selbstkritik ist auf dem Kontinent nichts zu hören, nicht in Brüssel, nicht in Berlin, schon gar nicht in Paris. Der Brexit hat die Brüsseler Abgehobenheit deutlich gemacht. Er zeigt auch, wo Europas wahre Gegner sitzen: unter anderem hier auf der Regierungsbank, sehr geehrte Damen und Herren. Europa ist zu wichtig, um es ihnen zu überlassen. Wegsehen gilt nicht, weglaufen auch nicht. Die EU muss von innen reformiert werden. Dazu gehört ein Vetorecht der Nationalstaaten gegen Brüsseler Vorgaben genauso wie eine Reform des Austritts-Artikels 50 zur Erhaltung des Binnenmarktes, auch für austretende Länder, und die Sicherung der EU-Außengrenzen, die wir seit Jahren fordern. Und zu Europa gehören unsere britischen Freunde, sehr geehrte Damen und Herren. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Brexit ist in der Tat ein Warnschuss, aber nicht nur für die Nationalstaaten, sondern auch für die Europäische Union selbst. Die Briten verlassen die EU doch nicht wegen zu wenig Institutionen, zu wenig Umverteilung, zu wenig Regulierung oder zu wenig Kompetenzen. Nein, sie verlassen die EU, weil sie das Gefühl haben, dass Brüssel ihnen mehr nimmt, als es ihnen gibt. Dieses Gefühl ist aber falsch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich stehe dabei auf der Seite der jungen Generation in Großbritannien, die bei den demokratischen Wahlen anders entschieden hat als die Mehrheit. Es war gerade die junge Generation, die für einen Verbleib und eine Zukunft in der Europäischen Union gestimmt hat. Unsere Aufgabe ist es, genau an diese junge Generation die Botschaft zu schicken: Wir wollen euch weiter haben. Wir wollen engste Zusammenarbeit. Wir wollen die Zukunft mit euch gemeinsam gestalten. ({1}) Viele Stellungnahmen in den letzten Tagen und Wochen machen einen schon etwas betrübt, man hört teilweise Freude am Chaos in Großbritannien. Der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europaparlament hat den Brexit und seine Folgen für Großbritannien sogar als Glück für die EU bezeichnet, weil er andere Länder vom Austritt abhalte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Art der Häme ist kein europäischer Gedanke, weil dies nicht den Zusammenhalt fördert. Wir müssen den Zusammenhalt und die Vorteile eines Verbleibs in der Europäischen Union in den Vordergrund stellen und nicht die Nachteile des Austritts aus der Europäischen Union. Die Lust an Europa muss doch größer sein als die Angst vor einem Austritt aus der EU, meine Damen und Herren. ({2}) Klar ist auch: Wenn wir ein Austrittsabkommen mit den Briten bekommen sollten, dann endet nicht unsere Arbeit, sondern dann beginnt erst unsere Arbeit. Diese Arbeit hängt maßgeblich damit zusammen, dass wir für die Zukunft ein Modell finden müssen, das Großbritannien möglichst nah an die Europäische Union bindet. Eine „Partnerschaft Doppelplus“ haben wir das genannt. Wir wollen eine engste Partnerschaft deswegen, weil natürlich der Umgang mit dem Brexit über das Schicksal Europas entscheidet. Der Umgang mit dem Brexit, genauso wie der Ausgang der Europawahl im Jahr 2019 entscheiden über das Schicksal Europas. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss aufpassen, dass man nicht denjenigen auf den Leim geht, die sich vermeintlich als die guten Europäer bezeichnen, aber ganz offensichtlich nur ein Interesse daran haben, Europa zu spalten. Herr Gauland, wenn Sie sich als guten Europäer bezeichnen, dann erinnere ich nur an die Entscheidungen auf Ihrem Parteitag. Sie wollen das Europäische Parlament auflösen. Sie fordern den deutschen Brexit. Sie wollen den Euro abschaffen. Meine Damen und Herren, wer den Brexit in Deutschland will, wer das Europaparlament und den Euro abschaffen will, der ist kein guter Europäer; der ist nicht einmal ein guter Patriot. ({3}) Wenn wir über nationale Souveränität reden – selbstverständlich muss man in einem gemeinsamen Europa weiterhin über seine nationale Souveränität reden –, dann muss man aber auch akzeptieren, dass man vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen in der Welt – wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Art –, die an Schärfe ständig weiter zunehmen, die nationale Souveränität Deutschlands nur dann erhalten kann, wenn wir in einem gemeinsamen Interesse in Europa eng zusammenarbeiten und nicht gegeneinander arbeiten, meine Damen und Herren. ({4}) Es geht auch gar nicht so sehr um die Frage, die der eine oder andere aufwirft: Wollen wir ein Europa, ja oder nein? – Diese Frage haben wir schon lange für uns entschieden. Wir wollen natürlich eine Europäische Union, ja. Die Frage ist aber, wie wir die Europäische Union gestalten und wie wir sie fitmachen für die aktuellen Herausforderungen, die, anders als in der Vergangenheit, gar nicht so sehr von innen heraus als Auftrag an sie herangetragen werden, sondern die heute wesentlich mehr von außen kommen: durch die Handelskonflikte, durch den verschärften Wettbewerb, durch den Migrationsdruck. Dies hängt weniger von der Frage ab, wie wir jetzt innerhalb der EU Frieden und Wohlstand schaffen können, sondern wesentlich mehr von der Frage: Wie können wir Frieden und Wohlstand für die Zukunft verteidigen? – Das heißt, wir stehen international vor einem Druck wie niemals zuvor, und zwar ökonomisch, geopolitisch und auch kulturell. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns mit Reformvorschlägen auseinandersetzen, auch gerade mit den Reformvorschlägen von unserem engsten Verbündeten Frankreich. Frankreich ist unser natürlicher Verbündeter innerhalb der Europäischen Union. Aber nicht automatisch jeder Vorschlag des französischen Präsidenten ist im Sinne des gemeinsamen Bündnisses, sondern wir müssen schon auch selbst noch in der Lage sein, zu unterscheiden: Was an Vorschlägen, auch aus Frankreich, ist für die Zukunft in Europa zielführend, und was könnte vielleicht anderen Zielen dienen? Deswegen: Ein gemeinsames Budget innerhalb der Euro-Zone, wie es vonseiten der Franzosen vorgeschlagen worden ist – ja, das wollen wir. Das vereinbaren wir gemeinsam. Es liegt in unserem strategischen Interesse, gerade Investitionen für Zukunftstechnologien auch gemeinsam zu organisieren. Wenn es aber darum geht, dass wir gerade im Bereich der Sozialversicherungen und der Arbeitslosenversicherungen zu einer Vergemeinschaftung kommen sollen und zukünftig Beiträge der deutschen Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit in anderen europäischen Staaten beitragen sollen, dann ist das ein falscher Weg. Der ist nicht europäisch, und wir unterstützen ihn deswegen nicht. ({5}) Diese enge Partnerschaft kann dazu dienen, dass wir den wirtschaftspolitischen Reformbedarf Europas gemeinsam vorantreiben. Dazu gehört aber auch, zu erkennen – das zeigt die Analyse –, dass wir gerade bei den uns alle sehr stark elektrisierenden Technologien, der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, in der Vergangenheit in Europa offensichtlich nicht so erfolgreich waren. Vieles haben wir vielleicht auch versäumt. Die größten Unternehmen in diesem Bereich sind nicht in Europa angesiedelt. Wenn man das ändern will, dann muss man auch bereit sein, über die Fragen des Wettbewerbsrechts in Europa zu reden, weil die Unternehmen heute weniger innerhalb Europas in Konkurrenz stehen, sondern eher mit den Märkten außerhalb Europas, den amerikanischen und den chinesischen Märkten. Deswegen ist es geradezu ein falsches Signal, wenn die Wettbewerbsfähigmachung von Unternehmen in Europa, der Zusammenschluss von Unternehmen in Europa und der Versuch, die Augenhöhe mit internationalen Konzernen aus Amerika und den asiatischen Märkten zu erreichen, mit Blick auf ein altes Wettbewerbsrecht immer wieder verhindert werden. Einzelne Unternehmen – egal ob das Siemens oder Alstom im Bereich der Zugverkehre ist – sind alleine nicht mehr wettbewerbsfähig in der Welt, sondern müssen zusammenarbeiten, wenn sie erfolgreich sein wollen und Arbeitsplätze in Europa sichern sollen. Aber wer das verbietet, der hat noch nicht erkannt, wie die neue Aufstellung in der Welt und die Wettbewerbssituation sind. ({6}) Ein Hinweis: Europa ist eine Wertegemeinschaft. Dennoch argumentieren immer sehr viele der Befürworter der EU mit rationalen Argumenten: mit dem freien Warenverkehr, dem gemeinsamen Wirtschaftsraum und vielen anderen Dingen mehr. Die Gegner, auch die Brexiteers in Großbritannien, argumentieren emotional mit falsch verstandenem Patriotismus und erzählen von Ängsten und vielem mehr. Ich glaube, wir dürfen die emotionale Seite Europas schlichtweg nicht den Radikalen überlassen. Wir haben allen Grund, stolz auf dieses Europa zu sein. Wir haben einen Kontinent des Krieges zu einem Kontinent des Friedens und der Freiheit entwickelt, auf Basis gemeinsamer christlich-abendländischer Werte. Es ist der Auftrag für die Zukunft, diese Wertegemeinschaft nicht als Zweckbündnis zu verstehen, sondern als gemeinsamen Kulturraum, der sich weiterentwickeln will. Diejenigen, die das so verstehen, sind überzeugte Europäer, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alexander Graf Lambsdorff, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Was für schwere Zeiten für Europa, was für schwere Zeiten für die Europapolitik. Es ist wirklich bedauerlich, dass in dieser Zeit die Bundesregierung als Motor Europas ausfällt: Sie ist still bei Macron, sie ist zu spät bei der Migration, und sie stört den Multilateralismus. Auf Macron antwortet nicht etwa, wie sich das gehören würde, die Frau Bundeskanzlerin, sondern Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union, aber mit einem Text, meine Damen und Herren, der nicht in der Tradition der CDU steht. Da wird Abwegiges präsentiert, beispielsweise ein Flugzeugträger und altbackene Aufgüsse der Brügge-Rede der Bundeskanzlerin aus dem Jahr 2010. Es wird gegenüber Paris mit der Frage des Sicherheitsratssitzes in den Vereinten Nationen provoziert. Das Erste, was man sich in diesem Dialog einfängt, den Macron anbietet, ist eine klare Absage von Nathalie ­Loiseau zu entscheidenden Punkten, die Frau Kramp-Karrenbauer aufgeschrieben hat. Meine Damen und Herren, Sie sind zu still und lassen die falschen Leute reden. Das ist nicht gut. ({0}) Sie sind zu spät bei der Migration. Wir haben es gerade von der Bundeskanzlerin gehört. Wir brauchen einen Verteilungsschlüssel in Europa, hat sie gesagt. Meine Damen und Herren, wer war es denn, der über Jahre eine Reform des Dublin-Systems angemahnt hat? Es waren die Italiener, es waren die Griechen, es waren fairerweise die Grünen, und es waren wir Liberale. Wir wussten, wenn es einmal zu einer großen Krise kommt, dann wird Dublin nicht halten. Wer hat es verhindert? Wer hat 2013, als bei Lampedusa Hunderte Menschen ertrunken sind, gesagt, das sei ein italienisches Problem? Es war der Innenminister der Union, Hans-Peter Friedrich. CDU/CSU, aber auch Otto Schily haben es immer verhindert, dass wir bei Dublin die Reformschritte gehen konnten, die in der Vergangenheit zwingend notwendig gewesen wären. Im Frühjahr 2015 war Thomas de Maizière immer noch gegen einen Verteilungsschlüssel, und – oh Wunder, oh Wunder – im Herbst 2015 hat derselbe Thomas de Maizière alle zu schlechten Europäern erklärt, die im Rat in Luxemburg dem Verteilungsschlüssel nicht zugestimmt haben. Das ist keine vorausschauende Europapolitik. Das ist schlechte Europapolitik, mit der wir unseren Kontinent spalten, meine Damen und Herren. ({1}) Und dann stören Sie den Multilateralismus, den Sie zu Recht im Munde führen. Die Begeisterung in München kannte keine Grenzen, Frau Merkel. Für die Flüchtlingspolitik habe ich das gerade dargelegt, aber in der Sicherheitspolitik ist es auch so. Es gibt einen Streit; ja. Die SPD bestreitet, dass das 2‑Prozent-Ziel für die NATO verbindlich sei. Aber was Sie bisher nicht bestritten haben, ist, dass Wales ganz klar eine Verpflichtung beinhaltet, sich Richtung 2 Prozent zu bewegen. Der aktuelle Bundeshaushalt bewegt sich jedoch vom 2‑Prozent-Ziel weg. Ich zitiere einmal eine amerikanische Stimme: Deutschlands Weigerung, seinen Verpflichtungen nachzukommen, gefährdet nicht nur die eigene, also die deutsche Beziehung zu den USA, sondern die Europas insgesamt. – Das, meine Damen und Herren, sagt nicht Donald Trump, auch nicht sein Botschafter, sondern das sagt die „New York Times“. Das sind die Demokraten in den USA, die wir als Freunde betrachten. Die sehen das genauso. Unsere Politik der Austrocknung der NATO, der Nichterfüllung unserer Verpflichtungen gefährdet den Multilateralismus. ({2}) Meine Damen und Herren, die Regierung ist zu still. Sie kommt zu spät. Sie stört den Multilateralismus. Ich habe nur eine Hoffnung im Hinblick auf diesen Rat: Wenn Theresa May in diesen schweren Zeiten für Europa um eine Verlängerung bittet, dann geben Sie ihr die Verlängerung nur dann, wenn sie klar sagt, wohin das Vereinigte Königreich will. Einen Blankoscheck auszustellen, die Europäische Union noch über Jahre zu belasten mit einer offenen, ungelösten Frage, die im House of Commons nicht gelöst werden kann, wäre der falsche Weg für unseren Kontinent. Seien Sie an der Stelle bitte konsequent. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch nach dieser Debatte und nach dieser Regierungserklärung ist wieder einmal klar: Aufbruch für Europa ist und bleibt die Fata Morgana dieser Bundesregierung. ({0}) Frau Merkel, Herr Scholz, man kann Europa auch durch Nichtstun kaputtmachen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel. Sie werden auf dem Gipfel auch über den nächsten EU-Haushalt reden. Hier gibt es eine Frage: Wie viel Geld aus diesem Haushalt soll dem Klimaschutz dienen? Frankreich fordert 40 Prozent, die Bundesregierung sagt: 25 Prozent. Das ist das Ausbremsen des Klimaschutzes durch diese Bundesregierung. Das bringt Europa nicht voran, sondern gefährdet die nächsten Generationen. ({1}) Bei dieser Verweigerung wundere ich mich, dass die Schülerinnen und Schüler nur einen Tag streiken und nicht die ganze Woche. ({2}) Jetzt geht es um Orban, Europa und Demokratie. Die EVP hat die Suspendierung von Fidesz beschlossen. Das ist ein politischer Trick. Aber das eigentlich Krasse sind die drei Kriterien: Du sollst dich bei deinen Parteifreunden entschuldigen. Du sollst aufhören, Herrn Juncker auf Plakaten böse zu machen. Du sollst eine bayerische Rettung deiner Uni zulassen. – Hören Sie sich einmal in Ungarn um: Was wollen die Menschenrechtsaktivisten? Sie wollen Pressefreiheit, Pressefreiheit, Pressefreiheit. Sie wollen Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit. Und sie wollen eine freie Zivilgesellschaft. Das müssten die Kriterien Ihrer Partei sein, wenn Sie es mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernst meinen ({3}) und es Ihnen nicht nur um die Macht und Herrn Weber als nächsten Kommissionspräsidenten geht. Von seinem schönen Filmchen haben wir heute schon gehört. ({4}) Für Europa ist auch auf die Konservativen in Großbritannien kein Verlass. Ich finde es mittlerweile einfach tragisch, dass die Regierungschefin May immer noch nicht bereit ist, ihr Land über ihre Partei zu stellen. ({5}) Ich kann es überhaupt nicht nachvollziehen, dass eine konservative Regierungschefin bis zur letzten Sekunde sagt: Meine Partei ist aber wichtiger als dieses Land, als Europa, als alles, was wir zusammen aufgebaut haben. ({6}) Das ist verantwortungslos. Das dürfen Sie ihr nicht durchgehen lassen. ({7}) Der Brexit darf nicht dazu führen, dass wir selber keine Zukunftsdebatten führen. Wir müssen in Europa handlungsfähiger werden. Wir wissen alle, ein Weg dahin ist die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip bei der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch bei Steuerfragen. Herr Scholz könnte dann vielleicht noch schneller vorankommen. Deswegen beantragen wir heute: Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip hin zu qualifizierter Mehrheit bei der Außen- und Sicherheitspolitik sowie bei Steuerfragen. Alle haben sich dazu bis jetzt positiv geäußert. Deswegen sind wir sicher, dass wir gleich eine große Mehrheit in diesem Haus erfahren werden. Wir wollen Europa handlungsfähig machen. Das haben Sie immer gesagt. Jetzt können Sie auch beweisen, dass Sie dafür sind. Ich danke Ihnen. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Paul Ziemiak für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alex Dobrindt hat gerade genau richtig gesagt: Es geht in Europa in Zukunft nicht nur um die Frage des Ob, sondern auch um die des Wie. Die übergroße Mehrheit in diesem Haus sagt Ja zu Europa. Wir sollten daher diskutieren, wie wir in Zukunft dieses Europa gestalten. Wie wir es nicht gestalten wollen, sehen wir am Beispiel Großbritanniens und am Chaos, das dort durch Menschen, die vor dem letzten Referendum falsche Versprechen machten, hinterlassen wurde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann bei allen Fraktionen die Aufregung über die Vorschläge von Annegret Kramp-Karrenbauer verstehen. Es ist für jeden Generalsekretär einer anderen Partei ärgerlich, dass die Union schon wieder die erste Partei ist, die mit inhaltlichen Vorschlägen für die Zukunft der Europäischen Union kommt. ({0}) – Ja, das ist doch so. Es ist doch selbstverständlich. Was haben Sie denn gemacht? Was war denn die Debatte der letzten Tage nach diesen Vorschlägen? Das geht nicht, das passt uns nicht, das könnte noch besser sein. Aber von Ihnen – von der SPD, von den Linken, von den Grünen, auch von der FDP; von der AfD brauche ich gar nicht zu sprechen – habe ich keinen einzigen Vorschlag gehört. ({1}) Meine Damen und Herren, wir erleben die ganze Zeit eine Debatte, in der gesagt wird: Frau Bundeskanzlerin, machen Sie dieses oder jenes. Ich gebe Ihnen recht, dass Europa auch nach Berlin, nach Deutschland schaut, weil wir ein Hort von Stabilität in der Europäischen Union sind. Das hat mit der Arbeit dieser und auch der letzten Bundesregierung zu tun, und vor allem ist es das Verdienst – das will ich ganz deutlich sagen – von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in manchen Stunden diese Europäische Union mit kluger, weiser und weitsichtiger Politik zusammengehalten hat. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage zu den Vorschlägen von Annegret Kramp-Karrenbauer: Lassen Sie uns, wenn wir über Klimaschutz sprechen, darüber nachdenken, einen europäischen Klimapakt zu machen und nicht ideologische Politik. Ich habe übrigens einmal geguckt, was Sie von der AfD für Vorschläge haben. Im Grundsatzprogramm der AfD steht auf Seite 156: Kohlendioxid (CO 2 ) ist kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens … Je mehr es davon … gibt, umso kräftiger fällt das Pflanzenwachstum aus. So viel zu Ihrer Einstellung zum Thema Klimaschutz und CO 2 . Ich bin kein Freund von Schulschwänzen und Demons­trationen. Trotzdem hätte es Ihnen vor dem Schreiben des Grundsatzprogramms nicht geschadet, dort mitzugehen und ein bisschen frische Luft zu schnappen. Bevor Sie so einen Quatsch in Ihr Grundsatzprogramm schreiben, müssen Sie die Dinge auch mal im größeren Zusammenhang sehen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Ziemiak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich muss fortfahren, damit auch die Abgeordneten der Linken die Möglichkeit haben, das alles in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. ({0}) Sonst werden sie von den einzelnen Zwischenfragen abgelenkt, die uns bei der Europapolitik aus dem Konzept bringen. Es ist so! Jetzt kommen wir zum zweiten Punkt, zum Freihandel. Wir haben eine klare Position zum Thema Freihandel. Herr Hofreiter, Sie bedauern jetzt die Politik von Donald Trump. Sie sind, als wir mit Barack Obama ein Freihandelsabkommen schließen wollten, bei den Demonstrationen gegen TTIP mitgelaufen. ({1}) Und jetzt bedauern Sie das, was Sie selbst mit Ihrer Politik, mit dem Schüren von Vorurteilen und der Drohung, dass Chlorhühnchen nach Deutschland einwandern und alles bevölkern, verhindert haben. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns auch über Sicherheitspolitik sprechen. Wir sagen: Ja, wir brauchen einen europäischen Sicherheitsrat, mehr gemeinsame Sicherheitspolitik, ({3}) Schutz der EU-Außengrenzen und natürlich auch gemeinsame Rüstungsexporte. Die SPD begeht einen schweren Fehler, indem sie das Sicherheitsbedürfnis der Menschen in Europa gegen die Frage der sozialen Sicherheit ausspielt. ({4}) Das ist nicht redlich, das wird nicht helfen; denn die Menschen wollen beides: Sicherheit im Sozialen, aber auch Sicherheit in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Terror und organisierter Kriminalität in Europa. ({5}) – Ja, das wissen Sie. Ich habe den wunden Punkt getroffen. Danke für die Bestätigung! ({6}) Jetzt komme ich natürlich auch noch zu Christian Lindner. Christian Lindner sagt: Die Konjunktur trübt sich ein, wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken, die Wirtschaft – ich glaube, so haben Sie es gesagt – wetterfest machen. – Sie haben jetzt ganz tolle Forderungen nach – unterm Strich – mehr sozialer Marktwirtschaft aufgestellt. Das unterstütze ich. Aber Sie treten mit Ihrer Partei mit den Vorschlägen von Macron bei der Wahl zum Europäischen Parlament an, Sie machen mit ihm gemeinsame Sache. ({7}) Sie wollen einen einheitlichen europäischen Mindestlohn, ({8}) die Aufweichung des europäischen Wettbewerbsrechts, ({9}) eine einheitliche europäische Grundsicherung, ({10}) ein milliardenschweres, von einigen Ländern nicht zu finanzierendes Euro-Zonenbudget ({11}) und die Aufweichung der Maastricht-Kriterien, um die Gelbwesten in Schach zu halten. Lieber Christian Lindner, wenn Sie das wollen, was Sie heute hier gesagt haben – das können Sie machen –, dann müssen Sie bei der Europawahl nicht FDP wählen, sondern die Union; denn sie steht für Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Werte sind hier angesprochen worden. Werte sind das, was uns in der Europäischen Union zusammenhält, auch mit Blick auf den Populismus und die Leute, die nicht für Europa sind. Ich hätte mir aber gewünscht, dass Katarina Barley – leider ist sie nicht mehr da – als Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl die Debatte über den nächsten Europäischen Rat verfolgt. ({13}) – Sie ist ja beim Europäischen Rat, und sie ist nicht die Spitzenkandidatin.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Ziemiak, Sie müssen langsam zum Schluss kommen.

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Frau Barley wieder auf einer Demo gegen die Bundesregierung, oder was? ({0}) Ich sage Ihnen eines: Ich hätte mir gewünscht, dass die Spitzenkandidatin der SPD etwas zu den Vorkommnissen in Rumänien sagt, ({1}) zu der Regierung dort, zur Korruption, zur Aufweichung des Rechtsstaats.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sagen, Herr Ziemiak. Sie haben schon eine Minute überzogen.

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Präsident. – Ich hätte mir gewünscht, dass sich die SPD mal von den Leuten distanziert, mit denen sie gemeinsam Europawahlkampf macht und im Europäischen Parlament zusammenarbeiten will, die korrupt sind und den Rechtsstaat aufweichen. Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Stefan Liebich hat eine Kurzintervention angemeldet. Ich erteile ihm das Wort.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Paul Ziemiak, ich wollte Sie jetzt nicht mit meiner Zwischenfrage aus dem Konzept bringen. Das ist ein ganz normales parlamentarisches Mittel. Aber wenn Sie sie nicht zulassen wollen, dann mache ich das jetzt eben auf dem Wege der Kurzintervention. Sie unterliegen einem Irrtum, wenn Sie glauben, dass die massive Kritik an Annegret Kramp-Karrenbauers Antwort auf Herrn Macron dem Neid der anderen Parteien geschuldet ist. Die Kritik basiert tatsächlich auf inhaltlichem Widerspruch. Über den Flugzeugträger ist ja schon eine Weile geredet worden. Ich will hier aber etwas anderes ansprechen. Wir üben natürlich auch massive Kritik an der Europäischen Union, wie sie jetzt ist; aber es gibt eine Sache, die wirklich alle gut finden: Das sind die offenen Grenzen in der Europäischen Union. Und dann lesen wir, dass Annegret Kramp-Karrenbauer sagt, dass die Einzigen, denen sie nutzen würden, Kriminelle sind. ({0}) Da würde ich schon gerne wissen, was Sie davon halten. Das ist eine massive Absage an das Beste, was die EU bietet, und da bin ich an Ihrer Position interessiert. ({1})

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, vielen Dank für Ihren Hinweis. Er gibt mir die Möglichkeit, Folgendes auszuführen: Natürlich ärgern Sie sich anders als die anderen. Die anderen Parteien ärgern sich, dass Annegret Kramp-Karrenbauer inhaltliche Vorschläge gemacht hat, die gut sind, ({0}) und das auf unser Konto einzahlt. ({1}) Das verstehe ich ja. Bei Ihnen ist ja eine noch größere – – ({2}) – Kommen Sie! Diese Nervosität ist schon irre. ({3}) – Soll ich Sie mal ins Konrad-Adenauer-Haus einladen? ({4}) Dann können wir gemeinsam weiterdebattieren. Ich bin zwar jung und neu im Amt und habe noch nicht so viel Erfahrung als Generalsekretär; aber zu einer guten Kampagne kann ich Ihnen den einen oder anderen guten Ratschlag geben, und Sie werden uns vielleicht auch dabei helfen, dass sie für uns erfolgreich ist. Jetzt zu Ihrer Frage. Ich glaube, bei Ihnen ist das Ärgernis noch viel größer. Schauen Sie sich Ihren letzten Parteitag an: Die Linke hat ein grundsätzliches Problem mit der EU. Sie schreiben ja selber: Wir wollen diese Europäische Union nicht. – Ich schätze Sie ja persönlich; aber Ihre Partei gehört nicht zur Gruppe derer, die ein starkes Europa wollen, ({5}) sondern zu denen, die die Europäische Union schwächen wollen. Deswegen unterhalten wir uns auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Jetzt sage ich Ihnen etwas zu den offenen Grenzen und zu Schengen. Sie müssen mal rausfahren, Sie müssen mal nach Brandenburg fahren. ({6}) – Na ja! Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob das für die Menschen so lustig ist, die an der deutsch-polnischen Grenze wohnen und Opfer von Diebstählen werden und das Gefühl haben, dass es nicht genug Landespolizei in Brandenburg gibt, wo übrigens ein Teil von Ihnen regiert. ({7}) Darum geht es doch: Die Menschen wollen offene Grenzen – gar keine Frage! –; aber wir erleben doch, dass Kriminalität über Grenzen hinweg auftritt, dass organisierte Kriminalität grenzübergreifend ist. Wenn wir offene Grenzen wollen, dann müssen wir doch unsere Sicherheitsbehörden unterstützen, dann müssen wir doch die Sicherheitsbehörden in Europa vernetzen, um mehr Sicherheit zu schaffen; denn am Ende wird doch Freiheit nur mit Sicherheit funktionieren. Dazu müssen wir die Außengrenzen der Europäischen Union und innerhalb – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Ziemiak, Sie haben großzügigen Gebrauch von Ihrer Redezeit gemacht und haben jetzt auch die Redezeit bei Ihrer Kurzintervention schon um fast eine Minute überschritten. Ich bitte Sie jetzt, Ihren Schlusssatz zu sagen. Sonst muss ich Ihnen das Mikro abdrehen.

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wissen, dass es richtig ist, dass wir mehr Sicherheitszusammenarbeit brauchen. Trotzdem stehen wir für Schengen. Das ist das, was wir wollen: ein starkes Schengen, Freiheit im Innern, aber eben keine naive Politik. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nun hat Herr Detlef Seif für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch wenn Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, so bleibt es doch auf der Landkarte in Europa ein wichtiges Land, ein wichtiger Partner. Wir als Deutschland haben genauso wie die Europäische Union ein ureigenes Interesse daran, dass auch zukünftig das Verhältnis freundschaftlich, eng und konstruktiv ist. Es kann doch niemand ein Interesse daran haben, dass dieses Land die Europäische Union ohne ein Austrittsabkommen verlässt. Das würde zu Verwerfungen und zu Unsicherheiten führen. Der wichtigste Punkt – das ist wirklich der Knackpunkt – ist die Entwicklung in Nordirland, der Friedensprozess. Es ist kaum vorstellbar, aber falls es zu einem harten Brexit kommt, falls es zu Auseinandersetzungen kommt, könnte in den nächsten Jahren der bewaffnete Konflikt dort wiederaufleben. Wir alle haben ein höchstes Interesse daran, eine derartige Entwicklung zu vermeiden. Was bei einigen Redebeiträgen nicht klar wird: Die EU ist bei den Verhandlungen bis an die Grenze des Machbaren gegangen. Ich würde sogar teilweise von Rosinenpickerei reden, wenn es um die Notfalllösung für Nordirland geht. Man ist sogar bereit, den Zugang zum Binnenmarkt für Nordirland teilweise zu öffnen. Es ist unverständlich und sehr enttäuschend, dass gerade Theresa May, die maßgeblich Einfluss auf dieses Austrittsabkommen hat – viele Punkte entsprechen genau ihrem Willen –, es nicht geschafft hat, hierfür eine Mehrheit im britischen Unterhaus zu organisieren. Jetzt der Antrag: kurze Verlängerung bis Juni 2019. Aber wofür? Im Brief an Donald Tusk führt sie aus: Wir haben noch nationalen Umsetzungs- und Anpassungsbedarf für den Fall, dass das Austrittsabkommen angenommen werden sollte. – Grundsätzlich ist der Vorschlag von Tusk, einer kurzen Verlängerung zuzustimmen, wenn das britische Parlament das Abkommen in der nächsten Woche annimmt, richtig und, ich denke, auch zielführend. Aber warum geben wir den Briten an der Stelle nicht noch ein paar Tage mehr Zeit, und zwar bis zum 11. April? Ich sage auch, wie ich darauf komme. Die Frist sollte in einem ersten Schritt bis zum 11. April verlängert werden und nur unter der Bedingung, dass dann ein Austrittsabkommen vorliegt, bis einschließlich zum 22. Mai 2019, dem Tag vor dem Beginn der Europawahl. Eine Verschiebung des Austrittsdatums bis Ende 2019 oder darüber hinaus kommt nur in Betracht, wenn sich Großbritannien an den Europawahlen, also an den Wahlen zum Europäischen Parlament, beteiligt. Nach Informationen, die ich aus Großbritannien habe, ist es so: Der Wahlleiter muss spätestens zum 12. April 2019 die öffentliche Wahlbekanntmachung umgesetzt haben. Das ist eine absolut rote Linie. Wir müssen vermeiden, dass der politische Stillstand, die Unruhe und die innenpolitische Krise des Landes in die EU getragen werden. Beteiligt sich Großbritannien nicht an den Wahlen, ist das Parlament unvollständig und damit zunächst falsch besetzt. Die Konsequenz wäre rechtliche Unsicherheit. Eventuell wären sogar Neuwahlen erforderlich. Jedenfalls würde sich die Wahl der EU-Kommission deutlich verzögern. Die EU-Institutionen wären vorübergehend handlungsunfähig. Das Ergebnis wäre letztlich eine deutliche Zunahme der Politikverdrossenheit und Wahlverdrossenheit in ganz Europa. Es ist sehr bedauerlich, dass Populisten es geschafft haben, das schädliche und völlig überflüssige Brexit-Verfahren auf den Weg zu bringen. Wir dürfen aber keinesfalls zulassen, dass diese politische Idiotie auf die Europäische Union überschwappt und zu einem europäischen Populismusförderprogramm wird. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst an die Adresse von Christian Lindner sagen, dass wir gestern in der EVP eine vollständige Suspendierung aller Mitgliedsrechte von Fidesz in der EVP beschlossen haben und dass diese Entscheidung für die ALDE-Fraktion und die ALDE-Partei in Europa mit Blick auf den liberalen Partner in Rumänien, der an dieser unsäglichen sozialdemokratisch – – ({0}) – Auf der ALDE-Homepage finden Sie dazu keinen Hinweis und die ALDE Rumänien ist bei Ihnen als Mitglied geführt. ({1}) Auch die europäische SPD wäre gut beraten, das, was wir gestern in einer schweren und auch für viele sehr anstrengenden, auch emotional sehr anstrengenden Debatte im EVP-Vorstand beschlossen haben, auch in der SPE nachzuvollziehen. Gleiches gilt für die ALDE. Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, weisen immer mindestens drei auf einen zurück. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle auf einen Aspekt des europäischen Gipfels eingehen, der meines Erachtens von großer Wichtigkeit ist. Der Europäische Rat wird auch den EU-China-Gipfel vorbereiten, der am 9. April bevorsteht. Ich glaube, dass die Europäische Union bisher nicht ausreichend auf die Herausforderung „China“ vorbereitet ist. Ich glaube, dass die Europäische Union rasch eine eigene und geschlossene Strategie im Umgang mit China braucht, um mit den Chancen aus den wachsenden Beziehungen zu China, aber natürlich auch mit den Herausforderungen geschickt umzugehen. Ich begrüße, dass die Europäische Kommission in der vergangenen Woche ein Strategiepapier vorgelegt hat, das einige Punkte ganz zentral benennt, die in China sicherlich nicht unbedingt völlige Begeisterung auslösen, die wir aber klar benennen müssen. China betreibt etwas, das ich als smarten Imperialismus bezeichnen möchte. China hat enorme finanzielle Ressourcen, und China setzt diese finanziellen Ressourcen ein, um auf dem Weg eines ein Stück weit unfairen Wettbewerbs in Europa wirtschaftlichen Boden zu gewinnen und in Schlüsseltechnologien zu gelangen. 950 Milliarden Dollar werden in die sogenannte Seidenstraße investiert. Die Staaten, die Partner Chinas sind und sich darauf einlassen, bekommen Verträge als PDF zugeschickt. Sie können dann nur noch das Datum einsetzen und unterschreiben. In vielen dieser Verträge verpflichten sich die Partner Chinas beispielsweise dazu, dass Menschenrechtsfragen zwischen dem starken China und dem jeweiligen Partnerstaat zukünftig nicht mehr angesprochen werden. Ich glaube, wir müssen offen darüber diskutieren, dass China mit seiner Wirtschaftsstrategie auch ganz klar politische Ziele verfolgt und dass China ein Problem mit der Achtung internationalen Rechts hat, was wir beim Zugang zu den Weltmeeren sehen. Als China mit einem Kriegsschiff durch den Englischen Kanal Richtung Ostsee fuhr, hat die britische Regierung gesagt: Das ist ja in Ordnung. Aber wie ist das eigentlich, wenn wir bei euch in China mit einem Kriegsschiff fahren? Darauf haben die Chinesen geantwortet: britische Hoheitsgewässer, britisches Recht, chinesische Hoheitsgewässer, chinesisches Recht. Das ist eine klare Missachtung des internationalen Rechts, und dies geschieht auch bei vielen anderen Dingen. Das muss uns klar sein. Ich glaube auch, dass die Industriestrategie der Europäischen Union darauf ausgelegt sein sollte, dass wir in bestimmten Schlüsselbereichen sicherstellen, dass sich diejenigen, die die Technologie herstellen und anbieten, an die europäische Rechtsordnung halten müssen. Ich würde mir wünschen, dass wir etwa im Bereich von 5G bei Hard- und Software auf europäische Partner zurückgreifen können. Dies alles sollte innerhalb der EU und vor allem in Vorbereitung auf diesen Gipfel der EU und China, der am 9. April stattfindet, diskutiert werden. Wir sollten mit einer klaren gemeinsamen Linie in diesen Gipfel gehen. In diesem Sinne möchte ich die Bundesregierung ermutigen, das zu tun. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb beende ich die Aussprache über die Regierungserklärung zum Europäischen Rat. Wir haben noch Abstimmungen über Entschließungsanträge, und zwar über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/8605. Ich frage: Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist der Rest des Hauses. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/8606. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Diesmal Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ist damit der Antrag von der Mehrheit des Hauses abgelehnt.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Grundsteuerzahler, liebe Mieter, liebe Eigentümer – das sind Sie alle, die Sie hier auf den Tribünen sitzen! Die Grundsteuer bezahlt so gut wie jeder Bundesbürger entweder als Mieter über eine Umlage oder als Eigennutzer einer Immobilie. Diese Steuer ist also von hoher Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Darum frage ich mich, ob dieser Grundsteuerreformmarathon, der in der politischen deutschen Nachkriegsgeschichte wohl einmalig ist, jemals ein Ende gefunden hätte, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht völlig zu Recht die aktuellen Regelungen zu den Einheitswerten für verfassungswidrig erklärt hätte. Wie so häufig musste das Bundesverfassungsgericht Politik machen, weil Sie alle, die Sie schon länger hier sitzen, reformunwillig sind, meine Damen und Herren. ({0}) Bei der kalten Progression war es ebenso, genauso wie bei der Gewerbeertragsteuer. Meine Damen und Herren Minister, ich frage Sie ganz direkt: Wie reformunfähig ist diese Regierung eigentlich? Reformunfähigkeit lässt sich gerade am Beispiel der Grundsteuer hervorragend untermauern. Seit über 25 Jahren, liebe Bürgerinnen und Bürger, wird nun über eine Reform der Grundsteuer diskutiert. Es wurde über die Zeit eine ganze Palette von unterschiedlichen Modellen diskutiert. Doch letztlich scheiterten sie alle, da es am Ende für viele Länder zu unakzeptablen Verschiebungen im Länderfinanzausgleich gekommen wäre. Auch beim neuesten Versuch, eine Reform der Grundsteuer herbeizuführen – wobei Herr Scholz keine gute Figur abgibt, ähnlich wie bei der Fusion von Commerzbank und Deutsche Bank –, wird ein Argument sein, dass sich ein Bundesland – in diesem Fall Bayern – gegen die Reform sperrt. 600 Millionen Euro mehr müssten die Bayern als größter Nettozahler im Länderfinanzausgleich berappen. Ihre Kritik ist für mich völlig nachvollziehbar, meine Kollegen von der CSU: Zeigen Sie sich hier standhaft! Es ist nämlich das Geld der bayerischen Bürger. – Die CSU bringt jetzt in Person von Markus Söder die Möglichkeit von länderspezifischen Regelungen ins Spiel. Er hätte gerne Öffnungsklauseln für die Länder, damit jedes Land seine länderspezifischen Bedürfnisse einbauen kann. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die CSU am Ende wieder mal einknickt, wie das in der politischen Vergangenheit unter Herrn Seehofer viel zu oft passiert ist, ist nicht gesagt, ob die von Olaf Scholz vorgebrachten Regelungen verfassungsgemäß sind. So schrieb beispielsweise „Die Welt“ am 1. Februar 2019 – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Das künftige Erhebungsverfahren wird allerdings kompliziert. Dem Eckpunktepapier zufolge müssen etliche Bewertungseigenschaften von Grundstücken und Gebäuden neu ermittelt werden. Vieles davon ist streitanfällig, und manche Experten zweifeln sogar an der Verfassungsmäßigkeit. Recht haben „Die Welt“ und die vielen Kritiker. Wir hätten also mit der möglichen Reform, die gar keine ist, wieder den Fuß in der Tür des Bundesverfassungsgerichtes. Wir als AfD sehen in der Verfassungsmäßigkeit der Reform die erste Sollbruchstelle. Darüber hinaus sehen wir aber noch zwei weitere große Themenkomplexe. Zweitens. Hier im Hohen Haus, gerade von links, wird so oft das Wort „Gerechtigkeit“ in den Mund genommen. Ja, „Gerechtigkeit“ ist ein wichtiges Wort in der Politik und auch eine große Währung. Aber leider stellen Sie sich, liebe Kollegen von der SPD oder von den Linken, leider etwas komplett anderes unter Gerechtigkeit vor, wenn Sie darüber sprechen, als die vielen Menschen da draußen, die jeden Tag zur Arbeit gehen. Erstens: Wäre es gerecht, dass Mieter oder Eigentümer mehr Steuern zahlen, wenn der Wert der Immobilie, in der sie wohnen, steigt? Nein. Denn was können sie dafür? Zweitens: Wäre es gerecht, wenn die Steuer ganz auf den Vermieter abgewälzt wird? Nein. Er hat hart gearbeitet, Einkommensteuer und Grunderwerbsteuer gezahlt. Drittens: Wäre es gerecht, kommunale und genossenschaftliche Bauträger zu bevorzugen? Nein. Denn damit wären alle Bewohner anderer Immobilien benachteiligt. Es gäbe also „gute Mieter“ und „schlechte Mieter“. Und wie gerecht ist es eigentlich, dass man im Landkreis Börde null Prozent Grundsteuer zahlt, während man in Nauheim, im Kreis Groß-Gerau, 960 Prozent bezahlt? Kommen wir zum dritten Problem der ganzen Misere, zum Verwaltungsaufwand. Mir konnte bis heute noch niemand den ganzen Verwaltungsaufwand verlässlich erklären. Immerhin müssen 35 Millionen Grundstücke neu bewertet werden, und das alle sieben Jahre. Hier muss ein ganz neuer Apparat geschaffen werden. Die FDP – hier muss ich ihr mal zustimmen – spricht zu Recht von einem „Bürokratiemonster“, das geschaffen wird. Meine Damen und Herren, aus all diesen Gründen kommt für uns als AfD nur die Abschaffung der Grundsteuer infrage. ({1}) Selbstverständlich wissen wir, dass die Grundsteuer mit etwa 14 Milliarden Euro Einnahmen eine wichtige Finanzquelle für die Kommunen in Deutschland ist. Aus diesem Grund sehen wir die Notwendigkeit einer alternativen Steuerquelle mit Hebesatzrecht. Diese Möglichkeit für Kommunen lässt Artikel 28 Absatz 2 des Grundgesetzes zu. Einen entsprechenden Antrag dazu reichen wir in den kommenden Wochen hier im Plenum ein. Aber, liebe Kollegen: Folgen Sie zuerst unserem Antrag! Setzen Sie endlich ein Zeichen gegen die Reformruine Deutschland! Zeigen Sie, dass endlich wieder grundsätzliche Reformen im Sinne der Bürger und ihnen dienende Veränderungen möglich sind, mit einer Regierung, die sich bisher in allen wesentlichen Punkten, die sie zu bewältigen hat, als reformunwillig gezeigt hat. ({2}) Schaffen Sie mit uns diese unsägliche, unreformierbare Grundsteuer ab, bevor Sie wieder vor dem Verfassungsgericht landen! Ich bedanke mich, meine Damen und Herren. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Andreas Jung für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gottschalk, Sie haben in Ihrer Rede eines vergessen zu erwähnen, was Ihr Antrag mit sich bringt: Wenn dieser Antrag so beschlossen würde, dann würde er den Bundeshaushalt 14 Milliarden Euro kosten. ({0}) Der Bundeshaushalt wird vom Steuerzahler finanziert. ({1}) Ihr Vorschlag würde den Bundeshaushalt 14 Milliarden Euro kosten. Das haben Sie hier mit keinem Wort erwähnt. ({2}) Deshalb ist das, was Sie gemacht haben, nicht billiger Populismus, sondern teurer Populismus. ({3}) Es ist in Ordnung, dass von der Grundsteuer kein Euro in den Bundeshaushalt fließt. Aber genauso ist es richtig, dass der Bundeshaushalt nicht dafür aufkommen muss. Schon deshalb ist Ihr Vorschlag abzulehnen. Sie haben jetzt gesagt, Sie wollten vielleicht irgendwann noch einen anderen Vorschlag machen. Aber Sie müssen uns schon nachsehen, dass wir uns mit dem beschäftigen, was Sie hier vorgelegt haben. Sie haben ein Modell vorgelegt, das besagt: Der Bund schafft die Steuer ab und gibt dem Land das Geld. Das Land verteilt es an die Kommunen. – Damit ist das ein Angriff auf die kommunale Selbstverwaltung. Bisher haben die Kommunen ein Hebesatzrecht. Damit haben sie Gestaltungsspielraum. ({4}) Wir bekennen uns zur kommunalen Selbstverwaltung und zu den Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen. Schon deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Jung?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Gottschalk.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Kollege. – Ich habe in meiner Rede ganz klar gesagt, dass wir an die Gegenfinanzierung denken ({0}) und einen sehr ausgewogenen Vorschlag – den erarbeiten wir gewissenhaft – einbringen werden, der da lautet: Wir werden ein 1‑prozentiges Hebesatzrecht auf das Sub­strat, nämlich die Einkommensteuer, den Kommunen zur Verfügung stellen, damit sie ihre kommunale Selbstverwaltung behalten. ({1}) Hier ist dann auch erstmalig in der Geschichte Gerechtigkeit gegeben – ich hoffe, dem stimmen Sie zu –, ({2}) weil dann darauf abgestellt wird, wie leistungsfähig ein Steuerzahler ist, und nicht darauf, ob er irgendein Objekt besitzt, völlig unabhängig davon, welches Einkommen er erzielt und wie sich die Immobilie entwickelt. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. ({3}) Ich habe es eben gesagt: Wir werden ein sehr gut kalkuliertes Hebesatzrecht, ähnlich wie es das schon in Dänemark gibt, einbringen. Das würde sogar aufkommensneutral und gerecht ablaufen. Deswegen haben wir eine Spanne von 0 bis 200 Prozent eingeräumt. Wollen Sie das bitte zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege!

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gottschalk, wenn Sie zur Kenntnis genommen haben, was ich vorhin gesagt habe, wissen Sie, dass ich darauf hingewiesen hatte, dass Sie damit leben müssen, dass wir uns hier mit dem zu beschäftigen haben, was Sie uns als Antrag vorgelegt haben, in dem all das – wie Sie ja selber sagten – gar nicht drinsteht. ({0}) Sie haben hier Ihre persönliche Meinung zum Besten gegeben. Ihre Fraktion hat aber etwas anderes beschlossen. Das, was Ihre Fraktion beschlossen hat, würde heißen: Die Kommunen wären in diesem Prozess nur noch Zuwendungsempfänger und nicht mehr aktiver Akteur. Das wollen wir nicht. Wir setzen auf die Kommunen; wir setzen auf Selbstverwaltung. Stellen Sie doch einfach Ihr Gerede von „Basisdemokratie“ ein, wenn Sie in dieser Weise mit unseren Kommunen umgehen! ({1}) „Aufkommensneutral“ ist mein Stichwort; denn darum geht es uns bei dieser Reform. Wir haben in der Tat durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Aufgabe bekommen, eine Reform der Grundsteuer zu erarbeiten. Wir wissen, dass die Grundsteuer eine wichtige Finanzierungsquelle der Kommunen ist, die in manchen Kommunen bis zu 30 Prozent ausmacht. Das muss in Zukunft so bleiben. Deshalb muss es in diesem Jahr eine Lösung geben, die die Finanzierung der Kommunen sicherstellt. Dazu bekennen wir uns ganz ausdrücklich. Ich will nun auf den Antrag der FDP zu sprechen kommen und sagen, dass wir das Anliegen, dass eine Reform den bürokratischen Aufwand für Bürger und Verwaltungen minimieren muss, ganz ausdrücklich teilen. ({2}) Deshalb haben wir es begrüßt, dass auf den ursprünglichen Vorschlag verzichtet wurde, die Nettokaltmiete jeder Wohneinheit für die Bemessung der Grundsteuer zugrunde zu legen; denn damit hätte jeder einzelne Mietvertrag angefasst werden müssen. Das ist vom Tisch. Das haben wir für richtig gehalten, genauso wie wir es für richtig halten, dass der Vorschlag, man könnte bei der Pauschalisierung, wenn die tatsächliche Miete geringer ist, nach unten abweichen – auch da haben die Länder gesagt, das sei für sie nicht handhabbar, das würde viele bürokratische Erfordernisse mit sich bringen –, vom Tisch ist. Das begrüßen wir ganz ausdrücklich. ({3}) Es ist auch nicht in unserem Sinne – das wird im Antrag der FDP angesprochen –, dass die Bürger jedes Jahr quasi eine Grundsteuererklärung vorlegen müssen. Wir wollen eine Reform, die für Bürger und Behörden anhand objektiv nachvollziehbarer, leicht zu erfassender Kriterien umgesetzt werden kann. Das ist für uns die Richtschnur bei der Umsetzung der Reform und in der Debatte, die wir darüber zu führen haben. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Reform für uns in das einzuordnen ist, was wir im Koalitionsvertrag gemeinsam verabredet haben. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass für uns bezahlbares Wohnen und Anreize für Neubauten zwei prioritäre Ziele sind. Diesen Zielen muss sich die Grundsteuerreform unterordnen. Deshalb will ich aus unserer Sicht deutlich sagen: Es ist wichtig, dass man sich den Erhebungsgrund anschaut. Der Erhebungsgrund ist die Teilnahme an kommunaler Infrastruktur: Bibliotheken, Schwimmbäder, kommunalen Einrichtungen. Es ist aber keine Vermögensteuer, und es darf auch keine Vermögensteuer durch die Hintertür werden. Dafür werden wir sorgen. ({4}) Über eine Frage werden wir noch diskutieren müssen. Von einigen kommt der Vorschlag, dass man die Umlage der Grundsteuer auf den Mieter abschaffen sollte. ({5}) Das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen. Wir werden vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Situation, auf die das die Antwort sein soll, nämlich eine Reform, die das Wohnen verteuert, erst gar nicht eintritt. ({6}) Das wäre die Lösung für ein Problem, das wir erst schaffen würden, das wir aber nicht schaffen dürfen. ({7}) Deshalb werden wir dafür sorgen, dass wir eine Reform machen, die Wohnen nicht verteuert, die also insgesamt aufkommensneutral ist. Auch sollen Vermietern und Mietern durch die Reform der Grundsteuer keine zusätzlichen Lasten entstehen. Wir halten es für ganz falsch, beide gegeneinander auszuspielen. Wer Wohnungen belastet, belastet Wohnen. Das werden wir nicht mitmachen. Das ist unsere Richtschnur in dieser Debatte. ({8}) Uns geht es jetzt darum, die Diskussion fortzuführen. Es gibt Gespräche des Bundesfinanzministers mit den Ländern, und es gibt Gespräche innerhalb der Koalition. Ich habe unsere Richtlinien für die Diskussion deutlich gemacht. Sie sind für uns der Maßstab. Für uns ist es wichtig, dass wir zeitnah zu einem Ergebnis kommen; denn alle Beteiligten brauchen Verlässlichkeit. Das gilt für die politischen Akteure, das gilt aber insbesondere für Kommunen und Bürger, die erwarten, dass hier eine gute Lösung erarbeitet wird. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Markus Herbrand für die Fraktion der FDP. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Jung, wir werden Sie nicht daran hindern, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank für die vielen lobenden Worte, die Sie gerade gefunden haben. Sie dürfen dem auch Taten folgen lassen. ({0}) Drei Punkte bringen uns Liberale immer um den Verstand: handwerklich schlechte Gesetze, nervige Bürokratie und ständig steigende Steuern. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, dass sich der Bundestag in die Reform der Grundsteuer einbringt; die Vorstellungen des Bundesfinanzministeriums müssen dringend ins Lot gebracht werden. ({1}) Ich finde, ehrlich gesagt, dass der sehr unkonkrete Antrag der AfD in der Sache eher unterstreicht, dass diese Partei den Gestaltungsanspruch an sich selbst und an uns an der Pforte dieses Hohen Hauses abgegeben hat. So kann man das Problem nun einmal nicht lösen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das Grundsteuerchaos überhaupt aufgekommen ist, ist schlimm genug. Das Steuerrecht ist seit langem nur noch ein dauerhafter Reparaturbetrieb. Regelmäßig verpasst es die Bundesregierung, unser viel zu kompliziertes Steuersystem zu reformieren und an die veränderten Verhältnisse in Deutschland und der Welt anzupassen. Sie reagiert immer nur, wenn das Bundesverfassungsgericht sie dazu auffordert. ({3}) Das war bei der Erbschaftsteuer der Fall. Das wird – das garantiere ich Ihnen – bei der Regelung zu allen Verzin­sungen im Steuerrecht der Fall sein. Das wird auch beim Solidaritätszuschlag der Fall sein, wenn Sie das umsetzen, was Sie vorhaben. Die Diskussion über die Gestaltung der Grundsteuer ist schon jetzt eine Blamage, weil wir seit Jahren wissen, dass dieses Problem in der Welt ist. ({4}) Die Grundsteuer ist deshalb in aller Munde, weil sie alle Leute betrifft. Durch die Grundsteuer tragen alle ihren Anteil an dem, was die Kommunen an Leistungen erbringen, und das wollen wir auch so belassen. Steuersystematisch eignet sich die Grundsteuer aber nicht für Umverteilungskämpfe, auch wenn das möglicherweise nicht jedem hier im Hause gefällt. ({5}) Viele andere Steuern in unserem Aufteilungssystem zwischen Bund und Ländern können dazu benutzt werden, sozialpolitische Umverteilungsfantasien zu befriedigen. Die Grundsteuer ist dafür die falsche Steuer. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen hören, was auf sie zukommt, wenn die Bundesregierung macht, was sie angekündigt hat, und deshalb geben wir als Serviceopposition – Sie kennen das ja schon – eigene Impulse in die Beratung ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterschiedlichen Positionen innerhalb Ihrer Koalition dürfen nicht zulasten von 36 Millionen Steuererklärungspflichtigen gehen und auch nicht zulasten der Beschäftigten in den Länderfinanzverwaltungen. Die FDP-Fraktion macht deshalb heute einen Vorschlag, wie wir die Bemessungsgrundlage zur Grundsteuer neu ausgestalten können, ohne dass wir dabei das ganze Land, seine Betriebe und seine Finanzverwaltung geradezu lahmlegen. Uns droht ein bürokratischer Wahnsinn zu überrollen, unter dem wir alle leiden werden. 36 Millionen Steuererklärungen müssen angefordert werden. 36 Millionen Steuererklärungen müssen von den Bürgern und von den Betrieben ausgefüllt werden. 36 Millionen Einheitswertbescheide müssen festgesetzt und verschickt werden, auch noch mit der Post. Meine sehr verehrten Damen und Herren, daher kann des Rätsels Lösung nur sein, es so einfach wie möglich zu halten. ({6}) Wir müssen endlich dafür Sorge tragen, dass die Menschen wieder verstehen, wonach sich eine Steuer bemisst. Das ist derzeit nicht der Fall. Ich vermute, nur wenige von Ihnen sind in der Lage, mir den derzeit geltenden Einheitswert zu erklären. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns bitte einmal – einmal! – die Gelegenheit nutzen, eine Steuerreform für eine Vereinfachung zu nutzen. ({7}) Und „einfach“ bedeutet, den Aufwand auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und auf unnötige Daten zu verzichten, die erst aufwendig erhoben werden müssten, schlimmstenfalls – Sie sagten es – alle sieben Jahre. ({8}) Unser Reformvorschlag sieht deshalb vor, nur die Fläche von Grundstück und Gebäude heranzuziehen, keine komplizierten Bewertungsverfahren anzuwenden – Baukosten und Mieten sollen keine Rolle spielen –, unterschiedliche Nutzungen zu berücksichtigen – zwischen Wohn- und Gewerbenutzung kann differenziert werden – und – für uns sehr wichtig – die Umlagefähigkeit unangetastet zu lassen. Zur Ehrlichkeit gehört aber, dass wir als Bundesgesetzgeber eine Aufkommensneutralität nicht gewährleisten können. Hier haben die Kommunen das letzte Wort, die ihre Hebesätze in eigener Verantwortung festsetzen. Kommunen dürfen aber auch nicht an der Reform verdienen. Deswegen haben wir eine bundesweite Initiative in den Kommunalparlamenten angestoßen, die eine Erhöhung der Grundsteuer, begründet allein auf der Reform, verhindern soll. ({9}) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wehren uns mit unserem Vorschlag auch dagegen, dass durch die Reform der Grundsteuer eine Vermögensteuer durch die Hintertür eingeführt wird. ({10}) Das bezieht sich auf alle Überlegungen, weitere Werte in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Schenken Sie den Menschen doch reinen Wein ein! Ständig steigende Bodenrichtwerte wären ein Steuererhöhungsautomatismus. ({11}) Das Gleiche gilt für die Einbeziehung von Mieten. Das wäre ein Kostentreiber für die Großstädte. Dagegen wird die FDP Sturm laufen. Durch die Umlagen wären im Übrigen alle, aber auch wirklich alle, Mieter und Eigentümer, betroffen. Ich appelliere eindringlich an Sie: Lassen Sie uns die Chance nicht verpassen, die Grundsteuer auf stabile Füße zu stellen, einfach, sodass die Menschen es verstehen, unbürokratisch und verfassungsfest. Herzlichen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Bernhard Daldrup. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Herbrand, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Ich habe keine Sorge: Die Grundsteuerreform wird Sie nicht um den Verstand bringen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Wir sind nämlich auf der Zielgeraden. Wir können es schaffen, bis zum 31. Dezember 2019 ein neues Grundsteuerrecht zu verabschieden, das dann ab 2025 in ganz Deutschland zur Anwendung kommen wird. Meines Erachtens jedenfalls gibt es deutliche Annäherungen auf der Grundlage des wertabhängigen Modells des Bundesfinanzministers, wenn man mal von den heute vorliegenden Anträgen und gewissen bayerischen Querschlägern – Herr Jung hat das ja angesprochen – aus den Reihen des Koalitionspartners absieht. Ich will es noch einmal sagen: Es geht um die Sicherung der zweitwichtigsten Steuer für die Gemeinden mit einem Volumen von 14 Milliarden Euro für ganz Deutschland, nicht nur für Bayern. Es geht um eine unverzichtbare Einnahmequelle der Gemeinden, die gleichzeitig eine ausgesprochen hohe Akzeptanz bei den Steuerpflichtigen hat, weil sie mit 19 Cent pro Quadratmeter im Bundesdurchschnitt eine vertretbare individuelle Belastung darstellt. Es geht um eine Steuer, deren Wegfall durch Bund und Länder ohne zusätzliche Steuererhöhungen nicht kompensiert werden kann. Die Grundsteuer finanziert die kommunale Infrastruktur, Schwimmbäder, Spielplätze, Parks und Ähnliches. Diese Grundsteuer will die AfD abschaffen. Das steht im Antrag. Die AfD will natürlich auch die Gewerbesteuer abschaffen. ({0}) Die AfD will auch die Erbschaftsteuer abschaffen. Die AfD will auch die Grunderwerbsteuer abschaffen. Das alles soll abgeschafft werden. Diese Milliardenverluste bei den Einnahmen würden natürlich dazu führen, dass die arbeitende Bevölkerung eine höhere Lohn- und Einkommensteuer zahlen müsste. Das will die AfD. Das wollen wir aber nicht. ({1}) Überdies soll es ein Zuschlagsrecht zur Lohn- und Einkommensteuer geben; das hat Herr Gottschalk eben erwähnt. Steuerschwache Kommunen beispielweise in den neuen Ländern müssten hohe Zuschläge auf die Einkommensteuer erheben, steuerstarke Kommunen müssten das nicht. Die AfD will die Kommunen zu Bittstellern der Länder machen; denn die originäre Grundsteuer fiele weg. Das ist eine groteske Vorstellung von kommunaler Selbstverwaltung. Das macht kein Bürgermeister, keine Bürgermeisterin mit. ({2}) Die Folge der AfD-Vorschläge wäre eine weitere Spaltung unseres Landes in steuerstarke und steuerschwache Kommunen, aber nicht die Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen, was wir wollen. ({3}) Die FDP möchte die Grundsteuer eigentlich auch ganz gerne abschaffen; aber sie traut sich nicht so richtig. Doch das ist nicht weiter tragisch. In solchen Fällen holt die FDP immer das unsterbliche Bürokratiemonster heraus, das der blau-gelbe Don Quichotte mal eben bekämpft. Ein paar Fakten: Bisher wurden für die Grundsteuererklärung bei Wohngrundstücken ungefähr 18 Parameter erfasst; künftig sind es noch zwischen 5 und 7. Bei den Geschäftsgrundstücken brauchen wir bisher 40 Parameter, demnächst nur noch 8. Die Fortschreibung soll nicht jährlich passieren, sondern alle sieben Jahre. – Mit anderen Worten: Mit dem Bürokratiemonster der FDP ist es genauso wie mit dem Monster in der Geisterbahn: Bei Tage und aus der Nähe betrachtet, löst es sich relativ schnell auf und verliert jeden Schrecken. ({4}) Das gilt übrigens auch für den Hinweis auf die 35 Millionen Grundstücke, die bewertet werden müssen. ({5}) Übrigens müssten auch nach Ihrem Modell 35 Millionen Grundstücke bewertet werden. Die Steuerverwaltung in Deutschland bearbeitet jährlich Steuererklärungen von 40 Millionen Steuerpflichtigen. ({6}) Jährlich! Die können das. Wir haben eine hochleistungsfähige Steuerverwaltung. Zum Schluss machen sich die Freunde des Privateigentums auch noch stark für die Mieterinnen und Mieter. Ich sage dazu nur: Überlegt mal, ob eure Einstellung zu Mietenturbo und Grundsteuer wirklich eure Glaubwürdigkeit stärkt. Ich jedenfalls glaube das nicht. ({7}) Das Ganze soll auch noch einfach sein. Das auch noch! Wir wollen aber nicht, dass für das Luxusappartement in der Innenstadt genauso wenig Grundsteuer bezahlt wird wie für die Doppelhaushälfte am Stadtrand. Das wollen wir nicht. ({8}) Das ist für Sie einfach, aber es ist einfach ungerecht, ({9}) und das wollen wir nicht. Lassen Sie mich noch zwei andere Aspekte ansprechen. Erstens, Stichwort „Personal“. Ja, man braucht zusätzliches Personal, nach den Kalkulationen etwa 2 000 neue Stellen bundesweit, nicht nur in Bayern. Wie kommt das? Weil die Länder jahrelang nichts gemacht haben. Deswegen ist das so. ({10}) Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass unterlassenes Handeln eben auch Geld kostet. Das ist die Wirklichkeit. ({11}) Zweitens. Das BMF-Modell findet meiner Meinung nach die klare Unterstützung aller drei kommunalen Spitzenverbände. Warum findet das bei den Kritikern eigentlich überhaupt keine Resonanz? ({12}) Ich wünschte mir, ehrlich gesagt, etwas mehr Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung, auch in diesem deutschen Parlament. ({13}) Schließlich muss berücksichtigt werden, dass das Modell des BMF am ehesten die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllt. ({14}) Jedes andere Modell stellt zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Grundsteuer zur Disposition. ({15}) Und zuletzt: Mir ist gänzlich unbegreiflich, woher die Sympathie einiger Fraktionskolleginnen und -kollegen für diese bayerischen Muskelspielchen kommt; ({16}) denn auch den bayerischen Kommunen gefällt das nicht. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Den kommunalen Spitzenverbänden in Bayern gefällt das nicht. Wer durch eine Öffnungsklausel eine Steuerpolitik mit 16 verschiedenen Grundsteuermodellen erreichen will, der ist meines Erachtens nicht so ganz bei Trost. Wir jedenfalls wollen das nicht. ({17})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen.

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fangen wir mal mit dem Wichtigsten an: Durch die Reform der Grundsteuer sollten vor allen Dingen die schwächsten Marktteilnehmer entlastet werden; denn ausreichender und bezahlbarer Wohnraum ist zur zentralen sozialen Frage in den Ballungsgebieten geworden. Der einfachste Weg, das zu erreichen, wäre, das Abwälzen der Grundsteuer auf die Nebenkostenabrechnung, die die Mieterinnen und Mieter zu zahlen haben, abzuschaffen. Das schlagen wir vor. ({0}) Zweitens. Die Grundsteuer ist neben der Gewerbesteuer die einzige bundeseinheitlich geregelte, originäre Kommunalsteuer; die Einnahmen betragen rund 14 Milliarden Euro im Jahr. Sie ist eine der Hauptfinanzierungsquellen der Kommunen in Deutschland. Diese Einnahmequelle muss erhalten bleiben. ({1}) Die Städte und Gemeinden können diese Steuersätze eigenständig festlegen. Der technische Terminus lautet: Hebesatzrecht. Sie haben direkten Einfluss auf ihre Einnahmen, und dieser Einfluss ist durch die Einwohnerinnen und Einwohner auch demokratisch kontrollierbar. Da könnte man noch mehr machen; aber prinzipiell ist dieses Recht vorhanden. Dieses Recht wollen wir erhalten. Es stärkt die kommunale Selbstverwaltung und damit auch die Möglichkeit der politischen Einflussnahme für die Bewohnerinnen und Bewohner. Eine politische Entmündigung der Gemeinden, wie die AfD es vorschlägt, lehnen wir ab. ({2}) Drittens zu dem umstrittenen Thema der Bemessungsgrundlage. Auch wenn es hier wahrscheinlich nicht auf Begeisterung stößt, halten wir den Verkehrs- oder Marktwert für die gerechteste Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer, also den Preis der Immobilie, der im Geschäftsverkehr, bei einem Verkauf zum Beispiel, erzielt wird. Dieser Verkehrswert spiegelt Wert und Nutzung des Grundstücks und des darauf bestehenden Gebäudes umfassend wider. Bereits 2012 empfahl die OECD Deutschland, Immobilien stärker anhand dieses Verkehrswertes zu besteuern. Sie hat recht. ({3}) Liebe FDP, ich kann mich nur dem Kollegen Daldrup anschließen: Entgegen anderslautenden Befürchtungen lässt sich dieser Verkehrswert mit vertretbarem Aufwand ermitteln. Dazu kann zum Beispiel auf die von den Gutachterausschüssen bereitgestellten Bodenrichtwerte zurückgegriffen werden. Sie sind pauschal für ähnliche Wohnbezirke und Stadtteile berechnet. Es muss also nicht jedes einzelne Gebäude bewertet werden. Das geht auch einfacher. ({4}) Vor allen Dingen kommt eine am Verkehrswert orientierte Reform der Grundsteuer der ursprünglichen Art der Wertbemessung nach dem Grundsteuergesetz, wie wir es jetzt mit den Einheitswerten haben, sehr nahe. Sie bietet damit die beste Chance, als bundesgesetzliche Regelung mit dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar zu sein. ({5}) Das flächenbasierte Modell, das die FDP und auch die CSU anstreben, ist da sehr viel fraglicher. ({6}) Und ein letzter Punkt, liebe FDP. Eine schlechte Regelung deshalb zu machen, weil sie weniger Arbeit macht, ist, finde ich, auch kein überzeugendes Argument. ({7}) Die Miete in die Berechnung der Grundsteuer einzubeziehen, wirkt in beide Richtungen. Hohe Mieten führen zu einer höheren Grundsteuer. Dagegen bewirken niedrige Mieten eine niedrigere Grundsteuer. Wir halten es für richtig, dass da, wo Vermieterinnen und Vermieter bei einer Neuvermietung Mieten deutlich unterhalb der örtlichen Vergleichsmiete erheben, ein entsprechender Nachlass bei der Grundsteuer gewährt wird. ({8}) Da wird aber vor allen Dingen dann ein Schuh draus, wenn wir die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Wohnnebenkosten abschaffen. Denn das hätte unmittelbar Auswirkungen auf die Grundsteuer der Eigentümer bzw. der Vermieterinnen und Vermieter. Wer die höchstmögliche Miete aus dem Markt herauspresst, wird dann eben auch mit einer höheren Grundsteuer belastet. ({9}) Wer faire Mieten verlangt oder für langjährige Mieter die Miete seit Jahren unverändert belässt, zahlt entsprechend weniger. ({10}) Auch der Deutsche Mieterbund fordert sinnvollerweise die Abschaffung der Umlegbarkeit der Grundsteuer auf die Nebenkosten, weil es sich bei der Grundsteuer um eine – diese Bezeichnung finde ich richtig – „Eigentumssteuer auf den Wertzuwachs einer Immobilie“ handelt, ({11}) und das sollten nicht die Mieterinnen und Mieter bezahlen. ({12}) Zum Abschluss noch ein weiteres Problem. Es gibt eine große Zahl von baureifen Grundstücken, die von den Eigentümern aber nicht bebaut werden. Das hat nicht nur, aber zum Teil auch mit der Spekulation auf steigende Grundstückspreise zu tun. Es erschwert aber auch die optimale Nutzung von Bauland da, wo es das schon gibt, und zwingt unsinnigerweise an manchen Stellen zu zusätzlichem Flächenverbrauch. Wir schlagen vor – das ist auch in unserem Antrag enthalten –, über eine neue Grundsteuer C mit eigenständigem Hebesatzrecht für die Kommunen solche baureifen Grundstücke zu belasten. Man kann auch noch ein bisschen an der Steuermesszahl schrauben. ({13}) Dann kommt man da auch dran. So würden wir uns eine Grundsteuerreform vorstellen. Ich danke Ihnen. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Stefan Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast ein Jahr ist es nun her, dass die Grundsteuer für verfassungswidrig erklärt wurde. Eine Plenardebatte zur Reform ist mehr als überfällig. Ich hätte erwartet, dass wir heute einen konkreten Gesetzentwurf diskutieren können. Aber leider wurde ich da enttäuscht. Jetzt bleiben nur noch neun Monate Zeit, um eine Reform der Grundsteuer auf den Weg zu bringen. Sonst waren alle Bemühungen umsonst; sonst ist die Grundsteuer passé. Nun rächt sich, dass Herr Finanzminister Scholz so lange keinen eigenen Vorschlag auf den Tisch gelegt hat. Ein paar DIN-A4-Seiten Eckpunkte: Das ist alles, was wir momentan haben, was das intensive Ringen von Bund und Ländern hervorgebracht hat. Herrn Daldrups Optimismus teile ich an diesem Punkt nicht ganz. Ich fürchte, die Zeit läuft uns davon. ({0}) Die Eckpunkte sind noch nicht einmal verbindlich. Während 15 Länder sich treffen und wieder und wieder um eine Lösung streiten, kann der bayerische Ministerpräsident Markus Söder jedes Mal nicht schnell genug erklären, für wie unzureichend er das Verhandlungsergebnis hält. Mein Eindruck ist: Da geht es längst nicht mehr um unterschiedliche Betrachtungsweisen einer Steuer. ({1}) Nein, die CSU setzt um des Blockierens willen auf Blockade. ({2}) Es ist doch für jedermann offensichtlich, dass Ihre Vorschläge nicht mehrheitsfähig sind. Daher hat es die CSU auch sicherheitshalber bei der Ankündigung eines eigenen Vorschlages belassen. Gesehen haben wir bislang nichts. Die FDP ist da bereits einen Schritt weiter. Zugegeben, es ist ein sehr kleiner und ein falscher noch dazu. In ihrem Antrag fordert sie ein reines Flächenmodell, wie auch von der CSU gefordert. Damit würde der Eigentümer einer 50 Quadratmeter großen Gartenlaube am Stadtrand oder auf dem Dorf genauso viel Grundsteuer zahlen wie die Besitzerin eines gleich großen Penthouse in der City. ({3}) Das ist ziemlich genau das ungerechteste Modell, das man sich ausmalen kann. Das können Sie doch niemandem ernsthaft erklären. ({4}) Die Grundsteuerreform soll aufkommensneutral gestaltet sein, fordert die FDP. Das ist nicht so wahnsinnig innovativ; denn das wollen die Städte und Gemeinden ohnehin. Aber das können wir hier nicht per Handzeichen beschließen. Das haben Sie auch zu Recht gesagt, Herr Herbrand. Das wird vor Ort bestimmt. Es gilt das kommunale Hebesatzrecht, und das ist gut so. ({5}) Weiter schreibt die FDP, das Verfassungsgericht habe „gravierende und umfassende Ungleichbehandlungen bei der Bewertung“ kritisiert. Ja, die bisherige Grundsteuer ist ungerecht. Und was sagen sich FDP und CSU? Machen wir es noch ein bisschen ungerechter, sagen sie sich. Aber nicht mit uns, meine Damen und Herren. ({6}) Außerdem möchte die FDP, dass es weiterhin die Mieterinnen und Mieter sind, die die Grundsteuer bezahlen müssen. Dabei sind es doch die Vermieterinnen und Vermieter, die von den Wertsteigerungen ihres Eigentums profitieren. Durch diese Entwicklung können sie überhaupt erst höhere Mieten verlangen. Das darf nicht so bleiben. ({7}) Hier muss die Betriebskostenverordnung oder noch besser das Bürgerliche Gesetzbuch geändert werden. Dazu gibt es entsprechende Vorschläge von den Linken, von uns, aber auch in der Diskussion der SPD. Wir sagen: Jeder und jede, der oder die zur Miete wohnt, muss von der Grundsteuer entlastet werden. Nur so wird es gerecht. ({8}) Noch ein paar Sätze zur FDP. So ganz sicher sind Sie sich mit Ihrem Modell der Flächensteuer offensichtlich doch nicht. Sonst hätte Ihr Bundesvorstand 2016 kaum den Beschluss „Grundsteuer zukunftsfähig reformieren“ gefasst. ({9}) Darin fordern Sie eine Besteuerung nach Bodenrichtwert. Man kann sicherlich diskutieren, ob auch die Gebäude in die Grundstücksbewertung einfließen sollen. So oder so ist der Beschluss von damals hundertmal besser als das, was Sie heute vorgelegt haben. ({10}) Vorhin habe ich gesagt, die Flächensteuer sei so ziemlich das ungerechteste Modell auf dem Markt. ({11}) Da hatte ich verschwiegen, dass es noch ein bisschen schlimmer geht. Schlimm ist nämlich die Überschrift, mit der man den AfD-Antrag betiteln muss, der heute zur Debatte steht. Die AfD will die Grundsteuer gleich ganz abschaffen, und irgendwo in der Begründung erläutern Sie dann, dass Sie die fehlenden Einnahmen über die Einkommensteuer ausgleichen wollen. Haben Sie sich eigentlich ausgemalt, was das angesichts der sehr unterschiedlichen Einkommensniveaus in Deutschland bedeuten würde? Ist das Ihre Auffassung von Gerechtigkeit? Abgesehen davon ist die Grundsteuer gesellschaftlich breit getragen und akzeptiert. Dafür gibt es auch gute Gründe. ({12}) Mit den Grundsteuereinnahmen finanzieren die Städte und Gemeinden Spielplätze. Sie unterhalten Kitas. Sie bauen Schulen. Sie sorgen für einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr. Sie bessern Straßen aus, organisieren Freizeitangebote, fördern Begegnungsstätten für Jung und Alt und, und, und. Es gibt der Beispiele nicht genug. Das alles will die AfD mit ihrem Antrag gefährden. Das ist doch irrwitzig, das ist kommunalfeindlich, und darüber sind wir uns in großen Teilen dieses Parlaments auch einig. ({13}) Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Grundsteuer muss jetzt reformiert werden. Jetzt muss ein Gesetzentwurf vorgelegt werden. Hier ist die Bundesregierung an der Reihe. Sie muss endlich einen konkreten Vorschlag für eine gerechte, administrierbare und verfassungsfeste Grundsteuerreform machen. Vor allem aber wollen wir, dass die Grundsteuer erhalten bleibt. Das ist gut für die Städte und Gemeinden und gut für Deutschland. Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Fritz Güntzler. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Besuchertribüne – vielleicht sind Sie auch vor dem Fernsehgerät dabei! Die Grundsteuer ist ein Thema, das Sie alle angeht. 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind irgendwie mit der Grundsteuer belastet. Von daher ist es auch richtig, dass wir in diesem Hohen Hause über dieses Thema diskutieren. Seit dem 10. April letzten Jahres liegt ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vor. Bis jetzt haben sich im Wesentlichen die Länder mit diesem Thema beschäftigt, aber der Bundestag wird ja irgendwann einmal auch gefragt werden. Von daher bin ich den Fraktionen von AfD und FDP dankbar, dass sie das auf die Tagesordnung gerufen haben. ({0}) Enttäuscht bin ich – habe aber auch nichts anderes erwartet – von der AfD, die für komplexe Fragestellungen immer die einfachen Lösungen hat: Abschaffen! Kollege Daldrup hat es schon ausgeführt: Gewerbesteuer abschaffen! Erbschaftsteuer abschaffen! Einkommensteuer senken! Die Umsatzsteuer wollen Sie ebenfalls senken. Die Antwort darauf, wie Sie den Haushalt dann noch finanzieren wollen, sind Sie schuldig geblieben. Sie sollten sich vielleicht einmal mit dem Kontext befassen; dann würde etwas glaubhafter, was Sie hier vortragen. ({1}) So jedenfalls schaden Sie den Kommunen vor Ort. Sie wissen ja – auch das ist mehrfach erwähnt worden –: 14 Milliarden Euro sind eine wichtige kommunale Einnahmequelle; das sind etwa 15 Prozent der Steuereinnahmen einer Kommune. Daher wollen wir – so haben wir es auch im Koalitionsvertrag vereinbart – diese wichtige Steuer auch erhalten. Die Diskussion rankt sich nun darum: Wie gestalten wir ein System, das nachhaltig ist, das verfassungsfest ist, das einfach ist und die Menschen möglichst nicht stärker belastet? Da gibt es unterschiedliche Ansätze. Das Bundesverfassungsgericht hat im Leitsatz seines Urteils gesagt, wir haben als Gesetzgeber einen großen Spielraum. Wir können eigentlich tun und lassen, was wir wollen, wenn wir denn in der Lage sind, den Belastungsgrund, den Rechtfertigungsgrund der Steuer exakt zu benennen. Meine Damen und Herren, die Diskussion krankt meines Erachtens derzeit daran, dass wir uns zu wenig damit beschäftigen: Warum gibt es die Grundsteuer? Hier höre ich immer: Leistungsfähigkeit, Gerechtigkeit. All das sind wichtige Fragen, auch im Steuerrecht, die wir über die Einkommensteuer beantworten, die aber nicht in die Grundsteuer gehören. ({2}) Die Grundsteuer hat einen ganz anderen Ansatz. Wenn Sie sich damit beschäftigen, stellen Sie fest, dass es darum geht, dass die Einwohnerinnen und Einwohner der Kommunen einen zusätzlichen Beitrag zu den Beiträgen und Gebühren für die Inanspruchnahme kommunaler Infrastruktur leisten. Das ist auch gut so, das ist auch identitätsstiftend für die Bürgerinnen und Bürger. Es ist auch von daher eine wichtige Steuer für die Kommunen. ({3}) Aber das heißt nicht, dass es vom Einkommen oder vom Wert einer Immobilie, die jemand bewohnt, abhängt, wie hoch die Grundsteuer ist. Wir haben eine nutzenorientierte Äquivalenz, und von daher sind wir für ein Einfach-Grundsteuermodell, auch Flächenmodell – teilweise unrichtigerweise auch wertunabhängiges Modell – genannt. ({4}) Ich mag den Begriff „wertunabhängiges Modell“ nicht; denn jedes Modell braucht einen Wert. Er ist nur anders ermittelt und hat nichts mit dem Verkehrswert zu tun. Von unserer Seite wäre das das Richtige. Das würde auch dem Aspekt der Objektsteuer, der Grundsteuer, gerecht. Wir wissen aber, dass unser Koalitionspartner dazu eine andere Auffassung hat, dass auch einige Länder – vielleicht auch die Mehrheit der Länder – eine andere Auffassung haben. Von daher haben wir uns auf den Weg gemacht, eine konstruktive Diskussion zu führen. Wir sind bei einem wertabhängigen Modell gestartet – das Minister Scholz vorgelegt hat – und begleiten die Diskussion mit den Ländern und sehen, dass wir von einem Problem ins nächste geraten. Kollege Jung hat darauf hingewiesen. Zunächst sollten es die tatsächlichen Mieten sein. Dann hatte man erkannt, dass das viel zu komplex ist. Dann haben wir typisierende Mieten angenommen. Darauf hat man festgestellt: Es könnte ja sein, dass es Menschen gibt, die weniger als die typisierende Miete zahlen; also können sie eine Miete nachweisen, die niedriger ist. Dann hat man festgestellt: Das ist zu komplex. Jetzt versucht man, das über eine Steuermesszahl zu regeln, wobei man dann wieder Privatinvestoren völlig ausschließt und nur kommunale Wohnungsgesellschaften darin haben will, die aber nachweisen müssen, dass sie ortsübliche Mieten nehmen. Sie sehen, wir kommen von einem Problem zum nächsten, wenn wir uns diesem Modell weiter nähern. Von daher sind wir schon der Auffassung, dass wir einmal Bilanz ziehen sollten, ob diese Diskussionen wirklich zum Ergebnis führen. Diese Notwendigkeit wird auch deutlich, wenn ich dann noch erwähne, dass wir derzeit kein Ergebnis für die Nichtwohngrundstücke und Gewerbegrundstücke haben, sondern nur Eckpunkte. Wir haben derzeit auch keine Lösung für gemischt genutzte Grundstücke. ({5}) – Nein, ich argumentiere konstruktiv, Sie aber sind immer destruktiv, indem Sie einfach nur abschaffen wollen. Wir wollen eine vernünftige Lösung für das Land und die Kommunen. ({6}) Wir sind konstruktiv in der Debatte. Und ich glaube, der Punkt ist erreicht, dass wir einfach einmal innehalten und uns gemeinsam mit den Ländern fragen sollten: Führt das wirklich zum Ziel – auch zu dem Ziel, das in fünf Jahren vernünftig zu administrieren? Diese Frist hat uns das Bundesverfassungsgericht gesetzt. Von daher wäre es ein guter Zeitpunkt – da bin ich auch bei Herrn Ministerpräsident Söder –, zu sagen: Vielleicht ist es doch klüger, über ein Einfach-Grundsteuermodell nachzudenken und dem Ansinnen anderer Rechnung zu tragen, indem man Sozialkomponenten über Steuermess­zahlen einbringt. Die Modelle liegen vor. Lassen Sie uns noch einmal darüber streiten oder diskutieren, ob das nicht der vernünftigere Weg ist. ({7}) Ich möchte auch Folgendes klarstellen, weil mich das wirklich stört: Ich wohne in Niedersachsen und komme nicht aus Bayern, ({8}) obwohl ich ein Freund Bayerns in verschiedenen Dingen bin, auch beim Fußball. ({9}) Aber den Bayern zu unterstellen, sie seien gegen das, was derzeit vorgelegt wird, ist absurd und ungerecht. ({10}) Gucken Sie sich den Finanzsenator Hamburgs an, der unverdächtig ist, der CDU oder der CSU anzugehören. Er hat gesagt: Wir sind noch nicht auf der Zielgeraden! – Herr Daldrup, er hat gesagt: Wir haben noch einen ganz schönen Weg zu machen, und da sind noch einige Hürden. – Und: Er spricht sich auch für ein Flächenmodell aus. Minister Hilbers aus Niedersachsen hat gesagt: Man kann gar nicht von einer Einigung sprechen. Die einzige Einigung, die es tatsächlich gegeben hat, besteht darin, dass der Bundesfinanzminister seine Hausaufgaben jetzt macht und endlich einen konkreten Gesetzentwurf vorlegt, über den wir diskutieren können, damit wir endlich einmal aus der Diskussion der Eckpunkte herauskommen. ({11}) Was geschieht aber, wenn uns nicht gelingen sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles zusammenzubinden? Der FDP möchte ich nur – sie ist ja auch Teil dreier Landesregierungen – den Hinweis geben: In Nordrhein-Westfalen seid ihr mit der Landesregierung ja auf dem Weg eures Antrags, aber was ich in den Diskussionen mit Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz erleben muss, hat mit eurem Antrag recht wenig zu tun. ({12}) Von daher bitte ich, nicht nur hier Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern auch bei einigen Landesregierungen, damit das vielleicht bald etwas anders aussieht. ({13}) Wenn aber all das nicht zum Ergebnis führt – und wir werden nur über die Länder gehen können, und die Länder müssen einen Kompromiss finden – und kein Kompromiss gefunden wird, sind wir gut beraten, noch einmal darüber nachzudenken, hier ein Freigabegesetz zu machen und den Ländern die Möglichkeit zu geben, eigene Grundsteuergesetze zu erlassen, weil die Anforderungen in Nordrhein-Westfalen und Bayern vielleicht andere sind als in Hamburg, Berlin oder Bremen. Das wäre ein Beweis von Föderalismus, den wir hier antreten könnten, und von daher wäre ich sehr für eine Regionalisierung, auch wenn mir der Kollege Daldrup dann unterstellt, ich sei nicht mehr ganz bei Trost. Ich hoffe, du weißt, es ist anders. ({14}) Trotzdem mache ich den Vorschlag: Wir sollten über die Regionalisierung konkret nachdenken. Dann gelangen wir vielleicht über die Länder zu einem guten Ergebnis. Die Länder sind ja in der Lage, sich zusammenzutun, um gemeinsam etwas zu machen, und dann kommen die Steuern dahin, wo sie hingehören. Im Grundgesetz steht schon jetzt, dass die Kompetenz hierfür bei den Ländern liegt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Udo Theodor Hemmelgarn für die AfD. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Die Forderung nach Abschaffung der Grundsteuer erschien bis vor wenigen Monaten noch als radikaler Schritt, der von vielen als unrealistisch zurückgewiesen wurde. Mittlerweile wird diese Forderung auch in der „Welt“ und in der „Wirtschaftswoche“ erhoben. Man hat auch hier erkannt, dass es in dieser Frage keine gute und gerechte Lösung geben wird. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2018 ist die Grundsteuer in ihrer jetzigen Form verfassungswidrig ({0}) und darf so nicht mehr erhoben werden. Allerdings weiß niemand ganz genau, wie eine Reform aussehen soll. Derzeit gibt es fünf Modelle: das Verkehrswertmodell, das Kostenwertmodell, ({1}) das Bodenwertmodell, das Äquivalenzmodell und die jüngste Eigenkreation des Bundesfinanzministers. Alle Modelle haben drei Punkte gemeinsam: Sie sind kaum verständlich, ({2}) schwierig umzusetzen, und niemand weiß wirklich genau, wie die Grundsteuer danach in Deutschland aussehen würde. ({3}) Eines weiß man allerdings ganz genau: All diese Modelle würden dazu führen, dass die Grundsteuer in den Ballungsräumen massiv steigt und sich die Mietnebenkosten dort weiter erhöhen. ({4}) Praktisch dürfte es unmöglich sein, eine angemessene und gerechte Ausgestaltung der Grundsteuer zu erreichen. Die Grundsteuer ist eine Art Lebenssteuer; sie wird von allen Bürgern in diesem Land gezahlt – von den Eigentümern direkt und von den Mietern indirekt über die Mietnebenkostenabrechnung. Es wäre ein gefährlicher Fehler, die Frage der Grundsteuer zur ideologischen Kampflinie zwischen Arm und Reich zu machen. ({5}) Das gefährdet nicht nur die Investitionsbereitschaft, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den wir heute in diesem Land so dringend brauchen. ({6}) Anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, Millionen von Mietern bei den Mietnebenkosten sofort zu entlasten, wählt diese Bundesregierung mit bekannter und beängstigender Sicherheit wieder einmal den falschen Weg. Sie erschafft damit ein teures bürokratisches Monstrum, das niemand versteht und das niemandem etwas bringt. Die Umsetzung der geplanten Reform wird zu einer Mehrbelastung der Finanzverwaltungen und damit auch zu höheren Verwaltungskosten führen. Ein Mehr an Gerechtigkeit werden Sie damit nicht erreichen. ({7}) Reformfähigkeit und Zukunftsfähigkeit sehen anders aus. Wir wissen natürlich ganz genau, dass die Kommunen in besonderer Weise an der Grundsteuer hängen. Dabei geht es sowohl um die Einnahmen von bundesweit 14 Milliarden Euro jährlich als auch um eine der letzten Steuern, die komplett von den Kommunen erhoben wird. Den Kommunen muss hier eine alternative Steuerquelle eingeräumt werden, die die Grundsteuer in voller Höhe kompensiert und ihnen gleichzeitig ein eigenes Hebesatzrecht einräumt. Mit der Abschaffung einer Steuer würden die allmeisten hier in diesem Hohen Hause politisches Neuland betreten. Das kennen Sie nicht. Wir fordern Sie auf: Nutzen Sie die Gelegenheit, Millionen von Mietern und Eigentümern in diesem Land zu entlasten. Hören Sie auf, Parteipolitik zu machen, und stimmen Sie für unseren Antrag. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie können nahezu jede Ökonomin und jeden Ökonomen fragen: Die Grundsteuer ist eine der gerechtesten und effizientesten Steuern, die wir haben. ({0}) Das gilt jedoch nur dann, wenn sie eine echte Grundsteuer ist. Eine echte Grundsteuer muss an den Wert von Grund und Boden anknüpfen. ({1}) Alles andere ist Murks und Pfuscherei. Genau das finden wir in den beiden Anträgen der FDP und der AfD. ({2}) Die FDP versucht das Ganze wieder einmal mit der Entbürokratisierungsmasche. Unter dem Vorwand des angeblich so komplizierten Modells von Olaf Scholz fordern Sie die Einführung des Flächenmodells. ({3}) Doch weder ist das Modell von Olaf Scholz sonderlich bürokratisch, noch lässt sich das Flächenmodell verfassungsrechtlich umsetzen. ({4}) Da erwarte ich auch einfach mehr Ehrlichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Sagen Sie doch einfach, Sie wollen keine nervige Steuer, die auch nur irgendetwas mit Vermögen zu tun hat. ({5}) Sie nennen das Entbürokratisierung, aber in Wirklichkeit geht es Ihnen doch nur um den Schutz von Villen und Lofts. ({6}) Oder wie begründen Sie sonst, dass sie diese genauso besteuern wollen wie Wohnungen von Menschen mit geringem Einkommen? Wie würde eigentlich Ihr Gesetz heißen? Das Billige-Villa-für-Reiche-Gesetz? Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Fragen sollten sich aber nicht nur Sie stellen, sondern auch unsere Kollegen aus Bayern. ({7}) Sie würden zwar gerne Politik für Bayern machen, aber wer die Einnahmequelle von Kommunen gefährdet, der gefährdet auch bayerische Schulen, bayerische Straßen und bayerische Feste. ({8}) Liebe CSU, das kann doch keine Bayernpolitik sein. Hören Sie auf, die Bundesrepublik mit Ihrer Politik in Geiselhaft zu nehmen. ({9}) Zeigen Sie, dass Sie für die Kommunen in diesem Land Verantwortung übernehmen können. Oder wollen Sie so verantwortungslos sein wie die AfD? Die AfD fordert die Abschaffung einer der ältesten Steuern, die es in Nationalstaaten gibt. Da können Sie doch gleich die Abschaffung von Staaten fordern. Dann verschwinden aber auch die Grenzen, die Sie sonst so hochhalten. Der Antrag der AfD zeugt nur von einem Punkt: Es fehlt dieser Partei auch an steuerpolitischen Ideen. ({10}) Das ist ganz einfach zu sehen. Immer wenn Sie nicht wissen, was Sie im Finanzausschuss sagen sollen, fordern Sie die Abschaffung der Gewerbesteuer, der Grundsteuer, der Erbschaftsteuer. Dass Sie damit aber auch Schulen, Straßen und die Sicherheit in diesem Land gefährden, ist Ihnen egal. ({11}) Aber Sie erhalten ja Ihre Spenden von Millionären und Milliardären, die sich diese Dinge selbst leisten können. Also, wenn Sie unserem Land eine Freude machen wollen, dann schaffen Sie sich doch einfach selbst ab. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Grundsteuer ist ein wichtiges kommunales Finanzierungsinstitut mit einem eigenen Hebesatzrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 10. April 2018 nicht die Grundsteuer verworfen, wohl aber die derzeitige Berechnungsmethode. ({0}) Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb vereinbart, eine einfache, transparente und aufkommensneutrale Bemessungsgrundlage zu schaffen. ({1}) Das wollen wir von der CDU/CSU zügig und korrekt umsetzen, meine Damen und Herren. Gut ein Jahr nach dem Karlsruher Urteil liegt noch immer kein abgestimmter Gesetzentwurf vor. Wir müssen aber bis zum Jahresende ein neues Gesetz verabschiedet haben. Es geht jetzt darum: Bleibt es bei einer Objektsteuer nach einer einfachen Flächenbemessung, oder gibt es eine neue, bürokratische und teure Mietersteuer nach Mieten, Bodenrichtwert und Baujahren? Diesen Weg halten wir für falsch, für einen Irrweg. Das wollen wir nicht. ({2}) Grundsätzlich ist die Grundsteuer ja eine Objektsteuer, die zur Kompensation von Infrastrukturleistungen ({3}) und zu nichts anderem in den Kommunen erhoben wird. ({4}) Deshalb treten wir nachdrücklich über ein Einfach-Flächenmodell ein. Warum diesem Modell jetzt Eckpunkte des Bundesfinanzministers mit einer komplizierten, bürokratieintensiven und wertabhängigen Mietersteuer gegenübergestellt werden, erschließt sich mir nicht. Das war so auch nicht vereinbart, meine Damen und Herren. ({5}) Richtig: Die Eckpunkte sind inzwischen vom Bundesfinanzministerium immer wieder verändert worden und durchaus auch mit Pauschalen versehen worden. Aber die Eckpunkte sind dadurch nicht wirklich besser geworden. Das Ministerium kommt nach wie vor nicht mit einer Objektsteuer daher, sondern mit einer verkappten Einkommen- und Vermögensteuer, wie eine Steuererhöhung, die leistungsgerechter sein soll. Sie wollen eine Gewinnbesteuerung. Die Frau Kollegin Kiziltepe ist eine ehrliche Haut. Sie hat in ihrer Rede gerade gesagt: Ja, wir wollen an die Vermögen ran. – Es ist also klar: Sie haben hier die Einführung der Vermögensteuer im Blick. Dabei kann es natürlich mit der Grundsteuer keine Einzelfallgerechtigkeit nach dem Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit geben. ({6}) Zum einen, weil in einem Gebäude zumeist Mieter mit höchst unterschiedlichen Einkommen leben, die aber gleich hoch belastet würden. Es gibt in einem Gebäude ärmere und reichere Mieter. ({7}) Da können Sie doch nicht hergehen und sagen: Wir wollen alles über einen Kamm scheren, um Leistungsgerechtigkeit zu erreichen. ({8}) Zum anderen, weil die einzige Leistung, an die die Leistungsgerechtigkeit anknüpfen könnte, die Bereitstellung und der Unterhalt der Infrastruktur in den Kommunen ist, nicht die Bodenrichtwerte. Diese sind nach Verkäufen und nach Kaufverträgen zufällig zusammengestellt, die in diesem Bereich zufällig getätigt wurden. Das ist doch nicht gerecht. Die Mieter sind davon abhängig, was dort geschieht, ohne darauf Einfluss zu haben. Der Nutzwert wird dadurch überhaupt nicht verbessert; auch das muss man klar sagen. Dies ist eben nicht vom Einkommen der Mieter oder von der Höhe der Mieteinnahmen abhängig. Deshalb sollte der Einfachheit bei der Grundsteuer der Vorrang eingeräumt werden. ({9}) Meine Damen und Herren, wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Reform im Einzelfall nicht zu regelmäßigen, automatischen Steuererhöhungen, nicht zu einer explosionsartigen Mieterhöhung, zu Mietaufschlägen, nicht zu kostenintensiver Bürokratie und zu neuen Ungerechtigkeiten führt. Wir müssen darauf achten, dass wir insbesondere auch den mittelständischen Betrieben keine zusätzlichen Lasten aufbürden. Gewerblich genutzte Grundstücke und Gebäude oder Mischobjekte mit fiktiven Mieten nach einem Ertragswertverfahren zu besteuern, ist gewiss keine Förderung unseres Wirtschaftsstandortes. ({10}) Das ist eine Fehlallokation, eine Besteuerung, die wir gar nicht benötigen. Wir brauchen Wachstum und keine Überforderung von Gewerbebetrieben. Jede Wertkomponente bei dem Modell, das Herr Scholz vorgeschlagen hat, führt zwangsläufig, vor allem in den jetzt schon teuren Ballungsgebieten, zu permanenten automatischen Steuererhöhungen, ohne dass sich der Wohnwert für die Mieter oder der Nutzungswert eines Betriebes erhöht. Das, meine Damen und Herren, ist für mich nicht leistungsgerecht. Das ist sozial unverträglich. Das ist den Steuerzahlern letzten Endes nicht vermittelbar, weil es auch nicht transparent ist. Wir sollten letzten Endes die Überlegung, die Gesetzgebung zur Grundsteuer auf Länderebene auszuweiten, nicht verteufeln. Das ist kein Querschlag, kein Spielchen, sondern das geschieht im Rahmen des Grundgesetzes. Das Abrücken von einem Bundesgesetz ist nach Artikel 125a Grundgesetz möglich und wegen völlig unterschiedlicher Strukturen und Verhältnisse in den einzelnen Ländern bei der Grundsteuer sinnvoll. Die Einheit des Bundes ist dadurch nicht gefährdet, meine Damen und Herren. Bei der Föderalismusreform war es gerade der Wunsch aller Länder, eigene Steuerhoheit zu erhalten. Bei der Grundsteuer können wir diesen Wunsch aus der Föderalismuskommission erfüllen. Letzten Endes muss man, glaube ich, das Grundgesetz sowieso ändern, weil die Fortgeltung der Gesetzgebungshoheit des Bundes bei der Grundsteuer nicht automatisch vorhanden ist. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Michelbach, Sie müssen zum Schluss kommen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sie müssen in jedem Fall eine Grundgesetzänderung machen. Daher ist es sinnvoll, sich auch mit dem Grundgesetz im Hinblick auf die Länder zu befassen. Lieber Kollege Daldrup, es sind keine Querschläge und Spielchen. Ich übergebe Ihnen ein Grundgesetz. Sie werden sehen, was darin steht. Schauen Sie sich Artikel 125a Grundgesetz an, Herr Daldrup. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wenn Sie beide an der weiteren Debatte teilnehmen wollen, dann lauschen Sie jetzt dem letzten Redner in dieser Debatte. Das ist der Kollege Michael Schrodi für die Fraktion der SPD. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Grundsteuerreform geht es um die Frage, ob und vor allen Dingen wie die zweitwichtigste Einnahmequelle der Kommunen – und damit die Finanzierung von Schulen, Kindergärten, Senioreneinrichtungen und vielem mehr – erhalten bleibt. Wenn AfD und FDP das Wort „Steuern“ hören, tritt der Pawlow’sche Reflex ein. Die FDP sagt: „Oh Gott, bürokratischer Aufwand!“, die AfD sagt: Sofort abschaffen! – Das ist unseriös. Wenn wir hören, wie die AfD das kompensieren will – Frau Weidel sagt nämlich: „Wir wollen dann Mittel für Arbeit und Soziales streichen“, also Mittel für Renten und das Kindergeld streichen –, dann sagen wir: Das ist auch unsozial und mit uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Die FDP und die AfD sind zumindest offen und ehrlich. Sie sagen: Es ist eine Besteuerung des Grundvermögens. – Ja, es ist die letzte wertbezogene Steuer. Das Bundesverfassungsgericht hat uns diesen Wertbezug übrigens aufgetragen; das hören manche hier nicht gerne. Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen die Steuer gerecht ausgestalten, ({1}) wir wollen sie einkommensneutral ausgestalten, und wir wollen, dass sie den Kommunen weiterhin zugutekommt. ({2}) Wir sind doch auf einem guten Weg. Wir haben eine Einigung auf Eckpunkte mit 15 Bundesländern, ({3}) wenn nur der schwarze Geist, der stets verneint und Söder heißt, nicht wieder dazwischenschießen würde, ({4}) übrigens ohne einen substanziellen Vorschlag dazu zu machen. ({5}) Sie beziehen sich auf ein reines Flächenmodell ohne Wertbezug und behaupten, das sei besser. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben beide Modelle durchgerechnet; Ihnen liegen die Zahlen doch auch vor. Die Effekte des Flächenmodells will ich Ihnen noch mal deutlich machen. Erstens. Ein Flächenmodell bedeutet, dass ein Grundstück oder ein Haus eines Fußballprofis in München – manche essen ihr Steak ja vergoldet – ebenso bewertet würde wie ein gleich großes Grundstück am Stadtrand oder eines im Coburger Land oder in Thüringen. ({6}) Das ist vielleicht einfach, aber nicht gerecht und übrigens auch nicht verfassungskonform. Deswegen machen wir das nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({7}) Zweitens. Die Belastung verändert sich. Das muss man den Menschen draußen sagen. Unser Modell spiegelt die tatsächliche Wertentwicklung wider, was eine geringere Belastung für Wohngrundstücke und eine Wertsteigerung bei Geschäftsgrundstücken und bebauten Grundstücken bedeuten würde. ({8}) Ihr Modell der Flächensteuer würde Folgendes für die Menschen bedeuten: höhere Belastung von Wohngrundstücken und eine Entlastung von Geschäftsgrundstücken. – Für München bedeutet das: Google oder Siemens kommen günstiger weg, während sich Wohngrundstücke verteuern. ({9}) Auch das ist nicht mit uns zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das wollen wir nicht! Wir wollen eine wertbezogene, gerechte Besteuerung. ({10}) Zur Versachlichung sage ich in Richtung FDP, AfD und CDU/CSU: Die Höhe der Grundsteuer legen die Kommunen aufgrund ihres Hebesatzrechtes fest. Wir wollen es aufkommensneutral machen. Die Grundsteuerbelastung hat also etwas mit dem Hebesatz zu tun. Derzeit liegt sie bei 19 Cent pro Quadratmeter. Die Grundsteuer ist und wird nicht der Mietpreistreiber sein. Stattdessen müssen wir mehr für den öffentlichen Wohnungsbau tun. Da sind wir auf einem guten Weg. Das ist unser Weg, um für mehr bezahlbaren Wohnraum zu sorgen. Da Herr Söder aber behauptet, etwas für Mieterinnen und Mieter tun zu wollen, soll er sich dem Vorschlag der SPD anschließen, die Umlagefähigkeit der Grundsteuer bei Mieterinnen und Mieter aus der Betriebskostenverordnung zu streichen. Dann können wir auch hier etwas tun, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({11}) Bis zum Ende des Jahres brauchen wir einen verfassungskonformen Gesetzentwurf. Das Modell der Flächensteuer ist es nicht. Wir wollen starke Kommunen; ich gehe davon aus, dass wir alle das wollen. Deswegen lautet meine Aufforderung: Gehen Sie gemeinsam mit uns den Weg, den das BMF und die 15 Landesregierungen beschritten haben. ({12}) Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und darauf, dass wir die Grundsteuer für die Kommunen erhalten können. Das ist nämlich unser wichtiges Ziel an dieser Stelle. Danke schön. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8556 und 19/8544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät und beschließt heute das Starke-Familien-Gesetz. Unser Ziel ist es, Familien mit kleinen und mittleren Einkommen wirksam vor Armut zu schützen und dafür zu sorgen, dass sich Erwerbstätigkeit auch bei kleinen Einkommen in Deutschland mehr lohnt. Besonders – das ist mir sehr wichtig – Alleinerziehende und ihre Kinder werden davon profitieren. Meine Damen und Herren, viele von Ihnen kennen mich seit vielen Jahren als Kollege hier im Parlament und seit einem Jahr auch als Bundesminister für Arbeit und Soziales. Ich komme aus Norddeutschland. Da ist man manchmal ein bisschen nüchterner und neigt nicht dazu, viel Persönliches zu erzählen. Aber ich will Ihnen an dieser Stelle – da bitte ich um Verständnis – etwas Persönliches sagen. Ich bin Sohn einer alleinerziehenden, voll berufstätigen Mutter. Meine Mutter hat in den 70er- und 80er-Jahren zwei Kinder großgezogen – ohne Unterhalt, mit hohen Schulden, die mein Vater hinterlassen hat. Es gab nicht die Möglichkeiten der Kinderbetreuung, die wir heute haben. Es gab auch keinen Kinderzuschlag, es gab kein Bildungs- und Teilhabepaket. Ich weiß deshalb aus eigener familiärer Erfahrung, wie schwer es alleinerziehende Männer und Frauen in Deutschland trotz aller Verbesserung haben. Deshalb ist heute für mich ein berührender Tag. Es ist höchste Zeit, dass wir mehr tun für alleinerziehende Mütter und Väter in Deutschland. Das Starke-Familien-Gesetz ist ein großer Schritt in diese Richtung. ({0}) Vor allem aber geht es um die Kinder. Es geht darum, ihnen unabhängig von ihrer Herkunft eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Wir wollen, meine Damen und Herren – das verbindet meine Kollegin Franziska Giffey und mich sowie die gesamte Koalition –, dass es jedes Kind in Deutschland packt. Nicht Herkunft, sondern Talent und Leistung sollen sich in diesem Land entfalten. Auch das ist ein Beitrag zur Gleichstellung von Kindern in Deutschland. ({1}) Mit diesem Gesetz wird der Alltag für Familien mit kleinen und mittleren Einkommen leichter, weil sie zusätzlich zum Kindergeld den Kinderzuschlag bekommen. Durch die Neuregelung werden Unterhalt und Unterhaltsvorschuss künftig nicht mehr voll auf den Kinderzuschlag angerechnet. Dadurch haben vor allen Dingen Alleinerziehende mehr Spielraum im Portemonnaie. Mit der Verbesserung im Bildungs- und Teilhabepaket sorgen wir für ein kostenloses Mittagessen in den Schulen, Kitas und Kindertagespflegeeinrichtungen, und wir schaffen auch die Möglichkeit zur kostenfreien Schülerbeförderung. Ganz wichtig ist mir, dass wir in diesem Zusammenhang endlich auch das Schulstarterpaket kräftig erhöhen, nämlich auf 150 Euro. ({2}) Es ist wichtig, dass Kinder unabhängig von ihrer Herkunft Chancen auf gleiche Bildung haben. Deshalb ist es auch richtig, dass wir den Zugang zur Lernförderung – zur Nachhilfe, um es deutlicher zu sagen – dann ermöglichen, wenn er gebraucht wird, und nicht erst, wenn das Kind akut versetzungsgefährdet ist; dann ist es ja meistens zu spät. Wir verhelfen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft zu besseren Bildungschancen. Das ist gut für das ganze Land und nutzt vor allen Dingen den Kindern. ({3}) Die Möglichkeiten, die wir geschaffen haben, summieren sich für Familien – wenn dazu auch die Befreiung von Kitagebühren durch das Gute-Kita-Gesetz zählt – leicht auf mehrere Hundert Euro. Wir verbessern übrigens auch die Situation von Familien mit höheren Bedarfen, zum Beispiel bei den Wohnkosten. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz führt dazu, dass künftig 1,2 Millionen mehr Kinder Anspruch auf den Kinderzuschlag haben. Insgesamt sind es dann 2 Millionen. Wir bauen unnötige Bürokratie ab, und wir helfen mit dem Kinderzuschlag Familien, die bisher als Aufstocker im Jobcenter waren, aus der Grundsicherung herauszukommen. Das ist konkrete Politik für Familien in Deutschland. ({4}) Das Bildungs- und Teilhabepaket unterstützt Familien mit Sozialleistungen oder kleinen Einkommen. Darauf haben alle Familien ein Recht, die in der Grundsicherung sind, den Kinderzuschlag, der jetzt ausgeweitet wird, erhalten oder Wohngeld beziehen. Das sind zukünftig insgesamt 4 Millionen Kinder in Deutschland. Ja, es stimmt ohne Zweifel, dass es nach wie vor eine Antragsleistung ist und dass bisher der Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket zu bürokratisch waren und zu viele Menschen, die ein Recht darauf hätten, es nicht in Anspruch genommen haben. Ich habe mir den entsprechenden Antrag noch einmal angeschaut – wir werden ihn digitalisieren –, er umfasst vier Seiten; das ist nicht unüberwindbar. Meine Bitte an alle hier im Parlament und in der Opposition, die das auch noch für viel zu viel halten: Helfen Sie zumindest mit, dass das Gesetz in der Praxis mehr wirkt, indem Sie in Ihren Wahlkreisen darüber aufklären, was das Starke-Familien-Gesetz für 4 Millionen Kinder in Deutschland bedeutet. ({5}) Helfen Sie, dass diejenigen, die ein Recht darauf haben, auch zu ihrem Recht kommen. Wir stärken Familien und sorgen für mehr Chancengleichheit in Deutschland. Dem großen liberalen Arzt und Politiker Rudolf Virchow wird ein Zitat zugeschrieben, ich weiß nicht genau, ob es stimmt; aber es ist ein schönes Zitat. Er hat gesagt: Freiheit hat zwei Töchter: Bildung und Gesundheit. – Ich finde, das ist die richtige Idee für die Zukunft aller Kinder in unserem Land. Mit dem Starke-Familien-Gesetz gehen wir einen großen Schritt nach vorn. Ich danke für die Unterstützung im parlamentarischen Verfahren, für die Verbesserungen vonseiten der Koalitionsfraktionen. Das ist ein wichtiger Tag für Familien in Deutschland. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Martin Reichardt für die Fraktion der AfD. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute nicht in erster Linie über Gesetzentwürfe, Anträge oder Drucksachen. Wir reden über Kinder und Familien. Wir reden über das Mädchen, das sich mit kaltem Wasser waschen muss, weil die Warmwasserversorgung abgestellt wurde. Wir reden über den Jungen, der an keiner Geburtstagsfeier teilnimmt, weil das Geld für Geschenke nicht da ist. Wir reden über die alleinerziehende Mutter, die sich einen milden Winter wünscht, weil Winterstiefel teuer sind. Wir reden von ausgegrenzten Kindern und oft verzweifelten Eltern. Wir reden von Mut- und Hoffnungslosigkeit. Wir reden über Kinder, die keine Zukunft haben; denn aus armen Kindern werden oft chancenlose Erwachsene. Mit jedem Gesetzentwurf, mit jeder Drucksache, über die wir hier entscheiden, entscheiden wir über die Zukunft von Millionen von Kindern. Wir entscheiden darüber, ob sich die Zukunft von Familien mit mehr als drei Kindern, die jetzt schon zu über 27 Prozent von Armut bedroht sind, verbessert. Wir haben hier kein Recht, diesen Kindern schon heute ihre Zukunft zu verbauen. ({0}) Für diese Kinder und Familien mag es auch ein bisschen wie Hohn klingen, dass die Regierung ein Klimakabinett einberufen hat, das die Fragen des angeblich menschengemachten Klimawandels besprechen soll. Warum, meine Damen und Herren, gibt es kein Kinderkabinett, das Kinderarmut in Deutschland mit Nachdruck bekämpft? ({1}) Ein Kinderkabinett, in dem alle Ministerien und insbesondere auch unsere Kanzlerin gegen Kinderarmut und für Kinder und Familien in Deutschland eintreten! Kinder und Familien brauchen keine ideologisch gefärbten Debatten. Sie brauchen eine Allianz aller Fraktionen im Bundestag, die den Mut und den Willen haben, über Fraktionsgrenzen hinweg Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. ({2}) Es gibt über 150 Familienleistungen in Deutschland. Sie sind verbunden mit Anträgen, Formularen und Wartezeiten. ({3}) Ein herausragendes Beispiel für diese Wartezeiten ist der Kinderzuschlag, den Frau Familienministerin Giffey im Starke-Familien-Gesetz reformieren wollte. Der Kinderzuschlag ist und bleibt ein Bürokratiemonster. Er hat in der Vergangenheit nicht dazu beigetragen – er wird das auch in Zukunft nicht tun –, Familien wirklich starkzumachen. Familienministerin Giffey findet immer starke Worte für ihre Gesetze, aber leider keine starken Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut. Wir werden uns diesem Gesetz – da es ja in geringem Maße doch etwas für Kinder und Familien tut – nicht entgegenstellen. Wir können uns aufgrund seiner eklatanten Mängel aber leider nur enthalten. ({4}) Hinzu kommt, dass der Staat das, was er den Kindern und Familien auf der einen Seite gibt, auf der anderen Seite wieder nimmt, unter anderem über die Mehrwertsteuer. Daher fordern wir als AfD in unserem Antrag 7 Prozent Mehrwertsteuer auf Produkte und Dienstleistungen für Kinder. ({5}) Mit der Senkung der Mehrwertsteuer werden alle Familien direkt entlastet. Der hohe Mehrwertsteuersatz belastet Familien überproportional. Denn gerade Familien mit geringem Einkommen decken fast ausschließlich ihre Grundbedürfnisse ab: Windeln, Schuhe, Bastelmaterial, Kleidung. Jeder, der selbst Kinder hat – vielleicht auch mehrere –, kennt diese Kosten und kann sie ermessen. Allein bei der Erstausstattung für Neugeborene und bei Kinderkleidung würde eine Umsatzsteuersenkung 400 Euro mehr im Jahr für Familien bedeuten. Außerdem entlastet die Senkung der Mehrwertsteuer die besonders von Armut bedrohten Geringverdiener und Familien mit mehr als drei Kindern. Die Mehrwertsteuer in Deutschland ist leider familienblind. Familienblind waren auch die Regierungen der letzten Jahrzehnte. Steuerbegünstigt sind in Deutschland mit einer Mehrwertsteuer von 7 Prozent Kunstgegenstände, Rennpferde, Trüffel und Hotelübernachtungen. Die Forderung ist nicht neu, aber wir greifen sie freudig und optimistisch auf. 2011 wurde die Kampagne „7 % für Kinder“ gestartet. 2017 forderte Wirtschaftsministerin Zypries die Senkung der Mehrwertsteuer für Kinderprodukte. Und im Sommer 2018 wurde auch in Thüringen darüber diskutiert. Vertreter der dortigen Koalition, Linke, SPD und Grüne, sprachen sich dafür aus, dass der niedrige Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für alle Produkte und Dienstleistungen für Kinder gelten sollte. Über die Höhe der Mehrwertsteuer in Deutschland kann aber nur der Bundestag entscheiden. Lassen Sie uns für eine bessere Zukunft unserer Kinder entscheiden; ({6}) denn Kinder sind nicht links oder rechts, sie sind nicht rot oder grün oder blau. Sie sind einfach unsere Kinder. Ich bitte Sie daher in aller Form und abseits von jeglichem parteipolitischen Kalkül um Zustimmung für unseren Antrag. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Marcus Weinberg. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gern an das anknüpfen, was der Herr Minister berichtet hat. Viele von uns kennen diese Lebenssituation aus eigener Anschauung oder von Kindern, mit denen sie mal gearbeitet haben, die sie unterrichtet haben. Wir machen Gesetze ja nicht abstrakt und theoretisch. Dieser Gesetzentwurf ist sehr konkret. Sie können anhand vieler Beispiele ausrechnen, welche Vorteile die vorgesehenen Veränderungen für Alleinerziehende, für Menschen, die es schwer haben, für Menschen, die für ihre Kinder Bildung und Teilhabe erleben wollen, bringen. Wir können ganz konkret sagen: Die Vorteile, die das Gesetz bringt, kann man sehen. Deshalb ist das ein guter Gesetzentwurf, den wir, also Regierung und Parlament gemeinsam, im parlamentarischen Prozess gegenüber dem Entwurf von vor fünf Wochen noch etwas besser gemacht haben. Darauf können wir auch ein wenig stolz sein. ({0}) Herr Reichardt, Sie reden ja sehr überzeugend von Kindern. Ich wünschte, Sie würden auch mal über Kinder sprechen, die in Syrien Krieg erleben und Verfolgung erleiden mussten, und sagen, wie Sie mit diesen Kindern umgehen wollen; denn auch diese Kinder haben Rechte. ({1}) Ich bitte Sie, nicht zu unterscheiden. Das ist uns wichtig. Wir reden über die Kinder in diesem Land, die eine Zukunft haben sollen. ({2}) – Lautstärke hilft Ihnen da auch nicht. – Ich fand es spannend, dass wir das, was wir im Koalitionsvertrag verankert haben, auch bei den Änderungsanträgen umgesetzt haben. Dass den Änderungsanträgen zugestimmt wurde oder man sich zumindest enthalten hat, war auch ein Zeichen der Opposition. Das Gesetz hat zwei Ebenen, nämlich den Bereich „Bildung und Teilhabe“ und den Bereich „Kinderzuschlag“. Das ist für uns in der Familienpolitik ein wichtiges Thema. Warum ist das so? Weil der Kinderzuschlag eine der besten familienpolitischen Leistungen ist, die es gibt. Das sagen alle Studien, und auch diejenigen, die ihn bekommen, wissen das. Der Kinderzuschlag stärkt diejenigen, die sagen: Ich arbeite, ich arbeite hart; aber ich habe Kinder. – Es darf nicht sein, dass Menschen, die arbeiten und Kinder haben, in Armut leben müssen. Der Kinderzuschlag ist ein Anreiz, weiterhin zu arbeiten. Das trägt zum Selbstwertgefühl der Menschen bei. Wenn das Geld dann nicht ganz reicht, sagen wir, dass das nicht dazu führen darf, dass Kinder in Armut leben müssen. Deswegen ist die Erhöhung des Kinderzuschlags auf 185 Euro für uns wesentlich. Das heißt, Kindergeld und Kinderzuschlag machen das sächliche Existenzminimum aus. Das wird dynamisiert, sodass wir nicht alle paar Jahre bei der Frage, wie hoch die Summe sein sollte, hinterherhecheln müssen. Die Abbruchkante – das ist ein Antagonismus: man verdient 10 Euro mehr und verliert dann den kompletten Anspruch auf den Kinderzuschlag – wird endlich abgeschafft. Das ist richtig so. Die Vereinfachung durch einen einheitlichen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten – die FDP fordert zwölf Monate – und durch feste Bemessungszeiträume ist auch richtig. Ich finde es vernünftig, dass wir den Zeitraum anpassen. Eines ist beim Thema Kinderzuschlag wichtig: Es gibt Familien, die heute keinen Anspruch auf diese Leistungen haben, weil ihr Erwerbseinkommen 30, 40, 50 Euro zu niedrig ist. Sie hätten eigentlich einen Anspruch auf SGB‑II- oder SGB‑XII-Leistungen. Sie sagen sich aber: Nein, ich mache das nicht, weil ich es nicht will, weil ein Gang zum Amt für mich persönlich nicht zu ertragen ist. – Wenn sie dann aber zehn Monate lang 30, 40, 50 Euro weniger in der Tasche haben, kommt für diese Familien eine ganze Menge zusammen. Ich finde es klug und wichtig, hier einen erweiterten Zugang zu schaffen. Wir sagen: Diese verdeckte Armut – so muss man sie bezeichnen – bekämpfen wir, indem wir diesen Familien zugestehen, den Kinderzuschlag zu erhalten, wenn ihnen mit ihrem Erwerbseinkommen, dem Kinderzuschlag und dem Wohngeld höchstens 100 Euro fehlen, um Hilfebedürftigkeit nach SGB II zu vermeiden. Das ist eine gute Maßnahme, mit der wir diesen Menschen Sicherheit geben, ihr Leben zu organisieren. Das Thema Alleinerziehende wurde angesprochen. Ich will das ausdrücklich unterstreichen; denn gerade Alleinerziehende arbeiten hart und müssen trotzdem zusehen, wie sie Armut für ihre Kinder abwenden können. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir die Reglung zur Anrechnung des Unterhaltsvorschusses, also des Kindeseinkommens, ändern, und es nur noch zu einem Teil, zu 45 Prozent, anrechnen. Es kann ja nicht sein, dass man auf der einen Seite einen Anspruch hat und auf der anderen Seite eine andere Leistung, in diesem Fall der Unterhaltsvorschuss, komplett angerechnet werden muss. Ich finde es gut und klug, dass man hier eine neue Lösung schafft und nur noch einen Teil anrechnet. Die Menschen sehen daran: Aha, es lohnt sich für uns. BuT, Bildung und Teilhabe – darauf werden die Kollegen noch näher eingehen –, sind wichtige Leistungen; denn das Zweite, was uns bei der Bekämpfung der Kinderarmut im finanziellen Bereich wichtig ist, ist der Zugang zu Bildung und Teilhabe für diese Kinder. Bildung ist das Brot der modernen Gesellschaft. Das heißt, wir haben mit den Änderungen, die wir im parlamentarischen Verfahren ergänzt haben, jetzt noch einmal deutlich gemacht, dass wir die Schwerpunkte hier richtig legen. Sie liegen auf den Themen „Schülerbeförderung“, „Mittagessen“ und „Nachhilfe bzw. Lernförderung“. Uns war im parlamentarischen Verfahren wichtig, dass wir den Satz beim Teilhabebetrag von 10 auf 15 Euro erhöhen. Der alte Satz war nicht mehr ganz tauglich. Ich komme aus Hamburg. Das ist bekanntermaßen eine sporteuphorische Stadt mit zwei fast erfolgreichen Bundesligavereinen. Bei uns kostet eine Vereinsmitgliedschaft im Durchschnitt 11,98 Euro. Wenn Sie im Verein Handball spielen, ist es mit 15,86 Euro im Monat schon teurer, wenn Sie Mitglied im Schwimmverein sind, ist es mit 24 Euro noch teurer. Ich finde es gut und klug, dass man den Satz noch mal erhöht und sagt: Für gewisse Dinge muss kein gesonderter Antrag mehr gestellt werden. Das gilt zum Beispiel für Klassenfahrten. Bei anderen Dingen legen wir aber noch Wert darauf, dass ein gesonderter Antrag gestellt werden muss. Das schafft für die Familien Sicherheit. Insgesamt kann ich sagen: Es waren kluge und gute Beratungen. Wir haben umgesetzt, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Ein Thema ist der Kinderschutz; ein anderes Thema ist der Kampf gegen Kinderarmut. Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf mit den erwähnten Korrekturen und Änderungen nun ein richtig guter Gesetzentwurf ist. Ich bitte die Opposition, zuzustimmen. Das wäre ein wichtiges Signal für die Menschen in diesem Land, die dann erkennen, dass diese Koalition viel für Kinder und Familien in diesem Land gemacht hat. Deswegen bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Grigorios Aggelidis. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Heil, ich möchte mal direkt auf Ihren Einstieg eingehen und auch ein bisschen von meiner Historie berichten. Wie viele wissen, bin ich ja das klassische Gastarbeiterkind mit Migrationshintergrund, aus bildungsferner Schicht. Ich habe 30 Jahre Berufsleben hinter mir und habe 30 Jahre in die Sozialversicherungssysteme hier eingezahlt. Ich kann Ihnen sagen: Wenn jemand so spricht, wie Sie es getan haben, und ich mir angucke, welche Rentenpakete und andere Dinge Sie in den letzten Jahren beschlossen haben, dann kann ich Ihnen als Vater von zwei Kindern und als familienpolitischer Sprecher, der die nächste Generation im Blick haben muss, nur sagen: Dass Sie angesichts der ungedeckten Schecks, mit denen Sie die Zukunft genau dieser Kinder belasten, eine solche Rede hier halten, empfinde ich persönlich als Heuchelei. ({0}) Nun zu den Starke-Namen-Gesetzen, die ja Ihre Besonderheit sind: Ja, es waren dringend Verbesserungen nötig. Ja, Sie haben eine Reihe von sinnvollen und bereits seit langem notwendigen Verbesserungen hingekriegt. Sie haben im parlamentarischen Verfahren, Herr Weinberg, auch einige der Hinweise, die Ihnen die Sachverständigen, aber auch wir von der Opposition gegeben haben – Stichwort „Alleinerziehende“ –, aufgenommen. Aber Sie sind insgesamt mal wieder zu kurz gesprungen und haben eine große Chance verpasst. Das größte Problem – das wissen wir doch – ist die mangelnde Inanspruchnahme des Kinderzuschlags von nur etwa 30 Prozent. Deutlich niedriger ist die Quote beim Bildungs- und Teilhabepaket. Das bedeutet: Zwei Drittel der Familien bekommen diese Leistungen nicht, und sie werden sie auch mit diesen Maßnahmen nach wie vor nicht bekommen. Neben dem mangelhaften Zugang zu Bildung und Teilhabe sind genau das die Probleme, die dazu führen, dass die Kinder eben nach wie vor in Armut leben bzw. nicht die Chancen haben, die sie verdienen. Zum BuT und zum Schulstarterpaket haben Sie, Herr Weinberg, selber gesagt, wie unzureichend beides immer noch ist. Darauf wird mein Kollege Pascal Kober eingehen. Ich werde auf die Dinge eingehen, die wir beim Kinderzuschlag nach wie vor als große Probleme sehen und die wir mit unserem Antrag angehen wollen. Daher bitten wir Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Wir wissen, dass bei der Beantragung sowohl die Komplexität des Antrags als auch der Irrsinn der Neubeantragung – alle sechs Monate – eine große Hürde sind. Deshalb bitte ich Sie: Verlängern Sie doch auf zwölf Monate! Bei einer Verlängerung müsste man dann nicht erneut beantragen. Vielmehr müssten nur die Dinge, die sich geändert haben, genannt werden. Machen Sie es den Familien und vor allem den Alleinerziehenden doch einfach. ({1}) Folgendes liegt mir ganz besonders am Herzen – ich verstehe nicht ansatzweise, warum Sie immer noch nicht in der Lage sind, eine so einfache, aber wichtige Regelung endlich umzusetzen –: Sie haben sich dazu durchgerungen oder herabgelassen, bei der Anrechenbarkeit von eigenem Einkommen der Kinder und Jugendlichen diese völlig bekloppte 180-Euro-Grenze abzuschaffen. Das heißt: Wenn ein Kind, ein Jugendlicher mit einem Taschengeldjob mehr als 180 Euro dazuverdient – für den Führerschein oder für was auch immer –, werden von jedem Euro über dieser Grenze 100 Prozent abgezogen. Sie haben sich aber nicht dazu durchgerungen, die 45 Prozent Abzug vom ersten Euro an abzuschaffen. Warum nicht? Machen Sie es für Kinder und Jugendliche doch ganz einfach. Bestrafen Sie doch nicht Kinder und Jugendliche, die aus schwierigen Einkommensverhältnissen kommen und die sagen: Jawohl, wir sind eigenständig. Wir machen was. – Belohnen Sie sie. Ich bitte Sie auch bei diesem Punkt: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu. Schaffen Sie eine Freigrenze von 200 Euro im Monat für genau diese Kinder und Jugendlichen. Belohnen Sie sie. Motivieren Sie sie, auf eigenen Beinen zu stehen und ins Leben zu gehen. Schaffen Sie zusätzlich für einen Ferienjob einen entsprechenden Freibetrag. ({2}) Wir sind der Überzeugung: Das sind zwei wichtige Bausteine, die wirklich helfen. Insofern bitten wir auch da um Zustimmung. Trauen Sie sich. Springen Sie mal richtig weit, und bleiben Sie nicht auf der Stelle stehen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Je nach Statistik sind zwischen 2,5 und 4 Millionen Kinder in diesem Land arm. 2 Millionen Kinder leben in Bedarfsgemeinschaften, das heißt, sie beziehen Hartz IV. Was heißt das? Diese Kinder haben einen schlechteren Start ins Leben. Sie haben schlechtere Bildungschancen. Wenige von ihnen werden höhere Schul- oder Hochschulabschlüsse erreichen. Sie haben häufig eine schlechtere Gesundheit. Sie sind schlechter ernährt, und sie leben kürzer. Deswegen finden wir als Linke es richtig, dass diese Koalition anders als ihre Vorgängerkoalition, die ungefähr die gleiche war, im Koalitionsvertrag erklärt hat, man wolle sich nun auf den Weg begeben, Kinderarmut zu bekämpfen. Ich finde, das sollte man ernst nehmen. ({0}) Dafür nehmen Sie laut Ihrem Koalitionsvertrag die wahnsinnige Summe von 1 Milliarde Euro in die Hand, mit der Sie Kinderarmut nachhaltig bekämpfen wollen. Das mag der geneigte Zuschauer viel Geld finden. Ich glaube, man muss es ins Verhältnis setzen. Laut dem gleichen Koalitionsvertrag nehmen Sie 10 Milliarden Euro in die Hand, mit denen Sie den Soli abschmelzen wollen, und inzwischen fast 3 Milliarden Euro für das Baukindergeld. Das heißt: Die Förderung von Mittelstandsfamilien ist der Koalition 13 Milliarden Euro wert, die Beseitigung von Kinderarmut 1 Milliarde Euro – ein Dreizehntel davon. Ich finde, ehrlich gesagt, das ist völlig inakzeptabel. ({1}) Damit dieser Widerspruch nicht auffällt, nennen Sie das Gesetz „Starke-Familien-Gesetz“. „Starke-Familien-Gesetz“ klingt nämlich nach viel mehr als nur einem Dreizehntel von dem, was Sie für Mittelstandsfamilien und Besserverdienende tun. Das Starke-Familien-Gesetz hat zwei Säulen. Die erste Säule ist der Kinderzuschlag, die zweite Säule ist die Reform des Bildungs- und Teilhabepaketes. Bei der Reform des Kinderzuschlages gibt es, finde ich, eine ganze Reihe von guten Punkten, die man loben kann. Sie koppeln den Kinderzuschlag an das Existenzminimum. Sie schaffen die harte Abbruchkante ab, das heißt diesen unsäglichen Zustand, dass Familien, wenn sie durch eine leichte Tarifanpassung oder durch das Weihnachtsgeld sozusagen ganz aus der Förderung fallen, hinterher weniger haben als vorher. ({2}) Sie ziehen das Einkommen der Kinder weniger heran, und Sie erhöhen den Kinderzuschlag um 15 Euro. All das finden wir überhaupt nicht schlecht. Aber: Nur 30 Prozent nehmen den Kinderzuschlag überhaupt in Anspruch. Die Bundesregierung sagt – Sie haben gerade dazwischengerufen –, dass es mehr werden sollen. Das finden wir ja gut. Aber warum sagen Sie dann, dass es 35 Prozent werden sollen? Das ist doch ein Witz. Man kann doch nicht ein Gesetz machen, es „Starke-Familien-Gesetz“ nennen und sagen: Wir reformieren den Kinderzuschlag. Wenn nur 30 Prozent dieses zentrale Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut in Anspruch nehmen, setzen wir uns jetzt das ambitionierte Ziel, dass es 35 Prozent werden sollen. – Ich finde, das ist völlig unterambitioniert. Das ist ein schlechter Scherz, und damit bekämpft man keine Kinderarmut. ({3}) Ich denke, auch der Vorschlag der Grünen, der jetzt heute abgelehnt werden wird, nämlich darüber nachzudenken, dass man den Kinderzuschlag automatisch auszahlt, sollte durchaus weiter in der Diskussion bleiben. Ich glaube, das geht ungefähr in die richtige Richtung. An dieser Stelle, finde ich, ist das ein sinnvoller Vorschlag. ({4}) Die zweite Säule ist das Bildungs- und Teilhabepaket. Dieser Punkt ärgert mich, ehrlich gesagt, noch mehr; denn man muss zur Geschichte des Bildungs- und Teilhabepaketes Folgendes sagen: 2011 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Die Regelbedarfssätze im Hartz-IV-System für Kinder sind verfassungswidrig. Sie verstoßen gegen die Menschenwürde, gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, weil diese Sätze ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe nicht gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wäre es doch das Normalste und auch das Anständigste der Welt gewesen – wir wurden leider nicht beteiligt –, zu sagen: Wir berechnen diese Regelbedarfssätze so, dass sie bedarfsdeckend und existenzsichernd sind, und geben das an die Kinder weiter. – Nein, das haben Sie nicht getan. Sie haben ein bürokratisches Monster, das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket, erschaffen, um sicherzustellen, dass diese Familien ihren Anspruch eben ganz überwiegend möglichst nicht wahrnehmen, und genau das passiert auch. Die Evaluation des Bildungs- und Teilhabepaketes durch die Bundesregierung selbst hat ergeben: Erstens. Ein Drittel der Kosten fürs BuT fließen in die Verwaltung. Das ist ja aberwitzig. Sie wollen Kinderarmut bekämpfen und geben ein Drittel des Geldes für die Verwaltung aus. Zweitens. Es findet eine systematische Unterdeckung des Existenzminimums statt. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist nicht „nice to have“. Es ist Teil der Existenzsicherung von Kindern, es ist Teil des Existenzminimums. Sie haben einen Anspruch darauf. Aber die Schülerbeförderung nehmen nur 21 Prozent in Anspruch. Am Mittagessen nehmen nur 30 Prozent teil. Die Lernförderung wird nur von 8 Prozent in Anspruch genommen. Das ist die Realität. Bis zu 90 Prozent der Kinder werden durch das BuT überhaupt nicht erreicht. In der Anhörung hat die Sachverständige Frau Dr. Schöningh deutlich gemacht, warum das so ist. Sie hat abgezielt auf die klassische Kinderzuschlagsfamilie: Zwei Eltern gehen arbeiten und haben Einkommen, drei Kinder, zwei davon gehen zur Schule. Diese Familie muss jetzt nach dem Starke-Familien-Gesetz alle sechs Monate 17 Anträge – 17 Anträge! – stellen, damit die Existenz ihrer Kinder gesichert ist, und die Eltern gehen obendrein noch arbeiten. Ich finde, ehrlich gesagt, das ist völlig unangemessen. Dafür brauchen Sie starke Eltern; aber damit stärken Sie Eltern nicht. ({5}) Was bringt die BuT-Reform nun wirklich am Ende des Monats im Portemonnaie? Der Eigenanteil fürs Mittagessen von 1 Euro wird gestrichen. Das sind je nach Schultagen ungefähr 180 bis 200 Euro im Jahr mehr. Der Eigenanteil für die Schülerbeförderung wird erlassen. Das sind maximal 60 Euro mehr im Jahr. Das Schulstarterpaket wächst von 100 auf 150 Euro. Eine Studie des Landtages Schleswig-Holstein, bei der flächendeckend Lehrer und Eltern befragt wurden: „Was gebt ihr eigentlich für Kinder aus?“, kommt zu dem Ergebnis, dass je nach Schulform, je nach sozialer Lage der Eltern Familien, die über eigenes Einkommen verfügen, das über Hartz-IV-Niveau liegt, ungefähr 400 Euro für den Schulbedarf ausgeben – mehr also als Familien, deren Bedarf aus dem BuT gedeckt wird. Sie loben sich jetzt ernsthaft dafür, dass Sie das Schulstarterpaket von 100 auf 150 Euro erhöhen. Das heißt: Familien mit ärmeren Kindern steht für den Schulbesuch und den Schulbedarf der Kinder nach wie vor weniger als die Hälfte von dem zur Verfügung, was in Familien, die über ein ausreichendes Einkommen verfügen, ausgegeben wird. Das ist, finde ich, völlig unzureichend und auch kein gutes Signal. ({6}) Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir haben selber einen Entschließungsantrag vorgelegt. Er ist ganz kurz. Ehrlich gesagt: Ich glaube, zumindest Sozialdemokraten und Grüne könnten ihm zustimmen. Wir fordern erstens, das Existenzminimum neu zu berechnen, um sicherzustellen, dass die Hartz-IV-Regelbedarfssätze für Kinder verfassungskonform sind. ({7}) Wir fordern zweitens, die entsprechende Unterdeckung durch das Bildungs- und Teilhabepaket, wie ich sie hier skizziert habe, zu beenden, damit kein Kind in diesem Land, wenigstens innerhalb dieses bestehenden Systems, mehr arm sein muss. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Annalena Baerbock. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr Minister! Der Staat – und damit dieser Deutsche Bundestag – ist dazu verpflichtet, allen Kindern in unserem Land Lebenschancen zu eröffnen, und nicht nur dazu, das Existenzminimum von Kindern zu sichern. ({0}) Das ist die Messlatte dieser heutigen Diskussion. Das ist die Messlatte Ihres Gesetzes, weil das Bundesverfassungsgericht uns als Parlamentariern, als gesetzgebendem Organ, 2010 das nämlich so ins Stammbuch geschrieben hat. Dieses Urteil ist unsere Messlatte und, mit Verlaub, nicht Ihr Koalitionsvertrag. ({1}) Wenn wir uns diese Messlatte anschauen, dann muss man ganz klar sagen: Trotz der guten Änderungsanträge ({2}) – ich wollte Sie gerade loben –, die Sie ja in letzter Minute noch eingebracht haben, wird beim Kinderzuschlag und beim BuT diese Messlatte leider nicht erreicht. Und wenn Sie ehrlich sind und den Koalitionsvertrag noch mal lesen, dann stellen Sie fest: Auch die Messlatte Ihres Koalitionsvertrages wird nicht erreicht; denn dort haben Sie gesagt, Sie wollen dem Kampf gegen Kinderarmut die höchste Priorität geben. Schauen wir das Ganze jetzt mal genau an. Kollege Müller hat schon darauf hingewiesen: Sie stellen für die nächsten drei Jahre knapp 1,3 Milliarden Euro für die Reform des Kinderzuschlags und des BuT in den Haushalt ein, während für die Kindergelderhöhung und für das Baukindergeld 6 Milliarden eingestellt werden. Damit stärken Sie nicht die ärmsten Familien in unserem Land. ({3}) Wenn Sie beim Kinderzuschlag eine Steigerung der Inanspruchnahme von 5 Prozent planen, Herr Kollege Heil, dann packt es eben nicht jedes Kind, wie Frau Giffey es eigentlich angekündigt hatte. ({4}) Wenn Sie sich 14 Jahre nach der Einführung des Kinderzuschlags damit zufriedengeben, dass er bei nur 35 Prozent ankommt, das heißt bei zwei von drei Familien und Kindern nicht ankommt, dann ist es beschönigend, zu sagen: Wir sprechen hier von einer Orientierungsgröße. – Das ist einfach nur falsch, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Um verdeckte Armut in unserem Land wirklich zu bekämpfen und um Alleinerziehenden, von denen Sie alle jetzt sprechen, wirklich zu helfen, muss der Bezug des Kinderzuschlags genauso einfach sein wie die Günstigerprüfung bei der Steuererklärung. Wir alle legen die Hände in den Schoß und überlassen es dem Finanzamt, zu prüfen, ob es für uns nun besser ist, Kindergeld zu beziehen oder von Kinderfreibeträgen zu profitieren. Nur den Alleinerziehenden, nur den Familien, die ohnehin schon genug damit zu tun haben, um über die Runden zu kommen, geben Sie weiterhin als Auftrag, sich durch zig Dokumente zu wühlen, nicht wissend, wo die Informationen sind. Und dann feiern Sie eine Website dafür ab, dass sich hier in Zukunft einiges verbessern wird. Das entspricht nicht unserem Anspruch von guter Politik. ({6}) Natürlich sagt die Opposition immer, wie es anders besser gehen würde. Aber, Frau Giffey, Sie haben selbst – Sie wissen ja, wie es bei den Familien vor Ort ist – in der Ausschusssitzung am 16. Januar 2019 erklärt, dass die Messlatte bei der Reform des Kinderzuschlags ist, sich daran messen zu lassen, ob der Kinderzuschlag wirklich bei allen Kindern ankommt. Bei zwei von drei Familien kommt er nicht an. Deswegen muss man sagen: Ihre Messlatte hier ist nicht erreicht. Abschließend kann ich nur sagen: Ja, eine gute PR ist manchmal hilfreich. Aber eine gute PR allein holt Kinder nicht aus der Armut. Dafür braucht es eine Kindergrundsicherung. Die bringen wir heute an dieser Stelle in den Deutschen Bundestag ein. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Wenn Sie wirklich wollen, dass jedes Kind zum Kindergeburtstag gehen kann, wenn Sie wirklich wollen, dass Alleinerziehende nicht noch einen zweiten Job aufnehmen müssen, und wenn Sie wirklich wollen – das gehen Sie gar nicht an –, dass Kinder, die im Hartz‑IV-Bezug sind, die 150 Euro, die sie sich für den Abiball erarbeiten, behalten können und dass das Geld am Ende nicht noch bei ihren Müttern angerechnet wird, –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin Baerbock, bitte.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– dann brauchen Sie eine Kindergrundsicherung. Das erwarten die Familien in diesem Land von Ihnen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der SPD hat das Wort die Kollegin Katja Mast. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute das Starke-Familien-Gesetz. Klar ist doch: Wer eine Kindergrundsicherung in dieser Republik will – die SPD will eine sozialdemokratische Kindergrundsicherung, bei der dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist –, der braucht als ersten Schritt das Starke-Familien-Gesetz, das den Kinderzuschlag reformiert. ({0}) Deshalb sind wir froh und stolz, dass wir das heute hier diskutieren. Sich hierhinzustellen, wie es meine drei Vorrednerinnen und Vorredner gemacht haben – Sie, Frau Baerbock, gerade auch –, und zu sagen: „Kindergeld hilft den armen Familien nicht“, ist nur halb richtig, ({1}) weil alle Familien, die vom Kinderzuschlag profitieren, auch von der Kindergelderhöhung profitieren. ({2}) Auch das ist nicht trennscharf an dieser Stelle. Natürlich steht in dem Gesetzentwurf eine Annahme der Bundesregierung, wie breit der Kinderzuschlag wirkt. Aber wir alle müssen doch den Ehrgeiz haben, jeder und jede einzelne Abgeordnete hier im Haus – Minister Heil und auch Franziska Giffey haben es schon gesagt –: Wir müssen die Werbetrommel dafür rühren, dass es nicht nur eine Inanspruchnahme von 35 Prozent gibt, sondern von 100 Prozent. – Dafür stehen wir als SPD, und da wollen wir auch hin. ({3}) Unser Ziel in dieser Debatte ist: Es geht uns darum, in der Bundesrepublik Deutschland alle Familien – alle Familien! – zu stärken. Das ist das zentrale Ziel für uns von der SPD. Mit dem Starke-Familien-Gesetz wenden wir uns den Familien zu, die einkommensschwach sind. Einkommensschwach heißt: Jeder Euro, jeder Cent wird zweimal umgedreht. Über diese Familien reden wir heute bei diesem Gesetzentwurf. Hubertus Heil hat aus seiner Biografie klargemacht, wie es ist, bei einer alleinerziehenden Mutter aufzuwachsen, wo jeder Euro zweimal umgedreht wird. Auch ich selbst teile dieses Schicksal, auch viele andere im Haus; ich weiß das. Hier gibt es auch alleinerziehende Mütter. Was heißt es denn, 5 oder 10 Euro pro Kind – vielleicht sind es auch 15 oder 20 Euro, je nachdem – im Monat mehr in der Tasche zu haben? Ich weiß, dass das für die Familien verdammt viel Geld ist. ({4}) Genau das beschließen wir hier heute: dass die Familien mehr Geld am Ende des Monats haben, um ihre Kinder zu fördern. ({5}) Daran kann jedenfalls ich nichts Beschämendes finden. Ich will noch mal aufzählen, was die Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket für die Familien und die Kinder bedeuten: mehr Geld, weil die Zuzahlung zum Mittagessen entfällt; mehr Geld, weil die Schülerfahrkarte gebührenfrei wird; mehr Geld für die Schulsachen und mehr Geld für den Sportverein und die Musikschule. Das alles bleibt am Ende bei den Familien. ({6}) Bei den Vereinen ist klar: Wenn Kinder in Vereinen mitmachen, dann bleibt es nicht beim Training einmal die Woche. Sie fahren am Wochenende zu einem Turnier, oder es gibt ein Zeltlager des Vereins. Wir sagen: Dafür reichen die 15 Euro am Ende des Monats vielleicht nicht aus. Aber die Familien können noch zusätzlich Leistungen dafür beantragen. Das halte ich für ganz wichtig für die Teilhabe von Kindern in dieser Gesellschaft. ({7}) Und: Wir verbessern die Nachhilfeförderung. Ich selbst habe es erlebt, wie es ist, wenn man keine Nachhilfe in Anspruch nehmen kann, und was das für die Noten in der Schule bedeutet. Deshalb ist es ganz wichtig, die Lernförderung hinzubekommen. Mit dem neuen und verbesserten Kinderzuschlag im Verantwortungsbereich von Franziska Giffey unterstützen wir gezielt die Familien mit geringem Einkommen, wo das Geld knapp ist. Das heißt, niemand, der für sich genug Geld verdient, soll wegen der Kinder auf Hartz IV angewiesen sein. Das ist genau das Versprechen, das wir da machen. ({8}) Der Kinderzuschlag sorgt dafür, dass künftig 1,2 Millionen mehr Kinder und vor allen Dingen Alleinerziehende davon profitieren. Wir setzen mit dem Kinderzuschlag zusätzlich ein Versprechen um: Wer mehr arbeitet, wer also mehr Einkommen bekommt, hat am Ende des Tages mehr in der Tasche. Insofern ist auch ein Leistungsanreiz dabei. Auch das halten wir für diese Familien für wichtig. ({9}) Wir beseitigen die Abbruchkante usw.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Wir reduzieren den Bürokratieaufwand. Dieses Gesetz steht für uns auch für den Sozialstaat als Partner. Es ist ein Schritt dahin, dass Menschen die Leistungen, die ihnen zustehen, besser und einfacher bekommen. Da, wo mehr Leistungen notwendig sind, kommen auch mehr Leistungen hin, und zwar für Bildungschancen und Teilhabe. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, bitte.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden mit dieser Politik weitermachen: nach dem Gute-Kita-Gesetz auch mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter und mit Kinderrechten im Grundgesetz, damit es jedes Kind packt. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD hat das Wort der Kollege Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Steuerrecht ist bekanntlich eines der weltweit kompliziertesten. Böse Zungen sagen sogar, dass 80 Prozent der weltweiten Steuerliteratur aus Deutschland kommen, obwohl hier nur 2 Prozent der weltweiten Steuerzahler beheimatet sind. ({0}) Die Umsatzsteuer mit ihren Ausnahmeregelungen mutet hier bislang sehr skurril an. Schauen wir uns einmal ein jedes Jahr wiederkehrendes Beispiel an: Weihnachtsbäume. Sie kaufen einen Weihnachtsbaum – dieser ist bereits geschmückt – oder einen Kunstweihnachtsbaum: Sie zahlen 19 Prozent Umsatzsteuer darauf. ({1}) Wenn dieser Weihnachtsbaum artgerecht gehalten wurde und von einem Gewerbetreibenden kommt oder einem nicht pauschalierenden Landwirt, zahlen Sie 7 Prozent Umsatzsteuer. Sobald dieser Landwirt pauschalierend ist, zahlen Sie 5,5 Prozent Umsatzsteuer, wenn dieser Baum in der freien Wildbahn gewachsen ist. Sie zahlen 10,7 Prozent, wenn er aus einer Großkultur stammt. Andere Beispiele: Wir haben 7 Prozent Umsatzsteuer auf Kartoffeln, aber 19 Prozent auf Süßkartoffeln. ({2}) 7 Prozent auf Obst, 19 Prozent auf Obstsaft. 7 Prozent auf Kuhmilch, 19 Prozent auf Sojamilch. ({3}) 7 Prozent auf Schnittblumen, 19 Prozent auf Topfblumen. ({4}) 7 Prozent auf Hundekekse, 19 Prozent auf Kinderkekse und Babynahrung. 7 Prozent auf Zeitschriften, 19 Prozent auf Kinderwindeln. – Sie sehen, worauf ich hinauswill. Noch absurder wird es zum Beispiel beim Kauf von Reitpferden. ({5}) Hier haben wir 7 Prozent Mehrwertsteuer. Warum? Weil man diese Pferde theoretisch auch essen kann. ({6}) Ernsthafte Versuche, die Mehrwertsteuer zu reformieren, hat es seitens der Bundesregierung nicht gegeben. Gut, wir sehen mal von dem erfolglosen Wurf bei den Hotelübernachtungen – dies war eher Lobbypolitik – und der Trennung von Übernachtungs- und Verpflegungsleistungen ab. ({7}) Da es seit Jahren nicht möglich zu sein scheint, einen großen Wurf bei der Umsatzsteuer zu machen, lassen Sie uns zunächst die Interessen der Familien stärken. Uns allen ist das demografische Problem bekannt. Manche von Ihnen wollen es lösen, indem man alleinreisende junge Männer mit schlechtem Bildungsstand aus kulturfremden Ländern illegal ins Land schleust. ({8}): Uh!) Wir wollen die hier lebenden Familien mit ihren Kindern unterstützen. ({9}) – Ja, da können Sie sich ruhig beklagen und blöd schauen. Dem ist so. Die Mehrwertsteuer auf Produkte und Dienstleistungen mit direktem Bezug zur Erziehung, Betreuung und Pflege von Kindern wollen wir auf 7 Prozent reduzieren. Im Gegenzug sollen Produkte, die keinen erkennbaren Bezug zur Grundsicherung haben, mit dem vollen Umsatzsteuersatz belegt werden. Warum werden zum Beispiel Eis, Gummibärchen, Kartoffelchips, Riesengarnelen oder Wachteleier mit einem geringeren Steuersatz belegt, ({10}) während Mineralwasser, Obstsaft oder Babywindeln mit 19 Prozent belegt werden? Lassen Sie uns diesen Irrsinn beenden ({11}) und an dieser Stelle einen mutigen Anfang machen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Maik Beermann. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben einen kleinen Exkurs in Sachen Steuerpolitik bekommen. Sehr interessant. Vielen Dank, Herr Keuter. Ich fordere jetzt einfach mal pauschal 7 Prozent für die AfD. ({0}) – Wir fangen damit erst mal an. Lieber Herr Kollege Aggelidis, Sie haben dem Minister, der sich jetzt aus den Reihen der Parlamentarier verabschiedet hat, unterstellt, dass er in den nächsten Monaten ungedeckte Schecks ausstellt in Form seiner politischen Gestaltung. ({1}) Sie fordern eine Aufstockung des Bewilligungszeitraums für den KiZ von sechs auf zwölf Monate. Ja, da muss man sich auch mal mit der Gefahr auseinandersetzen, dass möglicherweise auch Familien – so hart es klingt – Gelder bekommen, die ihnen vielleicht gar nicht mehr zustehen. Wir haben auch hier eine Verantwortung, mit Steuergeldern vernünftig umzugehen. Ich glaube, mit dem Zeitraum von sechs Monaten, den wir jetzt vorsehen, haben wir einen guten Schritt getan. Damit lassen Sie uns einfach erst mal beginnen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aggelidis?

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Aggelidis, ich lasse Ihre Frage zu.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Aggelidis.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Beermann, dass Sie diese Zwischenfrage gestatten. – Ich muss fragen, ob Sie das alles im Detail gelesen haben. Genau der Punkt ist vorgesehen. Wenn es Änderungen gibt, dann sollen die innerhalb von ein bzw. zwei Monaten angezeigt werden. Somit wäre das eigentlich nicht das Problem. ({0}) – Moment mal, bitte! – Das ist die erste Frage. Meine zweite Frage habe ich jetzt vergessen. Gehen Sie mal auf die erste Frage ein. ({1})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gehe dann ausschließlich auf die erste Frage ein, weil die andere wahrscheinlich gar nicht so gut war. – Wenn Sie auf der einen Seite von Entbürokratisierung sprechen und hier fordern, dass alle ein bis zwei Monate Veränderungen eingereicht werden müssen, dann schaffen Sie damit das nächste Bürokratiemonster. Von daher bringt das gar nichts. ({0}) Herr Müller, Sie fordern Erleichterungen beim Bildungs- und Teilhabepaket. Sie sagen, dass es viel zu bürokratisch ist. Sie vergessen dabei immer, dass wir das Thema Digitalisierung auch hier in den Vordergrund stellen und natürlich anstreben, Erleichterungen herbeizuführen. Es ist das klare Ziel der Koalition und der Bundesregierung, das so unkompliziert wie möglich zu machen. ({1}) Klar, alles war kompliziert. Deshalb muss jetzt beispielsweise auch nur noch ein Antrag auf Lernförderung gestellt werden. Auch hier haben wir deutlich pauschaliert. Man darf die Pauschalierung bei der Teilhabeleistung in Höhe von 15 Euro für Musik- und Sportvereine nicht vergessen. Auch hier ist es deutlich einfacher geworden. Sie tun immer so, als ob es ein riesiges Bürokratiemonster gewesen ist und immer noch bleibt. Das stimmt einfach nicht. Wir entbürokratisieren und erleichtern die Antragstellung. Mit der Digitalisierung wird es zukünftig noch besser. Wenn wir jetzt schauen, was wir in den letzten Wochen in der parlamentarischen Debatte und auch in den Verhandlungen gemeinsam mit dem Koalitionspartner erreicht haben, dann können wir feststellen, dass wir mit dem neuen Gesetz nicht nur mehr Familien und Alleinerziehenden mit kleinem Einkommen helfen, indem wir den Kinderzuschlag erhöhen, ausbauen und transparenter gestalten, sondern auch die Leistungen für Teilhabe und Bildung – ich habe es Ihnen schon gesagt – deutlich verbessern. Ich freue mich insbesondere darüber, dass wir auch den Erwerbsanreiz stärken. Den Erwerbsanreiz stärken wir, indem wir dafür sorgen, dass sich zusätzliches Einkommen mehr auszahlt und nicht mehr nachteilig auswirkt. Im Bereich des Bildungs- und Teilhabepaketes – ich habe es gerade schon gesagt – begrüße ich ausdrücklich – der Kollege Weinberg ist auch darauf eingegangen –, dass die Teilhabeleistung für Vereinsbeiträge von 10 auf 15 Euro erhöht wird, und das auch pauschaliert, ohne dass jedes Mal ein Antrag beim Jobcenter gestellt wird oder eine Einzelfallprüfung beim Jobcenter stattfindet. Diese Gelder werden pauschaliert ausgezahlt, fließen direkt an die Familien. Damit werden wichtige Verwaltungsvereinfachungen und auch eine Entbürokratisierung herbeigeführt. Zusätzlich erhöhen wir das Schulstarterpaket auf 150 Euro, ermöglichen für mehr Schülerinnen und Schüler individuelle Lernförderung, auch wenn keine akute Versetzungsgefährdung besteht. Auch das ist eine Verbesserung. Wir streichen den Eigenanteil beim Mittagessen und bei der Schülerbeförderung. Seien wir doch mal ehrlich: Dieser 1 Euro, den die Familie bisher aus der eigenen Tasche für das Mittagessen bezahlen musste, summiert sich auf ungefähr 20 Euro im Monat. Ich möchte nur mal erwähnen, dass das gar nicht so wenig ist. Es gehört an dieser Stelle einfach mal gesagt, dass wir hier einen großen Schritt vorankommen und Familien entlasten. ({2}) – Herr Müller, Sie sagen: 1 Euro ist kein großer Schritt. – Sie sehen immer nur das Eine. Sehen Sie doch auch mal den Blumenstrauß, den wir in den letzten Jahren insgesamt auf den Weg gebracht haben. ({3}) – Ja, das sind doch ideologische Debatten, die Sie führen. – Wir haben in den letzten Jahren die Kinderbetreuung ausgeweitet und unterstützt. Wir haben das Kindergeld erhöht. Wir haben im Bereich des Unterhaltsvorschusses einiges getan und Alleinerziehende nicht nur mit diesem Gesetz unterstützt. Wir haben das Elterngeld eingeführt und in der letzten Legislatur zum Elterngeld Plus ausgebaut. Das trägt auch dazu bei, Kindern aus der Armutsfalle zu helfen. Erkennen Sie das einfach mal an. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir, zum Schluss noch zwei Punkte anzusprechen. Wir hoffen sehr, dass wir die Abrufquote spürbar erhöhen können. Lassen Sie uns das nicht immer an den 30 Prozent festmachen. Natürlich wollen wir mehr als 35 Prozent erreichen. Das Ziel ist – das hat die Kollegin Mast auch gesagt –, dass wir natürlich auch noch die anderen 70 Prozent der Familien erreichen, denen dieser Anspruch zusteht. Aber lassen Sie uns dafür werben, und lassen Sie uns nicht immer alles schlechtreden, sondern gehen Sie raus, tragen Sie es einfach in die Welt, und weisen Sie die Familien darauf hin, dass sie diese Leistung bekommen können und einen Anspruch darauf haben. Wir müssen fairerweise auch sagen, dass es zum Teil nur daran liegt, dass es vielerorts im Land bereits viele kostenlose Angebote gibt, wie zum Beispiel Sozialtickets oder kostenfreie Mitgliedschaften im Verein. Solche Fälle gibt es. Solche Fälle bestehen. Und deswegen gibt es auch keinen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket, weil eben ein zu deckender Bedarf gar nicht vorhanden ist. ({5}) Das sollte man bei der Kritik an der Abrufquote auch im Kopf haben. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Dieses Gesetz ist nicht das Einzige, was wir tun, um Kinderarmut zu bekämpfen. Deswegen noch mal: Vehementes Schlechtreden oder das Spalten vonseiten der Opposition finde ich ziemlich daneben. Wir sollten nicht durch ständiges Schlechtreden Angst einflößen und die Sorge von Familien verstärken, sondern wir sollten Mut in den Vordergrund stellen und vor Ort für dieses Gesetz werben. ({6}) Eines ist klar, liebe Kolleginnen und Kollegen: Kein Kind wird in unserer Gesellschaft zurückgelassen. ({7}) Deswegen bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Giffey, sehr geehrter Herr Bundesminister Heil, unser Sozialstaat kennt so manche Absurdität. Eine alleinerziehende Mutter, zwei Kinder, halbtagsbeschäftigt, Bruttoeinkommen 1 300 Euro, kommt zusammen mit Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld auf etwa 2 070 Euro netto. Würde sie ihre Arbeitszeit ausweiten und über 1 000 Euro mehr verdienen, sagen wir 2 500 Euro, dann hätte sie am Ende netto nicht mehr zur Verfügung als vorher. Das ist absurd. Das ist leistungsfeindlich. Auf diesen Tatbestand weisen wir vonseiten der Freien Demokraten schon seit über 20 Jahren hin. ({0}) Jetzt haben Sie einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Sie haben einen kleinen Schritt gemacht, aber der große Wurf ist ausgeblieben. Warum eigentlich, lieber Herr Bundesminister Heil, haben Sie nicht den Weg zu Horst Seehofer genommen? Warum haben Sie sich nicht getraut, ins Bauministerium zu gehen und auch das Wohngeld in Ihren Vorschlag zu integrieren? ({1}) Das wäre richtig gewesen; das wäre der große Wurf gewesen. Sie sind da weit hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben. ({2}) Sie haben jetzt hier in Ihrer Rede ausdrücklich betont, dass Ihnen die Entwicklungschancen von Kindern am Herzen liegen. Das ist richtig. Ich habe Ihnen in der ersten Lesung dieses Gesetzes vorgeworfen – ich bin Sie hart angegangen –, dass Sie bei den Teilhabechancen – Besuch eines Sportvereins, Erlernen eines Instrumentes – keinen Cent geben wollten. Jetzt haben Sie sich mühsam durchgerungen, und herausgekommen sind 5 zusätzliche Euro. Lieber Herr Heil, bei der Rente verteilen Sie mit dem Gartenschlauch Milliarden, und bei den Kindern sind Sie hartherzig und feilschen um jeden Cent. ({3}) Lieber Herr Heil, Rentner gegen Kinder auszuspielen, ist keine gute Sozialpolitik. Schauen wir auf das Schulstarterpaket, das Sie auch explizit angesprochen haben. Da sind Sie bereit, 50 Euro mehr zu geben. Wir als FDP haben 70 Euro gefordert. Und bei den 20 zusätzlichen Euro setzen Sie den Rotstift an, lieber Herr Heil. Das ist nicht fair; das ist ungerecht, und das schafft keine guten Bildungschancen für die Kinder. ({4}) Ein Weiteres kann ich Ihnen leider auch nicht ersparen: Sie persönlich und Ihre Kollegin Schwesig waren es ja, die im Vermittlungsausschuss 2010 verhindert haben, dass wir das Bildungs- und Teilhabepaket digitalisiert auf den Weg gebracht haben. Das haben Sie damals verhindert. Heute gibt es Kinder, die, weil das Antragsverfahren zu kompliziert ist oder weil das Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt zu unbekannt ist, diese Leistungen nicht bekommen. Lieber Herr Heil, da wäre es jetzt an der Zeit gewesen, Ihren historischen Irrtum von damals zu korrigieren. Das haben Sie nicht gemacht. Ich kann Ihnen auch nicht ersparen – mit Erlaubnis des Präsidenten –, aus dem Protokoll der Bundestagssitzung vom 3. Dezember 2010 zu zitieren. Da sagten Sie, lieber Herr Heil: Frau Ministerin, – gemeint war Frau von der Leyen – wir haben wieder einmal das typische Von-der-­Leyen-Prinzip erlebt: warme Worte, kalte Taten. Lieber Herr Heil, ich kann Ihnen nur sagen: Wer so austeilt, der muss, zumindest wenn er in der Verantwortung ist, seine Worte durch bessere Politik mit Glaubwürdigkeit unterlegen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Sven Lehmann. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben eingangs sehr treffend dargestellt, was es für Kinder bedeutet, bei alleinerziehenden Eltern groß zu werden. Wir alle hier waren mal Kind, und wir wissen, was Kinder sich wünschen, um gut aufwachsen zu können. Kinder wünschen sich, aufgehoben zu sein, selbstverständlich dazuzugehören, unbelastet von großen Sorgen aufwachsen zu können. Was passiert aber jetzt mit Kindern, die spüren, dass die Kosten für die nächste Klassenfahrt zu Hause finanzielle Sorgen bereiten, dass es eben nicht selbstverständlich ist, in der Schule mit anderen Kindern zusammen zu essen, dass sie nicht einfach wie alle anderen Kinder in den Sportverein gehen können, dass die Familie jeden Cent zweimal umdrehen muss, wenn neue Schuhe gekauft werden müssen? Diese Kinder erleben sich und ihre Familien als bedürftig. Sie stellen ihre Wünsche dann oft zurück oder verneinen ihre Bedürfnisse sogar, um den finanziellen Druck von ihren Eltern zu nehmen. Es sind aber keine Luxusdinge, über die wir hier sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es gibt grundlegende Ansprüche und Rechte, die wir endlich für jedes Kind umsetzen müssen. ({0}) Deswegen finden wir Grüne es gut, dass es jetzt Verbesserungen beim Kinderzuschlag und beim Zugang zu Bildung und Teilhabe geben wird. Jetzt sagen Sie: Ja, das steht doch alles in unserem Gesetz. – Aber mit dem heutigen Gesetz bleibt ein ganz großes Problem bestehen: Die Instrumente bleiben bürokratisch, es bleibt bei Anträgen, und es werden weiterhin nicht alle Kinder erreicht. Erstens. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist zum Beispiel nicht on top, es ist kein nettes Geschenk der Politik. Der Zugang zu Bildung und Teilhabe gehört zum Existenzminimum, das jedem Kind verfassungsrechtlich garantiert zusteht. ({1}) Genau deswegen wird bei jedem Kind, das künftig diese Leistungen nicht in Anspruch nimmt, das Existenzminimum unterschritten; und das ist nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Zum Zweiten. Dass Sie die Kinderregelsätze nicht erhöhen, hinterlässt eine dermaßen klaffende Lücke in Ihrer gesamten Sozialpolitik. ({3}) Selbst Malstifte werden heute im Kinderregelsatz nicht berücksichtigt, weil man die ja theoretisch in Kita und Schule hat. Das ist doch total absurd. Wir müssen endlich mal aufhören, Kinder als kleine Hartz‑IV-Empfänger zu betrachten, an denen gespart werden kann. Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und haben eigene Ansprüche, liebe Kolleginnen und Kollegen, und die müssen erfüllt werden. ({4}) Wir Grüne beantragen deswegen heute neben der automatischen Auszahlung des Kinderzuschlags auch die Erhöhung der Kinderregelsätze als Einstieg in eine Kindergrundsicherung, und wir beantragen mehr Investitionen in gute, kostenfreie Angebote vor Ort. Das sollte uns jedes Kind wert sein. ({5}) Ich bitte Sie also: Nehmen Sie endlich Abstand von Bürokratie und Anträgen und Formulardschungel, damit endlich alle Kinder selbstverständlich zu ihrem Recht kommen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Bettina Wiesmann. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lehmann, Kinder sind Gott sei Dank immer Teil von Familien. ({0}) Deshalb haben wir als Union einen Ansatz in der Familienpolitik, bei dem alles zusammen betrachtet wird. Insofern richtet sich unser Gesetz heute gezielt an eine Gruppe von Familien, die uns besonders wichtig ist, und zwar an die, die zur arbeitenden Bevölkerung gehört, aber so bescheidene Einkommen erwirtschaftet, dass es für die Versorgung von Kindern kaum reichen würde, wenn es dabei bliebe. Es ist deshalb eine wichtige Zielgruppe, weil – das ist schon angeklungen – Berufstätigkeit und eigenes Einkommen die wirtschaftliche Basis einer Familie stärken, aber eben auch das Selbstwertgefühl von Kindern und Eltern. Das zusammen ist tatsächlich die beste Grundlage für ein gutes Aufwachsen von Kindern; und darum geht es uns genauso wie Ihnen. Diese Familien zu stärken, ist nämlich der Grundgedanke des Kindeszuschlags und auch des Bildungs- und Teilhabepakets. Kinder aus diesen Familien sollen vergleichbare Bildungs- und Teilhabechancen haben wie Kinder aus bessergestellten Familien. Zugleich sollen ihre Eltern ermutigt und bestärkt werden, die Familie weiter aus eigener Kraft durchzubringen – ich formuliere es genau so. Das Instrument ist aus unserer Sicht gut und wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf, der zumal überarbeitet wurde, noch einmal deutlich besser. Meine Vorredner haben es bereits beschrieben. Ich will zwei Aspekte hervorheben, die noch nicht ganz so ausführlich angesprochen worden sind: Erstens: der höhere Kinderzuschlag – nur Brosamen? Im Ausschuss wurde der Gesetzentwurf in geänderter Form gestern als lächerlich – von den Grünen – ({1}) und als eine Ansammlung von Brosamen – von der AfD – beschrieben. ({2}) – Entschuldigung, dann müssen Sie es richtigstellen. Es ist bei mir eindeutig so angekommen. – Immer wieder fällt das Wort vom kleinen Schritt, auf den die eigentlichen, umfassenden Maßnahmen folgen müssten – so auch eben bei Ihnen, Herr Lehmann. Meine Damen und Herren, die Berechnungen des Ministeriums selbst sagen etwas anderes: Eine Familie mit zwei Kindern, die 1 200 Euro brutto verdient, hat am Ende, nach Abzügen und mit den Transferleistungen, das Doppelte im Portemonnaie: 2 400 Euro verfügbares Einkommen durch Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld sowie Bildungs- und Teilhabepaket. Bei einem Brutto von 3 000 Euro sorgen Transfers von über 500 Euro, darunter immer noch 100 Euro Kinderzuschlag, für 2 700 Euro im Portemonnaie. Bis in den oberen Bereich der unteren Mittelschicht hinein – Definition „untere Mittelschicht“: 60 bis 80 Prozent des mittleren Familieneinkommens – werden Familien vom Kinderzuschlag künftig noch profitieren, weil wir jetzt die Abbruchkante beseitigen. Bis zu einem Einkommen von 3 400 Euro erhält unsere Beispielfamilie durch den Kinderzuschlag immer noch eine Unterstützung. Ihr bleiben dann über 2 850 Euro verfügbares Einkommen. Liebe Linke, Grüne und auch AfD, wir machen hier nicht einen kleinen Schritt in die richtige Richtung. Nein, hier wird ein starkes Sozialsystem im Hinblick auf den Umfang der Leistungen noch erheblich verbessert. ({3}) Die an diesem Pult oft thematisierten Kinder dieser Familien wachsen nicht im materiellen Elend auf. Bei 100 Euro mehr verfügbarem Einkommen – das ist die Definition – beginnt die mittlere Mittelschicht. Ich meine, mit diesem Gesetz wird ein Punkt erreicht, an dem es gut ist. Deshalb können wir zufrieden sein und das Gesetz heute alle miteinander verabschieden. ({4}) Zweitens: Bildungs- und Teilhabepaket – leichterer Zugang für Eltern, bessere Leistungen für Kinder. Eltern, die arbeiten wollen, profitieren enorm davon, dass sie nicht wegen jeder Einzelleistung des Bildungs- und Teilhabepakets zum Jobcenter, zur Schule oder zu anderen Stellen laufen und dort oft auch noch warten müssen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, im Anschluss. Ich möchte das erst zu Ende ausführen. – Deshalb ist es auch aus Sicht der Union gut, dass Leistungen künftig einfacher, pauschal und sogar digital beantragt werden können. Auch die Kinder profitieren. Vieles ist dazu gesagt worden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass mit dem erleichterten Zugang und den verbesserten Leistungen weit mehr Familien als bisher erreicht werden. Bleiben muss es allerdings – das ist mir wichtig – bei der Antragsleistung und auch bei der Bedürftigkeitsprüfung. Denn Transferleistungen sind zweckbestimmt und müssen und sollen von anderen erwirtschaftet werden und werden auch gerne von anderen erwirtschaftet. In der sozialen Marktwirtschaft ist Solidarität selbstverständlich. Hilfe muss begründet sein, dann kann sie auch selbstbewusst angenommen werden. Sie ist weder ein Freifahrtschein noch ein Almosen. Das ist uns als Union wichtig. Deshalb lehnen wir die Anträge der Grünen, die in eine komplett andere Richtung gehen, aus Überzeugung ab. ({0}) Ich fasse zusammen – zwei Sätze –: Dieser optimierte Gesetzentwurf entlastet und ermutigt geringverdienende Familien, und er verbessert Teilhabe und Bildungschancen für ihre Kinder. Menschen, die sich anstrengen und Verantwortung übernehmen, die in diesem doppelten Sinne also zur breiten Mitte der Gesellschaft zählen, werden unterstützt, aber nicht blind, sondern so, dass sie besser leben können, und zugleich so, dass sich ein Mehr an Leistung für sie weiterhin lohnt. Ein Letztes. Materielle Knappheit ist das eine, Anregungsarmut das andere. Auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes besteht die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen jenseits der materiellen Voraussetzungen das emotionale und das geistige Umfeld zu bieten, in dem sie sich entfalten können. Das obliegt als Hauptverantwortlichen den Eltern und einer Familienpolitik, die sie dabei ernst nimmt, anerkennt und unterstützt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist eine Politik, die wir als Union auf allen Ebenen vertreten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile zu einer Kurzintervention das Wort der Kollegin Katja Dörner.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Frau Kollegin Wiesmann, zum einen möchte ich klarstellen – sie haben sich ja auf meine Aussage gestern im Ausschuss bezogen –, dass ich gesagt habe, dass die Erhöhung der Inanspruchnahmequote beim Kinderzuschlag von 30 auf 35  Prozent lächerlich ist. Ich habe nicht gesagt, der gesamte Gesetzentwurf sei lächerlich. Das nur zur Klarstellung. Ich möchte Sie fragen, wie Sie es bewerten, dass zwei Drittel der Kinder bzw. der Familien, die eigentlich einen Anspruch auf Kinderzuschlag haben und ihn für ihre Existenzsicherung brauchen, diesen weiterhin nicht in Anspruch nehmen. ({0}) – Das ist die Prognose der Bundesregierung. Davon muss man ja mal ausgehen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung steht, dass sie davon ausgeht, dass es 35 Prozent sein werden. Ich glaube, auf dieser Grundlage müssen wir dann hier auch diskutieren. Ich möchte Sie noch etwas fragen. Sie haben eben gesagt, dass unser heute vorliegender Antrag, in dem wir fordern, den Kinderzuschlag automatisch auszuzahlen, in eine ganz andere, in eine falsche Richtung geht. Ergebnis der Sondierungen mit Ihrer Fraktion – übrigens unter der Leitung dieses Bereiches durch Frau Kramp-­Karrenbauer – war die Verständigung, dass wir den Kinderzuschlag automatisch auszahlen. Ich gehe einmal davon aus, dass Ihre Verhandlungsgruppe nicht einer Lösung zustimmt, die sie selbst für nicht möglich erachtet, für den falschen Weg hält oder was auch immer. Deshalb frage ich Sie: Warum lehnen Sie heute unseren Antrag ab, und warum halten Sie es nicht für richtig, die Kinder zu ihrem Recht kommen zu lassen und den Kinderzuschlag automatisch an alle auszuzahlen? ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin Wiesmann, wollen Sie die Fragen beantworten? – Ja.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde es versuchen. – Erstens. Wenn ich Sie in der Sitzung falsch verstanden habe, dann tut mir das leid. Ich hatte den Eindruck, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf insgesamt sehr unzufrieden sind, ihn als einen minimalen Schritt empfinden und auch ein wenig deutlich gemacht haben, wie Sie ihn insgesamt bewerten. Dass Sie nicht zustimmen, haben Sie hier ja auch angekündigt. Der zweite Punkt. Ich bin erstaunt, dass Sie die Prognosen der Bundesregierung plötzlich sozusagen als eine Vorwegnahme der Zukunft ansehen. Sie sind ja in der Opposition und haben auch sonst viel Gelegenheit, bessere Ideen einzubringen. Ich für meinen Teil sehe einfach die Erleichterungen beim Zugang – meine Fraktion sieht das auch so – als eine gute Chance, die Inanspruchnahme dieser aus unserer Sicht sehr wichtigen und klugen Leistungen zu verbessern. Im Übrigen ist ja auch der Kreis derer, die anspruchsberechtigt sind, viel größer. Wir gehen in unserer Fraktion davon aus, dass es durchaus sein kann, dass es mehr werden. Wir freuen uns über jeden, der auf die gute Idee kommt, Anspruch anzumelden und sich dem Antragsverfahren, das wir deutlich erleichtert haben, zu unterziehen. Das ist für uns überhaupt kein Streitpunkt. Der grundsätzliche Streitpunkt ist allerdings, ob wir eine solche Leistung, auch in beiden Bestandteilen, automatisch vergeben wollen oder nicht. Ich habe hier noch einmal zur Kenntnis gegeben – ich war nicht Teil dieser Verhandlungskommission; übrigens können wir lange darüber philosophieren, wer mit welchen Positionen zu dem Ergebnis beigetragen hat –, ({0}) dass es aus unserer Sicht richtig ist, dass Leistungen, die nicht der Sicherung des Existenzminimums dienen – da gilt für das Kindergeld eine ganz andere rechtliche Grundlage –, sehr wohl eine Antragsleistung sein können. Das gilt auch für Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Es ist keine Schande, so etwas in Anspruch zu nehmen. Man muss es begründen, damit diejenigen, die es erwirtschaften, dies auch gut und gerne tun. Nichts anderes habe ich gesagt. ({1}) – Entschuldigung, dann müssen wir daran arbeiten, diese Leistungen besser zu kommunizieren. Dann reden wir auch weiter darüber, ob sozusagen die administrative Seite gut gelöst ist. Ich bin davon überzeugt, dass wir einen großen Fortschritt machen ({2}) und dass Kinder, die einen Anspruch auf diese Leistung haben und in ihrer familiären Situation entsprechend bedürftig sind – das ist keine Schande –, jetzt auch in den Genuss dieser Leistung kommen. Ich bitte Sie nochmals darum, auch immer die Familien mitzudenken. Wir brauchen keine Politik, die einzelne Bestandteile, einzelne Personen von Familien isoliert betrachtet. ({3}) Wir brauchen eine Politik, die den Zusammenhalt der Familien stärkt. ({4}) Das tun Sie in Ihrer Betrachtung sehr häufig nicht. Das tut mir sehr leid, weil ich ja weiß, dass wir oft in dieselbe Richtung agieren, was das Wohl der Kinder angeht. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Jetzt hat das Wort als nächster Redner der Kollege Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir erhöhen den Kinderzuschlag – übrigens eine Forderung der Opposition in vergangenen Debatten. ({0}) Wir verlängern den Bezug – übrigens auch eine Forderung der Opposition in den vergangenen Debatten. ({1}) Wir schaffen die Abbruchkante ab. Wir erweitern den Bewilligungszeitraum beim Kinderzuschlag auf sechs Monate. Alles Forderungen aus der Opposition. Dann wird gesagt: „Mensch, das ist zu wenig“, und sogar eine Ablehnung des Gesetzentwurfes in Aussicht gestellt. ({2}) Ich finde, man kann durchaus mal sagen: Fehler erkannt, Fehler bearbeitet. Heute beschließen wir, diese Fehler zurückzunehmen. Das ist eine richtig gute Maßnahme dieses Parlaments auf Grundlage der Vorlage der Regierung. ({3}) Wir erhöhen die Leistungen im Schulstarterpaket. Wir schaffen die Bürokratie und den Eigenanteil von 1 Euro beim Mittagessen und bei der Schülerbeförderung ab. Wir erleichtern den Zugang zu Nachhilfe für Bezieher von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, damit für die Nachhilfe nicht nur bei einer Gefährdung der Versetzung gezahlt wird. Wir erhöhen die Leistungen für die soziale Teilhabe beim Bildungs- und Teilhabepaket. All das sind Forderungen der Opposition und der Sozialverbände, die wir hier aufnehmen und zu denen wir sagen: Das ist richtig. Diese Einschätzung haben auch wir. – Das sind gute Maßnahmen. Wir verbessern dieses Gesetz wirklich zum Vorteil von Familien und Kindern. ({4}) Aber was machen wir hier in der Debatte? Wir versuchen, künstliche Differenzen aufzuzeigen, und wir reden uns ein, was wir alles noch besser machen könnten. Natürlich stimmt es: Es würde noch viel mehr gehen, hätten wir andere Mehrheiten im Parlament. Das wissen wir alle; dafür sind wir alle lange genug im Parlament. ({5}) Wenn es um das Thema Kindergrundsicherung geht, gibt es eine gemeinsame Auffassung einiger Fraktionen hier im Haus. Das könnten wir mit eigenen Mehrheiten auch umsetzen. Das hätten aber auch die Grünen in einem Jamaika-Bündnis nicht durchsetzen können. ({6}) Das nur mal so als Hinweis. Ich glaube, die meinen eine andere Kindergrundsicherung. ({7}) – Eine automatische Auszahlung wäre noch keine Kindergrundsicherung. Wenn das bei den Grünen tatsächlich als Kindergrundsicherung zählen würde, dann wäre das viel zu wenig. ({8}) Apropos „zu wenig“: Es wird immer die Summe genannt, die wir im Koalitionsvertrag für dieses eine Gesetz festgeschrieben haben. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von wem?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vom Kollegen Müller von den Linken.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gestatte ich.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sehr gut. – Herr Müller.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte nur sichergehen, dass es auch zur Debatte beiträgt.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das nehme ich als Kompliment. Herzlichen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das weiß man erst hinterher.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich hatte ja in meiner Rede durchaus darauf hingewiesen, was wir an der Reform des Kinderzuschlages gut finden. Aber ich habe auch in der Regierungsbefragung letzten Mittwoch die Ministerin sowohl zum Kinderzuschlag als auch zum BuT gefragt: Was sind eigentlich die Maßnahmen der Bundesregierung, um die Inanspruchnahme auszuweiten? Die Antwort war: Wir werden vielfältige Maßnahmen ergreifen. – Da habe ich mich ein bisschen veräppelt gefühlt. Jetzt hat die Kollegin Mast in ihrer Rede gesagt, die Abgeordneten des Bundestages sollen sozusagen als Boten der Bundesregierung durch die Republik reisen und sagen, was für schöne Gesetze beschlossen worden sind und dass die Menschen jetzt die entsprechenden Anträge stellen sollen. Das ist eigentlich nicht unser Job, sondern Aufgabe der Bundesregierung. ({0}) Jetzt würde ich gerne von Ihnen, Kollege Rix, wissen: Welche Maßnahmen würden Sie als sozialdemokratische Bundestagsfraktion vorschlagen, um die teilweise katastrophale Quote der Inanspruchnahme, die beim BuT zur Unterdeckung des garantierten Existenzminimums – Herr Lehmann hat darauf hingewiesen – führt, zu erhöhen, damit Kinder nicht mehr unter dem Existenzminimum leben, weil die Eltern möglicherweise überfordert sind mit der Antragsflut? ({1})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es entsteht zum Beispiel weniger Aufwand dadurch, dass wir einen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten einführen; das ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Es entsteht zum Beispiel weniger Aufwand dadurch, dass wir die Abbruchkanten abschaffen. Auch das bedeutet weniger Bürokratie. Ein längerer Bezug bedeutet auch weniger Bürokratie. Die ganz konkreten gesetzlichen Maßnahmen bedeuten weniger Bürokratie. Die Leistungen werden leichter zugänglich, es gibt mehr Leute, die sie in Anspruch nehmen, und sie werden höher; das ist auch ein Beitrag zum Abbau von Bürokratie. ({0}) Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Abschaffung des Eigenanteils beim Mittagessen und bei der Schülerbeförderung. Das ist auch ein Abbau von Bürokratie; das bedeutet auch weniger Antragsaufwand. Also: So zu tun, als ob hier gar kein Abbau stattfindet, ist nicht fair. Ich war dabei stehen geblieben, darüber zu sprechen, was stattdessen für Debatten aufgemacht werden. Einmal wird gesagt, dass die Maßnahmen nicht ausreichend seien. Gut, darüber kann man streiten; mehr geht immer. Aber ich stelle mindestens an die Adresse der FDP die Frage: Wo kommt das BuT eigentlich her? Es ist ja nicht irgendwie unter einer bösen Großen Koalition entstanden, sondern es ist entstanden unter Schwarz-Gelb. ({1}) – Ja, im Vermittlungsausschuss; aber es ist ja nicht so, dass die FDP daran nicht beteiligt war. Das sollte man zumindest auch erwähnen. ({2}) Man sollte in Bezug auf dieses Gesetz nicht so tun, als ob das Ganze kompletter Blödsinn wäre, sondern auch Verantwortung tragen und sagen: Ja, das ist auch unsere Maßnahme gewesen. – Auch das wäre fair, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Stattdessen wird gesagt: Na ja, es gibt hier Milliarden an Geldern, die für Rente ausgegeben werden; aber viel zu wenig Geld wird gegen Kinderarmut ausgegeben. – Ich will mal darauf hinweisen, wie viele Milliarden durch den Verlust entstehen würden, wenn Sie alle Ihre Steuersenkungsprogramme durchsetzen würden. Das Geld wäre sinnvoller angebracht als Investition für Familien anstatt als Steuersenkung für Besserverdienende, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Eine letzte Bemerkung will ich noch machen. Wenn ich in Kiel zum Tanken gefahren bin, ({5}) habe ich immer den Aufruf bekommen, ich solle bitte bei der Aktion „Mach MITTAG“ mitmachen, einer wohltätigen Aktion von einem Verband unter der Schirmherrschaft des derzeitigen Bürgermeisters und der ehemaligen Bürgermeisterin von Kiel, die gesagt haben: Wir sammeln den 1 Euro, damit die 1-Euro-Zuzahlung fürs Mittagessen für denjenigen, die im Bezug von Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets sind, nicht mehr notwendig ist. – Heute wurde verkündet, dass sich der Verein auflöst, weil diese Maßnahme jetzt Gesetz ist. Das ist mal eine gute Auflösung eines wohltätigen Vereins, auch wenn es noch viel zu tun gibt. An dieser Stelle herzlichen Dank an die Aktiven in diesem Verein und herzlichen Dank an alle Aktiven, die sich gegen Kinderarmut engagieren. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Stephan Stracke ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gute Politik für Familien zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Lebenssituation von Familien ganz konkret und spürbar verbessern. Genau dies tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Mit dem Starke-Familien-Gesetz nehmen wir Familien mit kleinen Einkommen und Familien, die Grundsicherung beziehen, in den Blick. Wir nehmen über 1 Milliarde Euro in die Hand, um deren Lebenssituation spürbar zu verbessern. Und wir wollen, dass Kinder und Jugendliche möglichst unabhängig von den finanziellen Mitteln des Elternhauses faire Chancen haben. Für uns gilt: Leistung und Talent sollen über die persönliche Zukunft entscheiden, nicht die soziale Herkunft. Deshalb gestalten wir den Kinderzuschlag neu. Für mehr Chancen steht das Bildungs- und Teilhabepaket, im Übrigen eine Idee der Union. Wir verbessern die Leistungen im Vergleich zum Regierungsentwurf noch weiter und entlasten spürbar die betroffenen Familien. Wir erhöhen die Zuwendungen aus dem Schulstarterpaket von 100 auf 150 Euro. Wir schaffen die Eigenbeteiligung beim Mittagessen und bei der Schulbeförderung ab. Wir erleichtern den Zugang zu den Leistungen der Lernförderung. Und uns als Union war besonders wichtig, dass wir den Zuschuss für den Besuch eines Sportvereins oder einer Musikschule anheben, und zwar von 10 Euro auf 15 Euro. Wir verzichten dabei aber auf eine Spitzabrechnung; wir machen dies pauschal. Das eröffnet mehr Spielräume und ist auch bürokratiearm. Es bleibt dabei: Im Einzelfall werden weitere tatsächliche Aufwendungen berücksichtigt, beispielsweise für Musikinstrumente oder anderes. Wir stellen damit unter dem Strich sicher, dass alle Kinder und Jugendlichen mehr Chancen auf Bildung und Teilhabe haben. Das ist ein deutlicher sozialpolitischer Fortschritt. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch mehr Geldleistungen, pauschale Abrechnungen, durch Sammelanträge entbürokratisieren wir das Verfahren für die Leistungsempfänger, aber auch für die Jobcenter. Das Verfahren werden wir darüber hinaus auch digitalisieren; das ist richtig und wichtig. Und wir wollen, dass das Geld auch tatsächlich bei den Kindern ankommt und nicht anderweitig verwendet wird. Deshalb haben nun auch die Jobcenter die Möglichkeit, im Einzelfall nachzuhaken und Stichproben zu ziehen, damit die Zuwendungen aus den Dingen, die wir tun, auch bei den Kindern ankommen. Eine zweckwidrige Verwendung kann in Zukunft auch zurückgefordert werden; das war bislang nicht der Fall. Schließlich erleichtern wir den Eltern den Zugang zu den Leistungen. Bisher mussten die einzelnen Leistungen gesondert beantragt werden. Das war für viele schwierig und ein gravierendes Hemmnis für die Inanspruchnahme. Künftig fällt bei fast allen Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets die gesonderte Antragstellung weg; das nennen wir Globalantrag. Das bedeutet im Ergebnis: weniger Anträge, mehr Leistungen; weniger Bürokratie, mehr Teilhabe für Kinder und Jugendliche. Auch das ist ein Punkt, der uns als Union bei den parlamentarischen Beratungen besonders wichtig war. Unter dem Strich setzen wir das Bildungs- und Teilhabepaket mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen ganz neu auf und nehmen dafür über 220 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich in die Hand. Das beweist: Das Starke-Familien-Gesetz stärkt die Familien und ist zentraler Baustein zur Bekämpfung der Kinderarmut. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den vergangenen Jahren haben wir viel getan, um die Lebenssituation von Familien ganz konkret zu verbessern. Ich denke beispielsweise an das Baukindergeld – ein echter Renner. Es sorgt dafür, dass sich mehr Familien Wohneigentum leisten können. ({1}) Ich denke an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den massiven Ausbau der Plätze in Kindertagesstätten und die Verbesserung bei der Kitaqualität. Ich denke daran, dass man mehr Zeit für die Familie hat durch den Ausbau des Elterngeldes oder die Einführung des Elterngelds Plus. Wer selbst Kinder hat, weiß: Jeder Euro zählt. Deswegen ist es gut, dass wir auch das Kindergeld erhöht haben. Letztlich ist es das Gesamtpaket, das für Familien einzigartig ist. Darauf können wir berechtigt stolz sein. Wir denken familienfreundlich, und wir handeln auch so. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Herzliches Dankeschön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Stracke. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8613, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/7504 und 19/8036 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – CDU/CSU und SPD. Gegenstimmen? – FDP und Linke. Enthaltungen? – Grüne und AfD. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das ist wieder die Koalition. Gegenprobe! – Dagegen sind Linke und FDP. Enthaltungen? – AfD und Grüne. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Zunächst der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8615. Wer stimmt dafür? – Die FDP. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU und SPD. Wer enthält sich? – AfD, Linke und Grüne. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/8616. Wer stimmt für den Antrag? – Die Linke und die Grünen. Gegenprobe! – Die Koalition und die FDP. Enthaltungen? – Die AfD. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 19/8613 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/1854 mit dem Titel „Kinderzuschlag automatisch auszahlen – Verdeckte Armut überwinden“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – CDU/CSU, SPD und FDP. Gegenprobe! – Die Grünen. Enthaltungen? – Linke und AfD. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/7451 mit dem Titel „Teilhabe für alle Kinder sicherstellen, Bürokratie abbauen“. Wer ist für die Beschlussempfehlung? – CDU, SPD, FDP und AfD. Gegenprobe! – Die Grünen. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 6 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8560 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Altersarmut ist ein Riesenproblem. Was bedeutet Altersarmut? Altersarm sind nicht nur diejenigen, die heute trotz einer Rente den Gang zum Sozialamt antreten müssen und dann durchschnittlich 796 Euro Grundsicherung im Alter netto inklusive Miete erhalten, also das Existenzminimum. Das sind aktuell 421 500 Menschen oder die berühmten 2,7 Prozent der Altersrentnerinnen und ‑rentner. Es gibt viel mehr arme Alte. Meine Damen und Herren, die Altersarmut nimmt seit Jahren zu. Die Armutsgrenze der Europäischen Kommission für Deutschland liegt 300 Euro über dem Existenzminimum und damit bei 1 096 Euro netto für Alleinlebende. Danach sind schon heute 2,8 Millionen Menschen, die älter als 65 sind, als arm zu bezeichnen. Meine Damen und Herren, 2,8 Millionen Menschen leben schon heute in Altersarmut in einem der reichsten Länder der Welt. Das ist absolut unerträglich, skandalös und durch nichts zu rechtfertigen. Das muss unbedingt ein Ende haben. ({0}) Eine der wichtigsten Ursachen ist und bleibt die Absenkung des Rentenniveaus durch SPD und Grüne unter lautstarkem Beifall von Union und FDP. 2003 mussten Beschäftigte mit Durchschnittseinkommen 24 Jahre arbeiten, um im Alter nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Heute müssen Durchschnittsverdienende sage und schreibe 28 Jahre arbeiten, um über die Grundsicherungsschwelle von 796 Euro zu kommen. Das sind vier Jahre mehr. Darum brauchen wir dringend eine rentenpolitische Kehrtwende. ({1}) Wie sieht die aus? Erstens. Das Rentenniveau muss wieder in etwa den Lebensstandard im Alter sichern. Deshalb darf es nicht bei 48 Prozent eingefroren werden. Die Linke fordert, das Rentenniveau wieder dauerhaft auf 53 Prozent anzuheben. ({2}) Damit stehen wir nicht allein. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und der Sozialverband Deutschland unterstützen beispielsweise diese Forderung nachdrücklich. 53 Prozent hieße, dass alle Renten der heutigen Rentnerinnen und Rentner und die künftigen Renten der heute jungen und mittelalten Beschäftigten in mehreren Schritten um 10 Prozent stiegen. Die sogenannte Standardrente nach 45 Jahren zum Durchschnittslohn betrüge dann zum 1. Juli beispielsweise nicht 1 323 Euro netto, sondern 1 456 Euro netto. Das wären 133 Euro mehr Rente netto jeden Monat. Das ist das Ziel. ({3}) Das hilft allen Generationen, den älteren und den noch jüngeren. Und eines ist klar: Wir brauchen gute Renten für die heute 80‑Jährigen und für die heute 18‑Jährigen. Wir dürfen Jung und Alt nicht gegeneinander ausspielen. ({4}) Zweitens. Viele Menschen haben keine Chance, zum Durchschnittsgehalt zu arbeiten. Darum muss der gesetzliche Mindestlohn umgehend auf mindestens 12 Euro pro Stunde angehoben und die Tarifbindung gestärkt werden. ({5}) Höhere Löhne und ein höheres Rentenniveau, das sind die wichtigsten Maßnahmen, um zukünftige Altersarmut zu verhindern. Drittens. Wir müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und ihre Folgen für die Rente abmildern. Deshalb sollen endlich wieder Rentenversicherungsbeiträge für Hartz‑IV-Betroffene gezahlt werden, und zwar auf Basis des halben Durchschnittsverdienstes, so wie es auch der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert. ({6}) Viertens fordert Die Linke seit langem, die Rente nach Mindestentgeltpunkten für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen zu reformieren und weiterzuführen. Das ist das gute Instrument, das Hubertus Heil leider fälschlicherweise als „Grundrente“ bezeichnet. Aber die SPD-Grundrente oder die linke Rente nach Mindestentgeltpunkten sind keine Wundermittel. Im Idealfall kämen Menschen nach jahrelanger Arbeit im Niedriglohnsektor ohne Bedürftigkeitsprüfung auf eine Rente in Höhe des Existenzminimums, und es gäbe deutlich weniger verdeckte Altersarmut. Das ist schon sehr viel. Aber wir unterscheiden uns in einem Punkt. Viele Frauen im Westen schaffen keine 35 Beitragsjahre. Darum sagt Die Linke: Wer mindestens 25 Jahre in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert war und dessen versicherungspflichtiges Einkommen zwischen 20 und 80 Prozent des Durchschnittsentgelts lag, erhält einen Zuschlag auf die Rente. Die durchschnittliche Rente dieser Menschen wird verdoppelt, maximal jedoch auf die Rentenhöhe, die sich aus einem Gehalt in Höhe von 80 Prozent des Durchschnittsentgelts ergibt. Das ist übrigens ein Vorschlag der CDU aus dem Jahr 1971. ({7}) Fünftens wollen wir, dass wieder fünf Jahre an Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildungszeiten rentensteigernd anerkannt werden. Das wäre sehr gut beispielsweise für alle Erzieherinnen und Erzieher. Sechstens. Für alle, denen trotz dieser Maßnahmen im Alter immer noch Armut droht, wollen wir eine echte einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente einführen. Diese orientiert sich in der Höhe an den beiden aktuell verwendeten Armutsschwellen von 999 Euro, Mikrozensus, und 1 096 Euro, EU-SILC, und soll demnach in der Mitte liegen, bei heute 1 050 Euro netto. Das heißt, wir müssen die gesetzliche Rente stärken. ({8}) Wie funktioniert die solidarische Mindestrente? Sie ist keine Sockelrente, keine Grundrente und auch keine Basisrente. Beispiel: Jemand hat einen gesetzlichen Rentenanspruch von 800 Euro, 100 Euro Betriebsrente und 50 Euro Riester-Rente. Das wären 950 Euro. Nach unserem Vorschlag kämen dann aus Steuermitteln 100 Euro dazu. Das ist die solidarische Mindestrente. ({9}) Meine Damen und Herren, unsere Forderungen sind solide finanzierbar, wenn man denn auf die Menschen hören würde. Die OECD hat die Menschen gefragt, wo ihnen der Schuh drückt: Sie haben alle Angst vor Altersarmut. Es wird gesagt, die Menschen in Deutschland seien bereit, 2 Prozent ihres Einkommens mehr in die gesetzliche Rente zu stecken, und 77 Prozent der Menschen in Deutschland wollen gerne höhere Steuern zahlen, um eine bessere Rente zu kriegen. Hören wir auf die Menschen, und führen wir endlich ein gerechteres Rentensystem ein! Danke schön. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Vor allem auch: Liebe Rentnerinnen und Rentner! Gestern war ein erfreulicher Tag. Die Deutsche Rentenversicherung und das Statistische Bundesamt konnten uns mitteilen, dass die gesetzlichen Renten am 1. Juli dieses Jahres im Westen um 3,18 Prozent und im Osten um 3,91 Prozent steigen werden. Was ist das Besondere an diesen Zahlen? Damit steigen die Renten zum zweiten Mal in Folge stärker als die durchschnittlichen Löhne in Deutschland, und das Rentenniveau sinkt nicht, sondern das Rentenniveau steigt erneut. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist früher von niemandem erwartet worden. Es ist deswegen sensationell, und es zeigt eines – und das ist das Wesentliche, was Herr Birkwald in seiner Rede überhaupt nicht erwähnt hat –: Die Renten und damit auch die Rentensteigerungen ({0}) hängen wesentlich davon ab, wie gut sich die Wirtschaft in unserem Land entwickelt und wie sich die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit ihren Beiträgen die Renten finanzieren, entwickeln. Ich finde, wir können zu Recht stolz darauf sein, dass wir es zum zweiten Mal in Folge schaffen, dass die wirtschaftliche Entwicklung und die Lohnentwicklung in Deutschland so gut sind, dass die Renten stärker steigen als die Löhne. Ich finde, das ist eine gute Nachricht für alle Rentnerinnen und Rentner in unserem Land. ({1}) Das ist übrigens die beste Vorkehrung gegen Armutsgefährdung und Altersarmut. In der Tat ist es so, dass Armutsgefährdung und die Beantragung von Grundsicherung, also von staatlicher Stütze, in der älteren Generation prozentual weniger stark zu Buche schlagen als in der jüngeren Generation. Trotzdem haben viele Mitbürgerinnen und Mitbürger das Gefühl: Altersarmut und Armutsgefährdung könnten für mich eines Tages zum Problem werden. Deswegen ist es richtig, dass wir uns als Parlament damit befassen und als Gesetzgeber darauf reagieren. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer Altersarmut wirklich gezielt bekämpfen will, dem rate ich dringend, nicht die Gießkanne in die Hand zu nehmen – sonst verteilt man Geld auch an viele, die es gar nicht dringend nötig haben –, sondern genau hinzuschauen und dort gezielt zu helfen, wo es notwendig ist. Das macht einen modernen und funktionalen Sozialstaat aus. Wir helfen zielgerichtet. ({2}) Dazu ist ein Fünf-Punkte-Programm notwendig, das ich kurz erklären will. Erstens. Besonders schwierig haben es diejenigen, die wegen Krankheit oder Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsleben aussteigen und Erwerbsminderungsrente beantragen müssen. Deswegen haben wir mit dem Rentenpaket I dieser Großen Koalition die Berechnung der Erwerbsminderungsrente auf neue Füße gestellt, damit derjenige, der einen Unfall erleidet oder krank wird, in der Regel damit rechnen kann, eine Erwerbsminderungsrente zu erhalten, von der er auch leben kann. Das wird sich in Zukunft als heilsam erweisen hinsichtlich der Bekämpfung von Altersarmut. ({3}) Zweitens. Wenn wir uns anschauen, welche Mitbürgerinnen und Mitbürger im Alter Grundsicherung, also staatliche Stütze, beantragen müssen, dann stellen wir fest, dass darunter rund 50 Prozent Personen sind, die gar keinen Anspruch gegenüber der Rentenversicherung haben. Die würden also von dem, was Die Linke in ihrem Antrag vorschlägt, überhaupt nicht profitieren. ({4}) Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist ein zentrales Vorhaben dieser Großen Koalition: Wir wollen auch eine Alterssicherungspflicht für Selbstständige schaffen, damit jeder in Deutschland rechtzeitig ausreichend für das Alter anspart und nicht am Schluss ohne irgendetwas dasteht. Das ist wichtig, um Altersarmut in Deutschland im Kern zu bekämpfen. ({5}) Dritter Punkt: die Frauen. Nach wie vor, vor allem im Westen Deutschlands, sind Frauen, weil sie wegen Kindererziehung lange Zeit nicht, nur halbtags oder anders reduziert gearbeitet haben, armutsgefährdet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, deswegen war es richtig und notwendig, dass wir in der letzten Legislaturperiode, aber auch in dieser Legislaturperiode die Mütterrente kräftig aufgestockt haben. Das ist eine echte Hilfe, um Altersarmut bei Frauen zu verhindern. ({6}) Dazu gehört auch Folgendes, was wenige wissen: Die Rente nach Mindestentgeltpunkten, von der Herr Birkwald gesprochen hat und die die meisten nicht verstehen, gibt es für Frauen weiterhin. In den ersten zehn Lebensjahren eines Kindes stocken wir die Rentenansprüche auf, und zwar nicht nur, wie Die Linke es fordert, auf 0,8 Entgeltpunkte, sondern für die Berechnung werden 100 Prozent des Durchschnittsverdienstes eines Arbeitnehmers zugrunde gelegt. Allein in den ersten zehn Lebensjahren des Kindes ist also 1 Entgeltpunkt möglich allein durch die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten. Auch das ist eine wichtige Hilfe, um die Renten von Frauen in Zukunft deutlich zu verbessern. ({7}) Viertens. Auch und gerade Geringverdiener sind darauf angewiesen, dass sie neben der gesetzlichen Rente eine zusätzliche Altersversorgung haben. Deswegen war dies eine unserer wichtigsten Reformen: Wenn jemand zusätzlich etwas fürs Alter anspart, dann wird das nachher nicht mit der Grundsicherung verrechnet, sondern wir sehen einen Freibetrag von bis zu 212 Euro monatlich vor. Dieses Geld kann man behalten, zusätzlich zur Grundsicherung. Das ist mehr als das, was Herr Birkwald beantragt hat. 212 Euro obendrauf, das ist heute möglich. ({8}) Klar, der Geringverdiener kann sich kein Geld abzwacken. ({9}) Deswegen war die wichtigste Reform, die wir gemacht haben, dass wir für Geringverdiener eine eigene, rein arbeitgeberfinanzierte Förderung der betrieblichen Altersvorsorge eingeführt haben, die der Arbeitgeber vom Staat über die Steuer zu einem guten Teil refinanziert bekommt. Die Geringverdienerförderung im Bereich der Altersvorsorge sollten jetzt alle Geringverdiener und alle Betriebe in Deutschland nutzen. ({10}) Fünfter Punkt. Trotzdem kann es sein, dass jemand, der lange gearbeitet hat, der lange Beiträge gezahlt hat – 35 Jahre lang –, am Ende Grundsicherung beantragen muss. Wir haben gesagt: Der darf nicht so schlecht dastehen wie jemand, der nie in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Deswegen ist unser großes Vorhaben: Wir wollen eine Grundrente schaffen, bei der derjenige, der 35 Jahre Beiträge gezahlt hat, mehr bekommt als nur Grundsicherung. Wir streiten uns noch über die Modelle, die es gibt; aber wir sind entschlossen, zu handeln. Ja, wir versprechen: Wer 35 Jahre und mehr Beitragsjahre hat, der wird in Zukunft mehr haben als die Grundsicherung. Das ist unser Ziel. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-­Ziesing. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! Heute besprechen wir den Grund, warum Die Linke im Ausschuss für Arbeit und Soziales eine zügige Bearbeitung unseres sinnvollen Antrages zur Armutsbekämpfung bei Rentnern behindert hat. Wir haben uns neulich schon gewundert, warum der Anhörungstermin so stark nach hinten verschoben wurde. Nun wissen wir, warum: Der Linksfraktion ist eingefallen, dass sie gar keinen eignen Antrag zu diesem Thema hat, und es kommt für die Linksfraktion natürlich nicht infrage, sich mit einem sinnvollen Antrag der AfD auseinanderzusetzen. Dann also lieber unseren Antrag auf die lange Bank schieben und in der Zwischenzeit schnell einen eigenen Antrag zusammenschreiben, damit man auch mitspielen darf. ({0}) – Nun ja. Kollege Birkwald hat in seinem Antrag die Istsituation in der Rentenversicherung richtig beschrieben: Die Altersarmut weitet sich immer mehr aus. Spätestens seit der Schröder-Riester-Reform 2001 hat sich die Lage der Rentner in Deutschland dramatisch verschlechtert. Wurde bis dahin auf das Leistungsniveau der Rente geachtet, musste sich nun die Rentenhöhe an die gewollt niedrigen Beiträge anpassen. Die Versicherten sollten die zwei anderen Säulen der Altersvorsorge nutzen, die Riester-Rente und die betriebliche Altersvorsorge, um überhaupt auf eine angemessene Rente zu kommen. Von dieser Reform profitierten vor allem die Arbeitgeber, weil die Lohnnebenkosten gesenkt wurden, und die Versicherungswirtschaft. Die Lebensversicherer nahmen übrigens 2016  18,3 Milliarden Euro mit Betriebsrenten ein. Schon über 20 Prozent ihrer Einnahmen kommen aus diesem Bereich. Es sind schon verheerende Auswirkungen dieser Reform zu spüren: Das Rentenniveau ist dramatisch abgesackt. Immer weniger gesellschaftlicher Reichtum landet bei den Rentnern. Obwohl die Zahl der Rentner Jahr für Jahr steigt, bekommen sie prozentual immer weniger vom Sozialprodukt ab. Von 2003 bis 2015 sank der Anteil der Rentenzahlungen am Bruttoinlandsprodukt um über 10 Prozent. Bereits heute sind laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die Rentner stärker von Armut betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Man muss es immer wieder betonen: Das waren Reformen der ehemaligen Volkspartei SPD, die sich auf die Fahne geschrieben hatte, sich um die einfachen, fleißigen Menschen zu kümmern. ({1}) Die SPD hat inzwischen erkannt, welch verheerende Auswirkungen ihr damaliges Regierungshandeln auf die Bevölkerung hat, und versucht nun, im Wahljahr 2019 dagegenzusteuern – leider sehr unkoordiniert und ungerecht und auf Kosten der Versichertengemeinschaft. Die neuen Maßnahmen des Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungs- und ‑Stabilisierungsgesetzes kosten jährlich über 4 Milliarden Euro, die nicht vom Ministerium ausgeglichen werden, sondern als versicherungsfremde Leistungen innerhalb der Versichertengemeinschaft finanziert werden müssen. Mit der neuen Idee der Einführung einer Respektrente will man Geld über einen Teil der Rentner ausschütten – ohne Bedarfsprüfung, ohne Prüfung, ob in Vollzeit oder Teilzeit gearbeitet wurde. Es wäre dem Arbeitsminister wirklich zu raten, erst einmal die Ergebnisse der Rentenkommission abzuwarten und diese dann umzusetzen, statt vorher das gesamte System der Rentenversicherung heillos durcheinanderzubringen. Lassen Sie hier lieber Experten ihre Arbeit machen und nicht das Wahlkampfbüro der SPD. ({2}) Die Linken versuchen mit ihrem Antrag, an einigen kleinen und einigen größeren Schrauben zu drehen, sind sich aber selbst nicht so richtig sicher, ob diese Maßnahmen dann wirklich nutzen werden. Am Ende soll es dann die solidarische Mindestrente richten, um dann doch alle Rentner gleichzumachen. Egal ob gearbeitet oder nicht, egal wie viel verdient, egal wie viel in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt wurde: eine Mindestrente für alle. ({3}) Unser Ziel muss doch aber sein, Menschen einen Anreiz zu geben, zu arbeiten, statt die hart arbeitenden Menschen mit denjenigen gleichzusetzen, die im Leben weniger oder im schlimmsten Fall nie gearbeitet haben. ({4}) Damit schaffen Sie, ähnlich wie Ihre Schwesterpartei SPD, weitere Ungerechtigkeiten. Es geht aber auch anders. Unser Antrag zur Armutsbekämpfung bei Rentnern, der kürzlich hier in erster Lesung behandelt wurde, richtet sich gezielt an die Rentner mit geringem Einkommen, die eine Grundsicherung beantragen müssen, um ihren Bedarf zum Leben überhaupt decken zu können. Genau diesen über 600 000 Alters- und Erwerbsminderungsrentnern möchten wir mit einer Anrechnungsfreistellung ihrer Rente bei der Grundsicherung helfen, sodass sie mindestens 15 Prozent ihrer anrechenbaren Rente behalten können. Anrechnungsfreistellungen gibt es bereits für die Riester-­Rente. Auch Hartz‑IV-Bezieher dürfen in bestimmten engen Grenzen dazuverdienen. Einen Teil der Rente anrechnungsfrei zu stellen, wäre bedeutend gerechter, als alle Rentner mit verschiedenen Erwerbsbiografien auf eine Stufe zu hieven. ({5}) Spätestens mit der Einführung eines Freibetrages für Betriebsrenten im Rahmen des Betriebsrentenstärkungsgesetzes hätte es eine modifizierte Regelung auch bei der gesetzlichen Rentenversicherung geben müssen. Ferner betrachtet unser Ansatz den Rentenzahlbetrag der Menschen, die die Grundsicherung beantragen müssen. Von diesem Rentenzahlbetrag sind die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bereits abgezogen. Die Miete wird ebenfalls von der Grundsicherung abgedeckt. Dann kommen unsere 15 Prozent der individuellen gesetzlichen Rente obendrauf, die jeder Rentner zur Verfügung hat und die nicht, wie im Heil’schen Modell, in Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen verpuffen. In einer Diskussionsrunde bei „Maybrit lllner“ im Februar zum Thema „Die fetten Jahre sind vorbei – wofür ist noch Geld da?“ bestätigte der Präsident des ifo-Instituts, Clemens Fuest, unseren Ansatz der Anrechnungsfreistellung. Das Werkzeug der Anrechnungsfreistellung bekämpft die Altersarmut zielgenau und kommt den wirklich Bedürftigen zugute. ({6}) Mit dem von uns eingebrachten Antrag verletzen wir auch nicht das Leistungsprinzip. Rentner mit einer höheren gesetzlichen Rente profitieren auch in höherem Ausmaß von der Anrechnungsfreistellung bei der Grundsicherung. Wir hätten das Problem der Altersarmut bereits angehen können, würde Die Linke nicht mit ihrer Blockadehaltung unseren Antrag im Ausschuss behindern. Den Rentnern von heute können wir mit unserem Vorschlag sofort helfen und dann eine umfassende Reform unseres Rentensystems in Angriff nehmen. Wir benötigen ein zukunftsfestes Rentensystem, in dem jegliche Privilegien von Politikern und Beamten aufgehoben werden. Es müssen endlich alle in das Rentensystem einzahlen. Denn erst dann hätten wir die Möglichkeit, zum Beispiel das Rentenniveau zu erhöhen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack das Wort. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Altersarmut ist ein Thema, das in der Mitte des Parlaments angekommen ist, und das ist gut und richtig. Alle haben hier unterschiedliche Konzepte vorgelegt – auch das ist gut und richtig –, die nun einer Bewertung bedürfen. Auch wir als SPD haben uns im Februar mit unseren Vorstellungen für die Bekämpfung von Altersarmut ins Zeug gelegt, und ich glaube, wir haben mit unseren Vorstellungen für eine Grundrente, die in der Bevölkerung auf massiven Zuspruch gestoßen ist, einen wichtigen und richtigen Schritt nach vorne gemacht. ({0}) Für uns ist klar, dass bei unserem Konzept diejenigen im Vordergrund stehen müssen, die zwar lange Beiträge eingezahlt haben, die aber in ihrer Erwerbsbiografie niedrige Löhne hatten bzw. nur in Teilzeit arbeiten konnten, weil die gesellschaftlichen Bedingungen eben so waren. Wenn es für die Erziehung der Kinder keine hinreichende Betreuung gab, gab es gar nicht die Alternative: Arbeite ich in Teilzeit oder in Vollzeit? Deswegen kann es aus unserer Sicht in der Rente nicht zur Bestrafung kommen. ({1}) Diejenigen sollen im Alter keine Fürsorgeleistungen, sondern eine Rente bekommen. Mein lieber Peter Weiß, ich bin überrascht, dass jetzt auch aus deinem Munde die Mütterrente als ein Instrument gegen die Altersarmut bezeichnet wurde. Wenn das so wäre, wenn sie denn ein Instrument gegen Altersarmut ist, dann müsste aus eurer Logik heraus erst recht die Bedürftigkeitsprüfung bei der Mütterrente eingeführt werden. ({2}) Weil wir uns aber bisher sehr einig waren, dass die Mütterrente kein Instrument gegen Altersarmut ist, sondern eine Anerkennung der Erziehungsleistung, gibt es dafür keine Bedürftigkeitsprüfung. Und weil es um die Anerkennung von Leistungen geht, gibt es auch bei unserer Grundrente keine Bedürftigkeitsprüfung. ({3}) Denn wir erkennen die Leistungen der gearbeiteten, aber auch der erzieherischen oder pflegerischen Lebenszeit an. Deswegen ist es sehr folgerichtig, dass wir eine Bedürftigkeitsprüfung ablehnen. Wir können sie auch nicht aus der Deutschen Rentenversicherung ableiten. Wir wissen auch – das belegen unterschiedliche Studien –, dass bis zu 70 Prozent derjenigen, die Ansprüche hätten, im Alter Sozialleistungen zu beziehen, diese aber nicht in Anspruch nehmen. Aus Scham, alles offenlegen zu müssen und im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, nehmen sie ihre Leistungen nicht in Anspruch. Auch deshalb ist es richtig, in der Systematik und Logik der Rentenversicherung zu bleiben und auch hier die Auszahlung ausschließlich über die Rentenversicherung zu regeln und das Sozialamt und seine Prüfkriterien komplett außen vor zu lassen. Auch das ist für uns Respekt vor der Leistung derjenigen, die lange in Arbeit waren und Kinder erzogen haben, die aber während ihrer Erwerbsarbeit niedrige Einkünfte hatten. ({4}) Wir halten es für zwingend und richtig, dass wir uns an dieser Stelle in den weiteren Diskussionen in den nächsten Monaten darüber verständigen, was aus unserer Sicht Respekt und Anerkennung ist und was das für diejenigen bedeutet, die auch mit ihrer pflegerischen und erzieherischen Leistung massiv dazu beigetragen haben, dass wir heute in einem wohlgesitteten und guten Land leben können. Deshalb ist für uns klar: Eine Grundrente ist keine Fürsorge-, sondern eine Rentenleistung. Deshalb gehört sie in die Rentenversicherung und nicht ins Sozialamt. An dieser Stelle können wir in den nächsten Wochen und Monaten gerne miteinander kritisch diskutieren. Am Ende haben wir recht. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner für die FDP-Fraktion: der Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Altersarmut“ treibt uns alle um, und es ist richtig, dass wir hier verschiedene Konzepte diskutieren. Wir sind der Überzeugung, dass wir, wenn wir über Altersarmut und Rentenpolitik reden, immer drei Ziele im Auge behalten müssen. Das eine ist natürlich, Armut zu verhindern. Das andere ist, dass wir ebenfalls an die Finanzierbarkeit denken müssen. Auch die Generationengerechtigkeit ist ganz entscheidend. Wir meinen, wir haben mit unserer Basisrente die überzeugendste Lösung vorgeschlagen. Bisher ist es so, dass die eigenen Rentenansprüche zu 100 Prozent auf die Grundsicherung angerechnet werden. Wer heute beispielsweise 500 Euro an eigenen Rentenansprüchen erworben hat und in die Grundsicherung fällt, hat von seinen eigenen Rentenansprüchen nichts. Das ist leistungsfeindlich und verhindert Altersarmut nicht. Was wir machen müssen – das wäre die einfachste Lösung –, ist, Freibeträge einzuführen. Deshalb fordert die FDP, dass in Zukunft 20 Prozent aus den eigenen Rentenansprüchen behalten werden dürfen. Dann hätte diese Person 100 Euro mehr als die Grundsicherung. Das wäre zielführend und gerecht. Es wäre leistungsgerecht, generationengerecht und finanzierbar, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Nun hat Die Linke auch einen Vorschlag eingebracht. Sie möchte den Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 20,9 Prozent erhöhen. Sie suggeriert im Text ihres Antrags, es handele sich hier nur um eine kleine Maßnahme: 39 Euro mehr im Monat für den Arbeitnehmer und 39 Euro mehr für den Arbeitgeber. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Matthias, ihr müsst das auch einmal in Summe rechnen! Dann geht es plötzlich um Milliardenbeträge. ({1}) Und ihr müsst eines immer bedenken: Wer ernten will, muss säen und den Acker pflegen. Ihr müsst auch daran denken, die volkswirtschaftliche Grundlage unseres Landes zu erhalten. Darüber macht ihr euch leider nie Gedanken. ({2}) Die Abgabenlast ist in Deutschland heute schon exorbitant hoch. Unsere Arbeitsplätze drohen an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Nur Belgien liegt in der Abgabenlast im OECD-Vergleich noch vor uns. Österreich – Platz 3 – liegt 7 Prozentpunkte hinter uns. ({3}) Und das in einer Zeit, wo sich unsere Volkswirtschaft auf enorme Veränderungen einstellen muss! Wir werden es in der Zukunft noch verschärfter mit der Globalisierung zu tun haben. Digitalisierung, Energiewende, Wirtschaft 4.0 – das sind große Herausforderungen, die wir stemmen müssen. Und in der Situation wollen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Arbeitgebern geradezu Fesseln anlegen? Sie wollen ihnen wichtiges Kapital entziehen, das sie aber benötigen, um diesen Wandel zu überstehen, damit es auch in Zukunft noch Arbeitsplätze gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, das ist die wichtige Voraussetzung: dass wir an die Zukunft denken. Denn es wird auch noch in zehn, zwanzig, dreißig und fünfzig Jahren Rentnerinnen und Rentner geben, deren Rentenanspruch finanziert werden muss. ({4}) Das muss die dann arbeitende Bevölkerung leisten. Wir müssen darauf achten, dass die Arbeitsplätze auch in der Zukunft hier erhalten bleiben und nicht in andere Länder abwandern. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Kober, der Kollege Birkwald würde gern eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie das?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, lieber Pascal Kober. Vorgestern hat die OECD eine Studie vorgelegt – The OECD Risks That Matter Survey 2018 –: Die Deutschen sorgen sich um ihre Rente und erwarten mehr von ihrer Regierung. – Da wurde in allen 36 OECD-Staaten abgefragt, wo die Menschen der Schuh drückt. Und in allen Staaten wurde gesagt: Altersarmut und Rente sind für uns ein Problem. ({0}) Ich will daher noch einmal auf zwei Punkte daraus hinweisen. Die Rente ist der Bereich mit der größten Bereitschaft zu höheren Ausgaben. 45 Prozent der Deutschen wären dazu bereit, zusätzlich 2 Prozent ihres Einkommens – bei einem Durchschnittsverdienenden wären das im kommenden Jahr rund 65 Euro im Monat – als Steuer- oder als Beitragszahlung zu leisten, um hierdurch Zugang zu besseren Rentenleistungen zu erhalten. Im Länderdurchschnitt sind 38 Prozent zu höheren Leistungen bereit. In Deutschland sind es deutlich mehr. Deswegen sollten auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber solidarisch mit ihren Beschäftigten sein und diese Bereitschaft ebenfalls an den Tag legen. Allein damit hätten wir schon ganz viel von dem, was wir vorgeschlagen haben, finanziert. Und ich will hinzufügen: In derselben OECD-Untersuchung heißt es: 77 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass die Regierung Reiche stärker als bisher besteuern sollte, um ärmere Bevölkerungsgruppen zu unterstützen. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, und wie bewerten Sie das? Vielen Dank.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Matthias Birkwald, ich nehme das zur Kenntnis. Das Entscheidende ist aber, wo diese 2 Prozent zusätzlich investiert werden – in ein System, das dann am Ende auch wirklich Ertrag bringt, ({0}) oder in ein Fass mit einem großen Loch, aus dem es ohne Effekt herausfließt. Deshalb sage ich beispielsweise: Wir müssen erreichen, dass die Menschen es in Zukunft in ihrem Erwerbsleben schaffen, mehr Eigentum aufzubauen. Nehmen wir das Beispiel Wohneigentum: Wer es heute schafft, bis zum Renteneintritt Wohneigentum zu erwerben, um im Alter mietfrei zu wohnen, hat die effektivste Lösung gefunden und die effektivste – wenn man so will – Rentensteigerung. ({1}) Das müssen wir schaffen. Viele können das nicht. ({2}) Aber wir können die Zahl der Menschen, die es können, mit der richtigen Politik erhöhen, und deshalb ist die Antwort auf diese OECD-Studie: Ja, investieren wir diese 2 Prozent in Systeme, die dann auch tatsächlich eine Rendite, einen Ertrag, ein höheres Alterseinkommen bringen! ({3}) Sie verschleiern, liebe Kollegen der Linken, auch noch an anderer Stelle, indem Sie nämlich die Kosten verbergen wollen. Sie schreiben, das würde ja alles nur 6 Milliarden Euro mehr kosten als das, was die Große Koalition vorgelegt hat. ({4}) Aber das, was die Große Koalition vorgelegt hat, ist schon nicht mehr finanzierbar. ({5}) Schon im Jahr 2025 – sagt der eigene Experte der Rentenkommission – müssten zusätzlich 11 Milliarden Euro aus Steuermitteln in das System eingezahlt werden, um die Vorschläge der Großen Koalition zu finanzieren. Im Jahr 2035 wären es zusätzlich 80 Milliarden Euro. ({6}) Und im Jahr 2048 wären es zusätzlich 125 Milliarden Euro. Nicht finanzierbar, absolut nicht finanzierbar! Das ist unseriöse Politik. So kann man nicht mit den Menschen in unserem Land umgehen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Markus Kurth das Wort. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns bei Debatten wie diesen, wo es ja um Armutsrentnerinnen und ‑rentner geht, schon in die Lage derjenigen versetzen, mit denen wir es hier zu tun haben. Pascal Kober, wenn dann von Wohneigentum als der richtigen privaten Vorsorgeform die Rede ist, sollte man doch einmal überlegen, ausgehend von welchem Einkommen denn die Rentenansprüche, über die wir hier sprechen, erzielt werden. ({0}) Für die meisten ist doch gar nicht an Wohneigentum zu denken! Man muss auch sehr sorgfältig und ernsthaft überlegen, welche Erwartungen man weckt. Denn wenn man Armutsrentnerin oder -rentner mit 750 oder 800 Euro Rente im Monat ist – die Hälfte geht für die Miete drauf –, dann ist das Versprechen, dass plötzlich vielleicht 100 Euro mehr im Monat da sein werden, schon etwas ganz Großes für diese Menschen. Es handelt sich ja um Personen, die auch nicht mehr die Gelegenheit haben, durch eine Veränderung im Erwerbsleben mehr Einkommen zu erzielen. Da werden unglaubliche Hoffnungen geweckt, und die darf man nicht enttäuschen. Das verlangt uns eine besondere Ernsthaftigkeit in den Überlegungen dazu ab. Dazu gehört im Übrigen auch, liebe Sozialdemokraten, dass man die Finanzierung seiner Vorschläge als Regierungspartei darlegt und im Bundeshaushalt berücksichtigt. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, der Kollege Kober würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte schön.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Präsident! Lieber Markus Kurth, vielen Dank, dass die Zwischenfrage möglich ist. – Vielleicht erinnern Sie sich an den Anfang meiner Rede, wo ich gesagt habe, was der Vorschlag der FDP zur Bekämpfung der Altersarmut ist, nämlich die Basisrente, die genau diese 100 Euro beispielweise ermöglichen würde, die Sie selbst völlig zu Recht nicht als vernachlässigbar, sondern als großen Schritt für viele Menschen in diesem Land bezeichnet haben. Ich möchte aber Ihre Logik hinterfragen, dass Sie meinen Vorschlag zum mietfreien Wohnen im Alter kritisierten und sagten, dass dies infrage gestellt werden müsste, mit der Begründung: Weil es nicht allen möglich ist, soll es am besten keiner erreichen. ({0}) Sollten wir nicht eher sagen: „Gerade denen, die es derzeit nicht schaffen, ermöglichen wir es“? Damit hätten wir in Zukunft mehr Menschen, die im Alter mietfrei wohnen können. Dann wäre doch zumindest diesen Menschen deutlich geholfen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Worauf ich mit meiner Eingangsbemerkung, wir müssten uns in die Situation derer versetzen, die altersarm sind, hinweisen wollte, war nur, dass Empfehlungen – sicherlich gut gemeinte Empfehlungen – zur geeigneten Vorsorgeform auch zur Erwerbsbiografie passen müssen. Personen, die trotz jahrzehntelanger Versicherungs- und Beitragszeiten niedrige Renten erzielen, verfügten in aller Regel – ich würde fast sagen: in keinem Fall – nicht über das Erwerbseinkommen, das es ihnen ermöglicht hätte, Wohneigentum zu erwerben. Das wäre selbst mit dem komischen Baukindergeld – das sich ausgedacht wurde –, nicht möglich gewesen. ({0}) Diese Personen, die gar nicht die Chance darauf hatten, die vielmehr auf bezahlbaren Wohnraum, auf neue Gemeinnützigkeit bei den Wohnungsgesellschaften und vieles andere angewiesen sind, müssen sich doch leicht verhohnepipelt vorkommen, wenn ihnen als Empfehlung von dieser Stelle aus angedient wird: Mietfreies Wohnen ist der beste Schutz vor Armut im Alter. – Das wollte ich zum Ausdruck bringen. ({1}) Zum Modell der FDP komme ich nachher noch. Wie gesagt: Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen tun in der Debatte aus Respekt vor denen, über die wir reden, not. Dazu, liebe Koalitionäre – auch das kann ich Ihnen nicht ersparen –, gehört es, in der Debatte vielleicht auf bestimmte beliebte Stilmittel zu verzichten, zum Beispiel auf dieses Prinzip der kalkulierten gegenseitigen Provokation. Dieses manchmal für das Publikum etwas unappetitliche Mittel kann man ja anwenden, aber vielleicht nicht gerade bei einem Thema, mit dem Menschen sehr große Hoffnungen in Bezug auf ihr persönliches Leben verbinden. Kerstin Tack, Sprüche wie: „Am Ende haben wir recht“, helfen an dieser Stelle keinem. ({2}) So viel zum Grundsatz. ({3}) Jetzt zur Wirksamkeit der Instrumente. Der entscheidende Punkt muss doch sein, dass die Personen, die jahrzehntelang Versicherungsansprüche aufgebaut haben, aus der Grundsicherung herauskommen. Das Versicherungssystem, also die Rentenversicherung, muss gestärkt und ertüchtigt werden und muss Defizite aus dem Erwerbsleben ausgleichen. Das ist der entscheidende Punkt. ({4}) Das schafft so richtig keines der hier vorliegenden Modelle. Im Übrigen schafft das – ich habe mich da noch einmal eingelesen – auch die Grundrente der SPD, deren Mechanismen wir durchaus gutheißen, ({5}) nicht. Nein! Es gibt eine Studie vom 20. Februar dieses Jahres vom ifo-Institut, wonach in den allermeisten Fällen der Höherwertungsmechanismus, den Sie einführen wollen – ich erspare Ihnen jetzt die Zahlen im Detail –, nicht dazu führt, dass man aus der Grundsicherung rauskommt. Darum schlagen Sie auch ein Mischmodell mit einem Freibetrag in der Grundsicherung vor. Der Freibetrag in der Grundsicherung scheint ja hier für viele das Allheilmittel zu sein. Die FDP will ihn, die AfD möchte ihn. Auch die CSU hat es jetzt vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, ein Freibetrag in der Grundsicherung bedeutet: Man bleibt in der Grundsicherung – mit all den ganzen Regeln und Kautelen, mit der Bedürftigkeitsprüfung. Das ist keine Lösung innerhalb des Versicherungssystems. Genau das schlagen wir aber vor: eine Lösung innerhalb des Versicherungssystems. Wir nennen das Garantierente. ({6}) Einfach und klar: Wer 30 Versicherungsjahre hat, wozu im Übrigen dann auch Pflege- und Erziehungszeiten, auch Zeiten der Arbeitslosigkeit zählen, bekommt 30 Rentenpunkte. Ab dem 1. Juli 2019 würden das fast 1 000 Euro sein. Das ist eine klare, nachvollziehbare und vor allen Dingen im Versicherungssystem angesiedelte Lösung. Das sollte die Blaupause für Armutsbekämpfungsschritte sein. ({7}) Rechtsansprüche statt Almosen oder Wohltaten oder Fürsorgeleistungen! Diese Art von Rationalität, die sich aus dem Versicherungssystem ergibt, erspart es uns auch, wolkig solch lyrische Begriffe wie „Belohnung von Lebensleistung“ zu verwenden. Ich finde, ein Sozialstaat sollte nach klaren Regeln und Prinzipien funktionieren; gewährte Leistungen werden nicht wieder weggenommen. Der Begriff „Belohnung“ impliziert, dass man diese Belohnung auch wieder wegnehmen kann. Ich finde auch: Wir als Gesetzgeber oder der Staat können es sich überhaupt nicht herausnehmen, die Lebensleistung oder irgendwelche Leistungen von Menschen zu bewerten. Wer wollte das schon? Die Menschen sollen sich nach einer Versicherungszeit, nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit zu einem Versicherungssystem, auf daraus erwachsene Ansprüche verlassen können, ({8}) nicht auf paternalistische Geschenke, nach dem Motto: Die bekommst du, weil du es in deinem Leben gut gemacht hast. Selbst wenn man das so betrachten wollte, dann wären doch die Beträge, die hier in Rede stehen, ein bisschen wenig für eine Lebensleistung. Auch deswegen sollte man mit dem Begriff sehr vorsichtig sein und versuchen, etwas mehr Rationalität, Struktur und System in eine Sozialstaatsdebatte zu bringen, insbesondere mit Blick auf die Menschen, die Ansprüche auf Würde und darauf haben, dass ihre jahrzehntelange Zugehörigkeit als Beitragszahlerin und Beitragszahler einen entsprechenden Niederschlag findet. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Jana Schimke. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte hinkt. Sie hinkt deswegen, weil hier jeder versucht, die anderen mit den eigenen Vorschlägen zu überbieten, und eigentlich keiner deutlich macht, wie gefährlich der Antrag der Linken ist. Der Antrag der Linken und die Vorschläge, die Sie heute machen, legen letztendlich die Axt an das, was unseren Sozialstaat einmal stark gemacht hat: ({0}) Maß und Mitte in der Sozialpolitik, den Fokus immer darauf gerichtet, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, niemanden zu bevorzugen, niemanden zu benachteiligen, die Gesellschaft nicht zu spalten. ({1}) Worum geht es ganz konkret? Die Linke möchte die Rentensystematik so, wie wir sie kennen, aushebeln. ({2}) Sie wirft damit die Prinzipien der Gerechtigkeit, die wir in unserem Rentensystem sehr stark verankert haben, über Bord. Mir wird es angst um unseren gesellschaftlichen Frieden, weil Sie mit den Vorschlägen, die Sie hier einbringen, den Neid in unserer Gesellschaft schüren. ({3}) – Ich finde es erstaunlich, wie lustig Sie das finden. Das ist unglaublich. ({4}) Mir wird vor allem angst um jene, die all das einmal zu finanzieren haben. Meine Damen und Herren, der Antrag der Linken dreht sich – ich will es einmal so sagen – im Wesentlichen um drei Punkte. Punkt eins. Sie wollen das sogenannte Äquivalenzprinzip abschaffen. ({5}) Was ist das Äquivalenzprinzip? Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass man in der gesetzlichen Rente das herausbekommt, was man einmal eingezahlt hat. Sie möchten künftig aber auch Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit in der gesetzlichen Rente berücksichtigen. ({6}) Sie möchten niedrige Löhne künstlich aufwerten. Sie möchten natürlich auch eine Mindestrente einführen, sozusagen ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Rente, ({7}) und damit mehr und mehr versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rente einführen. Damit, meine Damen und Herren, wird die gesetzliche Rente mehr und mehr zum Spielball der Politik. Das können wir nicht wollen. Ich sage Ihnen noch eines. Das Rentensystem, so wie wir es haben, ist solide. Es ist mir wichtig, das an dieser Stelle zu sagen. Natürlich: Nicht bei jedem reicht die Rente immer aus, nicht jeder ist zufrieden mit dem, was er am Ende rausbekommt. ({8}) Aber das System als solches, so wie es funktioniert, so wie es die Mütter und Väter dieses Sozialstaates einmal aufgebaut haben, ist im tieferen Sinne auch gerecht. ({9}) Punkt zwei. Sie gefährden mit Ihren Vorschlägen im Antrag den gesellschaftlichen Frieden. Sie schüren einen Neid in der Gesellschaft, das ist unglaublich. ({10}) Sie wollen eine Erwerbstätigenversicherung für alle. Sie machen die Menschen glauben: Wenn jeder in die gesetzliche Rente einzahlt, dann wird sich die Situation des Einzelnen verbessern. – Das tut es nicht. ({11}) – Nein, das tut es nicht. ({12}) Das System bleibt als solches erhalten. Also, was soll diese Diskussion? Sie wollen die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze abschaffen. Warum haben wir in unserem gesetzlichen Rentensystem eine Beitragsbemessungsgrenze? Weil wir ganz klar sagen: Gesetzliche Rente hat eben nicht den Anspruch, ohne Ende abzusichern, sondern nur in einem gewissen Mindestmaß. Man hat sich das irgendwann einmal ausgedacht, um zu sagen, dass eben all jene, die mehr verdienen und über dieser Grenze liegen, selbst in zusätzliche Anwartschaften, privat oder betrieblich, investieren müssen, können und auch dürfen. Das ist auch eine Form von Freiheit, von Entscheidungsfreiheit. Das möchten Sie abschaffen. Die Rentenversicherung sagt auch: Wenn man diese Beitragsbemessungsgrenze abschafft und künftig jeder einzahlen muss, dann erwirbt er natürlich auch Rentenansprüche. ({13}) Das wiederum, meine Damen und Herren, überfordert aber unser Rentenversicherungssystem; denn wer viel einzahlt, erhält am Ende auch mehr. Das darf nicht sein. Das ist nicht Ausdruck einer vernünftigen Rentenversicherungspolitik. ({14}) Jetzt komme ich zu dem dritten Punkt, den ich für besonders gefährlich halte. Sie wollen die Rentenanwartschaften für höhere Löhne verringern. Das heißt, jemand, der mehr einzahlt, bekommt weniger Rente, als ihm zusteht. Leistung würde sich dadurch in unserem Land nicht mehr lohnen. Sie würde sogar bestraft. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was sind Ihnen eigentlich die Menschen in diesem Lande wert? ({15}) Arbeiten Sie nur für jene, die weniger haben? Denken Sie nicht an jene, die vielleicht mehr leisten, mehr einzahlen und mehr bekommen? Ist Ihnen das egal? ({16}) Unser Sozialsystem dient nicht der Umverteilung. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein System der Umverteilung: Das ist das Steuersystem, aber nicht das Sozialversicherungssystem. Ihre Ideen der Umverteilung, Ihre Ideen des Neids haben in der sozialen Sicherung nichts verloren, meine Damen und Herren. ({17}) Ich bin jemand, der in diesem Lande immer noch an Leistungsgerechtigkeit glaubt. Das, was Sie tun, ist, Leistungsgerechtigkeit abzuschaffen und jene zu bestrafen, die in der Lage sind, mehr zu leisten. Ein letzter Punkt. Ich möchte auf die Anliegen der jungen Generation zu sprechen kommen. Diese scheinen offensichtlich jedem egal zu sein. ({18}) – Gut zu hören. Vielleicht höre ich das ja heute von Ihnen. ({19}) Sie fordern, dass der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung sofort auf 20,9 Prozent ansteigt und bis 2030 auf über 25 Prozent steigen kann, ({20}) nach dem Motto „Das ist ja alles nicht so schlimm“. Damit, meine Damen und Herren, erhöhen Sie die Lohnkosten und die Belastungen immer mehr, und Sie machen den Sozialstaat damit immer unattraktiver. Worum muss es gehen, meine Damen und Herren? Wir brauchen die jungen Menschen. Die junge Generation in unserem Land braucht einfach mehr Luft zum Atmen. Sie braucht mehr Freiraum zur Vorsorge. Warum nicht bei Steuern Entlastungen schaffen? Warum nicht bei den Sozialbeiträgen entlasten? Natürlich kann ein Staat sich engagieren – das soll er auch –, aber das kann er doch auch in der zweiten und dritten Säule tun. Das kann er tun, indem er die betriebliche Altersvorsorge unterstützt. Das kann er tun, indem er die private Altersvorsorge unterstützt und damit positive Anreize zur eigenen Vorsorge setzt, statt alles zu verbieten, vorzugeben und vorzuschreiben. Meine Damen und Herren, liebe Kollegen der Linken, mit Ihrem Antrag nehmen Sie den jungen Menschen die Luft zum Atmen. ({21}) Irgendwann würde eine Gesellschaft an Ihren Vorschlägen ersticken. Das haben wir schon einmal erlebt, und deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({22})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Till Mansmann, FDP-Fraktion. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen insbesondere von der Linksfraktion, in einem Punkt haben Sie in Ihrem Antrag durchaus recht: Ganz gleich, ob im Umlageverfahren oder durch Kapitalrücklage – wer im Berufsleben schon nicht viel verdient hat, gerät im Alter durchaus in die Gefahr von Armut. Wir alle wünschen uns natürlich für unsere Bürger, dass sie über alle ihre Lebensphasen hinweg auskömmlich versorgt sind. Aber auf dem Weg dahin machen Sie nicht nur Denkfehler in der Analyse, sondern schlagen auch politisch einen völlig falschen Weg vor. In Ihrem Antrag haben Sie am Ende übersichtlich aufgelistet, was Sie ändern wollen. Im ersten Punkt fordern Sie, dass die Bundesregierung dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorlegt, um den gesetzlichen Mindestlohn auf mindestens 12 Euro anzuheben. ({0}) Das klingt bei Ihnen so leicht, wäre aber ein Paradigmenwechsel in der Tarifpolitik. Uns allen ist doch klar – deswegen haben die Gewerkschaften auch lange gegen den Mindestlohn gestanden –, dass der Mindestlohn ein gravierender Eingriff in die Tarifautonomie ist. Es gibt natürlich Gründe für diesen systemrelevanten Eingriff. Dass eine Expertenkommission zum Schutz vor den politischen Nebenwirkungen dieser Maßnahme die Vorschläge macht, findet hier im Hause aber eine breite Mehrheit; und das ist richtig so. Genau an diesen Konsens legen Sie die Axt an. Allein dieser Punkt muss – da bin ich ziemlich sicher – dazu führen, dass Sie mit diesem Ansinnen heute außerhalb Ihrer eigenen Fraktion nicht sehr viele Unterstützer finden. ({1}) Der Fehler, den Sie machen, ist, die Frage der Höhe des Mindestlohns ausschließlich aus politischer Sicht zu betrachten und die ökonomischen, die volkswirtschaftlichen, aber auch die rechtlichen Wirkungen – wir reden über Vertragsfreiheit – völlig auszublenden. ({2}) Das ist, um es kurz auf den Punkt zu bringen, nicht komplex genug. In meiner knappen Redezeit möchte ich noch auf einen weiteren grundsätzlichen Fehler in Ihrer Argumentationskette eingehen. Sie sprechen von Altersarmut. Wir haben da in Deutschland ein Problem; jeder einzelne Fall bewegt uns alle. Die Situation zu dramatisieren, ist allerdings auch nicht sachgemäß. ({3}) Lassen wir die Kirche im Dorf. Betroffen sind derzeit 2,7 Prozent der Rentenbezieher. ({4}) In absoluten Zahlen betrachtet, ist die Lage dramatisch genug: Hunderttausende Rentner sind betroffen. Wenn Sie das allerdings zum Massenphänomen erklären, entfernen Sie sich leider von einer zielgerichteten Lösung. ({5}) Was ist an Ihren Plänen vor allem falsch? Sie sind unglaublich teuer. So ist das, wenn man ein Problem, das groß ist, durch Aufbauschen noch größer macht und dann einen entsprechend ausufernden Lösungsvorschlag vorlegt. Der Kollege Pascal Kober hat Ihnen vorgerechnet, was es kostet, und der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion hat es „Gießkanne“ genannt – und das ganz zu Recht. Wenn Sie sehen wollen, wie man das Problem „Rente und Altersarmut“ zielgenau löst, dann schauen Sie sich einmal unseren Rentenvorschlag, die Basisrente, an. ({6}) Mein Kollege Kober hat ihn hier schon vorgestellt. Wir sind der Auffassung, dass jeder, der Leistung erbringt, im Alter besser dastehen muss als nur mit der Grundsicherung, auf die jeder Anspruch hat. ({7}) Unser Vorschlag ist finanzierbar und setzt genau bei den Leuten an, die schwierige Erwerbsbiografien haben, aber im Laufe ihres Lebens vielfach durchaus Leistung erbracht haben. Wir finden es jedenfalls gut, dass wir wieder über dieses Thema hier sprechen und freuen uns auf die Auseinandersetzung im Ausschuss. Vielen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass Die Linke das Thema Altersarmut auf die Tagesordnung gesetzt hat. Unsere Antwort – Kerstin Tack hat es gesagt – heißt Grundrente, und Hubertus Heil hat dazu ein gutes Konzept vorgelegt. ({0}) Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt dieses Konzept. ({1}) Es geht uns um zweierlei: darum, Altersarmut zu bekämpfen, und darum, Lebensleistung anzuerkennen. Meine Damen und Herren, Lebensleistung ist unabhängig davon, wo und mit wem ich zusammenlebe. ({2}) Die Zahlen zeigen: Von dieser Grundrente werden vor allem Frauen profitieren. Das ist auch kein Wunder; denn es sind vor allem Frauen, die in schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Erst am Montag dieser Woche wurden wir mit dem Equal Pay Day wieder daran erinnert. Ich finde es schon einen Hohn, dass die Kollegen von FDP und AfD in der Ausschusssitzung gestern den Eindruck erweckt haben, die Frauen wären an ihrer Situation selber schuld. Das ist ein Hohn und sagt viel über Ihre Einstellung aus. ({3}) Meine Damen und Herren, es geht nämlich um Kassiererinnen oder Friseurinnen, die 40 Jahre lang auf Mindestlohnniveau gearbeitet haben. Und es geht um Frauen, die Kinder bekommen und erzogen haben, deshalb aus dem Beruf ausgeschieden und später überwiegend in Teilzeit wieder eingestiegen sind.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, der Kollege Pascal Kober würde gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Lieber Martin Rosemann, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Es ist ein bisschen unfair, wenn Sie aus Ausschusssitzungen, die nichtöffentlich sind, hier im öffentlichen Plenum zitieren und sich niemand ein Bild davon machen kann, ob Sie richtig zitiert haben. Vielleicht haben Sie dieselbe Erinnerung wie ich an die Diskussion gestern im Ausschuss: Wir haben versucht, hinsichtlich des Zustandekommens der Gender Pay Gap von 21 Prozent zu differenzieren. Man vergleicht alle Berufsverhältnisse von Frauen mit allen Berufsverhältnissen von Männern, ({0}) man vergleicht die Summe von Berufsverhältnissen von Frauen, von denen viele in Pflegeberufen oder in geringer bezahlten Beschäftigungsverhältnissen sind, mit der Summe von Berufsverhältnissen von Männern, von denen sehr viele im Hochlohnbereich arbeiten. ({1}) Das trägt nicht zur Problemlösung bei. Man muss sich vielmehr darauf konzentrieren, ob eine Frau und ein Mann auf der gleichen beruflichen Ebene gleich viel oder unterschiedlich viel verdienen. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Was muss passieren, damit auch Frauen in höher bezahlte Beschäftigungsverhältnisse wechseln? Es ist eine sehr differenzierte und sachliche Diskussion gewesen, ({2}) die Sie und insbesondere die Kollegen der Grünen durch Nichtzuhören, durch Nichtzuhörenwollen mit Zwischenrufen konterkariert haben. Sie waren in keinster Weise an einer sachlichen Diskussion interessiert. Erinnern Sie sich nicht auch, dass es so war?

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Pascal Kober, den Vorwurf, wir oder ich persönlich hätte die Diskussion durch Zwischenrufe gestört und wäre nicht an einer sachlichen Diskussion interessiert, weise ich entschieden zurück. Das Gegenteil ist richtig. Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat sich für unsere Fraktion in sehr sachlicher und differenzierter Weise an dieser Diskussion beteiligt. Natürlich müssen wir die Gender Pay Gap sehr differenziert betrachten. Die Gender Pay Gap hat unterschiedliche Ursachen und mehr Ursachen als nur direkte Lohndiskriminierung. Aber der Punkt ist doch, dass für all die Dinge, die Sie hier genannt haben – schlechtere Bezahlung in sozialen Berufen, schlechtere Aufstiegschancen von Frauen, weniger Frauen in Führungspositionen –, ({0}) eben nicht die Frauen die Verantwortung tragen, sondern dass es auf gesellschaftliche Umstände zurückzuführen ist, die wir verändern müssen. ({1}) Wir, die Politik, müssen dafür sorgen, dass Beschäftigte in sozialen Berufen besser bezahlt werden; denn diese werden überwiegend aus öffentlichen Mitteln bezahlt. Und wir, die Politik, müssen dafür sorgen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer besser wird, ({2}) dass Frauen und Männer in Vollzeit oder vollzeitnaher Teilzeit arbeiten können. Wir, die Politik, müssen dafür sorgen, dass die Aufstiegschancen von Frauen besser werden und die Frage von Aufstieg eben nicht davon abhängt, ob jemand in Vollzeit oder Teilzeit arbeitet. Das sind gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die wir gemeinsam mit den Sozialpartnern, gemeinsam mit der Wirtschaft verändern müssen. Damit können wir die Frauen nicht alleine lassen oder sie dafür verantwortlich machen. ({3}) Nun wird gesagt: Frauen sollten bei Teilzeitbeschäftigung keine Grundrente bekommen. Ich sage aber: Teilzeitbeschäftigung ist eben nicht frei gewählt. Vielmehr lag die Entscheidung an den Lebensumständen, häufig an fehlender Kinderbetreuung. Als ich ein kleines Kind war, Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre, gab es den Kindergarten erst für Kinder ab vier Jahren, und um 12 Uhr war Schluss. Das war in Westdeutschland Realität für die meisten Familien. Das zeigt: Wenn wir Altersarmut verhindern wollen, dann müssen wir Frauen und Männern gleichermaßen ermöglichen, eine eigene Altersvorsorge aufzubauen. Dazu gehört gute und flexible Kinderbetreuung; deswegen haben wir das Gute-Kita-Gesetz beschlossen. ({4}) Dazu gehört mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten; deswegen haben wir die Brückenteilzeit beschlossen. ({5}) Und dazu gehört auch mehr Flexibilität hinsichtlich des Arbeitsortes; deswegen werden wir einen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten in diesem Land durchsetzen. ({6}) Zentrale Voraussetzungen für gute Renten sind gute Bildung, gute Arbeit und gute Löhne. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen gute Arbeit für alle. Deshalb wollen wir die Spaltungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt überwinden: ({7}) die Spaltung zwischen guten Löhnen und schlechten Löhnen, zwischen guten Arbeitsbedingungen und schlechten Arbeitsbedingungen, zwischen Betriebsrenten und keinen Betriebsrenten, zwischen sicheren und befristeten Arbeitsplätzen – letztlich zwischen tarifgebundener und nichttarifgebundener Arbeit. Deswegen stehen und arbeiten wir für mehr Tarifbindung und mehr Sozialpartnerschaft durch mehr Allgemeinverbindlichkeit. Fangen wir in der Pflege damit an! ({8}) Dazu gehört auch, dass wir befristete Arbeitsverhältnisse einschränken und – ganz aktuell – dass wir bei den Paketzustellern durch die Durchgriffshaftung für bessere Arbeitsbedingungen sorgen. ({9}) Meine Damen und Herren, schließlich geht es darum, dass wir alle gemeinsam die große Herausforderung der Zukunft für unseren Arbeitsmarkt meistern: die Veränderung der Arbeitswelt durch Digitalisierung und technologischen Wandel. Das heißt, dass wir den Beschäftigten im Wandel Schutz und Chancen bieten, dass wir dafür sorgen, dass die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen machen können. Der Schlüssel dafür heißt Qualifizierung. Mit dem Qualifizierungschancengesetz unterstützen wir Beschäftigte bei der Weiterbildung. ({10}) Da wollen wir weitermachen und einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung schaffen. Unser Leitbild ist der Sozialstaat als Partner, der die Beschäftigten im Arbeitsleben berät und unterstützt, der schnell und unbürokratisch hilft, der Hilfe wie aus einer Hand gewährt, der Arbeit für alle ermöglicht und die Beschäftigten dabei unterstützt, gesund vom Arbeitsleben in die Rente zu kommen, in dem jedem und jeder die Unterstützung zukommt, die notwendig ist, ein Sozialstaat, der für uns alle das Leben leichter macht. Recht auf Arbeit statt bedingungsloses Grundeinkommen – das ist unsere Antwort auf den vor uns stehenden Wandel. Menschen für Menschen, keinen im Stich lassen – wir wollen die vor uns liegenden Herausforderungen gemeinsam und solidarisch anpacken, damit aus technologischem Fortschritt sozialer Fortschritt für alle, für die gesamte Gesellschaft wird. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich beschäftige mich jetzt wieder mit dem Antrag der Linken und nicht mit der allgemeinen Politik; denn wir müssen uns in der rentenpolitischen Debatte mit den Vorschlägen auseinandersetzen und sie entsprechend würdigen. Die Kollegen der Linken haben einen Antrag formuliert, der in der Öffentlichkeit letztendlich ein Zerrbild der Alterssicherung darstellen soll. ({0}) – Natürlich, Herr Kollege Birkwald. Sie versuchen hier, eine neue Armutsdefinition herbeizuführen. Da muss man feststellen: Die Grundsicherung bedeutet letztendlich auch Teilhabe am Leben, und zwar an einem würdigen Leben. So ist die Grundsicherung bei uns in Deutschland konzipiert, und darauf dürfen wir stolz sein. ({1}) Dann muss man auch feststellen, dass es sich nur um eine sogenannte singuläre Darstellung handelt, die immer auf Einzelpersonen abgestellt ist. Das ist sozusagen die Vergleichsbasis und Grundlage Ihres Antrags. Das ist falsch, Herr Kollege Birkwald. Vor allen Dingen ist es falsch, alles nur auf die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu reduzieren, Herr Kollege Birkwald. ({2}) Und wer falsche Grundlagen für ein zukünftiges Konzept legt, wird natürlich in Zukunft auch falsche Konzepte schmieden. Die Rentensituation in Deutschland ist ganz anders; das möchte ich hier darlegen. Sie haben wohlweislich darauf hingewiesen, dass nur 2,7 Prozent der Altersrentner auf Grundsicherung angewiesen sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass 97, knapp 98 Prozent ausreichend versorgt sind. ({3}) Und: Die Haushaltseinkommen der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland betragen durchschnittlich 1 961 Euro. Das ist vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt worden. Sie könnten auch auf diese Zahlen zurückgreifen. Vielleicht noch eine besondere Note: Von denjenigen, die im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind, haben 40 Prozent nie Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Auch das gehört dazu. ({4}) Das Entscheidende ist, eine besondere Vorsorge zu treffen. Da empfiehlt Die Linke zum einen die Erhöhung des Mindestlohns. Das hilft den derzeitigen Rentnerinnen und Rentnern in keinster Weise. ({5}) Ihnen helfen Rentenerhöhungen. Der Kollege Weiß hat dargestellt, dass es dieses Jahr eine Rentenerhöhung von über 3 Prozent zum 1. Juli geben wird. Das bedeutet eine durchschnittlich höhere Anpassung als bei der allgemeinen Anpassung der Löhne. Das ist auch auf den Nachholeffekt der guten Lohnentwicklung hier in Deutschland zurückzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Tollste ist: Sie empfehlen in Ihrem Antrag, die Riester-Förderung abzuschaffen. Das ist der Versuch der Linken, die Alterssicherung allein auf die gesetzliche Rentenversicherung zu reduzieren. ({6}) Das ist aber falsch und unverantwortlich gegenüber den jungen Erwerbstätigen der Zukunft; denn sie müssten dann die Zeche ({7}) und die Leistungsversprechen – die Tendenz ist steigend – zahlen. ({8}) Das kann meines Erachtens keine gute, zukunftsorientierte Politik sein, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken. ({9}) Die Kollegin Schimke hat darauf hingewiesen: Die Forderung nach der Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze und der dynamisierten Absenkung der Spitzenrenten zeigt sehr deutlich, dass Sie hier letztendlich einen großen Sozialausgleich in der Rentenversicherung tätigen wollen. Das widerspricht eklatant dem Versicherungsprinzip. Das Versicherungsprinzip bedeutet: Jeder Beitrag zählt gleich, und jeder Beitrag hat auch die gleiche Wirkung. Ich will, dass wir weiterhin eine Rentenversicherung haben und keine Rentenfürsorgeanstalt aus der gesetzlichen Rentenversicherung machen, wie Sie es wollen. ({10}) Deshalb tragen die Vorschläge, zukünftig auch Selbstständige, Beamte und Abgeordnete einzubeziehen, nicht zur Rettung des gesetzlichen Rentenversicherungssystems bei. Wir sind dafür, die Selbstständigen zu einer Vorsorgeverpflichtung heranzuziehen, in freier Entscheidung, ob in gesetzlicher Rentenversicherung oder kapi­talgedeckt. Aber wenn Sie sagen, dass bei Einbeziehung von Beamten oder Politikern das Rentenversicherungssystem gestärkt werden würde, dann muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie bei den Beamten die Ansprüche kürzen wollen, dann sagen Sie das auch. Wenn Sie das nicht wollen, dann ist es ein Nullsummenspiel. Dann müssen Sie die Frage beantworten, was wir mit der betrieblichen Altersversorgung machen, die bei Beamten in der Pension mit eingerechnet ist. Das müssen Sie erklären. Also, lieber Herr Kollege Birkwald, wollen Sie die Ansprüche der Beamten kürzen oder nicht? Wenn Sie sie kürzen wollen, dann sagen Sie es den Beamten, wenn nicht, dann ist es ein Nullsummenspiel und hilft in keiner Weise für die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist entscheidend für die Zukunft. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wünsche uns eine schöne, gedeihliche Auseinandersetzung um das bessere Konzept, das den Menschen eine besondere Alterssicherung gibt. Ich bin überzeugt: Der Dreiklang aus gesetzlicher Rentenversicherung, betrieblicher Altersversorgung und staatlich geförderter privater Vorsorge kann weiterhin die beste Grundlage für eine gute Alterssicherung der Menschen in Deutschland sein. Danke schön. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dagmar Schmidt. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass das Thema „Altersarmut“ auf der Tagesordnung steht – danke an die Linkspartei –; denn das gibt uns die Gelegenheit, über all das zu reden, was wir schon getan haben und was wir noch vorhaben. Ich erinnere daran, dass wir schon in der letzten Legislatur zahlreiche Verbesserungen bei der Rente umgesetzt haben. Ich erinnere an das Flexirentengesetz, das Betriebsrentenstärkungsgesetz, aber auch an die Verbesserungen bei der Reha, um die Gesundheit der Menschen zu schützen, die arbeiten. Auch im ersten Jahr der Großen Koalition II haben wir bereits mit dem Rentenpaket vieles erreicht. Wir haben das Rentenniveau bis 2025 auf 48 Prozent festgeschrieben. Somit folgen die Renten wieder stärker den Löhnen. ({0}) Wir haben dafür gesorgt, dass der Rentenbeitragssatz bis 2025 nicht über 20 Prozent steigt. Zusammen mit der Erhöhung des Steuerzuschusses sorgt das für mehr Gerechtigkeit für die heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für diejenigen, die viel arbeiten und trotzdem nicht viel verdienen. Wir haben die geringen Einkommen von Versicherungsbeiträgen entlastet, ohne dabei die Leistungen zu senken. Auch das war ein wichtiger Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. ({1}) Wir haben noch einmal eine Verbesserung bei der Mütterrente, bei der Anerkennung von Erziehungszeiten umgesetzt, und wir haben die Zurechnungszeiten bei erwerbsgeminderten Rentnerinnen und Rentnern verbessert. Ich glaube, das alles kann sich schon sehen lassen. Wir haben also schon vieles gemacht, aber nicht nur der Linkspartei reicht das noch nicht. Auch uns reicht das noch nicht. Deswegen haben wir noch ein bisschen was vor. Wir haben die Grundrente auf der Tagesordnung. Dazu ist schon vieles gesagt worden. Wir wollen – das hat auch Max Straubinger schon gesagt – aber auch den sozialen Schutz für Selbstständige verbessern; ({2}) denn kleine Selbstständige und Solo-Selbstständige sind heute überdurchschnittlich von Altersarmut betroffen. Wir werden die Selbstständigen, die nicht bereits anders abgesichert sind, mit in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Das führt nicht nur dazu, dass am Ende niemand mehr ohne Absicherung dasteht, sondern wir schaffen damit auch für kleine Selbstständige den Zugang zu den Leistungen der Rentenversicherung, das heißt zu den Erwerbsminderungsrenten und auch zu den Rehaleistungen. Auch das ist ein wichtiger Schritt gegen Altersarmut. ({3}) Und weil auch wir der Ansicht sind, dass bei der Frage einer guten und sicheren Rente über 2025 hinaus Handlungsbedarf besteht, haben wir mit der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ die Möglichkeit, über den Tag hinaus zu diskutieren. Die Ergebnisse, die uns im nächsten Jahr erreichen werden, werden sicher dafür sorgen, dass wir im Parlament noch viel zu diskutieren haben. Bei allem renten- und arbeitsmarktpolitischen Handeln gibt es, wenn es um ältere Menschen in Armut geht, nicht nur die Einkommensseite.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Moment mal, Frau Schmidt. – Ich bitte um etwas mehr Aufmerksamkeit für die Rednerin und darum, die Gespräche zurückzustellen. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. – Die Leistungen im Alter, die Rente im Alter, das Einkommen im Alter müssen stimmen. Aber die Leistung ist dann mehr wert, wenn es auf der anderen Seite auch die Angebote zur gesellschaftlichen Teilhabe gibt. Dabei geht es um Themen wie „Freizeit“, „Ehrenamt“, aber auch „Einsamkeit im Alter“ und „Mobilität im Alter“. Deswegen machen wir in Wirklichkeit noch viel mehr gegen Altersarmut als das, was hier bereits diskutiert worden ist. Wir tun vor allem viel gegen die Folgen von Altersarmut. Wir sichern die Handlungsfähigkeit vor Ort. Wir brauchen die soziale Infrastruktur vor Ort und starke und handlungsfähige Kommunen. Dafür haben wir die Kommunen bereits in der vergangenen Legislatur um 25 Milliarden Euro entlastet. Wir gehen diesen Weg auch weiter. Wir unterstützen weiterhin den Ausbau von Mehrgenerationenhäusern und setzen das Programm „Soziale Stadt“ fort. Mit dem Investitionspaket „Soziale Integration im Quartier“ stärken wir den sozialen Zusammenhalt. Die Sanierung kommunaler Einrichtungen fördern wir ebenso wie den sozialen Wohnungsbau und den Städtebau. ({0}) All das ist auch ein Beitrag zum Kampf gegen Altersarmut. In Zeiten, in denen viele Menschen verunsichert sind und sich oftmals schon mit dem Alltagsleben überfordert fühlen, ist es unsere Aufgabe, mehr Sicherheit zu geben und das Leben leichter zu machen – durch eine gute und sichere Rente, aber auch durch ein Recht auf gute und sichere Arbeit und Ausbildung, durch starke Kommunen und durch einen Sozialstaat als Partner, der vor Ort leicht erreichbar ist und einfach hilft. Viel erreicht haben wir schon; vieles haben wir noch vor. In diesem Sinne: Glück auf! ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8555 federführend an den Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie mitberatend an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute Nachmittag über die Verlängerung mehrerer Einsätze deutscher Soldatinnen und Soldaten, und es bleibt eine Besonderheit des Deutschen Bundestages, über jeden Einsatz hier im Hause zu beraten und zu entscheiden. Darin kommt unsere besondere Verantwortung zum Ausdruck, die wir mit diesen Einsätzen verbinden. Niemand hier macht sich diese Entscheidung leicht. ({0}) Das Mandat des NATO-geführten Einsatzes Resolute Support in Afghanistan ist nun einer der besonders schwierigen Einsätze. Wie der Titel deutlich macht, geht es um die Ausbildung und Beratung afghanischer Verteidigungs- und Sicherheitskräfte. Das ist eine besondere Herausforderung in einem Land, das seit Jahrzehnten nur den Zustand des Krieges kennt und nur den Zustand, zum Spielball unterschiedlicher Mächte geworden zu sein. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist auch nach 18 Jahren kritisch. Fast 4 000 getötete Zivilisten in 2018 sprechen eine erbarmungslose Sprache. Für uns besonders schmerzhaft: Auch wir haben seit Einsatzbeginn 58 Soldaten in Afghanistan verloren – schmerzhaft für uns, eine Katastrophe für jede Familie. Sie dürfen in unseren Debatten niemals vergessen werden. ({1}) Es gibt aber auch Entwicklungen, die Anlass zu etwas Hoffnung geben: die wirtschaftlichen Fortschritte, die Lebenserwartung, insbesondere die Kinder- und Säuglingssterblichkeit, die abnimmt, Alphabetisierungsraten junger Frauen und Männer, ein vor 2001 nicht dagewesenes Niveau an Schulbildung für Mädchen und Pressevielfalt und -freiheit. Ich durfte eine Gruppe von Frauen und Journalisten aus Afghanistan kennenlernen, die uns hier in Berlin besucht haben. Sie haben ein riesengroßes Vertrauen gerade zu uns Deutschen und hoffen, dass wir ihre Bemühungen, in Afghanistan Frieden und ein geordnetes Leben hinzubekommen, auch weiterhin begleiten und unterstützen, und das tun wir. Wir sind davon überzeugt, dass nicht durch Kampfeinsätze, sondern nur durch Friedensprozesse in Afghanistan tatsächlich weitergekommen und Frieden hergestellt werden kann. ({2}) In der internationalen Afghanistan-Kontaktgruppe hat Deutschland den Vorsitz. Über 50 Länder und internationale Organisationen kommen hier zusammen. Beim letzten Treffen in London haben wir eine Unterrichtung durch den Sonderbotschafter aus den USA, Zalmay K­halilz­ad, und den Verhandlungsführer der afghanischen Regierung, Umer Daudzai, organisieren können, was ganz offensichtlich zu einem spürbaren Abbau der Unsicherheit im internationalen Rahmen beitragen konnte. Bundesminister Heiko Maas besuchte vom 10. bis 12. März 2019 Afghanistan und Pakistan, um auf höchster Ebene die Beteiligten für einen Friedensprozess zu ermutigen. Ohne die Einbindung Pakistans lässt sich in Afghanistan nichts erreichen. ({3}) Was unsere Rolle im Besonderen ausmacht, ist doch, dass wir einen aktiven Dialog mit mehreren Seiten haben. Wir genießen das wichtigste Gut der Diplomatie, nämlich Vertrauen auf nahezu allen Seiten. Daher setzen wir uns auch im EU-Rahmen für die Formulierung gemeinsamer Prinzipien für ein afghanisches Friedensabkommen ein. Dazu gehört auch der Schutz fundamentaler Menschenrechte. Davon sind wir natürlich noch weit entfernt; aber unser Ziel ist es, ein nachhaltiges Abkommen zu erreichen, um zukünftige zivile Kooperation mit der EU zu ermöglichen. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: Alle an der Mission beteiligten Staaten müssen sich eingestehen, dass es ohne die Einbindung der Taliban nicht gehen wird. Wir sehen und begleiten diesen Prozess sehr kritisch; denn es darf eben nicht dazu kommen, dass das, was ich eben aufgezählt habe, das Erreichte für Frauen und Mädchen insbesondere der letzten Jahre, für diese Verhandlungen geopfert wird. Es ist ein Hoffnungsschimmer, den wir für diesen Prozess haben; aber den müssen wir gerade in diesen Zeiten nutzen. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Kestner für die Fraktion der AfD. ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Anwesende Damen und Herren! Zuschauer auf den Tribünen und vor den Fernsehgeräten! Kameraden in der Heimat und vor allen Dingen in der Ferne! ({0}) Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt. Diesen Satz hörten wir in der Vergangenheit recht häufig. Dieser Satz war damals falsch, und er ist es heute umso mehr. Viele von Ihnen, die heute hier sitzen, haben mehrfach dem Aufenthalt unserer Truppen in Afghanistan zugestimmt, mit allen Konsequenzen, die damals und heute daraus erwachsen sind. Schon seit 18 Jahren Kriegszustand hört man immer dieselben Floskeln: „Wir müssen Geduld haben“, „Dieses Land ist anders“, „Wir dürfen nicht unsere Maßstäbe anlegen“, „Wir müssen das Beste daraus machen“, „Wir dürfen nicht vorschnell handeln“, „Man muss seine Erwartungen zurückschrauben“, „Wir dürfen unsere Erfolge nicht gefährden“ usw. usw. Nur: Wo sind in 18 Jahren die Erfolge? Wo sind die selbstgesteckten Ziele? Wo ist die kritische Selbstreflexion als legitimierter Volkssouverän? Was wollten Sie nicht alles in diesem Land erreichen: legitime und stabile Staatlichkeit, nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die afghanischen Konfliktparteien in einen Friedens- und Versöhnungsprozess führen, Strukturen schaffen, die den unseren gleichen, und noch vieles, vieles mehr. ({1}) Man hat die Augen davor verschlossen, dass zu viele verschiedene Interessen existieren, die für unsere Vorstellungen nicht greifbar waren und bis heute auch nicht vorstellbar sind. Von Jahr zu Jahr hat man Durchhalteparolen ausgegeben, wie wichtig und unabdingbar der deutsche Einsatz am Hindukusch ist – eben haben wir es auch wieder gehört. Militärisch ist man damals in die Fläche gegangen, mit dem Irrglauben, man könnte das Land kontrollieren. Man verschanzt sich auf den Höhen 431 und 432 – Ernst Jünger hätte es in seinem Buch „In Stahlgewittern“ nicht besser beschreiben können. ({2}) Mit Patrouillen will man den Einsatzraum beherrschen, Hinterhalte, Sprengfallen und infanteristische Gefechte. 2. April 2010, Isa Khel in der Provinz Kunduz: Deutsche Fallschirmjäger geraten in einen Hinterhalt der Taliban und kämpfen tapfer, bis sie unter größten Mühen entsetzt werden können. Hauptfeldwebel Nils Bruns, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Augustyniak sind bei diesem Karfreitagsgefecht gefallen. Gefallene deutsche Soldaten, Verwundete an Körper und Seele: Das sind die Ergebnisse von 18 Jahren Bundeswehr am Hindukusch. Sie, die hier sitzen, Sie sprechen von Erfolgen? Ich spreche von erbrachten Opfern. ({3}) Sie verlangen, dass die Kinder unserer Nation für die selbige ihr Leben einsetzen, nehmen den Kameraden aber das soldatische Selbstverständnis, „Treue um Treue“ zu leben und es auch zu benennen. „Treue um Treue“ ist unabdingbar, wenn man solche Situationen überstehen, ja, wenn man sie überleben will. ({4}) Eine Generalität hat sich gebildet, für die Angst schon zur Morgenparole gehört, wo Karriere wichtiger ist, als sich schützend vor die eigenen Soldaten zu stellen. Wir brauchen mehr aufrichtige Offiziere als willenlose Paladine, die jeden Auftrag einer unfähigen Ministerin ohne Murren ausführen. ({5}) Heute setzt der Außenminister Maas auf eine friedliche Koexistenz mit den Taliban, die man noch vor Jahren mit allen Mitteln bekämpft hat. Wirtschaftlich gibt es in diesem Land keine nennenswerten Erfolge. Afghanistan ist der größte Drogenexporteur der Welt. Den Milliardengewinn heimsen die islamischen Taliban ein, und der IS ist mittlerweile auch schon beteiligt. Wer glaubt, die Taliban werden all unsere westlichen Werte und Errungenschaften dulden, der hat nicht verstanden, was diese Menschen antreibt, und vor allem, was ihre ureigene politische DNA ist. ({6}) Es gibt keinen klassischen Staat Afghanistan. Es gibt Ethnien, die über Jahrhunderte ihre jeweiligen Interessen vertreten haben, und das werden sie auch in Zukunft tun und nicht uns zuliebe ablegen. Wir müssen nicht darauf warten, dass die USA ihre Truppen abziehen oder deutlich reduzieren. Dieser Einsatz ist gescheitert und war es schon, als der erste deutsche Soldat dieses Land betreten hat, was einer inkompetenten militärischen Führung geschuldet war und auch immer noch ist. ({7}) Heute will man die sogenannten afghanischen Sicherheitskräfte befähigen, alleine die Kontrolle in diesem Land zu übernehmen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass Soldaten und Kräfte der Polizeieinheiten kämpfen und auch bei diesen Einsätzen fallen. Aber die militärische und zivile Struktur ist noch Jahrzehnte davon entfernt, all das alleine zu bewältigen, wenn es ihnen denn überhaupt gelingt. Wir haben jetzt die Option, auszusteigen. Nutzen wir sie! ({8}) Ich möchte mit den Worten von Marc Lindemann aus dem Buch „Unter Beschuss“ enden: Den tapferen Männern und Frauen im Einsatz wünsche ich allzeit viel Soldatenglück, eine gute Führung und dass es ihnen stets gelingt, ihren Auftrag zu erfüllen, auch wenn ihre Entbehrungen und Opfer von der deutschen Öffentlichkeit noch nicht annähernd angemessen gewürdigt werden. – Holen wir unsere Soldaten nach Hause! Danke schön. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Johann Wadephul. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder hier im Hause weiß, dass dies ein schwieriger, ein blutiger und einer unserer am längsten geführten Einsätze ist und – da knüpfe ich an die Ausführungen der Kollegin Özoğuz an – dass wir uns in der Tat jedes Mal wieder verantwortlich neu der Frage stellen müssen, ob der Einsatz gerechtfertigt ist. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion – erstens –: Die Begründung dieses Einsatzes – auch wenn Sie versuchen, das zu diskreditieren – besitzt Gültigkeit. Wir haben viel erreicht in diesem Land. ({0}) Wir haben dafür gesorgt, dass Kinder wieder unterrichtet werden, dass Frauen nicht weiter misshandelt und unterdrückt werden. ({1}) – Dass Ihnen möglicherweise eine Beendigung der Unterdrückung der Frauen in Afghanistan nicht am Herzen liegt, nehmen wir zur Kenntnis. ({2}) Für uns ist das wichtig; es ist ein Fortschritt im Sinne der Humanität, der erreicht worden ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir unterstützen die afghanischen Streitkräfte. Und: Sie sollten die Staatlichkeit Afghanistans nicht so infrage stellen, welches selber in den letzten Monaten zum Teil Verluste von bis zu 600 Soldaten im Monat hatte. Das heißt: Das afghanische Volk kämpft für eine neue Gemeinschaft und einen neuen Staat, kämpft gegen Terrorismus und für eine stabile Staatlichkeit. Wir sollten die Afghanen in dieser Situation nicht im Stich lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Zweitens. Wir stehen jetzt vor der Möglichkeit – man kann darüber diskutieren, ob es frühere Möglichkeiten oder Notwendigkeiten gegeben hätte –, zu einer friedlichen Einigung zu kommen. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner führen mit erheblicher Verspätung unter Einbeziehung der Taliban – das ist richtigerweise gesagt worden; auch das hätte man früher sagen können; ich meine, Kurt Beck hat das schon vor vielen Jahren gesagt, er ist damals zu Unrecht verlacht worden – ({0}) Friedensgespräche. Auch die afghanische Regierung muss in diesen Prozess eingeschlossen werden. Das ist die Linie der deutschen Außenpolitik. Das vertreten wir auch im europäischen Rahmen. Gerade in dieser Situation – das möchte ich zur vorangegangenen Rede sagen –, in der es die Chance auf eine friedliche Einigung gibt – es liegt im Interesse vieler, zu einer friedlichen Einigung zu kommen, an der auch Pakistan beteiligt wird, das vielleicht auch seinen Teil der Verantwortung besser erkennt als noch vor einiger Zeit –, muss Deutschland standhaft bleiben und kalkulierbar sein. Gerade in dieser Situation dürfen wir unseren militärischen Einsatz nicht infrage stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Zum Entschließungsantrag der Freien Demokraten möchte ich sagen – darüber haben wir schon mehrfach, auch im Auswärtigen Ausschuss, fruchtbare Diskussionen geführt –: Natürlich muss der Einsatz ressortübergreifend evaluiert werden, ({2}) um zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Insofern können wir – Sie werden das verstehen – Ihrem Entschließungsantrag nachher nicht zustimmen, aber ich will darauf verweisen, dass es in unserer gemeinsamen Diskussion bei den von Ihnen aufgeworfenen Fragen große Übereinstimmung gibt. Der letzte Punkt, der von Bedeutung ist – darüber wurde in den letzten Tagen diskutiert –: Wie verlässlich ist Deutschland im Bündnis? Angesichts mancher kritischen amerikanischen Wortmeldung sollten wir noch einmal betonen: Der Einsatz der NATO und auch der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan waren von Beginn an ein Musterbeispiel für internationale Solidarität und gemeinsames Handeln. Zeitweise waren Soldatinnen und Soldaten aus rund 50 Nationen Schulter an Schulter im Einsatz. Es war der erste Artikel‑5-Einsatz des gegenseitigen Beistandleistens der NATO. Deutschland hat keine Sekunde gezögert, an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika für mehr internationale Sicherheit zu sorgen. Seit 2002 sind wir dort mit unterschiedlichen Koalitionsmehrheiten ununterbrochen im Einsatz. Wir sind der zweitgrößte Truppensteller und bleiben auch in dieser entscheidenden Situation, in der es Friedensverhandlungen gibt, kalkulierbar im Einsatz. Deswegen ist es anlässlich manch einer Diskussion, die im Bündnis geführt wird, in der kritische Bemerkungen aus Washington kommen, vielleicht wichtig, zu sagen: Wir Deutsche sind verlässlich. Unsere Bundeswehr leistet mit Selbstbewusstsein ihren Beitrag im Bündnis. Wir brauchen uns nicht vorhalten zu lassen, wir müssten mehr tun. Nein, Deutschland ist sicherheitspolitisch präsent. ({3}) Abschließend möchte ich sagen: Ich finde, wir sollten uns hier im Hause nicht teilen lassen. Wir sollten auch nicht zwischen den Soldaten unterscheiden: zwischen Mannschaftsdienstgraden, Unteroffizieren und Offizieren, die dort ihren Dienst leisten. Mein Dank gilt allen Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen hinter allen Soldatinnen und Soldaten, die dort ihren Einsatz geleistet haben. Wir betrauern den schrecklichen Verlust vieler Kameradinnen und Kameraden, die tapfer dort gekämpft haben. Wir sollten zum Ausdruck bringen, dass der Deutsche Bundestag geschlossen hinter diesem Einsatz steht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Bijan Djir-Sarai. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es direkt am Anfang ganz klar zu sagen: Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des Einsatzes mehrheitlich zustimmen. ({0}) Wir haben in den letzten Wochen bei uns in der Fraktion eine sehr intensive und sachliche Diskussion darüber geführt, wie wir die Situation in Afghanistan bewerten. Wir sind der Meinung – und da unterscheiden wir uns von AfD, Linken oder Teilen der Grünen –: Wir können nicht von heute auf morgen raus aus Afghanistan. Ein solcher Schritt wäre kopflos und vor allem verantwortungslos, meine Damen und Herren. ({1}) Wir sind der Meinung, dass die Frage nach der Bündnisfähigkeit und damit das Ansehen Deutschlands in der Welt eine große Rolle spielt. Gemeinsam rein, gemeinsam raus, das war die Leitlinie des Einsatzes. Diese Leitlinie war damals richtig, ist heute richtig und wird auch morgen richtig sein. ({2}) Wir ignorieren nicht, dass sich die Welt um uns herum ändert und sich damit auch bestimmte Rahmenbedingungen ändern. Gehen die Amerikaner raus aus Afghanistan, ändert sich für uns die gesamte Geschäftsgrundlage des Einsatzes. „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ würde dann bedeuten, dass wir mit unseren Verbündeten gemeinsam eine Abzugsperspektive entwickeln müssen. ({3}) Wir müssen uns alle zusammen mit der Frage beschäftigen, wie es in Afghanistan militärisch und vor allem politisch weitergehen wird, wenn die Amerikaner ihre Truppen abziehen oder auf die Hälfte reduzieren. Auf diese Frage hat die Bundesregierung noch keine Antwort. Sie weist bis zum heutigen Tag darauf hin, dass bis jetzt keine offizielle Meldung seitens der US-Administration vorliegt. Das ist definitiv zu wenig. Hier muss die Bundesregierung aktiv werden. ({4}) Wir sind der Meinung – wie im letzten Jahr übrigens auch –, dass nach 18 Jahren Afghanistan-Engagement der Einsatz endlich politisch, militärisch und strategisch evaluiert werden muss. ({5}) Hier muss die Bundesregierung einfach liefern. Sie darf keine Angst vor den Ergebnissen der Bewertung haben. Die internationale Gemeinschaft ist 2001 nach Afghanistan gegangen, um die Terrororganisation al-Qaida zu bekämpfen. Dieses Ziel ist erfolgreich erreicht worden. In einem zweiten Schritt hat die internationale Gemeinschaft versucht, einen demokratischen afghanischen Staat aufzubauen. ({6}) Dieses Ziel ist krachend gescheitert. Dann gab es noch das dritte Ziel, durch die afghanische Armee und die afghanische Polizei funktionierende Sicherheitsstrukturen zu schaffen. Dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht worden. Hier hat die internationale Gemeinschaft noch viel Arbeit vor sich, und die Zeit drängt. Wir als FDP-Fraktion haben einen Entschließungsantrag vorbereitet, der die kritischen Punkte aufgreift. Wir hätten es gerne gehabt, dass diese Punkte im Mandatstext berücksichtigt worden wären. Unsere Vorschläge sind konkret. Wir fordern zum Beispiel eine unabhängige Evaluation für das gesamte deutsche Engagement bis zum 30. Juni. Wir fordern, dass die Bundesregierung gemeinsam mit unseren internationalen Partnern die Kriterien und die Strategie für einen Abzugsplan erarbeitet. Zuletzt hätte man den Einsatz zunächst um sieben Monate verlängern können. So hätte man auch den Wahlen und den möglichen Friedensgesprächen Raum gegeben. Es wäre klug gewesen, wenn die Bundesregierung diese Bedenken im Mandatstext berücksichtigt hätte. ({7}) Meine Damen und Herren, wir von der FDP sind Opposition im Deutschen Bundestag. Wir hätten es uns ganz leicht machen können. Wir hätten uns zurücklehnen und populistische Forderungen stellen können. Das haben wir bewusst nicht gemacht, sondern wir haben in den letzten drei Wochen eine intensive und sachliche Debatte in unserer Fraktion geführt. Die Ergebnisse habe ich vorgetragen. Ich glaube, gelegentlich kann man auch im Plenum des Deutschen Bundestages sagen, dass man sehr stolz auf die Arbeit der eigenen Fraktion ist. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Tobias Pflüger. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute abschließend darüber, ob die Bundeswehr im Rahmen der Mission Resolute Support für ein ganzes weiteres Jahr nach Afghanistan geschickt werden soll. Wir Linke sagen dazu: Nein, wir wollen kein neues Mandat, stattdessen muss die Bundeswehr abgezogen werden. ({0}) Die Gründe. Sie als Bundesregierung legen uns heute ein Mandat vor, das fast das gleiche ist wie vor einem Jahr. Wo leben Sie denn? In Afghanistan gibt es Entwicklungen, die sich schon wesentlich von denen vor einem Jahr unterscheiden. Dazu ist fast nichts im Mandatsantrag zu lesen. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat angekündigt, dass die US-Truppen aus Afghanistan abgezogen werden sollen. Ja, wir kennen Trump, aber bei aller notwendigen Kritik an ihm: ({1}) Einfach so zu tun, als ob es diese Aussage nicht gegeben hätte, ist grob fahrlässig. ({2}) Wir haben inzwischen die Situation, dass die afghanische Regierung – nach einem Bericht an den US-Kongress – nur 53,8 Prozent aller Distrikte kontrolliert. Die anderen Teile Afghanistans sind umkämpft oder werden von den Taliban kontrolliert. Gestern kam die Mitteilung, dass die Präsidentschaftswahl in Afghanistan erneut verschoben wird. Schon die Parlamentswahl im Oktober war hochgradig problematisch. Bis heute liegen keine abschließenden Ergebnisse vor. Das kann man alles gesundreden; aber seriös ist das nicht. ({3}) Inzwischen laufen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban. Wir lesen, dass es Fortschritte gibt. Wir finden es gut, dass verhandelt wird; doch wir kritisieren, dass weder die afghanische Regierung noch die Zivilgesellschaft Afghanistans an diesen Verhandlungen beteiligt sind. ({4}) Von diesen Verhandlungen im breiteren Rahmen, wie beschrieben, ist in dem vorgelegten Mandatstext nichts zu lesen. Manchmal hat man den Eindruck: Die Bundesregierung beantragt hier einfach immer den gleichen Bundeswehreinsatz – im völlig luftleeren Raum –, ohne neuere Entwicklungen zu berücksichtigen. Das ist hochgradig unseriös. ({5}) Die Bundeswehr befindet sich seit über 17 Jahren in Afghanistan. Das ist ein teilweise sehr blutiger Einsatz, Stichwort „Kunduz-Massaker“. Derzeit sind die Kämpfe in Afghanistan die heftigsten seit langer Zeit. Warum? Weil sowohl die afghanische Regierung bzw. die Sicherheitskräfte als auch die Taliban sich gute Verhandlungspositionen erkämpfen wollen. Begleitet wird das von schrecklichen Anschlägen vom IS wie heute am Neujahrsfest oder vor wenigen Tagen mit 27 Toten. Die International Crisis Group stuft inzwischen den Afghanistan-Konflikt als den tödlichsten Konflikt der Welt ein. Die Zahl der getöteten Zivilisten erreichte laut UN 2018 mit 3 804 den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen, ein Anstieg um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ein Viertel dieser zivilen Opfer ist verursacht durch die afghanischen Sicherheitskräfte und ihre Verbündeten. Die Bundeswehr hilft beim Aufbau dieser afghanischen Sicherheitskräfte. Der Kommentar in der konservativen Zeitung „Die Welt“ bringt es auf den Punkt. Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten. Die gesamte afghanische Bevölkerung sei einzubeziehen, wird die Ministerin zitiert. „Die Welt“ schreibt: Freundlich formuliert sind das diplomatische Worte. Einsatzerfahrene Soldaten identifizieren diese Textbausteine freilich als Durchhalteparolen. Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss anbieten, bei den Verhandlungen eine Rolle zu spielen – das ist geschehen –, und die Bundesregierung muss anbieten, dass die Bundeswehr endlich abgezogen wird. ({6}) Wir sagen als Linke: Ziehen Sie die deutschen Soldaten aus dem NATO-geführten Einsatz Resolute Support ab. Der Ansatz, militärisch zu intervenieren und dann eine Regierung ohne wirklichen Unterbau aufzubauen und militärisch abzusichern, ist komplett gescheitert. Nach 17 Jahren Krieg wird es höchste Zeit, diesen historischen Irrweg zu verlassen und dem Aufbau ziviler Strukturen eine Chance zu geben. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der immer tiefer werdende Riss zwischen der US-Politik auf der einen Seite und Europa auf der anderen Seite ist beim Thema Afghanistan wie unter einem Brennglas zu sehen. Wir wissen, dass die Amerikaner nicht Teil des Internationalen Strafgerichtshofs, ICC, sind. Aber was gerade passiert, schlägt dem Fass den Boden aus. Wenn der US-Außenminister Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ICC, die daran arbeiten, aufzuklären, welche Kriegsverbrechen möglicherweise amerikanische Soldaten in Afghanistan verübt haben, mit einer Einreisesperre droht oder wenn John Bolton sagt – ich zitiere –: „Wir werden den ICC von selbst sterben lassen“ – Zitat Ende –, dann ist das schlicht unerhört, und es braucht Widerworte. ({0}) Und wenn der Herr Außenminister die ganze Zeit „Multilateralismus“ sagt, dann sollte er es nicht nur bei gutem Wetter machen, sondern auch mal pfeifen, wenn es darauf ankommt, klare Worte zu finden. Es braucht auch klare Worte, wenn Trump sagt: Wir sind nicht in Afghanistan, um Staatsaufbau zu betreiben, sondern um den Terror zu bekämpfen. – Das ist nicht nur eine Verhöhnung dessen, was bisher erreicht worden ist, das ist auch eine Verkennung der Tatsache, dass ebendieser fehlende Staatsaufbau der wichtigste Motor für die Radikalisierung der jungen Leute in Afghanistan ist. Auch das braucht Widerworte, genauso wie es Widerworte braucht, wenn die Amerikaner den Aufbau der Sicherheitskräfte an Erik Prince, den Gründer von Blackwater, übergeben wollen und damit versuchen, die Sicherheit in Afghanistan komplett zu privatisieren. Das alles braucht Widerworte. ({1}) Ich wünschte mir seitens der Bundesregierung auch sehr viel klarere Worte zur Einbindung der afghanischen Regierung, der einzig legitimen Regierung der Afghanen, in die Verhandlungen mit den Taliban. Ich fürchte nur, dass die amerikanische Seite ihre Afghanistan-Politik überhaupt nicht mehr an der Lage in Afghanistan ausrichtet, sondern ausschließlich am US-Wahlkalender. Das ist umso tragischer, weil der Wunsch nach Frieden in Afghanistan so groß ist wie wahrscheinlich noch nie. Es gab letztes Jahr drei Tage echte Waffenruhe, drei einzelne Tage, die vereinbart waren. Das waren die letzten drei Tage des Ramadans. In diesen drei Tagen sind die Menschen nach 40 Jahren Krieg auf die Straße gegangen. Sie lagen sich in den Armen, und sie haben getanzt. Das waren drei Tage, an die sie nicht mehr glauben konnten. Was bei all dem nicht vergessen werden darf, sind die Friedensmärsche, die es zurzeit in Afghanistan gibt. Der erste Friedensmarsch ging von Laschkar Gah in Helmand nach Kabul. Die Menschen sind zu Fuß 400 Kilometer nach Kabul gezogen, schlicht um darzustellen, dass sie sich Frieden wünschen. Diese Hoffnung sollten wir nicht einfach beiseitelassen, indem wir nur noch darüber reden, was in Washington passiert und was bei den Verhandlungen passiert. ({2}) Ich bin ja sehr dankbar, dass die Bundesregierung jetzt wieder Konferenzräume für Petersberg III anbietet. Das ist gut, aber das reicht einfach nicht. Die zentrale Frage ist, wenn die Amerikaner abziehen, ob und wie dann die zivile Arbeit in Afghanistan weitergehen kann. Wir müssen da nicht nur eine Ansage an die Partnerorganisationen machen – vor allem an die Frauenorganisationen, die dort arbeiten –, sondern selbstverständlich auch an diejenigen, die in den letzten Jahren ihr Leben für den zivilen Aufbau in Afghanistan riskiert haben. Wenn Frau Mogherini jetzt der afghanischen Regierung EU-Hilfe bei der Sicherheitssektorreform anbietet, dann stellt sich mir die Frage, wie die Bundesregierung dazu steht. Auch dazu gab es bisher keinerlei Worte. Schließlich ist es dringend notwendig, dass der größte Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr endlich evaluiert wird, und zwar unabhängig. Ich freue mich sehr, dass zumindest dieser Punkt im Entschließungsantrag der FDP enthalten ist. Ich erinnere mich aber sehr wohl daran, dass Sie, als wir das beantragt haben – und wir beantragen das jede Legislaturperiode – und Sie in der Regierung waren, das genauso abgelehnt haben wie die SPD jetzt, wo sie in der Regierung ist, obwohl sie das in der Opposition noch gewollt hat. Eine Evaluation ist überfällig. ({3}) Heute ist der Tag des Neujahrsfestes in Afghanistan. Heute ist Norouz. Es gab einen verheerenden Anschlag auf eine Feier. Hoffnung und Trauer lagen heute in Kabul am ersten Tag des Jahres ganz nah beieinander. Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr über erfüllte Hoffnung sprechen werden. Es spricht nicht viel dafür, es gibt wenig Grund, optimistisch zu sein; aber wir müssen daran festhalten. Ich wünsche den Menschen in Afghanistan ein schönes, ein gesegnetes, ein erfolgreiches und ein friedliches neues Jahr. In Landessprache: Mardome-e-mohtarrame Af­ghanestan Norouzetan Pirouz! Va Solhamiz! Thank you very much! ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Gisela Manderla. ({0})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! 18 Jahre nach Beginn der deutschen Beteiligung am NATO-Auslands­einsatz am Hindukusch hat sich die Interessenlage nicht verändert. Wir fördern in erster Linie den Aufbau legitimer und stabiler Staatlichkeit als Grundlage für ein zukünftiges Afghanistan, da Deutschland und Europa von Afghanistan zwar nicht direkt bedroht werden, von Afghanistan aber indirekt, weltpolitisch sicher eine Bedrohung ausgeht. Wir bekennen uns klar zu unserer Verantwortung und zu unseren Zusagen gegenüber unseren Bündnispartnern. Das hat auch Bundeskanzlerin Merkel heute Morgen in ihrer Regierungserklärung mit Blick auf die europäische Politik zum Ausdruck gebracht. Nicht zuletzt haben wir auch eine Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, denen wir heute noch einmal ganz herzlich für ihren wirklich gefährlichen Einsatz danken möchten. ({0}) Es ist auch schon angesprochen worden: Selbstverständlich muss man 18 Jahre nach einem Auslandseinsatz noch mal evaluieren. Man muss überlegen, wie wir mit unseren Bündnispartnern weiter vorgehen können. Denn Afghanistan ist immer noch von einer schwierigen, regional sehr uneinheitlichen Sicherheitssituation geprägt. Es herrscht Armut vor, und es herrscht ein regionales Umfeld vor, das durch äußerst widerstreitende Interessen gekennzeichnet ist. Um eine Verbesserung der Lage zu erreichen, muss nun der Druck auf die Taliban aufrechterhalten werden, damit dann im Rahmen politischer Verhandlungen irgendwann ein Friedensschluss erzielt werden kann. Der Kollege von den Grünen hat gerade den dreitägigen Waffenstillstand 2017 angesprochen. Ja, es war 2017. Aber wenn wir jetzt den Druck auf die Taliban erhöhen ({1}) und es eventuell wirklich zu Verhandlungen mit Präsident Ghani kommt, dann werden wir da auch Erfolge erzielen. Davon bin ich fest überzeugt. Wir wissen natürlich auch, dass es keine militärische Lösung von Problemen geben kann, sondern eben nur eine politische Lösung. Dazu ist es unerlässlich, auch weiterhin den Dreiklang aus militärischem, diplomatischem und entwicklungspolitischem Handeln im Rahmen der Gesamtmission beizubehalten. Im Sommer dieses Jahres wird es wahrscheinlich in Afghanistan Präsidentschaftswahlen geben. Für mich ist das ein weiterer bedeutender Schritt zum Erfolg. Die Mandatsverlängerung soll durch die Sicherstellung eines stabilen Umfeldes einen Beitrag zur friedlichen Durchführung dieser Wahlen leisten. Es ist eben auch schon von den Erfolgen gesprochen worden, die erzielt worden sind. 30 Prozent der Mädchen dürfen zur Schule gehen. Die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen ist um ein Zehnfaches gestiegen. Es ist inzwischen möglich, in Afghanistan Schulausbildung zu genießen. Über 6 Millionen Kinder besuchen inzwischen eine Schule. Zehnmal so viele Menschen wie früher dürfen eine Ausbildung machen. Und was ganz wichtig ist: Sie wissen alle, dass für einen wirtschaftlichen Fortschritt eine sichere Energieversorgung notwendig ist, und an dieser sicheren Energieversorgung dort sind Deutsche besonders beteiligt. Das muss auch die Basis für eine wirtschaftliche und friedliche Entwicklung sein. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es nicht leicht werden wird, in Afghanistan einen Friedensschluss zu erzielen. Aber wenn wir jetzt aus Afghanistan abziehen würden, dann würden wir das alles, was wir erreicht haben, wieder rückgängig machen. Deshalb bitte ich Sie ganz herzlich um die Zustimmung zu einem weiteren Mandat für Afghanistan. Danke schön. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nun spricht für die SPD der Abgeordnete Dr. Fritz Felgentreu. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die diesjährige Verlängerung des Afghanistan-Mandats debattieren wir unter besonderen Bedingungen, die so noch nicht da gewesen sind. Zum ersten Mal wird das internationale Engagement in Afghanistan von amerikanischer Seite grundsätzlich infrage gestellt. Der amerikanische Präsident hat ohne Rücksprache mit den Verbündeten auf seiner bevorzugten Verlautbarungsplattform den Abzug von 50 Prozent der US-Streitkräfte angekündigt. Diese Ansage hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Damit das vollkommen klar ist, will ich deshalb an dieser Stelle die Bewertung der SPD-Fraktion deutlich machen, meine Damen und Herren. Erstens. Wenn die USA sich einseitig aus Afghanistan zurückziehen, dann kann die Bundeswehr nicht bleiben. Schon aus Sicherheitsgründen wäre eine Fortsetzung des Einsatzes nicht zu verantworten. ({0}) Zweitens. Auch ein einseitiger Teilabzug der US-Streitkräfte kann dieselbe Konsequenz haben. Die Bundeswehr kann die Lücken nicht füllen, die ein solcher Abzug reißen würde. Zudem wäre eine solche einseitige Entscheidung eine Verletzung aller Grundsätze der NATO. Sie würde auch deshalb die Grundlage für diesen Einsatz der Bundeswehr infrage stellen. Unterhalb dieser Schwelle kann und wird die NATO selbstverständlich, wie in der Vergangenheit auch, Auftrag und Truppenstärke, abgestimmt an die Lage im Lande, anpassen. Das war der Grund für die letzte Vergrößerung des deutschen Kontingents, und das kann auch einmal der Grund für eine Verkleinerung des amerikanischen Kontingents sein. Entscheidend ist dabei, dass die NATO diese Fragen gemeinsam bewertet und gemeinsam entscheidet. Bisher allerdings ist die Lage vor Ort unverändert. Es gibt auch keinerlei konkrete Ankündigungen oder Forderungen vonseiten der amerikanischen Partner. Die unveränderten Rahmenbedingungen spiegeln sich im unveränderten Mandatstext wider. Es bleibt dabei, dass die Bundeswehr im Norden des Landes die afghanischen Streitkräfte ausbildet, berät und unterstützt. Mit diesen Maßnahmen trägt sie dazu bei, dass das strategische Patt zwischen den Bürgerkriegsparteien erhalten bleibt, das seit mehreren Jahren besteht. Die afghanische Armee kontrolliert die großen Zentren, wo die Mehrheit der Menschen lebt. Außerhalb dieser Zentren können sich die Taliban weitgehend frei bewegen und ihre Anschläge vorbereiten, die Tag für Tag, Woche für Woche eine große Zahl an Menschenleben fordern. Ein befriedigender Zustand, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist damit beileibe nicht erreicht. Und dennoch ist dieses Patt die Voraussetzung dafür, dass bei beiden Bürgerkriegsparteien die Bereitschaft zu einem Verhandlungsfrieden wachsen kann. ({1}) Solange noch eine Seite glaubt, den Sieg erringen zu können, wird es keinen Frieden geben. Darauf muss auch die politische Botschaft ausgerichtet sein, die sich mit einer weiteren Verlängerung des Mandats verbindet. ({2}) Wir erwarten auch von den Afghanen, deren Schutz unsere Anstrengungen gelten, eigene Bemühungen um eine tragfähige Friedenslösung für das ganze Land. Gleichzeitig wollen wir den Fortschritt sichern, der in den 17 Jahren des Afghanistan-Einsatzes erreicht werden konnte. Die gestiegene Lebenserwartung, gesunkene Kindersterblichkeit, besserer Zugang zu sauberem Wasser, Frauenrechte, Schulbildung, besonders für Mädchen, und die größte Gedanken- und Meinungsfreiheit in der Region gehören dazu. ({3}) Wenn wir deshalb heute der Verlängerung zustimmen, dann geht die SPD-Fraktion davon aus, dass wir erstens am vernetzten Ansatz von militärischer Sicherheit und Entwicklungspolitik festhalten, dass wir zweitens innerhalb der NATO über die Zukunft des Einsatzes stets einvernehmlich entscheiden und dass drittens die Bundesregierung das weitere Vorgehen bezüglich Afghanistan immer eng mit dem gesamten Bundestag abstimmt. Denn der Afghanistan-Einsatz war immer mehr als ein Projekt der Regierungsmehrheit. Das muss auch so bleiben, damit unsere Einsatzkräfte, die Soldatinnen und Soldaten vor Ort, sich bei der Erfüllung ihres Auftrags von einem stimmungsunabhängigen Konsens getragen wissen. Ihnen gilt unser besonderer Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist jetzt der Kollege Thomas Erndl für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Soldatinnen und Soldaten sind seit 2001 in Afghanistan im Einsatz. Das ist eine lange Zeit. Wer im Jahr 2001 geboren wurde bzw. wer heute 18, 19 oder auch 25 Jahre alt ist, hat den 11. September 2001 nicht bewusst miterlebt. Daraus leitet sich unsere Aufgabe ab, die sicherheitspolitischen Herausforderungen unseres Landes regelmäßig aufzuzeigen. Dazu gehört in besonderer Weise auch die Situation in Afghanistan. 18 Jahre sind eine lange Zeit, und nicht wenige fragen sich, ob der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten dort noch notwendig ist. Bei einer solchen Frage gibt es natürlich auch Gegenwind. Diese Entscheidung macht sich hier niemand leicht. Aber dass bei einer solchen Debatte Offiziere unserer Armee verunglimpft werden, ist untragbar, meine Damen und Herren. ({0}) Meine Fraktion steht zu diesem Einsatz, weil wir ein verlässlicher Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik sind. Wir brauchen an vielen Stellen verlässliche Partner, und wir sind ein verlässlicher Partner. Die Unionsfraktion steht dazu. ({1}) Mit ISAF und der Resolute Support Mission sind Fortschritte erzielt worden. Das darf man feststellen. Von afghanischem Boden geht für unser Land, für unsere Verbündeten und die Region dort keine Bedrohung aus. Es entstehen vor Ort Perspektiven für junge Menschen; sie müssen nicht den Weg nach Europa suchen. Diese Punkte liegen in unserem ureigenen Interesse. Stabile Verhältnisse, Perspektiven vor Ort kann es aber nur geben, wenn die Sicherheitslage passt. Wir können nicht sagen: 18, 19, 20 Jahre vorbei – jetzt beenden wir das Ganze einfach! – Afghanistan ist noch nicht so weit. Gerade jetzt hätte ein Abzug verheerende Folgen; die erreichten Fortschritte würden zunichtegemacht. Zu den Fortschritten zählen im Übrigen – das wurde hier bereits angesprochen – Rechte von Frauen und Mädchen, Medienvielfalt, freie politische Debatten, lebenswichtige Transport- und Versorgungsinfrastruktur, Schulen, Universitäten, Bildungsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung. Wir haben eine ganze Menge erreicht, meine Damen und Herren. ({2}) Das ist Folge des Beitrags unserer Soldatinnen und Soldaten, die in den 18 Jahren hier ihren Dienst geleistet haben. Daher sagen wir herzlich Danke schön für diesen Einsatz. ({3}) Selbstverständlich schließen wir die 58 Gefallenen und ihre Familien immer in unser Gedenken ein. Das Erreichte, meine Damen und Herren, bleibt aber ohne Hilfe von außen, ohne unsere Hilfe nicht nachhaltig bestehen. Ein vorzeitiger Abzug oder auch eine Reduzierung vonseiten unserer Partner wären auch mit Blick auf die jetzige Situation unklug, mit Blick auf die letztlich doch notwendigen Verhandlungen mit den Taliban, die heute wieder mehr als 40 Prozent des Landes kontrollieren. Es darf nicht der Eindruck entstehen, sie müssten nur eine bestimmte Zeit abwarten, bis sie das Land wieder an sich reißen können. Wir dürfen keinen Zweifel daran lassen, dass das Gewaltmonopol bei der afghanischen Regierung liegt und auch in Zukunft liegen wird. Für diese Aufgabe sind leistungsfähige afghanische Sicherheitskräfte notwendig, und diese auszubilden, ist der Kern unserer jetzigen Mission. Auch wenn es noch ein weiter Weg für Afghanistan ist: Wir werden im Rahmen des vernetzten Ansatzes weiter unterstützen. Deshalb bitte ich Sie, für eine Verlängerung der deutschen Mission, des deutschen Engagements bei RSM zu stimmen. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8424, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/7726 anzunehmen. Dazu liegen mir mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich möchte darauf hinweisen, dass gleich im Anschluss eine weitere namentliche Abstimmung folgt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen, damit wir mit der Abstimmung beginnen können. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne den Wahlgang. Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8609. Hierzu hat die Fraktion der FDP ebenfalls namentliche Abstimmung beantragt. Ich weise darauf hin, dass im Anschluss an diese Abstimmung noch einfache Abstimmungen folgen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist, soweit erkennbar, der Fall. Dann ist der Abstimmungsvorgang eröff net, und wir stimmen über den Entschließungsantrag der FDP ab.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? Wenn das der Fall ist, bitte ich, das jetzt zügig zu erledigen. Hier vorne ist noch Platz. Es gibt überhaupt kein Gedrängel an der Urne. Im Übrigen gestatten Sie mir bitte den Hinweis, dass wir sofort nach der Schließung der zweiten namentlichen Abstimmung noch weitere einfache Abstimmungen vornehmen und dass es dem Präsidium leichter fällt, das Abstimmungsverhalten zweifelsfrei festzustellen, wenn Sie Platz nehmen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgeben konnte? – Ich bitte um ein Signal von den Hammelsprungtüren, ob da noch die Abstimmung läuft oder ob das eine lockere Gesprächsrunde ist. Letzter Aufruf: Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht abgeben können? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich wiederhole meine Bitte: Nehmen Sie bitte Platz, falls Sie an den Verhandlungen des Bundestages weiter teilnehmen wollen. Dies gilt auch für die Mitglieder der Bundesregierung. Ich führe die Verhandlungen erst dann fort, wenn wir von hier vorne das Abstimmungsergebnis zweifelsfrei feststellen können. Dazu ist es sinnvoll, dass Sie sich setzen oder, wenn Sie daran nicht teilhaben wollen, den Plenarsaal verlassen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 9 c. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bundeswehr sofort aus Afghanistan abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8432, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7908 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und die Stimmen einzelner Abgeordneter der AfD-Fraktion bei Enthaltung der übrigen AfD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 9 d. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Evaluierung der deutschen Beteiligung an ISAF, RSM und des deutschen und internationalen Engagements für den Wiederaufbau Afghanistans seit 2001“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5168, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/4553 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 3. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Das deutsche Engagement in Afghanistan beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8582, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/7937 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Gäste! Wir wollen heute das Mandat Sea Guardian für ein weiteres Jahr verlängern. Die Aufgaben der Maritimen Sicherheitsoperation Sea Guardian umfassen im Wesentlichen drei Punkte: erstens die See- und Luftraumüberwachung im Mittelmeer, zweitens, darauf aufbauend, eine aktuelle Lagebilderstellung und drittens die Bereitstellung von Informationen für weitere Sicherheitsoperationen. Für die Bundeswehr ist Sea Guardian eine Mission mittlerer Größe mit der Personalobergrenze von 650 Soldatinnen und Soldaten. Ja, der Blick auf das Mittelmeer eröffnet eine große Fülle an Chancen und Herausforderungen mit Blick auf Sea Guardian. Die Seewege über das Mittelmeer sind nicht nur für die Küstenstaaten Lebensadern. Auch hier in Deutschland sind wir von den Güter- und Warenverkehren über das Mittelmeer abhängig. Auch sei daran erinnert, dass rund 65 Prozent des Energiebedarfs Westeuropas durch Gas- und Öllieferungen über das Mittelmeer gedeckt werden. Doch durch die instabile Lage in einigen Staaten des Mittelmeers sind diese Lebensadern zunehmend in Gefahr. Ich will nur ein paar Aspekte nennen: Schmuggel von Menschen und Waffen, Piraterie, Korruption und Terrorismus. ({0}) Diese brechen sich hier Bahn. Auch ist das Mittelmeer – das will ich gar nicht verleugnen – für viele Flüchtende zum feuchten Grab geworden. Damit diese Entwicklungen eingedämmt werden können, bedarf es eines genauen Lagebildes und einer tagesaktuellen Sicherheitslage, die damit beschrieben werden kann. Dies tut eben die Mission Sea Guardian. Die Flotte wirkt, auch wenn das einigen hier im Saale – wir hören es ja schon – nicht gefallen wird, durch schon ihre bloße Präsenz im Mittelmeer abschreckend auf Schlepper, Schmuggler und Piraten. Damit stellt Sea Guardian einen ganz wesentlichen Ordnungsfaktor im gesamten Operationsgebiet dar. Und nun stellen Sie sich einen kleinen Augenblick mal vor, es gäbe die Sea-Guardian-Flotte im Mittelmeer nicht. Wie einfach würden wir es dem Menschen- und Waffenhandel dort machen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Doch Sea Guardian ist mehr als nur eine Überwachung des Mittelmeerraums. Diese Mission stellt auch kritische und wichtige Informationen für ihre EU-geführte Schwesteroperation Sophia zur Verfügung. Sophia wiederum hat den Auftrag, den Menschenhandel aktiv zu unterbinden sowie Schlepper und Schleuser aus dem Verkehr zu ziehen. Ja, hiervon können ganz dezidiert auch Menschenleben abhängen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Im Übrigen gilt es, die Informationen, die Sea Guardian gewinnt, der Standing NATO Maritime Group zur Verfügung zu stellen. ({1}) Wir kommen am Vorabend des 70. Jahrestags der Gründung der NATO damit auch unseren Bündnisverpflichtungen nach. Doch mehr noch ist die Verlängerung dieses Mandats Ausdruck für das Vertrauen, das wir nicht nur unseren Partnern entgegenbringen, sondern vor allem auch unseren Soldatinnen und Soldaten. Sie arbeiten etwa auf dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“ mit hoher Professionalität und in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen NATO-Partnern am Erfolg dieser Mission. Ihnen gelten ganz besonders unser großer Dank und unsere Anerkennung. ({2}) Eine weitere Aufgabe der Mission Sea Guardian ist die Aufrechterhaltung freier und sicherer Seewege und vor allem der Schutz kritischer Infrastrukturen. ({3}) Damit meine ich küstennahe Energieleitungen und Funkmasten, die auch für die Kommunikation auf hoher See unerlässlich sind. Ja, die SPD-Bundestagsfraktion wird heute diesem Mandat zustimmen, weil diese Mission vitaler und inte­graler Bestandteil der europäischen NATO-Sicherheit ist. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich dem anzuschließen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Schon wieder werden wir in diesem Haus dazu aufgefordert, bewaffnete deutsche Streitkräfte im Mittelmeer einzusetzen. Bereits zum dritten Mal soll der Bundestag die Operation Sea Guardian verlängern. Ja, der Mittelmeerraum ist zweifellos einer der wichtigsten Vorposten unseres europäischen Kontinents, aber eben nicht im militärischen Sinne, sondern zum Zwecke des Handels. Die Bundesregierung begründet die Notwendigkeit der Fortsetzung dieser Operation unter anderem mit der Sicherung der Verkehrs- und Versorgungswege im gesamten Mittelmeerraum. Das finden wir richtig; dafür sind auch wir. Aber dafür brauchen wir doch nicht diesen Einsatz. Eine solche Begründung rechtfertigt noch keine Militäroperation. Eine solche Begründung ist sogar gefährlich, weil sie zivile und militärische Aufgaben miteinander verstrickt. ({0}) Außerdem: Sea Guardian soll in Seenot Geratene retten. Die Schiffe nehmen dazu Migranten auf und bringen sie in der Regel direkt nach Europa. Dazu sagen wir: Dort, wo die Operation tatsächlich transnationale kriminelle Aktivitäten bekämpft, stehen wir zu ihr. Dort, wo unsere Streitkräfte zusammen mit nichtstaatlichen Organisationen sekundäre Aufgaben wie Seenothilfe erfüllen, halten wir dagegen. Ja, die Seenothilfe ist für unsere Armee eine sekundäre Aufgabe geworden. Die primäre Aufgabe ist aber die Verteidigung des Landes. ({1}) Wir fordern einen systematischen Schutz unserer Außengrenzen durch Strukturen, die bereits existieren, statt Aktionismus ohne klare Ziele. Übrigens: Wir brauchen dafür keine neuen Behörden auf der EU-Ebene à la Macron. Deshalb lehnen wir es ab, dass dieser Militäreinsatz mit Aktionen von NGOs verbunden wird. Sie leisten praktisch Nachhilfe für kriminelle Schlepper. ({2}) Wir brauchen einen funktionierenden Grenzschutz und im äußersten Fall eine staatlich organisierte Seenotrettung, die die Migranten in ihre Heimatländer zurückbringt, statt sie zu uns zu bringen. ({3}) Wir brauchen also keine Seenotrettung unter dem Deckmantel eines Militäreinsatzes. ({4}) Besorgniserregend ist vor allem, dass sowohl die NATO-F­ührung als auch die Bundesregierung offenbar nicht in der Lage sind, klare Antworten auf folgende Fragen zu geben: Wie sieht eine Exit-Strategie für Sea Guardian überhaupt aus? Was passiert, wenn sich die NATO einmal aus dem Mittelmeerraum zurückzieht? Ist ein Ende dieser Operation überhaupt in Sicht? Was ist eigentlich ihr leitendes Endziel? Bisher bleibt auch unklar, was die Ergebnisse dieser Operation sind. Was haben Sie mit ihr militärisch erreicht, und was wollen Sie noch erreichen? Es ist beschämend, dass Sie von der Bundesregierung uns Abgeordnete in Form dieses Dokuments, das ich hier habe, informieren. Darin ist der Einsatz beschrieben; darin stehen zwei Zeilen zu Sea Guardian. ({5}) Ich frage mich ernsthaft: Womit beschäftigen sich die Referenten des zuständigen Ressorts überhaupt? Vielleicht können Sie ja noch mal ein paar externe Berater anheuern, damit diese Ihre ureigene Aufgabe erfüllen. ({6}) Nicht Sie, die Regierung, sondern wir Abgeordnete haben das letzte Wort über Einsätze der deutschen Parlamentsarmee. Deshalb haben wir auch ein Recht darauf, dass uns das zuständige Ministerium umfassend informiert. Dieses Recht treten Sie respektlos mit Füßen. Fraglich ist auch, ob Sie von der Regierung überhaupt wissen, was Sie eigentlich tun. ({7}) Herr Staatsminister Annen etwa konnte im Auswärtigen Ausschuss meine Frage zu einer Exit-Strategie überhaupt nicht plausibel beantworten. Wir lehnen diesen Antrag der Bundesregierung erneut ab. Und wir, die AfD, wollen diese Operation wie auch viele andere Operationen, die sinnlos sind, schnellstens beenden. Das will übrigens auch die Mehrheit der Bevölkerung. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) – Frau Präsidentin! Verzeihung. Ich bitte um Nachsicht. Ich habe sie in bester Erinnerung, weil ich meine erste Rede unter der Präsidentin Frau Pau hielt. ({1}) Das war zu Afghanistan im Jahr 2009; ich erinnere mich noch gut. Aber heute sprechen wir nicht nur über Afghanistan, sondern auch über andere Einsätze. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frau Kollegin De Ridder hat sehr klar und umfassend den Einsatz, über den wir heute sprechen, Sea Guardian, beschrieben. Ich möchte drei Aspekte herausheben, die für uns als CDU/CSU wichtig sind. Zum einen ist es eine Operation mit einem ganz eigenen Charakter. Blicken wir zurück: Die Ursprünge gehen zurück bis auf das Jahr 2001: eine Artikel-5-Mission; Stichworte „Antiterror“, „sehr robust“. Auf langes Drängen der Bundesregierung wurde nach vielen Jahren – wir fingen damit im Jahr 2012 an – im Jahr 2016 die Operation angepasst. Sie ist keine Artikel-5-Mission mehr, sondern sie dient jetzt ganz anderen Zwecken. Frau De Ridder hat den ersten Punkt, die Lagebilderfassung, sehr klar dargestellt. Hierbei geht es schlichtweg darum, ein Bild über das befahrenste Meer der Welt zu bekommen, um zu wissen, welche Schiffe sich von wo nach wo bewegen und womöglich auch, mit welchen Lasten. Die Operation ist nicht im Fokus. Wir haben im letzten Jahr durch diese Mission nur ein Schiff aufgebracht. Aber – das sind die beiden anderen Gründe, die uns als Union für diese Mission stimmen lassen – sie bietet zwei Besonderheiten, die kaum eine andere Mission hat, insbesondere keine maritime Mission. Die Mission ist eine Plattform. Länder wie Australien, Georgien und Jordanien beteiligen sich daran, um mitzugestalten, wie im Bereich der maritimen Sicherheit verfahren wird, wie die Seeraumüberwachung und wie Ausbildung stattfindet, insbesondere für die Mittelmeeranrainer. Das ist der Aspekt der kooperativen Sicherheit, der Plattform quasi, die diese Operation bietet. Der dritte Aspekt ist ganz klassische Sicherheitsvorsorge. Wenn wir wieder eine Eskalation im Mittelmeer haben, sei es mit Blick auf den Terrorismus, sei es durch eine Zunahme an Waffenschmuggel, muss nicht erst mühsam eine neue Operation beraten werden, sondern dann dient die Operation Sea Guardian als Mantel. Die drei Gründe – Lagebild, Plattform für kooperative Sicherheit und klassische Sicherheitsvorsorge im Falle einer Eskalation – machen also den Wesenskern dieser Operation aus. Deshalb stehen wir als CDU/CSU dahinter. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Ulrich Lechte das Wort. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste oben auf den Rängen! Ich darf ganz kurz Herrn Podolay entgegenrufen: Wir reden hier heute über Sea Guardian. Das, worüber Sie geredet haben, war eigentlich Hauptbestandteil der Mission Sophia. ({0}): Das kann man schon mal verwechseln!) Auf die werde ich jetzt auch in meiner Rede ein wenig eingehen; denn bei Sea Guardian ist die Informationslage seitens der Bundesregierung gegenüber dem Parlament in der Tat ein wenig dürftig – da haben Sie mal recht –; das möchte ich hier auch anmerken. Vielleicht nimmt das Verteidigungsministerium mal die Anregung mit, uns dazu mehr als zwei Sätze im Monat zur Verfügung zu stellen. Wir reden hier über die NATO-Operation Sea Guardian. Man muss die Wichtigkeit dieser Operation verstehbar machen. Das kann man nur, indem man sich auch die anderen Sicherheitsoperationen im Mittelmeer anschaut, mit denen Sea Guardian eng verwoben ist. Der Einsatzgruppenversorger „Bonn“ ist mit 200 Soldaten für uns in der Operation Sea Guardian unterwegs. Zeitgleich nimmt er auch an der NATO-Operation in der Ägäis teil. Für diesen Doppeleinsatz möchte ich an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten, die da ganz besonders fleißig sind, herzlich danken. ({1}) Besonders wichtig war bisher stets die enge Verknüpfung von Sea Guardian mit der Mission Sophia. Im Mandatstext von Sea Guardian wird an mehreren entscheidenden Stellen auf Sophia verwiesen. Bei der Auflistung der völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen wird Sophia erwähnt, auch für Status und Rechte unserer Soldaten sowie für den Auftrag der Mission ist Sophia ein wesentlicher Bestandteil. Die Bundesregierung hat hier also wieder die gleichen Textbausteine in das Mandat eingebaut – ganz so, als würde Sophia unverändert weiterlaufen. Dem ist aber nicht so; denn ihr habt schon unsere Fregatte „Augsburg“ aus der Mission abgezogen. Wir wissen auch, dass bei der Europäischen Union derzeit die Verhandlungen darüber laufen, wie mit Sophia weiter verfahren wird, und da mit Italien bisher keine Kompromissformeln gefunden wurden, ist davon auszugehen, dass die Operation Sophia Ende März enden wird. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, den wievielten März haben wir heute? Den 21. Das heißt, man hätte vielleicht im Mandatstext eine Annäherung an den realen Istzustand vornehmen können, anstatt uns einen Mandatstext vorzulegen, der auf dem Mandatstext von vor einem Jahr basiert. ({3}) „Ja mei“, sagt der Bayer dazu. Am Dienstag hat übrigens die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vermeldet, dass es auch keine Fortschritte in den Verhandlungen mit Italien gibt. Die Frau hat ja sehr viel Ahnung, davon wird zumindest in Fachkreisen ausgegangen. Es wäre vielleicht ganz praktisch, wenn man sich da mal miteinander abstimmen würde. Im Auswärtigen Ausschuss habe ich die Bundesregierung übrigens gefragt, wie sich ein Ende von Sophia auf Sea Guardian auswirken wird. Da gab es aber auch keine zufriedenstellenden Antworten. Man könnte also vermuten, dass Sea Guardian den Wegfall von Sophia zumindest teilweise kompensieren müsste, dass Sea Guardian zum Beispiel die Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen übernehmen müsste; auch dazu habe ich heute bisher keinen Ton gehört. Schauen wir mal, wo die Reise in diesem Punkt hingeht. Die Haushaltsplanung zeigt übrigens auch, dass die Mittel für Sea Guardian von bisher 6,3 Millionen Euro auf 2,9 Millionen Euro gekürzt werden. Das finden wir als FDP übrigens immer sehr, sehr löblich, wenn auch mal realistische Zahlen als Ansätze reingeschrieben werden. Vielleicht hat auch Herr Karl daran mitgewirkt, dass da mal ein bisschen Geld eingespart wird; das ist eine gute Sache. ({4}) Aber das zeigt mir zumindest, dass die Mission Sophia von Sea Guardian gar nicht übernommen werden könnte. Ich hoffe inständig, dass sich die Bundesregierung in dieser Frage nicht still und heimlich aus ihren Verpflichtungen gegenüber der NATO und der EU zurückziehen möchte. ({5}) Das würden wir Freien Demokraten – das hören Sie auch am Applaus meiner Fraktion – nämlich ausdrücklich missbilligen. Wir werden dem Mandat erneut zustimmen, auch wenn die Ziele der Bundesregierung nicht eindeutig sind. Und wir mahnen ebenso eine Überprüfung des militärischen Einsatzes an. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias Höhn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir uns das Mandat von Sea Guardian anschauen – es ist eben schon darauf hingewiesen worden –, stellen wir fest: Wir haben einen nahezu unveränderten Text. Ich kann mich den Kollegen nur anschließen: Herr Kollege Pflüger hat in der vorherigen Debatte zum Thema Afghanistan darauf hingewiesen, dass sich sicherheitspolitische Rahmenbedingungen ändern und es vielleicht angemessen wäre, Texte anzupassen. Der Kollege Lechte hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir auch bei diesem Mandat mit Blick auf Sophia eine Veränderung haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Copy-and-paste kann es in der Sicherheitspolitik dieses Deutschen Bundestages nicht geben. ({0}) Jetzt möchte ich etwas zu Sinn und Zweck dieses Mandates sagen. Einiges ist schon erwähnt worden. Ich will mich zunächst den beiden Stichworten „Terrorismus“ und „Waffenschmuggel“ widmen. Schauen wir uns mal die Bilanz an; da wird ja immer ein bisschen lax drüber hinweggegangen. Meine Fraktion hat die Bundesregierung vor einigen Monaten nach diesen Punkten „Terrorismus“ und „Waffenschmuggel“ in Bezug auf Sea Guardian gefragt. Wenn man fragt, wie viele terrorismusverdächtige Personen festgesetzt worden sind, dann ist die Antwort: Keine. Wenn man fragt, wie viele terroristische Vorfälle es gegeben hat, dann ist die Antwort: Keine. Wenn man fragt, wie viele Personen mit Verdacht auf Waffenschmuggel festgesetzt worden sind, dann ist die Antwort: Keine. ({1}) Wenn man danach fragt, wie viele Waffen sichergestellt worden sind, dann ist die Antwort: Keine. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, merken Sie eigentlich noch, wie sinnfrei die Mandate sind, die Sie hier vorlegen? ({2}) Lieber Kollege Kiesewetter, ich schätze Sie durchaus, aber wenn ich Ihre Argumentation eben richtig verstanden habe, haben Sie gerade mit Blick auf Terrorismus erklärt, dass es sinnvoll ist, vor Ort zu bleiben, damit man, falls wieder eine Eskalation eintritt, vor Ort ist und kein neues Mandat braucht. Auch das kann doch keine Begründung für einen Auslandseinsatz sein; denn das bedeutet im besten Fall – auf den hoffe ich –, dass dieses Mandat unendlich ist. ({3}) – Ja, Vorsorge. ({4}) Lieber Kollege Kiesewetter, wenn wir die Bundeswehr in Zukunft so verstehen, dass wir sie an jeden Ort, in jede Region schicken, wo wir im Moment Gott sei Dank keine terroristischen Vorfälle haben, ({5}) damit wir vorbereitet sind, falls ein solcher Vorfall passiert: Das, würde ich vermuten, geht am Auftrag der Bundeswehr vorbei. ({6}) Herr Kiesewetter, Sie haben gesagt, dieser Auftrag sei eine Plattform. Sie haben darauf hingewiesen, welche Länder sich an dieser Mission beteiligen; dazu will ich etwas sagen. Auch die Länder der Istanbuler Kooperationsinitiative sind von der NATO eingeladen, dort mitzumachen. Das sind die Länder, über die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag sagen: An die liefern wir keine Waffen mehr – ich sage: Gott sei Dank –, weil sie sich am Jemen-Krieg beteiligen. – Diese Länder laden wir ein, mit uns gemeinsam Terrorismusbekämpfung und Terrorismusprävention im Mittelmeer zu betreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht Sinn deutscher Politik sein. ({7}) Letzte Bemerkung – auch das hat hier eine Rolle gespielt –: Wenn wir ein humanitäres und auch ein sicherheitspolitisches Problem im Mittelmeer haben, dann ist es die Flüchtlingskatastrophe, die sich dort abspielt. Und wenn man die Bundesregierung fragt, an wie vielen Seenotrettungsaktionen Sea Guardian beteiligt war, dann ist die Antwort: Null. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Mandat braucht niemand. Da Sie hier ja zu Recht sehr oft von den Soldatinnen und Soldaten sprechen, die wir in diese Einsätze schicken: Ich finde, es braucht eine stichhaltigere Begründung als eine solche, um unsere Soldaten in Einsätze zu schicken. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Omid Nouripour das Wort. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Parlamentsvorbehalt ist eine sehr ernste Sache. Er dient dazu, die Entsendung von Militär in Konflikte oder potenziell gefährliche Regionen durch gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter zu legitimieren. ({0}) Er schafft damit auch eine Verantwortung dieses Hauses für diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die wir entsenden, und er schafft eine Verantwortung für die politischen Kontexte, in denen sie handeln. Doch diese Verantwortung können wir nur übernehmen, wenn wir wissen, wofür. Eine Aussage dazu findet sich in diesem Mandatstext leider mitnichten konkret wieder. ({1}) Die Bundesregierung fordert von uns nun also zum vierten Mal einen Blankoscheck. Wir werden das vierte Mal einen solchen Blankoscheck nicht ausstellen. ({2}) Die Frage nach dem Sinn dieses Mandates ist bereits in der ersten Lesung und auch in den Ausschussberatungen ausführlich diskutiert worden. Der Kollege Lindner hat diese Frage für meine Fraktion in der ersten Lesung auch konkret gestellt. Der sinnvolle Kern dieser Mission könnte ja auch durch NATO-Routine übernommen werden. Der seerechtliche Kern aller Missionen im Mittelmeerraum – das betrifft sowohl Sophia als auch Sea Guardian –, nämlich die Rettung der zahllosen Schiffbrüchigen im Mittelmeer, wird zurzeit durch die Regierung in Rom torpediert. Wenn Boote voller Menschen, die knapp dem Tod entronnen sind, in Europa nicht nur keinen Hafen finden, sondern diejenigen, die sie retten, und zwar gemäß dem internationalen Seerecht retten, nun auch strafrechtlich verfolgt werden, dann ist das schlicht eine politische und moralische Bankrotterklärung, ({3}) vor allem wenn man sich ansieht, was den Menschen droht, wenn sie in Lager nach Libyen zurückgebracht werden, die im Übrigen teilweise von der gleichen Küstenwache betrieben werden, die die EU nun auszubilden versucht. Sie alle kennen die Bilder von menschenunwürdigen Gefängnissen und Sklavenauktionen, die Geschichten von Erpressung und Misshandlung. Es wäre doch eine Erleichterung, wenn wir das Gefühl hätten, dieses Mandat wäre nur überflüssig. Das ist aber nicht so. Es ist und bleibt ein gefährliches Mandat; denn es beinhaltet die Möglichkeit, dass die Bundeswehr sich ohne weitere Konsultationen am Kapazitätsaufbau und am Informationsaustausch mit allen Mittelmeeranrainern beteiligt – mit allen! Schauen wir uns mal ein paar Beispiele an. Das Beispiel Libyen habe ich gerade genannt. Schauen wir uns mal das Beispiel Ägypten an: Die angeschobene Verfassungsänderung wird die Demokratie in diesem Land, eine Demokratie, die ohnehin seit einigen Jahren nur noch auf dem Papier besteht, endgültig zerstören. Ein Land im Übrigen, von dem ranghohe Offizielle in diesen Tagen proklamiert haben, die Menschenrechte würden nicht universell gelten. Wer trägt diese Entwicklung in Ägypten? Es ist das Militär, das den Sicherheitssektor, die Wirtschaft und nun demnächst auch mit Brief und Siegel den gesamten Staat kontrolliert. Und Sie wollen von uns einen Blankoscheck, damit Sie mit diesem Militär so zusammenarbeiten können, dass Sie es ertüchtigen und mit ihm Kapazitätsaufbau betreiben? Sie wollen, dass wir Ihnen einen Blankoscheck dafür geben, dass Sie Informationen zu Terrorismus mit einem Staat austauschen, in dem es mittlerweile gang und gäbe ist, dass zivilgesellschaftliche Akteure einfach als Terroristen annonciert und ins Gefängnis gesteckt werden? Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es gibt einen Musiker, er heißt Rami Sidky – er ist im Übrigen frischgebackener Vater eines Kindes mit deutschem Pass –, der wegen eines Liedes, mit dem er gar nichts zu tun hat, verhaftet wurde und nun der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt wird. Sie wollen, dass wir jetzt zustimmen, dass Sie mit einem solchen Land Informationsaustausch über Terrorismus bei einem so ausgeleierten und missbrauchten Terrorismusbegriff betreiben? Das werden wir nicht tun. ({4}) Ich könnte weitere Beispiele nennen. In Algerien gehen Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die autokratische Gerontokratie dort zu protestieren. Sie wollen von uns, dass wir Ihnen einen Blankoscheck für eine militärische Kooperation mit dieser Diktatur geben? Das ist ein falscher Weg. Diesen falschen Weg werden Sie allein gehen müssen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun Markus Koob. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne! Wir haben jetzt schon mehrfach über den Sinn und Zweck dieses NATO-Mandates gesprochen, das zum Ziel hat, ein aktuelles Lagebild im Mittelmeerraum zu erstellen und dort mit Schiffen und Flugzeugen für die entsprechende Aufklärung zu sorgen, die wir brauchen, um die sicherheitspolitischen Herausforderungen angehen zu können. Deutschland könnte sich an dieser Mission mit maximal 650 Soldatinnen und Soldaten beteiligen. Aktuell sind es 205 Soldatinnen und Soldaten. Die Notwendigkeit, warum wir Soldatinnen und Soldaten dort hinschicken, ist von den Rednerinnen und Rednern der Koalitionsfraktionen hier ausdrücklich erwähnt worden. Deshalb möchte ich nicht noch einmal im Detail darauf eingehen. ({0}) – Zu Ihnen komme ich noch, keine Angst. – Für uns ist aber klar: Die Mission Sea Guardian trägt zur Stabilisierung der Region bei, indem der Mittelmeerraum überwacht und für Aufklärung gesorgt wird. So können auch in Zukunft – natürlich nach Zustimmung des Flaggenstaates und unter Beachtung des Völkerrechts – zum Beispiel Schiffe kontrolliert und aufgebracht werden. Darüber hinaus unterstützt die Mission auch andere Missionen in der Region, auch wenn die Zukunft der Mission Sophia im Moment noch etwas in den Sternen steht, und dient außerdem als Ansprechpartner für nichtstaatliche Akteure und Organisationen. Gerade weil das Mittelmeer in Zeiten der Globalisierung eher auf die gefühlte Größe eines Binnensees schrumpft, geht uns und die EU die Sicherheit dort etwas an. Ich komme jetzt zu den Kritikpunkten der Opposition, die ich nicht überzeugend finde. Da hören wir zum einen von den Linken: Die Mission ist deshalb abzulehnen, weil es keine Seenotrettung gibt. – Dann hören wir von der AfD: Sie ist abzulehnen, weil es viel zu viel Seenotrettung gibt. – Unabhängig davon, wie man zum Thema Seenotrettung steht, ist Seenotrettung nicht Aufgabe des Mandates von Sea Guardian. Da müssten wir eher über Sophia oder andere Missionen sprechen. ({1}) Aber die Frage der Seenotrettung bei Sea Guardian zu diskutieren, ist überflüssig. ({2}) Ich kann auch die Kritik der Grünen nicht teilen. Omid, ich schätze dich sehr, aber die Aussage, wir würden hier zum vierten Mal einen Blankoscheck von euch einfordern, ist falsch. ({3}) – Ja, darüber kann man ja streiten. Das Mandat ist breit gefasst. ({4}) Aber wenn du sagst, wir würden zum vierten Mal einen Blankoscheck einfordern, frage ich: Ist denn bei den drei Malen vorher unter dem Mandat dieser Missionen etwas passiert, das euch nicht passt? Ich sage aus meiner Sicht, aus der Sicht von CDU und CSU: Wir haben das Vertrauen in die Bundesregierung und in die Bundeswehr, ({5}) dass wir auch bei einem breit gefassten Auftrag ein sinnvolles Mandat haben werden. Deshalb werden wir diesem Mandat weiterhin zustimmen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Koob, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Stefan Liebich?

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. – Auch kann ich das Argument, das vom Kollegen Lindner bei der ersten Beratung vorgebracht worden ist, dass nämlich die Mission deshalb überflüssig wäre, weil die Schiffe ja ohnehin dort seien, nicht ganz nachvollziehen. Die Frage ist natürlich: Müssen wir denn, wenn es darum geht, Verlässlichkeit gegenüber der NATO zu demonstrieren, bei solch einfachen Missionen zusätzliche Aufwendungen vorsehen? Ja, die Schiffe sind sowieso da, aber das ist doch ein Argument für dieses Mandat. ({0}) Wir können sagen: Wir haben NATO-Verpflichtungen, denen wir nachkommen müssen, und haben dafür keine zusätzlichen Aufwendungen. Vielmehr können wir auf diese Art und Weise mit den Schiffen, die ohnehin dort sind, auch unseren NATO-Verpflichtungen nachkommen. Deshalb werden wir als Union diesem Mandat erneut zustimmen. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal den Soldatinnen und Soldaten danken, die auf diesen Schiffen ihren nicht immer leichten Dienst leisten. Wir werden dafür sorgen, dass die Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz und auch in allen anderen Bundeswehreinsätzen, die es im Moment gibt, weiterhin gewährleistet ist. Deshalb muss ich auch für meine Fraktion, für meine AG sagen, dass wir über das Thema „langfristige Finanzplanung im Bereich der Bundeswehr“ noch einmal sehr intensiv reden müssen. Wenn wir das Wort „Parlamentsarmee“ ernst nehmen, sind wir es als Parlamentarier den Soldatinnen und Soldaten schuldig, für eine ausreichende Ausstattung zu sorgen. Dafür werden wir kämpfen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Siemtje Möller das Wort. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns im Deutschen Bundestag mit Fragen maritimer Sicherheit befassen, dann legen wir den Fokus oftmals bewusst auf einzelne Bereiche. Beispielsweise beschäftigen wir uns mit der Einsatzfähigkeit bestimmter Waffensysteme oder auch den Neuanschaffungen, die für die Marine notwendig oder erforderlich sein könnten, oder wir befassen uns ausführlich mit den einzelnen Mandaten und den konkreten Beiträgen, die die Bundeswehr hier im Kreise unserer Verbündeten leistet – Mandate wie Sea Guardian, das heute zur Abstimmung steht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Der Blick auf die Einzelfragen maritimer Sicherheit ist äußerst wichtig für die Bewältigung der Sicherheitsherausforderungen und daher auch aus gutem Grund wesentlicher Bestandteil unserer parlamentarischen Arbeit. Was wir aber aus meiner Sicht nicht machen dürfen, ist, vor lauter Fokussierung auf das Detail das große Ganze aus den Augen zu verlieren; denn Sea Guardian steht als maritime Sicherheitsoperation im Mittelmeer natürlich in einem Gesamtzusammenhang. Generell gilt: Die Meere sind für uns als Exportnation von enormer Bedeutung. Wir sind angewiesen auf sichere Handelsrouten, auf Stabilität, und das natürlich nicht nur in unserem unmittelbaren Umfeld wie Nord- und Ostsee, sondern weit darüber hinaus, vom Mittelmeer bis zum indopazifischen Raum. Beim globalen Blick auf die Meere stellen wir fest: Bereits heute sind viele Regionen unsicher oder von Instabilität bedroht. Hinzu kommt, dass Räume wie die Arktis oder das Südchinesische Meer an strategischer Bedeutung gewinnen. Eine Konsequenz daraus ist, dass sich immer mehr Schiffe unterschiedlicher Marinen in diesen Regionen tummeln. Besonders deutlich wird diese gewachsene Machtprojektion mit Blick auf China. So lässt die Volksrepublik künstliche Inseln im Südchinesischen Meer aufschütten, baut Stützpunkte systematisch aus und zeigt ernstes Interesse für den Kauf von Inseln vor Grönland und Indonesien. Gleichzeitig vergrößert China seine Flotte mit großem Tempo. Man muss sich das auch deshalb sehr genau vor Augen führen, weil einige unserer NATO-Partner im Südchinesischen Meer und der Arktis präsent sind. Und da Konflikte und Auseinandersetzungen in derart sensiblen Regionen leider durchaus denkbar sind, könnte eine solche Entwicklung dann eben auch für uns Konsequenzen haben, bis hin zu einem NATO-Bündnisfall. Wir müssen uns an dieser Stelle fragen: Wären wir dann bereit, unsere Marine in diese Region zu entsenden? Ich würde sagen: Natürlich hoffen wir, dass es nie zu einem solchen Fall kommt. Das entbindet uns aber nicht von unserer Verantwortung, derlei Szenarien frühzeitig zu durchdenken. ({0}) Schließlich müssen wir sicherstellen, dass unsere Marine auf denkbare Szenarien gut vorbereitet ist: materiell, personell und operationell. ({1}) Global wird der Fokus auf den maritimen Raum und maritime Rechte also weiter zunehmen. Maritime Sicherheit wird daher eine der entscheidenden Fragen der Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts. Wie wir sie beantworten, wird wesentlich darüber entscheiden, wie es um den Wohlstand und die Sicherheit unseres Landes bestellt sein wird. ({2}) Und die Bundesrepublik? Zwar wachsen die deutschen Seestreitkräfte erstmals seit 25 Jahren wieder, aber die Marine ist immer noch die kleinste in ihrer 170-jährigen Geschichte. Dennoch erfüllen wir im Rahmen von NATO, Europäischer Union und den Vereinten Nationen seit vielen Jahren unsere Mandate und unsere Bündnisverpflichtungen und sorgen gemeinsam mit unseren Partnern für Sicherheit. Die NATO-Operation Sea Guardian ist hier ein wichtiges Beispiel für die gelebte Kooperation. Und Deutschland leistet mit der Bundeswehr einen wertvollen Beitrag: ({3}) bei der Seeraumüberwachung, beim Vorgehen gegen Terrorismus und Menschenschmuggel, bei der Umsetzung des Waffenembargos von und nach Libyen. Diesen Beitrag wollen wir fortsetzen und das Mandat für Sea Guardian als Baustein in der maritimen Sicherheitsstruktur heute verlängern. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alois Karl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute zum wiederholten Male mit den Mandaten der Bundeswehr. Unsere Bundeswehr ist weltweit in 17 Einsätzen unterwegs. Mit mehr als 3 000 Soldaten sichern wir in den verschiedenen Erdteilen den Frieden oder leisten humanitäre Hilfe. Unsere Soldaten sind in Afghanistan und Syrien im militärischen Einsatz und beteiligen sich an der Auf- und Ausrüstung der Polizei im Irak. Im Südsudan leisten unsere Bundeswehrsoldaten ebenfalls überlebenswichtige Hilfe. Im Kosovo sorgen sie für die Trennung der verfeindeten Stämme. Der Schutz der Seewege, insbesondere am Horn von Afrika im Rahmen der Operation Atalanta ist eine weitere Facette. Sea Guardian, meine Damen und Herren, passt eigentlich nicht zu dieser Kategorisierung. Weder besteht eine aktuelle Bedrohungslage, noch leisten wir dort humanitäre Hilfe. Die seit 2001 bestehende Operation Active Endeavour ist durch Sea Guardian abgelöst worden. Es geht um den Schutz der Seewege im Mittelmeer, um die Unterbindung von Terror. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die reinen Erfolgszahlen sind gering; das hat der Kollege der Linken heute ausgeführt. Aber das wissen auch wir. Die Frage ist doch: Wie wollen wir das Wort „Erfolg“ in diesem Zusammenhang definieren? Was ist die Aufgabenstellung? Das ist doch die Frage. Wenn wir keine Terroristen gefangen haben, keine Waffenfunde aufgedeckt worden sind, dann heißt das nicht, dass Sea Guardian bisher keinen Erfolg hatte. ({0}) Erfolg bedeutet doch auch, dass wir Schmuggler, dass wir Terroristen abgehalten haben. ({1}) Lassen Sie mich ein Beispiel aus meiner Heimat anführen: Ein Dorf hat seit 20 Jahren keinen Großbrand erlebt. „Gott sei Dank“, sagen die Leute, „Glück gehabt!“ Aber wegen dieser Tatsache, dass es dort in 20 Jahren nicht gebrannt hat, kommt in diesem Dorf niemand auf den Gedanken, die Feuerwehr abzuschaffen. Niemand kommt auf den Gedanken, der Feuerwehr Erfolglosigkeit oder gar Nutzlosigkeit zu attestieren. Das Gegenteil ist der Fall. ({2}) Wir sagen das so: To hope the best, but to prepare the worst – wir hoffen auf das Beste, rüsten uns aber für den schlechten Fall. So ist das auch in dieser Situation. Meine Damen und Herren, einmal andersherum gesagt: Gerade weil wir mit Sea Guardian im Mittelmeer aktiv sind, sehen wir dort keinen Waffenschmuggel und finden keine Piraten. So, meine Damen und Herren, liebe Kollegen insbesondere von den Linken, wird ein Schuh daraus. Sie drücken das allerdings nicht positiv aus, sondern, wie man das gewohnt ist, nur negativ. Wir bevorzugen die positive Betrachtungsweise. Sea Guardian leistet Seeraumüberwachung, erstellt Lagebilder und sichert den maritimen Schiffsverkehr. Wir wissen doch alle, dass das Mittelmeer eine der befahrensten Seerouten ist. Deutschland ist eine Exportnation. Ein Viertel der gesamten Öltransporte der Welt geht über das Mittelmeer, und ein Drittel aller auf dem Seeweg transportierten Güter geht auch über das Mittelmeer. Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns ist es überlebenswichtig, dass wir mit der Operation Sea Guardian dazu beitragen, dass dort Terroristen und Schmuggler keine Chancen haben. Andere sind interessierter. Ob es jetzt Australien, Georgien oder auch Jordanien sind: Sie alle suchen den Kontakt zu Sea Guardian. Sogar Österreich, meine Damen und Herren. Das hat mich etwas verwundert. Österreich ist, wie Sie sicher wissen, ein Binnenstaat. ({3}) Österreich hatte zwei Kriegsschiffe. Das waren Patrouillenboote auf der Donau. ({4}) – Frau Künast. – 2006 sind sie verschrottet worden. Trotzdem wollen die Österreicher mit Sea Guardian zusammenarbeiten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Karl, ich fürchte, das können wir jetzt nicht mehr zu Ende bringen.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir raus aus Sea Guardian und Österreich rein, meine Damen und Herren! Das wäre doch ein Treppenwitz. Aus diesem Grunde stimmen wir der Fortsetzung dieser Operation zu. Herzlichen Dank. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Fortführung der Beteiligung der Bundeswehr an einem Peacekeeping-Mandat der Vereinten Nationen im Südsudan. Vielen wird das nichts sagen; denn der Südsudan gehört zu den stillen Katastrophen, die bei uns selten im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Nach Jahren des Bürgerkrieges sind zweieinhalb Millionen Menschen zu Flüchtlingen in den Nachbarländern geworden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf akute Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wird es nicht möglich sein, diese Situation zu stabilisieren. Im September letzten Jahres hat es einen neuen Anlauf gegeben, ein neues Friedensabkommen, und den Versuch, die Situation zu beruhigen. Es ist tatsächlich auch gelungen, die Gewalt einzudämmen und den Weg für eine politische Lösung frei zu machen. Aber wir sind weit davon entfernt, sagen zu können, dass dieser Friedensvertrag auch zum Erfolg führen wird. Mittlerweile gibt es rund 40 unterschiedliche bewaffnete Gruppen im Südsudan, die in die Auseinandersetzung verwickelt sind. Die Hauptkontrahenten sind im vergangenen Jahr zusammengekommen, eine Reihe anderer wichtiger bewaffneter Gruppen auch. Aber es sind längst nicht alle in diesen Friedensprozess einbezogen. Was vielleicht neue Hoffnung gibt, ist, dass der neue Friedensprozess unter der Federführung von zwei Nachbarstaaten zustande gekommen ist, nämlich dem Sudan und Uganda, die beide in diesen Konflikt im Südsudan verwickelt sind: die einen auf der Seite der Regierung, die anderen auf der Seite der Opposition. Damit ein Erfolg möglich ist, wird aber wichtig sein, dass über dieses Abkommen hinaus im Land ein politischer Prozess in Gang gesetzt wird, und zwar auf verschiedenen Ebenen – auf der regionalen und der lokalen Ebene –, um Wege zum Frieden finden zu können. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen, warum ist UNMISS in dieser Situation so wichtig? Ich behaupte nicht, dass UNMISS alle in diese Mission gesetzten Erwartungen erfüllt hat. Jeder, der sich näher damit beschäftigt, weiß, dass es eine Reihe von Problemen gibt. Aber UNMISS ist die einzige Kraft, die im Moment in der Lage ist, Zivilpersonen in den sogenannten geschützten Areas zu schützen, in die sich Menschen vor Gewalt flüchten können. Etwa 200 000 Zivilisten werden durch diese Mission geschützt. Gleichzeitig sorgt die Mission dafür, dass in anderen Teilen überhaupt humanitäre Hilfe möglich ist, und das in einer Situation – ich wiederhole das –, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen ist. Es ist also dringend notwendig, diese Mission fortzusetzen, auch wenn sie im Moment nur die Folgen einer Auseinandersetzung lindern und nicht die Auseinandersetzung selbst lösen kann. Deshalb ist es notwendig, dass es einen umfassenden Ansatz gibt. Auch das will ich hier erwähnen: Die Bundesrepublik ist nicht nur bei UNMISS engagiert – dort sind wir nur mit wenigen Personen aktiv, um die Mission zu unterstützen –, sondern die Bundesrepublik ist vor allem auch in der humanitären Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit engagiert, soweit das möglich ist. Rund 220 Millionen Euro sind in den letzten Jahren in die humanitäre Hilfe geflossen, rund 120 Millionen Euro in die Entwicklungszusammenarbeit. Dort geht es darum, Landwirtschaft wieder zu revitalisieren, Nahrungsmittelproduktion möglich zu machen, Wasserversorgung sicherzustellen; es geht darum, die Zivilgesellschaft zu stärken, das Justizwesen mit aufzubauen. Das sind alles Prozesse, die notwendig sind, wenn es einen dauerhaften Frieden geben soll. ({1}) Ich will Sie deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen, heute bitten, der Fortsetzung dieses Mandats zuzustimmen. Es ist und bleibt wichtig, auch wenn es allein die Probleme nicht lösen kann. Ich will auf der anderen Seite auch die Bundesregierung noch einmal deutlich bitten, alle ihre Möglichkeiten einzusetzen, gerade auch im Rahmen der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat, um politischen Druck aufzubauen und alle diplomatischen Möglichkeiten zu nutzen, auf die Kriegsparteien und die Nachbarländer einzuwirken, diesen Friedensprozess zu stabilisieren und endgültig zu einem dauerhaften Frieden zu führen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lothar Maier für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Südsudan ist einer der jüngsten Staaten der Welt, und er ist zugleich eines der ärmsten Länder der Welt, obwohl er aufgrund seiner natürlichen Ressourcen potenziell reich ist. Er ist es aber nicht geworden, und er kann es bis auf Weiteres wohl auch nicht werden, weil er nach Jahrzehnten des Krieges, des Bürgerkrieges, innerer Wirren und ausländischer Interventionen so ins Chaos gestürzt worden ist, dass er sich aus dem Elend, in dem er sich befindet, nur schwer herausarbeiten kann. Die Zahlen sind bekannt. Es gab Hunderttausende Todesopfer. Es gab schwere Zerstörungen der ohnehin spärlichen Infrastruktur. Es gab eine politische und wirtschaftliche Stagnation. Der Kollege Matschie hat schon darauf hingewiesen: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf ausländische Lebensmittelhilfe angewiesen. Zudem ist der Südsudan nicht wirklich befriedet. Es bestehen Territorialkonflikte mit dem Sudan, dem Nordsudan, Äthiopien und Kenia fort. Im Inneren schwelen nach wie vor, auch nach der Abmachung von Ende 2018, tribalistisch motivierte Konflikte. Das Bildungsniveau der Bevölkerung ist extrem niedrig, dafür ist die Bevölkerungszuwachsrate extrem hoch. Zugleich ist dieses Land reich an Ressourcen. Es hat Erdöl, Eisenerz, Chrom, Kupfer, Zink, Wolfram, Silber, Gold, Diamanten und manch andere Rohstoffe. Wasserreserven, die reichlich vorhanden sind, ermöglichen im Prinzip eine produktive Landwirtschaft, auch Stromerzeugung aus Wasserkraft. Aber mit Ausnahme von Öl wird keine dieser Ressourcen nennenswert genutzt. Daher sind auch die Staatseinnahmen des Südsudan äußerst bescheiden. In dieser Situation sind friedenssichernde und konfliktpräventive Maßnahmen der Vereinten Nationen sicher zu begrüßen, um dazu beizutragen, dass das Land wieder auf die Beine kommt. Der vorgeschlagene Einsatz, der ja auch schon seit geraumer Zeit läuft, ist völkerrechtlich sicherlich unbedenklich, und er liegt aus grundsätzlichen Sicherheitsüberlegungen meines Erachtens im deutschen Interesse. Zudem ist der vorgesehene Personal- und Mitteleinsatz mehr als bescheiden. Damit kann man von diesem Einsatz natürlich auch keine Wunder erwarten. Derzeit sind 14 deutsche Soldaten im Südsudan stationiert. Das Mandat erlaubt bis zu 50. Es wäre wünschenswert, dass diese Obergrenze auch ausgenutzt wird. Die Kosten liegen derzeit unterhalb von 2 Millionen Euro. Ich finde, wir sollten diese bescheidenen Kosten nicht einsparen. Würden wir sie einsparen, würde die ohnehin halb totgesparte Bundeswehr dadurch nicht gerettet. ({0}) Wir stimmen der Vorlage zu. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Jürgen Hardt das Wort. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte vor zwei Wochen Gelegenheit, die Hauptstadt des Südsudan, Juba, zu besuchen; der Wehrbeauftragte und weitere Kollegen waren auch mit. Das, was wir in Juba gesehen haben, war natürlich erschütternd: eine Stadt, in der nachts keine Straßenbeleuchtung brennt. Es ist die einzige Hauptstadt der Erde, in der das so ist, wenn man mal von Caracas in diesen Tagen absieht. Die Wirtschaftskraft des Landes geht stetig zurück. Gleichzeitig steigt die Zahl der Einwohner des Landes, was natürlich schon offenbart, dass die Entwicklung eine ausgesprochen prekäre ist. Die UNMISS-Mission mit rund 17 000 Soldaten und Zivilisten, viele davon natürlich aus afrikanischen Nachbarstaaten, ist die einzige verlässliche, stabilere politische Kraft in diesem Lande. Das ist, glaube ich, ohne der Regierung zu nahe zu treten, nicht anders zu sehen. Deutschland leistet mit 14 Soldaten in diesem Einsatz, die hochmotiviert sind, einen wichtigen Beitrag. Ich freue mich, dass der Kontingentführer, der stellvertretende Leiter der Militärbeobachtermission der UNMISS im Südsudan, heute hier ist. Ich habe – wie die anderen Kolleginnen und Kollegen, die dabei waren – gespürt, dass unsere Soldaten vor Ort eine große Empathie für die Bevölkerung, für die Menschen entwickeln und diesen Einsatz als sehr sinnvoll und erfüllend ansehen. Ich glaube, das verdient einen Extrabeifall. ({0}) Es gibt seit Herbst letzten Jahres einen neuen Anlauf für einen Friedensprozess der verfeindeten Gruppen im Lande. Der Leiter der UN-Mission, der Neuseeländer Shearer, hat uns erzählt, dass es eine sorgfältige Befragung der Bevölkerung jüngeren Datums gibt, nach der immerhin zwei Drittel der Menschen sagen, es gehe ihnen heute besser als vor einem Jahr. Das, finde ich, ist ein ermutigendes Signal. Es ist natürlich auch mit der Hoffnung verbunden, dass der eingeleitete Friedensprozess zu einem guten Ergebnis geführt werden kann, dass die Menschen die Möglichkeit haben werden, die Ressourcen des Landes zu nutzen. Das Land ist ja mit Blick auf die Vegetation durchaus durch subtropische Klimabedingungen begünstigt, und es hat Rohstoffe. Das Land muss nur zur Ruhe kommen und die Kraft schöpfen, um Straßen zwischen den Städten zu bauen, um Schulen zu bauen, um Krankenhäuser zu bauen, um die Energieversorgung sicherzustellen. All das liegt gegenwärtig im Argen. Wir haben uns im Gespräch mit dem Außenminister des Landes und mit dem Parlamentspräsidenten natürlich über die Sicht der Regierung auf die Dinge informiert. Der Vertreter der Bundesregierung, der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn, mit dem wir gereist sind, hat auch ganz offensiv Fragen an den Außenminister gestellt, gerade auch mit Blick auf den hybriden Gerichtshof, der eigentlich im Friedensabkommen vereinbart ist und der die Verbrechen, die im Bürgerkrieg begangen worden sind, aufbereiten soll. Die Regierung ist der, wie ich finde, falschen Auffassung, dass das Land noch zu unruhig ist, einen – wie er sich ausdrückte – zu hohen Blutdruck hat, als dass man ihm einen solchen Gerichtshof zumuten könnte. Unsere Antwort war, dass die Herstellung von Gerechtigkeit in einem solchen Friedensprozess möglicherweise – um in diesem Bild zu bleiben – ein blutdrucksenkendes Mittel sein könnte. Wir haben die Regierung ermutigt, tatsächlich den Weg der Aussöhnung zu gehen, der im Übrigen auf großen Plakaten auch vom Staatspräsidenten verkündet wird. Es ist jetzt die Zeit für Frieden, Versöhnung und Vergebung; aber wir glauben, dass dazu auch Gerechtigkeit gehört. Deswegen wäre ein Start für einen solchen hybriden Gerichtshof, wie er im Friedensabkommen vorgesehen ist, für das Land eine wichtige Hilfe. Ich bin der Meinung, wir sollten diesen Einsatz heute verlängern und unterstützen. Ich möchte auch nach den Erfahrungen der Gespräche mit den Soldaten das Verteidigungsministerium ermutigen, darüber nachzudenken, tatsächlich die Mandatsgrenze von 50 etwas stärker auszuschöpfen als mit den bisher entsandten 14 Soldaten. ({1}) Ich füge ganz pragmatisch hinzu, dass ich glaube, dass ein deutscher Stabsoffizier oder ein hochrangiger Unteroffizier in einem solchen Einsatz Fähigkeiten erwerben und Erfahrungen sammeln könnte, wie es an keiner Führungsakademie der Bundeswehr möglich wäre. Die Formen der internationalen Zusammenarbeit in der UN unter den besonderen Bedingungen dieses Landes und mit den Menschen dieses Landes ist für einen Offizier der Bundeswehr letztlich eine gute Vorbereitung auf weitere Verwendungen in höherer Funktion in der Bundeswehr. Deswegen: Vielleicht habt ihr die Idee und den Mut, doch noch den einen oder anderen Stabsoffizier zusätzlich zu entsenden. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Till Mansmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Heute sende ich einen ganz besonderen Gruß an die Gäste auf der Tribüne, insbesondere nach links, wo ich die Besucher in Uniformen sehe. Es wird Sie wenig überraschen – deswegen sage ich das gleich vorweg –: Die FDP-Fraktion wird der von der Bundesregierung beantragten Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Mission der Vereinten Nationen im Südsudan, UNMISS, zustimmen. Wir machen uns ja die Entscheidung bei jedem einzelnen dieser Einsätze nicht leicht. Es geht bei diesen Einsätzen um sehr viel, nicht zuletzt natürlich um die Sicherheit und Gesundheit unserer Soldaten. Es geht aber auch um die Erreichung von Frieden, um die Stärkung des Rechts weltweit und um den Ruf unseres Landes in der Welt. Deutschland gilt als eine in enger Abstimmung mit anderen international ordnende Kraft. Das Friedensabkommen vom 12. September letzten Jahres macht uns Hoffnung. In dieser Phase ist es wichtig, das bisschen an Stabilität, das man von außen in ein Land tragen kann, zu erhalten. Lassen Sie mich ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Diese Entscheidung ist vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass Deutschland seit Januar einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat. Vor diesem Hintergrund werden natürlich alle internationalen militärischen Missionen, an denen Deutschland beteiligt ist, betrachtet. Das Auswärtige Amt hat diesbezüglich übrigens einen wichtigen Schwerpunkt benannt: die Förderung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“, die wir für wichtig halten. Ziel ist die verstärkte Einbeziehung von Frauen in allen Phasen der Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung und die Stärkung der Rolle von Frauen in Friedensprozessen. Vor diesem Hintergrund stellen wir uns die Frage: Warum schickt Deutschland eigentlich fast nur Männer auf solche Missionen? Wäre die Leistung von Frauen hier nicht Ansporn? Während der letzten UNMISS-Phase hat gerade einmal eine einzige deutsche Soldatin im Südsudan ihren Dienst verrichtet. Wenn die Menschen das in diesen Ländern sehen, was sollen sie dann denken, was vermitteln wir damit für ein Bild? ({0}) Ein weiterer Punkt wird sein, jetzt schon zu überlegen, wie wir den Übergang von militärischen Missionen zu ordentlicher ziviler Entwicklungszusammenarbeit ausgestalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesbezüglich bereits jetzt tragfähige Pläne für den Südsudan auszuarbeiten, für die Zeit, in der die internationalen Soldaten weitgehend abziehen können. Der Kollege Christoph Matschie hat auf diesen Punkt ja schon richtigerweise hingewiesen. Vielen Dank dafür. Erst wenn wir diese Phase wirklich erreicht haben, können wir von Frieden im Südsudan sprechen. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht jetzt um kleinere Einsätze. Hier geht es um einen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von UNMISS im Südsudan. Das Mandat, das in den letzten Jahren erteilt wurde – so auch wieder jetzt –, sieht eine Obergrenze von 50 Soldaten vor; aber de facto sind nur 14 Soldaten im Südsudan eingesetzt worden. Wenn die Bundeswehr im Ausland eingesetzt wird, wird ja immer behauptet, sie würde dazu beitragen, dass sich die Situation verbessert. Schauen wir uns die konkrete Situation im Falle des Südsudan an – es ist schon von den Kolleginnen und Kollegen beschrieben worden –: 2,2 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern, 1,9 Millionen Binnenvertriebene, und der Machtkampf zwischen Präsident Salva Kiir und seinem Rivalen Riek Machar geht trotz allem weiter. Das Friedensabkommen ist abgeschlossen worden – wir begrüßen das ausdrücklich –; aber die Bischöfe vor Ort sagen, es funktioniert nicht. Es ist richtig, dass jetzt genau dieses Friedensabkommen zivil flankiert werden muss. Ich erinnere mich da an meine erste Rede, die ich hier gehalten habe, auch zum Themenbereich UNMISS. Ich hatte damals gefordert: Ganz dringend ist ein Waffenembargo für den Südsudan. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gibt es inzwischen, und es wirkt tatsächlich, und es ist so, dass es nicht unwesentlich zur Verbesserung der Lage vor Ort beigetragen hat. ({0}) Was sind eigentlich die tatsächlichen Mittel, die eine Situation vor Ort verbessern? Und da zeigt sich immer wieder: zum Beispiel genau ein solches Waffenembargo, das einfach politisch richtig war und das wir ausdrücklich begrüßen. Wir haben im Südsudan die Situation, dass es eine umfangreiche Mission UNMISS gibt und die Bundeswehr dazu 14 Soldaten stellt. Aber wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Was ist eigentlich genau die Funktion dieser 14 Soldaten? Sie werden nicht wesentlich zur Verbesserung der Situation beitragen. Viel wichtiger ist das, was auch in dem Mandat benannt wurde, was aber gar nicht das ist, was wir hier mandatieren, nämlich zivile Aufbauhilfe, die eine Reihe von Organisationen leistet. Wir sagen: Was wir brauchen, ist zivile Aufbauhilfe und Unterstützung im Südsudan; aber was wir nicht brauchen, ist dieser Bundeswehreinsatz. ({1}) Deshalb werden wir ihn ablehnen und werden klar sagen: Kein Bundeswehreinsatz im Südsudan! Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einmal mehr haben sich die Erzfeinde Salva Kiir und sein früherer Vize Riek Machar im September auf ein Friedensabkommen geeinigt. Die Gewalt wurde aber nicht beendet. Man kann nur hoffen, dass dieses Abkommen trotzdem auf der langen Strecke erfolgreicher ist als seine Vorgänger, die alle, ehrlich gesagt, nur für die Tonne waren. Man kann das nur hoffen, gerade auch für die Angehörigen der mittlerweile über 400 000 Opfer, für die Millionen Vertriebenen und Geflüchteten. In dieser düsteren Situation ist die Friedensmission der Vereinten Nationen für viele Menschen noch die beste, manchmal auch die einzige Chance auf ein kleines bisschen an Sicherheit und ein kleines bisschen an Hilfe. Immer noch befinden sich 190 000 Menschen in den Camps. Sie haben dort Zuflucht gefunden. Ich kann allen nur danken, die sich trotz dieser schrecklichen Lage für die Menschen im Südsudan engagieren, sie nicht alleinlassen; das gilt für die Soldatinnen und Soldaten, es gilt aber natürlich auch für die zivilen Helferinnen und Helfer. ({0}) Ich will auch gar nicht verschweigen: Natürlich gibt es Probleme, es gibt Unzulänglichkeiten, es gab sogar sehr große Fehler im Rahmen von UNMISS in den vergangenen Jahren. Gerade an eine Friedensmission der Vereinten Nationen müssen besonders hohe Maßstäbe angelegt werden, und gerade da müssen Verfehlungen besonders hart geahndet werden. Meine Damen und Herren, von drei Frauen im Südsudan haben zwei sexualisierte Gewalt erlebt. Gerade dieses wichtige Feld, der Kampf gegen sexualisierte Gewalt, darf kein blinder Fleck dieser Friedensmission sein, sondern muss zu einem neuen Schwerpunkt werden, dass man hier mehr tut. ({1}) Aber so eine Friedensmission kann eben auch nur besser werden, sie kann nur dann mehr zu einer positiven Entwicklung beitragen, wenn die internationale Gemeinschaft und insbesondere ihre stärksten Schultern mehr tragen. Jedes Jahr betteln die Vereinten Nationen bei den Mitgliedstaaten um mehr Geld angesichts dieser humanitären Katastrophe. Es kommt aber nicht genug zusammen. Das darf doch einfach nicht sein! ({2}) Auch Deutschlands personeller Beitrag ist mit 14 Soldaten – bei einer ohnehin schon sehr geringen Mandatsobergrenze von 50 – nur symbolischer Art. Auch hier könnte die Bundesregierung die Vereinten Nationen endlich deutlich mehr unterstützen. Machar und Kiir dürfen angesichts ihrer üblen Verbrechen nicht einfach so weitermachen wie bisher; sie gehören, ehrlich gesagt, vor ein internationales Gericht gestellt, wo sie zur Rechenschaft gezogen werden. ({3}) Aber vor allem muss eines endlich aufhören: dass Waffen in diesen Konflikt gelangen, dass sie ihn weiter verlängern und verschärfen. Es hat lange gedauert, viel zu lange, bis endlich das Waffenembargo kam. Es muss auf jeden Fall verlängert werden. Allerdings habe ich neulich wie auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer meinen Augen und Ohren nicht getraut, als in der ARD eine Reportage lief, in der es darum ging, dass während der Zeit, als sich diese Bundesregierung für ein Waffenembargo einsetzte, während der Zeit, als deutsche Soldatinnen und Soldaten an UNMISS teilnahmen, angeblich ein BND-Mitarbeiter in illegale Waffentransporte in den Südsudan verwickelt war. Wir erwarten, dass die Bundesregierung nicht weiter die Auskunft verweigert, ob diese krasse Geschichte eigentlich stimmt oder nicht. Es geht gar nicht, dass Sie dem Parlament hier keine Auskunft geben. ({4}) Meine Damen und Herren, es mag noch ein sehr langer und ein sehr steiniger Weg sein, bis Frieden und Sicherheit im Südsudan ansatzweise eine Chance auf Realität bekommen. Aber dieser Weg wäre noch deutlich unwahrscheinlicher, wenn es diese Mission nicht gäbe. Deshalb werden wir Grünen heute dem Mandat zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Südsudan spielt sich im Moment eine der größten humanitären Katastrophen der Welt ab. Das ist bitter, auch für uns, die wir schon seit langem den Südsudan mit unterstützen: Bei der Vorgängermission UNMIS – mit einem S – waren wir bereits aktiv, und seit 2011 sind wir auch bei UNMISS – mit zwei S – im Südsudan mit aktiv. Seit der Zeit begleite ich auch diese Mission. Es ist immer ein Auf und Ab. In den letzten drei Jahren haben wir leider wieder einen Abwärtstrend miterleben müssen. Die aufflammenden Konflikte ab 2016 haben vieles, was sich entwickelt hat, wieder zerstört. Trotzdem sind wir heute mutiger, schauen wir heute positiver in die Zukunft, als wir es noch vor der Debatte vor einem Jahr getan haben. Es gibt im Moment im Südsudan ein Friedensabkommen; das gab es damals noch nicht. Ich war vor kurzem gemeinsam mit dem Wehrbeauftragten, Staatssekretär Silberhorn und einigen weiteren Kollegen, Herrn Hardt und Herrn Loos, auch vor Ort und habe mir selbst ein Bild gemacht. Von den Vertretern der VN wurde mir bestätigt, wurde uns bestätigt, dass das Friedensabkommen zumindest in größeren Teilen des Landes hält, dass die politisch motivierte Gewalt zurückgeht, dass sich Oppositionspolitiker frei im Land bewegen können – das war lange Zeit auch nicht der Fall – und dass es bei den Flüchtlingen auch eine leichte Rückkehrbewegung gibt. Ungefähr 135 000 Flüchtlinge sind zurückgekehrt im letzten Jahr. Das zeigt, dass die Menschen auch ein positiveres Bild von der Zukunft des Landes haben, als sie es noch vor einem Jahr hatten, als die Richtung genau die andere war. Nichtsdestotrotz: Über die Zustände im Land ist gesprochen worden. Der Südsudan liegt wirklich am Boden. UNMISS ist der einzig wirkliche Stabilitätsanker in diesem Land. Deutschland beteiligt sich mit 14 Soldaten. Das hat natürlich einen symbolischen Wert. Wir unterstreichen damit auch gegenüber den VN unsere Unterstützung für die Mission. Wir sind Teil der Mission, sind auch an den Absprachen, an der Planung usw. beteiligt. Wir leisten nicht nur finanziell einen großen Beitrag für das Land, sondern auch mit unseren Soldatinnen und Soldaten. Der Beitrag, den unsere 14 Männer dort leisten, ist weit mehr als nur symbolisch – wir stellen dort Personal in Schlüsselpositionen. Ich freue mich sehr, dass heute Oberst Büschen unter uns ist. Oberst Büschen war ein Jahr lang der Chef der Militärbeobachter im Südsudan, einer internationalen Truppe von ungefähr 200 Männern und Frauen, die für uns Auge und Ohr der Mission sind. Ohne diese Militärbeobachter wüsste die Welt nicht, wüssten wir nicht, was sich dort tatsächlich abspielt – Medien gibt es kaum. Herr Büschen, ich bitte Sie: Richten Sie Ihren Männern auch unseren Dank aus für die Erfüllung Ihres schwierigen Auftrags! ({0}) – Da kann man mal klatschen. Der Einsatz im Südsudan ist kein Einsatz wie jeder andere. Gerade die Militärbeobachter sind oftmals fernab jeder Zivilisation unterwegs, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung. Sie gehen ein hohes persönliches Risiko ein – für das Land, für die Vereinten Nationen und letztlich auch für uns. Ihr Einsatz ist wichtig für UNMISS, und UNMISS ist die zentrale Hoffnung für den Südsudan. Deswegen unterstützen wir weiterhin den Einsatz. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie jetzt um Zustimmung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! 2003 begannen in der Darfur-Region im Sudan Kämpfe zwischen Rebellengruppen und der sudanesischen Regierung. 2007 beschlossen die UN und die Afrikanische Union erstmals eine gemeinsame Mission, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, und vor allem, um zugleich die betroffene Zivilbevölkerung vor brutalen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Trotz schleppenden Fortschritts konnten wir in den vergangenen Jahren Verbesserungen der Situation und den Willen zu einer Konfliktlösung beobachten. Die Ansätze sind vielversprechend, seit die sudanesische Regierung und einige der Rebellengruppen aus Darfur im Dezember vergangenen Jahres auf Vermittlung des Auswärtigen Amtes ihren Willen zur Fortführung der Friedensverhandlungen erklärt haben. Dass das Auswärtige Amt dabei entscheidend vermitteln konnte, unterstreicht auch, dass Deutschland in der Region als starker und verlässlicher Partner gesehen wird, und das ist gut so. ({0}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Fortführung des Friedensprozesses ermöglicht es, dass sich UNAMID wie geplant nächsten Sommer, also im Sommer 2020, zurückzieht. Die Mission steht damit beispielhaft dafür – das wird immer kritisiert –, dass die internationale Gemeinschaft Einsätze beginnen und beenden kann und dann die Verantwortung in die Hände vor Ort zurückgibt. Aber die Mission – das muss man auch bedenken – muss vernünftig und mit Blick auf Nachhaltigkeit beendet werden, nicht Hals über Kopf. ({1}) Dazu müssen wir weiterhin mit der sudanesischen Regierung im Gespräch bleiben. Und trotzdem bleiben Sorgen mit Blick in den Sudan. Seit mehreren Wochen wird den Hilfsorganisationen, die humanitäre Hilfe leisten wollen, der Zugang nach Darfur verweigert. Selbst die GIZ hat Probleme. Und unter dem Schlachtruf „Wir sind alle Darfuris“ finden seit Mitte Dezember regelmäßig Proteste der Bevölkerung in allen Landesteilen des Sudan statt, da die Menschen kein Vertrauen mehr in die bestehenden staatlichen Strukturen haben. Es gibt, wenn überhaupt, heillos überteuertes Benzin. An den Automaten gibt es kein Bargeld mehr. Der Staat ist pleite. Die Wirtschaft liegt vielerorts am Boden. Genau deshalb muss der Abzug deutlich stärker als Teil eines umfassenden Konzeptes – Klammer auf: Wirtschaftskonzepts – gedacht werden. ({2}) Denn 2 Millionen intern Vertriebene und 1 Million Flüchtlinge aus den umliegenden Ländern stellen eine große Herausforderung dar. Aber Organisationen wie die Welthungerhilfe oder die GIZ leisten dort hervorragende Arbeit. Seit 2016 sind alleine vom Auswärtigen Amt für humanitäre Hilfsmaßnahmen Mittel in Höhe von 33 Millionen Euro bereitgestellt worden. Der Sudan ist ein wichtiges Herkunfts‑, Transit- und Aufnahmeland von Geflüchteten und für Geflüchtete. Das muss man sich deutlich machen. Es geht nicht nur darum, dass Menschen von dort fliehen, sondern auch darum, dass Menschen in den Sudan fliehen. Deshalb fördert das BMZ mit etwa 82 Millionen Euro Maßnahmen im Bereich „Flucht und Migration“. So werden unter anderem Gemeinden im Osten und Süden des Sudan gestärkt, um Geflüchtete besser aufnehmen zu können und Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzustellen. Ein Beispiel: Im Ostsudan, in Kassala und Gedaref, werden aufnehmenden Gemeinden und Geflüchteten Berufsausbildung angeboten und Maßnahmen zur Ernährungssicherung durchgeführt. Doch trotz des düsteren Bildes gibt es Hoffnung; denn die Proteste zeigen die große Bereitschaft der Bevölkerung, insbesondere der jungen Menschen, anzupacken und das Land aufzubauen. Mit den alten Eliten dagegen scheint kein Staat mehr zu machen zu sein. Beispielhaft verweise ich auf ein Projekt des Goethe-Instituts und der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Stärkung der Bürgerinnen und Bürger im Sudan. Auf kommunaler Ebene geht es um die Förderung der Zivilgemeinschaft und insgesamt um eine stärkere gesellschaftliche Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Bedeutung eines ressortübergreifenden Ansatzes zeigt sich mit Blick auf die Zeit bis zum Abzug und danach. Außenpolitik mit den Mitteln der Diplomatie und der humanitären Hilfe muss noch stärker mit langfristig angelegter Entwicklungszusammenarbeit verbunden und umgesetzt werden. Wir brauchen neben der Verbesserung in der Flüchtlingsproblematik eine wirtschaftlich starke Entwicklung in diesem Land. ({3}) Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Mandat. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Petr Bystron für die AfD-Fraktion. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zum 24. Mal über UNAMID, eine Operation der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union in Darfur, an der sich die Bundeswehr weiterhin beteiligen soll. Der Deutsche Bundestag stimmte dem bereits 11-mal zu, 2007 zum ersten Mal. An die 100 Abgeordnete sowie einige amtierende Minister haben hier bereits zu diesem Thema gesprochen. Die große Mehrheit der Redner hat sich immer für den Einsatz deutscher Soldaten und Hilfskräfte im Sudan ausgesprochen. Die Argumente: Eindämmung ethnischer Konflikte, humanitäre Hilfe, Schutz der Zivilbevölkerung, Stabilität in der Region und Bekämpfung von Fluchtursachen. Die AfD-Fraktion stimmt all diesen Punkten zu und befürwortet den Einsatz ebenfalls. Allerdings fragen wir uns, ob die Bundeswehr auch in der Lage ist, die Herausforderung zu stemmen. ({0}) Frau von der Leyen, was sagen Ihre Berater? Ist die Bundeswehr noch in der Lage, unsere Jungs sicher hin- und zurückzufliegen? ({1}) Ich frage ja nur, weil neulich Außenminister Maas in Mali gestrandet ist, ebenso wie Bundespräsident Steinmeier vier Wochen zuvor in Äthiopien. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir als Opposition hätten nichts dagegen, wenn die Flugbereitschaft der Bundeswehr die beiden Herren mit einem One-Way-Ticket in Afrika abgesetzt hätte. ({2}) Das wäre sicherlich eine effektive Maßnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Erhöhung der Stabilität in der Region sowie zur Bekämpfung der Fluchtursachen, allerdings in Deutschland. ({3}) Doch für die im Sudan stationierten deutschen Soldaten wünschen wir uns solche Abenteuer nicht. Sie müssen jederzeit sicher sein können, dass sie für jeden Einsatz optimal ausgerüstet sind und nicht zum Gespött der ganzen Welt gemacht werden. ({4}) Ich danke im Namen der AfD jedem einzelnen Soldaten, Polizisten und zivilen Helfer, der in den vergangenen zwölf Jahren im Rahmen von UNAMID trotz der widrigen Umstände sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Wir sind stolz auf Sie. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Oswin Veith das Wort. ({0})

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zurück zur Sache: Wir werden in wenigen Minuten den UNAMID-­Einsatz verlängern. Damit setzen wir den Einsatz in der Region Darfur fort. Das ist ein gutes Signal an die Völkergemeinschaft, ein gutes Signal an die Vereinten Na­tionen und zugleich ein gutes Signal an die Afrikanische Union und an den Sudan. Die einzige gemeinsame Mission von Afrikanischer Union und UN ist ein besonderer Einsatz, auch für uns. Erfreulicherweise dürfen wir feststellen, dass wir hier immer öfter über Afrika reden. Das ist gut so; denn der afrikanische Kontinent hat großes Potenzial, nicht nur, weil wir als Europäer uns in der Nachbarschaft befinden, sondern auch, weil es ein junger Kontinent ist. Wir müssen feststellen, dass sich viele der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Afrika befinden. Ich will daran erinnern, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung 18 Jahre beträgt. In 20 Jahren, so die Berechnungen, verfügt Afrika über das größte Arbeitskräftepotenzial weltweit. Es ist also ein Kontinent im Aufbruch. Aber wir wissen, dass viele Staaten Afrikas noch vor erheblichen Herausforderungen stehen. Die Regionen leiden an Fragilität und Instabilität. Das strahlt logischerweise auf uns aus. Als Stichworte sind Flucht, Migration, Menschenhandel, organisierte Kriminalität bis hin zu Terrorismus zu nennen. Der Aufbau Afrikas ist zunächst Sache der Afrikanischen Union, und das macht sie auch. Sie stellt sich den Herausforderungen. Es ist gut, dass wir den Sicherheits- und Friedensprozess elementar unterstützen. Wie machen wir das? Es ist unser Auftrag, zu versuchen, Sicherheit und Stabilität in dieser Krisenregion herzustellen. Wir wollen die Sicherheitslage verbessern. Wir sichern mit unserem Einsatz auch die Zugänge für humanitäre Hilfe im Raum Darfur. Wir überwachen die Menschenrechtslage, und wo es geht, verbessern wir sie. Natürlich unterstützen wir damit insgesamt die politischen Friedensbemühungen im Lande. UNAMID sorgt, so denke ich, unter der Führung der Afrikanischen Union – das sei an der Stelle gesagt – für Verbesserungen, bei allen Zweifeln, die bleiben. Es gibt Fortschritte im politischen Prozess zwischen der sudanesischen Regierung und den beteiligten Rebellengruppen. Sie wissen vielleicht, dass wir Ende des vergangenen Jahres hier in Berlin eine Vereinbarung haben schließen können, die ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu Frieden im Sudan ist. Auch die Vereinten Nationen beurteilen die Sicherheitslage so, dass wir von einem ­Peacekeeping-Einsatz zu einem Pe­acebuilding-Einsatz kommen können. Das spricht, glaube ich, ebenfalls dafür, dass wir trotz aller Zweifel von einer sich verbessernden Situation reden können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir hier über den Einsatz reden, sollten wir auch einmal den Umfang deutlich machen: Ich stelle fest, dass wir heute Abend mehr Redner zu diesem Tagesordnungspunkt haben als Soldaten im Einsatz. ({0}) Es sind nämlich drei Offiziere dort. Ich weiß gar nicht, wie viele Redner wir zu diesem Tagesordnungspunkt haben, aber es sind deutlich mehr. Außerdem reden wir über fünf Polizeibeamtinnen und ‑beamte und eine ganze Reihe von Entwicklungshelferinnen und ‑helfern. Ich denke, an Ihrer statt darf ich hier allen für den bei Tagestemperaturen von um die oder deutlich über 40 Grad zu leistenden Einsatz sehr herzlich danken, jedenfalls tue ich das persönlich und im Namen meiner Fraktion sehr herzlich. – Herzlichen Dank für diesen Einsatz! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass dieser Antrag heute Abend eine große Mehrheit finden wird. Vielleicht besinnt sich die eine Fraktion nach meiner Rede ja noch, den Einsatz mit zu befürworten. Ich glaube, wir sollten damit ein deutliches Signal senden. Das ist nicht nur für die im Einsatz befindlichen drei Offiziere sehr wichtig, sondern auch ein gutes Signal für den Sudan und die Region Darfur. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird uns heute mit den vielen Debatten deutlich vor Augen geführt, wie viele Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in den Einsatzgebieten versehen, sei es gemeinsam mit den europäischen Verbündeten, sei es mit den Partnern der NATO oder im Auftrag der UN. Sie sorgen alle für Stabilität in unterschiedlichsten Regionen; denn instabile Verhältnisse – das sei den Kritikern gesagt – würden auch wir über kurz oder lang zu spüren bekommen. Wir haben als Parlament eine große Verantwortung und eine noch größere Fürsorgepflicht den Soldatinnen und Soldaten gegenüber, auch bei dem Mandat UNAMID, bei dem – in Anführungszeichen – „nur“ 3 von 50 möglichen Soldaten für uns in Darfur sind. Wo auch immer all diese Männer und Frauen im Einsatz sind, brauchen sie die modernste Ausrüstung und die bestmögliche Ausbildung. Dies muss für uns immer Priorität haben. ({0}) In diesem Zusammenhang muss ich leider sagen: Es hat mich in den letzten Tagen schwer irritiert, welch fachliches Niveau das Führungspersonal bei der CDU inzwischen hat. Die Parteichefin, Frau Kramp-­Karrenbauer, macht den Vorschlag, einen Flugzeugträger anzuschaffen. Das könnte man noch als Büttenrede abtun, die Kanzlerin allerdings nickt dazu. Beide beweisen damit ihren wirklich großen militärischen Durchblick. Aber noch schlimmer ist, dass der frisch gewählte Vorsitzende der Jungen Union über die eigene Ministerin lästert, es würden bei der Bundeswehr weniger Flugzeuge fliegen, als die Ministerin Kinder habe. ({1}) Wenn die Situation in der Bundeswehr nicht so ernst wäre, könnte man das als pubertär, ungezogen, kleinkariert abtun. ({2}) Dieses Niveau trägt aber nicht dazu bei, die sicherheitspolitische Debatte seriös zu führen, was wichtig ist in diesem Haus. ({3}) – Ja, das tut weh; aber das müssen Sie ertragen, wenn Sie Ihre Leute nicht im Griff haben. – Ich verstehe langsam, warum sich die SPD immer mehr von dem Koalitionsvertrag absetzt. Das hat zwar zugegebenermaßen mit seriöser Regierungsführung auch nichts zu tun; aber an der Stelle habe ich große Sympathie dafür. ({4}) Meine Damen und Herren, drei deutsche Soldaten und fünf Polizistinnen und Polizisten sind in den Stäben. Unser Fokus – das hat man gerade gemerkt – richtet sich häufig auf die personalintensiven Einsätze wie in Afghanistan oder Mali. Aber auch diese Menschen leisten ihren Beitrag, weit weg von der Heimat. Sie beraten, unterstützen, weil dieser Friede eine Rolle spielt. – An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön von den Freien Demokraten. ({5}) Meine Damen und Herren, es gibt eine Abzugsperspektive. Das ist eine gute Nachricht – ja, das wünschten wir uns auch bei den anderen Einsätzen –, wenngleich wir schauen müssen, wie sich die Lage vor Ort in den kommenden zwölf Monaten vor dem Hintergrund der Massenproteste und des Ausnahmezustands entwickelt. Wir sind aber froh über diese Abzugsperspektive und hoffen, dass uns auch bei den anderen Einsätzen eine Abzugsperspektive angeboten wird. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Christine Buchholz das Wort. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, die internationale Militärmission UNAMID in der sudanesischen Provinz Darfur werde zum nächsten Jahr beendet, weil sie so erfolgreich war. Tatsächlich steht die Mission UNAMID schon seit Jahren wegen ihres Misserfolgs in der internationalen Kritik. Allein der militärische Teil der Mission verschlang im Laufe der letzten zwölf Jahre über 10 Milliarden Dollar. Doch an den Ursachen des Konfliktes hat UNAMID nichts geändert. Das sieht man auch an dem letzten Bericht des UN-Generalsekretärs. Er ist voll mit Details über bewaffnete Vorfälle, Erntevernichtungen, Menschenrechtsverletzungen. Und im Marra-Massiv wird weiter gekämpft. Meine Damen und Herren, UNAMID hat keinen Frieden gebracht. Die Darstellung der Bundesregierung geht an der Realität in Darfur vorbei. ({0}) Als vor mehr als zwölf Jahren erstmalig Bundeswehrsoldaten nach Darfur entsandt wurden, rechtfertigte die damalige Große Koalition dies mit der grausamen Politik des Präsidenten Baschir und der Dschandschawid-Milizen, denen Völkermord zur Last gelegt wurde. Heute ist Baschir Bündnispartner der Bundesregierung und der EU in der Flüchtlingsabwehr und wird großzügig mit Millionen unterstützt. Die Dschandschawid sind inzwischen in den sogenannten Rapid Support Forces aufgegangen, die für das Baschir-Regime die Flüchtlingsabwehr mit Waffengewalt durchsetzen. Es ist jene Miliz, die die Große Koalition für Hunderttausend Tote und Millionen Binnenflüchtlinge in Darfur verantwortlich gemacht hat, die nun für die EU und die Bundesregierung im Sudan gegen Flüchtlinge vorgeht. Das, meine Damen und Herren, zeigt die ganze Heuchelei deutscher Außenpolitik. ({1}) Ihnen geht es darum, die Bundeswehr international zu positionieren, international mitzumischen. Und Ihnen geht es um Flüchtlingsabwehr. Das ist wahrscheinlich auch der einzige Grund, warum die AfD diesem Mandat zustimmt. Die Linke hat immer gesagt: Positive Veränderung kann nicht militärisch von außen gebracht werden; sie muss von innen wachsen. Die Ereignisse der letzten drei Monate geben uns recht. Seit dem 19. Dezember 2018 gibt es Proteste in ganz Sudan: gegen Preiserhöhungen, gegen Repression und für mehr Demokratie. Die sudanesische Ärztin Sara Abdel Jalil sagt: Dies ist nicht nur ein Protest wegen Brot und Kraftstoff, es ist eine Revolution. Es gibt Einheit über die verschiedenen Teile der Gesellschaft hinweg. – Das Regime antwortet mit dem Ausnahmezustand. Laut Amnesty International sind bereits Dutzende Personen von den Sicherheitskräften umgebracht worden. Folter ist an der Tagesordnung. Die Linke in Deutschland ist solidarisch mit diesem Aufstand für mehr Demokratie. Die Bundesregierung scheint solidarisch zu sein mit dem Regime Baschir. Das ist die bittere Realität. ({2}) Ich sage Ihnen: Beenden Sie die Zusammenarbeit mit der sudanesischen Regierung, beenden Sie die unmenschliche Flüchtlingsabwehr, beenden Sie den Bundeswehreinsatz in Darfur! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Buchholz. – Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir an Sie. – Nächste Rednerin: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Darfur ist noch lange nicht alles gut. Im Gegenteil: In der Region Dschabal Marra wird nach wie vor heftig gekämpft, und daran, dass die Binnenvertriebenen sich nicht wirklich in ihre Dörfer und Häuser zurücktrauen, sieht man, dass die Lage nach wie vor sehr, sehr angespannt ist. Man muss auch nur an das grausame Ausmaß des verbrecherischen Krieges zurückdenken, den der sudanesische Präsident al-Baschir zu verantworten hat. Erst diese Friedensmission der Vereinten Nationen, über die wir heute beraten, konnte diese Katastrophe beenden. Auch heute ist sie noch ein wichtiger Baustein, ohne den die Nothilfe vielerorts nicht möglich wäre. Allein deshalb werden wir Grünen dieser Mission zustimmen. ({0}) Auch wir möchten den vielen Menschen, ob aus der Bundeswehr, der Polizei oder dem zivilen Bereich, danken, die sich in den letzten zwölf Jahren in dieser Mission eingesetzt haben. Solche Einsätze dürfen natürlich keine Dauereinrichtungen sein. Die Mission soll bis 2020 enden. Doch bis zu diesem Datum bleibt noch einiges zu tun. Man kann wie der Kollege Veith mit einem Augenzwinkern sagen, dass es hier mehr Redner gibt als dort eingesetzte Soldatinnen und Soldaten. Aber ich habe mich schon viele Jahre gefragt, woher eigentlich das Gerücht kommt, dass das deutsche Parlament schuld daran ist, dass Deutschland nicht bereit ist, mehr Verantwortung zum Beispiel auch bei solchen Friedensmissionen der Vereinten Nationen zu übernehmen. ({1}) Ich habe vor ein paar Jahren, als wir mit einer Delegation des Verteidigungsausschusses in New York waren und dort an uns herangetragen wurde, uns nicht nur finanziell, sondern auch personell stärker zu engagieren, herausgefunden, woran es liegt: Es ist diese Bundesregierung, die immer wieder das Parlament vorschiebt, um zu behaupten, dass man sich nicht mehr einsetzen könne. Das ist einfach nicht wahr. Diese Debatten haben Jahr für Jahr belegt, dass wir alle – auch heute wieder – sagen: Eigentlich müssten Sie einen größeren personellen Beitrag – militärisch, aber natürlich auch im zivilen Bereich – liefern. ({2}) Denn gerade wenn die Herausforderungen so groß sind, darf der eigene Beitrag nicht so klein sein. Aber es geht nicht nur um die Anzahl von Personal, sondern es gibt weitere Aspekte, die bei dem internationalen Engagement stärker in den Fokus rücken müssen. Nur wenn die Ressourcenkonflikte um Wasser, Acker- und Weideland nachhaltig gelöst werden können und wenn die katastrophalen Folgen der Klimakrise nicht nur in Sonntagsreden eine Rolle spielen, kann es eine echte Perspektive für die Menschen im Sudan geben. ({3}) Entscheidend für eine friedliche Zukunft ist aber auch eine klare Haltung für Menschenrechte gegenüber dem Regime von Umar al-Baschir, gegen den immer noch ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Während im Sudan seit Monaten viele Menschen mutig auf die Straße gehen und trotz der Repression weiter protestieren, lässt der sudanesische Langzeitpräsident die Menschen verhaften. Mittlerweile sind fast 100 Menschen umgekommen. Es ist doch fatal, dass diese Bundesregierung dazu schweigt und diese Menschen alleine lässt. ({4}) Aber offensichtlich wollen Sie niemanden verschrecken. Ihnen ist es wichtiger, dass man in Migrationsfragen mit einem solchen Verbrecherregime zusammenarbeitet. Das ist eine zynische und kurzsichtige Politik, die definitiv nicht zu mehr Frieden und Sicherheit beiträgt. So gefährden Sie selbst das Gute, das im Rahmen der UN-Mission getan wird. Wir können Sie nur auffordern: Stellen Sie endlich wieder Sicherheit, Frieden und Menschenrechte ins Zentrum Ihrer Außenpolitik statt eine kurzsichtige, falsche und zynische Fluchtabwehr! Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster und letzter Redner in der Debatte: Thoma Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage im Sudan ist schwierig. Seit Monaten Demons­trationen gegen Präsident al-Baschir, ein ausgerufener Notstand, die Militarisierung von Teilen der Verwaltung: Das alles verschlimmert die Lage der Menschen in diesem doch seit Jahrzehnten von verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen gebeutelten Land. Ich glaube, das stellt hier wirklich niemand infrage, liebe Kollegin. Aber in dieser Debatte richten wir heute den Blick auf die Region Darfur. Ich glaube, dass die Debatte zum Thema „Mission UNAMID“ in der nötigen Ernsthaftigkeit geführt werden muss. Die dortige UN-Mission – es wurde bereits angesprochen: drei Soldaten, fünf Polizisten und weitere zivile Kräfte – darf aber durchaus als Erfolg bezeichnet werden. Man kann natürlich immer mehr machen, liebe Kollegin Brugger, aber ich glaube, wir müssen sämtliche Einsätze der Bundeswehr und die Gesamtzahl der Missionen im Blick haben. Da ist es durchaus auch eine Frage von Verantwortung, in welcher Stärke man sich an so einer Mission beteiligt. Aber wir sind letztendlich das einzige europäische Land, das bei dieser Mission militärische Verantwortung übernimmt, und wir sind hier auch ein verlässlicher Partner. Ob es letzten Endes 3 oder 1 300 Soldaten, Polizisten oder zivile Helfer sind: Jeder einzelne hat unseren Dank für den Einsatz für unser Land verdient. Im Namen der Fraktion sage ich hier noch einmal Dankeschön für diese Leistungen. ({0}) Die humanitäre, politische und wirtschaftliche Situation in der Region Darfur ist in einigen Bereichen nach wie vor prekär. Das will niemand bestreiten. Trotzdem ist festzustellen, dass die Lage, verglichen mit früheren Jahren, nie ruhiger und stabiler war. Die Prioritäten des Mandats bestehen darin, die Sicherheitslage zu verbessern, humanitäre Zugänge zu sichern, die Menschenrechtslage zu überwachen und die Friedensbemühungen zu begleiten. Im Wesentlichen wurden diese Prioritäten auch erfüllt. Die komplexe Gemengelage – auch das ist Realität – ist immer noch nicht aufgelöst. Trotzdem ist der Vergleich mit dem Jahr 2007 sicherlich zufriedenstellend. Ich glaube, dass das eine wichtige Botschaft ist. Denn Maßnahmen für die politische und wirtschaftliche Stabilität vor Ort sind letztendlich wichtige Maßnahmen gegen Fluchtursachen. Das liegt in unserem Interesse, genauso wie es in unserem Interesse liegt, dass wir Afrika als Kontinent der Chancen sehen sollten und müssen. Wir verlängern möglicherweise zum letzten Mal die Beteiligung an UNAMID. Wir werden die Situation genau beobachten. Aber im Jahr 2020 soll die Mission voraussichtlich in die UN-Aktivitäten für den gesamten Sudan überführt werden. Aber auch nach möglicher Beendigung von UNAMID wird Deutschland die Entwicklung in Darfur und im gesamten Sudan sicherlich weiter nachhaltig unterstützen, Stichwort „Vernetzter Ansatz“. Aber heute geht es um UNAMID. Ich bitte Sie bei der jetzt folgenden Abstimmung um die Zustimmung zur Mandatsverlängerung. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Erndl. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Hybriden Einsatz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur (UNAMID). Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8430, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/7725 anzunehmen. Wie Sie offensichtlich wissen, stimmen wir nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und uns körpersprachliche Signale zu geben, ob die Plätze besetzt sind. – Das ist der Fall. Damit eröf fne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Gibt es Kolleginnen oder Kollegen hier im Saal – andere werde ich nicht erreichen –, die noch nicht abgestimmt haben? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, damit ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen kann?

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Digitalisierung, Technisierung und künstliche Intelligenz wirken sich massiv auf die internationale Ordnung aus. Auch die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist mittlerweile davon betroffen. Deutschland fehlt es leider in der technischen Entwicklung an Innovationskraft und einflussreichen Investoren. Quantencomputing, Robotik und Nanotechnologie finden meist anderswo auf der Welt und nicht in Deutschland statt; bei einer Bundeskanzlerin, die das Internet erst im Jahr 2013 entdeckt hat, überrascht das aber kaum. ({0}) Deutschland droht hier den Anschluss zu verlieren. Wir Freie Demokraten fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich mit der Digitalisierung auch auf der diplomatischen Ebene auseinanderzusetzen. ({1}) Was wollen wir konkret? Um internationale Herausforderungen zu meistern, ist Diplomatie zwischen Staaten und IT-Unternehmen notwendig. Der US-Konzern Apple beschäftigt mittlerweile weltweit 123 000 Mitarbeiter. Sein Börsenwert nähert sich dem BIP von Mexiko, einem Land mit fast 130 Millionen Einwohnern. Technologieunternehmen sind heute einflussreicher als so mancher Nationalstaat. Es wird Zeit, dass auch Deutschland das erkennt. ({2}) Statt wie bei der Debatte um 5G nur Zaungast zu sein, sollte Deutschland die modernsten technologischen Entwicklungen selbst gestalten. Dafür braucht es aber einen ständigen Dialog mit führenden Unternehmen und aufstrebenden Start-ups in den Innovationszentren der Welt. Unsere Nachbarn Dänemark und Frankreich haben das rechtzeitig erkannt. Beide Länder haben im Jahr 2017 jeweils einen „Tech-Ambassador“ nach Silicon Valley entsandt. Liebe Bundesregierung, wir wünschen uns, dass auch Deutschland in der Zukunft bzw. so bald wie möglich einen Innovationsbotschafter in die Ballungszentren der Hightechindustrien, wie Silicon Valley, Tel Aviv oder Shenzhen, entsendet. ({3}) Das kann Deutschland einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil liefern. Nutzen Sie unsere Auslandsvertretungen, um den Kontakt zu führenden Tech-Unternehmen – das ist wichtig – auszubauen. Dafür fordern wir die Schaffung einer digitalen Infrastruktur im Auswärtigen Amt und die Schaffung eigener Digitalabteilungen. Wir wollen eine Technologieaußenpolitik entwickeln, mit der wir Trends frühzeitig selbst setzen. Dazu gehört ein Frühwarnsystem für Entwicklungen in der Wissenschaft, bei Unternehmensgründungen und Patenten. Politik und deutsche Unternehmen profitieren davon gleichermaßen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland braucht eine moderne Außenpolitik. Der diplomatische Austausch mit großen Tech-Unternehmen ermöglicht Deutschland einen dringend benötigten Innovations- und Investitionsschub. Lassen Sie uns die Verbindung von Digitalisierung und Diplomatie als Chance begreifen; denn die Zukunft hat längst begonnen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Renata Alt. – Nächster Redner: Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist im digitalen Zeitalter eine stärkere Vernetzung Deutschlands mit den globalen Zentren der digitalen Wirtschaft zweifellos sinnvoll und notwendig. Ihr Antrag, liebe Frau Alt, spricht daher durchaus einen wichtigen Themenbereich an, aber er erscheint bei näherer Betrachtung doch reichlich mit heißer Nadel gestrickt. Aus der Aneinanderreihung von ein paar Schlagwörtern wird eben noch keine schlüssige Strategie. Bei manchen Forderungen habe ich mich ernsthaft gefragt, ob die von Ihnen beschriebenen Aufgaben nun wirklich vorrangig bei Beamten des Auswärtigen Amtes angesiedelt sein sollten. ({0}) Sie fordern als FDP doch sonst immer recht pauschal das Prinzip „Privat vor Staat“, und hier erwarten Sie sich ausgerechnet im Bereich disruptiver Technologien und Geschäftsmodelle vielleicht doch etwas zu viel ganz vom Staat allein. Denn wenn wir uns fragen, wie wir als Staat bessere Rahmenbedingungen für digitale Innovationen und disruptive Geschäftsmodelle schaffen können, dann doch vor allem durch Unterstützung für private Initiativen. Dafür gibt es exzellente Beispiele. Ich denke insbesondere an die Delegationsreisen des Bundesverbands Deutsche Start-ups, die seit 2012 regelmäßig nicht nur ins Silicon Valley, nach New York oder Tel Aviv führen, sondern inzwischen auch nach Bangalore, Schanghai und Shenzhen. Hier werden weltweit Brücken in die führenden Start-up-Ökosysteme gebaut und deutsche Start-ups, etablierte Unternehmen, Family Offices, Venture-Capital-Geber, Business Angels, Medienvertreter und auch Politiker mit den relevanten Akteuren vor Ort vernetzt. Der auch vom BMBF geförderte German Accelerator unterstützt deutsche Start-ups bei der Kontaktanbahnung in Hightech-Regionen der USA. Unsere Auslandshandelskammern, aber auch Germany Trade and Invest und natürlich auch unsere Auslandsvertretungen wie die Generalkonsulate in San Francisco und Boston leisten dabei wertvolle Unterstützung. Das kann sicher alles noch ausgebaut und intensiviert werden. Die Digitalisierung stellt auch unsere Diplomatie vor neue Chancen und Herausforderungen: mit neuen Akteuren und Adressaten, neuen Themen und neuen Formen der Kommunikation. Nicht umsonst ist mittlerweile vielfach von „digitaler Diplomatie“ die Rede. In Ihrem Antrag nennen Sie zwar die Beispiele aus Dänemark und Frankreich, mit denen sich eine weitere Beschäftigung durchaus lohnt. Aber im Einzelnen auseinandergesetzt haben Sie sich mit den dortigen durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten, Konzepten und Erfahrungen offenbar nicht. Jedenfalls wird das aus Ihrem Antrag nicht erkennbar. Dänemark versucht über seine „TechPlomacy“, vorrangig eine Dialogplattform mit den Technologieindustrien im Silicon Valley und in China aufzubauen. Aber auch nach gut eineinhalb Jahren spricht man da von sehr „gemischten Erfahrungen“, eine Einschätzung, die ich auch aus eigener Erfahrung durch Gespräche im Silicon Valley bestätigen kann. Frankreich dagegen hat seinem Technologiebotschafter die breite Zuständigkeit für internationale Verhandlungen zu Cybersicherheit, Internet Governance, Meinungsfreiheit und Urheberrechten im Netz sowie für die Förderung der digitalen Wirtschaft und von Open Data übertragen. Kernfrage der Cyberaußenpolitik ist doch: Wie können allgemein verbindliche Regeln für Sicherheit und Ordnung im Cyberspace definiert und ihre Einhaltung gewährleistet werden? Und wie können dabei individuelle Privatsphäre und Datenschutz gleichermaßen auch vor der Willkür, insbesondere autoritärer Staaten, geschützt werden? Eine enge Einbindung der Privatwirtschaft im Rahmen eines Multi-Stakeholder-Ansatzes ist dabei unverzichtbar. Und so findet im November 2019 hier bei uns in Berlin das 19. Internet Governance Forum statt. Die Einladung der Bundesregierung dazu geht nicht zuletzt auf eine gemeinsame Initiative aus unserer Fraktion zurück, die ich in der vergangenen Wahlperiode gemeinsam mit den Kollegen Peter Tauber und Thomas Jarzombek auf den Weg gebracht habe. ({1}) Wir Europäer sollten uns in dieser Debatte engagiert einbringen; denn gerade die global agierenden Player wie Apple, Google oder Microsoft sind zentrale Ansprechpartner. Die von Microsoft vorgeschlagene Schaffung einer digitalen Genfer Konvention ist aktuell die ambitionierteste private Initiative für mehr Sicherheit im Cyberspace. Bei den Social-Media-Plattformen stellt sich dagegen vieles kritischer dar. Beispielsweise hätten wir uns bei der Bekämpfung von Fake News oder Datenmissbrauch von den Anbietern mehr Vorausschau in der Risikoanalyse und Gefahrenabwehr gewünscht. Gerade die hohe Geschwindigkeit sozialer Medien zeigt auch, dass es uns in Zeiten immer schnellerer Kommunikationszyklen gelingen muss, unsere Außenpolitik auch unmittelbar im Dialog mit breiten Zielgruppen zu vermitteln. Einseitige strategische Kommunikation reicht dazu nicht mehr aus. Wir müssen Instrumente entwickeln, um zum Beispiel frühzeitig Falschmeldungen im Netz zu identifizieren und auf sie reagieren zu können. Wir wollen aber auch positive Aufmerksamkeit für unsere Werte und Interessen wecken. Digitale Diplomatie kann die wertvolle Arbeit unserer Diplomatinnen und Diplomaten in unseren Auslandsvertretungen keineswegs ersetzen. Sie ist aber ein unverzichtbares Instrument, unsere Werte und Interessen glaubhaft zu vermitteln. Vielen Dank. ({2})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um das Ganze wieder etwas zu erden: Ja, es ist richtig, dass Deutschland in vielen Bereichen dabei ist, den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren, und zwar ganz besonders auf dem Gebiet der Digitalisierung. ({0}) Die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen in den USA und in China und kaum noch in Deutschland. Aber daran wird die von der FDP geforderte Entsendung von Innovationsbotschaftern nun wirklich gar nichts ändern. Wir brauchen vielmehr einen grundsätzlichen Kurswechsel. ({1}) Gerade bei der aktuellen Diskussion um 5G wird es wieder besonders deutlich: Die deutsche Industrie, noch vor wenigen Jahren führend im Bereich der Netzwerkinfrastruktur, hat diese Kapazität heute verloren. Falsche politische Rahmenbedingungen hatten hieran einen ganz entscheidenden Anteil. Günstige Preise waren die vorrangige Zielsetzung. In der Folge haben wir technologische Komponenten zunehmend aus Asien bezogen und eigene Kapazitäten und Fertigkeiten abgebaut. Dies ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Seit Ende des Kalten Krieges geht die deutsche Politik ganz offensichtlich davon aus, dass der Liberalismus den Wettbewerb um das beste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell dauerhaft und endgültig für sich entschieden hat. Das ist schlichtweg naiv. Eine kluge Wirtschaftspolitik sieht anders aus. ({2}) Wir haben unsere soziale Marktwirtschaft entkernt und zunehmend angelsächsischen Finanzkapitalismus bei uns eingeführt. Die Finanzkrise 2008 war hierfür ein Zeugnis. Landesbanken, die Ersparnisse in die regionale Wirtschaft hätten leiten sollen, haben diese an den Finanzmärkten verzockt. Banken aber sollen die Realwirtschaft finanzieren und nicht umgekehrt. Wir haben politisch, gesellschaftlich und auch privatwirtschaftlich vieles kurzfristigem Denken untergeordnet. Langfristig wichtige Technologien wurden geopfert, um kurzfristig Erfolge zu erzielen. Technologische Abhängigkeiten von anderen Ländern wie den USA und jetzt auch China sind der Preis dafür. Wir haben ganz offensichtlich den Blick dafür verloren, dass es auch nach Ende des Kalten Krieges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle gibt, die in Konkurrenz zu unserem stehen und die sich in einigen Bereichen als deutlich erfolgreicher darstellen. China ist dafür ein klares Beispiel. ({3}) China ist auch eines der Länder, in das die FDP Innovationsbotschafter entsenden möchte. Die anderen Länder sind die USA, Israel, Singapur und Südkorea. Ja, sie sind alle technologisch führend. Aber was fällt noch auf? Sie sind alle starke Nationalstaaten. ({4}) Sie haben im Gegensatz zu uns noch Regierungen, die sich in erster Linie ihrem eigenen Volk verpflichtet fühlen. ({5}) Denjenigen, die hier voreilig das Ende der Nationalstaaten bejubeln, rate ich dringend zu einem Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten. Wer sorgt denn dafür, dass die berechnende Kälte internationaler Geldströme abgemildert wird, die seit den 90er-Jahren zunehmend zu spüren ist? Wer zahlt denn die Steuern, aus denen Deutschland seine gigantischen Sozialausgaben finanziert? Die internationalen Technologieunternehmen? Nein! Das ist in erster Linie der deutsche Mittelstand. ({6}) Was sind die Kennzeichen des deutschen Wirtschaftssystems, die unsere Wirtschaft zur leistungsfähigsten der Welt gemacht haben, die uns nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs das Wirtschaftswunder ermöglicht haben? Ein starkes Handwerk, eine dezentrale Wirtschaft, ein industrieller Mittelstand, wettbewerbsfähige Großunternehmen, Banken, die Ersparnisse in die regionale Wirtschaft leiten, sowie ein vorbildliches Bildungs- und Wissenschaftssystem. Wir brauchen daher nicht Botschafter, sondern eine Renaissance unserer Wirtschaftskultur, um im internationalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehen zu können. ({7}) Bei einem sich intensivierenden Wettstreit, gerade zwischen den USA und China, und geringem Vertrauen in die Sicherheit technologischer Lösungen aus diesen beiden Ländern könnten vertrauenswürdige Innovationen „made in Germany“ ein Exportschlager werden. Wenn wir diese Herausforderungen bewältigt haben, meine Damen und Herren von der FDP, dann können wir auch über Ihre Innovationsbotschafter nachdenken, quasi als Tüpfelchen auf dem i. Aber erst einmal brauchen wir eine mit klarer Schrift geschriebene andere Wirtschaftspolitik in Deutschland. Dann kann die FDP gerne noch ihr kleines Pünktchen dazugeben. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Hartwig. – Nächster Redner für die Bundesregierung: Staatsminister Niels Annen. ({0})

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Digitalisierung und die mit ihr einhergehende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sind zentrale Themen für die Arbeit bei uns im Auswärtigen Amt. Wir widmen ihr große Aufmerksamkeit. Das gilt für die Analyse und die Berichterstattung der wichtigsten Entwicklungen im Digitalbereich ebenso wie für das Werben für den Digitalstandort Deutschland, im Inland und natürlich ganz besonders im Ausland – das ist unsere Aufgabe –, aber auch für die Nutzung digitaler Technologien als Instrumente moderner Diplomatie. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass das Auswärtige Amt durch gründliche Information und fundierte Analyse seinen Beitrag zu dieser notwendigen Digitalisierungsdebatte leisten will. Die Kolleginnen und Kollegen in den Wirtschafts- und Wissenschaftsabteilungen der Auslandsvertretungen liefern bereits beständig Berichte zu technologischen Innovationen sowie wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trends in den Ländern, in denen sie arbeiten. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild, mit dem wir arbeiten und aus dem wir Handlungsoptionen ableiten. Diese Berichte, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen der gesamten Bundesregierung und natürlich auch dem Bundestag zugute. Sie enthalten häufig Hinweise zu konkreten Betätigungsfeldern für deutsche Unternehmen und weisen dort auf Chancen hin. Insbesondere durch ihre detaillierten Kenntnisse über Akteure, aber auch Netzwerke vor Ort leisten die deutschen Auslandsvertretungen bei dieser Aufgabe schon heute eine wichtige, eine unverzichtbare Unterstützungsarbeit. Darüber hinaus hat das Auswärtige Amt, liebe Frau Kollegin Alt, im Sommer letzten Jahres bereits einen Digitalbotschafter ernannt, der sich gezielt mit den vielfältigen Folgen der weltweiten Digitalisierung auseinandersetzt und systematisch Kontakte in die Zentren der digitalen Transformation weltweit knüpft. Das ist ansatzweise der Punkt, auf den Sie in Ihrem Antrag hingewiesen haben. Seine Aufgabe ist es, dem Auswärtigen Amt bei der Entwicklung einer Strategie für Außenpolitik im digitalen Zeitalter entscheidende Impulse zu geben. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir wollen und müssen die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung für die Instrumente der deutschen Diplomatie ebenso wie für unsere eigenen internen Abläufe besser nutzen. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. ({0}) Lassen Sie mich deswegen zwei konkrete Projekte nennen, an denen wir im Auswärtigen Amt arbeiten. Einige von Ihnen haben gestern die Einladung zu einem Parlamentarischen Abend gegenüber in der DPG angenommen und hatten die Gelegenheit, sich über die Außenpolitik in Zeiten der Digitalisierung zu informieren. Wir haben das Projekt PreView vorgestellt. Das hat zu Recht, wie ich meine, großes Interesse geweckt. Das Ziel des Auswärtigen Amtes ist es, seine Analyse- und vor allem seine Prognosefähigkeit speziell bei der Krisenprävention und Krisenfrüherkennung – das liegt uns ganz besonders am Herzen – zu verbessern. Denn es scheint doch unstrittig: Je genauer wir die Zukunft einschätzen können, desto besser kann Politikplanung sowie der effiziente Einsatz der Mittel gelingen. Das faszinierende Projekt PreView – ich jedenfalls halte es für ein tolles Projekt mit einer großen Innovationskraft – ermöglicht es, eine Vielzahl von Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen sowie Social-Media-Kanälen für unsere Arbeit nutzbar zu machen und so durch datengestützte Modelle die Analyse- und Prognosefähigkeit zu verbessern; denn wo immer in der Welt Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt, die Opposition verfolgt wird oder Korruption grassiert, lässt sich dies messen und als Indikator nutzen. So zeigen sich Muster, die interpretiert werden können, wenn die Daten zur Verfügung stehen. Sie sind nämlich häufig Vorboten für Krisen und Kriege. Das Projekt PreView stößt sowohl in anderen Ressorts der Bundesregierung als auch im Ausland auf großes Interesse. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will denjenigen, die gestern nicht die Möglichkeit hatten, dazuzukommen, das Angebot unterbreiten: Sie sind jederzeit eingeladen, sich diese Arbeit im Projektbüro im Auswärtigen Amt anzuschauen. ({1}) Das zweite Projekt, an dem das Auswärtige Amt gerade arbeitet, ist ein Internetportal für digitale Dienste. Im Ausland lebende Deutsche, aber auch Ausländer sollen das Portal nutzen können. Es soll ermöglichen, Visa- und Konsularleistungen online zu beantragen und auch zu erhalten, ganz ohne die bisher aufwendigen Papierbewerbungen und mit möglichst wenigen Besuchen in den deutschen Auslandsvertretungen. Natürlich gehört zur Wahrheit an dieser Stelle auch, dass wir vor der Umsetzung zunächst einmal eine Reihe von wichtigen komplexen und komplizierten rechtlichen Fragen klären müssen. Zudem brauchen wir in den Auslandsvertretungen und in der Zentrale in Berlin – das ist mir ganz besonders wichtig, und ich möchte gerne die Gelegenheit nutzen, das noch mal darzustellen – ausreichende Ressourcen. Dies gilt vor allem, wenn wir schnellere Bearbeitungszeiten von Visaanträgen bei gleichzeitig steigenden Antragszahlen erreichen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie hierfür ebenso um Unterstützung im parlamentarischen Haushaltsverfahren wie für die Digitalisierungsbemühungen, für das Projekt PreView, aber auch die anderen Elemente, die ich hier vorgestellt habe, für eine verbesserte Datenausstattung und Digitalisierung in unseren Auslandsvertretungen. Wir beraten gerade über ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das wird auch mit Mehrarbeit in den Visastellen verbunden sein. Deswegen brauchen wir dafür zusätzliches Personal. In diesem Sinne haben Sie, glaube ich, einen wichtigen Anstoß gegeben. Wir freuen uns über diese Debatte, und ich freue mich darüber, dass ich die Gelegenheit hatte, einige der konkreten Beispiele unserer Arbeit im Bereich der Digitalisierung hier vorstellen zu können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Staatsminister. Sie hätten sogar noch eine Minute weiterreden können. Es lag nicht an uns hier oben. Nächste Rednerin: Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich steige, dem Thema angemessen, diplomatisch ein: Die FDP hat recht, wenn sie im Antrag feststellt, dass große Digitalunternehmen einen Einfluss auf das Weltgeschehen haben, der mit dem von Staaten vergleichbar ist, und dass sich Außenpolitik darauf einstellen muss. Die Rede ist von Diplomatie zwischen Staaten und Unternehmen. Aber was versteht die FDP darunter? Wenn man sich die konkreten Forderungen anschaut, dann stellt man fest, dass sie darunter vor allem Wissens- und Technologietransfer nach Deutschland versteht. Aber das wird dem Thema keinesfalls gerecht. Nicht, dass Forderungen nach Vernetzung, Austausch und Kompetenzaufbau verkehrt wären! Aber wenn man Unternehmen mit ihrem Einfluss so ernst nimmt wie Nationalstaaten und von Diplomatie redet, dann geht es eben auch um eigene Einflussnahme und um eigene Interessen. ({0}) Wir selbst hatten im letzten Jahr im Digitalausschuss mehrere Runden mit Vertretern bzw. – ich bleibe mal im Bild – mit Botschaftern von Google und Facebook. Dabei hat sich gezeigt, dass insbesondere bei den Themen Datenschutz und Meinungsfreiheit europäische Standards und Wertvorstellungen nicht zur Philosophie dieser Digitalunternehmen passen. Davon unbeeindruckt reduziert die FDP die Welt auf fünf Ballungszentren in den USA und in Asien. Allein dorthin sollen die Innovationsbotschafter entsandt werden. Vergeblich sucht man irgendeinen Hinweis darauf, dass es einen Transfer von Wissen und Standards auch aus Deutschland heraus geben könnte. Ebenso wenig gibt es einen Hinweis darauf, dass es für Innovationen auch noch andere Quellen als die IT-Wirtschaft geben könnte. ({1}) Die Linke sagt: Wir dürfen Digitalisierung eben nicht nur durch die Brille der Standortpolitik betrachten. Es muss auch darum gehen, die Potenziale der Digitalisierung für das Gemeinwohl zu identifizieren, und das heißt in diesem Fall: für eine gerechtere Weltordnung. ({2}) Von der Bundesregierung sind wir ja schon gewohnt, dass es bei der Entwicklungspolitik vor allem um die Vorteile der deutschen Wirtschaft geht. Im Antrag der FDP kommt das Thema Entwicklung konsequenterweise gar nicht erst vor. Gerade in vielen Ländern des Globalen Südens ist der Einfluss und damit auch die Verantwortung großer Digitalunternehmen besonders weitreichend. Ich will hier ausdrücklich an die Rolle erinnern, die Facebook in Myanmar gespielt hat, was gravierende Folgen für die Verfolgung der Rohingya hatte. Diplomatie und Digitalisierung zusammen zu denken, hieße auch, einen schlüssigen Umgang mit solchen Konstellationen zu finden. Aber auch dazu finden sich in diesem Antrag keine Ansätze. ({3}) Aus dem Antrag spricht stattdessen nur eine einzige Botschaft: Wir sollen den Anschluss nicht verlieren. – Wie bei einem Pferderennen heißt es also, nur nach vorne zu gehen, Scheuklappen anzulegen, nicht nach links und rechts und schon gar nicht nach hinten zu schauen. Das ist in der Innovationspolitik ein höchst fragwürdiger Ansatz, weil eben keine Reflexion über das zu erreichende Ziel erfolgt und der kooperative Ansatz von Wissenschaft ignoriert wird. Da bleibt aus unserer Sicht nur festzustellen: Der Antrag geht in die falsche Richtung. Für Die Linke gilt: Außenpolitik ist weit mehr als Wirtschaftspolitik. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Sitte. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar, dass die FDP diesen Tagesordnungspunkt aufgesetzt hat. Es ist dringend notwendig, über den Stand der Digitalisierung im Auswärtigen Amt zu sprechen; denn die zugegebenermaßen sehr ambitionierte Rede des Herrn Staatsministers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die 170 Seiten der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung ganze drei Projekte für das Auswärtige Amt beinhalten. Deshalb müssen wir das heute diskutieren; das ist richtig so. ({0}) Es gibt vieles zu besprechen. Es ist im digitalen Zeitalter dringend notwendig, „Public Diplomacy“ neu zu erfinden. Es ist dringend notwendig, Social Media auch anders einzusetzen, nicht nur als Erzählung über Deutschland, sondern vor allem als Kanal für einen echten Dialog, gerade in Staaten, in denen die Zivilgesellschaft unter Druck ist. ({1}) Es ist dringend notwendig, Verwaltungsabläufe im Amt selbst, aber auch in den Botschaften zu erneuern und zu digitalisieren, Stichwort „Visastellen“ – da liegt vieles im Argen –, ({2}) Stichwort „Digitalisierung als Querschnittsaufgabe in den verschiedenen Ministerien“, auch um die Verwaltungsgrenzen zwischen Innen- und Außenpolitik zu überwinden und neue Strukturen zu schaffen. Das Problem ist nur, dass mit dem vorliegenden Antrag die von Ihnen geforderten gezielten Zukunftsimpulse kaum eingebracht werden. Er beginnt mit dem bemerkenswerten Titel „Digitalisierung trifft auf Diplomatie“ – das klingt ein bisschen nach einer Zufallsbegegnung – und ist so etwas wie ein Tinder für Buzzwords: Es kommt ganz viel zufällig zusammen, aber das reicht nicht für eine langfristige Beziehung. ({3}) Ich zitiere: Die Etablierung einer Außenpolitik, die eine Begegnung von technischem Fortschritt und Diplomatie möglich macht, führt zu einem Wissenstransfer, von dem auch deutsche Firmen profitieren können. Diesen Wissenstransfer stelle ich mir ein bisschen vor wie das Funkensprühen der digitalen Leidenschaft: Geheimnisvolle Wellen wandern, wenn sich das Traumpaar begegnet, und mir nichts dir nichts sind wir wieder technologische Weltspitze. In der Tat: Ihre Innovationsbotschafter müssen echte Superhelden sein. Sie sollen ganz viel können. Sie beschreiben – ich zitiere –, „dass Deutschland wieder Anschluss an die Digitalisierungsweltspitze unter den Industrienationen findet“. Das sollen fünf Digitalisierungsbotschafter schaffen. Sie sollen den technischen Fortschritt gezielt bewerten und die Wanderungsbewegungen von Wissenschaftlern anzeigen, damit Deutschland bereits zu Beginn neuer Entwicklungen agieren kann. Das ist ein spannendes Portfolio, das Sie da beschreiben. Ich würde sagen: Das ist eine überraschende Mixtur für eine Partei, die zu Recht immer wieder darauf hinweist, dass auch die Privatwirtschaft eine Verantwortung haben sollte. Hier aber machen Sie den Staat sozusagen zum Rettungsanker der deutschen Wirtschaft bei der Digitalisierung. Das ist nicht das, was wir von der FDP erwartet haben. ({4}) Sie fordern ernsthaft – ich zitiere weiter –, „eine Technologieaußenpolitik zu entwickeln, um … Technologiebewertung für deutsche Unternehmen möglich zu machen“. Ich hätte von Ihrer Partei ein bisschen mehr Vertrauen in die Innovations- und Analysefähigkeiten der deutschen Wirtschaft erwartet. ({5}) Vieles klingt auch ein bisschen nach Abenteuerexpedition aus einer Zeit kurz vor der Erfindung der Eisenbahn. Sie behaupten, Dänemark und Frankreich hätten „Tech Ambassadors“ ins Silicon Valley geschickt, um, wie schon zitiert, „den technischen Fortschritt gezielt zu bewerten“, so als ob man den technischen Fortschritt heute nicht auf ganz vielen Ebenen und allgegenwärtig wahrnehmen könnte. Der französische Digitalbotschafter Henri Verdier beispielsweise hat seinen Sitz in Paris und nicht in Silicon Valley. Ich glaube, dass er einen guten Job macht; sonst hätten Sie sich ja nicht auf ihn berufen. Er arbeitet fern von dem, was Sie als Ballungszentren der Hightechindustrie bezeichnen. Es ist aus unserer Sicht, ehrlich gesagt, auch wenig einleuchtend, Diplomaten am Hof von Mark Zuckerberg zu haben, welche die Arbeit von Facebook dadurch legitimieren, obwohl wir finden, dass solche Konzerne reguliert gehören. ({6}) Es ist richtig, dass wir Digitalkompetenz brauchen, auch als Querschnittsaufgabe. Ich habe beispielsweise nicht verstanden, wo das Wissen dieser Digital- und Innovationsbotschafter überhaupt hinfließen soll, das sie in San Francisco eingesammelt haben. Das Problem ist, dass bei aller Notwendigkeit der Debatte, dieser Antrag eher die Gefahr mit sich bringt, ein kostspieliger Gag zu sein, der am Ende dieser nicht ganz so ambitionierten Bundesregierung – auch wenn die Rede eben ambitioniert gehalten wurde – eher als Alibi dient. Das können wir nicht zulassen. Ich freue mich aber sehr auf die Debatte in den Ausschüssen. Vielleicht kriegen wir da etwas hin, was wir alle mittragen können. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Maik Beermann. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Alt, als ich mir den Antrag der FDP-Fraktion durchgelesen habe, ist mir ein bekanntes Lied von Herbert Grönemeyer in den Sinn gekommen, und ich musste mir selbige Frage stellen wie Herr ­Grönemeyer: „Was soll das?“ ({0}) Als Digitalpolitiker begrüße ich grundsätzlich jeden Vorstoß, der die Digitalisierung und die damit verbundenen Herausforderungen in den Blick nimmt. Aber was Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, von der Einführung eines Innovationsbotschafters erhoffen, bleibt mir dann doch schleierhaft. Dieser Botschafter soll die Beziehungen – wir haben es gerade schon gehört – mit den größten globalen Technologiekonzernen betreuen und somit Technologieaußenpolitik betreiben. Ehrlicherweise bezweifle ich, dass Ihre beschriebenen Ziele durch die Schaffung einer solchen Stelle tatsächlich erreicht werden. Hierbei stellt sich mir auch die Frage, wie das in der Praxis überhaupt aussehen soll. Ist das dann ein Ein-Personen-Büro? Ich befürchte nämlich schlicht und ergreifend, dass ein solcher Innovationsbotschafter lediglich zum symbolischen Akt wird, da er, historisch gesehen, kein großes Gewicht mitbringt. Die neu entdeckte Staatsgläubigkeit der FDP in der Frage der Hochtechnologie überrascht dann schon. Dass eine solche Aufgabe ein Beamter aus dem Auswärtigen Amt übernehmen soll, ist wirklich ein bemerkenswerter Vorschlag. Aus meiner Sicht ergibt es keinen Sinn, und es ist zudem auch keine gute Idee, Technologie- und Wirtschaftspolitik im Auswärtigen Amt anzusiedeln und damit zu zentralisieren. Diese Themen sind dort, wo sie aktuell beheimatet sind, beim Bundeswirtschaftsministerium und im Ministerium für Bildung und Forschung, aus meiner Sicht wesentlich besser aufgehoben. ({1}) Ich bin der Auffassung, dass der Staat, wenn es darum geht, wie Innovationen entstehen und wie man darüber ins Gespräch kommt, maximal die Leitplanken und Rahmenbedingungen setzen und die Unternehmen, Start-ups, Plattformen etc. beim Austausch unterstützen sollte. Dafür gibt es bereits Beispiele, die gut funktionieren; da kann man ansetzen. Wir haben mittlerweile diverse Hubs aus Deutschland im Silicon Valley, in San Francisco. Als aktuelles Beispiel nenne ich das im September 2018 eröffnete Delegiertenbüro der deutschen Wirtschaft in San Francisco, das vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wird. Die Einrichtung eines Büros zeigt das steigende Interesse des deutschen Mittelstandes an den Themen „Digitalisierung“ und „Innovation“. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen werden zu diesen Themen beraten und bei der Vernetzung unterstützt. Sie sehen also, dass hier bereits gehandelt wurde und weiter gehandelt wird. Insofern halte ich einen Innovationsbotschafter für den falschen Ansatz, den tatsächlichen Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung angemessen zu begegnen. Dass wir vor diesen Herausforderungen stehen, ist, denke ich, uns allen klar. Kein Lebensbereich ist davon ausgeschlossen. Gerade auch die Diplomatie ist mit fundamentalen Veränderungen konfrontiert. Insbesondere durch soziale Medien ist es der Öffentlichkeit auf direktem Weg möglich, Forderungen an sie zu stellen. Mit all diesen Entwicklungen muss sich die traditionelle Diplomatie auseinandersetzen, und das tut sie bereits. Insofern ist die heutige Debatte dahin gehend gut, sich die politische Bedeutung der digitalen Technologie für die Diplomatie zu vergegenwärtigen. Aber – es tut mir leid – zu viel mehr ist dieser Antrag aus meiner Sicht nicht geeignet. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Maik Beermann. – Letzter Redner in dieser Debatte: Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich zu Beginn der Woche gelesen habe, dass ich zu dem Thema „digitaler Botschafter“ reden darf, habe ich natürlich, dem Thema gerecht werdend, gegoogelt: Was ist ein digitaler Botschafter? Dann kam die Aufforderung: In Deutschland werden digitale Botschafter, die Senioren begleiten, die digitale Welt zu entdecken, gesucht. ({0}) Das finde ich gut. Ich war mir dann aber ziemlich sicher, dass das mit dem Antrag nicht gemeint ist. Ich habe also gewartet, bis der Antrag vorlag, und ihn mir dann durchgelesen. Natürlich wird er der großen Bedeutung der Digitalisierung gerecht. Sie sagen: Digitalisierung ist eine Entwicklung in Deutschland, in Europa, weltweit, der wir uns stellen müssen und an der wir erfolgreich teilnehmen müssen. Sicherlich ist auch die Frage der Wirtschafts- und Technologiepolitik und der Kompetenzen in den Botschaften ein wichtiger Punkt. Ich war gestern Redner in der Aktuellen Stunde zur Fusion von Deutscher Bank und Commerzbank. Dort war Ihr eindringlichstes Argument die Ordnungspolitik: Der Staat muss sich aus allem raushalten. Die Märkte müssen das regeln. – Heute lerne ich: Das ist bei Ihnen volatil und ändert sich von Tag zu Tag. Heute soll der Staat verstärkt eingreifen, um die entsprechenden Probleme insbesondere durch die Botschaften zu lösen, und dafür sorgen, dass die Entwicklung in Deutschland und Europa entsprechend funktioniert. Meine Damen und Herren, sicherlich müssen wir darüber reden, wie das Auswärtige Amt in der Wirtschafts- und Technologiepolitik – ich würde das nicht auf den IT-Bereich reduzieren – ein Stück weit unterstützend für die deutschen Unternehmen tätig sein kann. Aber angesichts der zu Recht geführten Diskussion über die Frage, warum es in Deutschland und Europa nicht Innovationen in dem gewünschten Maße gibt, müssen wir uns doch zuerst einmal die Frage stellen, warum die Unternehmen nicht herkommen. Allein mit den Unternehmen dort zu reden, reicht ja nicht aus. Vielmehr brauchen wir hier entsprechende Möglichkeiten, um Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten im Datenbereich zu entwickeln. Wir sprechen ja von der Datenökonomie. Ich würde insbesondere diejenigen, die sich heute positiv geäußert haben, dazu auffordern, mit uns eine Diskussion darüber zu führen, wie das Datenschutzrecht so angepasst werden kann, dass Datenökonomie besser möglich ist. Einer der Gründe, warum die USA und andere Staaten in diesem Bereich so erfolgreich sind, ist, dass man dort mit Daten arbeiten und Geld verdienen kann. Dazu höre ich insbesondere von der FDP-Fraktion relativ wenig. Ich ermutige Sie aber, sich hier auf den Weg machen. ({1}) Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der mich gestört hat. Ich weiß nicht, ob es so gemeint war, es ist aber so formuliert, und ich hoffe, es wird korrigiert. Sie sprechen von Diplomatie zwischen Staaten und IT-Unternehmen. Gerade die großen Unternehmen, die Sie genannt haben, die weltweit Daten sammeln, sehen sich inzwischen als Ersatzregierungen. Sie sehen sich immer mehr als Staatenersatz. Meine Damen und Herren, es ist nicht unsere Aufgabe, mit diesen Unternehmen diplomatische Beziehungen einzugehen. Diplomatische Beziehungen bestehen zwischen Staaten. Und von Unternehmen erwarte ich, dass sie sich an die Standards halten. Ich erinnere an die Diskussion, in der es um die innere Sicherheit in den USA ging, und daran, wie die Unternehmen sich geweigert haben, die Daten weiterzugeben, und erwarte, dass Facebook, wenn es entsprechende Datenprobleme hat, in Untersuchungsausschüsse der Parlamente kommt. Das erwarte ich von befreundeten Staaten bzw. Staaten, mit denen wir diplomatische Beziehungen haben, eben nicht. Deshalb sollten wir das Wording dringend ändern und die Beziehungen zu irgendwelchen Unternehmen nicht „diplomatische Beziehungen“ nennen und solche auch nicht aufbauen. ({2}) Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich kann nichts dafür, aber ich habe dem Redner der AfD, Herrn Hartwig, der gar nicht mehr da ist – aber macht nichts –, heute aufmerksam zugehört. Er hat hier erklärt, wie man ordentliche Wirtschaftspolitik macht. Ich habe das gespannt von jemandem zur Kenntnis genommen, der bis vor zwei Jahren Chefsyndikus der Bayer AG war und in dieser Funktion maßgeblich an der Übernahme von Monsanto beteiligt war. Meine Damen und Herren, wenn es um Risiko geht, wenn es um die Entwicklung von Unternehmen geht, sollte man doch den eigenen Ansprüchen gerecht werden und hier nicht das eine erzählen, wenn man anders gehandelt hat. Besten Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Radwan. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8542 federführend an den Auswärtigen Ausschuss sowie mitberatend an den Ausschuss Digitale Agenda vorgeschlagen. – Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Der deutsche Journalist Billy Six war 119 Tage in einem Geheimdienstgefängnis in Venezuela eingekerkert. 119 Tage Einzelhaft in einer Betonzelle ohne Fenster, ohne Tageslicht, ohne Kontakt zu Mitgefangenen, ohne Verbindung zur Außenwelt – dieses Martyrium hat heute ein Ende. Es ist mir daher eine besondere Freude, dass Billy Six gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Großeltern heute hier bei uns sein kann. Willkommen, Billy! ({0}) Ja, Billy ist endlich frei. Seine Befreiung verdankt er aber nicht dem Auswärtigen Amt, sondern dem Einsatz vieler Freiwilliger aus dem Umfeld der AfD und letztlich dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. Vielen Dank! ({1}) Millionen Menschen fragen sich heute, warum Cem Özdemir nicht geholfen hat. Vor einem Jahr hielt er hier eine flammende Rede zur Befreiung des Journalisten Deniz Yücel aus einem türkischen Gefängnis. Hier an dieser Stelle versprach er jedem Journalisten, jedem Bürger dieses Landes, er werde sich für ihn einsetzen, selbst wenn er Gustav Müller heißen würde. ({2}) Ja, Herr Özdemir: Gustav Müller sitzt hier. Es ist Billy Six. Er wartet immer noch auf Ihre Hilfe oder zumindest auf Ihre Anteilnahme. ({3}) Liebe Kollegen, Sie haben recht: Es ist nicht die Aufgabe von Parlamentsabgeordneten, im Ausland zu Unrecht inhaftierte deutsche Bürger zu befreien. ({4}) Ganz sicher ist es auch nicht die Aufgabe des russischen Außenministers. ({5}) Dass es im Fall von Billy Six so weit gekommen ist, ist dem beispiellosen Versagen des Auswärtigen Amtes ({6}) unter Außenminister Heiko Maas geschuldet. ({7}) – Die Lüge, die ich verbreite? – Wissen Sie, was Billy Six nach seiner Landung in Berlin-Tegel als ersten Satz auf deutschem Boden sagte? Er sagte: Das Auswärtige Amt wollte mich in Venezuela lebendig begraben. ({8}) Der größte Feind während meiner Haft war nicht das Maduro-­Regime; es war die Bundesregierung. ({9}) Billy zu befreien, war nie eine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens. ({10}) Die Beamten des Auswärtigen Amtes, die vielen Tausend Mitarbeiter, haben Hunderte, Tausende Male gezeigt, dass sie deutsche Bürger befreien können. ({11}) Das SPD-geführte Außenministerium wollte Billy in diesem dunklen schimmeligen Rattenloch verrotten lassen. So ist das. ({12}) Andere Länder haben ihre Journalisten freibekommen, weil sie auf den Tisch gehauen und die Freilassung gefordert haben. Das deutsche Außenministerium hat die Freilassung nie gefordert. ({13}) Das ist das Verschulden. Und warum? Sie unterscheiden zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse. ({14}) Das ist der rote Faden der gesamten SPD-Politik, egal in welchem Amt, egal in welchem Ministerium. ({15}) Sie spalten dadurch unsere Gesellschaft ({16}) und isolieren Deutschland im Ausland. ({17}) Billy Six hat gestern gesagt, er werde sich ab sofort dafür einsetzen, er werde dafür kämpfen, dass nie wieder ein deutscher Bürger im Ausland Angst haben muss, dass sein eigenes Land ihn hängen lässt, wenn es ernst wird. ({18}) – Da können Sie von der SPD mit Häme reagieren. Das passt sehr gut zu der Politik Ihres Außenministers. ({19}) Ich verspreche Ihnen: Wir von der AfD werden weiterhin ein Schutzschild sein. ({20}) Wir werden zur Stelle sein, wenn Bürger dieses Landes uns brauchen. Das ist unsere Aufgabe als Alternative für Deutschland. ({21})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn angesichts aller Gerüchte und Behauptungen, die wir auch hier gerade wieder gehört haben, mit aller Klarheit feststellen: Jeder deutsche Staatsbürger hat das uneingeschränkte Recht auf konsularische Betreuung im Ausland. ({0}) Diese wird selbstverständlich durch unsere Auslandsvertretungen jederzeit gewährleistet. ({1}) Die Motive der AfD hinter dieser Aktuellen Stunde sind wieder einmal sehr durchschaubar. Hier soll offenbar der Eindruck erweckt werden, die Bundesregierung mache ihre diplomatische Unterstützung für deutsche Inhaftierte im Ausland von deren politischer Einstellung abhängig. ({2}) Die umgekehrte Argumentationskette kennen wir von Ihnen bereits bestens aus dem Fall Deniz Yücel. Waren es damals nicht Sie, die einem deutschen Staatsbürger das Recht auf diplomatische Hilfe absprechen wollten, weil er Ihnen aufgrund seiner Herkunft und umstrittenen Äußerungen missliebig war? ({3}) In aller Deutlichkeit: Eine solche absurde Logik weisen wir abermals entschieden zurück, egal in welchem Fall. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wir sind in einer Aktuellen Stunde. Da gibt es keine Zwischenfrage.

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau. – Dass sich die Bundesregierung gleichermaßen für alle deutschen Staatsbürger einsetzt, sollte der Reiseblogger Billy Six aus eigener Erfahrung bestens wissen; denn er musste bereits 2013 schon einmal aus einer Haft in Syrien herausgeholt werden. ({0}) Es gibt wohl nicht viele deutsche Staatsbürger, die mithilfe des Auswärtigen Amtes in wenigen Jahren zweimal aus Gefängnissen in einigen der schwierigsten Länder der Welt herausgeholt worden sind. ({1}) Vielleicht hat er sich möglicherweise wiederholt auch fahrlässig in eine gefährliche Situation begeben. Aber umso dreister ist es, nach der Rückkehr in die Heimat derartige Vorwürfe gegen die Bundesregierung zu erheben. ({2}) Für den jetzt vorliegenden Fall in Venezuela lässt sich an dieser Stelle ganz klar festhalten ({3}) – bleiben wir doch mal bei den Fakten –: Herr Six wurde aus der Haft entlassen, nachdem das Auswärtige Amt nachdrücklich die Überprüfung der Tatvorwürfe durch ein ziviles Gericht eingefordert hatte. ({4}) Während der Haftzeit fanden insgesamt vier Besuche der deutschen Botschaft bei ihm im Gefängnis statt: am 9. Januar, am 8. Februar, am 6. und am 12. März 2019. ({5}) Die Botschaft in Caracas stand Herrn Six durchgehend zur Seite, insbesondere vom Zeitpunkt der Freilassung bis zur Ausreise. Sein Flug wurde im Rahmen der konsularischen Betreuung von der Botschaft organisiert und gebucht. ({6}) Um es klar zusammenzufassen: Der Vorwurf, das Auswärtige Amt und die Bundesregierung hätten sich in diesem Fall nicht ausreichend engagiert, ({7}) trifft nach allen uns heute vorliegenden Erkenntnissen ausdrücklich nicht zu. ({8}) Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der deutschen Botschaft in Caracas ausdrücklich für ihren Einsatz in dieser schwierigen Situation angesichts der Rahmenbedingungen vor Ort in Venezuela danken. ({9}) Denn die kürzlich erfolgte ungerechtfertigte Ausweisung von Botschafter Daniel Kriener durch das Maduro-Regime ({10}) verdeutlicht die schwierigen Rahmenbedingungen, unter denen dort gearbeitet wird, und das kritisieren wir hier nochmals nachdrücklich. ({11}) Diese Aktuelle Stunde gibt aber auch die Gelegenheit, noch einmal auf die immer noch katastrophale Situation in Venezuela hinzuweisen. Nicht nur die politische und verfassungsrechtliche Krise dauert an, sondern auch die humanitäre Krise spitzt sich immer weiter zu. ({12}) Es ist daher mehr als zynisch, dass das Maduro-Regime die angebotene humanitäre Hilfe mit absurdesten Begründungen zurückgewiesen hat. Vor einigen Wochen konnte ich den Bundespräsidenten auf seiner Reise in die Nachbarländer Ecuador und Kolumbien begleiten. In Aufnahmeeinrichtungen, sowohl in Bogotá als auch in Quito, konnten wir uns im persönlichen Gespräch mit Flüchtlingen aus Venezuela über das Ausmaß der Krise im Land informieren. ({13}) Inzwischen haben nach Angaben des UNHCR circa 3,4 Millionen Menschen Venezuela verlassen. Und ich sage es hier noch einmal ganz deutlich: Diese Krise hat deshalb auch das Potenzial, über Venezuela hinaus die gesamte Region zu destabilisieren. Dies alles bestätigt nochmals die Richtigkeit der Entscheidung der Bundesregierung und eines Großteils der EU-Staaten, Juan Guaidó als legitimen Übergangspräsidenten im Sinne der venezolanischen Verfassung anzuerkennen. ({14}) Heute erreichte uns die Meldung, dass der Stabschef von Juan Guaidó vom Regime verhaftet wurde. ({15}) Auch dies kritisiere ich auch im Namen meiner Fraktion scharf. ({16}) Die internationale Gemeinschaft muss den Druck auf Maduro weiter erhöhen und einen Dialog für einen friedlichen Machtübergang aufrechterhalten. Der richtige und notwendige Weg sind Neuwahlen für das Präsidentenamt nach internationalen Standards und unter internationaler Beobachtung. Herzlichen Dank. ({17})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Nick. – Nächste Rednerin: Gyde Jensen für die FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Freilassung von Billy Six aus venezolanischer Haft ist natürlich eine sehr gute Nachricht, vor allen Dingen für ihn, für seine Familie, für seine Freunde, aber eben auch für alle, die an den Rechtsstaat glauben und die gängige Mittel autoritärer Regime, mit willkürlichen Haftgründen Journalisten zum Schweigen zu bringen, bekämpfen. Und das tun wir hier alle. ({0}) Eine politisch motivierte Gefangennahme ist in keinem Land der Welt – das klang hier schon an – akzeptabel, unabhängig von politischer Couleur, Gesinnung und Staatsangehörigkeit. ({1}) Es ist deshalb richtig, dass die Bundesregierung immer auf Aufklärung in einem fairen Verfahren gedrängt hat, eine Verbesserung der medizinischen Versorgung von Billy Six eingefordert hat ({2}) und sich schlussendlich mit Erfolg für seine Freilassung eingesetzt hat. ({3}) Herr Braun, Sie werden es zugeben müssen; denn Sie waren im Ausschuss dabei und haben sich über den Fall informiert: Warum sollte das Auswärtige Amt nicht die Wahrheit sagen? ({4}) Umso perfider ist es nämlich, dass die Mitglieder der AfD-Fraktion nun hier für sich reklamieren, die Einzigen gewesen zu sein, die sich für seine Freilassung eingesetzt haben, ({5}) und zwar nicht nur, weil das falsch ist, sondern weil Sie sonst keinen Ton von sich geben – übrigens weder hier im Plenum noch im Ausschuss –, wenn Menschen verfolgt werden. ({6}) Wo sind Sie denn, wenn in Russland Oppositionelle eingekerkert werden? Wo waren Sie denn, als Deniz Yücel in der Türkei eingesperrt wurde? ({7}) – Das sind keine Fake News. Der Unterschied ist, dass das hier die Wahrheit ist. Sie haben hier vor einem Jahr einen Antrag eingebracht – Herr Brehm wird das gleich noch ansprechen –, in dem Sie Deniz Yücel die deutsche Staatsangehörigkeit aberkennen wollten ({8}) und geleugnet haben, dass er Journalist ist. ({9}) Dass Sie im Fall Billy Six Rechtsstaat und Menschenrechte als Thema für sich entdeckt haben, ansonsten aber rechte und nationalistische Autokraten in der Welt hofieren, zeigt eindeutig, wes Geistes Kind Sie sind. ({10}) Sie nutzen Menschen für Ihre eigene Propagandamaschine und spielen je nach Thema Menschen gegeneinander aus. Diesmal ist es Billy Six. Wir haben hier alle festgestellt: Wir freuen uns, dass er wieder in Deutschland ist und freigekommen ist. ({11}) Das hier ist Missbrauch von Grundrechten und Missbrauch von Menschenrechten. Karl Popper wies ganz zu Recht darauf hin: ({12}) Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, – hören Sie zu – ({13}) die Intoleranz nicht zu tolerieren. Wer faschistische Rhetorik in dieses Hohe Haus trägt, dem muss im Namen der Toleranz klar widersprochen werden, und das tun wir hier. ({14}) Der Fall von Billy Six steht aber auch – das haben wir ebenfalls schon gehört – exemplarisch dafür, dass es in Venezuela schon seit langem keinen existierenden Rechtsstaat mehr gibt. ({15}) Machthaber Maduro regiert weiter mit Guerillaterror und Repression. ({16}) Diese Gewalt gegen die eigene Bevölkerung ist unverzeihlich, und wir fordern deshalb schon lange Neuwahlen, die zügig durchgeführt werden, um das Land wieder zu stabilisieren. ({17}) Es ist deswegen gut, dass Deutschland sich hier in diesem Kampf geschlossen an die Seite liberaler Demokraten stellt; ({18}) denn es geht um das große Ganze, Herr Baumann. ({19}) – Ja, Herr Komning, es geht um das große Ganze. ({20}) Nach UN-Angaben – Herr Nick sagte es gerade – sind weltweit mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor, und Venezuela ist eines der Länder, die da leider traurige Superlative schreiben. ({21}) An der kolumbianischen Grenze steht seit langem Hilfe bereit, doch diese Hilfe wird von Maduro abgelehnt. Hunger als Konfliktmittel einzusetzen, ist ein Verbrechen gegen die Menschenrechte. ({22}) Damit macht sich die Regierung in Venezuela im Übrigen immer mehr zu einem Fall für den Internationalen Strafgerichtshof. Den deutschen Botschafter dafür zu bestrafen, dass er menschlich handelt und den Übergangspräsidenten Guaidó an die kolumbianische Grenze begleitet, ist ein Zeichen dafür, dass Maduros Schergen eben nicht an Entspannung interessiert sind. ({23}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch kurz auf die andere Seite des Plenums schauen. Fassungslos macht mich nämlich angesichts dieser Zustände, dass Die Linke die Bühne ihres eigenen Bundesparteitages dazu nutzt, um einen sozialistischen Machthaber zu unterstützen und Solidarität mit Maduro zu fordern, ({24}) für einen Diktator, der seine eigene Bevölkerung aushungert. ({25}) Fassungslos macht mich auch, dass Ihre Kollegin Nastic fordert, Präsident Maduro in unser Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ aufzunehmen – ein Programm, das für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger geeignet ist und gefordert wird und nicht für sozialistische Diktatoren. Das ist verantwortungslos und eine Ohrfeige für die hungernde Zivilgesellschaft. ({26}) Sie sind hier auf dem linken Auge blind, wie lange niemand mehr vor Ihnen. Ich habe es schon damals bei Twitter geschrieben und sage es auch heute wieder: Schämen Sie sich, und nehmen Sie nicht das Wort „Menschenrechte“ in den Mund, wenn Sie ernsthaft glauben, dass Sie einen Diktator auf Kosten von notleidenden Menschen auch noch heroisieren müssen. Herzlichen Dank. ({27})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächster Redner in der Debatte: für die Bundesregierung Staatsminister Niels Annen. ({0})

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dankbar für die Möglichkeit, hier ein paar Punkte klarzustellen; denn das scheint mir notwendig zu sein. Das Auswärtige Amt hat Herrn Six vom Zeitpunkt der Verhaftung bis zu seiner Ausreise aus Venezuela intensiv betreut und alles getan, damit seine Rechte respektiert werden. ({0}) Angesichts dieser Tatsachen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es doch sehr verwunderlich, welche Vorwürfe hier – – ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt hat Herr Annen das Wort. Herr Braun, können wir uns darauf jetzt vereinbaren? ({0}) – Jetzt hat Staatsminister Annen das Wort. – Herr Annen, bitte.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Das bestätigt mich nur in dem, was ich hier gerade vortragen möchte. Ich sage es einmal sehr diplomatisch: Es ist doch sehr verwunderlich, welche Vorwürfe von Herrn Six, aber in den letzten Tagen auch von der AfD gegen das Auswärtige Amt erhoben worden sind. ({0}) Ich will es sehr deutlich machen: Es gibt für diese Debatte keinen Grund. ({1}) Denn wir haben hier ganz bewusst von Ihnen die Unwahrheit gehört. Es ist beschämend, zu sehen, wie Mitglieder dieses Hauses versuchen, den Fall von Herrn Six politisch zu instrumentalisieren. Ich habe, ehrlich gesagt, auch allergrößte Schwierigkeiten, zu verstehen, wie diese hanebüchenen Vorwürfe überhaupt von Ihnen geglaubt werden können. ({2}) Das läuft hier nach dem Motto: Da wird mit Dreck geworfen, und irgendetwas wird schon hängen bleiben. – Das ist ein Teil der politischen Auseinandersetzung; den können wir alle hier aushalten, meine Damen und Herren. Aber das ist ganz besonders unfair gegenüber denjenigen, die als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Caracas alles getan haben, um Herrn Six konsularisch zu betreuen. Das ist zutiefst ungerecht. ({3}) Auch das will ich deutlich sagen: Wenn unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Pflicht erledigen, dann erwarten sie keine Dankbarkeit. Aber wir können hier in diesem Hause auch von Ihnen erwarten, dass es ein Mindestmaß an Respekt gegenüber denjenigen gibt, die diese Arbeit gemacht haben. Sie sollten diese Aktuelle Stunde nutzen, um sich für Ihr Verhalten zu entschuldigen. ({4}) Gestatten Sie mir an dieser Stelle den Hinweis, dass es nicht das erste Mal war, dass Herr Six die Hilfe des Auswärtigen Amtes in Anspruch genommen hat. Das letzte Mal war dies 2013 in Syrien. Damals war Herr Six wegen illegaler Einreise verhaftet worden. Auch 2013 hat sich das Auswärtige Amt intensiv um seine Freilassung bemüht und ihn konsularisch betreut. Herr Six hat sich dafür übrigens später mit einer persönlichen Karte bei einer Mitarbeiterin bedankt. ({5}) Während der Haft in Caracas – das ist eine gewisse Parallelität – hat sich wieder eine Kollegin des Auswärtigen Amtes um Herrn Six bemüht. Sie hat aus ihren eigenen privaten Mitteln eine Obstschale nach seinen individuellen Wünschen zusammengestellt und ins Gefängnis gebracht. ({6}) Sie hat nicht, wie hier fälschlich behauptet worden ist, dafür am Ende auch noch eine Rechnung gestellt. ({7}) Meine Damen und Herren, das Auswärtige Amt betreut im Jahr etwa 1 700 Haftfälle. Die Kolleginnen und Kollegen an unseren Auslandsvertretungen verfügen über viel Expertise und Erfahrung. Sie wissen, wie man in jedem Einzelfall bestmöglich vorgeht. Der hier erhobene Vorwurf von der AfD, die Bundesregierung habe Herrn Six anders behandelt als andere Journalisten, da er für rechte Medien schreibe, ist absolut lächerlich und entbehrt wirklich jeder Grundlage. ({8}) Meine Damen und Herren, das können wir auch belegen. Ich will deswegen einmal darstellen, was eigentlich in der letzten Zeit geleistet worden ist. Die venezolanischen Behörden hatten die Botschaft in Caracas – übrigens unter Verletzung des Wiener Übereinkommens – nicht darüber informiert, dass Herr Six am 17. November 2018 in Gewahrsam des Militärgeheimdienstes genommen worden ist. Zwei Tage später, also am 19. November, hat die Botschaft die Nachricht über seine Verhaftung erlangt. Bereits zwei Tage später, am 21. November, hat Botschafter Kriener bei Vizeaußenminister Gil vorgesprochen und gegen die Verhaftung von Herrn Six protestiert. Sie wissen, dass Herrn Six Spionage, unerlaubtes Fotografieren von Militäranlagen und Terrorismus vorgeworfen wurde. Das sind Vorwürfe, die wir kennen. Das benutzt der venezolanische Geheimdienst häufig bei Verhaftungen. Die Botschaft hat sich umgehend bemüht, diese Vorwürfe mit Nachdruck zurückgewiesen und konsularischen Zugang zu Herrn Six verlangt, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist. Die deutsche Botschaft hat versucht, Herrn Six zu besuchen. Das ist auch gelungen; Kollege Nick hat darauf hingewiesen. Viermal hat es entsprechende Besuche gegeben. ({9}) Es hat sogar einen Besuch von Botschafter Kriener persönlich gegeben. Meine Damen und Herren, warum erwähne ich das? Weil hier ja offensichtlich auch mit falschen Behauptungen gearbeitet wird. Die Kolleginnen und Kollegen in Caracas wirkten konkret und erfolgreich auf eine Verbesserung der Haftbedingungen hin. Sie sorgten auch immer wieder persönlich für eine Verbesserung der Versorgungslage von Herrn Six. Sie bewirkten dabei auch die Zulassung eines Wahlverteidigers beim zuständigen Gericht. Daneben standen Botschaft und Auswärtiges Amt im ständigen Kontakt mit den Eltern von Herrn Six. Im Gespräch mit der venezolanischen Regierung – hochrangig in Caracas selbst, aber auch hier mit dem von Herrn Maduro akkreditierten Botschafter – haben wir uns inständig und intensiv um die Interessen von Herrn Six bemüht. Insbesondere für die Überprüfung der Tatvorwürfe und ein transparentes Verfahren haben wir uns mit Erfolg eingesetzt. Dies schloss am Ende sogar die Vorsprache des deutschen Botschafters beim venezolanischen Außenminister ein. All diejenigen, die auch aus ihrer Wahlkreisarbeit konsularische Betreuung kennen, wissen, dass das eine außerordentlich hochrangige Ebene ist. All dies ging weit über das übliche Maß einer konsularischen Haftbetreuung hinaus, und zwar – auch das muss man hier noch einmal sagen – in einer ausgesprochen angespannten politischen Lage, mitten in einer dramatischen Versorgungskrise und während einer starken Ausdünnung des deutschen Botschaftspersonals. Meine Damen und Herren, selbst nachdem unser Botschafter, Herr Kriener, aus Venezuela ausgewiesen worden ist und wir die extremen Bedingungen mit dem landesweiten Stromausfall und damit auch verbundene Sicherheitsrisiken zu betrachten hatten, hat es noch einen weiteren Haftbesuch gegeben. Nach diesen Anstrengungen waren wir alle erleichtert über die Freilassung von Herrn Six am vergangenen Wochenende. ({10}) Ich will bei aller Kontroverse hier noch einmal sagen: Wir freuen uns darüber, dass Herr Six wieder zurück in Deutschland ist. Das ist eine der wenigen guten Nachrichten, die uns aus Venezuela in der letzten Zeit erreicht haben. Doch auch an dem Punkt der Freilassung rissen unsere Bemühungen nicht ab. Durchgehend, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bis zum Abflug der Maschine, standen Mitarbeiter der Botschaft an der Seite von Herrn Six. Selbst der Flug wurde von der deutschen Botschaft organisiert und gebucht. Erst mit Ankunft von Herrn Six am 18. März 2019 haben wir diesen Konsularfall als erledigt betrachtet und damit abgeschlossen. Deswegen bleibt an dieser Stelle auch zu hoffen, dass diese Debatte einen Beitrag dazu leisten kann, der Legendenbildung im Falle von Herrn Six entgegenzuwirken. ({11}) Ich hoffe, dass diese Debatte deutlich gemacht hat, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf hoher und höchster Ebene alles getan haben, um die Rechte eines deutschen Staatsbürgers zu gewährleisten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will Ihnen hier noch etwas sagen und Ihnen eine Sache ein bisschen ans Herz legen: Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt bereit sind, den Argumenten und Dingen, die wir vorgetragen haben, Glauben zu schenken und zuzuhören. ({12}) Aber Sie alle hier im Deutschen Bundestag – wir freuen uns über die Unterstützung, die wir aus allen Fraktionen, mit einer Ausnahme, genossen haben – tragen auch eine Verantwortung dafür, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in schwierigen und manchmal schwierigsten Situationen für ihre persönliche Sicherheit die Rückendeckung und den Rückhalt dieses Parlaments brauchen, damit wir uns auch in Zukunft erfolgreich im Ausland für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in schwierigen Haftsituationen einsetzen können. ({13}) Sie haben auch eine Verantwortung dafür, dass es das in Zukunft auch weiterhin geben wird. Wir werden jedenfalls mit der Unterstützung dieses Hauses diese Politik weiter betreiben. Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niels Annen. – Das Wort für die Fraktion Die Linke hat Simone Barrientos. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist schon eine wirklich sehr schlecht gemachte Monty-Python-Nummer, die Sie hier abliefern. Wir haben das gerade gehört. ({0}) Lügentruppe, Jammertruppe, Heulsusen, all das passt, wenn Ihnen etwas nicht passt. Dass Menschenrechte für alle gelten, wissen wir, Sie nicht. ({1}) Aber zum Thema. Selbstverständlich und ohne Einschränkung haben sich die Bundesregierung und die jeweiligen Botschaften dafür einzusetzen, dass deutsche Staatsbürger, die, in welchem Land sie auch immer inhaftiert sind, konsularisch betreut werden, dass für Rechtsbeistand gesorgt ist, dass rechtsstaatliche Verfahren eingehalten werden – Punkt. Und all das – Sie wissen das – ist im Fall Billy Six passiert. Darüber hinaus haben sich Reporter ohne Grenzen, Journalistenverbände, Schriftstellervereinigungen, Menschenrechtsorganisationen und übrigens auch Die Linke für seine Freiheit eingesetzt. ({2}) – Halten Sie einfach mal die Klappe. Sie wissen doch eh nicht, worum es hier geht. ({3}) Sie wissen doch nicht, was Menschenrechte für alle sind. Sie wissen das nicht. Seien Sie einfach mal still. Lernen Sie noch was. Deniz Yücel hat nach der Verhaftung von Billy Six getwittert: Die Freiheit des Wortes gilt oder gilt nicht. Sie ist unteilbar. Darum selbstverständlich: #FreeBilly. Dem ist nichts hinzuzufügen. Genau so ist es. ({4}) – Da müssen Sie nicht klatschen, das ist ein Missverständnis. Aber wir klären es noch auf. ({5}) Und es ist ausdrücklich nicht die Aufgabe der gerade genannten Akteure, die Arbeit von Billy Six zu bewerten. Aber man sollte eines wissen: Laut Definition des Deutschen Journalistenverbandes ist man dann Journalist, wenn man sich – ich zitiere – hauptberuflich an der Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Massenmedien beteiligt. – Das heißt, es genügt völlig, dass man einen so schlecht auch immer gemachten YouTube-Kanal betreibt, um sich Journalist zu nennen. Ein Qualitätsmerkmal ist das nicht. Aber wir wollen hier nicht persönlich werden. Kommen wir zu dem, worum es angeblich geht. ({6}) Wir hörten schon vom Obstkorb samt ominöser Rechnung, einem angeblich nicht weitergeleiteten Foto, von geliehenen Büchern, von Besuchen oder Nichtbesuchen, selbst Lawrow wird aus der Kirste gezerrt, ({7}) ein wirrer Wirrwarr, man wird völlig wirr im Kopf. Die Chronologie der Ereignisse wurde hier belegt. Ich kann mir das sparen. Vielen Dank dafür. Was ich mir allerdings nicht erspart habe – das war wirklich nicht vergnügungssteuerpflichtig –: Ich habe mir gestern die von Billy Six nach seiner Freilassung gegebenen Interviews angeschaut. Mein lieber Scholli, Mann, Mann, Mann. ({8}) Interessant ist, dass seine Formulierungen belegen, dass nicht zu belegen ist, was hier von Ihnen belegt werden soll. ({9}) Da ist die Rede von: „Ich habe gehört“, „Man hat mir gesagt“, „Ich vermute, dass …“, „Ich kann nicht beweisen, aber …“, usw. usf. ({10}) Behauptungen, Halbwahrheiten, Vermutungen, nicht zu belegende Rückschlüsse und, ja, auch Lügen. Der venezolanische Botschafter hat uns bestätigt, dass die Ereignisse so stattgefunden haben, wie es Niels Annen gerade dargelegt hat. Und selbst der Anwalt von Billy Six distanziert sich von den Darstellungen von Billy Six. ({11}) Einen Fakt nennt Billy Six, nämlich den, dass er in Venezuela ohne Akkreditierung unterwegs war, wissend, dass die vorgeschrieben ist. Also, na ja, was soll man dazu sagen. Und, auch das nur der Vollständigkeit halber: Er recherchierte in Venezuela nicht etwa, weil ihm die venezolanische Bevölkerung so sehr am Herzen liegt. Nein, nein, er war dort unterwegs, weil er eine ziemlich steile These belegen wollte, nämlich die, dass aus Lateinamerika eine Flut von … Na ja, Sie wissen schon. ({12}) – Es hat mit Klima nichts zu tun. Das gibt es ja nicht, laut AfD. Also, lassen wir das. ({13}) Diese von der AfD aufgesetzte Aktuelle Stunde belegt vor allem Folgendes: ({14}) Die AfD schämt sich für nichts. Die AfD argumentiert immer rassistisch. Es geht ihr immer nur um das eine Thema. Selbst der Wolf musste schon dafür herhalten. Er hat für viel Heiterkeit gesorgt. Ich erinnere mich, Sie sicher auch. Ich weiß, Wahrheit tut weh, und dann noch von einer Frau, und dann noch von der Linken. Ich weiß, das ist übel. Sie haben Angst vor Frauen. Ich kenne das. Ist okay, ist okay. Übrigens ein kleiner Tipp an die anderen Fraktionen: Schicken Sie einmal die Frauen nach vorne, dann haben die Schiss, so ist das nämlich. ({15}) Der Rassismus in Ihrer Argumentation lässt sich so locker nachweisen. ({16}) Rassistisch ist Ihre Argumentation deshalb, weil Sie bei Billy Six andere Standards setzen als zum Beispiel bei Deniz Yücel. ({17}) Nach der Freilassung von Deniz Yücel – wir haben das schon gehört – beklagten Sie zu viel Einsatz der Bundesregierung. Wenn ein deutscher Staatsbürger türkische Wurzeln hat, dann kann der da ruhig … nicht wahr? „Entsorgen“ ist hier auch schon gefallen. Also, erzählen Sie uns doch nichts.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Vorwürfe sind konstruiert. Der deutsche Botschafter hat es übrigens geschafft, sich sowohl um den selbsternannten Journalisten als auch um den selbsternannten Präsidenten zu kümmern. Das eine war sein Job.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an die Redezeit!

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz. – Das andere war peinlich und gefährlich. Dass das eine dem anderen nicht dienlich war, na ja, der diplomatische Weg hatte ziemliche Schlaglöcher, geklappt hat es trotzdem. Schön, dass Sie zurück sind. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Simone Barrientos. – Nächster Redner: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele Journalistinnen und Journalisten riskieren weltweit ihr Leben, um über Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, Umweltkatastrophen, humanitäre Notlagen und vieles mehr zu berichten; teilweise unter sehr widrigen Umständen, manchmal in Ländern, in denen eine Akkreditierung gar nicht erst möglich ist. Ich finde, in Zeiten, in denen diese Menschen viel zu wenig Anerkennung und viel zu viel Hass entgegengebracht bekommen, ist es in erster Linie unser Job, einfach Danke zu sagen für diese unglaubliche Arbeit, die geleistet wird. ({0}) Es ist unser Job, nicht müde zu werden für die Freilassung jedes und jeder Einzelnen, die zu Unrecht inhaftiert sind, zu kämpfen, humane Haftbedingungen, Rechtsbeistand, Kontakt zur Außenwelt und medizinische Versorgung zu fordern, und zwar unbenommen von der Frage der Nationalität oder der politischen Couleur. Wir sind sehr froh, dass Herr Six endlich wieder frei und in Sicherheit ist. Natürlich haben wir die Sorgen der Familie Six verstanden, die uns zu Recht kontaktiert hat. Wir haben uns deshalb – ich kann nur für meine Fraktion sprechen – mehrfach an das Auswärtige Amt gewandt. Nach dem, was der Staatsminister gerade beschrieben hat, glaube ich, ist es nicht besonders schwer, zu verstehen, dass das Auswärtige Amt einen großen Beitrag dazu geleistet hat, dass Herr Six heute hier sein kann. ({1}) Auch dafür einen herzlichen Dank. ({2}) Sie haben mehrfach wiederholt, was Herr Six alles gesagt hat. Herr Six hegt einen Groll gegen das Auswärtige Amt. Ich möchte das auf keinen Fall kommentieren oder bewerten. Das steht mir nicht zu. Ich habe nicht 119 Tage in einem venezolanischen Kerker gesessen. Aber was man hier sehr leicht durchschauen kann, ist das, was die AfD hier veranstaltet. Es ist eine geballte Heuchelei, auf die Yücel-Debatte im letzten Jahr hinzuweisen, wo sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, dass der Mann freigelassen wird. ({3}) Sich jetzt hierhinzustellen und das Wort „Schutzschild“ zu benutzen, ist schon abenteuerlich. Er war noch nicht in Deutschland angekommen, ({4}) da nannten Sie ihn von diesem Pult aus Menschenfeind und Hassprediger. Nach einem Jahr in Haft hatten Sie keinen Respekt vor dem, was er dort erlitten hat. Es offenbart unmissverständlich Ihre unerträgliche Maßlosigkeit, sich hierhinzustellen und anderen Dinge vorzuwerfen, die Sie selbst vorleben. ({5}) Ich bin es, ehrlich gesagt, ein Stück leid, dass Sie jede Tragödie, jedes menschliche Schicksal nehmen, um Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen zu unterminieren, ({6}) sei es die Diplomatie, seien es die Gerichte, sei es dieses Hohe Haus. Das war die Stelle, bei der ich gedacht habe: Soll ich jetzt lachen? Lawrow, der eiserne Ritter der Pressefreiheit? ({7}) Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es eine Weltrang­liste der Pressefreiheit gibt, veröffentlicht Jahr für Jahr von Reportern ohne Grenzen? Russland ist auf Platz 148, fünf Plätze hinter Venezuela. Jetzt stellen Sie sich hin und sagen: Lawrow war es. – Da fällt mir, ehrlich gesagt, ganz wenig ein. ({8}) Wenn Sie da so einen guten Draht haben – was ich Ihnen glaube –, wenn Lawrow es war, der da vermittelt hat: Warum hat er es nicht 119 Tage vorher gemacht? Diese Frage stellt sich mir. ({9}) Wenn Sie mit Lawrow über Pressefreiheit reden: Haben Sie ihm gegenüber dann auch mal den Namen Anna Politk­owskaja genannt? ({10}) Haben Sie gefragt, warum über 200 Journalistinnen und Journalisten in den letzten Jahren unter Putin unter dubiosesten Umständen einfach verschwunden sind und warum es in jedem zweiten Todesfall hieß, es sei Selbstmord begangen worden? Das ist das Thema, über das wir im Übrigen auch sprechen – nicht nur über den tragischen Fall von Billy Six und über seine glückliche Freilassung, sondern auch über diese Doppelmoral und über die Pressefreiheit, die weltweit unter Druck ist. ({11}) Sie stellen sich hierhin und tun so, als hätten Sie damit überhaupt nichts zu tun. Aber ich weiß, dass so viele Ihrer Leute auf Facebook jeden zweiten Tag „Lügenpresse“ schreiben und damit natürlich dazu beitragen, dass es in diesem Land eine Stimmung gibt, die befördert, dass viele Menschen, die in Redaktionen unter widrigen Umständen und nicht besonders gut bezahlt arbeiten, Hassmails bekommen. Und da stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir sind das Schutzschild. – Tut mir leid! Ich glaube, Sie verkaufen viel zu viele Menschen für dumm; aber so dumm sind die Menschen in diesem Land Gott sei Dank nicht. ({12}) Es ist unser Job, gerade im Interesse derjenigen, die unter Druck stehen – unbenommen der Nationalität, der politischen Couleur und der Frage, ob uns die Meinung derjenigen, die etwas schreiben oder senden, gefällt –, alles dafür zu tun, dass niemand dafür bestraft wird, dass er seinen Job als Journalistin oder Journalist macht. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich glaube, wir alle freuen uns, dass Billy Six aus dem Gefängnis in Venezuela raus ist und wieder in Deutschland ist. Aber ({0}) so wie diese Debatte hier von den Antragstellern aufgezogen worden ist, frage ich mich: Wird da nicht verkehrte Welt gespielt? ({1}) Auf die Anklagebank hier im Deutschen Bundestag gehören doch nicht die Bundesregierung und das Auswärtige Amt. Auf die Anklagebank gehören Nicolás Maduro und seine Militärclique. ({2}) Diese haben Billy Six ins Gefängnis geworfen. Sie sind verantwortlich dafür, dass er dort darben musste, und nicht die Bundesregierung. Es muss einfach mal klar und deutlich gesagt werden, wer hier die Schuldigen sind. ({3}) Das Zweite ist: Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen, und etliche Redner haben dargestellt, wie das Auswärtige Amt, die Botschaft mit dem sehr mutigen Botschafter Daniel Kriener – wer ihn kennt, weiß, dass das ein mutiger Mann ist – und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich engagiert haben. Ich habe irgendwo gelesen, außer der AfD habe sich nur jeweils ein Abgeordneter der Union und der Linken für die Freilassung eingesetzt. Nein, ich weiß, dass sich aus allen Fraktionen, auch aus meiner, viele Kolleginnen und Kollegen, vorneweg der zuständige Wahlkreisabgeordnete von der Marwitz, dafür eingesetzt haben und alles Erdenkliche dafür getan haben, Billy Six aus dem Gefängnis herauszubekommen. Spätestens heute Morgen, nachdem man lesen konnte, dass der Anwalt von Billy Six in Venezuela bestätigt hat – entgegen den Vorwürfen –, dass sich die deutsche Botschaft für ihn eingesetzt hat, hätte ich erwartet, dass diese Aktuelle Stunde zurückgenommen wird. ({4}) Nachdem sie jetzt doch stattfindet, dürfen wir alle zu Recht erwarten, dass die antragstellende Fraktion sich für diesen Fehlgriff entschuldigt ({5}) und die Vorwürfe zurücknimmt. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn angeblich ein Gespräch mit dem russischen Außenminister Wunder bewirken kann, dann frage ich, nachdem Russland immer noch die schützende Hand über Maduro hält: ({7}) Wo ist das Wunder, dass sich Russland dafür einsetzt, dass alle politischen Gefangenen in Venezuela freigelassen werden? ({8}) Wo ist der Einsatz der russischen Regierung dafür, dass die venezolanische Regierung endlich die humanitäre Hilfe für die hungernde und notleidende Bevölkerung Venezuelas in das Land hereinlässt? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin deswegen so persönlich betroffen, weil ich aus einem Wahlkreis komme, von dem einstmals eine starke Auswanderungswelle nach Venezuela ausging. Auch heute bestehen lebendige Beziehungen zu den damaligen Auswanderern und ihren Nachkommen. Meine deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger fordern von uns, dass sie endlich humanitäre Hilfe für ihre Verwandten und für ihre Freundinnen und Freunde leisten können, ohne Umwege zu gehen. ({9}) Sie fordern von uns, dafür zu sorgen, dass ihre Freunde und ihre Verwandten nicht täglich in Angst leben müssen, entführt und erpresst zu werden, und dass anschließend Polizei und venezolanische Strafverfolgungsbehörden etwas tun, um die massive Bedrohung des Lebens ihrer Freunde und Verwandten irgendwie abzustellen. Das ist doch der Skandal: dass heute niemand mehr in Venezuela sicher leben kann, dass die Menschen hungern müssen und dass die medizinische Versorgung am Boden liegt, dass in den Krankenhäusern nicht mehr operiert werden kann, dass Krankheiten nicht mehr behandelt werden können. Das ist der eigentliche Skandal in Venezuela, der endlich ein Ende finden muss. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder, die Lima-Gruppe, fordert von uns zu Recht einen verstärkten Einsatz dafür, dass Maduro und seine Militärclique, die nur noch das Land ausbeuten, sich wirtschaftlich bereichern, auch über den Drogenhandel, und das eigene Volk hungern lassen, endlich abtreten. Es ist schön, dass Billy Six frei ist. Aber der größere Ansatz, den wir verfolgen müssen, ist doch: Freiheit für Venezuela, Freiheit für die Venezolanerinnen und Venezolaner – das ist das Thema. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Besucher im Deutschen Bundestag! Die Geschichte um Billy Six ist eine Geschichte, die häufiger vorkommt. Sie haben den Fall Yücel erwähnt. Mir ist es in den 90er-Jahren, als ich in Kandahar für die AfD, nein, für die ARD reportiert habe ({0}) – uns gab es ja damals noch gar nicht, sonst hätten wir es vielleicht damals schon gemacht; Spaß beiseite –, genauso ergangen, als ich von den dortigen Religionspolizisten der Taliban in Gewahrsam genommen und unter Hausarrest gestellt wurde. Es ist eine verdammt unangenehme Sache, wenn man gerade noch ein Telefongespräch absetzen kann, um mitzuteilen, dass man gerade von den Taliban verhaftet wird – sie waren ja auch nicht gerade die rührseligsten Typen –, und nicht weiß, was weiter geschieht. Dann musste ich über Nacht warten, was passiert: Nehmen die mich mit, holen die mich ab? Das ist kein angenehmes Gefühl. Nach 48 Stunden kam ein Taliban zu mir ({1}) und sagte, ich solle mich auf einen Weg vorbereiten. ({2}) – Hören Sie gut zu, Frau Kollegin. – Dann bot man mir noch an, mich im Auto nach Pakistan zu bringen. Das habe ich abgelehnt, weil ich körperlich unversehrt bleiben wollte. Dann wurde noch mal der Druck erhöht, und ich flog 48 Stunden später mit einem Flugzeug der UN nach Pakistan und wurde von einem jungen Botschaftsangehörigen freudig am Flughafen Islamabad abgeholt. ({3}) Jetzt sage ich Ihnen, wer dafür gesorgt hat: Es war der damalige Außenminister Klaus Kinkel, der es innerhalb von 48 Stunden geschafft hat, einen deutschen Journalisten aus Afghanistan herauszuholen. So funktioniert das Geschäft und nicht anders. ({4}) Das, was im Falle von Billy Six geschehen ist, und die Anwürfe, die Sie hier bringen, sind eine Beleidigung dieses jungen Mannes sondergleichen. Sie sollten sich was schämen. ({5}) Wollen Sie, die Sie hier gesprochen haben, behaupten, der Junge lügt? ({6}) – Aha, Sie trauen sich nicht. Jetzt kommen wir zu den Fakten. Nach 59 Tagen fragt der Gefängnisdirektor seinen Insassen, ob sich nicht irgendwann mal seine Botschaft um ihn kümmern möchte. ({7}) – Hören Sie zu, Frau De Ridder. – Als der Kontakt zustande kam, bat der Journalist darum, dass die deutsche Botschaft ihm aus Deutschland Belegartikel schickt, damit er etwas vorweisen kann. Herr Staatsminister, die deutsche Botschaft hat es bei den vier Besuchen nicht geschafft, solche Artikel als Belege einzureichen. ({8}) Herr Six war an Dengue-Fieber erkrankt. Ich selber habe Dengue-Fieber gehabt und weiß, wovon ich rede. Sie brauchen dann eine medikamentöse Versorgung. Die entsprechenden Tabletten waren ihm bei der Verhaftung weggenommen worden, und er hatte darum gebeten, dass die Botschaft ihm diese Tabletten besorgt. Wissen Sie, wer ihm diese Tabletten, die notwendig sind, schließlich besorgt hat? Das Gefängnispersonal! Sagen Sie nicht, das sei konsularische Betreuung nach deutschem Vorbild! Das ist eine Schande für das Auswärtige Amt, und ich weiß, wovon ich rede. ({9}) Eine konsularische Betreuung sieht nicht so aus: Wir gucken mal, dass ihm alle rechtlichen Schritte garantiert werden. – Ich habe kein einziges Mal von Herrn Maas gehört: Ich fordere die Freilassung von Billy Six. – Kein einziges Mal! Zeigen Sie mir die Zeitungszeile, in der Frau Merkel – genauso wie bei Herrn Yücel – die Freilassung von Billy Six gefordert hat. Zeigen Sie mir die Zeitungszeile, in der der Bundespräsident, Herr Steinmeier, die Freilassung von Billy Six gefordert hat. Diese Schlagzeile gab es kein einziges Mal, bei Herrn Yücel aber x-mal. Das ist der Unterschied, und dafür sollte sich die Bundesregierung schämen. Das ist eine Ungleichbehandlung. ({10}) Herr Staatsminister, ich möchte gerne mal die Berichte Ihrer Botschaft sehen. Für den Fall, dass ein Minister nachfragt, was in Venezuela läuft und warum dort ein Deutscher einsitzt, gibt es Berichte. Damit hätten Sie belegen können: Wir waren dann und dann da, wir haben das und das gemacht, und wir haben dieses und jenes unternommen. – Das alles höre ich aus diesem Hause nicht. In der Regel belegt die Botschaft alles. Das wissen Sie, und das weiß ich auch. Nachdem ihm so viel verweigert worden war, ({11}) hat in der Tat der russische Außenminister vermittelt. Und wissen Sie, was? Mir ist es auf gut Deutsch – verzeihen Sie, Frau Präsidentin Roth – scheißegal, was für ein Außenminister das ist. Hauptsache, er holt unseren Mann da raus. Das ist für mich das Entscheidende, und das haben wir und meine Fraktion erreicht. ({12}) Jetzt kommt zum Abschluss die Geschichte mit dem Obstkörbchen. ({13}) Die Botschaft hat die Familie nach Aussagen der Eltern von Billy Six aufgefordert, dieses Obstkörbchen zu bezahlen. ({14}) Danke schön. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächste Rednerin: Dr. Barbara Hendricks für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren Abgeordnete der AfD! Wir haben es hier heute wirklich mit einem besonderen Fall zu tun. ({0}) Wir freuen uns zunächst mal, dass Billy Six frei ist. Nach viereinhalb Monaten Gefangenschaft in Venezuela ist er am letzten Wochenende freigekommen und vorgestern, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hier in Berlin angekommen. Die AfD sollte sich auch darüber freuen ({1}) und dies vielleicht auch zum Thema machen. Ich persönlich werde auch in Zukunft damit leben können, keine Artikel von Billy Six in der „Jungen Freiheit“ zu lesen. Trotzdem gebührt ihm – genauso wie jedem anderen – natürlich das Recht auf Pressefreiheit, ({2}) und wir werden dafür sorgen, dass er das immer wahrnehmen kann, solange er die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achtet, wenn er Artikel schreibt. Ich gehe davon aus, dass er das tut. Ich habe bisher keine von ihm gelesen, aber das muss ja auch kein Fehler sein. ({3}) – Danke, aber ich glaube, dass ich auch in der Beziehung durchaus umfassend gebildet bin und das nicht brauche. Herzlichen Dank! Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut, und sie gilt natürlich auch für Billy Six genauso wie für jeden anderen. Selbstverständlich setzt sich das Auswärtige Amt für jeden deutschen Staatsbürger ein, der irgendwo in der Welt konsularische Betreuung braucht, egal ob er zu Unrecht oder zu Recht verhaftet worden ist. In diesem Fall war es ganz offenbar eine Verhaftung zu Unrecht. Das Auswärtige Amt setzt sich immer für die Bürgerinnen und Bürger ein, wie es die Notwendigkeiten im diplomatischen Dienst gebieten. ({4}) Der Staatsminister Annen hat Ihnen eben ja den Gang dargestellt und gesagt, was die Botschaft in Caracas mit ihren verschiedenen Angehörigen – vom Botschafter bis zu einigen anderen Botschaftsmitarbeitern – in diesen viereinhalb Monaten in Venezuela zugunsten des verhafteten Billy Six gemacht hat. Ich weiß nicht, ob Billy Six und seine Eltern die Wahrheit sagen. Die Aussage zu diesem berühmten Obstkörbchen ist hier im deutschen Parlament zurückgewiesen worden, und zwar durch den Staatsminister, und ich nehme an, dass ein Staatsminister das deutsche Parlament nicht belügt. Das darf ich sicherlich zu Recht annehmen. Ob das, was die Eltern von Billy Six zu dem Obstkörbchen sagen, der Wahrheit entspricht oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Aber zunächst traue ich der Aussage, die hier von einem deutschen Staatsminister gegenüber dem deutschen Parlament geäußert worden ist. ({5}) Wenn Sie behaupten, mit dieser berühmten Geschichte von dem Obstkörbchen hätten die Eltern von Billy Six recht, dann müssten Sie zugleich sagen: Der Staatsminister hat das deutsche Parlament in der Aktuellen Stunde belogen. ({6}) Das trauen Sie sich aber zu Recht nicht; das hat er nämlich auch nicht getan. Deswegen glaube ich, dass wir von dem von mir dargelegten Sachverhalt ausgehen sollten. ({7}) Sein Schicksal hat Billy Six sicherlich zum Teil auch selber zu verantworten. Um mal ein Beispiel zu nennen: Er war nicht akkreditiert. ({8}) Wäre er als Journalist akkreditiert gewesen, hätte er nicht nachweisen müssen, welche Artikel er irgendwann geschrieben hat. Es wäre also gut gewesen, wenn er sich an die Gepflogenheiten gehalten hätte. Das ist aber selbstverständlich kein Grund dafür, ihn widerrechtlich einzusperren. ({9}) – Ja, natürlich; das ist kein Grund dafür, ihn widerrechtlich einzusperren. Er hat sich aber auch nicht an die üblichen Regeln gehalten. Aber um das noch mal ganz klar zu sagen: Deswegen darf man ihn trotzdem nicht einsperren. ({10}) Wir halten dies fest und sehen, dass die AfD wieder mal nichts anderes versucht, als die öffentlichen Dienststellen der Bundesrepublik Deutschland zu diskreditieren, weil genau das ihre verblendeten Anhänger erwarten, um es wieder im Netz zu verbreiten. ({11}) Genau das tun Sie: Sie versuchen, die öffentlichen Stellen der Bundesrepublik Deutschland zu diskreditieren. ({12}) – Nein, keine Sorge, das schaffe ich nicht, und das tun wir auch nicht. Die demokratischen Fraktionen in diesem Haus erkennen die Arbeit der Angehörigen des öffentlichen Dienstes an, die sie im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland oder der anderen Dienstherren leisten, sofern sie auf anderen Ebenen arbeiten. Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes haben das Vertrauen der demokratischen Abgeordneten dieses Hauses verdient, und ich will mich sehr herzlich für die Arbeit, die sie tun, bedanken. Sie machen sich einen Vorfall zunutze, um in den Social Media wieder mal den Menschen irgendwas zu erzählen, was nicht der Wahrheit entspricht. ({13}) Man könnte auch sagen: Sie lügen! ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Barbara Hendricks. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Sehr geehrte Familie Six! Weltweit sind aktuell 167 Journalisten, 148 Blogger und 16 Mitarbeiter von Medien eingesperrt. ({0}) Fünf Journalisten wurden in diesem Jahr schon getötet. Das zeigt das Barometer der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Die Pressefreiheit ist in vielen Regionen der Welt stark beschränkt, wie zum Beispiel in Saudi-Arabien. Man erinnere sich nur an den schrecklichen Mord an dem Journalisten Khashoggi. Aber auch in vielen Ländern Südamerikas, in Indien und in China verschlechtert sich die Lage zunehmend. Leider sind auch immer wieder Deutsche dabei, die von der Beschränkung der Pressefreiheit weltweit betroffen sind, egal ob Deniz Yücel, Billy Six oder jemand anders, egal ob prominent oder nicht prominent. Als Unionsfraktion machen wir bei zu Unrecht Inhaftierten keine Unterschiede, und jeder einzelne Inhaftierte ist einer zu viel. ({1}) Presse- und Meinungsfreiheit sind wesentliche und wichtige Menschenrechte, egal ob einem die Berichterstattung passt oder nicht. Jeder ist frei in seiner Meinung, und das ist Ausdruck unseres demokratischen Selbstverständnisses. Deshalb ist es heute eine sehr positive Nachricht, dass Billy Six frei und zurück in Deutschland ist. Bedauerlich ist aber, dass der Eindruck entsteht – und der verhärtet sich ja auch in dieser Diskussion –, dass diese positive Nachricht von der AfD instrumentalisiert und auf eine Art und Weise benutzt wird, die unredlich ist. ({2}) Für uns als Abgeordnete ist es selbstverständlich, dass wir uns für alle inhaftierten und bedrohten Journalisten, für alle zu Unrecht Inhaftierten und für deutsche Staatsbürger einsetzen. Aber dass Sie es nicht kapiert haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, zeigen die heute von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde und Ihr Antrag zum Fall Deniz Yücel. Für den einen sind Rechte in Ordnung, für den anderen sind Rechte nicht in Ordnung, weil Ihnen dessen Meinung nicht passt. Das ist doch die Wahrheit, und darüber muss man doch mal sprechen. ({3}) Ihre Fraktionsvorsitzende Weidel hat am 18. Februar 2018 auf Facebook selbst geschrieben: Deniz Yücel „sollte eigentlich keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen“. Und das nur, weil Ihnen seine Meinung nicht passt; das ist doch die Wahrheit. ({4}) Und der AfD-Abgeordnete Tino Chrupalla macht seit Jahresbeginn mobil gegen Journalisten, bezeichnet die Presse als „Gegner“ und will eine schwarze Liste von Journalisten, die Ihnen nicht passen, im Internet veröffentlichen. Das liest man in den Zeitungen; das ist die Wahrheit. ({5}) Der AfD-Kreisverband Hochtaunus sinniert seit Anfang des Jahres – auch das kann man in der Zeitung lesen –, dass die „Funkhäuser ... gestürmt“ und „Mitarbeiter auf die Straße gezerrt“ werden sollen. Darüber sollten wir nachdenken, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist das wahre Gesicht der AfD bei diesem Thema. ({6}) Das widerspricht jeglicher Vernunft und jeglichem Grundverständnis von Presse- und Meinungsfreiheit in unserem Land. Damit zeigen Sie bei diesem Thema Ihr wahres Gesicht. Wir sind froh, dass Billy Six frei ist. Genauso froh waren wir bei Deniz Yücel im vergangenen Jahr. Wir setzen uns selbstverständlich für jeden einzelnen deutschen Staatsbürger, für jeden Journalisten auf der Welt und für alle zu Unrecht Inhaftierten ein. Staatsminister Annen hat heute eindrücklich bestätigt, wie das Auswärtige Amt vorgegangen ist und die deutsche Botschaft gearbeitet hat. Und Sie bezichtigen ihn der Lüge! Jetzt müssen Sie überlegen: Wenn Sie weiterhin das behaupten, was Sie vorhin gesagt haben, dann behaupten Sie, dass unser Staatsminister lügt; das müssen Sie erst mal bestätigen. Das behaupten Sie in Ihren Reden, und das werden wir mit Entschiedenheit zurückweisen. ({7}) Übrigens ist aktuell auch in der Zeitung zu lesen, dass der Anwalt von Billy Six genau das Gegenteil behauptet. Dann behaupten Sie mit Ihrer Aussage also auch, dass der Anwalt lügt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, wenn Sie schon so gute Kontakte zum Außenminister Lawrow haben, dann tun Sie doch mal was Sinnvolles: Setzen Sie sich für die inhaftierten Journalisten in Russland ein, und schauen Sie, dass jeder einzelne Fall mithilfe von Lawrow aufgeklärt wird. ({8}) Oder setzen Sie sich für den in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilten ukrainischen Filmemacher Oleg S­enzo­w ein. Setzen Sie sich dafür ein, dass es hier zu Verbesserungen kommt und die zu Unrecht Inhaftierten freigelassen werden, anstatt die Heimkehr von Billy Six zu instrumentalisieren; denn das ist das, was Sie tun. Das sind Fake News, die Sie verbreiten. ({9}) Man muss mit aller Entschiedenheit sagen: Das brüskiert alle Menschen, die jetzt noch zu Unrecht in Haft sitzen. Sie machen sich über diese Menschen lustig. ({10}) Das sollten Sie in einer solchen Diskussion unterlassen. Was Sie sagen, ist die Unwahrheit, und was Sie behaupten, ist unredlich und unanständig. Hören Sie damit auf! Herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich einen ehemaligen Kollegen oben auf der Tribüne ganz herzlich begrüßen: Dr. Bernd Fabritius, ehemaliger Vorsitzender des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Herzlich willkommen! ({0}) Nächste Rednerin in der Debatte: Yasmin Fahimi für die SPD-Fraktion. ({1})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrtes Haus! Es sind die autoritären Gruppierungen und Regierungen, die eine freie und unabhängige Berichterstattung fürchten. Wo Medien nicht über Unrecht, Machtmissbrauch oder Korruption berichten können, ist die öffentliche Kontrolle abgeschafft und damit auch die freie Meinungsbildung. Pressefreiheit ist ein Grundpfeiler jeder Demokratie und daher zu Recht in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Es gilt daher, dass dieses Recht von jeder Demokratin und jedem Demokraten in höchstem Maße zu schützen ist. Es verwundert nicht, dass die AfD nun mit dieser Posse von Aktueller Stunde ebendieses Recht instrumentalisiert und mit Füßen tritt. ({0}) Ihr Vorwurf, das Auswärtige Amt habe sich nicht für Herrn Six eingesetzt, weil er für die „Junge Freiheit“ schreibe, ist absurd. ({1}) Das Gegenteil ist der Fall. Trotz – ich sage es noch mal: trotz – seiner nicht vorhandenen Akkreditierung als Journalist in Venezuela ({2}) und damit ohne Kenntnis seiner konkreten Tätigkeit dort vor Ort haben sich das Auswärtige Amt und die Botschaft über das normale Maß hinaus für seine Freilassung eingesetzt. Das haben wir gerade nachhaltig genug dokumentiert bekommen. ({3}) Im Falle von Billy Six hat die Botschaft weit über das Übliche hinaus das im rechtlichen Rahmen Mögliche für den Inhaftierten getan: durch Vorsprachen des Botschafters bis hin zum Außenminister. Das passiert nicht in jedem Fall. Das ist eine außergewöhnlich hochrangige Ebene, die hier auf besondere Art und Weise angesprochen worden ist. Da helfen auch keine Vergleiche, Herr Hampel, mit Ihren rührseligen Geschichten. ({4}) Sie können doch nicht verschiedene Länder aus verschiedenen Dekaden und in verschiedenen Situationen einfach gleichsetzen. Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung von Diplomatie und vom Weltgeschehen? ({5}) Wenn es so einfach wäre und quasi nur am Willen läge, innerhalb von 48 Stunden jeden einfach aus einem anderen Land herauszuholen, dann hätten wir in der Tat eine andere Welt. ({6}) Aber Sie wollen uns doch nicht ernsthaft erzählen, dass wir in einer Welt leben, in der das realistischerweise noch möglich ist. ({7}) Ihre Situation kennen wir a) nicht, und b) sind Sie hier nicht Thema der heutigen Aktuellen Stunde, die Sie selber beantragt haben. ({8}) Wo waren denn Ihre seriösen Versuche, Herrn Six zu helfen? Ihre Verunglimpfungen und Ihre unseriösen Anschuldigungen haben die Arbeit der Botschaft doch nur behindert. ({9}) Jetzt, wo Herr Six frei ist, wollen Sie sich natürlich wieder aufmuskeln, sich empören mit Ihrer Moral und scheinheilig inszenieren, dass Sie und Ihre Anhänger ja alle nur arme, arme Opfer sind. Ein Glück für Herrn Six, dass die Botschaft von solcherlei Dilettantismus sich nicht hat beirren lassen! ({10}) Doch es ist eben nicht nur dieser einzelne Fall von Herrn Six. Deswegen möchte ich in aller Klarheit sagen: Ihre Kampagne zur Verunglimpfung unserer Botschaften und ihres Einsatzes für Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefährdet akut andere Journalisten, die zurzeit im Ausland aufgrund ihrer journalistischen Arbeit tatsächlich gefährdet und inhaftiert sind. Dafür tragen Sie Verantwortung. ({11}) Überrascht uns das? Nein, nicht wirklich. Wir sind mittlerweile ja einiges von Ihnen gewöhnt. Aber um es deutlich zu machen: Die Verteidigung der Pressefreiheit nehmen wir Ihnen schon lange nicht mehr ab. Sie haben heute wunderbar gezeigt, dass Sie sich ein weiteres Mal disqualifizieren. Sie können immer wieder versuchen, die Realität zu verbiegen: Es wird Ihnen nicht gelingen. Es ist eine Tatsache, dass 348 Medienschaffende weltweit immer noch inhaftiert sind. Jedes Jahr ein neuer trauriger Rekord! Anstatt deren Arbeit zu würdigen und deren Situation zu verbessern, wollen Sie die Prinzipien und Instrumente der Demokratie nutzen, um sie gegen die Demokratie selbst zu wenden. Im Gegensatz zu Ihnen kümmert sich das Auswärtige Amt um jeden Staatsbürger und nicht nur um diejenigen, die für die „Junge Freiheit“ schreiben. Im Vergleich zum Fall Deniz Yücel ist dies doch ein durchsichtiges parteipolitisches Manöver von Ihnen: Je nach Gesinnung wollen Sie entscheiden, in welchem Maße sich die Regierung dafür einsetzt, dass ein Journalist wieder aus der Haft kommt. Das ist das Gegenteil von Pressefreiheit. Es ist Sache der Diplomatie, über die jeweiligen sinnvollen Interventionen zu entscheiden. Mit Ihrem Versuch, Journalist gegen Journalist auszuspielen, verletzen Sie ein zweites Mal die Pressefreiheit, um die wir in diesen Ländern kämpfen, und verstärken das Werk derer, die Berichterstattung nur nach ihrem eigenen Gutdünken akzeptieren. ({12}) Diese ganze Art der Inszenierung der AfD kann ich nicht anders verstehen, als dass diejenigen, die zwischen Meinungsfreiheit und Volksverhetzung nicht unterscheiden können oder nicht unterscheiden wollen, entweder Idioten oder geistige Brandstifter sind. Ich komme zu dem Ergebnis, dass Sie Letzteres sind. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Yasmin Fahimi. – Nächster Redner in der Aktuellen Stunde für die CDU/CSU-Fraktion: Martin Patzelt. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste, die Sie noch hier im Haus sind! Das ist wahrhaftig eine Aktuelle Stunde, die uns die Situation unseres Parlaments sehr eindrücklich vor Augen führt. Als die Aktuelle Stunde angesetzt wurde, war ich eigentlich sehr betroffen, und ich habe gefragt: Muss das sein? Was wird das bewirken? Werden wir uns weiter entzweien? – Ich selber war mit dem Fall vorher befasst. ({0}) Heute nach der Debatte muss ich sagen: Gott sei Dank gibt es diese Aktuelle Stunde; denn sie hilft, klar vor Augen zu führen, wer hier was denkt und was sagt. Ich will gar nicht alles wiederholen, was in der Debatte alles gesagt wurde. Aber ich schließe mich den Argumenten meiner Vorredner, die mit der AfD ins Gericht gegangen sind, an. Verehrte Kollegen von der AfD, ich sage Ihnen: Das ist ein Bumerang. Wie wollen Sie damit in der Öffentlichkeit weiter umgehen? Wie wollen Sie weiter damit umgehen, Herr Bystron, wenn Sie solche beleidigenden Unterstellungen, die durch Fakten einfach widerlegt werden können, gegenüber der Regierung vorgebracht haben? ({1}) Wir haben es gehört; der Staatsminister hat Fakt um Fakt aufgezählt. ({2}) Das sind Beweise. Die Reporter ohne Grenzen, die nun wirklich nicht verdächtig sind, dass sie einer Regierung dienlich sein wollen, haben den Fall sehr klar analysiert und das Wirken der Regierung in Venezuela beschrieben. Sie stehen Ihnen zur Verfügung, wenn Sie sich objektiv informieren wollen. ({3}) Ich habe – ich sage das jetzt als Mitglied der AG Menschenrechte und des Menschenrechtsausschusses – am 30. Januar von den Eltern einen Brief bekommen. Ich habe am 31. Januar einen Brief an den Präsidenten geschrieben und ihn mit all den Argumenten, die zur Verfügung standen, gebeten, dass er das Ansehen seiner Person und seines Staates nicht dadurch verletzen soll, indem er so mit einem Reporter umgeht. Ich habe die Eltern sofort über den Brief informiert. Wir haben dann, etwa am 14. Februar, auf Anregung unseres AG-Vorsitzenden eine ausführliche Information vom Auswärtigen Amt in unsere Arbeitsgruppe bekommen. Es wurde noch mal über den Fall geredet. Meine Anfrage ging auch sofort ans Auswärtige Amt, und wir haben uns immer erkundigt, ob das Auswärtige Amt informiert ist oder nicht. Die Reporter ohne Grenzen haben gesagt: Am 13. Dezember wurde es Herrn Six das erste Mal erlaubt, zu telefonieren. Das hat er durch einen Hungerstreik erzwungen. Dann ging eigentlich die Aktivität der Botschaft los; ich will die Fakten nicht alle wiederholen. Aber: Wir können doch nicht so mit der Wahrheit umgehen, nur weil wir daraus politisches Kapital ziehen wollen. ({4}) Das bringt uns alle miteinander nicht weiter, aber das wollen wir doch. ({5}) – Ich habe nicht gesagt, dass er gelogen hat. Ich bin von dem ausgegangen, was Sie heute hier vorgetragen haben, von nichts anderem. ({6}) Meine Kollegen aus dem Menschenrechtsausschuss haben sich dann in ihrer Weise verwendet. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat sich sofort mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung gesetzt und hat überprüft. Und wissen Sie: Das Auswärtige Amt ist keine GSG-9-Einsatzgruppe. Die können nicht mit Gewalt etwas erzwingen, aber sie haben jahrzehntelange Erfahrung, wie man auf diplomatischem Wege Menschen freibekommt. Wem Sie bei der Mythenbildung das eigentliche Verdienst zurechnen wollen, das überlasse ich Ihrer Fantasie und Ihrer Deutung. ({7}) Das ist eigentlich auch nicht – das wurde bereits gesagt – die entscheidende Frage, sondern entscheidend ist, dass Herr Six frei und unter uns ist. Wir von der CDU/CSU-Fraktion – ich weiß nicht, wie das in anderen Fraktionen war; ich vermute, auch so – haben uns unabhängig davon, wo Herr Six politisch steht und für wen er berichtet, konsequent für ihn eingesetzt, wie wir uns in gleicher Weise für alle Journalisten einsetzen. Das heißt, wir stehen an der Seite von all denen, die in Bedrängnis geraten, und zwar unabhängig von ihrem politischen Bewusstsein. Ich würde Ihnen dringend empfehlen: Wenn wir hier miteinander wirklich in eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kommen sollen, dann müssen Sie bestimmte Prinzipien des Miteinanders und der Faktenbewertung akzeptieren; würde ich jedenfalls sagen. Noch ein Wort zum Schluss; ein paar Sekunden habe ich noch. Mir ist dabei die Frage eingefallen: Wie gehen Sie eigentlich mit der Freiheit von Journalisten in unserem Land um? Man kann auch eine ideologische Gefangenschaft von Journalisten provozieren, indem man sie als Lügenpresse bezeichnet und ihnen die Verbreitung von Unwahrheiten unterstellt. Wir sind froh über den Abstand, den wir Politiker von den Journalisten haben. ({8}) Wir wollen keine Hauspresse haben. Wir glauben, dass in einem demokratisch geordneten Gemeinwesen die Medien eine außerordentlich große Bedeutung haben. ({9}) Sie sollen sich nicht in die Abhängigkeit von einer Partei, einer Fraktion oder sonst jemandem bringen. Das ist unser Schutz für unsere Demokratie, für Ihre Ziele und für unsere Ziele. Ich kann nur empfehlen: Überlegen Sie sich, wie Sie mit der Presse öffentlich umgehen. Danke. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt. – Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde: die Kollegin Dr. Daniela De Ridder, SPD. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident!! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie uns ganz kurz über Venezuela reden. Was eine fehlgeleitete Diktatur anrichten kann, sehen wir aktuell am Fall von Venezuela unter Nicolás Maduro. Wer angesichts einer auch noch selbst induzierten Hungerkatastrophe die Hilfslieferungen anderer Staaten an der Grenze anzündet und verbrennt, muss vermutlich die eigene Bevölkerung zutiefst verachten. Rund 31 Millionen Menschen sind in Venezuela von der Hungerkatastrophe bedroht und leiden angesichts der Missstände im eigenen Land ganz erheblich. ({0}) Auch deshalb ist es so wichtig, dass wir mit der Anerkennung des Parlamentschefs Juan Guaidó als Interimspräsidenten ein so wichtiges Zeichen gegen die Diktatur Maduros gesetzt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ebenso wichtig ist es, dass Journalistinnen und Journalisten weltweit dafür kämpfen, Diktaturen, ganz gleich welcher politischen Couleur, zu entlarven. Ja, es ist Aufgabe eines kritischen Journalismus, die Irrungen von Diktaturen aufzuzeigen, deren Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und so – auf der Grundlage des Völkerrechts im Übrigen – zu helfen, dass die Lebensbedingungen zum Besseren gewendet werden. Dafür gebührt allen Journalisten unser zutiefst empfundener Dank. ({1}) Richtig ist es auch, dass sich die Bundesregierung für Journalisten – oder wie im Fall von Billy Six für einen Reiseblogger – einsetzt, gerade wenn diese Menschen in Bedrängnis geraten und inhaftiert werden. Uns Demokratinnen und Demokraten, der Bundesregierung und insbesondere unserem Außenminister Heiko Maas ist es dabei völlig gleichgültig, für welche Medien ein deutscher Staatsbürger tätig ist und wo er sich politisch verortet. Wir helfen jedem in Not und Bedrängnis, wie es auch im Fall von Billy Six der Fall gewesen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, ({2}) etwa durch intensive Betreuung und hochrangige Gespräche – der Staatsminister hat darauf hingewiesen –, durch den Einsatz der Bundesregierung für ein rechtsstaatliches Verfahren und durch unsere Botschaft in Caracas, die Herrn Six bis zuletzt intensiv betreut und sich für dessen zügige Ausreise eingesetzt hat, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lieber Herr Staatsminister, ({3}) richten Sie dafür bitte all jenen, die damit zu tun hatten, vor allem den Botschaftsangehörigen, unseren herzlichen Dank aus. ({4}) Meine Freude über die Freilassung von Billy Six ist allerdings relativ schnell der Verwunderung ob der grotesken Vorwürfe gewichen, die Billy Six, sein Vater und auch Sie erhoben haben. Da heißt es doch allen Ernstes, alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages seien von der Familie angeschrieben worden und nur die AfD und ein einziger Politiker der Linken hätten die Freilassung von Billy Six gefordert; weder CDU/CSU noch SPD oder Grüne hätten überhaupt reagiert. ({5}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, entbehrt jeder Grundlage. Lassen Sie mich das ganz kurz richtigstellen. ({6}) Richtig ist, dass mein Büro, wie viele andere Abgeordnetenbüros auch, am 3. Februar um 15.28 Uhr eine E-Mail der Eltern von Billy Six erhalten hat. Diese E-Mail enthielt die Aufforderung, sich um ihren Sohn zu kümmern. Ich als stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses habe direkt am nächsten Tag mein Team mit einer E-Mail um 9.04 Uhr angewiesen, ein baldiges Telefonat mit den Eltern zu vereinbaren. Die Eltern erhielten dieses dann auch. Um 14.51 Uhr gab es das Angebot. Wir haben uns verabredet, aber vielleicht weiß das Herr Six, der Vater, nicht mehr. Ich kann das gut verstehen; denn das passt nicht, Herr Six, zu der billigen Polemik, zu dem billigen Lügengebäude, das Sie sich hier zu eigen machen. Ich finde, das ist ganz schlechter Stil. ({7}) Lassen Sie mich deutlich machen: Wenn Sie in diesem Falle lügen, wo lügen Sie dann noch? Ich will Ihnen sagen: In der Folge der Telefonate habe ich mich – und das haben auch andere getan, wie wir eben gehört haben – sofort beim Auswärtigen Amt erkundigt und mit dafür Sorge getragen, dass Billy Six freikommt. Hier, sehr geehrte Herren von der AfD, geht es um Rechtsstaatlichkeit. Und Rechtsstaatlichkeit bedeutet für uns immer, dass wir uns für Verfolgte einsetzen, Reiseblogger oder richtige Journalisten, unabhängig davon, welches Geschlecht sie haben, welche Hautfarbe oder welche politische Gesinnung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal wie viele groteske Vorwürfe die Herren Six und die Abgeordneten der AfD nun an uns adressieren – es war, es ist und es bleibt immer richtig, sich für die Freilassung von Menschen einzusetzen. Lieber Herr Six – ich weiß nicht, ob Sie noch auf der Tribüne sitzen –, ich freue mich, dass Sie freigekommen sind. Aber lassen Sie sich von der AfD nicht missbrauchen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir hier heute einmal das Thema der nachhaltigen und damit auch der fairen Beschaffung diskutieren können. In kaum einem anderen Bereich haben wir eine so direkte und unkomplizierte Möglichkeit, politische Ansprüche in die Realität umzusetzen. Darum sollten wir das auch tun. ({0}) Schätzungen besagen, dass die öffentliche Hand, also die Kommunen, die Länder und der Bund, jährlich Beschaffungen im Wert von über 350 Milliarden Euro tätigen, und davon könnte heute schon ein Sechstel fair sein. Das sind 60 Milliarden Euro. Nur zur Erinnerung: Der Haushalt des BMZ beträgt ungefähr 10 Milliarden Euro. Diese Zahl – 60 Milliarden Euro – macht hoffentlich deutlich, welch großes positives Potenzial auch für Entwicklungsländer in der fairen Beschaffung liegt. Auf der EU-Ebene hat man das längst erkannt. Mit der EU-Vergaberichtlinie von 2014 hat man die Möglichkeiten der öffentlichen Beschaffung sehr stark erweitert. Die EU fordert natürlich auch eine faire Beschaffung ein. Allerdings nutzte man bei der Umsetzung dieser EU-Richtlinie ins deutsche Recht bei weitem nicht die Möglichkeiten, die die EU vorgab. Deshalb sind Nacharbeiten definitiv notwendig. ({1}) Insbesondere das Prinzip der Freiwilligkeit führt nicht weiter. Wenn aber der politische Wille da ist, kann auch in Deutschland fair beschafft werden, und das ist auch bitter nötig. Es kann nicht mehr sein, dass wir über Steuergelder ausbeuterische Kinderarbeit oder Umweltzerstörung finanzieren. ({2}) Es kann auch nicht mehr sein, dass Milizen, Terror- und Mafiagruppen zum Beispiel im Bereich der Konfliktmineralien weiterhin auch von der deutschen Beschaffung profitieren. Dazu hat sich die Bundesregierung übrigens im Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ und im Koalitionsvertrag eindeutig verpflichtet. Doch wie schaut die Realität aus? Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen ist sehr ernüchternd. Es gibt nicht einmal eine brauchbare Beschaffungsstatistik. Es werden nur Beschaffungsvorgänge erfasst, die über dem EU-Schwellenwert liegen. Das heißt, 92 Prozent sämtlicher Beschaffungsvorgänge werden statistisch nicht erfasst. Heute ist es so, dass nur 6 von 14 Ministerien – warum nicht alle? – konkrete Maßnahmen für die Beschaffung planen. Wie sie dann ausschauen werden, wissen wir noch nicht. Bisher werden, wenn überhaupt, nur Umweltkriterien berücksichtigt. Soziale und menschenrechtliche Kriterien bleiben schlicht auf der Strecke. Das nenne ich einen Skandal. ({3}) Die Bundesverwaltung ist bisher nicht einmal verpflichtet, im Vergabeverfahren die Einhaltung der ILO-Normen verbindlich vorzuschreiben, und wir haben die ILO-Normen ratifiziert. Es ist also nicht einzusehen, dass hier nicht eine verbindliche Pflicht zur Einhaltung der Normen vorgeschrieben wird. ({4}) Aufgabe der Bundesregierung wäre es natürlich, Vorbild zu sein. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit. Aber anstatt selbst aktiv zu werden, beschränkt sich Herr Müller ganz massiv auf die Bürgerinnen und Bürger. Er fordert sie auf, faire Produkte zu kaufen, was ja im Prinzip richtig ist, was allerdings auch suggeriert, dass die Bürgerinnen und Bürger strukturelle Änderungen verantworten könnten. Und das ist definitiv falsch. Das kann nur die Regierung. Minister Müller hat vor einiger Zeit einen sehr hellen Moment gehabt. ({5}) Er hat nämlich gesagt: Wir haben überhaupt kein Erkenntnisproblem; wir haben ein Umsetzungsproblem. ({6}) Er kann damit doch nur die eigene Regierung gemeint haben. Und da stimme ich ihm zu. Wir brauchen ambitionierte, kohärente nationale Entscheidungen zur Stärkung ökologischer, sozialer und menschenrechtlicher Kriterien im Vergabeprozess, um Deutschlands Verantwortung gegenüber den Menschenrechten gerecht zu werden.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin am Ende. – Wir wissen auch: Beschaffung ist Teil des globalen Handels, und dieser globale Handel muss fair sein. ({0}) Wir sind hier in der Verpflichtung, weltweit voranzuschreiten und die Beschaffung fair zu gestalten. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Petra Nicolaisen. ({0})

Petra Nicolaisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ökologische, soziale und menschenrechtliche Kriterien in der öffentlichen Beschaffung als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung weltweit“. Die benannten Nachhaltigkeitskriterien haben in den letzten Jahren in allen Lebensbereichen stark an Bedeutung gewonnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage, wie wir in Deutschland zu einer nachhaltigen Entwicklung weltweit beitragen können, betrifft jeden einzelnen Bürger, Wirtschaftsunternehmen und selbstverständlich auch die öffentliche Verwaltung gleichermaßen. Wie in der Antwort der Bundesregierung deutlich wird, befasst sich diese bereits seit mehreren Jahren intensiv mit Fragen der nachhaltigen Beschaffung. Dabei unterstützt und fördert sie Institutionen und Portale auf allen drei Ebenen, das heißt bei Bund, Ländern und Kommunen. So wurde beispielsweise 2012 die Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung beim Beschaffungsamt des BMI eingerichtet. Ich verweise an dieser Stelle gerne auch auf die Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung in meinem Bundesland Schleswig-Holstein. Die Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung unterstützt öffentliche Auftraggeber bei der Berücksichtigung von Kriterien der Nachhaltigkeit bei Beschaffungsvorhaben durch Informationen, durch Schulung und durch Beratung der Vergabestellen von Bund, Ländern und Kommunen. Darüber hinaus arbeiten alle drei Ebenen bereits seit 2010 in einem informellen Bündnis und einem Austauschgremium, nämlich der „Allianz für nachhaltige Beschaffung“, zusammen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zwei weitere der in der Antwort der Bundesregierung aufgezeigten Maßnahmen nennen. Im Jahr 2010 hat der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung das im Jahr 2015 weiterentwickelte sogenannte Maßnahmenprogramm „Nachhaltigkeit“ beschlossen. Dieses gilt für alle Behörden und Einrichtungen der unmittelbaren Bundesverwaltung und umfasst insgesamt elf Maßnahmen. Hier ist insbesondere die Maßnahme sechs zu erwähnen, welche die Anforderungen zur Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung am Leitprinzip einer nachhaltigen Entwicklung umfasst. Überdies hat die Bundesregierung in dem 2016 verabschiedeten Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ Maßnahmen beschlossen, um ihrer staatlichen Schutzpflicht auch mit Blick auf internationale Liefer- und Wertschöpfungsketten nachzukommen und sicherzustellen, dass mit öffentlichen Mitteln keine negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte verursacht oder begünstigt werden. Unter anderem will die Bundesregierung prüfen, inwieweit in einer zukünftigen Überarbeitung des Vergaberechts Mindestanforderungen im Bereich Menschenrechte im Vergaberecht festgeschrieben werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vergessen dürfen wir bei alldem jedoch nicht, dass auch die Wirtschaftsunternehmen gefordert sind. Auch sie müssen mehr nachhaltig produzierte Produkte anbieten. Der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ sieht insoweit als Zielvorgabe vor, dass bis 2020 mindestens die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland mit mehr als 500 Beschäftigten Elemente zur Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in ihre Unternehmensprozesse integriert haben. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darüber hinaus darauf geeinigt, dass wir – falls die wirksame und umfassende Überprüfung des Nationalen Aktionsplans „Wirtschaft und Menschenrechte“ zu dem Ergebnis kommt, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht ausreicht – national gesetzlich tätig und uns für eine EU-weite Regelung einsetzen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines macht die Antwort der Bundesregierung allemal deutlich: Das Thema „nachhaltige Beschaffung“ ist in der Bundesverwaltung angekommen. Dennoch muss die Akzeptanz für dieses Thema bei den Entscheidungsträgern, den Behördenleitungen und den Haushaltsreferaten weiter ausgebaut werden. Dabei dürfen wir jedoch nicht unberücksichtigt lassen, dass die öffentliche Hand an das Vergaberecht gebunden ist, und dies sieht nun einmal einen wirtschaftlichen Umgang mit Haushaltsmitteln sowie einen fairen Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern um Ausschreibungen des Bundes vor. Nachhaltige Beschaffung braucht das Zusammenspiel aller und lässt sich nicht im Alleingang regeln. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner für die AfD: der Kollege Markus Frohnmaier. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 13 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Deutschland entfallen auf das öffentliche Beschaffungswesen. Wenn die Grünen in ihrer Großen Anfrage thematisieren, wie Behörden, Verwaltungen und andere staatliche Einrichtungen ihre Arbeitsmittel beschaffen, so ist das also ein wichtiges Thema. Die Grundintention dieser Großen Anfrage lässt sich leider aber nur auf die Parole „Klimaneutrale Kugelschreiber und ökologische Büroeinrichtungen in den Amtsstuben“ verkürzen. ({0}) So schreiben die Fragesteller – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Der öffentlichen Hand fällt nicht nur eine Vorbild- und Vorreiterrolle zu, der sie gerecht werden kann, wenn sie ökologische, soziale und menschenrechtliche Kriterien in ihrer Beschaffung berücksichtigt, sondern sie leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung weltweit. Die 2015 durch die UN beschlossene Resolution „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ rufen die Grünen in ihrer Großen Anfrage zum zentralen Leitbild bei der öffentlichen Beschaffung aus. ({1}) Deshalb sollten wir das zum Anlass nehmen, ganz grundsätzlich über die Ziele der Agenda 2030 zu sprechen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Wir sind entschlossen, die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen. Wir sind entschlossen, die kühnen und transformativen Schritte zu unternehmen, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen. ({2}) Liebe Kollegen, das ist nicht das Manifest einer kommunistischen Partei, sondern die Präambel der Agenda 2030. ({3}) Die Bundesregierung leitet aus der Agenda 2030 ab – ich zitiere die Antwort auf eine unserer Kleinen Anfragen –: Ziel ist es, innerhalb einer Generation … das Leben, Arbeiten und Wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen gerechter zu gestalten. ({4}) Planetare Grenzen! Ich gratuliere Ihnen: So groß war Deutschland noch nie. ({5}) Aber was bedeutet nachhaltige öffentliche Beschaffung eigentlich in der Praxis? Die Bundesregierung bekennt sich in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zum – Zitat – „Ausbau des Bezugs von Ökostrom“, also zu der Art von Energiepolitik, die Deutschland an die Spitze der europäischen Strompreise katapultiert hat, meine Damen und Herren, ({6}) eine Energiepolitik, welche nicht nur unsere Landschaften mit Tausenden Windrädern verschandelt, sondern auch laut Deutschem Zentrum für Luft- und Raumfahrt in den warmen Jahreszeiten jeden Tag 5,3 Milliarden Insekten durch den Rotorenschlag der Windräder auslöscht. Das sind 1 200 Tonnen tote Insekten pro Jahr. So geht grüne Umweltschutzpolitik, meine Damen und Herren. ({7}) Aber auch die – Zitat – „Verbesserung der Energieeffizienz des Fuhrparks“ wird von der Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage angekündigt. Für jedes Elektroauto, mit dem Sie sich durch Berlin chauffieren lassen, schürfen Kinder unter widrigsten Bedingungen Kobalt im Kongo. ({8}) Ist das auch Ihre Vorstellung von humaner Entwicklungspolitik? ({9}) Der in Deutschland von den Grünen erdachte und von allen anderen Altparteien übernommene Ökosozialismus lässt nicht nur jeglichen Bezug zur Realität vermissen. Er wird Deutschland und den Rest der Welt sogar in die entgegengesetzte Richtung führen. Entwicklungsminister Müller zeigt sich davon aber unbeirrt. So versucht die Regierung beispielsweise, die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 mit einem sogenannten Festival der Taten zu popularisieren. Ich zitiere: ... sei dabei – beim ersten Festival der Taten am 20. ... Mai in der Malzfabrik in Berlin. Zusammen mit 500 Teilnehmenden … und kreativen Methoden werdet ihr … einzigartige Ideen und Aktionen zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung erarbeiten. … Es wird bunt, es wird interaktiv, es wird kreativ. Tu Du’s! ({10}) Sollten Sie es nicht zum Festival der Taten schaffen – keine Sorge! Der Minister bietet auch noch einen Poetry-Slam an. Auch hier ein Originalzitat: Die Veranstaltungsreihe „#17Ziele Poetry Slam – wettstreiten und weltretten“ veranstalteten … die Kiezpoeten in insgesamt fünf Städten. Ihre Vorstellung von Kriterien in der öffentlichen Beschaffung als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung erinnern an eine Welt, in der Milch und Honig fließen, sich alle bei den Händen halten und „Kumbaya“ singen. ({11}) Nehmen Sie Abstand von der Agenda 2030, und orientieren Sie sich lieber an der Realität! Vielen Dank. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kollegin Saskia Esken. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Frohnmaier, wenn ich Sie reden höre, fällt mir nur ein Zitat ein: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet … ({0}) – Sie sind stolz darauf, nicht? Ja, das kann ich mir vorstellen. Pfui Deubel! ({1}) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Immer wieder hören wir auch und besonders auf kommunaler Ebene: Das von öffentlicher Hand finanzierte Projekt XY wird nicht fristgerecht fertig, läuft nicht rund, muss nach kurzer Laufzeit nachfinanziert werden. – Und immer wieder heißt es dann: Kein Wunder, man ist halt bei der Vergabe nur auf den Preis orientiert; man hat nur auf den Preis geschaut. Der billigste Anbieter hat den Zuschlag bekommen. – Und das, obwohl das Vergaberecht in der vergangenen Legislatur die größte Reform seit mehr als zehn Jahren erlebt hat. Drei umfangreiche Vergaberichtlinien der EU wurden damit in deutsches Recht umgesetzt. Dabei war die Zielsetzung im Wesentlichen, das Vergaberecht sowohl zu modernisieren als auch zu vereinfachen. Das ist, glaube ich, auch gelungen. Korruption und Vetternwirtschaft sollte effektiver vorgebeugt werden, und vor allem sollte nicht das preisgünstigste, sondern das wirtschaftlichste Angebot den Zuschlag bekommen. Das ist ein Unterschied. Dabei spielt dann nicht allein der Preis die entscheidende Rolle, sondern er muss auch im Verhältnis zur Leistung stehen. Neben dem Preis spielen dann auch Lebenszykluskosten, Umwelteigenschaften, Energieeffizienz und Recycelbarkeit eine Rolle bei der Wirtschaftlichkeit. Zudem hatte das Richtlinienpaket der EU aus dem Jahr 2014 den Mitgliedstaaten große Spielräume eröffnet, soziale und ökologische Kriterien in der Vergabe zu stärken und die Achtung der Menschenrechte zu berücksichtigen. Bei der Nutzung dieser Spielräume – das muss man selbstkritisch einräumen, und das tut die Antwort der Bundesregierung auch – ist die Bundesregierung weit hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben. Kinderarbeit und Menschenhandel, beim Abbau von Kobalt zum Beispiel, wurden nicht als verpflichtende Ausschlusskriterien definiert. Bei den Zuschlagskriterien wurden umweltbezogene und soziale Aspekte eben nicht verpflichtend eingeführt. Da, wo „soll“ oder „muss“ hätte stehen müssen, steht eben nur „kann“. Die Grünen fragen deshalb ganz zu Recht nach den Wirkungen dieser Neuregelung, und die Bundesregierung muss einräumen – und tut es auch –, diese wegen einer bisher eher rudimentären Vergabestatistik kaum evaluieren zu können. Für die EU teilt die Kommission uns mit, dass in mehr als der Hälfte der Ausschreibungen immer noch lediglich der niedrigste Preis als einziges Vergabekriterium Anwendung findet. Das kann und darf man nicht schönreden; denn so, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die öffentliche Hand ihrer Verantwortung natürlich nicht gerecht – für Menschenrechte, für Umwelt und Klima sowie auch für soziale Gerechtigkeit. ({2}) Die eigenen Zielsetzungen für ein nachhaltiges Verwaltungshandeln dürfen wir künftig nicht weiter missachten. Der Verzicht auf echte Verpflichtungen zugunsten weicher Kannregelungen spielt dabei natürlich eine entscheidende Rolle. Aus der Arbeit in kommunalen Parlamenten kennen viele aber ein weiteres Phänomen: Die Verwaltungen wissen gar nichts von ihren Gestaltungsmöglichkeiten. Wenn unsere Fraktionen dann entsprechende Anträge stellen, sagen die Verwaltungen: Das geht doch gar nicht. – Hier ist es eben auch unsere Aufgabe, zu informieren, zu beraten, zu sensibilisieren. Bei künftigen Vergaben sollen soziale und ökologische Zielsetzungen, über die wir uns doch alle hier im Hause – so ziemlich alle jedenfalls – einig sind, die Rolle spielen, die sie verdient haben. Die Anfrage der Grünen macht uns schmerzlich klar, dass beim Vergaberecht noch ein weiter Weg vor uns liegt und dass jetzt gehandelt werden muss. Ich fasse zusammen: Wir brauchen eine ehrliche und aussagekräftige Evaluierung der Vergabepraxis. Wir müssen verpflichtende Kriterien für soziale und ökologische Nachhaltigkeit bei der öffentlichen Beschaffung und Vergabe einführen und die Achtung der Menschenrechte einfordern. Und nicht zuletzt, weil wir viel zu oft neue Gesetze machen, aber nicht darüber sprechen: Wir müssen die Verwaltung zu ebendiesen Themen auch informieren und beraten. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Wunsch nach sozialen Standards, nach Ökologie ist mehr als verständlich, und wir haben uns in der Agenda 2030 ja auch verpflichtet, dass Deutschland diesen Weg mitgeht. Aber es ist auch die Verhältnismäßigkeit zu wahren: Mit welchem Mittel erreiche ich eigentlich was? ({0}) Und hier geht es um die Verhältnismäßigkeit. Wie viele Vorschriften brauche ich, und was erreiche ich eigentlich damit? In der Bundesrepublik werden öffentliche Beschaffungen in einem Umfang von ungefähr 350 Milliarden Euro getätigt. Der größte Block fällt bei der Bundeswehr an, also im Verteidigungsressort. Dort geht bei der Beschaffung ja, wie Sie wissen, eigentlich nichts mehr. Das liegt nicht nur an den fehlenden Personen, sondern einfach auch an den unzähligen Vorschriften, die Sie machen. Das ist ein Geflecht von Vorschriften, angesichts derer sich kein Beschaffer mehr sicher sein kann, dass er es noch richtig macht – und dann macht er lieber nichts, als etwas falsch zu machen. ({1}) Gehen wir rüber zu den Kommunen; dort ist der größte Block der Beschaffungen. Ich selbst war zehn Jahre Bürgermeister; deshalb weiß ich, wovon ich rede. Wir haben in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel auf kommunaler Ebene das Tariftreue- und Vergabegesetz gehabt. Durch die damit eingeführte Bürokratie sind alle Beschaffungen auf einen Schlag 13 Prozent teurer geworden – also 13 Prozent mehr Steuergeld. ({2}) Das Schlimmste daran war eigentlich, dass sich der Kreis der Bieter, die sich überhaupt in den Konkurrenzkampf begeben, deutlich verringert hat, weil nämlich keiner der Bieter wirklich Interesse hat, eine 200-seitige Vorschrift zu lesen oder ein Angebot auszufüllen, das über 100 Seiten hat. ({3}) Das kann man denen auch nicht zumuten. Deshalb hat der Städtetag bzw. Gemeindetag schon immer gefordert, endlich die Vorschriften herunterzufahren, damit es wieder möglich ist, mehr Bieter zu bekommen. ({4}) Sie machen damit auch ein Stück kommunale Selbstverwaltung kaputt, weil eine kleine Gemeinde niemals solch hohen Anforderungen, diesen überzogenen Standards wirklich folgen kann. Wie soll ein Bürgermeister für eine CO 2 -freie Anlieferung garantieren? Das geht nicht, das ist einfach Unsinn. ({5}) Das kann man so nicht machen, kann man so nicht stehen lassen. Geben Sie vielmehr den Beschaffern bei den Kommunen etwas Vertrauen, statt Vorschriften. Vertrauen ist die Grundlage! ({6}) Und: Die Leute, die die Beschaffung bei den Kommunen machen, sind keine anderen Leute als Sie hier; sie haben keine niedrigere Ethik als die Menschen in diesem Raum. Geben Sie den Kommunen die Hilfe, die sie brauchen. Erstellen Sie schwarze Listen von Unternehmen, von denen man nichts mehr beziehen soll. Damit wäre ihnen geholfen. Ein gutes Beispiel gibt das Bundesministerium der Finanzen. Dort gibt es schwarze Listen von Ländern, die Geldwäsche zulassen etc. Da gibt es also schwarze Listen, und so etwas brauchen wir einfach auch für die Kommunen, damit sie sich auch wirklich selbst helfen können. ({7}) Das zweite Ziel, das wir verfolgen müssen – und das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren –: Verantwortlich für die Standards bei Menschenrechten, Ökologie, Arbeitsrecht sind die jeweiligen Nationalstaaten. Aus dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen, sondern müssen durch multilateralen Druck dafür sorgen, dass diese Standards auch in diesen Ländern gelten. Und da brauchen wir weit mehr Aktivität bei der Diplomatie – auch hier in diesem Hause. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Michel Brandt. ({0})

Michel Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004679, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Staaten haben nun einmal die Pflicht, die Menschenrechte umzusetzen. Das bedeutet, dass die Bundesregierung dafür sorgen muss, dass deutsche Konzerne Arbeitsrechte auch entlang der Lieferkette wahren. Das bedeutet umso mehr, dass, wenn die öffentliche Hand selbst Waren und Dienstleistungen einkauft, sie direkt verpflichtet ist, die Menschenrechte durchzusetzen und ihren Schutz auch zu kontrollieren. ({0}) Und obwohl das so ist, schafft der Bund es nicht, dafür zu sorgen, dass flächendeckend sozial und ökologisch eingekauft wird. Seien es Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte in globalen Lieferketten, die von Konzernen mit Füßen getreten werden, sei es – wir haben es gerade schon gehört – Kinderarbeit, oder seien es Unternehmen, die Umweltstandards gezielt ignorieren und damit die Lebensgrundlage unzähliger Menschen zerstören: All diese Verstöße gegen die Menschenrechte nimmt der Bund bei seiner Beschaffung in Kauf. Dafür darf kein Steuergeld mehr ausgegeben werden! ({1}) Die Bundesregierung scheint aber kein erhebliches Interesse daran zu haben, Menschenrechte in der Vergabe ernsthaft zu berücksichtigen und durchzusetzen. Auch zuletzt hat sie wieder mehrfach die Gelegenheit versäumt, verbindliche Mindeststandards für eine nachhaltige öffentliche Beschaffung festzulegen: sowohl bei der Vergaberechtsreform 2016 als auch beim Verabschieden des Nationalen Aktionsplans „Wirtschaft und Menschenrechte“, dem sogenannten NAP. Der NAP soll Unternehmen für ihre Lieferketten verantwortlich machen – allerdings freiwillig, und das ist der Fehler. Sie haben für diesen Nationalen Aktionsplan sogar viele Plakate in deutschen Städten mit der Aufschrift „Achtung, Menschenrechte!“ aufgehängt. Aber diese Werbung ist im Prinzip genau wie der Nationale Aktionsplan selbst nichts als eine Imagekampagne. Unverbindliche Symbolpolitik! Es ist doch kein Wunder, dass sich Unternehmen nicht an den Nationalen Aktionsplan halten, wenn die Bundesregierung selbst ihn nicht einmal ernst nimmt. Sonst hätte sie doch längst einen Stufenplan vorgelegt, wie sie ihre öffentliche Beschaffung endlich menschenrechtskonform gestalten will. ({2}) Ihr Konzept der Unverbindlichkeit ist gescheitert. Konzerne sind eben ökonomischen und nicht menschenrechtlichen Interessen unterworfen. Sie sind im Kapitalismus den Profiten verpflichtet und werden ihre Produktions- und Geschäftsmodelle nicht freiwillig nach den Menschenrechten ausrichten. Darum muss der Staat mit Regulierung, Gesetzen und deren effektiver Durchsetzung Unternehmen dazu zwingen, sozial und ökologisch zu handeln. ({3}) – Da können Sie sich ruhig aufregen. Ja, so ist es. ({4}) Sonst wird es eben weitergehen, dass Konzerne Menschenrechte auf der ganzen Welt brechen. Ein aktuelles Beispiel: Bei der Beschaffung der Kleidung ausgerechnet für die Bundeswehr wurden massiv Arbeiterinnen- und Arbeiterrechte verletzt. In einer Zulieferfabrik in Tunesien wurden nachweislich Arbeiterinnen und Arbeiter drangsaliert, Gewerkschaftsrechte beschnitten und Dumpinglöhne gezahlt. Leider Normalität! Und ja, die Bundesregierung – das gebe ich gern zu – hat punktuell einige Initiativen im Bereich „nachhaltige Beschaffung“ auf den Weg gebracht. Das musste sie aber auch, um ihren internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden. Es gibt aber unglaublich große Unterschiede, wie soziale und ökologische Standards von Beschafferinnen und Beschaffern deutschlandweit eingehalten werden. Statt vereinzelter Nischenkonzepte braucht es endlich ganzheitliche Ansätze, ganzheitliche Lösungsansätze, und zwar auf Bundesebene. ({5}) Sie nehmen ja Verbraucherinnen und Verbraucher immer gerne in die Verantwortung, nachhaltiger zu konsumieren. Selbst aber schaffen Sie es nicht, soziale und ökologische Kriterien im Einkauf zu beachten. Ehrlich gesagt, nicht sehr glaubwürdig. ({6}) Die Bundesregierung müsste wenigstens eine Vorreiterrolle in der öffentlichen Beschaffung einnehmen. Wir als Linke wollen Kriterien, die verbindlich, messbar und durchsetzbar sind. Wir wollen mehr Transparenz in der Beschaffung und eine stärkere zivilgesellschaftliche Kontrolle. Wenn Konzerne die Menschenrechte missachten, haben sie in der öffentlichen Vergabe nichts mehr verloren. ({7}) Die Linke will eine grundlegende Reform der öffentlichen Beschaffung, die verpflichtend soziale, ökologische und menschenrechtliche Standards zur Grundlage nimmt. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Peter Bleser. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für Nachhaltigkeit zu sein, ist für mich eine pure Selbstverständlichkeit und, wenn man es zu Ende denkt, sogar eine Frage des Überlebens der Menschheit. Gemeint sind damit ökologische Standards, soziale Standards, Langlebigkeit und Kreislaufwirtschaft. Den Beweis dafür, wie ernst es die Bundesregierung mit der Nachhaltigkeit meint, liefert allein schon der Umfang der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen, die 40 Seiten umfasst. ({0}) Ich will nur einige Beispiele nennen: der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, die Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung, das Forum Nachhaltiger Kakao und der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“. Meine Damen und Herren, wir sind uns also einig: Wir haben es bei der Beschaffung, insbesondere bei öffentlicher Beschaffung, damit zu tun, dass bei mindestens 350 Milliarden Euro, die jährlich ausgegeben werden, die öffentliche Hand – der Staat, die Kommunen, die Länder – eine Vorbildfunktion wahrzunehmen hat. Darauf sollten wir auch bestehen. Dennoch haben wir Probleme. Erstens in der Wirtschaft. Es wurde schon angesprochen: Die unzähligen Nachhaltigkeitskriterien überfrachten oft die Leistungsbeschreibungen. Die Erbringung entsprechender Nachweise stellt insbesondere für die kleinen und mittelständigen Unternehmen einen unverhältnismäßig hohen Aufwand dar, und nicht wenige werden aus dem Markt gedrängt. Generell gilt, dass diese hohen Anforderungen nicht nur die Anzahl der Angebote reduzieren, sondern die Angebote auch teurer machen. Zweitens. Bei den über 30 000 Beschaffungsstellen haben wir das Problem, dass diese auch schauen müssen, ob die Nachhaltigkeitsanforderungen mit den Siegeln, den Umweltzeichen, den Zertifikaten, insbesondere bei Lieferketten, überprüft werden können. Meine Damen und Herren, die Einhaltung hoher menschenrechtlicher und sozialer Standards, wie zum Beispiel Mindestlohn, hat natürlich oft auch einen höheren Preis zur Folge. Aber die Beamten und Angestellten, die die Vergabe bewerkstelligen müssen, haben auch den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Notwendigkeit zu beachten. ({1}) Im Zweifel entscheidet sich dann der Beamte für den günstigsten Preis, weil er den Zuschlag für höhere Angebote rechtfertigen und legitimieren muss. Damit geht er oft auch das Risiko ein, vor der Vergabekammer zu landen. Meine Damen und Herren, wie lösen wir diese Widersprüche auf? Wir dürfen es in der öffentlichen Beschaffung mit den Forderungen nicht übertreiben. Wir müssen uns auf die wesentlichen Ziele beschränken. Wir müssen aber auch von der preisorientierten Vergabe zur nachhaltigen Vergabe kommen. Meine Damen und Herren, der Schlüssel sind ausreichend und gut qualifizierte Beamte, die auch den Mut haben, alte Bieterstrukturen zu verlassen. Aber das können sie nur, wenn sie Rückendeckung durch ihre Chefs bekommen. Das heißt: Das fängt hier im Bundestag an und hört bei den Gemeinderäten auf. Deswegen sind wir alle in der Verantwortung. Nachhaltigkeit gilt nicht nur für staatliche Aufträge, sondern auch für die Wirtschaft sowie – dazu rate ich sehr – für den privaten Konsum und für private Investitionen. Ich bin sogar der Meinung: Letztlich rechnet sich das. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Bleser. – Der nächste Redner für die SPD-Fraktion: der Kollege Dr. Sascha Raabe. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, in der Tat wäre es gut, wenn alle öffentlichen Auftraggeber, seien es Kommunen, Land oder Bund, verpflichtend einer Regelung unterworfen wären, wonach sie bei der Beschaffungsvergabe Nachhaltigkeitskriterien und soziale Kriterien einhalten müssten. Aber ich möchte auch daran erinnern: Als ich von 1996 bis 2002 Bürgermeister war, gab es bei Ausschreibungen noch gar nicht die Möglichkeit, überhaupt zu sagen: Das muss Fairtrade-zertifiziert sein. – Es ist schon gut, dass viele Kommunen jetzt die Möglichkeit haben und sie auch freiwillig nutzen, bei Ausschreibungen Umweltstandards und Sozialstandards zur Bedingung zu machen. Meine ehemalige Heimatgemeinde Rodenbach ist mittlerweile Fairtrade-Town. Das ist eine Bewegung, die sehr ermutigend ist. Bei mir im Kreis ist auch die Nachbarstadt Erlensee Fairtrade-Town. Andere wie Hanau machen sich auf den Weg. Es gibt mittlerweile in ganz Deutschland Hunderte von Fairtrade-Towns. Wir sollten auch mal die Menschen, also die Konsumentinnen und Konsumenten, loben, die in Eine-Welt-Läden einkaufen, die, egal ob es Kaffee oder Kakao ist, auf das Fairtrade-Siegel achten. Ich finde, wir sollten all den Menschen danken, die in Eine-Welt-Läden ehrenamtlich für fairen Handel sorgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Jetzt sage ich aber als Entwicklungspolitiker, der sich schon lange mit dem Bereich des weltweiten Handels beschäftigt: Zertifizierungen sind nur die zweitbeste Lösung. Die beste Lösung wäre natürlich – diese würde alles umfassen –, wenn wir Regeln hätten, wonach überhaupt nur Produkte gehandelt werden dürfen, bei denen sichergestellt ist, dass Menschenrechte eingehalten werden, ({1}) bei denen sichergestellt ist, dass keine Kinder als Sklaven in Bergbauminen arbeiten oder, wie Millionen Kinder, auf Kakaoplantagen die Bohnen pflücken müssen. Es muss doch unser Anspruch an unsere Handelsvereinbarung mit anderen Ländern sein, dass nach Europa nur Waren zollfrei geliefert werden dürfen, bei deren Herstellung die Menschenrechte und die Arbeitnehmerrechte eingehalten werden, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Deswegen bin ich auch froh, dass die Kolleginnen und Kollegen der deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, das ja für Handelsfragen zuständig ist, erst jüngst geschlossen gegen das Handelsabkommen mit Singapur gestimmt haben, weil in diesem Abkommen eben nicht rechtsverbindlich festgelegt worden ist, dass Verstöße gegen grundlegende Arbeitnehmerrechte zu einer Rücknahme der Zollvorteile führen können. Das ist der richtige Weg. Ich will jetzt gemeinsam mit allen gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses hier und auch im Europäischen Parlament erreichen, dass wir uns bei dem Abkommen mit Vietnam genauso verhalten; denn wir können nicht mit einem Land, das keine Gewerkschaften zulässt, ein Freihandelsabkommen abschließen. Wir sagen: Wir wollen fairen statt freien Handel. Das muss sich dann auch in den Handelsverträgen der Europäischen Union widerspiegeln. Das wäre natürlich der umfassende große Wurf. Dafür bitte ich Sie um Unterstützung, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wer sich einmal wie ich in Ländern Afrikas angeschaut hat, was Kinderarbeit bedeutet, unter anderem, dass Kinder in einem Eimer in kleine Löcher heruntergelassen werden, um dort nach Diamanten zu schürfen, und übelste und menschenverachtende Arbeitsbedingungen ertragen müssen, den macht es natürlich zornig, dass auch so viele Jungen und Mädchen gezwungen werden, unter der sengenden Sonne auf Plantagen zu arbeiten. Da muss ich als Entwicklungspolitiker aber auch fragen: Was können wir denn an Alternativen anbieten? Es ist das eine, zu Recht zu sagen: Wir wollen das verbieten. Es darf nur gehandelt werden, wenn sichergestellt ist, dass die Herstellung ohne Kinderarbeit erfolgt ist. – Aber das andere ist: Wir müssen natürlich auch den Eltern finanzielle Mittel geben, damit sie zum Beispiel einen Ausgleich dafür haben, wie es in Brasilien der Fall ist – das soziale System sieht vor, dass die Eltern dann, wenn sie ihre Kinder zur Schule und zum Arzt schicken, dafür einen Ausgleich, eine Art Sozialhilfe, bekommen –, dass sie Zugang zu Bildung bekommen, Arbeitsplätze, gute Jobs haben, damit Kinderarbeit gar nicht mehr nötig ist. Deswegen sage ich Ihnen auch in dieser Debatte: Der Eckwertebeschluss des Finanzministers für den Entwicklungsetat reicht nicht aus. Wir haben im letzten Jahr hier im Parlament gekämpft und erreicht, dass wir am Ende 700 Millionen Euro mehr bekommen haben. Ich denke, auch in dieser Debatte gehört es zur Ehrlichkeit dazu, zu sagen: Wenn wir fairen Handel, faire Beschaffung haben wollen, müssen wir armen Familien Chancen geben. Deswegen muss der Etat für Entwicklungszusammenarbeit bis zum Herbst deutlich erhöht werden. Dafür bitte ich Sie jetzt schon um Unterstützung. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Beschaffungsvorgang ist am Ende immer auch eine Entscheidung über unsere eigenen Lebensumstände. Es geht darum, dass Aspekte der Ökologie, der Nachhaltigkeit, der sozialen Rechte und des Arbeitnehmerschutzes bei globalen Lieferketten Beachtung finden müssen. Es geht um die Frage: Wie werden Waren und Dienstleistungen produziert, und was macht es mit den Menschen, die diese Leistungen erfüllen? Klar muss sein, dass wir auf der Welt eine ungeteilte Verantwortung für Nachhaltigkeit, für Ökologie und für Menschenrechte haben. Deswegen ist und kann es uns nicht egal sein, wie etwas hergestellt wird. Wenn ich hier höre, wie von der rechten Seite über den Begriff „planetare Grenzen“ gesprochen wird, dann muss ich erwidern: Der entscheidende Punkt ist: Wir haben nur eine Welt. ({0}) Der ökologische Fußabdruck ist im Augenblick größer, als diese eine Welt verkraften kann. Wir müssen mit unseren Ressourcen sorgsam umgehen. Das hat auch was mit Beschaffung zu tun. ({1}) Das Thema darf man hier nicht einfach der Lächerlichkeit preisgeben. Es ist aber ein ganzheitliches und ein komplexes Thema. Ich bin froh, dass in den letzten 20 Jahren viele Erfolge in diesem Bereich erzielt werden konnten. Vor 20 Jahren hat sich die Frage der nachhaltigen Beschaffung oftmals nur auf den fair gehandelten Kaffee beschränkt. Heute sind wir wesentlich weiter. Wir wissen, dass bei der Beschaffung die Spirale von immer günstiger und immer billiger letzten Endes in den Abgrund führt; denn am Ende ist irgendjemand, der dafür bezahlen muss: die Allgemeinheit, die Umwelt oder die Menschenrechte. Das kann uns nicht recht sein. Wir wissen auch, dass bei der Beschaffung andere Aspekte eine große Rolle spielen: Tariftreue, Menschenarbeit, Vermeidung von Kinderarbeit. Wir haben es bereits jetzt in der Hand, bei den Leistungsbeschreibungen klar und deutlich zu machen, dass diese Fragen nicht ausgeklammert werden dürfen. Und ja, wir brauchen auch eine Diskussion über ein besseres und über ein klügeres Vergaberecht, ({2}) mit dem wir die Kommunen letzten Endes ermuntern und die Hürden in der Form beseitigen, dass den Bürgermeistern kleiner Städte, den Gemeinderäten und Verwaltungen eine Vergabeentscheidung, die auch vor den Vergabekammern Bestand haben kann, nicht mehr wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommt. Wenn wir diese Verantwortung ernst nehmen, dann müssen wir hier nachsteuern. Aber es ist nicht so, dass bislang nichts passiert wäre; ganz im Gegenteil. Ich glaube, der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ ist ein erster wichtiger Schritt. Ja, die Beteiligung ist freiwillig. Aber Freiwilligkeit heißt nicht, Verantwortung aufzugeben. Dass sich bereits viele Unternehmen daran beteiligt haben und dass das Bewusstsein, hier reagieren zu müssen, stärker in die Köpfe dringt, zeigt doch, dass dieser Aktionsplan ein ganz wichtiger Grundbaustein ist. Auch Unternehmen sind in der Pflicht. Wir haben vor zwei Jahren die CSR-Richtlinie umgesetzt. Größere Unternehmen müssen berichten, wie es sich mit Menschenrechten und Arbeitnehmerrechten verhält, wenn sie Dinge beschaffen. Ich glaube, das war ein ganz wichtiger Schritt. Und ja, wir müssen uns klar und deutlich vor Augen führen, wie wir diese Einstellungen noch verbessern können. Die Frage der Freiwilligkeit wird eine Rolle spielen. Aber ich glaube, dass wir am Ende des Tages alle in der Pflicht sind – die öffentliche Hand, aber auch jeder Einzelne –, nämlich bei der Frage des eigenen Konsumverhaltens. Herr Kollege Raabe, Sie sprechen davon, dass der Etat des Bundesentwicklungshilfeministers zu gering ist. Wir sehen das auch so. Ich ermuntere Sie, mit Ihrem Kollegen Olaf Scholz zu sprechen, ({3}) damit der Etat einen deutlichen Aufwuchs bekommt und wir unserer Verantwortung gerecht werden können. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 14.

Hans Jürgen Thies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004915, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hinter dem sperrigen Titel „Gesetz zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen“, kurz Marktorganisationsgesetz, verbirgt sich eines der zentralen gesetzlichen Instrumente der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union. Es hat zum Ziel, die Produktivität der heimischen Landwirtschaft zu fördern, bestimmte Agrarerzeugnisse vor günstigen, massenhaften Importwaren aus Drittländern zu schützen und die europäische Bevölkerung ausreichend mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln zu versorgen. Kurzum: Das Marktorganisationsgesetz stabilisiert den europäischen Agrar- und Lebensmittelmarkt. Wie Ihnen allen sicherlich bekannt ist, herrscht innerhalb der EU für Agrarprodukte meist ein höheres Preisniveau als auf dem Weltmarkt. Um sicherzustellen, dass die EU vor Preis- und Mengenschwankungen der Weltmärkte geschützt wird, sind gewisse Produkte lizenzpflichtig. Das heißt also, der Import und der Export spezieller landwirtschaftlicher Erzeugnisse dürfen nur erfolgen, wenn Behörden dafür eine Genehmigung erteilen. Durch die Vergabe von Lizenzen bzw. Ein- und Ausfuhrgenehmigungen sind Behörden in der Lage, erstens die Mengen zu steuern, denen der Zugang zum Binnenmarkt gewährt wird, zweitens die Preise landwirtschaftlicher Produkte aus Drittländern anzupassen und schließlich Warenströme innerhalb der EU zu erfassen und zu steuern. Seit der Verabschiedung des Marktorganisationsgesetzes im Jahre 1972 hat sich sehr viel geändert. Die Zeiten, in denen es notwendig war, dafür zu sorgen, dass für die Bevölkerung ausreichend Nahrungsmittel in der EU vorhanden waren, sind zum Glück Vergangenheit. Ebenso sind Preisunterschiede zwischen der EU und dem Weltmarkt längst nicht mehr so gravierend wie in den letzten Jahrzehnten. Die sicherlich zu Recht oft kritisierte protektionistische EU-Agrarpolitik hat einen enormen Wandel durchlebt. Übermäßige Importzölle und Exportsubventionen wurden inzwischen nahezu abgeschafft. Dennoch ist es weiterhin wichtig, die Produktion spezieller Erzeugnisse vor den Kräften des freien Marktes zu schützen. Der Schutz des Marktorganisationsgesetzes erstreckt sich zum Beispiel auf Saatgut, Hanf, Veredelungsprodukte und Reis. Mit anderen Worten: Diese Produkte sind als lizenzpflichtig eingestuft. Ja, meine Damen und Herren, Sie haben richtig gehört: Auch Reis gehört dazu. Lassen Sie mich die Notwendigkeit einer Lizenzpflicht am Beispiel der Reisproduktion kurz erläutern. Global betrachtet ist der europäische Reisanbau unbedeutend. In manchen Regionen der EU spielt der Anbau von Reis aber doch eine wichtige Rolle. So wird zum Beispiel in der norditalienischen Po-Ebene Risotto-Reis und in der spanischen Region Valencia der spezielle Reis für die Paella angebaut. Ohne den Schutz durch die mengenbegrenzenden Lizenzen würde die europäische Reisproduktion völlig zum Erliegen kommen; denn mit den niedrigen Weltmarktpreisen der großen reis­produzierenden Länder wie China oder Indien könnten die Reisanbaugebiete in Italien oder Spanien natürlich überhaupt nicht konkurrieren. Kaum auszumalen, wie es um die Stabilität der EU bestellt wäre, wenn wir den Italienern den Risotto und den Spaniern die Paella nehmen würden. ({0}) Bei dem Im- und Export lizenzpflichtiger Erzeugnisse sind zwei Instanzen für den reibungslosen Ablauf maßgeblich: erstens die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung – sie ist für die Erteilung und Vergabe der Lizenzen verantwortlich – und zweitens der Zoll. Er sorgt bei der Ein- und Ausfuhr der Agrargüter für die Überwachung der Lizenzen. Das aktuell gültige Gesetz regelt lediglich, dass die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung für die Erteilung der Lizenzen zuständig ist. Eine klare Zuweisung der Zuständigkeit für die Überwachung der Lizenzen an den Zoll fehlt bisher. Der vorliegende Entwurf zur Änderung des Marktorganisationsgesetzes soll diese Regelungslücke nunmehr schließen. Hier wird den Zollbehörden die gesetzliche Ermächtigung erteilt, die Überwachung und Abschreibung der Lizenzen zu vollziehen. Des Weiteren wurden einige punktuelle Änderungen am Gesetz vorgenommen, um das Gesetz mit unionsrechtlichen Bestimmungen zu harmonisieren. So wird zum Beispiel das Wort „Zölle“ durch das Wort „Steuern“ ersetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kommt relativ selten vor – gerade in dieser Legislaturperiode –, dass ein Gesetzentwurf so unstrittig behandelt wird wie der jetzt vorliegende. Der Bundesrat hat keine Einwände gegen die Novelle erhoben, und auch der zuständige Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft hat in der letzten Woche einstimmig die Verabschiedung dieses Gesetzes empfohlen. Das ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass mit diesem Gesetz eigentlich nur nachvollzogen wird, was schon gehandhabte Praxis ist. Die Initiative der Bundesregierung, das Marktorganisationsgesetz –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Hans Jürgen Thies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004915, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ja, ich komme zum Ende – ({0}) mit den Bestimmungen der EU in Einklang zu bringen, ist sicherlich zu begrüßen. Hiermit schaffen wir die rechtlichen Grundlagen, um die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik umzusetzen. Wir stimmen deshalb dem Gesetz zu und empfehlen dies auch den anderen Fraktionen. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Wilhelm von Gottberg. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Der geschätzte Vorredner hat bereits ausgeführt, worum es hier geht. Wir beraten heute den Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Marktorganisationsgesetzes. „Schon wieder?“, fragt man verwundert. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass wir das Vierte Gesetz beraten haben. Hintergrund ist die parallel verlaufende Gesetzgebung der EU und der Bundesrepublik auf dem Feld der Agrarpolitik und des gemeinsamen Binnenmarktes. Diese Tatsache erfordert von Zeit zu Zeit eine Anpassung der Gesetzestexte. Darum geht es bei dem hier zu beratenden Entwurf. In einer Reihe von EU-Verordnungen wurde das Recht zu Lizenzen und zur Erhebung, Verwaltung und Freigabe von Sicherheiten grundlegend überarbeitet. Deshalb müssen die alten EG-Lizenzverordnungen sowie die überholten EG-Sicherheitsverordnungen, welche sich beide auf das Marktorganisationsgesetz stützen, überarbeitet werden. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe nicht falsch ausgeführt: Es geht noch um EG-Verordnungen. Die EG gibt es seit zehn Jahren nicht mehr. Bei den genannten EU-Verordnungen handelt es sich um Hunderte von Seiten mit jeweils Dutzenden Bezügen auf andere Dokumente, also um ein unentwirrbares Geflecht von Bezügen und Verweisungen, welches sich jeder vernünftigen demokratischen Kontrolle entzieht: ({1}) ein Paradebeispiel für die sehr effektive Bürokratieproduktion der EU. Wir erinnern uns noch recht gut an einen ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten, der nach dem Ausscheiden aus dem Amt zur EU wechselte, um eine Entbürokratisierung durchzusetzen. ({2}) Leider können wir bei dem Marktorganisationsgesetz hiervon nichts verspüren. Wir würden einen verstärkten Einsatz der Bundesregierung in Brüssel zur Entbürokratisierung sehr begrüßen. ({3}) Gesetze von der Art des Marktorganisationsgesetzes sind vernunftbegabten Menschen nur schwer zu vermitteln. Zurück zur vorliegenden Gesetzesänderung. Konkret soll Artikel 1 des Marktorganisationsgesetzes um notwendige Zuständigkeiten ergänzt werden. Derzeit enthält das Gesetz weder eine Zuständigkeitszuweisung an die Zollverwaltung für die Abschreibung von Lizenzen noch eine Zuständigkeitsregelung für Sicherheiten. Außerdem wird die Terminologie des Marktorganisationsgesetzes punktuell ohne inhaltliche Änderungen an das Zollrecht angepasst. Es erfolgt auch eine Klarstellung zum Regelumfang einer Rechtsverordnung für Lizenzen. Von der AfD gibt es für das Gesetz grünes Licht. Danke. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die SPD-Fraktion: der Kollege Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Mal haben wir das Marktorganisationsgesetz vor eineinhalb Jahren geändert. Ich kann mich erinnern: Damals haben wir uns gefragt, warum wir wohl ausgerechnet über dieses so technisch anmutende Gesetz namentlich abstimmen müssen. Die Antwort ist einfach: Da erstmals unter anderem eine Zuständigkeitsregelung für die Zollverwaltung normiert wird, ist Artikel 87 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes berührt, der für solche Regelungen die Kanzlermehrheit vorsieht. Im Kern geht es in dem Marktorganisationsgesetz darum, unter welchen Bedingungen landwirtschaftliche Produkte in die EU ein- und aus der EU ausgeführt werden dürfen. Das gilt natürlich auch – ich nehme ein Beispiel aus meiner Berichterstattung – für Fischereiprodukte und würde im Falle eines Brexits, den ja einige hier im Haus durchaus begrüßen würden, auch für Produkte aus Großbritannien gelten. Beim Marktzugang für Fischereiprodukte hätte Großbritannien weit mehr zu verlieren als die Europäische Union; denn Großbritannien exportiert deutlich mehr Fischereiprodukte in die EU als umgekehrt. Aber für Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht die Bilanz ganz anders aus. Im Gegensatz zu den meisten EU-Staaten exportiert Deutschland viel mehr Fischereiprodukte nach Großbritannien, als es importiert. Der Brexit ist also eine große Herausforderung für die Zollverwaltung und natürlich für die deutsche Wirtschaft, aber – das dürfen wir nicht vergessen – auch für die Fischerei. Die deutsche Fischerei droht sogar zum Hauptleidtragenden des Brexits zu werden; denn wichtige Bestände wie zum Beispiel Hering und Makrele befinden sich in britischen Gewässern. Ich finde, es ist wichtig, zu betonen, dass im Falle des Brexits, von dem wir uns wünschen, dass er nicht eintritt – ich glaube, da spreche ich für meine ganze Fraktion –, mehr Mittel für die Fischerei zur Verfügung gestellt werden. Die Fischerei in Deutschland braucht und verdient Klarheit, wie es mit ihr weitergeht. Es darf nicht sein, dass die Fischerei in Deutschland über die Auflösung der relativen Stabilität bei der Quotenvergabe den Großteil ihrer Fangmöglichkeiten verlieren könnte. ({0}) Das wollen wir alle miteinander nicht. Da sind wir uns sicher einig oder auf Plattdeutsch: Daar sünd wi all tosamen seker up een Bredd. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächster Redner für die FDP-Fraktion: der Kollege Dr. Gero Hocker. ({0})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ein Gesetz mit dem Wort „Marktorganisationsgesetz“ überschrieben ist, dann darf ich für die Freien Demokraten festhalten, dass das bei uns erst mal auf sehr viel Sympathie stößt; denn wir glauben, dass der Markt das effizienteste Kriterium ist, um tatsächlich Wachstum und Wohlstand in der Welt und übrigens auch demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Das muss organisiert und flankiert werden, damit sich diejenigen, die nicht für sich selber sorgen können, darauf verlassen können, dass andere sie unterstützen. Deswegen gibt es auch für dieses Gesetz viel Sympathie. Im Interesse der Zeitökonomie an diesem Donnerstagabend werde ich jetzt nicht mehr lange sprechen, sondern einfach für meine Fraktion ankündigen, dass wir diese Änderung, die aus semantischen und juristischen Gründen erforderlich ist, unterstützen. Ich wünsche uns eine weitere gute Beratung. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Hocker. – Die nächste Rednerin: Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um ein Gesetz, mit dem das Marktorganisationsgesetz formal an das aktuelle EU-Recht angepasst werden soll. Diese Änderungen sind auch unstrittig. Mit dem Marktorganisationsgesetz selbst soll seit Jahrzehnten der Kapitalismus auf dem EU-Agrarmarkt etwas gezügelt werden. Deshalb lohnt sich schon die Frage, ob diese Ziele mit diesem Gesetz und der EU-Agrarpolitik insgesamt erstens erreicht werden und zweitens noch zeitgemäß sind. Gehen wir die vier wesentlichen Ziele kurz durch. Erstes Ziel: die Förderung der Produktivität. Ja, die Produktivität ist extrem gestiegen. Ernährte rein rechnerisch 1950 ein Landwirt zehn Menschen, sind es unterdessen 155. Aber zu welchem Preis? Man kann doch heute nicht mehr ernsthaft bestreiten, dass dieses Wachstumsmodell zumindest dazu beiträgt, dass biologische Vielfalt, Bodenqualität, Gewässerqualität verloren gegangen sind und sich auch das Klima verändert. Ich finde, das ist nicht zukunftsfähig. ({0}) Zweites Ziel: angemessene Lebenshaltung in der Landwirtschaft Beschäftigter. Auch das ist doch unterdessen längst mehr Utopie als Wirklichkeit. Die Landwirtschaft ist doch längst zum Billigrohstofflieferanten degradiert worden, und damit sind sie es, die die Profite für Bodenspekulanten, für die Konzernzentralen immer größerer Chemiekonzerne, für Saatgut- und Düngemittelhersteller, Schlachthöfe, Molkereien und Supermarktketten erarbeiten. Ich finde, das ist absurd. ({1}) Drittes Ziel: Stabilisierung der Märkte. Dieses Ziel ist doch auch längst auf dem Altar des deregulierten Weltagr­armarkts geopfert worden, und zwar mit verheerenden Folgen. Als Beispiel nenne ich den Milchmarkt, der 2015 dereguliert und liberalisiert wurde. Im Ergebnis haben viele Milchviehbetriebe viele Monate lang nicht einmal die Hälfte ihrer Produktionskosten bezahlt bekommen. Um das mal klar zu sagen: Das war eine gigantische Vernichtung bäuerlichen Eigentums, quasi eine Enteignung über den Markt. Das zeigt überdeutlich, wie wenig die Illusion eines freien Bauerntums auf freier Scholle im Kapitalismus überhaupt noch zählt. ({2}) Viertes Ziel: Sicherstellung der Versorgung zu angemessenen Preisen. Ja, die Versorgungssicherung wird nicht nur erfüllt, sondern oft sogar übererfüllt, was sich wiederum als Bumerang für die Erzeugerbetriebe erweist; denn natürlich steigt das Erpressungspotenzial der Einkäufer, wenn sie auf Milchseen und Butterberge zurückgreifen können. Selbst angemessene Lebensmittelpreise erweisen sich als Bumerang; denn die Dumpingpreise gehen auf Kosten von Beschäftigten und der Natur. Trotzdem fließen gigantische Profite in die Konzernzentralen ab. Deshalb möchte ich mit einem Zitat des Dramatikers Heiner Müller enden, das in unserem Fraktionssaal hängt: Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus. Das ist leider auch trotz des Marktorganisationsgesetzes so. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: der Kollege Friedrich Ostendorff. ({0})

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viel wichtiger als die kleinen Ergänzungen und Neuformulierungen dieses Gesetzes, die wir ja alle mittragen, ist doch die spürbar notwendige strukturelle, grundlegende Veränderung der deutschen Landwirtschaft. Die entscheidende Frage ist doch: Soll sie weiterhin in industrieller Massenbilligproduktion für den Weltmarkt produzieren oder auf eine nachhaltige bäuerliche Struktur setzen? Die negativen Auswirkungen der Exportorientierung, wie gerade Sie von der CDU/CSU sie verfolgen, sind doch an vielen Punkten zu erkennen. Die intensive, konzentrierte industrielle Tierhaltung führt zu einer nachhaltigen Schädigung der Umwelt. Sie zerstört die bäuerliche, zerstört die ländliche Struktur. Durch das ewige „Wachsen oder Weichen“ wird sie immer weniger von der Gesellschaft verstanden. Es kann doch nicht das Ziel sein, extrem billig mit immer weniger gesellschaftlicher Akzeptanz zu produzieren. ({0}) Aber – und das ist besonders schlimm – es leiden eben auch die natürlichen Lebensgrundlagen. Die Artenvielfalt leidet unter dieser falschen Ausrichtung. Die starke Konzentration der Tierhaltung ist bekanntlich der Hauptgrund für die zu hohe Nitratbelastung unseres Grundwassers. Die industrielle Tierhaltung in dieser Form, meine Damen und Herren, muss beendet werden, ({1}) damit endlich Schluss ist mit der Belastung und Zerstörung von Boden, Wasser und Luft. Die Probleme, die diese falsche Orientierung verursacht, werden besonders in der noch zu novellierenden Novelle der Düngeverordnung sichtbar. Ach nein, das ist falsch. Seit gestern müssen wir ja sagen: die abermals novellierungsbedürftige zu novellierende Novelle der Düngeverordnung. So heißt es richtig. Das zeigt schon: Wir haben viel zu tun. Nach jahrelangem Aussitzen und Nichtstun in Verbindung mit einem Negieren der Probleme reagieren Sie von CDU/CSU und Ministerium panikgetrieben auf dem Rücken der betroffenen Bäuerinnen und Bauern, für die dieser Eiertanz wirklich dramatisch und existenzbedrohend ist. Dass eine Ausrichtung auf den Export extrem risikoreich ist, zeigt aktuell doch die Zuckerindustrie. Vor drei Jahren wurde Bäuerinnen und Bauern gesagt: Die Welt wartet auf den Zucker. Die Quote ist weg. Gebt Gas! – Die Produktion stieg um 40 Prozent. Jetzt gibt es einen dramatischen Preisverfall, und wir sehen den Rückzug vom Weltmarkt und radikale Produktionseinschränkungen. Dieses Desaster der Weltmarktgläubigkeit, diese Achterbahnfahrt werden nicht die Aktionäre von Südzucker bezahlen. Nein, bezahlen werden dieses unternehmerische Desaster einzig und allein die Produzentinnen und Produzenten. ({2}) Es ist also zwingend notwendig, den Fokus weg vom Weltmarkt und verstärkt auf die nachhaltige Produktion hochwertiger Lebensmittel für den europäischen, besonders aber auch für den regionalen Markt zu lenken. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Artur Auernhammer. ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zurück zum Thema, nämlich zur Änderung des Marktorganisationsgesetzes, kommen. ({0}) Dabei geht es um Lizenzen, um Sicherheiten, um Zuständigkeiten der Zollverwaltung. Hier geht es um eine rein technische Entscheidung. Die ideologischen Debatten, die Grundsatzdebatten über Agrarpolitik werden wir zu anderer Zeit leidenschaftlich und mit vollem Engagement hier führen. Deshalb, meine Damen und Herren, ist nur eines zu sagen: Die Praxis draußen ist weiter als die Bürokratie. Regeln wir die gesetzliche Grundlage jetzt. Und nachdem Sie sich alle dazu bereitgefunden haben, diesem Gesetz auch zuzustimmen, möchte ich aufgrund der fortgeschrittenen Zeit – auch wenn einige Kollegen wollen, dass ich noch längere Ausführungen mache – schließen und mich für die Zustimmung zu diesem Gesetz bedanken. Ich freue mich auf ein positives Votum. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. Sehr vorbildlich, Herr Kollege Auernhammer. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Rainer Spiering, SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Nachdem die Kollegen Thies und Johann Saathoff den Mechanismus des Marktorganisationsgesetzes, wie ich finde, ausgesprochen gut beschrieben haben – herzlichen Dank –, würde ich dann doch ganz gerne zu ein paar inhaltlichen Punkten kommen. Ich glaube, dass der Kollege Thies das auch schon gut beschrieben hat. Das Marktorganisationsgesetz wird gewaltige Eingriffe auf das vornehmen, was wir in Zukunft tun werden. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Frage der Lizenzen lenken. Nun diskutieren wir in diesem Hohen Haus häufig über den Einsatz genveränderter Produkte. Darüber kann man unter technischen Gesichtspunkten oder unter ethischen Gesichtspunkten diskutieren. ({0}) Man kann darüber aber auch unter dem Aspekt diskutieren, wer eigentlich die Abschöpfung macht und wer über das Produkt, das entwickelt worden ist, befindet. Genau an dieser Stelle braucht Europa Schutz. Deswegen glaube ich, dass es von tiefer Bedeutung ist, gerade die Frage der Lizenzen sehr sorgfältig zu betrachten; denn derjenige, der das genveränderte Produkt hat, hat den Markt. Deswegen kann ich Sie jenseits aller moralischen und ethischen Fragen nur dringend auffordern: Denken Sie trefflich nach, wenn Sie über genveränderte Produkte reden! Sie könnten einem Dritten gehören. Dann müssten Sie und wir alle die Zeche zahlen. ({1}) Deswegen glaube ich, dass wir dieser Gesetzgebung unsere sorgfältige Aufmerksamkeit schenken müssen. Wenn wir über die hochgeheizte Frage von Glyphosat reden, geht es auch um Lizenzen und um Märkte. Ich habe es in einer der letzten Sitzungen gesagt: Das ist ein Produkt, das offensichtlich vom amerikanischen Markt nur noch wenig angenommen wird. Wenn wir bei der Frage des Einsatzes von Glyphosat auch im Zusammenhang mit dem Marktorganisationsgesetz nicht sehr sorgfältig und gut vorbereitet sind, können wir damit in Europa gewaltig Schiffbruch erleiden; denn wir haben anders als die Amerikaner ein Vorsorgeprinzip. Das kann einem dann auf die Füße fallen. Insofern: Zustimmung der SPD zum Marktorganisationsgesetz. Aber: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Ich habe zwei Probleme aufgezeigt, die in diesem Zusammenhang wichtig sind und die wir im Auge behalten müssen. Danke schön fürs Zuhören. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Marktorganisationsgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8350, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/7836 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfes die absolute Mehrheit, also 355 Stimmen, erforderlich. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Darf ich fragen, wie es an den Urnen ausschaut? Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die namentliche Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der heute vorgelegte Antrag auf mehr Fragerechte des Bundestages sollte eigentlich ein Selbstläufer sein. Da die EU-Institutionen immer mehr Macht ausüben, müssen sie auch entsprechender Kontrolle unterliegen. Speziell die EZB übt enorme Macht aus. Sie schöpft und bewegt Riesensummen, noch weit größer als der deutsche Staatshaushalt, und betreibt damit faktisch Wirtschaftspolitik, auch wenn diese immer noch fälschlich als Geldpolitik bezeichnet wird. Nur einige Beispiele, die den enormen Einfluss der EZB belegen und aus denen sich ganz klar ein Kontrollbedürfnis für uns als Parlament des größten EU-Haftungsstaats ergibt: Staatsanleihenkäufe der EZB über 2,5 Billionen Euro nur seit 2015. Faktisch ist das eine gewaltige Staatsfinanzierung jenseits der offiziellen Staatshaushalte. Bald noch mehr verdeckte Banken- und Staatsfinanzierung in Form von Langfristkrediten. Das betrifft das noch für dieses Jahr angekündigte TLTRO-III-Programm über 1 Billion Euro. 1,3 Billionen Euro ausfallgefährdete Target-Forderungen der EZB gegenüber den Euro-Südländern. Bei Ausfällen wäre Deutschland mit Hunderten Milliarden dabei. Die geplante Vergemeinschaftung unserer Bank- und Spareinlagen in Höhe von über 3 Billionen Euro und natürlich die völlig unnatürliche Nullzins- oder gar Negativzinspolitik der EZB, die zu einer gewaltigen Schädigung der Sparer und der Banken führt. Wir haben ja nicht zufällig gestern erst zur Notfusion Deutsche Bank/Commerzbank hier eine Aktuelle Stunde abhalten müssen, usw. usw. Es sind riesige Summen, über die die EZB verfügt. Der gestern vorgestellte deutsche Bundeshaushalt hat dagegen gerade mal nur 360 Milliarden Euro. Und: Ja, es gibt bereits seit 2014 ein Befragungsinstrument der EZB, das sogenannte bankenunionale Fragerecht. Es ist nur dumm, dass dieses so schwach ausgestaltet ist, dass es bislang fast nie erfolgreich genutzt werden konnte. ({0}) 2018 wurde es erstmals versucht. Das Ergebnis waren dreiste Plattitüden der EZB. Der betroffene Kollege bezeichnete die Antwort damals öffentlich als Farce. ({1}) Doch man konnte nichts dagegen tun. Die Rechtsgrundlage gab einfach nicht mehr her. Es ist nach wie vor superschwer, an die EZB heranzukommen. Dabei gefährden Fragen keineswegs die sakrosankte Unabhängigkeit der EZB. Übrigens sind Zentralbanken in der Praxis auch nicht unabhängig. Die Regierungen garantieren ihre Existenz, und im Gegenzug kaufen die Zentralbanken den Regierungen die Staatsanleihen ab. So wird faktisch Staatsfinanzierung betrieben. So kaufte die EZB von 2016 bis 2018 fast 100 Prozent der italienischen Nettoneuverschuldung auf. Von manchen Ländern besitzt die EZB über 30  Prozent aller Bonds. Das schreit nach parlamentarischer Kontrolle; denn der deutsche Bürger haftet für diese Summen, die als Kreditgeld aus dem Nichts erschaffen werden. ({2}) Die Regierungen werden niemals eine restriktive Kontrolle über ihre Zentralbanken ausüben. Das Parlament muss darum ein Fragerecht haben; denn die EZB-Politik schränkt die Handlungsspielräume künftiger Deutscher Bundestage massiv ein. Der vorgelegte Antrag will unser bislang nur unzureichend in Verordnungen und im Unionsrecht niedergelegtes Fragerecht in die Geschäftsordnung des Bundestags überführen. Dieses Haus kann sich damit endlich die Möglichkeit schaffen, die Megaentscheidungen der EZB, die die nationalen haushalterischen Fragen weit überragen, öffentlich zu debattieren. Der heutige Antrag behandelt übrigens nicht die Bundesbank. Warum? Die Bundesbank ist seit 1999 nur noch eine Unterabteilung der EZB. Die Risiken werden dem Steuerzahler durch die EZB aufgebürdet. Außerdem kommen die Vorstände der Bundesbank immerhin ab und zu freiwillig in dieses Haus. Beispiel: Wir hatten im Rechnungsprüfungsausschuss vorige Woche ein sehr gutes und sehr tiefgehendes Fachgespräch mit dem zuständigen Volkswirt und dem zuständigen Vorstand zu Target2. Komisch, dass nur die AfD-Fraktion es genutzt hat. Alle anderen Parteien und Fraktionen waren absent – alle. So ist das. ({3}) Dabei war es ein offizielles Gespräch unseres Ausschusses. Da gibt es jetzt drei Möglichkeiten: Erstens. Die Kollegen wussten schon alles zu Target2. Das halte ich bei der Materie für unwahrscheinlich. Zweitens. Sie erkannten die Bedeutung von Target2 nicht. ({4}) Das wäre unwahrscheinlich oder unseriös. Drittens. Sie nehmen das Target2-Risiko als gottgegeben hin. Wir als AfD tun das nicht und halten ein Ignorieren für unverantwortlich. ({5}) Wie auch immer, die Bundesbank stellt sich diesen Debatten. Die EZB tut es nicht. Stimmen Sie darum dieser Geschäftsordnungsänderung zu. Eine Kodifizierung des Fragerechts gegenüber der EZB ist erforderlich und auch in unserem deutschen Interesse. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Michael Frieser gibt seine Rede zu Protokoll. Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Marco Buschmann. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Haßelmann ist meine Zeugin: Ich habe heute eigentlich für einen legitimen Kern Ihres Anliegens bei den Kollegen werben wollen. Aber nachdem ich die Begründung von dem Kollegen Boehringer gehört habe, muss ich sagen: Das, was Sie hier vortragen, ist einfach blanker Unsinn. ({0}) Das will ich Ihnen auch kurz begründen. Sie haben hier einen Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung gestellt. Dabei geht es um die Anwendung eines Auskunftsanspruchs, den das Europarecht den nationalen Parlamenten, also dem Bundestag, einräumt. Ich dachte, Ihr Anliegen ist, klarzustellen, wie man dieses Fragerecht ausübt. Man kann ja immerhin theoretisch die Frage stellen: Erfordert das denn einen Mehrheitsbeschluss? Das wäre natürlich absurd; denn dann würde die Opposition nie zum Zuge kommen. Natürlich ist es sinnvoll, dass wir das Fragerecht des Bundestages nach unseren verfassungsrechtlichen Regeln in Deutschland als ein Recht des einzelnen Abgeordneten ausgestalten. Das wäre der legitime Kern Ihres Anliegens. Das ist übrigens auch unstrittig, weil wir es hier im Haus genau so praktizieren. Genau so hat es auch unser Fraktionskollege Frank Schäffler praktiziert. Er hat damit ein Stück Verfassungsgeschichte geschrieben. Herzlichen Glückwunsch dazu, lieber Frank! ({1}) So hat es der Bundestagspräsident gemäß der deutschen Verfassungstradition auch unproblematisch umgesetzt. Das könnte man natürlich auch in die Geschäftsordnung schreiben. Was Sie hier allerdings tatsächlich ausdrücklich behauptet haben, ist, dass man mit der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages diesen europarechtlich bestehenden Auskunftsanspruch inhaltlich verändern könnte. Das ist juristisch totaler Blödsinn; das wissen Sie auch. ({2}) Denn Ihr Kollege Seitz hat uns allen bei der letzten Debatte zur Änderung der Geschäftsordnung ausdrücklich erklärt, dass Satzungsrecht, also Geschäftsordnungsrecht, Binnenrecht des Parlaments ist und angeblich nicht einmal die Bundesregierung binden könnte. ({3}) Wie soll es denn dann die EZB als unabhängige Institution des Europarechts binden? Daran sieht man, dass Ihr Anliegen überhaupt kein sachliches ist. Anstatt eine solche Kodifizierung vorzunehmen, wollen Sie hier den Eindruck erwecken, dass wir der EZB Vorschriften machen können, innerhalb welcher Fristen, mit welcher Intensität und in welchem Umfang Auskünfte zu erteilen sind. Das dient nur einem Zweck: Das dient nicht dem Zweck der Regulierung der Rechtslage. ({4}) Das geht nämlich mit Geschäftsordnungsrecht gar nicht. Dazu müssten Sie das Europarecht ändern. ({5}) Sie wollen entweder dem Bundestagspräsidenten Unmögliches aufgeben, nämlich Fristen durchzusetzen, die er gar nicht durchsetzen kann, oder Sie wollen hinterher – das vermute ich –, indem Sie Begriffe wie „Kleine Anfrage“ und „Große Anfrage“ verwenden, wieder nur so tun, als könne man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Auskunftsansprüchen des Bundestages gegen die Bundesregierung eins zu eins auf die Auskunftsansprüche gegen die EZB übertragen, ({6}) um uns dann hinterher das Märchen vom Rechtsbruch zu erzählen, auch dann, wenn sich die EZB völlig rechtskonform verhält. Das ist Verhetzungspolitik, die dahintersteckt. ({7}) Deshalb muss ich Ihnen sagen: Hätten Sie doch geschwiegen, Herr Boehringer. Dann hätte ich mich auf die Debatte eingelassen, wie wir dieses Auskunftsrecht so, wie wir es jetzt anwenden, in der Geschäftsordnung kodifizieren. Sie aber führen hier ein Theater auf und bauen eine Showkulisse auf, als ob wir mit unserem Geschäftsordnungsrecht europäisches Recht ausgestalten und verändern könnten. Dabei weiß doch jeder im ersten Semester Europarecht, dass das so nicht funktioniert. Setzen, sechs! Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin: die Kollegin Sonja Amalie Steffen, SPD-Fraktion. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie von der AfD möchten, dass wir in unserer Geschäftsordnung eine spezielle Regelung zum sogenannten bankenunionalen Fragerecht schaffen. Das ist kein Selbstläufer, Herr Boehringer, wie Sie das vorhin genannt haben, sondern dieser Antrag ist überflüssig, reine Zeitverschwendung und rechtlich nicht umsetzbar. ({0}) Dabei wäre es viel besser, wenn Sie zur Bankenunion insgesamt eine positive Haltung entwickeln würden. Bisher hören wir aber von Ihnen nur – das haben Sie heute wieder bestätigt –: Bankenunion stoppen, Bankenunion rückabwickeln, Bankenaufsicht wieder in nationale Hände geben. – Leider geht das in die völlig falsche Richtung. Bevor wir das Fragerecht klären, müssen wir uns kurz noch einmal vergegenwärtigen, wie die Bankenunion eigentlich funktioniert – keine Angst, ich mache es kurz – und in welche Richtung das Fragerecht geht. Wir haben in der Bankenkrise 2009 gesehen, dass die Großbanken in Europa miteinander verflochten sind. Wenn eine große Bank fällt, dann drohen auch alle anderen Banken zu fallen. Das ist der sogenannte Dominoeffekt. Diesen Dominoeffekt wollen wir zukünftig unbedingt verhindern. Deshalb, meine Damen und Herren, gibt es die Bankenunion. Die Idee ist: Alle Großbanken in Europa müssen nach einheitlichen Maßstäben stabil sein. Sie müssen zentral beaufsichtigt werden, eben nicht national, wie Sie von der AfD dies möchten. Es soll eben nicht so sein, dass die Mitgliedstaaten ihr eigenes Süppchen kochen, dass sie lockere Vorschriften machen und deren Einhaltung dann noch locker beaufsichtigen. Nein, wir wollen, dass nicht der Steuerzahler haftet. Notfalls muss dann eben auch einmal eine Bank geschlossen werden. ({1}) Damit das klappt, gibt es die Bankenaufsichtsverordnung, die sogenannte SSM-VO, und es gibt die Bankenabwicklungsverordnung. Die Bankenaufsichtsverordnung – übrigens ein europäisches Gesetz – überträgt die Aufgabe der Bankenaufsicht über alle europäischen Großbanken auf die Europäische Zentralbank. In der Bankenabwicklungsverordnung überträgt das europäische Gesetz die Aufgaben zur Abwicklung von Banken, wenn es denn notwendig sein sollte, auf den sogenannten SRB. Das ist eine eigene europäische Fachbehörde. Man kann dies mit „Ausschuss für einheitliche Abwicklung“ übersetzen. Die Einrichtung einer solcher Behörde, einer europäischen Behörde, ist ein großer Schritt; denn normalerweise kann das Europäische Parlament zwar Gesetze, sogenannte Verordnungen, erlassen, aber die Mitgliedstaaten führen sie aus. In diesem Punkt, bei den Großbanken, ist es jetzt so, dass das Europäische Parlament die Gesetze beschließt und sie durch eine eigene europäische Behörde ausgeführt werden. Jetzt kommen wir zum parlamentarischen Fragerecht. Das ist bekanntlich ein wichtiges Kontrollinstrument. Aber: Wir können sinnvollerweise nur dann die deutsche Regierung befragen, wenn sie überhaupt handelt. Das tut sie aber bei der Bankenunion gerade nicht mehr. Hier handelt eine europäische Behörde, wie ich es vorhin dargestellt habe. Im Bundestag wird dieses Fragerecht derzeit so gehandhabt – in der Tat, Herr Schäffler, ich glaube, Sie haben da den Anfang gemacht; es gibt eine Handvoll Anfragen dazu –, dass die Anfragen einzelner Abgeordneter vom Bundestagspräsidenten an die EZB oder an den Abwicklungsausschuss weitergeleitet werden. Anschließend, wenn die Antworten kommen, werden sie in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Dieses Verfahren hat sich bewährt. Es ist aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion absolut in Ordnung. ({2}) Was Sie nun aber vorschlagen – das hat der Kollege Buschmann vorhin in seiner kleinen Vorlesung sehr gut dargestellt –, ({3}) das geht verfassungsrechtlich in der Tat nicht. Es ist grundsätzlich gar nicht so schlecht, zu überlegen, ob man in die Geschäftsordnung eine Regelung einfügt, die sich mit dem Fragerecht zur Bankenunion beschäftigt. Aber Sie wollen eigene Fristen einbauen. Das europäische Recht kennt aber keine Fristen. Insofern können wir das in unser deutsches Recht auch gar nicht einfügen. ({4}) Genauso ist es übrigens bei der Anfrage an den Abwicklungsausschuss. Es ist nämlich so: Das europäische Recht sieht vor, dass der Abwicklungsausschuss Anfragen mündlich oder schriftlich beantworten kann. Sie wollen aber eine schriftliche Beantwortung. Auch das geht nicht; denn wir können mit deutschem Recht europäisches Recht nicht aushebeln. Es bleibt also dabei: Die AfD doktert mit ihrem Antrag ein bisschen am Rande herum. Dabei wäre es viel wichtiger, dass Sie die Bankenunion mittragen. Aber leider arbeiten Sie komplett in die andere Richtung. Wir werden Ihren Antrag selbstverständlich ablehnen. ({5})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Abend beraten wir einen Antrag der AfD, bei dem wir lange rätseln durften, um was es sich eigentlich handelt. Das Sprichwort „Besser spät als nie“ ist hier, wie so oft bei Initiativen aus der rechten Ecke, völlig fehl am Platze. Nie wäre in jedem Fall besser gewesen. ({0}) Wir hätten unsere kostbare Zeit wahrlich mit Sinnvollerem füllen können. Stattdessen müssen wir uns mit einem Antrag beschäftigen, der völlig an der Realität vorbeigeht. Man kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: In wie vielen Fällen haben Sie denn bisher versucht, Fragen an die EZB zu stellen, und sind an zu strengen Regularien gescheitert? Die Kollegen Schick und Schäffler haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und ihre Antworten erhalten. Wenn Sie Fragen an die EZB stellen wollen, dann haben Sie doch die Möglichkeit dazu. Warum nutzen Sie die dann nicht? ({1}) Stattdessen wollen Sie hier die Geschäftsordnung des Bundestages mit einer Regelung weiter aufblähen, die zudem nicht einmal bindend wäre. Ausnahmsweise haben ja einige Ihrer Juristen diesen Antrag mitgezeichnet. Aber eigentlich hätte es die nicht einmal gebraucht, um zu merken, dass die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages genau das tut, was ihr Name sagt: Sie ordnet die Geschäfte des Deutschen Bundestages. ({2}) Keine bindende Wirkung kann unsere Geschäftsordnung aber für die Arbeit der EZB oder des Single Resolution Board haben. Deren Regeln kann man nur auf EU-Ebene ändern, schließlich sind es EU-lnstitutionen. Sie glauben doch auch nicht, mit Beschlüssen in der Kommunalpolitik die Bundesregierung auf etwas festlegen zu können? Wenn der Schatzmeister eines Kreisverbandes Ihrer Partei ganz versehentlich seinen Rechenschaftspflichten nicht nachkommt, dann sind Sie doch auch ganz schnell mit den Beteuerungen, dass das mit Ihrem Wirken im Bundestag nicht das Geringste zu tun hat und man sich davor hüten solle, die Gliederungsebenen Kommune und Bund durcheinanderzubringen. ({3}) Die geeignete Stelle zur Kontrolle der EZB wäre das Europaparlament. Und wenn ich mir das einmal genauer anschaue, verstehe ich auch, woher bei Ihnen der Wind weht. ({4}) Von den ehemals sechs Abgeordneten Ihrer Partei ist ein einziger übrig geblieben. Alle anderen haben sich einer nach dem anderen verabschiedet, während sich Ihre Partei immer weiter gen rechten Rand bewegt hat. Und der letzte Verbliebene hat offenbar kein Interesse daran, sich mit finanzpolitischen Detailfragen auseinanderzusetzen. Die Tatsache, dass Sie noch nie den Versuch unternommen haben, aus diesem Hause eine Anfrage an EZB und SRB zu stellen, macht deutlich, was Sie, meine Damen und Herren von der AfD, mit diesem Antrag wirklich wollen: Sie spielen mit der Angst der Menschen, Sie säen Zwietracht an jeder Stelle, die Ihnen opportun erscheint. ({5}) Vor der Europawahl entdecken Sie selbstverständlich auch diese Ebene wieder für sich. Sie versuchen, statt einer seriösen Auseinandersetzung mit den EU-lnstitutionen den Verdacht der Intransparenz an ungeeigneter Stelle zu wecken. ({6}) Klar ist: Selbst mit einem Antrag zur Geschäftsordnung wollen Sie die Arbeit hier nicht verbessern, sondern die Ressentiments Ihrer Kernwählerschaft gegen internationale Zusammenarbeit befriedigen. Seriöse Arbeit sieht anders aus. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Die Kollegin Britta Haßelmann gibt ihre Rede zu Protokoll , und als Nächster spricht der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Inhalt des Antrages ist durchaus ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen kann. Es geht um ein Kernrecht des Abgeordneten: das Fragerecht, hier in der besonderen Ausformung des bankenunionalen Fragerechts. Man kann darüber nachdenken: Müssen wir das in der Geschäftsordnung kodifizieren? Ich habe eine feste Auffassung dazu. Ich halte das für überflüssig, weil wir dieses Recht schon heute wahrnehmen können, und zwar in der vollen Ausprägung, ohne Einschränkung. Jeder Abgeordnete kann unbeschränkt Fragen stellen. Sie gehen über den Präsidenten, sie werden beantwortet, sie kommen zurück, werden veröffentlicht. Ich weiß nicht, was man noch mehr regeln soll. Natürlich kann man überlegen: Muss das in unsere Geschäftsordnung? Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder regele ich das in der Geschäftsordnung und beschränke das Recht – das käme für uns nicht infrage –, oder es ist eine rein deklaratorische Regelung. Das kann man machen, macht aber auch keinen großen Sinn. Insofern halten wir das für überflüssig. Wir sehen hier kein besonderes Regelungsbedürfnis. Das, was hier geliefert worden ist, hat gezeigt, dass es um diese Fragestellung gar nicht geht. Es geht hier um etwas ganz anderes. Es geht um Verächtlichmachung von Institutionen. Es geht darum, Institutionen vorzuführen. Es ist bezeichnend, dass der Kollege Boehringer nicht ein Wort zur Geschäftsordnung gesagt hat, sondern zu einer Materie referiert hat, die eigentlich in den Finanzausschuss gehört. ({0}) Der Antrag hier fällt in den Bereich der Geschäftsordnung. Wir werden das dann im Geschäftsordnungsausschuss weiter behandeln. Also, ich kann nur sagen: Die Debatte ist vom Antragsteller vollkommen am Ziel vorbeigeführt worden. Wir halten eine Regelung überhaupt nicht für erforderlich. Das werden wir zur Not im Ausschuss noch klären. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Patrick Schnieder. – Die Rede von Metin Hakverdi geht zu Protokoll . Damit schließe ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 16. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8558 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es kommt jetzt ein bisschen überraschend, dass der Kollege Dr. Fechner auch nicht mehr da ist. Schade. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Harmonie ist etwas Schönes. Wenn alle gemeinsam rundum zufrieden sind, dann ist das ein sehr angenehmer Zustand. Leider muss ich in den süßen Wein der Selbstzufriedenheit, den die Regierungsfraktionen kredenzen würden, wenn sie denn sprechen täten, was sie gerade nicht tun, ({1}) beträchtliche Mengen Wasser gießen. Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen, dabei wäre ein Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen durchaus sinnvoll. Der Wohlstand in Deutschland resultiert bekanntlich nicht aus reichlichen Bodenschätzen oder aus Massen von möglichst billigen Arbeitskräften, sondern daraus, dass unzählige Unternehmen tagtäglich neue, bessere Produkte und Verfahren entwickeln, Unternehmen, die darauf angewiesen sind, dass der von ihnen geschaffene Vorsprung an Wissen und Können vor einem Ausspionieren oder Veröffentlichen geschützt wird. Etliches lässt sich als Patent, als Marke, als Gebrauchs- oder Geschmacksmuster schützen, aber längst nicht alle relevanten Verfahren und Kenntnisse. Für die bisher nur lückenhaft rechtlich geschützten Geschäftsgeheimnisse Regelungen zu schaffen, wäre also eine sinnvolle Aufgabe für den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber. Das ist allerdings ziemlich schiefgegangen. Das geht schon damit los, dass es einen deutschen Gesetzgeber in weiten Bereichen und so auch hier nur noch dem Namen nach gibt. Das Reichstagsgebäude steht hier wie eh und je, die Abgeordneten – mehr denn je – tummeln sich darin, halten Reden, stimmen ab. Der ganze äußere Schein von Gesetzgebung ist vorhanden, aber entschieden wird woanders. Die EU hat eine Richtlinie erlassen. Richtlinie bedeutet, dass eigentlich nur Grundlinien einer Regelung von der EU vorgeschrieben werden, die der Bundestag umsetzen, also mit Einzelheiten ausfüllen darf. So wird in vielen Bereichen die Illusion aufrechterhalten, dass wir etwas zu entscheiden hätten. ({2}) Hier ist nun die Richtlinie so konkret geraten, dass der Bereich eigener Entscheidung kaum auszumachen ist. Folgerichtig hat die Bundesregierung für ihren Gesetzentwurf die Übersetzung der Richtlinie aus der englischen in die deutsche Sprache hergenommen und sie im Wesentlichen abgeschrieben. Nun mögen manche oder viele gar keinen Wert auf Selbstbestimmung legen. Man kann – zumindest erweckt die Mehrheit dieses Hauses den Eindruck – mit Fremdbestimmung ganz zufrieden leben, wenn einem deren Ergebnisse gefallen. Diese Einstellung lehnen wir ab. Wohl oder übel müssen wir uns aber mit der Frage beschäftigen, ob die Richtlinie der EU etwas taugt. Ein Punkt sei herausgegriffen, der uns so schwerwiegend erschien, dass wir ihn zum Gegenstand eines gesonderten Antrages gemacht haben, über den gleich ebenfalls abgestimmt wird. Die Richtlinie beschreibt, was ein Geschäftsgeheimnis sein und wovor es geschützt sein soll, insbesondere vor dem unbefugten Ausspähen und Verbreiten. Dann erklärt sie das zur Makulatur und hebt den Schutz der Geschäftsgeheimnisse wieder auf, wenn der Täter handelt „zur Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit“. ({3}) Nun sind diese Grundrechte, Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit, zweifellos überragend wichtig. Allerdings handelt es sich um Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Zensur. Sie sind nicht geeignet, als Begründung für private Eingriffe in Vermögensrechte anderer Bürger wie Geschäftsgeheimnisse zu dienen. ({4}) Es folgt ein weiterer Ausnahmetatbestand in der Richtlinie, nach dem der Schutz der Geschäftsgeheimnisse auch dann nicht gelten soll, wenn jemand zur Aufdeckung eines Fehlverhaltens handelt. Diese Einschränkung bezieht sich nicht allein auf die Aufdeckung von rechtswidrigem Verhalten, was ja sinnvoll und objektiv eingrenzbar wäre, sondern auf jegliches, auch bloß moralisches Fehlverhalten. Beide Ausnahmetatbestände sind derart unsachgemäß und unbestimmt, dass der eigentlich intendierte Schutz erheblich entwertet wird. Es taugt also schon die EU-Richtlinie nichts. Der Versuch, daraus ein deutsches Gesetz zu machen, hat es nicht besser gemacht. ({5}) Die Grünen wollten der Definition des Geschäftsgeheimnisses ein weiteres Tatbestandsmerkmal hinzufügen: das berechtigte Interesse an der Geheimhaltung. Ich habe schon neulich hier darauf hingewiesen, dass wir als Bundestag das gar nicht zu entscheiden haben, weil die Richtlinie den Begriff des Geschäftsgeheimnisses schon definiert. Im Ausschuss hat die Bundesregierung meine Einschätzung ausdrücklich geteilt. Das hat die Regierungsfraktionen nicht gehindert, auf den Wunsch der Grünen hin den Gesetzentwurf in deren Sinne abzuändern. ({6}) Wenn man schon nichts zu entscheiden hat, einfach mal so tun, als ob. – Auch schön! So finden wir in dem Gesetzentwurf, wie er heute beschlossen wird, Folgendes. Legt man den § 2 und den § 5 einmal nebeneinander, stellt man fest: Ein Geschäftsgeheimnis wird von diesem Gesetz geschützt, wenn ein berechtigtes Interesse besteht, es geheim zu halten. Ein Geheimnis wird von diesem Gesetz nicht geschützt, wenn ein berechtigtes Interesse besteht, es zu verbreiten. – Wahrlich eine lichtvolle Erkenntnis, leider aber inhaltsleer; denn was nun tatsächlich wann geschützt wird und wann nicht, das können die von dem Gesetz Betroffenen einstweilen auswürfeln oder vielleicht aus den Eingeweiden eines Hahnes lesen. ({7}) Als Gesetzgebung ist das eine Luftnummer, eine Simulation von Gesetzgebung. Wir lehnen die Verabschiedung dieses mangelhaften Gesetzes ab. Vielen Dank, schönen Abend. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort der Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, mit dem wir uns heute beschäftigen, setzt die Know-how-Richtlinie um, und es beschäftigt sich mit zwei ganz unterschiedlichen Bereichen. Zum einen – das steht im Mittelpunkt, das wollen wir auch hier an den Anfang setzen – geht es darum, davor zu schützen, dass Geschäftsgeheimnisse von Konkurrenten sozusagen ausgespäht werden, dass sich jemand den wirtschaftlichen Wert, den dieses Geheimnis darstellt, selber aneignet. Dieser europaweite Schutz ist ganz wichtig. Davon profitieren gerade die deutschen Unternehmen, die exportstark sind; 60 Prozent ihres Exportes gehen in die Europäische Union. Jetzt können sie gewiss sein, dass es überall einheitliche Standards gibt. Das war auch der Grund, weshalb zum Beispiel die Sachverständige, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag in die Anhörung geschickt hat, das Gesetz begrüßt hat. Zum anderen geht es um die Situation, dass ein Geschäftsgeheimnis bekannt gemacht wird, um auf ein rechtswidriges Verhalten oder eben auch auf ein Fehlverhalten hinzuweisen. In der Tat gibt uns die Richtlinie da einige verbindliche Vorgaben, die wir nun durchaus in eigener Verantwortung umsetzen. Für uns war klar, dass der Schutz, den Journalisten, Arbeitnehmervertretungen sowie Whistleblower bzw. Hinweisgeber, die Kenntnis über Fehlverhalten haben und dieses öffentlich bekannt machen, aufgrund der bestehenden gesetzlichen Regelungen und der Rechtsprechung heute genießen, nicht beschränkt werden soll. Wir haben uns deshalb auch sehr genau angehört, was die Vertreter der betroffenen Bereiche gesagt haben. Vertreter der Gewerkschaften und durchaus ernstzunehmender Medien haben uns darauf hingewiesen, dass das Merkmal des berechtigten Interesses eine wichtige Ergänzung der Definition des Begriffs des Geschäftsgeheimnisses ist; denn es entspricht der bisherigen Rechtsprechung, und dahinter wollten wir nicht zurückfallen. Ansonsten wären die Aspekte, die jetzt im Rahmen der Prüfung des berechtigten Interesses anzustellen sind, in weiteren Stufen der rechtlichen Prüfung, wie sie die Richtlinie im Übrigen vorsieht, zu berücksichtigen gewesen. Wir haben uns das zu Herzen genommen, weil es nachvollziehbar war, als uns die Sachverständigen hier vor sogenannten Chilling Effects gewarnt haben; denn sie können de facto die Pressefreiheit einschränken, und das wollten wir nicht. Wir finden im Übrigen auch den konkreten Anknüpfungspunkt für das zusätzliche Merkmal „legitimes Interesse“ in der Definition des Begriffs des Geschäftsgeheimnisses, in Erwägungsgrund 14 der Richtlinie, und sind hier aus unserer Sicht bei der Umsetzung der Richtlinie ganz klar auf der sicheren Seite. Es ist wohl richtig, dass die Ausnahmen weit gefasst sind. Es geht hier um die Bereiche des rechtswidrigen Handelns und des Fehlverhaltens, für die einem sofort große Beispiele einfallen. Man könnte hier an den Cum/Ex-Skandal denken, der den Namen „Skandal“ wirklich verdient und sicherlich unter „rechtswidriges Verhalten“ fällt. Wir haben gehört, dass man sich in den Beratungen ganz bewusst für den weiten Begriff „Fehlverhalten“ – sonstiges Fehlverhalten, berufliches Fehlverhalten – entschieden hat, als der Skandal der Luxemburg Leaks aufkam, als es darum ging, dass Großunternehmen eine sehr kreative Steuergestaltung nach Luxemburger Recht betrieben haben. Da hat man gesagt: Hier wollen wir nicht dem Whistleblower, dem Hinweisgeber, die Prüfung aufgeben, ob es schon den Grad der Rechtswidrigkeit erreicht hat oder nur ein deutliches Fehlverhalten vorliegt. Deshalb hat man sich für diesen weiten Begriff entschieden. Ich finde das nachvollziehbar. Ich denke, dass auf der anderen Seite auch die Verhältnismäßigkeit geprüft werden muss; denn auch aufseiten des Unternehmens sind natürlich Grundrechte zu beachten. Wir finden das zum einen in den Erwägungsgründen der Richtlinie und zum anderen in der Begründung des Gesetzes wieder. Hier wird von einem gewissen Gewicht, von einer unmittelbaren Relevanz gesprochen, die das sonstige Fehlverhalten haben muss. Es lag uns am Herzen, auch den Begriff der Geeignetheit aufzunehmen. § 5 fordert jetzt, dass die Bekanntmachung des Geheimnisses geeignet sein muss, dem öffentlichen Interesse zu dienen. Es reicht also nicht, wenn der Grund nur in der Fantasie des Whistleblowers besteht oder er eigene, besonders strikte ethische Kriterien anlegt. Da muss er sich schon einem objektivierbaren Rechtsverständnis stellen. Ursprünglich wurde hier im Gesetzentwurf von „Rechtfertigung“ gesprochen. Die Richtlinie verlangt allerdings von den Mitgliedstaaten, dass ein Antrag auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen abgelehnt wird, wenn die genannten Ausnahmen erfüllt sind.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, es ist spät geworden.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Erfüllung der Ausnahmen führt also dazu, dass keine Maßnahmen nach der Richtlinie ergriffen werden können. Wir finden, dass das mit der Bereichsausnahme, die wir jetzt vorsehen, besser umgesetzt ist, und finden, dass wir punktuell gezielte Verbesserungen angebracht haben. Deshalb entscheiden wir uns jetzt auch dafür, das Gesetz zu beschließen und umzusetzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Roman Müller-Böhm. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf sicherlich einen sehr denkwürdigen Prozess gesehen. Angefangen – das muss man so deutlich sagen – mit einem sehr unausgewogenen Entwurf, den wir hier in der ersten Lesung beraten haben; es kam hinterher zu einer Anhörung und – wegen der Anträge der Linken und der Grünen – dankenswerterweise zu einer erneuten Debatte hier im Plenum. Ich möchte positiv hervorheben, dass die Große Koalition dann hingegangen ist und durch einen Änderungsantrag insbesondere im Bereich der Presse Verbesserungen am Gesetzentwurf herbeigeführt hat. Jetzt ist es sicherlich nicht so, dass all die Ideen, die wir hatten, etwa die Idee einer kompletten Ausnahme für den Bereich des Presserechtes, darin aufgenommen wurden, aber immerhin! Was dann doch wieder sehr merkwürdig und denkwürdig an der ganzen Geschichte erscheint, ist, dass dann die von Ihnen selbst getragene Bundesregierung im Ausschuss an der Stelle eine andere bzw. differenzierte Bewertung der Änderungen vorgenommen hat. Es ist in dem ganzen Verfahren irgendwie ausgesprochen merkwürdig, dass auf der einen Seite ein Gesetzentwurf hier ins Plenum gekommen ist, der anscheinend nicht mit der Koalition abgesprochen war, und die Regierung auf der anderen Seite hinterher, als der Gesetzentwurf im Ausschuss – mit der Regierung und den Koalitionsfraktionen – besprochen wurde, sagte, sie könne das Ganze nicht mittragen. Das ist auf jeden Fall irgendwie peinlich für Sie. Festzuhalten bleibt: Es kommt bei dem, was Sie hier machen, zu einem doppelten Ungleichgewicht. Das führt auch dazu, dass wir diesem Gesetzentwurf am Ende nicht zustimmen können. Ein Ungleichgewicht besteht deswegen, weil Sie auf der einen Seite in § 5 – das wurde hier gerade schon mehrfach angesprochen – Rechtfertigungsgründe wie beispielsweise das sonstige Fehlverhalten vorsehen, die quasi unendlich weit gefasst sein können, und auf der anderen Seite den Informantenschutz mit den Auskunftspflichten nach § 8 weiterhin sehr stark aushöhlen. Da sagen wir: Das ist auf der einen Seite den Unternehmen, die ein berechtigtes Interesse daran haben, dass ihre Geheimnisse geschützt werden, nicht gerecht geworden, und auf der anderen Seite wird auch den Informanten – so wie wir den Informantenschutz bisher kennen – nicht Rechnung getragen. Deswegen lehnen wir das ab. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der AfD, Sie haben jüngst auch noch einen Entschließungsantrag eingebracht. ({0}) Da müssen wir leider auch sagen: Das können wir auch nicht mittragen; es ist so. Ich möchte Ihnen auch kurz verdeutlichen, warum. Was Sie hier schreiben, liest sich so, dass im Grunde auf gar keinen Fall mehr in Geschäftsgeheimnisse eingegriffen werden kann. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen, warum das für uns auf gar keinen Fall geht, und ich frage mich, inwieweit Sie da eventuell auch mit mir einer Meinung sind. Das ist ein Fall vom 8. Januar 1997. Es gab einen Nachtwächter bei der UBS-Bank in der Schweiz, der lief durch die Gebäudehallen und kam in einen Schredderraum – etwas, was man vielleicht in der heutigen Zeit gar nicht mehr, zum Glück, so sehr braucht, aber damals anscheinend schon noch –, in diesem Schredderraum lagen Kassenbücher aus der zweiten Hälfte der 30er-Jahre des vorherigen Jahrhunderts. Wer sich in der Geschichte ein bisschen auskennt, weiß, dass da an der einen oder anderen Stelle durchaus, ja, sehr zweifelhafte Geschäfte gelaufen sind und es durchaus ein berechtigtes Interesse heute gibt, diese aufzuklären. Dieser Mann hat damals etwas sehr Gewagtes getan: Er hat diese Bücher mitgenommen, hat dann politisches Asyl in den USA bekommen, hat das veröffentlicht. Heute kann die Geschichtsschreibung deswegen darüber berichten. Das wäre nicht möglich, ({1}) wenn Sie sozusagen Ihren Antrag hier durchsetzen. Deswegen werden wir das ablehnen, können wir das so nicht mittragen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner erhält das Wort für die Fraktion Die Linke der Kollege Niema Movassat.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letztens hat Justizministerin Barley ein Video im Reality-Soap-­Format hochgeladen, wo sie ihre neue Heimat Brüssel vorstellt: Sie lässt sich filmen, wie sie Pommes und Pralinen isst, und zeigt uns eine Kneipe, die 200 Biersorten ausschenkt. Klingt ja alles irgendwie ganz nett; aber offensichtlich ist sie so sehr mit ihrem Umzug nach Brüssel beschäftigt, dass sie nicht mehr so ganz mitbekommt, was ihr Justizministerium so treibt. ({0}) Das erklärt, warum ursprünglich so ein grottiger Entwurf für das Geschäftsgeheimnisgesetz, über das wir heute reden, aus dem SPD-geführten Ministerium kam. Es geht bei diesem Gesetz um die Umsetzung einer EU-Richtlinie, die darauf zielt, Geschäftsgeheimnisse noch mehr zu schützen. Es liegt auf der Hand, dass Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen in Konflikt zur Pressefreiheit, zu Rechten von Arbeitnehmern und zur Tätigkeit von Whistleblowern geraten können. Der ursprüngliche Gesetzentwurf löste die Konflikte einseitig zugunsten der Unternehmen und damit zulasten von Journalisten und Arbeitnehmervertretern. Der schlechte Entwurf des Barley-Ministeriums für das Geschäftsgeheimnisgesetz sollte zunächst im Eilverfahren durchs Parlament gehen. Nur weil wir als Linke intervenierten und eine öffentliche Anhörung beantragt haben, die Grüne und FDP unterstützten, ist alles anders gekommen. In der Anhörung wurde der Gesetzentwurf der Bundesregierung von den Experten auseinandergenommen. CDU/CSU und SPD haben auf Druck der Opposition, der Sachverständigen und von vielen anderen, wie etwa dem DGB, und auch aus Einsicht einen Änderungsantrag eingereicht, der alle konkreten Forderungen, die wir als Linke und die die Grünen haben, beachtet hat. Erstens wurde, wie von uns gefordert, die Rechtfertigungslösung entfernt und eine Bereichsausnahme für Arbeitnehmer und Journalisten eingeführt. Das bedeutet, dass diese nicht mehr in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen. Eine bloße Rechtfertigungslösung hätte für Arbeitnehmer und Journalisten Folgendes bedeutet: Im Falle des Vorwurfs, sie hätten Geschäftsgeheimnisse verraten, wäre es zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gekommen. Erst vor Gericht hätten sich die betroffenen Personen – mit all den verbundenen Prozesskosten – verteidigen können. Damit wäre besonders die Arbeit von investigativen Journalisten gefährdet worden, die über Missstände in Betrieben berichten. Das ist zum Glück vom Tisch. ({1}) Zweitens wurde die Definition, was überhaupt ein Geschäftsgeheimnis ist, wie von uns gefordert verschärft. Es wird nur noch ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung gefordert, damit ein betrieblicher Vorgang als ein Geschäftsgeheimnis gelten kann. Damit kann der Arbeitgeber nicht mehr einfach alles zum Geschäftsgeheimnis erklären. Das vermeidet Willkür, mit der etwa Arbeitnehmervertretungen gegängelt würden. Das ist also eine sehr wichtige Änderung. ({2}) Meine Damen und Herren, es kommt leider viel zu selten vor, dass die regierungstragenden Fraktionen unabhängig agieren und, wie hier geschehen, selbstständig einen schlechten Regierungsentwurf korrigieren. Da sage ich an der Stelle einfach mal: Danke, das war gute Arbeit von Ihnen! ({3}) Aber ich muss auch sagen: Es bleibt Fassungslosigkeit darüber, wie so ein schlechter Entwurf aus dem SPD-geführten Ministerium kommen konnte. Offenbar wollte die Bundesregierung lieber einseitig Unternehmensinteressen zulasten der Pressefreiheit und der Rechte der Arbeitnehmerschaft durchsetzen. Ich muss sagen, die Krönung war für mich, dass das SPD-geführte Justizministerium noch in der Ausschusssitzung den ursprünglichen Entwurf verteidigt hat und die Änderungen abgelehnt hat. In der Ausschusssitzung wurde das SPD-geführte Justizministerium von der CDU/CSU links überholt; ich finde, das ist ganz schön krass. Meine Damen und Herren, die Änderungen der Koalition finden wir als Linke gut, weil sie das umfassen, was wir an konkreten Änderungen gefordert haben. Da wir aber insgesamt – das hatte ich im Ausschuss schon gesagt – einen schärferen Schutz von Geschäftsgeheimnissen, wie es die EU-Richtlinie fordert, ablehnen, werden wir uns zum Gesetz selbst enthalten. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Movassat. – Als nächste Rednerin erhält für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Tabea Rößner das Wort. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja schon ein kleines Wunder: Die Regierungsfraktionen haben sich besonnen und den Gesetzentwurf entscheidend überarbeitet – das habe ich in zehn Jahren Bundestag selten erlebt. Insofern danke auch dafür! Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Sie sich erst bewegt haben, nachdem Ihnen Journalistenverbände und Medienhäuser ordentlich aufs Dach gestiegen sind, Sie die stichhaltigen Argumente der Sachverständigen in der Anhörung nicht mehr von der Hand weisen konnten und unser Änderungsantrag offensichtliche Lösungen aufgezeigt hat. Die Änderungen am Gesetzentwurf stellen nun jedenfalls sicher, dass zum einen die zugrundeliegende EU-Richtlinie korrekt umgesetzt wird und zum anderen Verschlechterungen für Medienschaffende, Whistleblower wie auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewendet werden. Journalistinnen und Journalisten können aufgrund der Änderungen in § 5 des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen, in dem jetzt eine Ausnahmeregelung statt eines Rechtfertigungsgrundes verankert ist, nun grundsätzlich nicht mehr juristisch verfolgt werden, wenn sie Geschäftsgeheimnisse erlangen, nutzen oder offenlegen. Ein Verfahren wie gegen den Correctiv-Chefredakteur Oliver Schröm, der ja den Milliardenbetrug rund um Cum/Ex aufdeckte, kann zukünftig also hoffentlich nicht mehr eingeleitet werden. ({0}) Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten bei jedem Geschäftsgeheimnis, von dem Sie erfahren, befürchten, dass gegen Sie ein Strafverfahren eröffnet wird! Würden Sie das Risiko eingehen? Würden Journalisten dann noch investigativ recherchieren? Wohl kaum, und das wäre tatsächlich eine Einschränkung der Pressefreiheit. Zum Glück ist dieses abgewehrt worden, und das entspricht ja auch nur dem gesunden Menschenverstand: In einem Rechtsstaat müssen Übeltäter verfolgt werden, die ein Unrecht begehen, und nicht die Whistleblower oder Journalisten oder Arbeitnehmer, die das Unrecht aufdecken. ({1}) Dass die AfD damit ein Problem hat, ist schon bezeichnend für sich. Obwohl die Änderungen für mich ein kleiner Triumph der Demokratie und auch der engagierten Zivilgesellschaft sind, fürchte ich, dass es dennoch keinen Anlass für allgemeinen Optimismus gibt. Zum einen hat die Bundesregierung die Pressefreiheit nur vor einer Gefahr gerettet, die sie selbst heraufbeschworen hat, und zum anderen nutzt die Bundesregierung ja immer wieder Gelegenheiten, die Presse- und Meinungsfreiheit zu beschneiden. Ich denke da zum Beispiel an den Landesverratsskandal rund um das Blog Netzpolitik.org vor einiger Zeit oder die aktuelle Debatte jetzt um Uploadfilter bei der EU-Urheberrechtsreform. Obwohl wir dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung unter dem Strich zustimmen werden, hätten Sie aus unserer Sicht deutlich weiter gehen können. Die Pflicht haben Sie geliefert, die Kür fehlt noch. ({2}) Denn einige Aspekte aus der EU-Richtlinie werden auch jetzt nicht umgesetzt: Es fehlen weiterhin Sanktionsmöglichkeiten, falls ein Unternehmen eine offensichtlich unbegründete Klage wegen der rechtswidrigen Nutzung oder Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses anstrebt. Auch für den Geheimnisschutz im Zivilprozess sind noch keine ausreichenden Regelungen vorgelegt worden. Es fehlt zudem eine Ausnahme für die Forschung in der IT-Sicherheit; denn wer hier forscht, darf künftig nicht mehr alle im Internet verfügbaren Informationen nutzen. Wir hatten zu diesen Punkten konkrete Vorschläge gemacht. Aber so weit hat die Vernunft bei Ihnen dann doch nicht gereicht – schade drum! ({3}) Am schmerzhaftesten: Es fehlen weiterhin umfassende Regelungen zum Hinweisgeberschutz, also zum Schutz der Whistleblower. Am besten wäre es, Sie würden endlich ein richtiges Whistleblower-Schutzgesetz auf den Weg bringen. Aber daran haben Sie offenbar kein Interesse. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Bei der abschließenden Beratung über die Whistleblowerschutz-Richtlinie in Brüssel hat sich die Bundesregierung nicht einmal beteiligt. Da schaue ich düster in die Zukunft, wenn es um die nationale Umsetzung geht. Zum vorliegenden Gesetzentwurf würde ich sagen: Gerade noch mal gut gegangen. – Aber wir bleiben wachsam! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Ich bin sicher, es ist allen bewusst, dass ich die Sitzungsleitung übernommen habe und auf die Geschäftsordnung achten werde. Der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben, ebenso der Kollege Uwe Kamann, fraktionslos, und der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion – vorbildlich, finde ich. ({0}) Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt wird jetzt zu uns sprechen die Kollegin Dr. Nina Scheer, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung hat in den letzten Monaten durchaus einige Hürden genommen. Ich würde es aber auch positiv ausdrücken wollen – es ist auch schon angeklungen –: dass wir ein Stück Demokratie gelebt haben, eine Sternstunde des Parlaments hatten, weil wir den Sinn und Zweck von Anhörungen sehr ernst genommen haben. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein; aber wir haben häufig volle Tagesordnungen im Plenum, und vielleicht muss es uns auch mal zu denken geben, dass es auch so gehen kann. Häufig gelingt es so nicht, wie es bei diesem Gesetz gelungen ist. Ich möchte damit gleichzeitig noch einen Appell an die Opposition richten, das dann auch in diesem Sinne wertzuschätzen. ({0}) – Ja, das haben Sie auch gemacht. Aber wenn Sie das mit einer Schelte an das Ministerium verknüpfen, dann muss das ja im Umkehrschluss heißen, dass gar nichts mehr geändert werden dürfte an einem Gesetzentwurf. Also: entweder – oder. Wir haben uns letztendlich fraktionsübergreifend auf sehr weitgehende Änderungen verständigt. Wir hatten im Ausschuss eine Zustimmung; außer der AfD haben alle die Änderungen mitgemacht. Ich möchte hier noch mal sagen: Wir hatten in den meisten Änderungspunkten durchaus die Unterstützung des Ministeriums. Es ist keineswegs so, dass das Ministerium sich gegen alles versperrt hätte. Letztendlich waren es zwei Punkte – auf die ich gleich noch kurz eingehe –, die das Ministerium in der Tat nicht mit unterstützen wollte, weil es da rechtliche Bedenken hatte. Aber das kann eben vorkommen. Wir können gut begründen – aus dem Parlament heraus –, warum wir das dennoch so verfolgt haben. Wie gesagt: Die Änderungen sind vom Ministerium letztendlich weitestgehend mitgetragen worden; das wollte ich hier noch mal dankend unterstreichen. Jetzt aber zu den einzelnen Punkten. Ich möchte kurz insoweit darauf eingehen, dass man sich vielleicht noch mal vergegenwärtigen sollte: Wir müssen hier, wie gesagt, die Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen umsetzen. Und wie das eben mit Schutzbereichen ist: Wo ein Schutz ist, da muss man schauen: Wie verhält es sich mit konfligierenden Interessen? Natürlich gibt es immer Abgrenzungen zu widerstreitenden Interessen. Genau dort haben wir Nachbesserungsbedarfe gesehen. Dort, wo Geschäftsgeheimnisse vielleicht keinen Schutz mehr erfahren sollten, dort, wo es ein berechtigtes öffentliches Interesse daran gibt, etwas zu erfahren, was sich im Bereich von Geschäftsgeheimnissen abspielt – wenn es etwa darum geht, investigativen Journalismus zu betreiben, oder wenn auch Arbeitnehmer etwas thematisieren, in Kenntnis dieser Geschäftsgeheimnisse –, genau dort muss es möglich sein, dass dies getan wird, dass darüber gesprochen wird, dass das aufgedeckt wird. Genau an dieser Stelle haben wir Nachbesserungen vorgenommen. ({1}) Wir haben bei der Definition des Geschäftsgeheimnisses angesetzt. Es stellte sich nämlich tatsächlich die Frage: Ist das nicht einfach ein zu ausufernder Begriff? Der bisherige Begriff des Geschäftsgeheimnisses hat es letztendlich weitestgehend in die Hände des Unternehmens gelegt, was überhaupt als Geschäftsgeheimnis gilt. Da haben wir gesagt: Nein, es muss auch ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung existieren – ohne dieses ist der Tatbestand eines Geschäftsgeheimnisses nicht gegeben. Wir haben also an der Begriffsbestimmung etwas geändert. Dann haben wir berücksichtigt, dass der Quellenschutz auch gewährleistet sein muss. Das geht insbesondere die Presse an. Wir haben den Rechtsverletzungsbegriff in § 4 in Bezug auf § 5 verändert. Jetzt rennt mir die Zeit weg. Die wichtigsten Punkte kommen erst noch – gut, ich möchte keine Wertung vornehmen. Eine Änderung gibt es auch in § 5: Da haben wir aus den vorher genannten Rechtfertigungsgründen einen Ausnahmetatbestand gemacht – um eben gerade zu verhindern, dass aufseiten des Journalismus die Unklarheit besteht: Mache ich hier etwas, wofür ich mich erst mal noch rechtfertigen müsste vor Gericht, oder mache ich hier etwas, was definitiv, von vornherein, unter einen Ausnahmetatbestand fällt? – Genau dafür haben wir uns entschieden, das so zu machen. Das hat nach sich gezogen, dass wir in § 5 dann auch noch eine Veränderung vorgenommen haben: Wir haben versucht, eine Objektivierung hineinzubringen – das wurde schon angesprochen –: Es gibt keinen Absichtsbegriff mehr, sondern man orientiert sich an der englischen Originalfassung der Richtlinie, in der eine Objektivierung vorgenommen wurde. Insgesamt möchte ich sehr herzlich danken für die sehr erfreuliche Zusammenarbeit, nicht nur in der Koalition, sondern im Parlament insgesamt und letztendlich auch mit dem Ministerium. Vielen Dank auch für die Kommunikation, die wir dabei hatten!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich schließe mit meiner Erkenntnis: Das war wirklich eine Sternstunde des Parlaments. In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir noch weitere Schritte gehen können, auch wenn es um die Umsetzung der Whistleblo­wer-Richtlinie gehen wird.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die wird dann noch kommen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8300, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/4724 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD und der FDP mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf, wiederum mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von AfD und FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke, angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/8610. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist eindeutig. Wer stimmt dagegen? – ({0}) Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktion der AfD mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Tagesordnungspunkt 17 b. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 19/8300 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7704 mit dem Titel „Presse, Arbeitnehmervertretung und Whistleblower im Geschäftsgeheimnisgesetz schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/7453 mit dem Titel „Geschäftsgeheimnisgesetz – Schutz für Arbeitnehmerinnen, Journalisten“ – und Journalistinnen natürlich – „Hinweisgeberinnen“ – und Hinweisgeber – „und Wirtschaft nachbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD bei Enthaltung der Fraktionen der FDP und der Linken gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich unmittelbar im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe – 2 Millionen Menschen, die Leib und Leben riskieren, wenn beispielsweise Schneemassen Dächer einstürzen lassen oder wenn ein Blackout der Stromversorgung ganze Landstriche lahmlegt; 2 Millionen Menschen, denen wir nicht nur Dank schuldig sind, sondern die auch mehr Wertschätzung und Aufmerksamkeit verdient haben, als ihnen derzeit, auch vonseiten der Bundesregierung, zukommt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vor einer Woche durften wir im Innenausschuss einen langatmigen Bericht des Bundesministers hören. Horst Seehofer referierte mehr als eine Stunde lang über seine sogenannte Erfolgsbilanz. Da war relativ wenig Erfolg, aber ein langer Sprechzettel. Es wurde alles Mögliche thematisiert. Aber was bemerkenswert war: Der Katastrophen- und Bevölkerungsschutz wurde mit keinem einzigen Wort erwähnt. Das zeigt, welchen Stellenwert dieses Thema beim Minister selbst und bei dem von ihm geführten Haus offensichtlich hat. Das ist schade; es ist aber auch symptomatisch für die Behandlung des Themas, auch in der Öffentlichkeit. Wenn Katastrophen eintreten, dann wird in den Medien groß und breit darüber berichtet. Wie man sich aber auf Katastrophen vorbereiten kann, ist vielen keine Zeile und keine Fernsehminute wert. Ganz im Gegenteil: Versucht es einmal ein Bundesminister, wie zum Beispiel Thomas de Maizière im Sommer 2016 mit seinem Zivilschutzkonzept, dann macht man sich darüber tagelang in der Öffentlichkeit mit Begriffen wie „Hamsterkäufe“ oder „Panikmache“ lustig. Dabei ist das Thema ernst und braucht dringend die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wir Freie Demokraten leisten heute einen Beitrag dazu. Natürlich kann man sagen: Etwas früher am Tage wäre auch schön gewesen. Aber wir haben uns bewusst dazu entschieden, das Thema nicht nur im Ausschuss zu diskutieren, sondern es in die Herzkammer des Parlaments, hier in den Plenarsaal, zu tragen, damit sich dieses Parlament auch einmal damit beschäftigt, wie wir den Katastrophenschutz und den Bevölkerungsschutz in Zukunft aufstellen wollen. ({0}) Bei vielen Gesprächen, auch mit Trägern, wird deutlich: Wir brauchen ein Konzept für die Risiko- und Krisenkommunikation, um die Bevölkerung auch über die Grenzen des Bevölkerungsschutzes in Krisenlagen zu informieren. Wir müssen für bestimmte Vorsorgemaßnahmen sensibilisieren. Und: Ja, das geht – ohne Panikmache und ohne Übertreibung. ({1}) Nur, wir müssen es eben auch tun und dürfen es nicht einfach ignorieren. Ein erster Schritt wäre, endlich eine konzeptunabhängige nationale Reserve für 50 000 Personen aufzubauen, ({2}) um den Bund im Falle einer Krisensituation sofort handlungsfähig zu machen. Das können wir und das müssen wir stemmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Unser Antrag hat viele gute Aspekte, nicht nur die Einführung eines gemeinsamen Messengerdienstes und eine verstärkte Fortbildung. Ein Punkt ist mir persönlich besonders wichtig: Wenn es nicht nur warme Worte für ehrenamtliches Engagement geben soll, dann müssen wir endlich dafür sorgen, dass es keine zwei Klassen von Ehrenamtlichen mehr gibt, ({4}) nämlich die einen, die freigestellt werden, und die anderen, die sich für ihr Engagement lang und breit rechtfertigen müssen. Wir brauchen bundeseinheitliche Gleichstellungsregeln für ehrenamtliche Helfer bei den verschiedenen Hilfsorganisationen. Neben ehrenamtlichen Helfern bei Feuerwehr und THW soll auch ehrenamtlichen Helfern der anderen Hilfsorganisationen ein Anspruch auf Freistellung von der Arbeit und auf Entgeltfortzahlung auch unterhalb des Katastrophenfalls eingeräumt werden. ({5}) Das ist ein Maß an Wertschätzung, das alle verdient haben, die Leib und Leben für uns riskieren. Wir freuen uns auf die Beratungen im Innenausschuss und wünschen uns, dass Sie unserem guten Antrag zustimmen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Herr Kollege Amthor, Sie sollten den Debattenbeiträgen der Kollegen intensiv folgen ({0}) und sich nicht lustig machen über die Vertretung. Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, die FDP ist beim Thema Bevölkerungsschutz mit Vollgas unterwegs, ({0}) sie ist mit vier Kollegen im Plenum anwesend.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, es sind sechs – wir wollen bei der Wahrheit bleiben. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Union steht ein für den Zivil- und Bevölkerungsschutz und für das integrierte Hilfeleistungssystem der Hilfsgesellschaft und der Hilfsorganisationen. Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dieses System unabdingbar auf der ehrenamtlichen Leistung von bundesweit weit über 1 Million Menschen fußt – einem europaweit einzigartigen System, einem System, das so weder der Staat noch, liebe FDP, die Privatwirtschaft zur Verfügung stellen könnte, einem System, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kein Selbstläufer ist, sondern ein System und ein Engagement, das immer wieder von neuem gepflegt werden muss. ({0}) Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag klare Vereinbarungen getroffen, um den Ehrenamtlichen ihre Tätigkeit organisatorisch, finanziell und rechtlich zu erleichtern und insbesondere berufliche oder andere praktische Hinderungsgründe zu beheben. Als CDU/CSU haben wir diese Ziele im vergangenen September mit einem Beschluss unseres Fraktionsvorstandes sowie als CSU im Bundestag mit einem umfassenden Beschluss auf der Frühjahrsklausur der Landesgruppe jeweils klar untermauert. Wir werden bürokratische Hürden für die Ehrenamtlichen weiter wirksam abbauen und unsinnige Regelungen streichen. Wir werden die Rechts- und Planungssicherheit für Vereine und freiwillige Organisationen weiter erhöhen ({1}) und die Anerkennung und Wertschätzung für das Ehrenamt in unserem Land weiter steigern. ({2}) Der Etat des THW ebenso wie der des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Allein in diesem Jahr konnten wir im parlamentarischen Verfahren das THW mit einem Sanierungsprogramm für seine Liegenschaften, mit der Neubeschaffung von Notstrom­aggregaten und der Förderung der THW-Jugend weiter unterstützen. Wir haben eine ganze Reihe von Stellen im BBK geschaffen. Auch im Bereich des ergänzenden Katastrophenschutzes haben wir gehandelt und mit einem Sofortprogramm 100 Millionen Euro zusätzlich für die Beschaffung von Fahrzeugen der freiwilligen Feuerwehren bereitgestellt. Wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gut funktionierendes System verbessern und nicht, wie die FDP, ein gut funktionierendes System in absoluter Ahnungslosigkeit schlechtreden. ({3}) Ihr Antrag – ich darf einen Satz zitieren – geht dahin, „eine konzeptunabhängige nationale Reserve aufzubauen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da führt überhaupt kein Weg hin, weil man so umfassende Unterbringungskapazitäten weder konzeptionslos noch ohne saubere Anbindung an die gesamte nichtpolizeiliche Sicherheitsarchitektur aufhängen kann. Das geht schon aus einem ganz einfachen Grund nicht: weil man nicht nur ans Material denken darf – man muss solche Kapazitäten auch personell untersetzen, und dabei stolpert man permanent über das Problem der Duplizitäten und der Mehrfachverwendung. Dann sprechen Sie von der Gleichstellung der Helfer im Katastrophenschutz. Sie haben nicht einmal verstanden, dass wir hier im Deutschen Bundestag keinen Katastrophenschutz machen, sondern dass das Länderaufgabe ist; die Gleichstellung der Helfer ist Länderaufgabe. Tun Sie mal was in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen! Folgen Sie dem Beispiel Bayerns bei der Gleichstellung der Helfer, und halten Sie nicht solche Reden hier! ({4}) Es geht hier um den Zivilschutz und nicht um den Katastrophenschutz. Aber noch schlimmer ist der Vorstoß aus einem anderen Grund. Wir haben bisher in der Frage Zivilschutz/Bevölkerungsschutz immer fraktionsübergreifend zusammengearbeitet. Die Uridee der Hilfsorganisationen, sie kennt keine Lager. Was diese Menschen brauchen, ist eine politische Geschlossenheit im Sinne dauerhafter Unterstützung ({5}) und nicht solche Reden, nicht solche Reden von einer Partei, die in Sonntagsreden das Hohelied des Ehrenamtes singt, sich aber jedes Mal, wenn es darum geht, die ehrenamtlichen Hilfsorganisationen und ihre freiwilligen Helfer vor ruinösen Wettbewerbseinflüssen zu schützen, querstellt. Wenn es darum geht, die Interessen gewerblicher Unternehmen, internationaler Konzerne zu fördern, Stichwort „Rettungswesen“, sind Sie jedes Mal mit dabei. Sie stellen sich jedes Mal quer, wenn es um den Schutz der Hilfsorganisationen geht. Ich zitiere nur einmal Ihren Kollegen Bornhöft, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Kieler Landtag: Die teilweise geforderte sehr enge Verknüpfung von Rettungsdienst mit dem Katastrophenschutz birgt die Gefahr, dass Leistungen des Rettungsdienstes nicht mehr wie bisher von den Krankenkassen getragen werden müssten. Die … Abgrenzung … wäre hinfällig … ({6}) Sie haben wirklich nichts verstanden vom integrierten Hilfeleistungssystem. Die Verzahnung ist notwendig, damit die Bereichsausnahme Rettungsdienst funktioniert und wir den Rettungsdienst vor Wettbewerbseinflüssen schützen können. Der Rettungsdienst ist integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lösen Sie ihn heraus, gefährden Sie das Gesamtsystem. Nicht das Mindeste haben Sie verstanden. Arbeiten Sie in den Ländern vernünftig mit, und geben Sie diese Obstruktionshaltung bei der Frage auf! Dann können wir hier vernünftig miteinander diskutieren. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Johannes Huber, AfD-Fraktion. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Knapp 2 Millionen Bürger sind in diesem Land ehrenamtliche Helfer. Sie sind die Helden des Alltags, die Tag für Tag die Bevölkerung schützen, indem sie Brände löschen, Unfallopfer retten oder, wie im Januar 2019 beim Katastrophenfall in Südbayern, umgestürzte Bäume aus dem Weg räumen, Lebensmittel in abgeschnittene Orte bringen und viele menschliche Katastrophen verhindern. Für diesen außerordentlichen Einsatz sind wir ihnen allen zu Dank verpflichtet. ({0}) Trotz des hohen gesellschaftlichen Stellenwerts haben die Blaulichtorganisationen oftmals mit massiven Nachwuchsproblemen zu kämpfen. Hinzu kommt der Investitionsstau beim THW. ({1}) Der Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes fordert, dass die vom Bund bereitgestellten Mittel mindestens verdoppelt werden. ({2}) Die Bundesregierung kommt also ihrer Aufgabe, den Katastrophenschutz der Länder mit entwickelter Ausstattung für den Zivilschutz zu unterstützen, nicht ausreichend nach und hat mit der Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes die Probleme sogar selber geschaffen. ({3}) Die Wiedereinführung wäre die Lösung. ({4}) Gleichzeitig bewegen wir uns dank der instabilen grünen Energiepolitik, die auch die FDP zu verantworten hat, immer näher hin zu einem Blackout. Am 10. Januar 2019 um 21 Uhr wäre es beinahe so weit gewesen. Die Stromfrequenz im europäischen Stromnetz sank nämlich deutlich unter 50 Hertz und damit kritisch nahe an die Grenze von 48 Hertz heran. Nach dem „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2014“ hätte das fatale Folgen gehabt. Wenn der Strom auch nur bei circa 6,3 Millionen Bürgern ausfällt, hätten wir ungefähr 1 000 Tote zu beklagen – auch weil 300 000 Bürger nach drei Wochen noch immer keinen Strom hätten. ({5}) Im Jahr 2018 mussten österreichische Gasturbinen sogar exakt an 100 Tagen die Netzstabilität aufrechterhalten. Die beste Krisenvorsorge ist also eine Umkehr von der „dümmsten Energiepolitik der Welt“, die die deutsche Bundesregierung laut „The Wall Street Journal“ betreibt. ({6}) Anstatt sich um die Versorgungssicherheit der Bürger zu kümmern, möchte der CSU-Politiker Manfred Weber, sollte er zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt werden, alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um die im Bau befindliche Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen. Wir wissen aus der LÜKEX-Übung 2018 – auch Die Linke –, dass vor allem Privathaushalte nicht auf eine Gasmangellage vorbereitet sind. ({7}) Diese unwürdige Machtspiel Webers gefährdet den Schutz der deutschen Bevölkerung, und das lehnen wir ab. ({8}) Angesichts dieser Lage ist der FDP-Antrag jetzt nur ein halbherziger Versuch, das Thema anzusprechen. Sie erkennen, dass die NATO für Krisensituationen Betreuungsplätze für 2 Prozent der Bevölkerung vorhält. Das sind 1,6 Millionen. Was wollen Sie? Sie wollen Material-, Lebensmittel- und Medikamentenreserven für 50 000 und eine ortsunabhängige Betreuungseinrichtung für 15 000. Das reicht noch nicht einmal für Ihre eigenen Mitglieder. Aber zumindest kann man Ihnen hier keine Klientelpolitik vorwerfen. ({9}) Stattdessen möchten Sie neue Migranten für diese Aufgaben begeistern. ({10}) Unabhängig davon, dass die Einwohner, die es mit Deutschland ernst meinen, keine Absenkung kultureller und sprachlicher Hürden, die Sie fordern, brauchen, prangern Sie den Respektverlust gegenüber den Einsatzkräften an. Haben Sie den Fehler bemerkt? Sie wollen jene, die unsere Sanitäter vermehrt angreifen, jetzt zu Sanitätern machen. ({11}) Asylbewerber, die unsere Rettungskräfte angreifen, haben unsere Solidarität mit Sicherheit nicht verdient. ({12}) Ich kann Ihnen zu dieser glorreichen Idee aber auch ein ganz konkretes Beispiel nennen: Der Geschäftsführer des Arbeiter-Samariter-Bundes in Hannover sitzt gerade in Haft und wird beschuldigt, von den 8 Millionen Euro, die das BMI den Samaritern in der Migrationskrise pauschal zur Verfügung gestellt hat, ({13}) ganze 3,5 Millionen Euro auf Konten im Libanon veruntreut zu haben. Der Schutz der Bevölkerung scheint für die Spitze des Arbeiter-Samariter-Bundes also nicht die erste Priorität zu haben. ({14}) Ansonsten hätte sich der Vorsitzende des Verbandes und SPD-Europaabgeordnete Knut Fleckenstein – den kennen Sie – auch nicht geweigert, Erste-Hilfe-Kurse für AfD-Mitarbeiter im Deutschen Bundestag abzuhalten. Bei der SPD findet man sogar unbarmherzige Samariter. Zuletzt an Herrn Strasser gerichtet: Hören auch Sie bitte auf, mit Ihren Kleinen Anfragen Menschen, die in berechtigter Sorge Wasservorräte anlegen, gleich als Rechtsextreme zu verdächtigen. ({15}) Das wäre ein großer Beitrag zum Bevölkerungsschutz. Vielen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin erhält das Wort für die SPD-Fraktion die Kollegin Elisabeth Kaiser. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen in der Politik oft und gerne das Wort „Ehrenamt“ im Mund. Deswegen möchte ich gleich zu Beginn sagen: Ehrenamtliches Engagement ist nicht selbstverständlich, insbesondere im Zivil- und Katastrophenschutz nicht. Unser Gemeinwesen und unsere Sicherheit sind auf diese Freiwilligen angewiesen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für deren Engagement unbürokratisch gestalten. Insbesondere die Menschen, die sich für andere einsetzen, verdienen unseren größten Respekt und unsere größte Anerkennung. In einer Gesellschaft, in der der Respekt gegenüber Einsatzkräften zunehmend bröckelt, ist es besonders geboten, diejenigen zu schützen, die durch ihr Ehrenamt unser Leben schützen. An dieser Stelle geht mein herzlicher Dank an alle Engagierten. ({0}) Seit einiger Zeit bin auch ich im THW engagiert und aktiv und auch im engen Austausch mit Feuerwehren und Rettungsdiensten. Dadurch konnte ich mich selbst davon überzeugen, wie viel Leben die unzähligen Freiwilligen tagtäglich schützen und retten. Das wissen in unserer Bevölkerung aber leider nur sehr wenige. Dass der Lebensretter der Nachbar sein kann, ist vielen nicht bewusst, genauso wenig wie die Tatsache, selbst Vorsorge für Krisenfälle treffen zu müssen. Deshalb gilt es nicht nur, Anerkennung und Respekt gegenüber den Engagierten im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz zu zeigen, sondern auch, die Bevölkerung mehr für dieses Thema zu sensibilisieren und entsprechend aufzuklären. Damit muss schon in der Schule begonnen werden, zum Beispiel mit der Befähigung zu lebensrettenden Maßnahmen im Rahmen der Ersten Hilfe. Aber das kann natürlich nur ein Grundstein sein, und mit der Schule darf das Thema in der Bevölkerung nicht abgeschlossen sein. ({1}) Weil wir gerade bei der Schule sind: Es ist richtig und wichtig, schon früh damit zu beginnen, junge Menschen für Krisensituationen zu sensibilisieren und für das Ehrenamt bei der Feuerwehr, beim THW, beim DRK und bei anderen lebensrettenden Organisationen zu gewinnen; denn dieser Nachwuchs schafft Sicherheit für alle in der Zukunft. Die jungen Helferinnen und Helfer brauchen aber auch gute Ausbilder mit Erfahrung. Deshalb sollten sie nicht auf das Know-how der fitten Alten verzichten müssen. Flexibilisierung in diesem Bereich heißt: Wer sich weiter im Ehrenamt engagieren will, soll nicht vor der Rentenschranke stehen bleiben müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem Gewinnen der Jungen und dem Halten der Alten brauchen wir noch mehr Freiwillige, die mitten im Leben stehen. Für Menschen im mittleren Lebensalter müssen wir deshalb noch bessere Anreize schaffen. Es gibt Zielgruppen, die wir bisher nur wenig angesprochen haben. Ich meine gerade auch Migrantinnen und Migranten und Frauen allgemein. Dafür brauchen wir neue Konzepte, einen Sprung über die Vorurteile hinweg, eine leichtere Anerkennung von Qualifikationen und eine Werbekampagne, die auf diejenigen abzielt, die uns bisher fehlen. Die ehrenamtlich Tätigen erwarten aber auch, dass die Politik dafür starke Strukturen hinter den Organisationen etabliert, in denen sie tätig sind. Wir haben mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, BBK, eine schlagkräftige Behörde zur Krisenbewältigung, die sich schon oft bewährt hat. Trotzdem gilt es, festzuhalten, dass sich die Herausforderungen im Zivil- und Katastrophenschutz ständig ändern. Krisenlagen, wie Terrorattacken, Cyberangriffe, Klimakatastrophen und Pandemien – ich könnte noch viele aufzählen –, wandeln sich, und neue kommen hinzu. Deshalb müssen wir mit den zuständigen Stellen entsprechend reagieren und am Ball bleiben. Einiges haben wir in den letzten Jahren bereits auf den Weg gebracht; aber es gibt auch noch einiges zu tun. Deswegen ist auch der Debattenaufschlag von der FDP gar nicht so verkehrt. ({2}) Wir haben uns interfraktionell darauf verständigt, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zügig zu einem Bericht über die Krisenlagen in den zuständigen Innenausschuss einzuladen. ({3}) So wollen wir uns auch über die aktuelle Situation und die neuen Herausforderungen ein Bild machen; denn unsere Aufgabe ist es, für flexible Strukturen und Konzepte für den Bevölkerungsschutz zu sorgen und diese dann auch schnell in Gang zu bringen. Die erheblichen Haushaltsaufstockungen und Stellenschaffungen im letzten Jahr in diesem Bereich zeigen, dass die Regierungsfraktionen diese Aufgaben richtig einschätzen und anpacken.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie so oft in der Politik stehen wir vor neuen Herausforderungen, die wir tatkräftig anpacken wollen, und das sollten wir gerne auch gemeinsam tun. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kaiser. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ehrenamtlich Engagierten sind die Stützen des Katastrophen- und Bevölkerungsschutzes. Der Anteil von Ehrenamtlichen in den Rettungs- und Hilfsorganisationen unseres Landes beträgt 94 Prozent. Das sind circa 1,8 Millionen freiwillige Helferinnen und Helfer. Herr Strasser hat eben sogar eine noch höhere Zahl genannt. Fakt ist: Was diese Menschen leisten, ist wesentlich mehr als nur eine Unterstützung des Staates bei der Erledigung seiner Kernaufgaben. ({0}) Ein wirksamer Katastrophenschutz ohne das Engagement der zahlreichen Freiwilligen bei den Feuerwehren, den privaten Hilfsorganisationen oder beim Technischen Hilfswerk ist schlichtweg undenkbar. Diesen Menschen, die viele Stunden ihrer Freizeit für andere opfern, gebühren unser Dank und unsere Anerkennung. ({1}) Der demografische Wandel stellt das Ehrenamt im Zivil- und Katastrophenschutz aber auch vor neue Herausforderungen. Insbesondere im ländlichen Raum macht sich neben den Folgen einer alternden Gesellschaft der Wegzug vor allem junger Menschen in die Metropolen bemerkbar. Hinzu kommt eine Situation auf dem Arbeitsmarkt, bei der von den Beschäftigten eine immer größere zeitliche Verfügbarkeit und räumliche Flexibilität erwartet werden, und leider sind auch nicht alle Arbeitgeber bereit, ehrenamtliche Einsätze zu unterstützen. Damit Feuerwehren und Hilfsorganisationen angesichts dessen ausreichend Nachwuchs finden können, braucht es eine staatlich unterstützte Offensive, um Menschen auch in Zukunft für ein ehrenamtliches Engagement begeistern zu können. ({2}) Dabei geht es im Übrigen nicht nur darum, die Funktionsfähigkeit des Katastrophenschutzes sicherzustellen. Es gibt auch einen wichtigen sozialen Aspekt. In vielen ländlichen Gebieten – ich komme selber aus einer solchen Region – ist die freiwillige Feuerwehr oft der letzte Ort, an dem überhaupt noch gesellschaftliches Leben stattfindet. Hier werden Werte wie Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt konkret gelebt, werden schon Kinder und Jugendliche an sinnvolle Aktivitäten herangeführt sowie Orts- und Vereinsfeste organisiert. Bei der Förderung des Ehrenamtes geht es daher nicht nur um den Erhalt der Sicherheit und der Hilfe, sondern auch um die Unterstützung einer Kultur des demokratischen und solidarischen Miteinanders in unserem Land. ({3}) Meine Damen und Herren, die demografische Situation erfordert auch eine größere Diversität bei den Feuerwehren und Rettungsorganisationen. Nach wie vor sind Frauen, Senioren und Menschen mit Migrationsgeschichte weit unterrepräsentiert. Der Frauenanteil beim Technischen Hilfswerk liegt bei etwa 10 Prozent. Bei den Feuerwehren liegt er im Bundesdurchschnitt sogar bei nur 7 Prozent, und von den Personen mit Migrationshintergrund, die sich ehrenamtlich engagieren, sind lediglich 3 Prozent im Bereich der Rettungsdienste und Feuerwehren tätig. Hier ist ein Strategiewechsel hin zu einer interkulturellen Öffnung und einer größeren Beteiligung von Frauen dringend erforderlich. ({4}) Ein ausreichendes Schutzniveau im Unglücksfall erfordert auch, dass die Hilfs- und Rettungskräfte gut ausgestattet sind. Hierbei ist es unbedingt erforderlich, dass der Bund seine Hausaufgaben im Bereich der ergänzenden Unterstützung des Katastrophenschutzes erledigt. Derzeit scheinen vor allem die Feuerwehren nicht ausreichend ausgerüstet zu sein, um die Bevölkerung bei einer Großschadenslage, wie einem Chemieunfall, schützen zu können. Das sagen nicht wir, sondern das sagt Helmut Ziebs, der Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes. ({5}) – Hartmut; völlig richtig. – Laut Hartmut Ziebs müssten die vom Bund bereitgestellten Mittel für Neuanschaffungen auf dem Gebiet des Zivil- und Katastrophenschutzes von aktuell 50 Millionen Euro pro Jahr mindestens verdoppelt werden, um den Investitionsstau in diesem Bereich halbwegs aufzulösen. Ich finde das alarmierend. ({6}) Ich finde es nicht richtig, dass sich der Bund immer mit der sogenannten Kompetenzverteilung nach dem Grundgesetz herausredet und sagt, er sei eigentlich gar nicht zuständig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich glaube, eine derartige Herangehensweise missachtet die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes für den Bevölkerungsschutz. Man sollte sich nicht dahinter verschanzen. Die Linke wird weiter hartnäckig darauf drängen, dass der Bund seine Verpflichtungen wahrnimmt, und ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss zu einem in vielen Punkten durchaus guten Antrag der FDP. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als nächste Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir fordern es seit langem: Das Ehrenamt im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe muss dringend gestärkt werden, und deshalb haben wir auch schon vor zwei Jahren viele konkrete Vorschläge genau zu diesem Thema gemacht und auch einen umfangreichen Antrag hier im Haus vorgelegt. Deshalb ist es gut, dass wir das Thema heute anhand Ihres Antrags auch noch mal beraten können; denn in vielen Punkten sind wir uns grundsätzlich einig. ({0}) Über 90 Prozent der Kräfte in den Organisationen – diese Zahl ist eben schon gefallen – arbeiten ehrenamtlich, und dieses Engagement kann man gar nicht hoch genug wertschätzen. Um diese Struktur beneiden uns übrigens auch viele europäische Länder; denn dadurch ist gewährleistet, dass auch das entlegenste Dorf durch eine freiwillige Feuerwehr geschützt wird. Eine so ausgebaute Struktur gibt es sonst nirgends. Aber dieses System steht seit einiger Zeit massiv unter Druck. Der demografische Wandel, den der Kollege Hahn vorhin angesprochen hat, aber auch die Landflucht oder auch veränderte Lebensentwürfe von jungen Menschen machen es jungen Menschen immer schwerer, sich wirklich freiwillig zu engagieren. Die Bundesregierung hat darauf bis heute keine Antwort. Dabei kommt sie ja selber in ihrer Konzeption Zivile Verteidigung zu dem Schluss, dass die Leistungsfähigkeit des ehrenamtlichen Systems unter diesen Vorzeichen massiv gefährdet ist. Passiert ist seitdem praktisch nichts. ({1}) Herr Kuffer, ich habe in Ihrer Rede ganz oft „Wir werden …“, „Wir werden …“, „Wir haben dieses, wir haben jenes beschlossen“ gehört. „Wir machen“ wäre mal gut. ({2}) Dazu kommt: Es wird lieber auf die Länderzuständigkeit beim Katastrophenschutz verwiesen, anstatt dort, wo es geht, selbst Verantwortung zu übernehmen. Das muss sich dringend ändern. Neben der ergänzenden Ausstattung für die Länder bei der Modernisierung der Einsatzfahrzeuge brauchen wir eben auch ein umfassendes Konzept zur Förderung des Ehrenamts. Wir müssen dabei auch über die Öffnung der Blaulichtorganisationen für Gruppen reden, die dort bisher wenig vertreten sind. Wie können wir denn zum Beispiel mehr Frauen für die freiwillige Feuerwehr gewinnen ({3}) oder mehr Menschen mit Migrationshintergrund für das Technische Hilfswerk begeistern? Meine Damen und Herren, die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz ändern sich. Wir müssen dringend darauf reagieren, und die von der FDP beschriebenen Veränderungen der Sicherheitslage sind ja auch nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen; das will ich noch mal ausdrücklich sagen. Aber die größte Herausforderung lassen Sie in Ihrem Antrag ebenfalls außen vor, und zwar die Klimakrise. ({4}) Das wundert mich jetzt nicht; das Thema ist halt was für Profis. Deswegen sage ich Ihnen: Durch die Folgen der Klimakrise haben sich die Bedingungen grundlegend verändert. Schauen Sie sich alleine mal die letzten fünf Jahre an: Starkregenfälle und Hochwasser, Stürme, Hitze, Trockenheit und zuletzt die extremen Schneefälle. Auch die Feuerwehren sagen Ihnen, wenn Sie mit ihnen sprechen, dass solche Ereignisse schon jetzt einen Großteil aller Einsätze auslösen. ({5}) Deswegen ist es richtig und wichtig, dieses Thema genau in den Blick zu nehmen. ({6}) Darüber hinaus ist auch der Ausbau der Vorsorgestrukturen wichtig. Sie benennen in Ihrem Antrag die Schwierigkeiten, die es bei der Unterbringung und Versorgung vieler geflüchteter Menschen gegeben hat. Das ist auch völlig richtig. Diese Aufgabe konnte seinerzeit nur unter erheblichen Kraftanstrengungen der Hilfsorganisationen gelöst werden, und das – das muss man auch sagen – unter ansonsten stabilen Bedingungen. Stellen wir uns mal vor, dass die kurzfristige Unterbringung von so vielen Menschen mit einem großen Schadensereignis zusammengefallen wäre: Das System wäre kollabiert. Das muss man einfach mal so sagen. Daher ist die Forderung, entsprechende Reserven zu schaffen und bereitzustellen, völlig richtig. ({7}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung darf das Thema Bevölkerungsschutz nicht mehr so stiefmütterlich behandeln und schon gar nicht immer mit dem Finger auf die Länder zeigen. Die Länder und Kommunen dürfen mit dieser wichtigen Frage nicht alleingelassen werden, und den Freiwilligen muss dringend mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden; denn die Frage des Bevölkerungsschutzes ist eine Frage der öffentlichen Sicherheit. Behandeln wir sie auch so! Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU-Fraktion, und die Kollegin Svenja Stadler, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Deshalb erteilte ich als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt dem Kollegen Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Selbst in dieser doch sehr wichtigen Debatte schaffen es die Kollegen der AfD, der Linken und der Grünen mal wieder, Ideologie reinzubringen und vom eigentlichen Thema komplett abzulenken. Das finde ich wirklich schade. Naturkatastrophen wie im Jahr 2013, das Hochwasser, extreme Wetterlagen im Winter, die ganze Dörfer tagelang von der Außenwelt abschneiden, oder auch großflächige Stromausfälle gehören mittlerweile zu unserem Alltag. Wir haben uns daran gewöhnt, dass THW, Feuerwehr und viele zivile Akteure uns schnell und professionell aus diesen Lagen befreien und Hilfe leisten. Bestes Beispiel ist der jüngste Stromausfall hier in Berlin, in Köpenick, von dem 30 000 Haushalte betroffen waren. Das THW versorgte Krankenhäuser mit Notstromaggregaten, die Feuerwehr brachte warmes Wasser, der Katastrophenschutz verteilte Lebensmittel. Dafür möchte ich an dieser Stelle all den dort eingesetzten Kameradinnen und Kameraden einen herzlichen Dank auch im Namen meiner Fraktion aussprechen. ({0}) Liebe FDP und eigentlich auch fast alle anderen, Bevölkerungs- und Katastrophenschutz ist für uns in der Union sehr wichtig und kein bloßes Lippenbekenntnis, wie es uns hier eben vorgeworfen wurde. Dazu vielleicht mal ein paar Zahlen – die hätten Sie auch nachlesen können –: Wir haben das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in den Jahren von 2017 bis 2019 mit fast 5 Millionen Euro an zusätzlichen Mitteln ausgestattet, wir werden in diesem Jahr 22 zusätzliche Stellen schaffen, der Bund stellt insgesamt 160 Millionen Euro für die Beschaffung von Einsatzfahrzeugen für die Kommunen zur Verfügung – mein Kollege Kuffer hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass die Länder und die Kommunen primär dafür zuständig sind –, und wir haben die THW-Jugend mit zusätzlich 290 000 Euro ausgestattet. Sie wissen es: Der Präsident der THW-Bundesvereinigung ist Mitglied unserer Fraktion. ({1}) Darüber hinaus stellen wir die Förderung des Ehrenamtes im BBK heraus; das ist ja eigentlich das Thema dieser Debatte. Wir stellen nämlich zusätzlich zu den bereits vorhandenen Mitteln eine halbe Million Euro mehr zur Verfügung – explizit zur Förderung des Ehrenamtes im BBK. Wenn wir übrigens über Bevölkerungs- und Katastrophenschutz reden – darauf ist eigenartigerweise keiner von Ihnen eingegangen –, dann dürfen wir natürlich auch die Bundeswehr und die zivil-militärische Zusammenarbeit nicht vergessen. ({2}) Ich selbst bin Mitglied in der Reservistenkameradschaft Halle, und ich kann mit Stolz sagen, dass die Kameradinnen und Kameraden vor Ort in der Lage wären, jederzeit jede Form von ziviler und auch nichtziviler Einsatzlage zu unterstützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ehrenamtliches Engagement in Deutschland funktioniert nicht, wie schon erwähnt, ohne die circa 1,7 Millionen Helferinnen und Helfer – diese Zahl habe ich gehört –, die im Zivil- und Katastrophenschutz tätig sind. Doch es gibt Situationen, in denen selbst die beste Technik nichts hilft und in denen auch die Helfer nicht rechtzeitig vor Ort sein können. Für diese Fälle empfiehlt zum Beispiel das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, permanent mindestens 14 Liter Wasser pro Person, mehrere Kilogramm haltbare Lebensmittel, Kerzen, Medikamente, Verbandsmaterial und diverse Hygieneartikel für mindestens zwei Wochen zu Hause vorrätig zu halten. Ich hätte Ihnen jetzt gern die dazu erstellte Broschüre „Katastrophen-Alarm“ gezeigt, aber mir wurde gesagt, das sei vom Präsidenten nicht so gern gesehen, und dem folge ich natürlich. Also: Der beste Schutz vor einer Katastrophe ist immer noch, sich selbst zu schützen. Für alle anderen Fälle haben wir unsere Helferorganisationen. Als letzten Gedanken möchte ich gerne noch sagen: Ich möchte den Unternehmen danken, die es möglich machen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich genau in diesem Bereich betätigen, für viele Übungen und für Weiterbildungen freizustellen. Mein Appell gilt den Unternehmen, die es noch nicht tun: Sie sollten Ihre Meinung vielleicht noch mal überdenken. – Damit beende ich diese Debatte. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, herzlichen Dank. – Sie haben Ihre Rede beendet. Die Debatte beende ich. Mit diesen Worten schließe ich jetzt die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8541 an den Ausschuss für Inneres und Heimat vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind hier um kurz vor Mitternacht zusammengekommen – nach einem 15‑stündigen Sitzungstag –, um einen Antrag der Linken zu debattieren. ({0}) Ich hoffe, das steht in Übereinstimmung mit Ihren Vorstellungen von Arbeitszeit und Gesundheit; jedenfalls ist es ein ernstes Thema. Es geht um die historische Aufarbeitung der deutschen Verantwortung in Namibia. Diese Verantwortung ist groß, und Deutschland nimmt sie sehr ernst. Ihr Antrag trägt den Titel „Versöhnung mit Namibia“. Das ist an sich erst mal gut. Ich will nachher noch beleuchten, ob Sie das auch wirklich meinen. Im Jahr 2015 wurden unter dem seinerzeitigen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Sonderbeauftragte, nämlich der vormalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Ruprecht Polenz auf deutscher Seite und Dr. Ngavirue auf namibischer Seite, eingesetzt, um diesen strukturierten politischen Dialog zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit – der dunklen kolonialen Vergangenheit – gemeinsam auf den Weg zu bringen. Ich betone „gemeinsam“; das ist ein Dialog der Regierungen. Von namibischer Seite steht er allen beteiligten und insbesondere den betroffenen Gruppen offen; es machen aber nicht alle Gruppen mit. Ich würde diejenigen – das richte ich jetzt mal an die Fraktion Die Linke –, die im Moment nicht dabei sind, sehr ausdrücklich bitten und ermutigen und ermuntern, sich dort, nämlich unter dem Dach der Regierung, die allen betroffenen Gruppen offen gegenübersteht, einzufinden und an diesem Dialog teilzunehmen. ({1}) – Sie wollen nicht. ({2}) – Ich kann Ihnen mal Folgendes sagen: Es geht – auch in Ihrem Antrag – um die Unterscheidung zwischen dem, wovon wir überzeugt sind, nämlich dass es sich um eine politisch-moralische Angelegenheit handelt, und der Tatsache, dass Sie und auch Herr Rukoro weiterhin vollkommen ohne jede Chance und auch ohne jede Berechtigung von einem rechtlichen Prozess sprechen. Zum dritten Mal ist vor einem New Yorker Gericht die Klage abgewiesen worden – nicht nur wegen der Immunität der Staaten, sondern offensichtlich auch wegen der Unbegründetheit dieses Antrages, insbesondere wegen des Rückwirkungsverbotes in Bezug auf die UN-Völkermordkonvention von 1948. Ihr Partner – wenn ich Herrn Rukoro so nennen darf – sagt – ich zitiere jetzt mal aus dem, was ich den Medien entnommen habe –: „… der Krieg geht weiter …“. Ich bin nicht ganz sicher, ob es mit der Terminologie „… der Krieg geht weiter …“ gelingt, Versöhnung zu stiften. ({3}) Insofern bitte ich Sie sehr herzlich, diesen Herrn Rukoro dort einmal einzubinden. Ich hoffe, dass wir diesen Dialog nach unterdessen neun Verhandlungsrunden vielleicht noch vor den Wahlen in Namibia im November dieses Jahres erfolgreich abschließen können. Es wird an eine Stiftung für Erinnerungskultur gedacht. In anderen Teilen Deutschlands – namentlich zum Beispiel von der grünen Wissenschaftsministerin in Baden-Württemberg, Theresia Bauer – sind übrigens schon wichtige Initiativen auf den Weg gebracht worden, etwa die Rückgabe der Bibel von Hendrik Witbooi – das liegt wenige Tage zurück –, die dort mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurde. Ich glaube, diese Rückgabe ist ein sehr wichtiger symbolischer Schritt gewesen, so wie übrigens auch die Rückgabe in einem noch viel sensibleren Bereich, nämlich die Rückgabe menschlicher Gebeine. Wir wollen uns mit dieser Stiftung für Erinnerungskultur auf einen gemeinsamen Weg machen, um ein gemeinsames historisches Verständnis und auch eine gemeinsame Sprache über das Geschehene – auch das schreckliche Geschehene –, für das Deutschland Verantwortung zu übernehmen hat, zu finden. Das ist ein wichtiger Weg. Ich glaube, wir können dazu vieles tun, beispielsweise – das ist auch vorgesehen – den Austausch zwischen Parlamentariern und auch den Austausch zwischen jungen Menschen zu fördern. Ich selber bin im Parlament Vertreter des Deutsch-Französischen Jugendwerkes. Wir haben in diesem Zusammenhang jahrzehntelange sehr gute und wertvolle Erfahrung zur Aussöhnung gefunden. Ich denke, diese Analogie können wir dorthin übertragen. Der Austausch junger Menschen ist sicher ein ganz wichtiger Punkt. Schauen wir auf schon bestehende Initiativen. Ich will nur eine nennen, nämlich das Schuldorf Otjikondo, einen vormaligen Besitz aus der Familie von Trotha, von der die schrecklichen Taten auch herrühren. Dort ist eine Grundschule eingerichtet worden, an der 250 Kinder erfolgreich unterrichtet werden. Sie gehört zu den besten Grundschulen im ganzen Land. Das sind beispielhafte Projekte nicht nur historischer Versöhnung, sondern auch mit Blick in die Zukunft, der unsere gemeinsamen Beziehungen stärkt. Ich finde, daran sollten wir zusammen weiter arbeiten, alle zusammen. Selbstverständlich werden wir Ihren Antrag ablehnen. Sie können dem zuvorkommen – das hielte ich für sinnvoller –, indem Sie ihn zurückziehen und diejenigen, mit denen Sie zusammenarbeiten, auffordern, unter dem Dach der namibischen Regierung den Versöhnungsdialog weiter auf guten Weg zu bringen, damit wir erfolgreich zu einem Abschluss kommen, vielleicht noch vor den Wahlen im November dieses Jahres. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Goethe sagte: Es waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, dass die Summe unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern dass immer ein wunderlicher Bruch übrig bleibe. Dieser Bruch kann auch als Wertebruch in unserem Empfinden, in unseren Handlungen und in unserer Kultur definiert werden. Für die weitere Beurteilung ist es wichtig, dass wir uns im zeitlichen, sozialen und umfeldbedingten interkulturellen Kontext dieser Geschichte nähern. Das schließt definitiv die Sichtweise von Herrn Adorno, Frankfurter Schule, aus, der gesagt hat, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Denn es gibt sehr wohl Richtiges im Falschen: Genau daraus nehmen wir die Kraft und die Hoffnung für die Zukunft, und es ist die Basis unserer christlichen Wertegemeinschaft. Alles in allem leiten wir aus diesen Erkenntnissen ab, dass wir eine differenzierte Betrachtung dieser historischen Ereignisse vornehmen müssen. Denn wir wollen damit verhindern, dass es 51 Jahre nach 1968 mit dem Hamburger Denkmalsturz, dem Sturz des Denkmals von Hermann von Wissmann, wieder zu einer vereinheitlichten Anprangerung deutscher Geschichte kommt und damit zu einer eventuell folgenden unkontrollierten Namensänderungswut, der Änderung der Namen von Plätzen und Straßen in deutschen Städten. Auch im Falschen erscheint oft Gutes. Ich leite damit über zu Hermann von Wissmann, Gouverneur in Deutsch-Ostafrika, der 1895 sagte: Man soll Religion, Sitten und Bräuche des Afrikaners strengstens respektieren. Der Afrikaner soll erkennen, dass wir ein Herz für ihn haben. – Von Wissmann selbst wird von Afrikanern als großer Afrikaner bezeichnet. Dazu kommt: Die Araber betrieben im Osten Afrikas Plantagen mit afrikanischen Sklaven. Das Deutsche Kaiserreich entschloss sich, einzugreifen und den Sklavenhandel zu beenden. Also gab es neben der funktionierenden Land- und Viehwirtschaft der deutschen Siedler in einem funktionierenden Wirtschaftsraum doch auch Gutes. Die deutsche Kolonialzeit startete auch nicht mit kaiserlichen Eroberungskriegen – die lehnte Bismarck nämlich ab –, sondern das geht zurück auf deutsche Kaufleute wie Adolf Lüderitz, die in Afrika eine Chance für ihre Zukunft sahen. 1904 kam es zu Übergriffen auf die deutschen Farmer durch die Hereros, ausgehend von dem Herero-Anführer Samuel Maharero, der sagte: Tötet alle Deutschen! – Frau Sommer, als was genau beurteilen Sie diesen Aufruf? Die Verfolgung der Hereros wurde von circa 1 500 deutschen Soldaten durchgeführt. Das Einsatzgebiet war so groß wie die Schweiz. Die Hereros befreiten sich aus einer Zangenbewegung. Im Laufe der Gefechte und der Verfolgung kam eine ungewisse Zahl von Hereros ums Leben. Es gibt keine verlässlichen Zahlen. Ich möchte anmerken, dass jedes verlorene Leben auf beiden Seiten ein Leben zu viel ist, unentschuldbar und auf beiden Seiten. Ich komme zur Schuldfrage. Trägt die Bundesrepublik die Schuld? Politisch wurde das mehrfach positiv beantwortet. Juristisch kann man diese Frage nicht anders beantworten, als sie bereits beantwortet wurde. Juristische Maßstäbe unterliegen dem Wandel der Zeit. Aber das Recht des 21. Jahrhunderts kann nicht – mehr als 110 Jahre – in die Geschichte zurückgeführt werden. Darüber hinaus beklagen sich die Hereros, dass die Regierung in Namibia ihnen keine deutschen Entwicklungsgelder zukommen lässt. Es ist also auch ein internes Problem, das nun auf offener Bühne politisch instrumentalisiert wird. Kommen wir, da es die Linken direkt betrifft, zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Wir brauchen kein tief rückwärtsgewandtes, einseitig betrachtendes deutsches Kolonialzeitverächtungsdenkmal – wie übrigens von Ihnen gefordert –, weil es in keiner Weise der Geschichte gerecht wird. Frau Sommer, Die Linke setzt sich gerne mit der Vergangenheit auseinander. Als Nachfolgepartei der SED haben sich Teile Ihrer Partei 1990 und 2014 ebenfalls politisch entschuldigt, entschuldigt für die Drangsalierungen, Misshandlungen und Tötungen bei den Bürgern der ehemaligen DDR – politisch, nicht juristisch. Ich zitiere aus n‑tv vom 8. November 2014: Gleichzeitig mahnt die Partei – Die Linke – jedoch auch, dass die Realität in der DDR komplexer gewesen sei, als sie heute oft dargestellt werde. Und weiter: Die Unterzeichner wenden sich zugleich gegen eine „Schwarz-Weiß-Malerei“ bei der Erinnerung an die DDR, die dem Land und den Menschen überhaupt nicht gerecht werde. Genau das, Frau Sommer, wäre auch der richtige Maßstab für die Beurteilung der Geschichte in Namibia. Deutschland will auf der ganzen Welt Frieden schaffen und nimmt sich immer wieder jeder Schuld an. Unbewusst wird das zu einer Reflexhandlung, und die schadet unserer gesunden Zukunft. ({0}) Um den Frieden in der Welt zu wahren und um unser Volk zu einen, hat Deutschland mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag die bestehenden Grenzen nach 1945 angenommen und somit eben auch Vertreibung und Unrecht an Deutschen ertragen. Das machen wir mit Blick in die Zukunft, die eben auch vergeben und verzeihen muss. Genau das schafft Frieden in der Welt – und eben keine politischen Forderungen, die ideologisch getrieben sind. Denn das tritt die Opfer mit Füßen, und das entweiht das Gedenken. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Kollegin Gabi Weber, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Deshalb wird der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion, jetzt das Wort erhalten. ({1})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um das koloniale Erbe, die Verantwortung Deutschlands, beschäftigt uns nicht zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode, und das ist auch gut so. Wir debattieren hier über deutsche Verbrechen der Vergangenheit, denen nach Schätzungen bis zu 100 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Das gehört eigentlich in die Kernzeit dieses Hauses. Auch wir als Parlament müssen den Anspruch haben, den Nachkommen der Opfer des deutschen Kolonialismus die Anerkennung unserer moralischen Schuld auszusprechen. ({0}) Die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit darf nicht beim Holocaust enden, sondern muss sich auch mit den brutalen und menschenverachtenden Verbrechen der Kolonialzeit befassen. ({1}) Das müssen wir mit aller Sachlichkeit tun. Die zwischen 1904 und 1908 in Namibia begangenen Gräueltaten können juristisch nicht als Völkermord anerkannt werden; denn die UN-Völkerrechtskonvention wurde erst 40 Jahre nach diesen Verbrechen verabschiedet. Das haben die Gerichtsverfahren, die Vertreter der Herero und Nama gegen die Bundesrepublik geführt haben, deutlich gezeigt. Das zu fordern, wie es die Linken hier in ihrem Antrag tun, treibt einen Keil in die Versöhnungsverhandlungen. ({2}) Alle Demokraten in diesem Haus sind sich doch einig: Unsere moralische Schuld und Verantwortung aufgrund der begangenen Verbrechen, die wir heute Völkermord nennen würden, nehmen wir sehr ernst, und wir erkennen sie an. Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundesregierung gerade den so notwendigen Versöhnungsprozess mit aller Ernsthaftigkeit nach dem Ende der gerichtlichen Verfahren wieder führt. Es ist richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Namibia so aktiv ist. Es ist richtig, dass Namibia die höchste Pro-Kopf-Entwicklungshilfe in ganz Subsahara-Afrika erhält. Es ist richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen des Versöhnungsprozesses weitere Mittel zur Verfügung stellen will, die wir zum Beispiel in Austauschprogramme auf unterschiedlichsten Wegen investieren sollten. Damit kommen wir unserer Verantwortung insbesondere gegenüber den Herero und Nama nach, und das unterstützen wir ausdrücklich. Wir sehen die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen Deutschlands als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Der Weg der Verhandlungen wird noch ein langer sein. Allein die Rückgabe von Kulturgütern an die ­Herero und Nama gestaltet sich äußerst schwierig; das durfte das Land Baden-Württemberg gerade erst feststellen. Denn eine Rückgabe dieser Kulturgüter, beispielsweise menschlicher Gebeine, an die namibische Regierung lehnen beide Volksgruppen ab. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Thema für beide Gruppen ein hochpolitisches Thema ist. Sie fühlen sich von der namibischen Regierung schlichtweg nicht repräsentiert. Auch das müssen wir ernst nehmen. Ich habe den Eindruck, dass Ruprecht Polenz das als offizieller Vertreter der Bundesregierung für den Versöhnungsprozess auch tut. Zu fordern, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass selbstgewählte Vertreter der Herero und Nama in die Verhandlungsdelegation aufgenommen werden, ist alles andere als förderlich. Damit würde Deutschland komplett an den Interessen der souveränen Regierung Namibias vorbei agieren. ({3}) Das trägt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht zu einer Aussöhnung der Volksgruppen in Namibia selbst bei. Das wollen wir nicht. Deutschland nimmt seine moralische Schuld und Verantwortung gegenüber den Herero und Nama ernst. Wir werden die Verhandlungen der Bundesregierung an dieser Stelle konstruktiv begleiten und unterstützen; denn uns geht es um eine echte Aussöhnung, eine Aussöhnung Deutschlands mit Herero und Nama und eine Aussöhnung der unterschiedlichen Volksgruppen in Namibia. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege in der Beek. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Helin Evrim ­Sommer, Fraktion Die Linke. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist über 100 Jahre her, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist über 100 Jahre her, als Deutsche Richtung Afrika zogen, um Kolonien zu erobern und zu besiedeln. Es kam zu Aufständen der Einheimischen, bei denen Zehntausende Herero und später Nama starben. Der preußische General Lothar von ­Trotha gab den Befehl zur Vernichtung. Er sagte wörtlich: Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. So wurden Herero und Nama in die Wüste getrieben, wo sie elendig verdursteten. Ihre Ermordung gilt als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts, begangen von Deutschen. Warum sollte uns das heute beschäftigen, meine Damen und Herren? Ist die Weltgeschichte nicht voll von Deportationen, Mord und Gräueltaten? Ja, das ist sie, in der Tat. Und der angemessene Umgang damit ist: bedauern, entschuldigen, Beziehungen aufbauen und unterstützen. Das hat nichts mit einem sogenannten deutschen Schuldkult zu tun, ({0}) sondern mit der kritischen Reflexion der eigenen Geschichte, meine Damen und Herren. ({1}) Seit 2015 verhandeln Vertreter der Bundesregierung hinter verschlossenen Türen über Sprachregelungen, Gedenkformen und Entschädigungen. Eine Vertreterin der Herero nennt die deutsche Haltung „unkooperativ“ und „feindselig“. Fast sieht es so aus, als ginge es um Erpressung und Schweigegeld. Die Herero sollen schweigen, die Nama sollen schweigen, und der Bundestag – schweigt. Doch das Thema gehört genau hierhin, ins Parlament. Nach über 110 Jahren ist es an der Zeit, unser Schweigen zu beenden und die Dinge beim Namen zu nennen: Der Mord der Deutschen an den Herero und Nama war ein Völkermord, meine Damen und Herren. Mehr noch, es führt eine historische Linie von den ersten Konzentrationslagern in Deutsch-Südwestafrika nach Auschwitz. Diese Erkenntnis stellt nicht die Singularität des Holocaust infrage, meine Damen und Herren. ({2}) Im Konzentrationslager in der namibischen Haifischbucht wurden die Techniken des Massenmordes an ­Herero und Nama erprobt, die Vernichtung durch Arbeit und die systematische Verelendung. Heute in einem Jahr jährt sich der Unabhängigkeitstag Namibias zum 30. Mal. Ich meine, das wäre der ideale Tag für eine Entschuldigung. Wie wäre es, liebe Bundesregierung, das auch zu tun? Laden wir eine Vertreterin oder einen Vertreter der Herero und Nama ein, hier im Bundestag zu sprechen. Das wäre doch nicht zu viel verlangt. Es darf nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Heute leben etwa 100 000 Nama und 120 000 Herero. Sie leben meist in bitterer Armut. Es sollte uns Verpflichtung sein, die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft zu beseitigen. Bauen wir Schulen, in denen Jungen und Mädchen etwas lernen, damit sie sich eine Zukunft aufbauen können. Geben wir ihnen Stipendien und Zugang zu deutschen Universitäten, zu Ausbildung und Berufsschulen. Außerdem fordern wir einen eigenen Fonds mit ausreichend Finanzmitteln. Geben wir ihnen die Möglichkeit, Land zu kaufen oder ein Geschäft zu gründen. Schon Hans Fallada sagte einst: Die Vergangenheit kann man nicht ändern, sich selbst aber schon, für die Zukunft. In diesem Sinne, vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn ein bisschen über den Kolonialismus als solchen reden; denn das ist ein Thema, das glücklicherweise in Deutschland nach und nach an Bedeutung gewinnt: darüber zu reden, dass auch Deutschland eine Kolonialmacht war und was das eigentlich für Folgen hatte. Es gibt in Deutschland leider einen bedauerlichen Reflex, wenn es um die deutsche Kolonialgeschichte geht; da heißt es dann schnell: „Wir hatten nur wenige Kolonien“, und: „Es war nur eine kurze Zeit“, Frankreich und die Briten, die hätten viel mehr aufzuarbeiten. Leider ist das eine Schutzbehauptung, die verkennt, welche Folgen der Kolonialismus insbesondere für Afrika hatte. Das Deutsche Reich war mittendrin: Es war immerhin Bismarck, der die Kongo-Konferenz im November 1884, auf der sich die Europäer über die Einflussbereiche in Afrika verständigten, organisierte und beisammenrief. Das war ein fataler Fehler, ein fataler Schritt. ({0}) Leider gibt es noch heute, 140 Jahre nach dieser Konferenz, Menschen – einflussreiche Menschen sogar –, die von archaischen Strukturen sprechen. Das ist eine Mär, mit der wir aufräumen müssen! ({1}) Angesichts der barbarischen Weltkriege auf europäischem Boden im letzten Jahrhundert finde ich es ziemlich anmaßend, dass wir Europäer meinen, in Afrika archaische Strukturen vorgefunden zu haben. ({2}) Das Gegenteil war der Fall: Die Strukturen in Afrika befanden sich damals in einer Zeit tiefgreifender Umwälzung. Es bildeten sich Reiche heraus wie das Zulu-Reich im südlichen Afrika, die Reiche der Chokwe und Luba im Kongo, das Ashanti-Königreich im heutigen Ghana – um ein paar Beispiele zu nennen. Alle diese Strukturen haben die Kolonialmächte einschließlich Deutschland einfach zerschlagen. Davon blieb auch Namibia nicht verschont. Die Republik Namibia, in den heutigen Grenzen, ist das Produkt der deutschen Kolonialpolitik. Leider wissen wir auch, dass die deutschen Siedler, Soldaten und Polizisten dort damals alles andere als zimperlich waren. ({3}) Der pure Rassismus war handlungsleitend. Es ist anscheinend heute unter Deutschen immer noch eine weitverbreitete Ansicht, dass das richtig sei. Ich möchte da einfach einmal einen AfD-Politiker zitieren: Der Kolonialismus sei „Zeichen dafür, dass die europäische weiße Rasse anderen Völkern und Ethnien zivilisatorisch weit überlegen war“. Solche Äußerungen zeigen, wie wichtig es ist, dass wir uns diesem Thema stellen und dass wir die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufarbeiten. ({4}) Dabei gilt eigentlich auch: Rassismus ist keine Meinung, Rassismus ist ein Verbrechen, und wenn das Formen annimmt wie im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dann wird daraus ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und dann sprechen wir von Völkermord. Dieses Zitat von General von Trotha erspare ich Ihnen; die Kollegin Sommer hat es vorhin zitiert. Die Folgen sind uns allen bekannt: Zehntausende Ovaherero verloren während der deutschen Kolonialzeit ihr Leben, sie wurden ermordet, in die Wüste vertrieben, wo sie verhungerten und verdursteten. Wenig später erließ von Trotha dann noch einen ähnlich lautenden Befehl zur Vernichtung der Nama. Meine Damen und Herren, das war Völkermord. Wir können uns heute nicht einfach aus der Affäre ziehen und sagen, dass es damals noch keine UN-Konvention gab, die das verboten hätte – das ist mindestens für die politische Feststellung, dass das Völkermord war und damit Unrecht, völlig irrelevant. ({5}) Frau Staatsministerin, ich wünsche mir, dass die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen mit Namibia über die Bewältigung der kolonialen Vergangenheit bald, zügig zu einem befriedigenden Ergebnis kommt. Ich finde, es ist allerhöchste Zeit, dass wir – auch wir hier im Bundestag – uns bei den Ovaherero und Nama für das an ihren Vorfahren begangene Unrecht entschuldigen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. Die Kollegen Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion, und Martin Rabanus, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Versöhnung mit Namibia – Entschuldigung und Verantwortung für den Völkermord in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4951, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1256 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Keiner. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen es alle: Hohe Bodenpreise, gerade in wachsenden Regionen, tragen in Deutschland massiv zu hohen Kosten für den Wohnungsbau bei. Der Baulandpreisindex stieg allein von 2011 bis 2016 um 27 Prozent, in teuren Städten sogar um 44 Prozent. Damit lag die Preisentwicklung für Bauland deutlich über der Preisentwicklung für den Wohnungsbau selbst. Die Preise für baureifes Land sind in München von 2011 bis 2017 um 137 Prozent gestiegen, und ein Ende dieser Entwicklung ist leider nicht in Sicht. ({0}) 2018 kostete ein Quadratmeter Bauland in München oder Nürnberg 3115 Euro. Artikel 161 der bayerischen Verfassung besagt: (1) Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen überwacht. Mißbräuche sind abzustellen. (2) Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Sie haben also eine sehr fortschrittliche Verfassung in Bayern. ({1}) Die Folge von steigenden Bodenpreisen ist, dass auch fast nur hochpreisiger Wohnungsbau überhaupt realisiert wird. Auch die Preise für bestehende Mietwohnungen in den Ballungsgebieten steigen rasant an. Die Marktsituation für günstigen Wohnraum ist nahezu nicht mehr gegeben. Es besteht aber eine vehemente Nachfrage nach preisgünstigem Wohnraum. Dafür müssen wir dringend etwas tun. ({2}) Rund 5,6 Millionen Haushalte in unseren Großstädten müssen 30 Prozent und mehr ihres Einkommens für Miete ausgeben. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zu viel, das ist viel zu viel. ({3}) Da verwundert es nicht, dass Fachleute, Verbände, Juristen, Bürgerinitiativen zunehmend eine andere Bodenpolitik fordern. Möglichkeiten mit hohem Potenzial sind der Ausbau von Dächern, die Aufstockung von Immobilien, die Umnutzung von Leerstand in Gewerbe- und Büroimmobilien. ({4}) Allein bei Wohnimmobilien besteht ein Potenzial von 580 000 Wohnungen; das hat eine Studie der TU Darmstadt und des Pestel Instituts ergeben. Eine aktualisierte Version der Studie, die auch Potenziale von Parkhäusern in Innenstädten, Büro- und Verwaltungsgebäuden, Umnutzung von Leerständen von Verwaltungsgebäuden, eingeschossigem Einzelhandel, Discountern und Märkten einbezieht, kommt sogar auf ein Potenzial von 2,7 Wohnungen. ({5}) Gleichzeitig stehen in vielen Ortskernen und Dorfzentren des Umlands Wohnungen und Häuser leer. Deswegen sagen wir: Wir brauchen ein Förderprogramm, das auch den Zielkonflikt „mehr Grün in der Stadt, wegen des Klimawandels“ versus „mehr Wohnungen“ entschärft. Deswegen schlagen wir Ihnen dieses Förderprogramm vor, das Potenziale des Dachausbaus und der Aufstockungen hebt und den dringend benötigten Wohnungsbau anreizt. ({6}) Und wir wollen die Dorfkerne und die Ortskerne stärken. Wir wollen es belohnen, wenn jemand, statt auf die grüne Wiese zu bauen, im Ortskern ein altes Haus aufkauft und es aufwertet, es wieder bewohnbar macht und es energetisch saniert. Das ist besser als jedes Baukindergeld, das Invest auf die grüne Wiese lockt und das kaum Wohnraum in den Innenstädten neu schafft, zusätzlich schafft. Deswegen wollen wir ein Programm, das die Innenentwicklung im Bestand stärkt, eine Antwort auf die steigenden Baulandpreise gibt –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und einen Wohnungsbau ohne zusätzlichen Flächenfraß ermöglicht. Vielen Dank fürs Zuhören. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie hatten jetzt noch 30 Sekunden, weil ich eine erfreuliche Botschaft loswerden kann: Die Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion, die Kollegin Claudia Tausend, SPD-Fraktion, der Kollege Daniel Föst, FDP-Fraktion, die Kollegin Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke, der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion, die Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion, und der Kollege Torsten Schweiger, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, ({0}) sodass der letzte Redner der Kollege Marc Bernhard, AfD-Fraktion, ({1}) ist und sein muss. – Frau von Storch, wir hören auch diese Rede; keine Sorge!

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag der Grünen ist Ausdruck von Ratlosigkeit, von Verzweiflung, aber vor allem für die wohnungssuchenden Menschen nicht zielführend. Sie wollen also die Wohnungskrise in Deutschland ernsthaft mit dem Ausbau von Dachgeschossen lösen? Als ob das überall möglich, geschweige denn kurzfristig umsetzbar wäre! Ein weiterer Beweis für die Verzweiflung und Widersprüchlichkeit Ihrer grünen Politik ist der Vorschlag – ausgerechnet von Ihnen! –, entvölkerte Dörfer wiederzubeleben. Wer wie Sie von den Grünen das Auto abschaffen will ({0}) und gleichzeitig die Wiederbelebung von Dörfern und die Aktivierung des Umlandes fordert, aber kein Wort darüber verliert, wie die Menschen zu ihrem Arbeitsplatz kommen sollen, der ist nichts anderes als paranoid und unehrlich. ({1}) Früher war die Mansarde eine Wohnung für arme Leute ({2}) – hören Sie lieber mal zu; vielleicht lernen Sie noch was – ({3}) und brotlose Künstler. Heute ist eben diese Mansarde ein Inbegriff für Luxus geworden, ({4}) jetzt heißt sie einfach „Penthouse“. Der Marktpreis für ein Penthouse mittlerer Größe in einem urbanen Ballungszentrum – und nur dort machen Dachausbauten Sinn – fängt bei einer halben Million Euro an. ({5}) Mit Ihrem sogenannten Hunderttausend-Dächer-Programm wollen Sie 90 000 Wohnungen fördern. Wo haben Sie denn die fehlenden 10 000 Dächer versteckt? Oder ist das einfach nur ein Rechenfehler und handwerkliche Schlamperei in Ihrem Antrag? Mit 810 Millionen Euro wollen Sie also den Bau von 90 000 Wohnungen anregen. ({6}) – Sie müssen nicht so schreien; dadurch wird das, was Sie sagen, nicht richtiger. ({7}) Das wären dann 9 000 Euro pro Wohnung. Niemand investiert eine halbe Million Euro oder mehr, weil er dafür mit 9 000 Euro vom Staat gefördert wird. Mit allem, was Sie hier vorschlagen, ({8}) erreichen Sie nichts anderes als Mitnahmeeffekte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte!

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

So wird wirklich niemandem, aber absolut niemandem geholfen. ({0}) Ihr Antrag richtet sich einzig und allein an die Besserverdienenden. ({1}) Wo bleibt denn eigentlich in Ihrem angeblichen Innovationsvorschlag die Schaffung von bezahlbaren Wohnungen für Familien, wo bleibt das? ({2}) Statt den Bau von Luxuswohnungen mit Steuergeldern zu fördern, brauchen wir grundsätzlich – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, einen kleinen Moment bitte! – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich bitte wirklich, dem Redner zuzuhören. ({0}) – Dann gehen Sie raus! Einzelne Zwischenrufe sind sinnvoll, aber das – – ({1}) – Das mag ja sein; aber das Parlament ist dazu da, dass man auch Reden erträgt, die schwer erträglich sind. Ich bitte einfach nur darum, jetzt am Schluss der Sitzung dem Redner zuzuhören, damit wir wirklich auch zum Ende kommen können. ({2}) – Frau von Storch, Sie bekommen dafür einen Ordnungsruf. ({3}) – Sie bekommen einen zweiten Ordnungsruf. Beim dritten Ordnungsruf dürfen Sie den Saal verlassen. ({4})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Redezeit läuft weiter; ich würde gerne weiterreden. – Statt den Bau von Luxuswohnungen mit Steuergeldern zu fördern, wie Sie das ja jetzt hier vorschlagen, brauchen wir eine massive Entlastung bei den Kosten des Wohnens für die gesamte Bevölkerung. An dieser Stelle sei der Hinweis auf den von Ihnen gewählten Wortlaut im Titel des Antrags erlaubt: „Sofortprogramm Bauflächenoffensive …“. Die größten Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung von Dachausbauten sind doch die unzähligen Regeln/Vorschriften durch das bestehende Baurecht. Jedem Bauvorhaben geht eine komplexe, zeitraubende Abfolge von erforderlichen Genehmigungen, Plänen, Gutachten, Beteiligungen unzähliger Behörden und Ämter voraus. ({0}) Durch eine Vereinfachung des Baurechts würden wir weitaus mehr erreichen als mit Ihrem millionenschweren Förderprogramm. Wir könnten mehr Wohnungen in kürzerer Zeit und zu bezahlbaren Mieten bauen. Ja, ich weiß, das erfordert Mut, würde aber den Steuerzahler keinen einzigen Cent kosten und den Menschen wirklich helfen. ({1}) Eine lange Liste politischer Fehlentscheidungen, ({2}) Bankenkrise, Euro-Krise, schwindendes Vertrauen in die Währung, Negativzinspolitik, ({3}) hat zu einer Kapitalflucht in Betongold geführt. Das, was wir auf den Immobilienmärkten seit über zehn Jahren erleben, ist nichts anderes als ein Misstrauensvotum gegen die Politik der Bundesregierung. ({4}) Die Menschen in unserem Land misstrauen Frau Merkel und ihrer Politik und versuchen, ihr hart verdientes Geld in Sicherheit zu bringen. Das ist das, was passiert, und deshalb brauchen wir endlich wieder eine verlässliche Politik, die das Wohl der Menschen in unserem Land endlich in den Mittelpunkt stellt. Deshalb wollen wir eine breite Eigentumsbildung, in der gesamten Bevölkerung, voranbringen. Dazu muss die Grunderwerbsteuer gesenkt und so umgestaltet werden, dass eine vierköpfige Familie in Zukunft bei dem Kauf einer Wohnung überhaupt keine Steuern mehr bezahlen muss. Außerdem muss, wie von uns heute hier im Bundestag beantragt, die Grundsteuer völlig abgeschafft werden. ({5}) Dadurch würde das Wohnen in Deutschland von heute auf morgen, sofort, für alle und für jeden ({6}) billiger, um 14 Milliarden Euro. Hören Sie endlich damit auf – insbesondere Sie von den Grünen –, Hirngespinste zu entwickeln, und fangen Sie endlich an, die Probleme der Menschen in unserem Land wirklich zu lösen! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6499 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche allen Beteiligten eine wunderschöne Nacht. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen ({0}) – das ist aufmerksam; sehr schön –, auf heute, Freitag, den 22. März 2019, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 0.32 Uhr) Berichtigung 87. Sitzung, Seiten 10361 B, erste Spalte (Nein), 10364 A, erste Spalte (Nein) und 10366 A, zweite Spalte (Ja): Bei den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ist jeweils der Name „Olav Gutting“ durch den Namen „Thomas Heilmann“ zu ersetzen.