Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/21/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne Mitbestimmung durch Betriebsräte gäbe es weniger Sicherheit bei der Arbeit. Ohne Mitbestimmung ginge in Deutschland deutlich weniger. Ohne Mitbestimmung wären wir nicht serienweise Exportweltmeister. ({0}) Ich zitiere: Eine Gesellschaft, die sich wirtschaftlich und sozial nach vorne bewegen will, ist ohne Mitbestimmung und ohne die dazu gehörige Mitverantwortung nicht zu denken. Wer hat das gesagt? Helmut Schmidt, einer der größten Sozialdemokraten überhaupt. Er hat gemeinsam mit vielen anderen Mitbestimmung und damit Deutschland groß gemacht. Das hat die soziale Marktwirtschaft mit Leben gefüllt. ({1}) Mit Schmidts Mitbestimmungsgesetz kamen 1976 Arbeitnehmervertreterinnen und ‑vertreter in die Aufsichtsräte von Unternehmen – ein Meilenstein. Übrigens kamen durch ein Gesetz von Manuela Schwesig die Frauen dazu. Auch das war richtig. Moderne Wirtschaft kann nicht von oben diktiert werden, sie braucht Mitsprache. ({2}) Diesem Gedanken entspricht das Betriebsrätemodernisierungsgesetz von unserem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, indem es erstens die Gründung von Betriebsräten vereinfacht, zweitens Mitbestimmung nicht nur bei der Weiterbildung im Betrieb erleichtert, drittens digitale Arbeit von Betriebsräten ermöglicht und viertens Wahlprozesse im Betrieb verschlankt. ({3}) Dieses Betriebsrätemodernisierungsgesetz ist ein starkes Bekenntnis zur Demokratie im Betrieb. ({4}) Es ist ein Bekenntnis zum Mut derer, die einen Betriebsrat gründen wollen, auch wenn die Zeichen auf Sturm stehen. Die SPD hat zäh verhandelt über den Koalitionsvertrag hinaus. Vom ersten Tag in dieser Koalition an war für uns klar: Dieses Gesetz muss kommen. ({5}) Zu oft hören wir: Wer im Begriff ist, einen Betriebsrat zu gründen, wird vorher entlassen oder weggemobbt. – Das ist untragbar. Das geht nicht. Mit diesem Betriebsrätemodernisierungsgesetz gibt es nun einen früheren, breiteren Kündigungsschutz für alle, die Betriebsräte gründen wollen. ({6}) Dieses Gesetz ist ausdrücklich eine Ermutigung zur Gründung von Betriebsräten. ({7}) Da wir schon dabei sind, legen wir beim Arbeitsschutz auch noch nach: Wer sein Kind im Homeoffice zur Kita bringt, genießt von nun an Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieses Gesetz sagt danke an alle Betriebsrätinnen und Betriebsräte. Danke! Es ermutigt, sich demokratisch für die Beschäftigten und für die Arbeitsplätze reinzuknien. Es zeigt Respekt vor dieser außerordentlichen täglichen Leistung im Betrieb. Deshalb danke ich zum Schluss noch mal allen, die dazu beigetragen haben, allen voran unserem Arbeitsminister Hubertus Heil und heute ganz besonders meiner Kollegin Kerstin Tack. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Herr Minister Heil, am Ende der Legislaturperiode stellt sich die Frage, wie Ihre Bilanz aussieht. In Ihren Augen wahrscheinlich positiv, doch leider sehen das diejenigen, die von Ihrer Politik betroffen sind, häufig ganz anders. Ihre Partei, die ehemalige Volkspartei, die unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie den großen Wohltäter spielt, trägt ihrem Namen schon lange nicht mehr Rechnung. Von 1 000 Euro, die Sie dem Bürger aus der Tasche ziehen, geben Sie ihm gnädigerweise 100 Euro wieder zurück. Lassen Sie mich hier eine beispielhafte Glanzleistung Ihres Schaffens nennen: die sogenannte Respektrente. ({0}) Hier haben Sie so viele Wenn und Aber eingebaut – hören Sie doch einfach zu, Frau Kollegin, dann können Sie noch was lernen –, ({1}) dass von den 1,3 Millionen Rentnern, die infrage kämen, nur wenige diese Respektrente überhaupt beziehen können. Ich nenne das eine Mogelpackung. Der durchschnittliche Aufschlag, den ein Rentner durch Ihre Respektrente bekommen könnte, beträgt 75 Euro. Damit haben Sie in Euro ausgedrückt, was Ihnen Respekt gegenüber alten armen Menschen wert ist, Herr Heil. ({2}) Die Liste ließe sich beliebig erweitern; das würde allerdings meine Redezeit sprengen. Alle Ihre Gesetze dienen dazu, Ihre Reputation als Arbeitsminister und die Ihrer Partei mit Spiegelfechtereien und Potemkinschen Dörfern aufrechtzuerhalten und Ihre Partei dem Wähler als Partei der sozialen Gerechtigkeit zu verkaufen. Das Einzige, was an der SPD noch sozial ist, ist die Verstrickung mit Sozialverbänden und Gewerkschaften, wenn es um die lukrative Verteilung von Posten und Ämtern für die Genossen geht. Zu guter Letzt will Arbeitsminister Heil seinen Gewerkschaftsfreunden ein Abschiedsgeschenk hinterlassen: das Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Ein paar vernünftige Aspekte kann das Gesetz in der Tat vorweisen. Ich nenne hier zum Beispiel die Erleichterung der Betriebsratsgründung und ‑wahlen sowie den damit verbundenen Schutz der daran beteiligten Arbeitnehmer. Ebenso stehen wir Alternativen der Ausweitung des Sonderkündigungsschutzes positiv entgegen, um etwaige Behinderungen von Betriebsratswahlen zu vermeiden. Mit der Vereinfachung der digitalen Betriebsratsarbeit wurde ein Schritt vollzogen, der schon lange überfällig war und gerade in dieser von der Regierung zu verantwortenden unsicheren Krisenzeit mit Kurzarbeit, Massenentlassungen und unbestimmten Zukunftsaussichten unverzichtbar ist. Allerdings hat das BMAS hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zu einem starken regulatorischen Eingriff in das bisherige betriebsverfassungsrechtliche Regelungssystem führt. Hubertus Heils Lieblingsthema der letzten Monate ist das mobile Arbeiten. Mit dem hier eingeräumten Mitbestimmungsrecht für Betriebsräte bei mobiler Arbeit erleben wir einen massiven Eingriff in Weisungsrecht, Vertragsfreiheit sowie unternehmerische Freiheit. Wie schon bei den Plänen zum Mobile Arbeit-Gesetz wird hier den Betriebsräten ein Mitbestimmungsrecht gewährt, das man nicht mehr Mitbestimmungsrecht nennen kann. Ich nenne es ein Dekret gegenüber der Betriebsleitung. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Betriebsrat zu haben, ist ein großer Vorteil, und zwar für den Arbeitgeber wie für die Beschäftigten. Das haben wir jetzt vor allen Dingen in der Coronapandemie gesehen. Wo ein Betriebsrat ist, kann ich schneller und einfacher Vereinbarungen treffen, zum Beispiel zur Einführung der Kurzarbeit und zu vielem anderen mehr. Also, gerade in dieser Krise, die wir durchlebt haben, in der wir das Instrument der Kurzarbeit angewandt haben, zeigt sich, wie vorteilhaft es ist, einen Betriebsrat zu haben. ({0}) Keiner von uns hat sich eine solche Pandemie gewünscht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aber dass wir auf die dadurch bedingten wirtschaftlichen Folgen mit Kurzarbeit antworten können, dass Betriebsräte und Arbeitgeber Zutrauen haben in die Zukunft, dass nicht zu Entlassungen, sondern zur Kurzarbeit gegriffen wird, das ist eine der größten sozialpolitischen Leistungen in diesen Jahren. Darauf können wir zu Recht stolz sein. ({1}) Es geht heute um das Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Hier ziehen wir in der Tat auch einige Konsequenzen aus unseren Erfahrungen. Betriebsräten hatten wir erlaubt, auch online zu tagen, und stellen es ihnen nun frei, und zwar rechtssicher, das auch in Zukunft machen zu können. Darüber hinaus vereinfachen wir das Wahlverfahren und damit auch die Bildung eines Betriebsrates. Wir stärken den Kündigungsschutz für diejenigen, die die Initiative zur Gründung eines Betriebsrates ergreifen. Wir klären die datenschutzrechtlichen Verantwortungen. Wir stärken das Recht der Betriebsräte im Hinblick auf Initiativen zur Berufsbildung. Und wir senken das Mindestalter für die Wahlberechtigung der jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Betrieb. Nachdem wir das schon beim Personalvertretungsgesetz gemacht haben, gleichen wir das jetzt auch beim Betriebsverfassungsgesetz an. Jetzt noch etwas zum Thema mobiles Arbeiten. Das Ob, also ob mobiles Arbeiten in einem Betrieb etabliert wird, ist selbstverständlich eine Aufgabe des Arbeitgebers; das bleibt auch so. Aber das Wie, also die Frage der Ausgestaltung, ist doch eine Aufgabe – meiner Auffassung nach eigentlich auch heute schon –, bei der der Betriebsrat sehr wohl mitzureden hat, insbesondere wenn Vereinbarungen getroffen werden, die alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebes erfassen. Von daher ist auch das eine logische Fortentwicklung und zeigt, dass wir auf die Herausforderungen der digitalen Zukunft auch im Betriebsverfassungsgesetz eine gute und sachgerechte Antwort geben. ({2}) Mit all diesen Regelungen, die wir mit dem neuen Betriebsverfassungsrecht schaffen, stärken wir die Betriebsräte und ermuntern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sich in Betriebsräten zu engagieren. Aber natürlich gilt § 2 des Betriebsverfassungsgesetzes weiterhin und dient sozusagen als Mantel, steht sozusagen als Schirm über allem, nämlich dass Betriebsrat und Arbeitgeber zu vertrauensvoller Zusammenarbeit verpflichtet sind. Diese Zusammenarbeit erhält durch unser neues Gesetz neue Schubkraft und neue Motivation. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Carl-Julius Cronenberg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 100 Jahren ist die betriebliche Mitbestimmung eine tragende Säule der Sozialpartnerschaft in Deutschland. Die letzte Reform des Betriebsverfassungsgesetzes liegt 50 Jahre zurück, die letzte Änderung 20 Jahre. Kein Wunder, dass viele Regelungen verstaubt und aus der Zeit gefallen erscheinen. Eine Reform ist überfällig. Allerdings ist Mitbestimmung zu wichtig und zu wertvoll, als dass sie es verdient hätte, kurz vor dem Wahlkampf nur halbherzig modernisiert zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wer auch in zehn Jahren noch starke Mitbestimmung will, der muss heute den Rahmen setzen, der den betrieblichen Bedürfnissen von morgen gerecht wird, und genau das leistet das Gesetz nicht. ({1}) Es wird dem eigenen Modernisierungsanspruch leider nicht gerecht. Okay, Sitzungen per Videokonferenzen sind nun dauerhaft zulässig. Das wurde auch Zeit. Es ist ein Trippelschritt in die richtige Richtung, der aber sofort wieder dadurch relativiert wird, dass es einen gesetzlichen Vorrang von Präsenzsitzungen gibt. Warum so mutlos? ({2}) Auch das Recht auf Hinzuziehung eines externen Sachverständigen bei Einführung von künstlicher Intelligenz stärkt den Betriebsrat nur auf dem Papier. In Wahrheit riskiert die Regelung zähe Einigungsprozesse allein darüber, was genau KI ist und wer dafür als Sachverständiger infrage kommt. Mehr und längere Konflikte sind vorprogrammiert. Das ist das Gegenteil dessen, was Betriebe in Zeiten der Transformation brauchen, nämlich schnelle Entscheidungen auf Grundlage von vertrauensvoller Zusammenarbeit; Peter Weiß hat dazu ausgeführt. Das Gesetz verfehlt schließlich auch deshalb sein Ziel, weil es auf eine wichtige Klarstellung zu § 87 Absatz 1 Nummer 6 Betriebsverfassungsgesetz verzichtet. Wenn heute neue Software, RFID-Technik, Tracking-Apps, kurz: jede neue Technik theoretisch auch dazu geeignet ist, Leistung von Beschäftigten zu kontrollieren, dann heißt das noch lange nicht, dass sie auch dazu bestimmt ist. Wenn ich ein Brotmesser kaufe, dann tue ich das, um damit Brot zu schneiden, und nicht, um die Haushaltshilfe einzuschüchtern. ({3}) „Geeignet“ ist eben nicht „bestimmt“. Das muss modernes Mitbestimmungsrecht endlich würdigen. Mitbestimmung darf nicht zum Symbol für Technologieskepsis und Innovationsstau werden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! ({4}) In Summe modernisiert das Gesetz zu zaghaft, stärkt an der falschen Stelle und tut gar nichts, wo es nötig wäre. So bleibt Mitbestimmung insbesondere für junge Betriebe und junge Beschäftigte unattraktiv. Wir Freie Demokraten fordern stattdessen einfache Onlinewahlen, Sitzungen im Digitalformat ohne Präsenzvorrang und Beschlüsse im Umlaufverfahren. Was im Aufsichtsrat erlaubt ist, sollte es im Betriebsrat schon dreimal sein. ({5}) Ein letzter Punkt zum Nachdenken. Wenn sich der Gesetzgeber ständig in die Angelegenheiten der Sozialpartner einmischt, dann darf er sich nicht wundern, wenn Mitbestimmung und Tarifbindung auf dem Rückzug sind. Achten Sie Tarifautonomie! Achten Sie Subsidiarität! Beschränken Sie sich bei der Anpassung der Gesetze auf die Bedürfnisse der betrieblichen Lebenswirklichkeit von morgen! Damit erreichen Sie mehr als mit diesem Gesetz. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jutta Krellmann, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. September 1972 hat meine Ausbildung zur Chemielaborantin begonnen. Einen Monat später bin ich Mitglied der Gewerkschaft geworden, genauso wie 90 Prozent meiner Mitauszubildenden, die zu der gleichen Zeit angefangen haben. 1972 wurde auch das Betriebsverfassungsgesetz mit Leben erfüllt. Betriebliche Mitbestimmung war zu dieser Zeit das politische Ziel. Arbeitgeber liefen Sturm gegen dieses Vorhaben. Und heute in Zeiten der Globalisierung und Deregulierung ist davon nichts mehr zu spüren. Heute haben wir Befristungen, Leiharbeit, Hartz IV und Arbeitgeber, die regelrecht Betriebsräte bekämpfen. Nach aktuellen Zahlen von Mittwoch haben nur noch 8 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat. 8 Prozent! Das ist eine Katastrophe, und nichts anderes. ({0}) Die regierenden Parteien schauen seit vielen Jahren zu, wie die betriebliche Mitbestimmung den Bach runtergeht. Das Betriebsverfassungsgesetz wurde nicht an die neuen Herausforderungen der globalisierten Arbeitswelt angepasst. Aktuelles Beispiel: die Firma Primark in Hannover. Dort soll dem aktiven Betriebsratsvorsitzenden fristlos gekündigt werden. Die Begründung: Er hat während der Pandemie zu Hause auf seinem privaten Rechner an einem Dienstplan gearbeitet und damit angeblich gegen den Datenschutz verstoßen. Wie Primark mit Datenschutz umgeht, zeigt sich daran, dass in dem Betrieb bis vor Kurzem noch 128 Videokameras angebracht waren. Beschäftigte wurden in Aufenthaltsräumen und Umkleidekabinen ausspioniert. ({1}) Wer hat denn da gegen den Datenschutz verstoßen? ({2}) Meine Damen und Herren, ob aktuell Primark, Thalia, Starbucks, H&M oder wie sie alle heißen: Das alles zeigt, wie die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zurzeit mit Füßen getreten werden. Und was macht die Bundesregierung? Ihre Vorschläge sind wirklich nur halbherzig: Wahlinitiatoren erhalten einen Kündigungsschutz, der aber bei außerordentlichen und betriebsbedingten Kündigungen nicht greift. Betriebsräte können bei betrieblichen Bildungsmaßnahmen die Einigungsstelle anrufen. Toll, aber die darf nur moderieren. Bei künstlicher Intelligenz gelten Sachverständige als erforderlich, aber warum denn nur da? ({3}) Besonders schockiert bin ich über die Regelung zum Datenschutz. Nun soll der Datenschutzbeauftragte, der durch den Arbeitgeber ausgewählt und bestellt wird, ein Kontrollrecht gegenüber dem Betriebsrat erhalten. Das hat mit Unabhängigkeit des Betriebsrates überhaupt nichts zu tun. Die Linksfraktion ist nicht bereit, dieses neue Gesetz nach 50 Jahren als großen Wurf zu akzeptieren. ({4}) Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, Sie hatten Ihre Rede schon beendet, was auch der Redezeit entsprochen hat. Ich danke Ihnen. ({0}) – Jetzt machen Sie bitte das Pult frei, damit wir es reinigen können. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Die Mitbestimmung macht die Wirtschaft und die Arbeitswelt demokratischer. Dabei geht es aber nicht nur um die betriebliche Mitbestimmung, sondern dazu gehört auch ganz zentral die Unternehmensmitbestimmung – deshalb legen wir auch dazu heute einen Antrag vor –, die Bundesregierung aber hat die Unternehmensmitbestimmung seit Jahren überhaupt nicht im Blick, obwohl bekannt ist, dass die Unternehmen die Mitbestimmung entweder einfach ignorieren oder bewusst durch ihre Rechtsform vermeiden. Laut Hans-Böckler-Stiftung sind das immerhin 307 Unternehmen mit mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten. Egal ob Stiftung oder Europäische Aktiengesellschaft, die Mitbestimmung muss überall gewährleistet sein. Deshalb wollen wir Gesetzeslücken schließen und die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten stärken; denn gerade in Zeiten von Umbrüchen ist die Unternehmensmitbestimmung extrem wichtig. ({0}) Zumindest das Betriebsrätemodernisierungsgesetz kommt. Von einem Betriebsrat profitieren momentan nur 40 Prozent der Beschäftigten. Natürlich gibt es Belegschaften, die keinen Betriebsrat haben wollen; aber es gibt mittlerweile viel zu viele mitbestimmungsfeindliche Unternehmen. Genau dort brauchen die Beschäftigten mehr Schutz vor Abmahnung, vor Kündigung oder Mobbing. Deshalb ist es so wichtig, dass jetzt auch die Beschäftigten geschützt werden, die erstmalig einen Betriebsrat gründen wollen – wir fordern das im Übrigen seit 2014 –, und doch bleiben Sie, die Regierungsfraktionen, wie so oft, auf halber Strecke stehen. Der Kündigungsschutz ist an dieser Stelle zu schwach, und außerdem bekommen Betriebsräte, die sachgrundlos befristet beschäftigt sind, keinen Schutz. Das ist nicht ambitioniert, das ist nicht konsequent, und das kritisieren wir. ({1}) Auch wenn es um die Digitalisierung geht, modernisieren Sie nur ein bisschen. Der Betriebsbegriff bleibt der alte. Damit lassen Sie Crowdworker und Soloselbstständige außen vor. Bei der qualitativen Personalplanung und bei der Menge der Arbeit bräuchten wir ein echtes, starkes Mitbestimmungsrecht. Wichtig wäre in einer digitalen Arbeitswelt natürlich auch ein digitales Zugangsrecht für die Gewerkschaften. Hier bleiben Sie einfach mutlos, und das wird der Herausforderung der Digitalisierung nicht gerecht. ({2}) Wir Grünen hätten uns wirklich ein Betriebsrätestärkungsgesetz gewünscht, für starke betriebliche Mitbestimmung auf Augenhöhe. Und doch ist es gut, dass das Betriebsrätemodernisierungsgesetz überhaupt kommt. Es ist kein großer Wurf, aber es geht in die richtige Richtung. Deshalb werden wir trotz aller Kritik am Ende zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kerstin Tack, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo Betriebsräte gemeinsam mit Gewerkschaften arbeiten, sind die Arbeitsplätze sicherer, die Arbeitsbedingungen besser und die Löhne höher. ({0}) Hat ein Unternehmen mehr als fünf Beschäftigte, haben die Beschäftigten das Recht, einen Betriebsrat zu gründen. Aber abseits der Paragrafen im Betriebsverfassungsgesetz sieht die Praxis ein bisschen anders aus. Wir wissen auch aus Untersuchungen: Fast jede sechste Gründung eines Betriebsrates wird von Arbeitgeberseite verhindert oder blockiert. Ein Skandal! ({1}) Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Beschäftigten, die sich hier auf den Weg machen, weder behindert noch gemobbt noch versetzt noch gekündigt werden. Und genau deshalb ist dieses Gesetz richtig und wichtig, es stellt die richtigen Weichen. ({2}) Mit diesem Gesetz setzen wir genau hier an. Wir stärken den Beschäftigten den Rücken, die genau diese Betriebsratsarbeit vorbereiten, damit sie nicht schon aufgrund des Umstandes, dass bekannt wird, dass sie überhaupt in Gespräche zur Gründung gehen, erste Sanktionen zu spüren bekommen. Das ist richtig, wichtig und erforderlich. ({3}) Und wir erweitern das vereinfachte Wahlverfahren und machen es für Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten obligatorisch. Wir senken die Schwelle zur Aufstellung des Wahlvorschlags. Aber wir machen auch noch mehr: Wir verbessern den Unfallschutz im Homeoffice. Wir senken das Wahlalter auf 16 Jahre für die Wahl von Betriebsräten. Wir erhöhen das Wahlalter für die Wahl der Jugend- und Auszubildendenvertretung. Wir stärken die Mitbestimmung bei Fragen der Weiterbildung, der mobilen Arbeit, aber insbesondere bei künstlicher Intelligenz. Und wir schaffen ein dauerhaftes Recht, per Video- oder Telefonschalte Betriebsratssitzungen durchzuführen und Beschlüsse zu fassen; aber nur dann, wenn ausschließlich der Betriebsrat das für sich so entscheidet und kein anderer. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch dieses Gesetz hatte einen interessant langen Weg; denn – wie das so häufig ist – in Zeiten, in denen keine Gesetzgebung ansteht, singen alle das Hohelied der total großartigen Sozialpartnerschaft in Deutschland. Aber wenn es um konkrete Gesetze geht, dann wird das Ganze schon etwas schwieriger; denn dann muss man sich ja genau dazu bekennen, dann muss man genau diese Stärkung auch in den Mittelpunkt stellen. Dass das auch bei diesem Gesetzentwurf ein bisschen länger gedauert hat, ist schade. Aber dass wir heute deutlich über den Koalitionsvertrag hinausgehen und beim Initiatorenschutz – auch wenn es da noch Luft nach oben gibt – die richtigen Weichen stellen, ist gut und richtig. ({5}) Lieber Peter Weiß, ich habe wohl gehört, dass du die Kurzarbeit hier so großartig gelobt hast. Umso mehr hoffe ich, dass wir jetzt nicht nur die Laufzeit bis Ende des Jahres verlängern, sondern auch die auszuzahlenden Beträge erhöhen können. Ich glaube, das wäre nicht nur für die Sozialpartnerschaft ein gutes Zeichen, sondern auch für die Beschäftigten in Deutschland. Das wäre ein gutes Zeichen dieser Koalition noch in dieser Legislatur. ({6}) Natürlich möchte ich mich auch ganz herzlich bei dir, lieber Hubertus, für deinen unermüdlichen Kampf bedanken, diesen Gesetzentwurf über den Koalitionsvertrag hinaus vorzulegen, zu verteidigen und heute mit uns zusammen zum Abschluss zu bringen. Ich möchte mich bedanken beim BMAS für die wirklich großartige Unterstützung und Zuarbeit im parlamentarischen Raum und ganz selbstverständlich bei meiner großartigen AG, die auch bei diesem Gesetzentwurf super zusammengearbeitet hat. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Stracke, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die betriebliche Mitbestimmung ist ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft. Dort, wo es Betriebsräte gibt, sind die Arbeitsbedingungen oftmals besser und auch die wirtschaftlichen Erfolge stabiler. Die betriebliche Mitbestimmung ist gut für Deutschland. Deswegen brauchen wir mehr Betriebsräte in Deutschland, nicht weniger. Damit dies besser gelingt, wollen wir beispielsweise das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre absenken. Das schafft mehr demokratische Legitimität für die Betriebsräte. Betriebliche Mitbestimmung geht freilich nur im Miteinander, nicht im Gegeneinander. Das akzentuieren wir beispielsweise im Datenschutzrecht. Der Arbeitgeber ist verantwortlich für den Betrieb und natürlich auch für den Betriebsrat. Aber er braucht für die Erfüllung seiner Aufgaben letztendlich auch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und Unterstützung. Das stellen wir klar und wahren damit auch die besondere Stellung des Betriebsrats. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die erleichterte Möglichkeit bei der Einführung und Anwendung von künstlicher Intelligenz, weil der Betriebsrat externen Sachverstand hinzuziehen kann. Selbstverständlich bleibt es dabei, vorher im Betrieb zunächst mal nach betrieblichem Know-how Ausschau zu halten und dieses zu nutzen, bevor externer Sachverstand eingeholt wird; das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das stärkt die Zusammenarbeit, und dort, wo das nicht gegeben ist, halte ich eine Stärkung für richtig. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung und des technologischen Fortschritts sind Weiterbildung und Qualifikation natürlich zentral. Wir wollen, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen erledigen können. Deswegen stärken wir auch an dieser Stelle die Rechte der Betriebsräte. Wir wollen, dass konkrete Maßnahmen der Berufsausbildung tatsächlich vereinbart werden, und das befördern wir. Die mobile Arbeit hat in der Pandemie einen massiven Schub erfahren. Auch hier erhalten Betriebsräte bei der Ausgestaltung von mobiler Arbeit ein Mitbestimmungsrecht, um einen einheitlichen, verbindlichen Rechtsrahmen für den Betrieb schaffen zu können. Mehr mobile Arbeit bedeutet ja gleichzeitig nicht weniger sozialer Schutz. Aus diesem Grund haben wir beispielsweise beim gesetzlichen Unfallversicherungsschutz die Rahmenbedingungen für die mobile Arbeit verbessert. Es darf ja keinen Unterschied machen, ob ich zu Hause arbeite oder im Betrieb. ({0}) Das stellen wir sicher. Gleiches gilt im Übrigen auch für Wegeunfälle, beispielsweise für den Weg zum Kindergarten und zurück. Bei der Ausgestaltung sowie der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt es natürlich immer wieder Interessenkonflikte. Ich finde, dass wir einen sehr austarierten Gesetzentwurf vorlegen. Ich bitte um Zustimmung. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Marco Bülow ist der nächste Redner.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn aus einem Betriebsrätestärkungsgesetz ein Betriebsrätemodernisierungsgesetz wird, dann weiß man eigentlich schon, was die Stunde geschlagen und dass die Union am Ende wieder ganze Arbeit geleistet hat. Denn wir bräuchten mehr als eine Modernisierung. Wir bräuchten eine Stärkung. Diese ist nur – wenn überhaupt – in Ansätzen vorhanden. Ich glaube, dass immer noch unterschätzt wird, was da am Werk ist, nämlich klare Kriminalität. Es ist aus den USA importiert, dass es Anwaltskanzleien gibt, dass es Agenturen gibt, die nichts anderes machen, als Betriebe auszuschlachten und dafür zu sorgen, dass Betriebsräte dort gar keine Chance mehr haben, bevor sie diese Firmen weitergeben. Diese Firmen haben dann einen höheren Marktwert, weil es dort keine Betriebsräte mehr gibt. Das ist kriminelle Energie, und die muss richtig bestraft werden. Deswegen müssten wir beispielsweise über ein ganz anderes Strafmaß bei diesem Gesetzentwurf sprechen. ({0}) Über Datenschutz ist schon geredet worden. Auch die sachgrundlose Befristung ist angesprochen worden. Übrigens: Die sachgrundlose Befristung ist ein großer Punkt im Koalitionsvertrag. Bis jetzt ist aber nicht viel davon spürbar, dass sich auf dem Arbeitsmarkt viel geändert hat – das nur mal als Randanmerkung. Zudem müsste ein Melderegister eingeführt werden, was das Ganze verbindlicher macht. Dann wären wir einen Schritt weiter. Gestern gab es eine Kundgebung von Betriebsräten, die genau diese Punkte deutlich gemacht haben und die mehr einfordern als das, was jetzt hier vorliegt. Sie haben auch eine lange Unterschriftenliste. Herr Hubertus Heil, sie haben mehrfach versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, um dem Ministerium diese Unterschriften zu übergeben und mit Ihnen weiter im Gespräch zu bleiben. Vielleicht kümmern Sie sich darum. Eigentlich müssten wir hier heute noch über ein anderes Gesetzesvorhaben sprechen, das gleichzeitig ausgehandelt worden ist; man nennt das wohl Kuhhandel. Damit soll ermöglicht werden, dass die Saisonarbeiter 70 Tage statt 100 Tage hier arbeiten dürfen, unter schlechten Arbeitsbedingungen, in schlechten Unterbringungen und ohne Krankenversicherung. Das ist wahrscheinlich gleichzeitig ausgehandelt worden. Genau solche Kuhhandel brauchen wir nicht, sondern wir brauchen eine Stärkung der Betriebsräte. Darauf wäre es angekommen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU. ({0})

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Herr Bülow, wir machen hier keinen Kuhhandel, sondern wir machen Gesetze. ({0}) Das ist ein großer Unterschied. Deswegen finde ich diesen Ausdruck nicht richtig. Aber ich lasse das Ihnen als Fraktionslosem gerne so stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor über 100 Jahren wurden in Deutschland die ersten Betriebsräte gegründet. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Tonfilm, es gab noch kein Internet, es gab keine künstliche Intelligenz; von Big Data wussten wir noch nicht, dass es irgendwann mal kommen würde. Seitdem hat sich viel geändert. Unsere heutige Bundesrepublik Deutschland – eine stolze Demokratie – baut auf die Sozialpartnerschaft, auf die betriebliche Mitbestimmung als Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft. Daher müssen die Rahmenbedingungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese Sozialpartnerschaft zukunftsfest gestaltet werden. Das hat uns nicht zuletzt die Coronapandemie gezeigt. 1972 wurde das Betriebsverfassungsgesetz eingeführt, und vor 20 Jahren wurde es zum letzten Mal reformiert. Wir brauchen also dringend, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Update. Dieses Update wird die Betriebsräte digitaler und agiler machen. Als Digitalpolitiker und als Arbeitsmarktpolitiker sagen wir schon lange: Die Digitalisierung bietet gerade für die betriebliche Mitbestimmung ein großes Pfund. Deshalb sollten wir sie heute auch angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz gehen wir heute einen wichtigen Schritt. An dieser Stelle möchte ich gerade als junger Abgeordneter meinen Kollegen Uwe Schummer und Bernd Rützel noch einmal danken, die Berichterstatter waren und die einfach einen guten Job gemacht haben. Danke euch beiden! ({1}) Die Pandemie, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die ganze Betriebsratsarbeit auf den Kopf gestellt. Deswegen sind wir jetzt auf dem richtigen Weg, wenn wir hier digitaler werden, um eben auch mehr leisten zu können. Aber auch bei der künstlichen Intelligenz müssen die Betriebsräte ihre Kompetenz weitergeben können. Und auch hier haben wir eine gute Regelung, dass interner wie externer Sachverstand mit hinzugenommen werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schade und traurig, dass heute die Kollegen von der FDP, von den Linken und auch von der AfD nicht zustimmen oder sich enthalten. Damit machen Sie eine falsche Politik; denn es geht heute nicht darum, mit Parolen vor den Werken zu stehen, sondern es geht darum, in den Werken etwas besser zu machen. Und dafür ist dieses Gesetz genau richtig. Ich bitte um Ihre Zustimmung, ({2}) auch um die derjenigen, die sich noch nicht entschlossen haben. – Vielen Dank, meine Damen und Herren. Das wird heute ein guter Tag mit diesem Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Danke schön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Er darf auch mit Maske reden.

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Wie wahr, wie wahr. Nein, vielen, vielen Dank für diesen Hinweis. Heute stehe ich mit sehr gemischten Gefühlen vor Ihnen; denn dies wird wohl meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag sein. Zwölf Jahre habe ich meiner Fraktion als Sprecher für den ökologischen Landbau gedient. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir heute sogar in der Kernzeit über dieses wichtige Thema sprechen. Wir wollen eine deutliche Verbesserung für die Branche auf den Weg bringen, doch dazu gleich mehr. Der ökologische Landbau ist längst der Nische entwachsen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Wahrnehmung, aber auch der Einfluss des Ökolandbaus enorm entwickelt. Diskussionen über dieses Thema waren zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit vielfach von Ideologie und Lagerdenken geprägt. Streitigkeiten zwischen Konventionell einerseits und Ökologisch andererseits wurden nicht selten mit latenter Aggressivität ausgetragen. Wie anders erlebe ich die Debatte heute: Gemeinsamkeit und der konstruktive Austausch überwiegen, wenn es darum geht, die Vorstellungen und Wünsche der Verbraucher mit den Produktionsbedingungen in Einklang zu bringen. Nachhaltige Lebensführung, bewusste Ernährung und ein sogenannter grüner Lifestyle sind heute im Mainstream angekommen. Dem können und dürfen wir uns nicht verschließen. Wachsende Marktanteile überzeugen deutlicher als der moralische Zeigefinger. Wir befinden uns mitten in einem Prozess, der nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche berührt. Als Landwirte und Unternehmer müssen wir uns dabei lernfähig und kompromissbereit zeigen, wenn wir auch zukünftig erfolgreich produzieren und verarbeiten wollen. Die Welt des 21. Jahrhunderts setzt gewissermaßen ein neues Denken voraus. Werte wie Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit müssen wir mit Wirtschaftlichkeit zusammen denken, ob im Agrarbereich, bei der Ernährungssicherung oder auch in der Forstwirtschaft. Nachhaltigkeit und verantwortliches Denken in Generationen sind heute, in Zeiten des Klimawandels, wichtiger denn je. Auch Technik und Fortschritt leisten einen wichtigen Beitrag. Längst hat die Digitalisierung in allen Bereichen der Land- und Forstwirtschaft Einzug gehalten und überbrückt die einstigen Gegensätze zwischen konventioneller und ökologischer Wirtschaftsweise. Als Sprecher für den Ökolandbau musste ich oft auch innerhalb meiner eigenen Fraktion für mehr Offenheit werben. ({0}) Dabei halfen mir die praktischen Erfahrungen aus meinem beruflichen Alltag. Seit 20 Jahren bewirtschafte ich meine Äcker nach ökologischen Richtlinien. ({1}) Die mehrfache Identifikation als Landwirt, Unternehmer und als Parlamentarier hilft bei der Einordnung politischer Entscheidungen. Das Bild des Politikers hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt: weg vom Praktiker hin zum Berufspolitiker. Verzeihen Sie mir: Ich sehe diese Entwicklung eher skeptisch. ({2}) Der Landwirtschaftsausschuss bildet eine besondere Ausnahme. Ich weiß, er ist dabei nicht immer frei von Kritik. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die positiven Aspekte überwiegen, wenn Politiker einen beruflichen Bezug zu ihrem Fachbereich haben. ({3}) Daher war ich stets dankbar, mit euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Dialog zu suchen und Meinungen auszutauschen in den Bereichen Landwirtschaft, Tiermedizin, Weinbau, Viehhaltung, Gastronomie, Hauswirtschaft und Forst und Jagd. Unser Ausschuss bildet die Landwirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt ab. Doch nun zurück zum Öko-Landbaugesetz. Mit dieser Novelle haben wir ganze Arbeit geleistet. Natürlich setzen wir in erster Linie die neue EU-Öko-Basisverordnung um. Gleichzeitig packen wir aber die Gelegenheit beim Schopfe, um unser nationales Biorecht weiterzuentwickeln und bisherige Unklarheiten zu beheben. Gerade im parlamentarischen Verfahren konnten wir den ursprünglichen Entwurf noch einmal an entscheidenden Stellen verbessern, und zwar im Wesentlichen an drei Stellen. Zum Ersten sichern wir das bewährte zweistufige Kontrollsystem ab. Die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Behörden und privaten Kontrollstellen ist ein Erfolgsmodell, das wir gerne erhalten wollen. Mit dem vorliegenden Gesetz stellen wir dieses Modell erstmals auf eine wirklich verlässliche und klare Rechtsgrundlage. Insbesondere sorgen wir für eine eindeutige Zuordnung von Aufgaben im Kontroll- und Zertifizierungssystem. Wir legen fest, unter welchen Bedingungen die privaten Kontrollstellen als verlängerter Arm der Behörden agieren dürfen. Welche Aufgaben die Länder ihnen übertragen wollen, bleibt ihnen weiterhin freigestellt. Diese Klarheit ist wichtig und entlastet alle Seiten. Entlastung, aber vor allem Effizienz versprechen wir uns von einer zweiten Änderung. Mit der Harmonisierung der Überwachung der Kontrollstellen verhindern wir einen föderalen Flickenteppich, bauen Bürokratie ab und sorgen für effiziente Verwaltungsstrukturen. Drittens. Wir wollen auch die Außer-Haus-Verpflegung stärken. Der gestern veröffentlichte Ernährungsreport zeigt, dass viele Menschen, die während der Pandemie zu Hause gekocht haben, auf den Biogeschmack gekommen sind. Diesen um 17 Prozent – ich wiederhole: 17 Prozent – gestiegenen Absatz wollen wir aufrechterhalten, indem wir Küchen und Kantinen ermöglichen, mit ihrem Bioanteil zu werben, sobald sie wieder öffnen können. Mit der Verordnungsermächtigung schaffen wir die Voraussetzung, um die Zertifizierung von Biozutaten in der Außer-Haus-Verpflegung künftig flexibel und praktikabel zu ermöglichen. Wenn wir unser Ziel von 20 Prozent Ökolandbau bis 2030 erreichen wollen, dürfen wir keine Zeit verlieren. Mit dieser Novelle leisten wir dazu einen guten Beitrag. Die Arbeit an diesem Gesetz hat mir noch einmal gezeigt, wie gut wir auf der Fachebene zusammenarbeiten können. An dieser Stelle auch noch einmal einen besonderen Dank an dich, liebe Isabel Mackensen. Ganz herzlichen Dank dir und auch deinen Mitarbeitern! ({4}) Nach diesen kurzen, aber sehr intensiven Beratungen zum Ende der Legislatur möchte ich jetzt einfach mal Danke sagen. Von ganzem Herzen: Danke an meine Kollegen aus der Fraktion und Koalition. Es waren gute, starke zwölf Jahre, die ich hier dabei sein durfte. Trotz der klaren Rollenverteilung zwischen Koalition und Opposition im Ausschuss war es stets möglich, wertschätzend und fachlich miteinander zu arbeiten. Dafür danke ich auch der Opposition. ({5}) Liebe Kirsten Tackmann, lieber Friedrich Ostendorff, lieber Karlheinz Busen, um nur stellvertretend einige zu nennen, mit euch habe ich gerne gestritten und auch diskutiert. Es war bereichernd, weil ihr aus dem Fachlichen greifen konntet, und das überzeugt. Ebenfalls danken möchte ich dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Liebe Frau Ministerin, liebe Staatssekretäre sowie alle Mitarbeiter: Es war wunderbar, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich werde Sie alle sehr vermissen. Gleiches gilt für die Mitarbeiter des Agrarausschusses, in unseren Abgeordnetenbüros. Ohne ihre Unterstützung und Vorbereitung wäre unsere Arbeit nicht möglich gewesen. Danke, Alois Gerig, und der gesamten Mannschaft. Die Professionalität und der hohe Grad an Organisation, mit denen der Bundestag arbeitet, beruht wesentlich auf dem Einsatz vieler Kräfte im Hintergrund, die für Ordnung und einen reibungslosen Betrieb sorgen. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank, nicht zuletzt den Mitarbeitern des Fahrdienstes, den Saalbediensteten, Pförtnerinnen und Pförtnern, Sicherheitsdiensten, Versorgungsdienstleistern, dem Reinigungspersonal. Ihnen allen ein herzliches „Vergelt’s Gott!“! ({6}) Das Parlament ist die Herzkammer unserer Demokratie. Die Akzeptanz seiner Abläufe und Gepflogenheiten geht für mich mit der Dankbarkeit für unsere freiheitliche Grundordnung einher. Wenn mir eins in diesen zwölf Jahren wirklich bewusst geworden ist, dann ist es die Würdigung unserer parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage unserer Verfassung. Sie ist ein Ergebnis des Zusammenwirkens von Frauen und Männern, die Deutschland aus den Verstrickungen seiner unsäglichen Vergangenheit lösen wollten. Ihr Werk hat eine stabile und wehrhafte Demokratie geschaffen, im Zusammenspiel mit den föderalen Strukturen, aufbauend auf Ländern und Gemeinden, was einen immerwährenden Prozess des Interessenausgleichs mit sich bringt. Die ständige Suche nach Mehrheiten ist kein Webfehler der Demokratie, sondern der Garant für Frieden und Freiheit und das Abwenden der Gefahr, dass verfassungsfeindliche Strömungen die Oberhand gewinnen. Wenn ich mich heute hier bei Ihnen verabschiede, dann tue ich dies in Dankbarkeit und Erleichterung zugleich. Hinter mir liegen zwölf besondere Jahre, nicht immer ganz einfache und dennoch unvergessliche. Ich danke für die Möglichkeit, unserem Land in diesem Hohen Haus gedient zu haben. Danke. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege von der Marwitz, mit dem Hinweis, dass die Legislaturperiode noch bis Ende Oktober dauert, ({0}) möchte ich gleichwohl den Dank, den Sie allen ausgesprochen haben, auch im Namen aller Fraktionen – alle haben Ihnen applaudiert – an Sie für Ihre Arbeit richten. Wir wünschen Ihnen für Ihre weitere Arbeit im Deutschen Bundestag und für das Leben und Ihre Tätigkeit danach von Herzen alles Gute. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD. ({2})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Landwirte draußen auf den Betrieben! Lieber Herr Kollege von der Marwitz, auch ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und bedanke mich für die kollegiale gute Zusammenarbeit. Jetzt geht es aber ums Öko-Landbaugesetz. Es geht darin im Wesentlichen um die formalen Anpassungen des nationalen Rechts an die veränderte EU-Öko-Basisverordnung. Inhaltlich geht es im Prinzip nur um wenige Änderungen im Bereich der Kontrolle und der Zertifizierung. Also: Wieder einmal reagieren wir auf Brüssel. Wir reagieren auf Vorgaben, auf bürokratische Verordnungen, die aus Brüssel kommen. Dass das unseren Landwirten nicht weiterhilft, haben wir hier an dieser Stelle schon öfter betont. Wir fordern keine weitere Bürokratisierung, keine weiteren Kontrollen und keine weiteren Dokumentationspflichten. Was sollen unsere Landwirte denn noch alles machen? ({0}) Aber eine Regelung, die es auf den letzten Drücker doch noch in das Gesetz geschafft hat – der Kollege hat es angesprochen –, möchte ich noch herausgreifen. Der Bundesrat hatte die Bundesregierung aufgefordert, sie solle das Ziel festlegen, die zertifizierte Verwendung von Biozutaten in den Außer-Haus-Verpflegungen deutlich zu steigern. Das vorliegende Gesetz ermöglicht jetzt die Kontrolle und die Kennzeichnung von Erzeugnissen aus Arbeitsgängen in gemeinschaftlichen Verpflegungseinrichtungen. Das ist grundsätzlich richtig und gut. Unsere soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn Verbraucher transparente und bewusste Kaufentscheidungen treffen können. Nur so kann ein freier Wettbewerb überhaupt erst stattfinden. Diese Regelung ist deshalb überfällig. Aber lieber zu spät als nie, liebe Kollegen. ({1}) Die Alternative für Deutschland bekennt sich sowohl zur ökologischen als auch zur modernen konventionellen Landwirtschaft. Ich bitte Sie aber an dieser Stelle, vor allem die Kollegen der Grünen: Befeuern Sie hier nicht die Polarisierung! ({2}) Es geht schon durch unsere Gesellschaft ein Riss. Verhindern wir, dass dieser Riss auch quer durch die Landwirtschaft geht! ({3}) Die extrem hohen Zusatzsubventionen für die ökologische Landwirtschaft sehen wir kritisch. Auf lange Sicht muss es wieder möglich sein, dass Bauern ihre Gewinne am Markt erzielen. Freie Bauern möchten nicht von staatlichen Subventionen abhängig sein. Die Ziele der Bundesregierung, den Anteil des ökologischen Landbaus auszuweiten, teilen wir nicht. Es ist nicht entscheidend, ob Lebensmittel aus biologischer oder konventioneller Produktion kommen. Entscheidend sind die Qualität und die Ressourceneffizienz. Liebe Kollegen, die gute fachliche Praxis, das ist doch das, was auf den Betrieben zählt. ({4}) Unser Leitbild ist der mündige Bürger. Wenn mehr Mitbürger zu biologischen Produkten greifen und diese auch bezahlen können, dann erhöht sich automatisch der Anteil der ökologischen Landwirtschaft. Eine staatliche Zusatzsubventionierung am Markt vorbei ist daher nicht nötig. Diesen planwirtschaftlichen Ansatz lehnen wir ab und begrüßen daher die neue Kennzeichnungsreglung für den Außer-Haus-Verzehr. Wir werden uns bei der Abstimmung aber dennoch enthalten. Und das liegt vor allem daran, dass dieses Prinzip ein weiteres Beispiel für die Alternativlosigkeit dieser Regierung ist. Der Deutsche Bundestag, liebe Kollegen, kann doch gar nicht anders, als diesem Gesetz zuzustimmen. Eine Nichtannahme der EU-Richtlinie würde zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen und hohe Kosten für die Steuerzahler verursachen. Wir brauchen echte europäische Zusammenarbeit und keinen Bürokratiemoloch namens EU. Wir fordern: Raus aus diesem Bürokratiemonster namens Brüssel, raus aus Kontrolle und raus aus fehlgeleiteter Subvention! Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein geistreiches Pfingstfest. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Isabel Mackensen, SPD. ({0})

Isabel Mackensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004949, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Ministerin! Der Gesetzesentwurf dient der Anpassung des Öko-Landbaugesetzes und des Öko-Kennzeichengesetzes – das haben wir schon gehört – im Hinblick auf die Neufassung unionsrechtlicher Verordnungen. Die neue EU-Öko-Basisverordnung tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Sowohl für die Biobranche als auch für die zuständigen Kontrollbehörden und Kontrollstellen braucht es deshalb Rechtssicherheit. Daher ist es unabdingbar, dass wir noch diese Legislaturperiode die Anwendung des Ökolandbaurechts sicherstellen. Dass Bio boomt, zeigen die Umsatzzahlen. Im Jahr 2020 wurden fast 15 Milliarden Euro Umsatz in der Biobranche erzielt. Das ist eine Umsatzsteigerung von 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Somit zeigen viele Menschen an der Ladenkasse, dass sie bereit sind, mehr Geld für gesunde und umweltfreundliche Biolebensmittel zu zahlen. In Deutschland wurden im Jahr 2020 insgesamt auf 10,2 Prozent der Fläche Biolebensmittel angebaut. In Rheinland-Pfalz sind wir schon ein bisschen weiter – nicht nur, aber eben auch in diesem Punkt. Bei uns wird bereits auf 11,7 Prozent der Fläche ökologisch zertifiziert gewirtschaftet. Das Nachhaltigkeitsziel der Bundesregierung sind 20 Prozent Ökolandbau bis zum Jahr 2030. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir aktiv vorangehen. Denn wenn wir auf die Zahlen schauen, sehen wir: Dafür verbleiben keine zehn Jahre mehr. Bei den Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2021 haben wir uns als SPD-Fraktion deshalb für eine Erhöhung der Mittel für die Ökoforschung um 5 Millionen Euro sowie für die Möglichkeit zur Verlängerung der Projektlaufzeiten von drei auf fünf Jahre starkgemacht und diese auch so verankert. Der jetzt vorliegende Regierungsentwurf des Bundeslandwirtschaftsministeriums geht uns als Regierungsfraktionen und auch den Bundesländern nicht weit genug; denn es gilt, die Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige ökologische Lebensmittelwirtschaft zu verbessern. Deshalb haben wir im parlamentarischen Verfahren – an dieser Stelle noch mal einen herzlichen Dank an Hans-Georg von der Marwitz – noch mal kräftig beim Öko-Landbaugesetz nachgebessert, in drei entscheidenden Punkten: Erstens. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung wird zukünftig neben der Zulassung und dem Entzug der Kontrollstellen auch für die Durchführung des jährlichen Audits im Rahmen der Überwachung der Kontrollstellen verantwortlich sein. Das führt zu einer Harmonisierung und Entbürokratisierung durch eine stärkere Koordinierung durch den Bund. Zweitens. Wir sorgen für eine klare Definition und Zuweisung der hoheitlichen und nichthoheitlichen Aufgaben, um das seit 27 Jahren praktizierte und vor allem bewährte zweistufige Kontrollsystem zu sichern und auf eine verlässliche und rechtliche Basis zu stellen. Damit schaffen wir eine bessere Rechtgrundlage und eine angemessene Finanzierung der Kontrollstellen. Drittens. Durch eine Ermächtigung im Öko-Landbaugesetz für eine Rechtsverordnung soll die Verwendung von Biozutaten in Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung gesteigert werden. Denn derzeit liegt der Bioanteil – und das ist wirklich erschreckend – in der Außer-Haus-Verpflegung bei nur etwa 1 Prozent; das ist ganz klar zu wenig. Die Nachfrage nach Biolebensmitteln muss angeregt werden, um dem ökologischen Landbau neue Wachstumsimpulse zu geben. Mit der Verordnungsermächtigung soll außerdem sichergestellt werden, dass die detaillierten Einzelheiten im Umgang mit Bioprodukten in der Außer-Haus-Verpflegung flexibel geregelt und die Ergebnisse des BÖLN-Projekts „Mehr Bio mit Zertifikat in der AHV!“ zeitnah umgesetzt werden. Mit dem angepassten Gesetzentwurf senden wir ein klares Signal für die Entwicklung von Bio in Deutschland. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist die ökologische Landwirtschaft ein wichtiges Element einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Lebensmittelproduktion in Deutschland. Denn in der Praxis zeigen über 34 000 Biobetriebe, wie alternative Pflanzenschutzmaßnahmen, eine vielfältige Fruchtfolge, eine Steigerung der Artenvielfalt und vorbeugender Gewässerschutz funktionieren können. Den ökologischen Landbau als Vorbild zu nehmen, ist für eine zukunftsfähige Landwirtschaft unerlässlich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Carina Konrad, FDP. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ökolandbau, das ist ohne Zweifel eine ganz spannende Produktionsform. Ich kann Herrn Kollegen von der Marwitz nur darin zustimmen: Sie fordert uns Landwirte heraus, eingeschliffene Strukturen auch mal neu zu denken, und setzt Umdenkungsprozesse in der gesamten Landwirtschaft in Gang. Dass die Landwirtschaft selbst im Zusammenwirken zwischen den beiden Produktionsformen schon viel, viel weiter ist als viele Politiker, haben Sie sehr schön ausgeführt, und das unterstütze ich ausdrücklich. ({0}) Wer die Vorteile für den ökologischen Landbau allerdings ausschließlich auf Kosten der konventionellen Betriebe zieht – das tun Parteien und Fraktionen hier in diesem Hause leider nach wie vor –, der schadet am Ende des Tages beiden. Wir Freie Demokraten tun das nicht; denn wir stehen an der Seite aller Landwirte, unabhängig von ihrer Produktionsform. Egal ob öko oder konventionell: Wer sich an Recht und Gesetz hält, wer sich den Herausforderungen der Zukunft stellt und wer die Nachfrage auch immer mit Blick auf den Kunden weiterentwickelt, der verdient Wertschätzung und Anerkennung. ({1}) Aber es gilt eben auch, die Herausforderungen ganz klar zu benennen. Wir reden in diesem Haus sehr selten über den Ökolandbau. Auch beim Ökolandbau gibt es Herausforderungen, denen er sich stellen muss; denn Ökolandbau gibt es nicht zum Nulltarif. Frau Mackensen hat das eben sehr schön ausgeführt: Auf der einen Seite findet eine hohe Subventionierung bzw. eine Umstellungsförderung auch mit der Gießkanne statt, um ein Angebot zu schaffen. Das Angebot ist aber sehr unterschiedlich. Wenn man sich mal die Zahlen anguckt, sieht man: Bei Getreideprodukten beträgt der Marktanteil gerade mal 3 Prozent, bei Milch 4 Prozent, bei Schweinefleisch unter 1 Prozent. Zweistellig ist der Marktanteil im Bereich von Obst, Gemüse und Eiern. Weil das so unterschiedlich ist und weil man das auch einfach sehen muss, es aber nicht gesehen wird, versucht man jetzt auf der anderen Seite eine Nachfrage auf Rezept zu verordnen. Sie haben die öffentlichen Einrichtungen angesprochen. Das hat nichts mit einer gesunden Marktentwicklung zu tun. Das unterbindet den Wettbewerb der Ideen, und das führt auch zu Importen von fragwürdigen Ökoprodukten aus dem Nicht-EU-Ausland. Das gilt es zu vermeiden. ({2}) Wir müssen auch die Scheuklappen ablegen. Es gibt negative Effekte. Die größten Kostentreiber im Ökolandbau sind die niedrigen Erträge. Und der schmutzigste Fleck auf der weißen Weste ist, dass nach wie vor Kupferprodukte eingesetzt werden müssen, um Krankheiten zu vermeiden. Die Lösung beider Probleme besteht nicht darin, den Ökolandbau zu stigmatisieren, sondern besteht in der Weiterentwicklung und vor allen Dingen in der Züchtung. Wer sich hier den Chancen verschließt, die neue Züchtungsmethoden bieten, der hilft dem Ökolandbau auf Dauer nicht, er schadet ihm. ({3}) Wir Freie Demokraten stehen an der Seite aller Landwirte. Frau Mackensen hat die Erfolge in Rheinland-Pfalz benannt. In Rheinland-Pfalz haben wir erkannt, dass in neuen Züchtungsmethoden, in der Anerkennung von biotechnologischen Verfahren auch eine Chance für die Zukunft steckt. BioNTech ist ein Beispiel für die Erfolge in der Medizin. ({4}) Die SPD in Rheinland-Pfalz hat diesen Punkt ganz prominent besetzt, und das sollte sich die SPD im Bund vielleicht abschauen. Vielen Dank ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um den Ökolandbau – das war schon zu hören – und die Umsetzung neuer EU-Regelungen. Lange schien es, als würden Bundesregierung und Koalition hier sehr zögerlich und inhaltlich minimalistisch vorgehen, und das, obwohl die EU ausdrücklich Verbesserungen und Weiterentwicklungen ermöglicht hat und obwohl die Ziele zum Ausbau des Ökolandbaus ja auf allen Ebenen durchaus ambitioniert sind. Die Bundesregierung will 20 Prozent, die EU-Kommission sogar 25 Prozent, und einzelne Bundesländer sagen 40 Prozent Ökolandbau bis 2030 voraus. Man kann ja über diese Ziele trefflich streiten. Aber wenn man sie ernst meint, müssen auch die Rahmenbedingungen dazu passen. ({0}) Und Appelle und Sonntagsreden reichen dann eben nicht aus. Deshalb waren wir als Linke schon besorgt angesichts der massiven Kritik an der Vorlage aus dem Bundesagrarministerium. Und offensichtlich hat das auch die Berichterstattenden aus den Koalitionsfraktionen herausgefordert. Jedenfalls zeigt der Änderungsantrag, dass sich da einiges bewegt hat. Sie haben – in letzter Sekunde, zugegebenermaßen – ihre Fraktionen überzeugt, wobei das vermutlich in der SPD ein bisschen einfacher war als in der Union. ({1}) Dass der Änderungsantrag allerdings in letzter Sekunde als Tischvorlage im Ausschuss vorgelegt wurde, ist dem Thema nicht angemessen. ({2}) Aber sei’s drum: Die Änderungen gehen in die richtige Richtung. Deshalb kann Die Linke dem Gesetzentwurf jetzt auch zustimmen – dem geänderten logischerweise. Zwei Punkte waren uns dabei besonders wichtig: Erstens: die Absicherung des zweistufigen Kontrollsystems, also der Kombination aus behördlicher Überwachung und privaten Kontrollstellen. Das ist jetzt geregelt; das ist gut. Zweitens: ein passender Rechtsrahmen für mehr Bio in der Außer-Haus-Verpflegung, einschließlich Kita- und Schulverpflegung. Hierfür wird zumindest die Tür sehr weit aufgemacht. Das ist aus Sicht der Linken auch deshalb wichtig, weil es eben nicht reicht, den ökologischen Anbau zu fördern. Wer landwirtschaftlich produziert, braucht Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen. ({3}) Das gilt erst recht im Ökolandbau. Wo die fehlen, müssen Bioprodukte am Ende doch konventionell vermarktet werden. Das hilft dann zwar trotzdem der Umwelt, aber eben nicht den Agrarbetrieben. Denn am Ende bekommen die dann natürlich nur den konventionellen Erzeugerpreis. Das führt immer wieder dazu, dass Ökobetriebe aufgeben oder aufgeben müssen. Deshalb ist es auch aus sozialen Gründen wichtig, Bio in der Außer-Haus-Verpflegung zu erleichtern. ({4}) Wobei es uns als Linken natürlich auch wichtig bleibt, dass die Außer-Haus-Verpflegung bezahlbar bleibt. Ein besserer Zugang zur Außer-Haus-Verpflegung vor Ort unterstützt übrigens auch die regionale Verarbeitung und Vermarktung bei Ökoprodukten. Denn lange Wege schaden der Ökobilanz im Ökolandbau, und das können wir alle nun wirklich nicht wollen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, das Künast’sche Ökosiegel wird dieses Jahr 20 Jahre alt, allerdings erst im Herbst. Warum dann Frau Klöckner bereits im Juni einen Festakt dazu machen muss, das wird ihr Geheimnis bleiben. Aber das macht sicher mehr Spaß, als sich mit Masken-Gate und anderen Dingen zu beschäftigen. ({0}) Zurück zum Ökolandbau. Die Bundesregierung hat sich doch tatsächlich das armselige Ziel gesteckt, bis 2030 20 Prozent ökologischen Landbau zu erreichen – Wahnsinn! Dieses Ziel hat tatsächlich schon Renate Künast im Jahr 2001 ausgerufen. In sage und schreibe 16 Jahren unionsgeführtem Agrarministerium sind Sie noch nicht mal in die Nähe dieses Ziels gekommen. Das ist doch wirklich eine armselige Bilanz. ({1}) Ich höre an dieser Stelle schon die Ökolandbauverhinderungsministerin, die Verbraucherinnen und Verbraucher – die sie so gerne als Bullerbü-Romantiker verhöhnt – würden zwar von Öko reden, es aber am Ende nicht kaufen. Das Gegenteil ist Fall. Wir haben es doch heute schon gehört. Die Außer-Haus-Verpflegung ist der Bereich, wo die Menschen in der Regel am wenigsten wählen können: am Arbeitsplatz, bei Festen und sonst wo. Letztes Jahr fiel das alles aus, und die Menschen haben gewählt. Um unglaubliche 22 Prozent ist der Umsatz an Biolebensmitteln gestiegen. 2020 wurden 50 Prozent mehr Biofleisch und damit auch mehr Tierwohl eingekauft. Also, hören Sie doch endlich auf, Frau Ministerin, mit der dauernden Verunglimpfung der Menschen in diesem Land, und ermöglichen Sie ihnen endlich eine wirkliche Wahl! ({2}) Gäbe es nicht einzelne engagierte Abgeordnete, auch in Reihen der Koalition – einen ausdrücklichen Dank für die gute Zusammenarbeit an den Kollegen von der Marwitz und an die Kollegin Mackensen, die wirklich bis Dienstagnacht gegen die Blockadehaltung des BMEL gerungen haben –, wäre der vorliegende Gesetzentwurf eine Katastrophe für die Biobranche und erst recht für die gesamte Außer-Haus-Verpflegung geworden. Sie hätten ein Bürokratiemonster und Ökolandbauschikanierungsgesetz geschaffen, Frau Ministerin. ({3}) So ist wenigstens das Schlimmste bei der Umsetzung der EU-Öko-Basisverordnung verhindert worden. Was wir aber brauchen, ist der wirkliche Wille zu mehr Ökolandbau, statt ihn schlechtzureden. Wir haben es gerade von der Kollegin Konrad gehört. Da läuft doch die Grabenfräse zwischen konventionellem und ökologischem Landbau. Statt ihn schlechtzureden und schlecht zu verwalten wie die Frau Ministerin, brauchen wir mehr Ökolandbau, klare Ziele, engagierte Ziele. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Die Koalition hat sich 20 Prozent zum Ziel gesetzt, die EU 25 Prozent, in Baden-Württemberg wurden 30 bis 40 Prozent Ökolandbau als Ziel im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Dazu brauchen wir Maßnahmen, damit wir mehr Klimaschutz, mehr Tierwohl und keine Gentechnik in der ökologischen Landwirtschaft haben. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rainer Spiering, SPD. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Kolleginnen und Kollegen! Gesunde und hochwertige Lebensmittel zu erzeugen, dabei die Natur zu schonen, in geschlossenen Nährstoffkreisläufen zu arbeiten und nicht nur auf den kurzfristigen ökonomischen Gewinn zu schauen, das sind die Ziele der ökologischen Landwirtschaft und einer nachhaltigen Landwirtschaft. Das genau will auch die SPD-Fraktion. Um auf Kirsten Tackmann zu erwidern: Bei uns ging das in der Tat wirklich sehr einfach, weil wir uns vertrauensvoll auf Isabel verlassen haben. Sie hat das exzellent gemacht. Liebe Isabel, herzlichen Dank für deine Arbeit und deinen Einsatz! ({0}) Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, dir, lieber Hans-Georg, zu danken. Das waren tolle, spannende Jahre mit dir. Sie waren gerade für dich an vielen Stellen nicht einfach. Ganz, ganz herzlichen Dank für deinen Einsatz! Und dass du etwas, was in der Union eigentlich sehr schwierig ist, nämlich diese Form der Landbewirtschaftung hochzuhalten, hingekriegt hast, vor allen Dingen dafür ganz herzlichen Dank. Dafür kann dir das ganze Haus applaudieren. ({1}) Es ist nun gelungen, die Verwaltungsabläufe bei den Ökokontrollen deutlich zu straffen und zu vereinfachen. Dabei soll es aber nicht bleiben. Entscheidend für die Entwicklung des Ökolandbaus ist die Förderung durch die zweite Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik. Ich habe das gestern hier schon gesagt: Wir fahren von 6 auf 15 Prozent hoch. Ich habe auch gestern schon erwähnt, dass es ein extrem schwieriger Weg war. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr ist mir eigentlich auch klar geworden, dass das am Ende nicht reichen wird. Der Geldbedarf einer sich transformierenden Landwirtschaft ist höher. Ich finde, dann muss man sehr intensiv darüber nachdenken, wie man diesen Geldbedarf decken kann. Dafür ist der Ökolandbau eigentlich ein sehr gutes Beispiel. Wir sollten nicht mehr denken „From Farm to Fork“; sondern der Weg ist genau umgekehrt. „Umgekehrter Weg“ heißt, dass der Staat als Nachfrager auftritt, zum Beispiel beim Thema „öffentliche Speisung“. Ulla Schulte hat sich immer intensiv darum gekümmert, dass die Kleinsten der Kleinen gut versorgt werden. Ist das im Moment gewährleistet? Nein, das ist es nicht. Wir haben gerade in der Ernährung Riesenunterschiede. Wie wäre es denn, wenn wir als Staat Krippe, Kita, Schule, Universität, Krankenhäuser und die Altenpflegeeinrichtungen richtig mit Geld versorgen – und „richtig mit Geld“ heißt: mit Milliardenbeträgen –, um dann eine Nachfrage zu konstituieren, die es Anbietern – sowohl ökologischen als auch konventionellen – ermöglicht, Waren gemäß dieser Nachfrage anzubieten? ({2}) Auf diese Weise stellen wir Markt her und spülen in die regionale Landwirtschaft Milliardensummen hinein. Damit schaffen wir zwei Sachen: Zum einen geben wir der regionalen Landwirtschaft bei der Versorgung die Möglichkeit, das Angebot zu machen. Zum anderen sorgen wir endlich dafür, dass die Kleinsten der Kleinen und diejenigen, die sich nicht helfen können, gemeinsam und ordentlich versorgt werden. – Das wäre mein Wunsch. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Weltwirtschaftsforum hat gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär, dem Internationalen Währungsfonds und Großkonzernen wie Microsoft und Amazon einen Sondergipfel zum sogenannten Great Reset mit allen globalen Führungskräften aus Politik und Wirtschaft angekündigt, da man nach der Coronapandemie nicht zur alten Normalität zurückkehren könne, sondern die Pandemie – so wörtlich – „eine seltene Gelegenheit, ein kleines Fenster“ sei, um eine weltweite Transformation einzuleiten. Dass es sich beim Weltwirtschaftsforum nicht um einen unbedeutenden Country Club handelt, sieht man daran, dass die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel regelmäßig daran teilnehmen. Auch die grüne Kanzlerkandidatin Baerbock würde sich sonst sicherlich nicht im Führungsnachwuchsprogramm des Weltwirtschaftsforums engagieren. Eine der verstörenden Kernbotschaften, wie man sich die Welt 2030 vorstellt, lautet – so wörtlich –: Alle Produkte werden zu Dienstleistungen. Ich besitze nichts. Ich besitze kein Auto. Ich besitze kein Haus. Ich besitze keine Geräte oder Kleidung. – Wenn die Menschen also gezwungen sind, diese Dinge zu leihen, wer entscheidet dann über die Zuteilung? Dafür kommen doch nur zwei infrage: entweder der Staat – das nennt man dann Sozialismus – oder Großkonzerne; das wäre dann Oligarchie. ({0}) Es wird also ernsthaft die Besitzlosigkeit als etwas Gutes propagiert. Dabei bedeutet doch gerade Eigentum Freiheit und Unabhängigkeit, ({1}) und das sind die entscheidenden Faktoren für jede lebendige Demokratie. Weiter wird behauptet, die Werte, die den Westen aufgebaut haben, wurden bis zum Bruch getestet. Was soll uns eigentlich dieser Satz sagen? Dass die Werte des Westens – Freiheit, Demokratie, Grundrechte – ausgedient haben? Und tatsächlich finden sich in offiziellen Dokumenten der Bundesregierung bereits erste Bestandteile dieser Ideen. ({2}) So heißt es beispielsweise in der vom Bundesumweltministerium herausgegebenen Smart City Charta – so wörtlich –: Dank der Information über verfügbare geteilte Waren und Ressourcen macht es weniger Sinn, etwas zu besitzen: Vielleicht wird Privateigentum in der Tat ein Luxus. Sie von den Grünen haben damit bereits in Hamburg angefangen, indem Sie Einfamilienhäuser verbieten. Weiter heißt es zur Demokratie sogar: Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen. ({3}) In einem offiziellen Regierungsdokument wird also ernsthaft die Einschränkung oder die völlige Abschaffung der Demokratie in Erwägung gezogen. ({4}) Deshalb fordern wir in unseren Anträgen Transparenz und die längst überfällige Debatte zur Agenda dieses Great-Reset-Gipfels. Insbesondere fordern wir die Regierung auf, klar und deutlich offenzulegen, welche Position sie auf diesem Gipfel vertreten wird. Denn ein solch gravierender Umbau darf in einer Demokratie niemals von oben erfolgen, sondern muss immer das Ergebnis einer breiten öffentlichen Debatte hier im Parlament und mit den Bürgern sein. ({5}) Genau diese Debatte muss jetzt endlich beginnen! Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Ich finde es bemerkenswert und ein Stück weit traurig, dass wir hier im Deutschen Bundestag immer noch darüber diskutieren müssen, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht. Auch das ist wieder Teil der Anträge der AfD. In dem Zusammenhang möchte ich nur einen Fakt erwähnen: Früher waren es 1 000 Jahre, bis es zu einer Erwärmung von 1 Grad gekommen ist, ({0}) jetzt sind es 100 Jahre. Das hängt nach der Meinung von 99 Prozent der Wissenschaftler – das war ({1}) auch die Antwort auf eine Anfrage der AfD – mit dem Menschen zusammen, signifikant mit dem Menschen zusammen!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilse?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne erst mal fortfahren. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, wachen Sie auf! Nein, Sie sagen nicht, dass der Klimawandel nicht stattfindet; Sie sagen, dass er nicht menschengemacht ist. Es ist doch die Leugnung dieses menschengemachten Klimawandels, die die enorme Gefahr für unseren Wohlstand, für unsere Freiheit darstellt, und nicht der Green Deal der Europäischen Union, so wie Sie es behaupten. ({0}) Wenn Sie von Kosten sprechen, dann blenden Sie jedoch vollkommen die Kosten des Nichthandelns bezüglich des Klimawandels aus. ({1}) – Das sind keine Mutmaßungen, sondern wirkliche Experten und Wissenschaftler haben das bestätigt. – Sir Nicholas Stern, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, hat schon 2006 in einem Bericht gesagt, dass die mit dem Klimawandel verbundenen Kosten umso höher sind, je später mit Klimaschutzmaßnahmen begonnen wird. Kurz darauf hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berechnet, dass bei Fortschreiten des Klimawandels auf Deutschland 800 Milliarden Euro Kosten bis 2050 zukommen. Das ist doch die Wahrheit, und mit diesen wissenschaftlichen Fakten müssen Sie sich endlich mal auseinandersetzen, ({2}) statt immer derartige Anträge einzubringen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich wirklich mit den Inhalten, über die man bezüglich der Klimaschutzmaßnahmen streiten kann, ({3}) auseinandersetzen und nicht immer wieder das Märchen erzählen, dass der Klimawandel nicht menschengemacht sei. ({4}) Klimaschutz ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit; das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Wenn wir nicht handeln, müssen künftige Generationen den CO2-Ausstoß nach 2030 noch drastischer reduzieren, und sie sind zusätzlich noch stärker mit den Folgekosten konfrontiert. Daher ist es unverantwortlich, nicht zu handeln. Sie denken auch nicht an die Auswirkung für den Menschen, für die Tiere, für den Artenschutz, für die Natur. ({5}) Die Mediziner kommen zu dem Schluss, dass die Hitzesommer zu einer Übersterblichkeit geführt haben. Die Landwirte und die Gärtner beklagen die Trockenheit. Sie sehen doch auch an den Wäldern, was der Klimawandel auslöst. Ich frage Sie: Wollen Sie all diese Auswirkungen leugnen? Nein, sie leugnen nicht die Auswirkungen, aber Sie sagen immer wieder: Der Mensch hat damit überhaupt nichts zu tun. ({6}) Das bedeutet für mich: Sie verschließen die Augen vor der Wissenschaft. Ich kann nicht verstehen, wie man die Aussagen der Wissenschaft so von der Hand weisen kann. ({7}) – Ja, es gibt nicht die Wissenschaft, aber die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler – ich habe gerade von 99 Prozent gesprochen – bestätigt das. Auch die Wirtschaft ist doch viel weiter als Sie. Sie hat sich auf den Weg gemacht, auch bei uns in Deutschland. ({8}) – Lassen Sie mich das bitte ausführen. – Der Klimaschutz geht nicht gegen die Wirtschaft. ({9}) Aber ohne Klimaschutzmaßnahmen wird es auch kein wirtschaftliches Wachstum geben. Große Staaten wie die USA und China haben es verstanden. ({10}) Die US-Regierung unter Biden hat vor Kurzem bekannt gegeben, dass 2 Billionen US-Dollar in Klimaschutztechnologien und saubere, erneuerbare Energien investiert werden; ({11}) das sind 1,65 Billionen Euro. Auch die US-Wirtschaft hat diesen Weg, sogar unter Trump, unbeirrt fortgesetzt. Warum? Weil es eine wirtschaftliche Chance ist, wenn man auf diese Technologien setzt. Da geht es darum: Sind wir dabei, oder sind wir nicht dabei? ({12}) Wir müssen aufpassen, dass wir nicht abgehängt werden. Es geht um knallharte Wirtschaftsinteressen. ({13}) – Nein, es sind eben nicht nur die Deutschen. Auch die Chinesen haben sich jetzt die Klimaneutralität vorgenommen. ({14}) Die Chinesen machen sich ebenso auf den Weg. Die Amerikaner machen sich auf den Weg. Ich sage: Als Land der Ingenieurskunst, als Land der Technologiesprünge, der Start-ups müssen wir uns an die Spitze der Bewegung setzen; ({15}) sonst sind wir abgehängt, Beispiel „Hybridtechnologie“. Wir müssen dabei – da unterscheiden wir uns von den Grünen – auch an die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie denken. ({16}) Da geht es um den Schutz von Unternehmen, die im europäischen und internationalen Wettbewerb stehen. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass wir hier im Deutschen Bundestag noch einen Maßgabebeschluss zur Carbon-Leakage-Verordnung hinbekommen. Wir brauchen eine wirksame Absicherung der Arbeitsplätze in Deutschland auch im Zusammenhang mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz. ({17}) Und an der Stelle setzen wir auf die SPD. Für einen erfolgreichen Klimaschutz müssen wir die Menschen mitnehmen. Deswegen wollen wir die individuelle Mobilität im ländlichen Raum erhalten. Wir müssen sie nur klimafreundlicher gestalten. ({18}) Wir wollen das nicht nur, sondern wir unterstützen die Menschen auch beim Umstieg auf alternative Antriebe. ({19}) Die Ziele bezüglich der alternativen Antriebe wurden erreicht, und wir setzen diesen Weg kontinuierlich fort. Wir setzen auf Innovationen. Wir setzen auf umweltfreundliche Technologien. Das ist der richtige Weg. Wir wollen nicht das Verbot des Verbrennungsmotors, werte Kolleginnen und Kollegen, sondern setzen Anreize für alternative Antriebe, damit klimafreundliche individuelle Mobilität auch in Zukunft möglich ist. ({20}) Eines ist auch klar: Alleine können wir das Klima nicht retten. Deswegen brauchen wir die anderen Staaten der Welt. Ist es dann die richtige Konsequenz, diesen europäischen Prozess zu verlassen, aus dem europäischen Green Deal mit der Lastenverteilung auf die anderen EU-Staaten auszusteigen? Wir brauchen doch die anderen Staaten der Welt, wir brauchen auch die anderen europäischen Staaten. Wir brauchen die Lastenaufteilung. Wir brauchen marktwirtschaftliche Instrumente. Das marktwirtschaftliche Instrument des Emissionshandels hat uns dazu gebracht, dass wir unser Klimaziel einhalten. Deswegen müssen wir diese positiven und gut funktionierenden Instrumente exportieren. Auch dazu hatten wir jüngst einen Austausch mit den Chinesen; sie wollen bezüglich des Emissionshandels mit uns kooperieren, genauso wie die Amerikaner. Das ist der richtige Weg. Abschließend möchte ich noch sagen: Wir als Union stehen in der Mitte, zwischen der Fraktion, die sagt, der Klimawandel sei nicht menschengemacht, und den Grünen, die nach dem Motto „höher, schneller, weiter“ die Ziele immer weiter hochschrauben und nicht an die Wirtschaft und die Menschen denken. Wir machen Klimaschutzpolitik mit Augenmaß. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin!

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir denken an die Wirtschaft, und wir denken auch an die Menschen. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Lukas Köhler, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir die Anträge der AfD sehr intensiv angeschaut und hatte vor, einzelne Punkte herauszugreifen. Aber ich glaube, dass es gar nicht notwendig ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was Sie hier fabriziert haben. Meine Damen und Herren, es gibt zwei Arten, wie man mit den Positionen zum Klimaschutz umgehen kann. Es gibt einmal die Möglichkeit, sich fachlich zu streiten. Das machen wir im Hohen Hause sehr oft, wenn wir über Klimapolitik diskutieren und darüber reden, was wir eigentlich erreichen wollen. Das ist eine legitime Art und Weise. Man kann Klimaschutz aber auch mit Angst und Sorge betrachten. Man kann emotionalisieren. Man kann dagegen sein und das vor allen Dingen tun, indem man in einer reaktionären Art auf die Wirtschaftspolitik blickt. Das ist es, was Sie in diesen Anträgen getan haben. Das zeigt die blanke Ahnungslosigkeit, wie Wirtschaftszusammenhänge in Deutschland, in Europa, in der Welt funktionieren. ({0}) Es ist ein Trauerspiel, zu sehen, wie Sie mit neuen Chancen umgehen. Und das ist ein Problem. ({1}) Sie haben es geschafft, aufzuzeigen, dass Sie Angst davor haben, und gefordert, dass Deutschland jetzt aufhören solle, Klimapolitik zu machen, und das in einem Kontext, in dem es ein sogenanntes Race to Zero gibt, wo jedes Land auf der Welt angefangen hat, sich darüber Gedanken zu machen, wie es neue Technologien nutzen kann, um den Klimaschutz voranzubringen. Sie wollen, dass wir jetzt damit aufhören. Sie wollen also den deutschen Ingenieurinnen und Ingenieuren sagen, dass sie nicht mitmachen sollen bei einem solchen Konstrukt, mit dem man wirklich viel Geld verdienen kann, ({2}) bei einer Idee, wo neue Innovationen, neue Techniken dazu führen, dass deutsche Ingenieurskunst in der Welt dafür sorgt, dass wir klimaneutral werden. Man kann Klimapolitik mit Angst davor betrachten, dass sich die Welt zu schnell verändert. Man kann das aus der grünen Perspektive machen und sagen: Auf der Welt wird es ganz schlimm werden. Wir werden es niemals schaffen, irgendwohin zu kommen. – Oder man kann es aus einem anderen Blickwinkel machen und sagen: Die Welt wird sich verändern. Die Welt wird sich so verändern, dass wir nicht mehr mitkommen, dass wir nicht mehr Schritt halten können. – Das ist es, was Sie gemacht haben. Es gibt in Deutschland drei Dinge, die wir richtig gut können. Wir sind die besten Ingenieure der Welt. Wir wissen, wie wir neue Anlagen bauen. Wir wissen, wie wir neue Technologien einsetzen können, um Klimaschutz sinnvoll zu machen. Wir sind hervorragend in der Chemieproduktion. Wir sind hervorragend darin, neue Ideen zu entwickeln, neue Dinge zu erfinden, neue Werkstoffe, neue Produktstoffe einzusetzen, sodass wir in Zukunft mehr Produkte klimaneutral herstellen können. Und – auch wenn man immer darauf schimpft – wir sind hervorragend darin, Energienetze zu bauen. Das sind genau die drei Dinge, die wir auf der Welt brauchen. Wir brauchen neue Anlagen. Wir brauchen neue Stahlwerke. Wir brauchen neue Motoren. Wir brauchen neue innovative Kräfte, die wir entfesseln können, wenn wir eine funktionierende Klimaschutzpolitik machen, die genau das befördert. Wir brauchen neue Verbundstoffe. Wir brauchen neue Werkstoffe. Wir brauchen leichtere Produkte. Wir brauchen langlebigere Produkte. Wir brauchen neue Innovationen. Wir werden in der Zukunft einen Markt von 9 Milliarden Menschen auf der Welt haben, die neue Dinge brauchen. Und neue Dinge – das lernt man in der Wirtschaftspolitik sehr schnell – lassen sich gut verkaufen. Wir werden in der Zukunft neue Energienetze brauchen. Wir müssen auf der Welt dafür sorgen, dass es einen technologischen Sprung gibt, dass die Länder des Globalen Südens sofort den Sprung von der Kohleverstromung, von der Verstromung fossiler Brennstoffe, hin zu der Verstromung erneuerbarer Energien machen, die auch funktionabel für CO2-Reduktionen sorgt. ({3}) Das ist billige Energie, die sie einfach und schnell produzieren können. Das sieht man an allen Gestehungskosten. Damit schaffen wir ein Wirtschaftswachstum in der Welt, das Sie zuvor nicht gesehen haben. Wenn Sie diese Chance entfesseln, dann müssen Sie natürlich auf Innovation, auf neue Methoden, auf neue Ideen setzen. Sie müssen Märkten einen Rahmen geben; so funktioniert soziale Marktwirtschaft. Sie lassen den Markt entscheiden, was die richtige Produktion ist. Sie sagen Nein zu staatlicher Vorgabe, was Technologien angeht, wie es uns das Bundesverfassungsgericht aufträgt. Sie sagen Nein zu „Wir wissen, dass sich die E-Mobilität durchsetzen wird“. Sie sagen Nein dazu, dass Sie wissen, welche Technologien im Flugverkehr eingesetzt werden. Aber Sie sagen Ja dazu, dass Sie einen Rahmen brauchen, Innovationen, Fortschritt, um wirklich etwas zu erreichen. – Sie sagen leider zu gar nichts Ja. Das ist das größte Problem. Soziale Marktwirtschaft und Klimaschutz funktionieren ganz hervorragend. ({4}) Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Klaus Mindrup, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge der AfD sind geprägt von purer Ignoranz. ({0}) Wir sehen schon heute die Zeichen der menschengemachten Klimakrise. Mir persönlich tut es im Herzen weh, wenn ich durch unsere Wälder wandere und die Trockenschäden sehe, die eindeutig auf die Klimakrise zurückzuführen sind. ({1}) Ich sage Ihnen von der AfD: Wer seine Heimat liebt, der muss sich für starken Klimaschutz einsetzen. ({2}) Und wer die Solidarität mit kommenden Generationen im Blick hat, der muss sich den Verschwörungstheorien der AfD entschieden entgegenstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) – Sie ignorieren den menschengemachten Klimawandel. Und Sie reden hier mit jemandem, der Biologie studiert hat und die Zahlen und Fakten kennt. Ich kann Ihnen keine neue Brille kaufen, wenn Sie diese Statistik nicht lesen können, wenn Sie im Wald die Schäden nicht sehen. ({4}) Ich kann das nicht tun. Aber Ihre Ignoranz kann ich nicht mehr ertragen. ({5}) Die AfD hat auch die Coronapandemie ignoriert. Es gibt Parallelen zwischen beiden Krisen. Einen Virus können Sie genauso wenig weglügen wie die Klimakrise. Das funktioniert nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Ich bin stolz darauf, dass wir in Deutschland einen wirksamen Impfstoff entwickelt haben. Wir können sicher sein, dass wir als Menschheit den Kampf gegen diese Pandemie gewinnen. Und es gibt Parallelen zwischen der Pandemie und der Klimakrise. Wir können den Kampf gegen die Pandemie gewinnen, weil es eine Alternative gibt, den Impfstoff. Beim Klimaschutz ist es ähnlich. Wir müssen nicht mehr Erdöl, Erdgas und Kohle verbrennen. Wir haben eine Alternative, und zwar die erneuerbaren Energien, PV und Wind. Die Idee, die Konzeption dafür ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das in Deutschland entwickelt worden ist und einen weltweiten Boom ausgelöst hat, und der Vater war Hermann Scheer. ({7}) Das kommt genauso wie der Impfstoff aus Deutschland. Auf unser Land können wir stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Wer Klimaschutz, sozialen Frieden und Wohlstand will, muss den Ausbau von Wind und PV fördern. Sie sind kostengünstiger als alle fossilen Alternativen. Das hat in der Zwischenzeit sogar die Weltenergieagentur verstanden. ({9}) Und ich sagen Ihnen: Dies ist eine gute Woche. Die Solarindustrie ist nach Deutschland zurückgekommen. Das Schweizer Unternehmen Meyer Burger hat diese Woche seine Produktion in Sachsen-Anhalt begonnen. ({10}) Wir sehen also: Es entstehen neue Arbeitsplätze, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Wir müssen vorankommen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das geht nur mit einem grundlegenden Systemwechsel, den die SPD will. Die alte Energiewelt war geprägt von einer zentralistischen Produktion mit Atomkraftwerken, mit Kohlekraftwerken und dem Durchleiten an die Verbraucherinnen und Verbraucher, Top-down. Das ist aber vorbei. Wir werden in der zukünftigen Energiewelt dezentrale Produktion sehen, im ganzen Land verteilt. Es wird noch viel mehr sein, als wir im Augenblick haben. ({12}) Und wir werden die Akzeptanz steigern, weil wir die Menschen mitnehmen, weil sie etwas davon haben werden. Deswegen wollen wir die Gemeindeabgabe für PV. ({13}) Deswegen wollen wir Modelle für die Vermarktung von erneuerbarem Strom in der Gemeinde, in der Region. Die Wertschöpfung muss bei den Menschen ankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14}) Die Natur hat auch etwas davon. 1,5 Quadratmeter Freiflächen-PV ersetzen ungefähr 50 Quadratmeter Mais, und das ohne Belastung des Grundwassers. ({15}) Das ist auch gut für die Artenvielfalt, wenn die Flächen darunter extensiv bewirtschaftet werden. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bienen würden Solaranlagen bauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16}) Das Potenzial für Solar und für Wind an Land und auf See ist da. Aber man muss das sinnvoll erschließen. Dafür brauchen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, Speicher. Niemand hat Verständnis dafür, wenn, wie im letzten Jahr, über 1 Milliarde Euro dafür ausgegeben wird, dass Windstrom abgeriegelt wird. Das darf nicht sein. Herr Altmaier, hier haben wir noch ein Problem miteinander. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Speicher von Abgaben und Umlagen entlastet werden müssen, weil sie den Stromverbrauch zeitlich verschieben und keine Endverbraucher sind, anders als das die Bundesnetzagentur sieht. Speicher und Erneuerbare sind Zwillinge, die man nicht trennen darf. Das ist technologischer Fortschritt. Sie können sich das in den Ländern angucken, die das anders als wir machen. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen deutlich mehr Strom: Strom für Wärmepumpen, Strom für die Industrie, Strom für den Verkehr und Strom für den Wasserstoff. Deswegen, Herr Altmaier, habe ich nicht verstanden, dass Sie sich damals gegen die Abschaffung des 52‑Gigawatt-Deckels gewehrt haben. Ich nenne Ihnen jetzt einmal eine Zahl: Wir brauchen 1 000 Gigawatt PV in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({18}) Wir brauchen auch die Abschaffung des Bürokratiemonsters EEG-Umlage; denn sie steht der Sektorenkopplung entgegen. ({19}) Aus der Sicht eines Passivhausbesitzers, der vielleicht die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen wählt, ist das unnötig. Er hat eine PV-Anlage bis 30 KW auf dem Dach, zahlt dafür dank der EEG keine EEG-Umlage, hat vielleicht einen Batteriespeicher, eine Wärmepumpe und wahrscheinlich auch ein Elektroauto und kann zukünftig mit einer Anlage aus Berlin auch Wasserstoff speichern. Er zahlt also nichts für fossiles CO2. Das ist auch richtig, weil er es nicht produziert. Aber er zahlt auch keine Abgaben und Umlagen, eigentlich auch richtig. Aber was macht unsere Genossenschaft in Prenzlauer Berg? Wenn wir Strom aus unserer PV-Anlage nutzen wollen, um damit Wärmepumpen zu betreiben, müssen wir EEG-Umlage zahlen. Das lohnt sich nicht bei über 1 000 Euro, bezogen auf die Tonne CO2, für den Solarstrom. Das ist nicht sinnvoll. Das muss man abschaffen, damit die solare Zweiklassengesellschaft ausgehöhlt wird. ({20}) Was machen Stadtwerke? Stadtwerke wollen Wärmenetze defossilisieren. Dafür brauchen sie Großwärmepumpen. Das funktioniert nicht wirtschaftlich mit der EEG-Umlage. Was macht der mittelständische Industriebetrieb, der im Augenblick mit Braunkohle arbeitet, um seine Kessel zu heizen, und zukünftig mit erneuerbarem Strom arbeitet? Das wird unwirtschaftlich durch die EEG-Umlage. Was macht der Windmüller, der seinen Strom zwischenspeichert? Hatten wir schon: EEG-Umlage – funktioniert nicht. Die SPD sagt: Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung müssen dafür genutzt werden, den erneuerbaren Strom zu bezahlen und die Verbraucherinnen und Verbraucher von der EEG-Umlage zu entlasten. ({21}) Das ist sozial gerecht, weil es einen doppelten Effekt hat. Es beseitigt das Investitionshemmnis für die Sektorenkopplung, und es kommt direkt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an und entlastet ihren Geldbeutel. Das ist also ein Turbo für die erneuerbaren Energien. Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien als Beteiligungsprojekt. Wir wollen die Menschen mitnehmen. Wir wollen, dass es ein Graswurzelprojekt ist, wir wollen die Energiewende von unten. Herr Altmaier, vielleicht kriegen wir da in den nächsten zwei Wochen noch etwas hin. Das funktioniert nämlich nur, wenn wir uns bei den Abgaben und Umlagen, beim Ausbau deutlich bewegen. Ich hoffe, das geht noch in den nächsten Wochen. Ich appelliere an Sie; denn die Zukunft ist ganz klar erneuerbar, liebe Kolleginnen und Kollegen. Danke schön. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lorenz Gösta Beutin, Die Linke, hat als Nächster das Wort. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fieberkurve der Erde, auch die Fieberkurve der Menschheit steigt. Wir erleben Überschwemmungen und Dürren. Menschen im Globalen Süden sterben daran. Aber auch in Deutschland gibt es immer mehr Auswirkungen: wenn Schiffsverkehr teilweise nicht mehr möglich ist, wenn der Grundwasserspiegel sinkt oder wenn unsere Wälder, beispielsweise der Thüringer Wald oder der Harz, sterben. Wir sind nicht am Anfang der Klimakrise, wir sind mittendrin, und wir alle sind aufgefordert, jetzt entschieden zu handeln. ({0}) Aber was präsentiert uns die AfD? Sitzungswoche für Sitzungswoche immer das gleiche Märchen! Heute haben wir noch mal das Thema „Great Reset“ auf dem Tisch. Die AfD präsentiert uns das Märchen, dass irgendwo mächtige Männer sitzen, die sich das mit dem Klimawandel ausdenken ({1}) und die Klimaschutz machen, um uns alle zu knechten und zu unterdrücken. ({2}) Wissen Sie, woran mich das Ganze erinnert? Das erinnert mich an die antisemitischen Verschwörungstheorien, die wir Woche für Woche, Monat für Monat auf den Coronademos erlebt haben. Wir müssen ganz klar sagen: Verschwörungstheorien und Antisemitismus haben hier im Bundestag keinen Platz. ({3}) Es ist richtig: Wir brauchen einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, und wir brauchen einen sozialen und ökologischen Umbau. Das, was man machen muss, liegt auf dem Tisch. Das ist nicht Science-Fiction oder Zukunftsmusik. Anfang der 90er-Jahre, als hier im Deutschen Bundestag noch gar nicht an erneuerbare Energien gedacht wurde, haben sich Menschen bei mir im Wahlkreis, in Nordfriesland, auf den Weg gemacht und das Konzept der Bürger/‑innenenergie entwickelt, haben aus eigenen Ressourcen eine eigene Windkraftanlage aufgestellt, als die Politik noch gar nicht gehandelt hat. Das heißt: Seit Jahrzehnten machen sich Bürgerinnen und Bürger, machen sich Menschen auf den Weg, um den sozialökologischen Umbau selbst in die Hand zu nehmen. Das ist es, was wir brauchen. Wir brauchen eine demokratische und sozial gerechte Energiewende der Vielen, wir brauchen keine Energiewende der Konzerne. ({4}) Schauen wir doch in die Kommunen, die sich aufmachen, klimaneutral zu werden. Sie kämpfen darum, die Energienetze in öffentliche Hand zurückzubekommen, sie zu rekommunalisieren, erkämpfen sie zum Teil von EON und anderen Betreibern zurück. Das ist es, was wir brauchen. Wir brauchen die Energie in öffentlicher Hand. Wir brauchen keine Profite daraus, sondern müssen die Energiewende der Erneuerbaren jetzt entschieden ausbauen. ({5}) Last, but not least: Das wird nur funktionieren, wenn wir die sozialen Bewegungen mitnehmen, die Gewerkschaften, die Klimabewegung, wenn wir uns alle gemeinsam auf den Weg machen und Klimaschutz demokratisch, sozial, gerecht und mit den Beschäftigten in diesem Land machen. Dann kann es gehen, nicht mit der Angstmache von der rechten Seite. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spare mir, hier das Papier von Rechtsaußen zu kommentieren. Ich finde, es ist Zeitverschwendung und nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages, Sektenmanifeste zu kommentieren, die Verschwörungsmythen verbreiten. Das brauchen wir hier wirklich nicht. ({0}) Ich möchte stattdessen zu den realen Problemen, insbesondere denen der deutschen Wirtschaft kommen. ({1}) Damit bin ich bei Peter Altmaier. ({2}) Peter Altmaier erzählt seit über zwei Jahren: Ja, wir wollen die Industrie dekarbonisieren. Wir wollen CO2-freie Stahlerzeugung. Wir wollen den Rahmen dafür schaffen, dass die Industrie den Schritt in die CO2-Neutralität schafft. – Diese Bundesregierung hat Papiere verabschiedet, Konzepte; wir haben hier unzählige Reden gehört. Und was passiert im deutschen Land in deutschen Stahlwerken, gerade in diesem Moment? thyssenkrupp, der größte deutsche Stahlhersteller, trifft die Entscheidung, einen veralteten Kohle-Koks-Hochofen sanieren zu müssen, um überhaupt weiter Stahl produzieren zu können, weil Peter Altmaier und diese Bundesregierung nicht in der Lage sind, dafür zu sorgen, dass Direktreduktion bei der Stahlproduktion stattfinden kann, da der nötige Förderrahmen nicht geschaffen wird. Das ist es, was diese Bundesregierung macht. Das führt zur Deindustrialisierung unseres Landes. Wir verbauen die Technik des 19. Jahrhunderts, statt ins 21. Jahrhundert zu investieren, meine Damen und Herren. ({3}) Ich würde gerne mal wissen, was der Wirtschaftsminister dazu sagt, dass all das, was er seit zwei Jahren in Bezug auf die Klimaschutzziele erzählt, nicht stattfindet, dass die reale Entwicklung in unserem Land, in den Stahlwerken und den industriellen Kernen eine andere ist. Das ist Ihre Verantwortung, das ist Ihr Problem. Ich freue mich, Herr Peter Altmaier, wenn wir gleich etwas dazu hören. ({4}) Dann möchte ich zum zweiten Punkt kommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Peter Altmaier?

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne. ({0})

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Krischer, ist Ihnen bekannt, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der Stahlindustrie ein „Handlungskonzept Stahl“ verabschiedet hat, ({0}) in dessen Mittelpunkt die Erzeugung grünen Stahls durch Einsatz von Wasserstoff in der Direktreduzierung steht, dass wir auf dieser Grundlage ein sogenanntes IPCEI in Europa beschlossen haben und dass die Bundesregierung mit einem Förderaufruf die Stahlunternehmen und viele andere gebeten hat, Vorschläge zu machen? Dazu stehen im Bundeshaushalt 1,25 Milliarden Euro in der ersten Stufe bereit. Wie bringen Sie das in Übereinstimmung mit den völlig unbegründeten Vorwürfen, die Sie eben erhoben haben? ({1})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Abgeordneter Altmaier, es freut mich sehr, von Ihnen diese Zwischenfrage zu bekommen. Ich wundere mich nur darüber, da ich vorgestern unter anderem in der „Westdeutschen Zeitung“ lesen konnte, dass thyssenkrupp, also einer derjenigen, an die sich Ihr Förderaufruf richtet, sagt: Wir würden ja gerne in die Direktreduzierung investieren, wir würden das alles gerne machen, aber das, was Peter Altmaier vorlegt, was diese Bundesregierung vorlegt, ist für uns praktisch nicht nutzbar. – Das genau ist das Problem Ihrer Politik. Es ist wie beim Kohleausstieg: Wir hören schöne Worte von Handlungskonzepten, wir hören Ankündigungen, wir hören von irgendwelchen Gesprächsangeboten zum Klimaschutz, und danach kommt gar nichts mehr. ({0}) Das ist auch die Erfahrung, die die Wirtschaft macht. Es ist doch zum Totlachen, dass bei einer CDU-Regierung, bei einem CDU-Wirtschaftsminister die CEOs inzwischen bei den Grünen aufschlagen und sagen: Erlöst uns endlich von diesem Nichtstun, von diesem Stillstand in unserem Land. ({1}) Herr Altmaier, das sind die Fakten. Damit haben Sie zu kämpfen. Das ist die Bilanz Ihrer Politik. Sie können nachher noch eine Kurzintervention machen, wenn Ihnen das jetzt nicht reicht. Sie können gerne reagieren; dann setzen wir das fort. Ich möchte jetzt noch auf Ihren Kabinettskollegen Scheuer zu sprechen kommen. Er ist ja die Krönung des Ganzen. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer, Sie haben nur noch zehn Sekunden Redezeit.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, das kriege ich sehr schnell hin. – Der Kollege Scheuer ist ja derjenige, der uns nach wie vor erzählt, wir brauchten E‑Fuels. Dabei konnte man sich diese Woche ein wunderbares Twitterduell mit Herrn Diess angucken, der gesagt hat: Hört endlich auf, Bundesregierung, von E‑Fuels und Wasserstoff zu reden! Setzt endlich auf Elektromobilität. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer, es hilft alles nichts. Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Politik, die Sie in der Stahl- und Automobilindustrie machen, Herr Altmaier, Herr Scheuer, deindustrialisiert das Land, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja ein seltenes Erlebnis, und ich will der weiteren Debatte zwischen Herrn Krischer und unserem Wirtschaftsminister, die sich ja fortsetzen wird, nicht vorgreifen. ({0}) Ich möchte gerne auf den Titel unserer Debatte zurückkommen, auf Umweltschutz und Wohlstand. Die AfD hat einen Antrag vorgelegt, über den sie in der Überschrift schreibt: „Einfach frei leben“. Was dann kommt, kennen wir schon lange: Den menschengemachten Klimawandel gibt es nicht, und alles Geld, das wir ausgeben, um die Folgen des Klimawandels zu reduzieren oder um ihn zu verhindern, ist rausgeschmissenes Geld. – Das Einzige, was Sie inzwischen konzedieren – das war vor drei oder vier Jahren, am Anfang der Wahlperiode, auch noch nicht so klar –: Die Klimafolgen gibt es; aber natürlich nur durch natürliche Entwicklung – wobei sich jeder fragt, wie sich die Natur so schnell entwickeln kann, wie sie das vorher noch nie getan hat. ({1}) Aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wir können Klimafolgen mit Programmen, mit Maßnahmen abmildern; das tun wir auch. Überall im Land wird darüber diskutiert, und es werden Programme gemacht. Der entscheidende Punkt ist nur: Das ist wie ein Schmerzmittel bei einer Krankheit. Man behandelt die Folgen. Wir aber wollen die Ursachen behandeln, und die Ursache der Klimafolgen ist der Klimawandel. Deswegen zielen wir darauf ab, den Klimawandel zu begrenzen und den Anstieg der Erderwärmung entsprechend zu reduzieren. ({2}) Das kostet Geld; es ist nicht umsonst. Damit komme ich zum zweiten Punkt, zu unserer Debattenüberschrift: Wohlstand. – Rausgeschmissenes Geld würde den Wohlstand mindern. Aber das Geld, das wir ausgeben, um den Klimawandel zu verhindern, das ({3}) ist eine Investition. Es ist eine Investition, die uns erlaubt, Folgen zu verhindern, die wesentlich teurer sind als das, was wir bezahlen, um diese Folgen zu vermeiden. ({4}) Vereinfacht gesagt: Machen Sie sich klar, was der Klimawandel kostet, wenn wir ihn nicht begrenzen. Wir haben Probleme mit der Trockenheit: Das kostet die Landwirte Ertrag, das verursacht Mehrpreise bei den Nahrungsmitteln. Wir haben die Verluste in den Wäldern: Das kostet die Waldbesitzer unendlich viel Geld, das kostet die Bauherren Geld, weil das Bauholz teurer wird; die Möbel werden teurer. Es gibt mehr Unwetter: Überschwemmungen, Hagelschlag, Gewitter, Sturmböen und Ähnliches mehr. Was kostet das? Das erhöht die Kosten bei den Versicherungsprämien erheblich. Wenn Sie das alles addieren – es gibt kluge Leute, die das getan haben und uns die Summen der weltweiten Kosten des Klimawandels nennen, wenn wir ihn nicht verhindern –, erkennen Sie: Das Geld, das wir ausgeben, um den Klimawandel zu vermeiden, ist gut angelegtes Geld. ({5}) Ich komme noch einmal zu dem Begriff „Wohlstand“. Was ist denn Wohlstand? Für den einen ist Wohlstand, dass er sich für das Geld, das er verdient hat, Reisen leisten kann, Urlaub leisten kann, eine große Wohnung leisten kann und, und, und. Was wird Wohlstand in Zukunft sein? Wohlstand wird es auch in Zukunft geben. Das heißt, dass man in klimatischen Rahmenbedingungen leben kann, in denen man wohl leben kann, in denen man gesund leben kann, in denen Artenvielfalt die Stabilität des Ökosystems garantiert, in denen unsere Lebensmittel gesund sind, in denen unsere Lebenserwartung und die Chance, gesund alt zu werden, besser werden. Das sind die Wohlstandsbegriffe, die Sie noch lernen müssen. Jeder Einzelne, der diese Entscheidung für sich treffen muss, der wird sagen: Jawohl, das ist es mir wert, dass ich teurer Autofahren muss. Das ist es mir wert, dass ich bestimmte Dinge vielleicht nicht mehr machen muss oder nicht mehr machen kann. Ob ich zweimal im Jahr eine Fernreise mache oder nur einmal im Jahr oder an der Ostsee Urlaub mache – das sind individuelle Entscheidungen. Wenn das Geld für das eine nicht reicht, dann kann man es für das andere nehmen. Das bedeutet: ({6}) Wir werden Wohlstand in Zukunft anders verstehen als in der Vergangenheit: mehr immaterielle Werte, weniger materielle Werte. Auch damit kann man ein gutes Leben führen. Das ist unser Ziel. ({7}) Wir haben bei der Politik bisher sehr erfolgreich gearbeitet. Wir haben die Klimaziele für 2020 erreicht. Der eine sagt: nur wegen Corona. Der andere sagt: Corona hat kaum etwas dazu beigetragen. – Darüber will ich gar nicht streiten. Der Chef vom Umweltbundesamt sagt: Das ging auch ohne Corona. – Andere Fachleute sagen: Corona hat mitgeholfen. – Völlig egal! Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben ein Klimaschutzgesetz, in dem uns genau vorgeschrieben wird, was wir jährlich bis zum Jahr 2030 erreichen müssen. Und – jetzt kommt ein entscheidender Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen –: Dieses Klimaziel war ein europäisches Klimaziel; deswegen steht das in diesem Klimaschutzgesetz. Wir wissen alle – das musste uns nicht erst das Verfassungsgericht sagen –, dass wir in der Zeit nach 2030 ambitionierter vorgehen müssen. Aber dafür haben wir auch noch Zeit und Entwicklungsmöglichkeiten. Ich bin dem Kollegen Köhler ganz dankbar, dass er noch einmal sehr deutlich darauf hingewiesen hat, mit welchen technologischen Entwicklungen wir dabei Hilfe und Rückenwind bekommen. Trotzdem ist es richtig, dass wir dieses Klimaziel im Rahmen der EU erhöhen – was wir jetzt mit dem Klimaschutzgesetz und seiner Anpassung auch tatsächlich tun –, aber wieder im europäischen Gleichschritt. ({8}) Wenn wir zu weit vorpreschen, dann haben wir gar nichts davon, weil wir uns im Wettbewerb schädigen. Unsere Wirtschaftskraft brauchen wir aber, um die Mittel zu erzielen, die wir brauchen, um den Klimaschutz zu bezahlen. Diesen Zusammenhang muss man immer wieder betonen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne die letzte halbe Minute mit meiner Rede zu Ende bringen. Ich bitte um Verständnis. – Jetzt haben Sie mich beinahe aus dem Konzept gebracht. – „Einfach frei leben“ steht über Ihrem Antrag. Einfach frei leben können wir dann, wenn wir den Klimawandel bewältigt haben. Dann können wir einfach frei leben, ({0}) auch wenn sicher anders als heute. Dazu gehört auch, Kollegen von der AfD, dass wir anderen Ländern, die materiell nicht in der Lage sind, die Überwindung des Wandels so leicht zu finanzieren, dabei unter die Arme greifen; denn das Klima beschränkt sich nicht auf Deutschland und nicht auf Europa, sondern was hier klimatisch passiert, entsteht in anderen Teilen der Welt. Deswegen ist es richtig, den betreffenden Ländern dabei unter die Arme zu greifen. ({1}) Auch das ist gut investiertes Geld. Einfach frei leben: nicht nur für uns, sondern auch für andere Menschen. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karsten Möring. – Von mir Ihnen einen schönen guten Morgen! Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Zunächst zu Herrn Mindrup und zu Frau Weisgerber: Ihre Behauptung, dass erneuerbare Energien so schön viel billiger als fossile Energien sind, wird durch den Blick auf jede Stromrechnung in Deutschland von Bürgern und Unternehmen als Lüge überführt. ({0}) Der Green Deal, wie von Frau von der Leyen verkündet, verfrühstückt in den kommenden zehn Jahren mindestens 2,6 Billionen Euro. Wenn ich das als 1‑Euro-Münzen auftürme, habe ich zwanzig Türme von hier bis zum Mond. Und das ist nur der Auftakt für die als Great Reset getarnte gesamtgesellschaftliche Transformation. Die Initiatoren behaupten, die Zukunft der kommenden Generationen zu sichern. Jedoch ist genau das Gegenteil der Fall. ({1}) Das Vernichten von Werten für eine ideologiegetriebene Planwirtschaft stellt einen gesellschaftlichen Rückschritt, einen Zivilisationsbruch dar. ({2}) Ihre Vorstellung der weltweiten Transformation innerhalb der kommenden 25 Jahre ist ein menschenverachtendes Sozialexperiment zulasten der kommenden Generationen. ({3}) Sie glauben, in unserer entwickelten Gesellschaft einen Makel wahrgenommen zu haben. Dabei ist diese Gesellschaft die beste, die wir je hatten. Diese Gesellschaft hat durch ihren Fortschritt und ihre Technologie das rapide Anwachsen auf bald 8 Milliarden Menschen ermöglicht. Aus den gleichen Gründen kann ein Großteil dieser Menschen auch ernährt werden. Durch Technologie und Energie rücken die Menschen zusammen und sind in der Lage, sich Wohlstand zu erarbeiten. All dies wollen Sie mit Ihrer Politik beenden. Sie haben als Ziel, das gesellschaftliche Fundament, auf dem die Menschheit wächst und gedeiht, für eine neue ökosozialistische Dystopie zu zerstören. ({4}) Unsere Gesellschaft, wie sie ist, ist durch milliardenfachen Versuch und Irrtum an jedem Tag im Leben eines Menschen zu der Zivilisation gewachsen, die wir heute haben. Sie ist nicht perfekt; aber sie ist die beste, die wir je hatten. Diese evolutionäre Entwicklung der Menschheit wollen Sie nun durch eine ökosozialistische Reißbrettgesellschaft ersetzen: erdacht in den Elfenbeintürmen lebensferner, ideologischer Ludditen. ({5}) Eine Frage ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. Da Ihre Transformation auf Zwang und Unfreiheit beruht: Was geschieht mit denjenigen, die sich diesem Zwang widersetzen, die sich ihre Grundrechte nicht für eine obskure Klimahypothese nehmen lassen wollen? Werden diese dann gesellschaftlich geächtet wie all die Kritiker der widersprüchlichen Coronamaßnahmen? Wird man deren Grundrechte beschneiden wollen wie die derjenigen, die einer Impfung mit einem halbausgegorenen Impfstoff kritisch gegenüberstehen? Oder aber droht am Ende diesen Leuten der Klima-Gulag? ({6}) Dabei ist die Lösung einfach, und es geht ohne Zwang: Energetische Entwicklung heißt die Lösung. Nicht geringere und schwankende Energieversorgung führt uns zum Ziel, sondern eine Intensivierung zuverlässiger und preiswerter Energie. ({7}) Dies führt dann dazu, dass die Menschheit ihre Utopien – eine Begrünung der Wüsten, eine Vervielfältigung der landwirtschaftlichen Anbauflächen zur Bekämpfung von Hunger und Armut – realisieren kann. Folgt man jedoch Ihrem dogmatischen Weg in eine Mangel- und Verzichtswirtschaft – Sie haben oft gesagt, dass Sie das wollen –, dann ist das Schicksal der Lebenden ungewiss, und die Zukunft für kommende Generationen sieht düster aus. ({8}) Einfach frei leben, aber normal. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Dr. Kraft. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Nina Scheer. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon vielfach gesagt worden, worum es bei dieser Debatte geht. Wenn man jedoch die Reden der AfD hört, weiß man – obwohl es um Ihre Anträge geht – aber am allerwenigsten, um was es heute geht; denn Sie vernebeln und vernebeln und vernebeln. ({0}) Das ist bedenklich. Deswegen möchte ich jenseits der Fachfragen zur Klimapolitik noch einmal auf eine übergeordnete Fragestellung eingehen, die meines Erachtens eine der größten Bedrohungen dieser Zeit für unsere Demokratie beschreibt, nämlich die Vermischung zwischen Tatsachen und Meinungen. Das, was Sie hier ständig mit Ihren vermeintlichen Tatsachenbehauptungen betreiben, ist eigentlich nichts anderes als das Kundtun Ihrer persönliche Meinung von einem Weltbild, das Sie vielleicht für sich in Ihren eigenen vier Wänden pflegen können. Mit Blick auf die Verantwortung für unsere Gesellschaft kann das aber nur bedeuten, dass Sie die Handlungserfordernisse unserer Zeit ignorieren und somit den Kopf in den Sand stecken hinsichtlich der Aufgaben, die wir alle haben, nämlich der Bedrohung durch den Klimawandel und auch anderweitigen Bedrohungen, die uns heutzutage entgegenkommen, zu begegnen und sie zu bewältigen. Diese Ignoranz und Wahrheitsverleugnung ist wirklich eine der größten Bedrohungen, die wir heutzutage haben. ({1}) Nach dem Motto „Jedem seine eigene Wahrheit“ kommt man dann genau zu dem, was wir derzeit in den USA erleben: dass Republikaner auch heute noch Trump-Anhänger sind, die ignorieren, was da im Kapitol passiert ist, und die ignorieren, was an Bedrohungen für die Demokratie existiert. Letztendlich sind Sie – kommen wir zurück zu den Klimathemen – genauso wie die Anhänger dieser trumpistischen Politik, die den Klimawandel leugnen. Man differenziert dann – ganz sophisticated – zwischen menschengemachtem und nicht menschengemachtem Klimawandel. Letztendlich wollen Sie sich aber der Aufgabe der Menschheit, den Klimawandel zu stoppen, nicht stellen. Das ignorieren Sie. Diese Wahrheitsleugnung ist die größte Bedrohung. ({2}) Ich möchte es an ein paar Punkten festmachen, die in Ihrem Antrag in wahrheitsvernebelnder Form enthalten sind. Zum Beispiel sprechen Sie sich für Technologieoffenheit aus. Wenn Sie aber wirklich Technologieoffenheit wollen, dann müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass bestehende Marktverzerrungen abgeschafft werden müssen. Wenn man also eine CO2-Bepreisung vornimmt, wie wir es mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz gemacht haben – natürlich mit sozialem Ausgleich, wie sonst? –, dann ist das genau richtig angesetzt. Nur so kann man zu einem Markt kommen, der transparent zeigt, welche Technologien die günstigsten sind. Wenn man es aber verweigert, diese Mechanismen in Gang zu setzen, so wie Sie das tun, dann kann man überhaupt nicht von Technologieoffenheit sprechen. Deswegen ist das in sich widersprüchlich, was Sie darlegen. ({3}) Nachdem Sie die Technologieoffenheit angesprochen haben, kommen Sie gleich zum nächsten Widerspruch: Sie fordern anschaulich und unübersehbar ein, dass wir fördern. Wir sollen technologiefokussiert – also nicht technologieoffen, sondern technologiefokussiert – die Atomenergie fördern. Das ist eine weitere Aussage aus Ihrem Antrag – völlig rückwärtsgewandt! ({4}) Sie alle wissen – das ist seit Jahrzehnten bekannt –, dass diese Förderung, die Sie einfordern, über die nächsten Jahrzehnte überhaupt keine Energiegewinnung bedeuten kann und dass sie einen Rattenschwanz an Folgekosten und Gefahren nach sich zieht, die alle auch in Kosten abbildbar sind, von den Endlagerkosten bis zu den Terrorgefahren, die es abzuwenden gilt. Es ist also schlicht gelogen – wenn ich Ihnen unterstelle, dass Sie es besser wissen, als der Antrag vermuten lässt –, dass hiermit eine Technologieoffenheit verfolgt würde, sondern das ist eine Vernebelung. Sie verkaufen den Menschen hier eine Lösung, die definitiv keine ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Dr. Kraft?

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das tu ich nicht. Danke. Ich möchte dann noch auf das eingehen, was man stattdessen tun sollte, diese Vernebelung einmal beiseitegelegt. Leider habe ich jetzt zu wenig Zeit, um so ausführlich darauf einzugehen, wie ich es eigentlich wollte. Es ist wichtig – das ist schon angeklungen –, dass wir das ermöglichen, was uns auf dem Silbertablett geboten wird, nämlich die Nutzung von erneuerbaren Energien. Erneuerbare sind die günstigste Form der Energiegewinnung, und wir können dankbar sein, dass wir diese Option haben. In welcher Welt würden wir leben, wenn wir nicht die erneuerbaren Energien hätten? Wir haben sie aber! ({0}) Deswegen müssen wir sie auch nutzen. Sonne und Wind schicken uns keine Rechnung. Das ist Fakt, und das kann man auch nicht leugnen. Die Frage lautet, wie dies zu tun ist. Es gibt vielfache Stellschrauben, die schon gedreht worden sind, die wirken müssen, und die auch wieder zurückgedreht werden müssen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz – Klaus Mindrup hat es schon erwähnt – hat eine weltweite Ausstrahlungswirkung. Es hat den weltweiten Schub der Entwicklung von Erneuerbarer-Energien-Technologie ermöglicht. Nur deswegen haben wir heute weltweit diese Option, und nur deswegen verzeichnen wir heute schon einen 50-prozentigen Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor. Aber leider haben wir auch Hemmnisse im System. Da möchte ich auch in unserer Großen Koalition noch einmal einen Appell an die eigenen Reihen richten, und zwar in Richtung CDU/CSU-Fraktion. Es kann natürlich nicht sein, dass wir uns diesem gemeinsamen Ziel verschreiben, dann aber bei den stärksten Hemmnissen – nämlich bei dem Ausbau und den Mengenbeschränkungen – einfach nicht vorankommen. ({1}) Wir gehen zwar jetzt einen kleinen Zwischenschritt Richtung 2022, aber das reicht natürlich bei Weitem nicht. Wir benötigen im Grunde eine Vervierfachung des Ausbaus erneuerbarer Energien, wenn man in Rechnung stellt, dass in den letzten Jahren zu wenig ausgebaut wurde.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt ist die Zeit leider um. – Ich wollte noch auf Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – die Grundwerte der SPD – zu sprechen kommen, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, das wird heute nichts mehr.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– das geht jetzt nicht mehr. Aber aus diesen Werten heraus begründet sich die Energiewende, und zwar eine beschleunigte. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Nina Scheer. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hagen Reinhold.

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Präsidentin! Meine lieben Abgeordneten! Sehr geehrte Herren von der AfD, mich hat Ihr Antrag schon ein bisschen überrascht. Sonst trauen Sie keiner Institution über den Weg – egal ob dem Parlament, der Bundesregierung, der EU, der UN –, alle sind unfähig, alle zu dumm, einen Eimer Wasser umzuschütten, und heute, ganz plötzlich, der große, perfide Plan dunkler Mächte, den willfährige Vasallen in der Regierung umsetzen. ({0}) Ganz ehrlich? Das klingt für mich nach einem Paradoxon, das Schrödingers Katze in nichts nachsteht. Diese Verschwörungsgeschichten fetzen ja, und Ihre Zeugen, die sind noch interessanter, ehrlich gesagt. Wenn man den Links in Ihren Anträgen als Begründung folgt, endet man manchmal im Nichts, da liegt gar nichts dahinter; aber Ihre Zeugen sind genial. Zum Beispiel beklagen Sie die fehlende Legitimität des WEF, und als Zeugen ziehen Sie einen heran, der über den Neoliberalismus des WEF schimpft und sagt: Marktwirtschaft – viel zu viel; was die wollen, das lehnen wir ab. – Das ist Ihr Zeuge, den Sie benannt haben. Mich irritiert das. Ich könnte jetzt lange über ein Hufeisen reden, das spare ich mir aber heute. ({1}) Zu dem unsinnigen Inhalt Ihrer Anträge. Wir sollen also feststellen, dass es keinen Beweis für den Einfluss von CO2 aufs Klima gibt. Mir scheint, Sie haben keine Ahnung, wie Wissenschaft funktioniert. Es gibt keine ultimativen Beweise, wohl aber relativ gesichertes Wissen, definitiv auch über den menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel. ({2}) Dazu herrscht ein überragender Konsens der Wissenschaft. Die AfD trägt hier Meinungen vor, die Wissenschaft jedoch vermittelt Fakten. Dieser feine Unterschied wird gerne von Ihnen ignoriert, indem so getan wird, als wären Tatsachen verhandelbar. Von Artikel 5 des Grundgesetzes ist der Blödsinn der AfD womöglich noch gedeckt, von der dort in Absatz 2 und 3 formulierten Selbstkontrolle wohl eher nicht. ({3}) Mich ärgert, dass wir zwei Tage vor dem Geburtstag des Grundgesetzes – es wird am Sonntag 72 Jahre alt – tatsächlich noch Leute im Bundestag sitzen haben, die dermaßen mit den Füßen aufs Grundgesetz treten. ({4}) Welche Beweise brauchen Sie denn und von wem? Wahrscheinlich nicht von Frauen, wahrscheinlich nicht von Menschen mit Migrationsgeschichte. Ich weiß nicht. Vom Mann im Mond? Von wem erwarten Sie es? Mir erschließt sich das nicht. Sie sprechen von Verarmung und wirtschaftlichem Verfall.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich würde sagen, Verschwörungsgeschichten haben wir genug gehört. Für mehr ist heute keine Zeit. Ich biete Ihnen hier kein Podium dafür. Tut mir leid. ({0}) Sie sprechen von Verarmung und wirtschaftlichem Verfall. ({1}) Da sieht man wieder, dass Sie von Wirtschaft überhaupt gar keine Ahnung haben. Was dieser Transformationsprozess in Netzen, in Energien, in der Wirtschaft hervorgerufen hat, sieht man zum Beispiel in meinem Wahlkreis. Ich wohne in Rostock. Dort hat Nordex seinen Sitz. Sie tun manchmal so, als würden wir 10‑Euro-Scheine an Luftballons hängen und diese in den Himmel schicken mit einem Zettelchen, auf dem steht: Liebe Wolken, ändert das Klima nicht. – Nein, das Geld wird eingesetzt, um diese Transformation voranzutreiben. ({2}) Es gibt bei Nordex 1 000 Leute, die richtig gutes Geld verdienen, die Steuern zahlen, womit der ÖPNV finanziert werden kann, womit Schulen gebaut werden können. Dieses Geld wird doch nicht in den Schornstein gesteckt, sondern es hilft den Menschen in diesem Land, ihre Zukunft zu gestalten. Das sehen Sie, rückwärtsgewandt wie Sie sind, überhaupt nicht ein. ({3}) Deshalb kann man eigentlich nur die Augen schließen, wenn man solche Anträge sieht. Leider ist meine Redezeit vorbei. Ich hätte noch viel zu sagen. Bestimmt sehen wir bald neue und bessere Anträge; denn heute stehen keine weiteren Anträge von Ihnen auf der Tagesordnung. Darüber freue ich mich. Ich wünsche uns was. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hagen Reinhold. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, Ihr Dialog mit meinem Kollegen Oliver Krischer war einigermaßen unterhaltsam, aber er war auch traurig. Denn, ich finde, er zeigt ein Stück weit den Kern des Problems, das wir seit den letzten vier Jahren mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben. Denn Sie verwechseln, seit Sie Wirtschaftsminister sind, Handlungskonzepte mit Handlung. ({0}) Ich finde es traurig, dass man Ihnen am Ende Ihrer Amtszeit sagen muss, dass nur, weil Sie etwas aufschreiben, es noch lange nicht Realität wird. Das ist der Fall beim „Handlungskonzept Stahl“, das Sie aufgeschrieben haben; es ist nicht Realität geworden. Das ist der Fall bei den großen Klimakonsensen, die Sie angeboten haben, wo Sie nichts erfüllt haben, wo Sie auch nichts einhalten wollten und konnten. ({1}) Sie haben Industriestrategien geliefert, die keine Industriepolitik beinhalteten, sondern nur der Versuch waren, die deutschen Konzerne hoch zu fusionieren und auf die Fragen der Wettbewerbsfähigkeit keine Antwort gegeben haben. Ich war vor Kurzem bei der Wirtschaftsvereinigung Stahl zu einem parlamentarischen Abend eingeladen. Die Überschrift dazu war ein Stück weit an Sie gerichtet: #nichtkönntemuss. ({2}) Das ist das, was Ihnen die deutsche Industrie seit Jahren sagt und weshalb die führenden großen Konzerne Ihnen vor vier Wochen einen Brief geschrieben haben. Fehlender Klimaschutz ist ein Standortrisiko für die Bundesrepublik Deutschland in der Wirtschaftspolitik. ({3}) Ich spitze es zu: Peter Altmaier ist ein Standortrisiko für die Wirtschaftspolitik in Deutschland. ({4}) Die Unternehmen sind bereit und wollen in Wasserstoff investieren. Die Stahlindustrie hat die entsprechenden Technologien entwickelt und wartet nur auf die Förderinstrumente, und Sie bewegen sich nicht. Die Chemieindustrie wartet auf eine Leitentscheidung, um endlich umzustellen, um den Weg Richtung klimaneutrale Chemie gehen zu können. Das dauert eben seine Zeit. Da kann man nicht bis 2030 warten. Bis solche Technologien marktreif sind, müssen sie erst einmal entwickelt, gefördert und etabliert werden. Wenn wir erst 2030 damit anfangen, haben wir zehn entscheidende Jahre im Klimaschutz verloren ({5}) und ein Stück unseres Budgets an Emissionen, das wir noch haben, schon verbraucht. ({6}) Deswegen geht es darum, zu handeln. ({7}) Nicht könnte, muss – das ist der Job, den Sie haben. ({8}) Deswegen brauchen wir in Zukunft eine andere Bundesregierung, eine Bundesregierung, die das Handeln in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, ({9}) die endlich die erneuerbaren Energien ausbaut, die endlich die Infrastruktur für eine klimaneutrale Wirtschaft der Zukunft schafft, die neue Schieneninfrastruktur baut, damit die Züge auch wirklich eine Alternative zu den Lkws darstellen können, die zum Beispiel marode Brücken renoviert. Ich wohne in Köln. Ich schaue mir jeden Tag die Leverkusener Rheinbrücke an, die für den Schwerlastverkehr gesperrt ist. ({10}) Sie schieben einen riesigen Sanierungsstau vor sich her, weil Sie verfehlte Haushaltspolitik mit Generationengerechtigkeit verwechselt haben. Sie hinterlassen künftigen Generationen einen riesigen Berg an Schulden in Form von maroder Infrastruktur, fehlenden digitalen Netzen und mangelndem Ausbau der Stromleitungen. Das alles ist Ihre Bilanz. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung aus der SPD-Fraktion?

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, klar. Gerne. Ich habe über die SPD noch gar nicht gesprochen. Super.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Dröge, Sie haben von Infrastruktur gesprochen. Infrastruktur ist natürlich wichtig. Sie haben eben die Stromnetze erwähnt. Meine Frage ist: Wie wichtig sind für Sie die Gasnetze? Ich glaube, wir haben ungefähr 55 000 Kilometer – ist das richtig? – Gasnetz in Deutschland. ({0}) Welche Zukunft sehen Sie für die Gasnetze? Es gab kürzlich eine Diskussion, bei der der Chef der Bundesnetzagentur davon gesprochen hat, dass man diese Gasnetze nicht mehr braucht. Das wäre ein Milliardenverlust für die öffentlichen Unternehmen, für die Stadtwerke, denen diese überwiegend gehören. Sehen Sie eine Chance, diese Gasnetze in Richtung Wasserstoff zu transformieren, oder wollen Sie diese Gasnetze zurückbauen? Dann müssen Sie ja irgendwie die Energieversorgung der Häuser herstellen. Dafür müsste das Stromnetz extrem stark ausgebaut werden. Was ist da Ihre Position?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für diese Frage. Sie ist sehr spannend. Zufällig habe ich gestern mit dem Mittelstandsausschuss von BDI und BDA, wo man sich genau dieselbe Frage gestellt hat, darüber diskutiert. Natürlich ist es so: Wenn man die Wirtschaft auf Wasserstoff umstellt, dann muss man auch die Frage der Netzinfrastruktur beantworten. Das Fraunhofer-Institut hat dazu interessante Studien vorgelegt, in denen steht, dass man die Gasnetze auch doppelt nutzen kann, also das bestehende Gasnetz beispielsweise auch für die gleichzeitige Durchleitung von Wasserstoff. Die großen Gasnetzbetreiber haben vor ungefähr einem Jahr im „Handelsblatt“ gesagt, sie wollten den Weg gehen, die Gasnetze Wasserstoff-ready zu machen. Das ist eine vernünftige Infrastruktur, die man dann auch nutzen kann. Das ist eine Wirtschaftspolitik der Zukunft. Aber dafür braucht man eben auch eine Wirtschaftspolitik, die die Förderung von Grünem Wasserstoff in den Mittelpunkt stellt. Auch da hat diese Bundesregierung nichts geleistet; denn Grüner Wasserstoff ist nur dann Grüner Wasserstoff, wenn er beispielsweise auch netzdienlich hergestellt wird. Dafür bräuchte es zum Beispiel eine Flexibilisierung des Abgaben- und Umlagesystems, um die Herstellung von Grünem Wasserstoff anzureizen. ({0}) Dies ist bislang nicht geschehen. Dafür bräuchte es eben auch einen Ausbau von erneuerbaren Energien, damit man Grünen Wasserstoff überhaupt produzieren kann. Dafür bräuchte es eine Offensive für faire Energiepartnerschaft mit anderen Ländern der Welt, bei denen es dann nicht nur einfach heißt: „Wir kommen mit unseren wirtschaftlichen Interessen“, sondern bei denen wir auch auf die wirtschaftlichen Interessen anderer Regionen dieser Welt achten. Das wäre eine vorausschauende Politik, ({1}) die auf der einen Seite Klimaschutz und auf der anderen Seite wirtschaftliche Interessen miteinander verbindet. Dafür könnten wir Geld in die Hand nehmen. Dafür könnten wir politisch handeln. Dafür braucht es eine andere Regierung. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer im Jahr 2021 den von Menschen verursachten Klimawandel leugnet, der streitet mit Sicherheit auch ab, dass die Dinosaurier ausgestorben sind. Das ist zwar Unsinn, aber es zeigt, auf welchem Niveau die sogenannte AfD hier auftritt. Ich nehme diesen Tagesordnungspunkt zum Anlass, um noch einmal die Sicht meiner Fraktion auf die aktuellen Anforderungen des Klimawandels darzustellen. Es ist zum Beispiel unstrittig, dass der motorisierte Individualverkehr ein wesentlicher Mitverursacher des CO2-Ausstoßes ist. Es ist aber auch unstrittig, dass heute über 800 000 Menschen in Deutschland direkt in der Automobilindustrie arbeiten. ({0}) Die Anzahl derer, die im Umfeld dieser Industrie beschäftigt sind, ist um ein Mehrfaches höher. In der Regel sind es tarifgebundene Arbeitsplätze, und in der Regel sind es – dank der IG Metall – auch überdurchschnittlich vergütete Arbeitsplätze. ({1}) Wir brauchen also eine Lösung, wie wir diese Arbeitsplätze langfristig erhalten und gleichzeitig die Anforderungen des Klimawandels erfüllen. ({2}) Aus Sicht der Linksfraktion sind Maßnahmen für den Umwelt- und Klimaschutz genauso wichtig wie Maßnahmen zur Sicherung dieser Industriearbeitsplätze. Wer aber allen Ernstes glaubt, die Umstellung der Pkw- auf die sogenannte E-Mobilität könne die Lösung beider Probleme sein, der irrt gewaltig. In Deutschland sind derzeit rund 54 Millionen Fahrzeuge zugelassen. Man muss kein Hellseher sein, um vorauszusehen, dass diese Anzahl in den nächsten Jahren deutlich zurückgehen wird. Die Ursachen dafür sind – das haben wir alle so gewollt, und das wollen wir auch weiterhin – ein wesentlich verbesserter öffentlicher Personennahverkehr bzw. Personenverkehr insgesamt, aber auch deutliche Veränderungen im Mobilitätsverhalten vieler Menschen. Die Zeit, dass man ein Auto braucht, um mobil zu sein, wird für viele Menschen Geschichte sein. Dieser Trend macht aber auch vor den sogenannten Elektroautos nicht halt. Wir brauchen also für den Erhalt der Industriearbeitsplätze einen äquivalenten Ersatz. Dafür gibt es kein Patentrezept. Es muss ein breites Portfolio an Industriezweigen sein. Doch um das zu entwickeln, müssen die Regierungen sowohl im Bund als auch in den Ländern, die Industrieverbände, aber auch die Gewerkschaften erkennen, dass dieser Wandel nicht nur bevorsteht, sondern dass er schon längst eingesetzt hat. Auch deshalb ist es müßig, darüber zu debattieren, ob man Pkw sinnvoller mit Verbrennungsmotoren oder batterieelektrisch antreibt. Es ist auch müßig, darüber zu debattieren, ob man den herkömmlichen Kraftstoffen Biokraftstoffe beimischt oder nicht und, wenn ja, mit welchem Anteil. Wenn wir die Klimakrise ernst nehmen, dann helfen uns keine kleinen Bausteine. ({3}) Das hat uns auch das Verfassungsgericht klar und deutlich attestiert. Doch bei allen Maßnahmen ist es zwingend notwendig, an die Beschäftigten und an ihre Einkommen zu denken. Nur dann wird es eine gesellschaftliche Akzeptanz für diesen Wandel geben. Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Lutze. – Letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Stein. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In allen drei Anträgen der AfD steht eigentlich mehr oder weniger das Gleiche. Stellenweise haben Sie sogar exakt dieselben Textpassagen verwendet. Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann schreiben Sie doch einfach weniger Anträge. ({0}) Sie schreiben: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis für einen maßgeblichen Einfluss auf das Weltklima durch vom Menschen verursachte CO2-Emissionen. Ich schlage Ihnen vor, Sie fangen mal an, sich mit Ergebnissen und Fakten von Tausenden Forschern und Wissenschaftlern zu beschäftigen, statt mit dem Kochbuch von Attila Hildmann. ({1}) Sie reden von „Klima-Fiktion“, von „angeblichen Beeinträchtigungen“, von „unbelegten ... hypothetischen Annahmen“. Der menschliche Einfluss auf das Klima ist belegt, er ist zudem logisch, und er ist signifikant. Daran wird sich auch nichts ändern, nur weil Sie es in Ihr Lexikon der Ignoranz geschrieben haben. Sie behaupten, die deutschen und europäischen Bemühungen um ein nachhaltiges Wirtschaften wären aus dem Wunsch geboren, ein kollektivistisches System aufzubauen. Ich zitiere mal eine gängige Definition: Die Bezeichnung „Kollektiv“ benennt in der Soziologie allgemein eine Mehrzahl von Personen, die aufgrund eines Systems von gemeinsamen Normen, Wertvorstellungen und Handlungen Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln. Man könnte es also auch Volk oder Staat, Team oder Partei nennen. Dass der Begriff „Kollektiv“ im Kommunismus und Sozialismus etwas einseitig interpretiert und ideologisch missbraucht wurde, sollte doch gerade Sie davon abhalten, genau dies zu tun. Aber nein! Denn richtigerweise treiben Sie ja in Ihrer nationalistischen Doktrin diese Begriffsreduzierung bis hin zur Begriffsstutzigkeit. Niemand ist unverdächtiger, ein kollektivistisches System à la Sozialismus aufbauen zu wollen, als eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung. ({2}) Niemand ist unverdächtiger, ein nationalistisches Kollektiv begründen zu wollen, als diese Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD. Und niemand ist sich im Ziel einiger, den Klimaleugnern ein Kollektiv der Vernunft und des Verstandes entgegenzustellen, als die demokratischen Fraktionen dieses deutschen Parlamentes jenseits der sogenannten Alternative. ({3}) Und weiter im Text. Sie fordern, dass wir wieder in die Kernenergie einsteigen sollten. Wir sind in der Politik nicht bei „Wünsch dir was“. Deshalb von mir ganz klar: Dieses Thema ist für Deutschland durch. ({4}) Ich bin gespannt, wie Sie Ihren destruktiven und toxischen Populismus in Stellung bringen, wenn es um die Frage und die Entscheidung zu den Standorten der Atommüllendlager geht. Weiterhin kann ich Ihnen auch nicht helfen, wenn Ihnen die Kreativität fehlt, wenn es darum geht, wie man ein Wirtschaftssystem umbauen und gleichzeitig seine Prosperität dabei erhalten kann. In Wahrheit ist es sogar so, dass wir es umbauen müssen, um unser Wirtschaftssystem fit und zukunftsfähig zu halten. Regenerative Energien und Antriebstechnologien sind die Zukunft. Deutschland ist hier Technologieführer. Das Erreichen einer CO2-Neutralität des gesamten menschlichen Handelns ist die Lebensgarantie unseres Planeten. Und da wir auch in Zukunft eher rohstoffarm bleiben werden, ist unser Rohstoff die Basis, auf der wir alle leben – auch Sie –: Innovation, Forschung und Entwicklung, umfassende Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung! ({5}) Wenn wir unsere Industrie nicht befähigen, sich daran an vorderster Linie zu beteiligen, sind wir bald das, vor dem Sie der Bevölkerung Angst machen wollen: abgehängt und im globalen Vergleich wirtschaftlich nicht mehr leistungsfähig. Und als besonders beschämend empfinde ich es dann noch, wenn Sie so tief absinken, in einem Antrag zum Weltklima die globalen Folgen der Covid‑19-Pandemie zu instrumentalisieren. Ja, Corona hat Familien, unser Zusammenleben und auch die Wirtschaft hart getroffen. Aber daraus abzuleiten, dass man sich deshalb nicht mehr um Klimaschutz kümmern soll, ist so krude, dass ich es kaum beschreiben kann, ohne hier einen Ordnungsruf zu riskieren. Dass dieses Virus auf den Menschen übergesprungen ist, dass es darüber hinaus noch weitere sogenannte Zoonosen gibt, hat nahezu ausschließlich etwas damit zu tun, dass wir Menschen eben nicht mehr ausreichend im Einklang mit der uns umgebenden Natur leben. Wir beuten Regenwälder aus, wir zerstören Lebensräume von Pflanzen und Tieren, und wir rücken Wildtieren – und auch uns untereinander – zu dicht auf die Pelle; um es mal umgangssprachlich zu sagen, damit Sie es auch verstehen. Ja, wir beeinflussen das Klima, und das hat Folgen. Diesen Zusammenhang zum Covid-Ausbruch gibt es. Wir – und nur wir Menschen – sind dafür verantwortlich, nicht die Tiere, nicht die Pflanzen – wir, die Menschheit insgesamt! Zu guter Letzt möchte ich noch das einzig Positive an den Anträgen der AfD herausstellen: Sie sind immer unglaublich kurz, ein bis zwei Seiten im Schnitt. Man verliert also nicht allzu viel Zeit, um sich das alles durchzulesen. Aber Ihre „Werke“ dienen ja ohnehin ausschließlich als Drehbücher für Ihre verführerischen Kurzvideos. ({6}) Sie sind die falsche Alternative für unser Deutschland, und Sie sind vor allen Dingen der Untergang für das Land unserer Kinder und Enkel. ({7}) Ein Schmankerl habe ich mir noch für den Schluss aufgehoben. Sie wollen tatsächlich den Deutschen Bundestag feststellen lassen, dass die Wolkenbildung Einfluss auf das Weltklima habe. ({8}) Das lasse ich jetzt mal so wirken. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Herzlichen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie, Kollege Stein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kraft von der AfD?

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Peter Stein. – Damit schließe ich die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können uns in der Familienpolitik keinen Leerlauf erlauben, gerade in der Coronapandemie nicht. Meine Kollegin Franziska Giffey hat sich in ihrer Amtszeit beharrlich – wer sie kennt, weiß, wie ernst gemeint das ist – für die Interessen von Kindern, Jugendlichen und Familien eingesetzt, ({0}) und sie hat auch ganz viel für sie erreicht. Genau diese Arbeit werde ich fortführen, und ich kann Ihnen versichern: Ich werde das nicht am Rande tun, und ich werde das auch nicht als Nebentätigkeit oder in Teilzeit tun, sondern ich werde das – das kann ich Ihnen versichern – genauso machen, wie ich das auch in der Justiz- und in der Verbraucherschutzpolitik mache: mit ganz viel Elan und mit ganz viel Engagement. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir wird vieles nachgesagt – ich weiß das –, aber eines nicht: dass mir genau das fehlt, dieser Fleiß und diese Beharrlichkeit. Ich hoffe, bei Ihnen allen ist das auch so. Dann können wir uns nämlich mit den ganz wichtigen Sachfragen beschäftigen. Heute geht es um ein ganz wichtiges Thema, nämlich um das Thema „Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter“. Ich persönlich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, in der mein jetzt 20‑jähriger Sohn noch viel kleiner war. Als im Übergang von einer gut betreuten Zeit in der Kita zur Grundschule auf einmal die Frage anstand: „Wie geht es denn jetzt weiter in der Grundschule?“, da hatte ich Glück. Mein Sohn ist hier in Berlin in die Grundschule gekommen. Hier gab es eine Ganztagsbetreuung. So habe ich Familie und Beruf mit gutem Gewissen unter einen Hut bringen können. Wenn er in Hessen, in meinem Heimatland, in die Schule gegangen wäre, wäre das nicht so gewesen. Da gab es das nämlich nicht. Da wäre ich vor ganz große Herausforderungen gestellt worden. Meine Damen und Herren, ob ein Kind gut betreut wird, ob man Familie und Beruf unter einen Hut bringen kann, das darf nicht vom Glück abhängen, das darf nicht davon abhängen, wo man lebt und wo man wohnt. Vielmehr sind wir in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das bundesweit gewährleistet ist, meine Damen und Herren. ({2}) Mit diesem Gesetz, das wir jetzt vorlegen – es gewährleistet einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule –, verfolgen wir das Ziel einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, besserer Bildungschancen für die Kinder, egal aus welchen Verhältnissen sie kommen, und das ist auch ein entscheidender Schritt, damit das Land auch in Zukunft wirtschaftlich stark und stabil bleiben kann. Deswegen ist dieser Rechtsanspruch die größte familienpolitische Weichenstellung seit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. ({3}) Dieser Rechtsanspruch ist dringend geboten. Viele Eltern warten darauf, dass sich da was bewegt, dass sie ihr Leben so gestalten können, wie sie es wollen. Es gibt nämlich keine Pflicht; das ist ein Angebot, das ist eine Möglichkeit. Das wird dringend erwartet. Lassen Sie uns deswegen diesen Weg beschreiten. Knapp die Hälfte der Grundschulkinder werden derzeit in einer Ganztagsschule oder in einem Hort betreut. Aber drei Viertel der Eltern in unserem Land melden Betreuungsbedarf an, Tendenz steigend. Sie erwarten zu Recht, dass die Politik darauf reagiert. ({4}) Deswegen wird es ab 2026 für alle Kinder der ersten Klasse ein Angebot auf eine Ganztagsbetreuung geben. Das bedeutet: acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche, zuverlässig und planbar. Das ist die wichtige Aussage, die wir treffen. Damit stärken wir die Kinder, damit entlasten wir ihre Eltern. Das ist eine gute Botschaft. In diesem Sinne bitte ich Sie, sich jetzt in der Beratung zu engagieren – mit allem Elan und allem Engagement, das Sie haben. Ich kann Ihnen versichern, ich bringe es mit. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Reichardt. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Giffey ist wegen ihrer Doktorarbeit nun endlich zurückgetreten. Das war lange überfällig. Frau Lambrecht, wenn Sie den gleichen Elan wie Frau Giffey in der Familienpolitik der letzten Monate an den Tag legen – das können Sie gerne tun –, dann haben Sie nicht viel zu tun. ({0}) Nicht nur wegen Ihres Plagiats ist es richtig, dass Frau Giffey zurückgetreten ist, sondern auch, weil sie es zugelassen hat, dass die Politik in der Phase von Corona unsere Kinder krankgemacht hat, meine Damen und Herren. ({1}) Wir reden heute über Ganztagsbetreuung von Kindern, und das ist in Anbetracht der gegenwärtigen Situation unserer Kinder schon ein Hohn. Darum komme ich jetzt zu dem, was zu den Rahmenbedingungen dieser Diskussion heute gesagt werden muss. Frau Giffeys letzte Amtshandlung war nicht dieses Gesetz, sondern die Befürwortung einer Massenimpfung von Kindern als Grundlage für die Rückgabe von Menschenrechten und Bildung. Sie will unsere Kinder in eine völlig unnötige letzte Schlacht gegen den Coronavirus schicken. Das ist eine Schande, meine Damen und Herren. ({2}) Kinder, die weder Treiber der Pandemie sind noch häufig andere anstecken, sollen ihre Rechte und damit auch die Ganztagsbetreuung erst zurückerhalten, wenn sie mit einem Impfstoff geimpft sind, der eine Notfallzulassung hat. ({3}) Meine Fraktion sagt dazu entschieden: Nein! Hände weg von unseren Kindern! Unsere Kinder sind nicht ihre Versuchskaninchen, meine Damen und Herren. ({4}) Aber genau das wollen alle Fraktionen hier außer der meinen, und das entgegen allen wissenschaftlichen Studien. Was wir aber genau wissen, das ist Folgendes: Kinder haben keinen Nutzen von dieser Impfung. Einen Nutzen haben von dieser Impfung nur die Pharmalobbyisten um Herrn Spahn, meine Damen und Herren. ({5}) Es gibt keine Studien, die die Langzeitschäden abschätzen. Diese sollen erst in vier Jahren kommen. Wer vor diesem Hintergrund eine massenhafte Impfung von Kindern propagiert, der sollte sich schämen. ({6}) Wenn Sie in ein Flugzeug einsteigen, das eine Notfallzulassung hat, und damit fliegen, dann ist das Ihr Privatvergnügen. Aber wenn man Kinder dazu nötigt, in einem solchen Flugzeug zu fliegen, dann ist das ein Skandal, meine Damen und Herren. ({7}) Was passiert mit den Kindern, die nicht geimpft sind? Dürfen die nicht auf Klassenfahrt? Dürfen die nicht ins Schwimmbad? ({8}) Dürfen die auch ihre Ganztagsbetreuung nicht wahrnehmen, so wie es jetzt schon mit den Kindern passiert, die sich nicht testen lassen? Meine Damen und Herren, wie soll das denn werden? Werden auch diese Kinder ausgegrenzt und als für die Gesellschaft schädlich bezeichnet? Das ist doch die Frage, die wir uns hier zu stellen haben. ({9}) Müssen unbelehrbare Eltern damit rechnen, dass ihnen ihre Kinder entzogen werden? Denn wenn Sie die Kinderrechte im Grundgesetz implementiert haben, dann können Sie auch die Impfung zum Kinderrecht erklären und dann können Sie diese Impfung auch gegen den Willen der Eltern durchsetzen. Das wollen wir nicht, meine Damen und Herren. ({10}) In einem Deutschland, in dem die Politik Kinder krankmacht, in dem ist mittlerweile vieles, viel zu vieles, möglich. ({11}) Die scheidende Ministerin Giffey hat sich dafür ausgesprochen, Kinder und Jugendliche so schnell als möglich zu impfen. Sie sagte: Das sind wir den Kindern und Jugendlichen schuldig. – Ich sage Ihnen: Nein, das sind wir nicht. Schuldig sind wir unseren Kindern – mit und ohne Impfung und Tests – offene Schulen, gemeinsames Spielen und die freie Luft zum Atmen, meine Damen und Herren. ({12}) Schuldig sind wir ihnen Nähe, Wärme und Zuwendung. Schuldig sind wir ihnen ein Leben ohne Angst und eine Rückgabe ihrer Grundrechte, und das so schnell als möglich, meine Damen und Herren. ({13}) Schuldig sind wir ihnen auch – und das sollte sich die Sozialdemokratie hinter die Ohren schreiben –, dass wir das Vertrauen unserer Kinder und Jugend nicht missbrauchen. Das sind wir ihnen schuldig und nicht eine nutzlose und gefährliche Impfung, meine Damen und Herren. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Zum Glück ist der Widerstand in Deutschland groß. 700 000 Menschen haben eine Petition unterschrieben. Wir stehen zu diesen Menschen. Wir sind die einzige Partei der Freiheit in Deutschland. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich danke Ihnen. – Nächste Rednerin: für die Bundesregierung Ministerin Anja Karliczek. ({0})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir reden über den Ganztag in der Grundschule. Ist das richtig? ({0}) Eine Grundschule, die um halb zwölf endet, ist zumindest in Westdeutschland, wo ich herkomme, viele, viele Jahre der Normalfall gewesen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt seien Sie aber ein bisschen stiller! Sie haben sich vorher aufgeregt. Jetzt hören wir der Ministerin zu. ({0})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Aber unsere Gesellschaft hat sich verändert. In den meisten Familien gehen heute beide Eltern ihrem Beruf nach. Familie und Beruf zu vereinbaren, das muss heute verlässlich möglich sein. Deswegen hat das Bundeskabinett den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder beschlossen. Ich sehe es wie meine Kollegin Christine Lambrecht: Es ist ein gesellschaftspolitischer Meilenstein. ({0}) Gute Bildung für unsere Kinder mit planbarer Betreuung zu verbinden, genau das ist das Gebot der Stunde. Schauen Sie sich doch mal um: Viele Eltern zerreißen sich zwischen dem Anspruch, für die Kinder und für den Beruf da zu sein. Ich habe selbst Familie mit drei Kindern und Berufstätigkeit verbunden. Glauben Sie mir: Ich weiß, wie anspruchsvoll das ist. Gerade in ländlichen Regionen übersteigt die Nachfrage nach Ganztagsplätzen in der Grundschule das Angebot mittlerweile deutlich. Deshalb ist staatliches Handeln gefragt. Eltern haben eben nur dann die freie Wahl, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, wenn das Ganztagsangebot stimmt. Das ist vielerorts nicht der Fall. Erst der Rechtsanspruch wird genau diese Angebotslücke schließen. Ich sage ganz bewusst „Angebot und Anspruch“; denn das heißt: Wer will, der kann, und wer nicht will, der muss auch nicht. ({1}) So sieht Wahlfreiheit in einem modernen Deutschland aus. Verlässliche und gute Bildungsangebote für Kinder sind längst ein Standortfaktor. Worüber reden wir? Wer den Ausbau verschläft, der kann im Rennen um Fachkräfte für seine Region nicht punkten. Gerade Leistungsträger suchen sich aus, wo sich Familie und Beruf am besten vereinbaren lassen. Deswegen ist jedes Land gut beraten, rechtzeitig in den Ganztagsausbau zu investieren. Die Pandemie hat dramatisch gezeigt, wie wichtig verlässliche Bildung und Betreuung für das Wohl unserer Kinder und Familien sind. Natürlich muss die Qualität stimmen. Guter Ganztag heißt: mehr Zeit und Raum für soziales Lernen in der Gruppe, mehr Zeit für MINT, für Musik und Sport, mehr Zeit, individuelle Talente zu entdecken und auch zu entwickeln. Der Ganztagsausbau erfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen. Der Bund ist bereit, die Länder bei ihrer ureigenen Aufgabe zu unterstützen. Wir haben uns dafür auf die Länder zubewegt – intensiv. Jetzt gilt es, die ausgestreckte Hand auch zu ergreifen. Ich finde, das Thema ist zu wichtig, um es zu vertagen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam das Recht auf ein entspanntes Familienleben und gute Bildungsangebote verwirklichen. Lassen Sie uns zeigen: Wir sind ein modernes Land. – Ich bin mir sicher: Diese Investition ist wirklich eine, die sich auszahlen und lohnen wird – für unsere Kinder, für unsere Familien und für unser Land. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anja Karliczek. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Matthias Seestern-Pauly. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einen Satz möchte ich vorwegschieben: Die Kinder haben in den letzten Monaten tatsächlich auf viel verzichten müssen, und wir müssen daran arbeiten, dass sie zu ihrem Recht kommen und dass wir die Probleme, die aufgetreten sind, beheben. Herr Reichardt, ich ertrage seit vier Jahren Ihre Reden. Das war wieder ein neuer Höhepunkt. Ihre Schreireden tragen zu keinerlei Konstruktivität und zu Lösungen in der Sache bei. Es ist unerträglich. ({0}) Jetzt aber zur Sache. Wir Freien Demokraten stehen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wir stehen für echte Wahlfreiheit, und wir stehen für weltbeste Bildung. Deshalb setzen wir uns auch für einen qualitativ hochwertigen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich ein. Was Sie aber als Union und SPD nach vier Jahren abliefern, ist ungenügend. Vier Jahre hatten Sie Zeit und haben dieses Thema schlicht verschleppt. Jetzt legen Sie kurz vor knapp einen Gesetzentwurf ohne Fahrplan und ohne Einigung mit den Bundesländern vor. Sie legen einen Gesetzentwurf vor, von dem Sie wissen, dass er so nicht umgesetzt werden kann. Sie schreiben einen Rechtsanspruch fest, ohne überhaupt zu wissen, wie die Personalsituation vor Ort eigentlich aussieht. Sie kennen weder die kommunalen Bedarfe, noch haben Sie einen Überblick darüber, wie die Qualifikation der aktuell Beschäftigten eigentlich aussieht. Ich frage mich vor diesem Hintergrund ernsthaft, wie Sie überhaupt ein verlässliches Angebot sicherstellen wollen. Es wäre schön, wenn Sie wenigstens ein Mal auf die hören würden, die für Ihren Rechtsanspruch geradestehen müssen, nämlich die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vor Ort. ({1}) Die sagen Ihnen nämlich ganz klar, dass dieses Gesetz mit Blick auf die aktuelle Personalsituation ohne zusätzliche Maßnahmen nicht umsetzbar ist. Deswegen hilft es auch nicht, wenn Sie öffentlichkeitswirksam einfach mehr Geld ins Schaufenster stellen. Ohne eine Einigung mit den Bundesländern ist auch das Schall und Rauch. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist eine einzige Baustelle und diesem wichtigen Thema nicht angemessen. Wer aber ein Ziel vorgibt, muss auch sagen, wie dies realistisch erreicht werden kann. Das tun Sie aber nicht, und es wird zu bitteren Enttäuschungen bei Familien führen, wenn sie nicht zu dem auf dem Papier verbrieften Recht kommen. Genau deswegen ist dieser Gesetzentwurf auch unseriös. Dieser Gesetzentwurf ist Wahlkampf pur zulasten unserer Kinder und Familien. Das sage ich nicht nur ich, sondern das sagt auch der Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes ({3}) in einem Schreiben vom 6. Mai – Zitat –: Es ist offensichtlich, dass hier mit der Brechstange versucht wird, einen nicht finanzierbaren und nicht mit Personal umsetzbaren Rechtsanspruch durchzusetzen. … Hier will sich die Bundesebene Lorbeeren anheften, und unsere Bürgermeister:innen vor Ort müssen diese leeren Versprechungen ausbaden. Leider hat er mit jedem seiner Worte recht. Ich betone „leider“; denn dieses Thema ist für unsere Familien und für unsere Kinder zu wichtig, um es so zu behandeln, wie Sie es aktuell tun. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Seestern-Pauly. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Norbert Müller. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kein Mensch kann erklären, warum wir eigentlich seit vielen Jahren einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Kita haben, während, wenn die Kinder mit sechs Jahren oder mit fünfeinhalb oder sieben Jahren eingeschult werden und zwölf Uhr mittags Feierabend ist, sich wieder die Eltern um die Nachmittagsbetreuung in den ersten Grundschuljahren kümmern müssen. Das ist in vielen Bundesländern so; kein Mensch kann das verstehen. Und deswegen ist es völlig unverständlich, dass das nicht schon längst angegangen wurde. Ja, wir begrüßen, dass die Koalition ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, den Rechtsanspruch auf den Weg zu bringen, jetzt zum Ende der Wahlperiode endlich umsetzt, damit dieser Missstand abgebaut wird. ({0}) Die Koalition hat versprochen, 2025 den Rechtsanspruch in Kraft treten zu lassen. Das werden Sie jetzt nicht mehr schaffen und mit dem vorgelegten Gesetzentwurf so auch nicht umsetzen, sondern Sie gehen in ein Stufenmodell – auch das ist eigentlich gar nicht falsch – mit einer Perspektive bis 2029, und Sie haben sich über Ihren Koalitionsvertrag hinaus dazu durchringen können, eine knappe Milliarde ab 2029 für die Deckung der dauerhaften Kosten zu geben. Auch das ist ein guter Ansatz; aber es ist natürlich nicht hinreichend. ({1}) Und jetzt – Frau Schön lacht schon – muss man sich vielleicht angucken, weil das ja ein bisschen die Vorlage ist, wie das eigentlich mit dem Rechtsanspruch Kita gelaufen ist. Das ist ja ein Stück weit die Vorlage, die Sie genommen haben: ein Sondervermögen für Investitionskosten einzurichten, ({2}) Mittel für Betriebskosten in zu geringer Höhe an die Länder über Umsatzsteuerpunkte zu reichen und mit einem Stufenplan einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz zu realisieren. 2007 wurde der Rechtsanspruch für einen Ganztagsplatz in der Kita beschlossen und trat in seiner letzten Stufe am 1. August 2013 in Kraft, und 2019 – Ende 2019! – hat der Deutsche Bundestag das sogenannte Gute-KiTa-Gesetz, das mehr Qualität bringen sollte, aber in Wahrheit gar nicht gebracht hat, beschlossen. Das war der erste Schritt zu mehr Qualität in der Kita. Nehmen wir das als Vorlage – und das ist es ja ganz offensichtlich – für diesen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, dann heißt das: 2021 wird der Rechtsanspruch beschlossen, ab 2026 tritt er schrittweise in Kraft, ab 2029 gibt es die volle Förderung – also, „voll“ heißt: eine knappe Milliarde für die Deckung der Betriebskosten in den Ländern –, und über Qualität reden wir dann Mitte der 2030er-Jahre. Ich finde, da können Sie jetzt nicht sagen: Die Opposition sagt immer: Das ist zu wenig. – Das ist definitiv zu wenig. Wir können doch nicht einfach dieselben Fehler wie bei dem Rechtsanspruch Kita immer und immer wieder wiederholen. Daraus muss man doch mal lernen. ({3}) Einer meiner drei Söhne wird jetzt im August in Brandenburg eingeschult. Er hat Glück, dass er in Brandenburg eingeschult wird, weil bei uns ohnehin schon der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung im Grundschulalter gilt. ({4}) Würde er nicht in Brandenburg, sondern in Baden-Württemberg, wo Grüne und CDU regieren, eingeschult werden, dann müsste er ungefähr 14 Jahre warten, bis darüber geredet wird, dass dieser Rechtsanspruch kommt und dass er für gute Qualität vom Bund mitfinanziert wird. Da wäre er schon länger aus der Schule raus. Ich finde, da kann man nicht sagen: Das ist ein guter Anfang. – Es ist ein Anfang, aber es ist kein guter Anfang, den Sie heute wählen. Es ist definitiv zu wenig, und es ist unambitioniert. ({5}) Und deswegen sagen wir als Linke: Erstens brauchen wir von vornherein eine Perspektive auf Qualität. Das kann man mit Stufenplänen verbinden, ja. Aber wir brauchen eine Perspektive auf Qualität in Ganztag, und das muss man an Personalschlüssel koppeln, und zwar im Bundesgesetz, im SGB VIII, also im Kinder- und Jugendhilferecht, wo Sie den Rechtsanspruch verankern. Anders geht das nicht. Und zweitens brauchen wir eine starke Fachkräfteoffensive. Wir wissen, dass sofort 50 000 Erzieherinnen und Erzieher in Ganztag fehlen werden. Man kann nicht sehenden Auges in dieselben Probleme wie im Kitabereich laufen. Wir brauchen jetzt eine Perspektive, nämlich dass 2025/2026 eben auch Fachkräfte da sind, damit wir nicht 2026 wieder feststellen, dass sie nicht da sind, und uns dann Gedanken machen, wie es besser werden kann. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Norbert Müller. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Ekin Deligöz. ({0})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe – so muss ich ja an dem Punkt sagen – Frau Ministerinnen! Ehrlich gesagt, ich hatte schon die Hoffnung verloren, dass wir in dieser Wahlperiode überhaupt noch über einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung reden. Von daher ist es sehr gut, dass wir jetzt endlich die erste Hürde nehmen. Aber die eigentlichen Herausforderungen, die eigentlichen Hausaufgaben haben Sie in beiden Ministerien leider nicht erledigt. Es droht sogar – das will ich Ihnen sagen, um Ihnen ein Bild zu liefern –, dass Ihr Flaggschiff bereits Schiffbruch erleiden wird, noch bevor es überhaupt in See gestochen ist. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Erstens. Wir wissen schon seit Jahren, dass wir für den Ausbau der Ganztagsbetreuung pädagogisches Fachpersonal brauchen. Sie haben nichts, aber rein gar nichts getan, um eine Fachkräfteoffensive nach vorne zu bringen, um genug Menschen auszubilden, die diese Jobs auch übernehmen können. Sie haben nichts getan im Bereich der Qualifizierungsoffensive und noch viel weniger für eine bessere Vergütung und für attraktive Arbeitsplätze in diesem Bereich getan. ({0}) Das hätten Sie eigentlich längst erledigen können. ({1}) Zweitens. Infrastrukturausbau. Ja, Frau Karliczek, Sie stellen jetzt die 3,5 Milliarden Euro ins Schaufenster. Gleichzeitig sagen Sie aber: Hier gibt es noch zusätzliche Mittel. Die Länder müssen aber bis Ende dieses Kalenderjahres bestimmte Mittel abrufen, um die zusätzlichen Mittel überhaupt in Anspruch nehmen zu können. – Und das mitten in der Pandemie! Das ist ein Taschenspielertrick, für die Kommunen und für die Länder einerseits etwas hinzuhalten und andererseits das Angebot zeitlich zu begrenzen. Wenn Sie wirklich wollen, dass die Kommunen und die Länder gestärkt vorausgehen, dann schaffen Sie diese Bedingungen ab und stellen Sie die Mittel komplett zur Verfügung, aber nicht dieses Hü und Hott, was Sie da treiben. ({2}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir haben ein ganz klares Ziel. Das ist doch klar. Wir wollen die beste Bildungsinfrastruktur für unsere Kinder. Wir wollen, dass ihre Begabungen, ihre Möglichkeiten, ihre eigenen Fähigkeiten über ihren Lebensweg entscheiden und eben nicht die Situation ihrer Elternhäuser oder ihre Herkunft. Eine gute Ganztagsschule ist gut für unsere Familien, ist gut für unsere Wirtschaft, ist gut für die Förderungsmöglichkeiten unserer Kinder und ihre Entwicklungschancen. ({3}) Es steht außer Frage, dass Bund, Länder und Kommunen da zusammenhalten müssen, und für diesen Zusammenhalt haben Sie in der Regierung bisher leider zu wenig getan. Daran müssen Sie wirklich noch arbeiten. ({4}) Liebe Frau Ministerin Lambrecht, mir ist es, ehrlich gesagt, völlig egal, wie Sie jetzt Ihren neuen Auftrag erfüllen, ob Sie das in Teilzeit, Vollzeit oder wie auch immer übernehmen; Hauptsache, Sie setzen sich in diesem Land für die Kinderrechte ein. Darauf wird es nämlich ankommen. Und eine Debatte in diesem Land hat gezeigt: Wir brauchen dringend die Stärkung der Kinderrechte in diesem Land – gegen all diesen Unsinn, gegen diese falschen Fakten, Behauptungen und Populismus. Lassen Sie uns unsere Kinder stärken! Dafür brauchen wir auch eine starke Ministerin. Das sollten Sie auf jeden Fall werden. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ekin Deligöz. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Nadine Schön. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist ja eine interessante Debatte heute: Herr Reichardt spricht gar nicht zum Thema. Die FDP sagt: „Das ist viel zu ambitioniert“, ({0}) die Linken sagen: „Das ist viel zu unambitioniert“, und die Grünen sagen: „Wir brauchen die Kinderrechte im Grundgesetz.“ Das ist heute Morgen auch nicht ganz das Thema. ({1}) Ich würde sagen: Heute ist ein sehr, sehr guter Tag für die Familien in unserem Land; denn wir machen uns auf den Weg, einen echten Meilenstein zu erreichen. ({2}) Ich bin froh, dass wir das in dieser Legislaturperiode machen und es unter CDU-Führung machen. Die großen Meilensteine in der Familienpolitik sind immer unter CDU-geführten Bundesregierungen eingeführt worden. ({3}) – Sie lachen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Schauen Sie in die Geschichte: ({4}) Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz im Kitabereich wurde von Ursula von der Leyen eingeführt, Elternzeit und Elterngeld wurden durch Ursula von der Leyen eingeführt, und der jetzt besprochene Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz stand in unserem Wahlprogramm. ({5}) Und ich bin froh, dass wir ihn mit dem Koalitionspartner zusammen in dieser Legislaturperiode umsetzen können. Das ist ein guter Tag für die Familien in unserem Land. ({6}) Wir brauchen Verlässlichkeit und Flexibilität. Das ist das, was sich die Eltern wünschen. Eltern, die arbeiten, wollen ihre Kinder gut betreut wissen, und sie wollen das verlässlich haben, und sie wollen das flexibel haben. Da gibt es die einen, die den Nachmittag gerne mit ihren Kindern verbringen wollen. Und dann gibt es die anderen, die in Schicht oder die nachmittags arbeiten. Die brauchen ein gutes Angebot. Die Kinder brauchen am Nachmittag nach einem gesunden Mittagessen ein Sportangebot, vielleicht Coding-Workshops, kulturelle Angebote, Zeit mit Freundinnen und Freunden und eine Hausaufgabenbetreuung. All das machen wir in den Ländern möglich, und zwar so, wie es vor Ort passt. Wir geben kein Modell vor. Das können gebundene Ganztagsschulen sein; das können freiwillige Nachmittagsbetreuungsangebote sein. Wir sagen als Bund: Wir unterstützen beim Ausbau mit 3,5 Milliarden Euro, und wir unterstützen bei den Betriebskosten. Wir übernehmen ein Drittel der Betriebskosten. Ich kann mir gar keine Kommune mehr vorstellen, die in acht Jahren, dann, wenn der Anspruch für alle gilt, es sich überhaupt noch leisten kann, kein gutes Nachmittagsangebot zu machen. ({7}) Ja, es ist eine Anstrengung für die Kommunen, es ist eine Herausforderung; aber es ist notwendig, denn das brauchen unsere Familien heute. Deshalb committen wir uns als Bund, deshalb sagen wir als Bund: Wir unterstützen Länder und Kommunen bei dieser Mammutaufgabe. Wir übernehmen ein Drittel der Betriebskosten und die Investitionskosten. Wir stemmen diese große Aufgabe gemeinsam. – Darauf freue ich mich in den nächsten Jahren. Das ist ein gutes Zeichen für die Familien in unserem Land. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nadine Schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Bärbel Bas. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele von uns denken sicherlich bei der Einschulung an bunte Schultüten, stolze Eltern, aufgeregte Kinder. Für die Eltern fängt da das Problem an, weil nämlich nach dem Übergang von der Kita zur Schule keine feste Betreuung mehr zur Verfügung steht. Es ist deshalb wichtig, dass wir jetzt einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz auch für Grundschulkinder einbringen und durchsetzen. Es freut uns, dass wir heute den ersten Aufschlag dafür hier machen können. ({0}) Es ist schon angesprochen worden: In einigen Bundesländern werden bereits 90 Prozent der Kinder im Grundschulalter verlässlich den ganzen Tag betreut. Deutschlandweit sind es aber nur knapp 50 Prozent, und der Bedarf ist auf jeden Fall höher. Diese Lücke wollen wir jetzt mit dem Recht auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter in diesem Ganztagsförderungsgesetz schließen. Weil wir dazu die Länder brauchen – das ist vorhin schon angesprochen worden –, wollen wir diese Lücke auch gemeinsam schließen. Wir nehmen am Ende, wenn der Rechtsanspruch da ist, 960 Millionen Euro pro Jahr in die Hand, um diese verlässliche Betreuung auch zu gewährleisten. Ich finde, das ist ein großer Schritt. Natürlich kann man immer sagen: Die Länder sind dafür zuständig. – Aber es ist wichtig, dass wir dieses Signal gemeinsam gegeben haben. Ich bin auch froh, dass Olaf Scholz sich massiv dafür eingesetzt hat, hier Bewegung reinzubringen. ({1}) Insofern ist das ein Punkt, den wir auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren durchbringen müssen. Es geht aber nicht nur um die reinen Betreuungsplätze; das will ich hier auch ganz deutlich sagen. Ich wünsche mir natürlich von der Bildungsministerin, dass wir hier noch ein Stück stärker in den Bereich der Bildung gehen. Es geht nicht nur um die Betreuung, sondern auch um die Qualität der Betreuung, um individuelle Förderung und darum, dass wir auch pädagogische Qualität reinbringen. Es gibt eine Studie zur Entwicklung bei Ganztagsschulen, die das deutlich macht: Wenn man eine pädagogisch qualitativ gute Betreuung hat, dann hilft das, Lerndefizite bei den Kindern gar nicht entstehen zu lassen oder sie aufzuarbeiten, und es hilft den Kindern in der sozialen, emotionalen und auch körperlichen Entwicklung. Das ist der Punkt, den wir noch ausarbeiten müssen. Da müssen wir dranbleiben. ({2}) Ich würde mir wünschen, dass wir das im weiteren Verfahren vielleicht noch ein wenig konkreter hinkriegen. Das ist ein wichtiger Punkt, den wir noch durchsetzen, weil eben die Qualitätsdebatte da eine große Rolle spielt. Bei den Strukturen sollten wir in den Schulen auch Horte, Kinder- und Jugendhilfe, Sportvereine, Musikschulen auf Augenhöhe miteinbeziehen. Das ist eben der entscheidende Schritt, dass verschiedene Akteure da mitwirken. Andere Bundesländer, die das schon tun, haben damit hervorragende Erfahrungen gemacht. Deshalb ist dieser Anspruch, den wir da durchsetzen, wichtig. Verlässliche Ganztagsbetreuung – das haben wir gerade schon angesprochen – ist ein gemeinsames Projekt. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat dieses Ziel auch noch mal konkretisiert. Deswegen will ich das nennen: Der Anspruch soll zunächst für die Klasse 1 und schließlich für die Klassen 1 bis 4 gelten, fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag bei maximal vier Wochen Schließzeit in den Ferien. Das ist eine verlässliche Betreuung; da können sich die Eltern drauf verlassen. Das sollten wir jetzt auch mit diesem Stufenplan umsetzen. Es ist realistisch, dass wir es nicht sofort machen. Man hätte es schneller machen können, aber ich glaube, die Wahrheit ist – das wissen wir alle –: Es waren zähe, es waren auch mit unseren Bundesländern gemeinsam schwere Verhandlungen. Dass wir dies jetzt als Ziel so konkretisiert haben, sollten wir auch gemeinsam durchtragen. ({3}) Abschließend will ich mich bei Franziska Giffey noch mal bedanken, weil sie sich zusammen mit Olaf Scholz wirklich engagiert dafür eingesetzt hat, dass wir überhaupt in diese erste Lesung kommen. Ich freue mich zusammen mit Christine Lambrecht, dass wir das in die Beratungen durchtragen. Insgesamt wünsche ich mir, dass wir bis zur zweiten, dritten Lesung gemeinsam hier im Hause an diesem Werk arbeiten. Ich möchte irgendwann den Eltern am Schluss sagen: Ja, der Rechtsanspruch ist da, ihr habt eine verlässliche Betreuung, und eure Kinder werden gefördert. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bärbel Bas. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Silke Launert. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Familien! „Die Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt“ – klare und unmissverständliche Worte des Bundesverfassungsgerichts in einem seiner Beschlüsse. Des Weiteren stellt es fest, dass der Staat dementsprechend dafür Sorge zu tragen habe, dass es Eltern gleichermaßen möglich sei, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden – wenn sie sich für diesen Weg entscheiden. So viel zum Thema „Rechtsstaatspartei AfD“. ({0}) Also: Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass das auch passiert. Wenn man eine Rechtsstaatspartei sein will, muss man auch das sehen. Diese Worte verdeutlichen noch mal drei Aspekte: Erstens. Kinderbetreuung ist eine immense Leistung, die Wertschätzung verdient. Ich glaube, jeder, der Kinder selbst großzieht, weiß, was das heißt. Auch wenn es einem viel Freude macht, heißt das, immer bereit sein, immer, auch nachts, raus, zu jeder Zeit, immer sprungbereit sein, über Jahre oft auf jegliche Hobbys verzichten. Zweitens. Diese Leistungen, die von den Familien erbracht werden, liegen in unser aller Interesse. Auch das ist wichtig. Warum? Weil die ältere Generation von den neuen Kindern irgendwann leben wird. Das gilt nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch in allen anderen Bereichen. Drittens. Elternsein und Erwerbstätigkeit dürfen sich nicht ausschließen. Vor einigen Jahren wurde unter Ursula von der Leyen – es wurde schon mehrfach angesprochen – der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz beschlossen und Schritt für Schritt umgesetzt. Das war ein Meilenstein in der Betreuungsinfrastruktur. Es ist schon angesprochen worden, was passiert: In der Kindergartenzeit können Frauen, wenn sie wollen oder müssen, noch relativ gut tagsüber ihrem Beruf nachgehen. Dann kommt die Grundschule. Da ist es natürlich unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland. Aber es ist häufig so, dass die Kinder um 12 Uhr nach Hause kommen. Wenn dann kein überall verbreitetes, gutes nachmittägliches Betreuungsangebot besteht, haben Mütter – manchmal auch Väter, aber überwiegend Mütter – ein echtes Problem. Wir können die Frauen da nicht alleinlassen. Wir können nicht sagen: „Reduziere doch wieder auf Halbtag!“, und uns hinterher wundern, wenn sie den Anschluss im Beruf verpasst haben. Wir können nicht den Alleinerziehenden sagen: Lebt doch nicht auf dem Land, zieht doch in die Stadt, lebt doch von Hartz IV, die halbe Stelle, das Gehalt reicht doch! – Wir haben Verantwortung. Wir müssen den Frauen, den Kindern, den Familien in diesem Land helfen. Es wird Zeit, dass wir endlich vorangehen. ({1}) Ich verstehe wirklich die Kommunen. Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen. Ich bin ständig vor Ort in den Kommunen in meinem Wahlkreis, und ich kenne die Konstellationen und die Befürchtungen und die Kosten. Aber hier haben wir wirklich ein gutes Angebot: 3,5 Milliarden Euro sozusagen für die Hardware, 30 Prozent für den Unterhalt. Nehmen Sie das Angebot wirklich an! Besser wird es nicht. Es ist kein Luxus. Kinderbetreuung ist nicht Luxus, sondern ist kommunale Infrastruktur wie Wasserversorgung, wie Straße, wie inzwischen auch Breitband. Das müssen die Kommunen anbieten; sonst verlieren sie ihre Zukunft. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß, ich habe überzogen, deshalb wird es mein letzter Satz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, dann gucken wir mal.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch wenn es etwas dauert – deshalb die lange Übergangszeit –, werden wir es gemeinsam, Bund, Länder und Kommunen, schaffen. Es wäre schön, wenn auch in diesem Haus alle zusammen helfen und nicht immer nur schimpfen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Launert. – Damit schließe ich die Aussprache.

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute bringen wir ein Gesetz auf den Weg, das wir schon vor einigen Jahren hätten verabschieden können und müssen. Es ist ein weiterer Schritt gegen Steuervermeidung von multinationalen Konzernen, ein Geschäftsgebaren, das zulasten aller geht, zulasten unseres Gemeinwohls. Das muss aufhören. ({0}) Die globale Steuertrickserei von Unternehmen hat ein enormes Ausmaß erreicht. Allein für 2017 schätzten führende Forscher, dass weltweit 700 Milliarden US-Dollar Gewinne in Steueroasen verschoben wurden. Man könnte damit so viele 100-Dollar-Scheine aufeinanderstapeln, dass man fast zwei Stapel hätte, die bis zur Internationalen Raumstation ISS reichen. Offensichtlich ist hier die Bodenhaftung verloren gegangen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was viele nicht wissen: Kein Land ist so stark betroffen wie Deutschland. Allein im Jahr 2017 entgingen Deutschland schätzungsweise fast 20 Milliarden Euro Steuern – Geld, das in Steueroasen versackt, statt für die Bezahlung von Lehrern und Polizistinnen in unserem Land eingesetzt zu werden, Geld, das hier verdient wurde und auch hier hätte versteuert werden müssen, Geld, das wir dringend brauchen. Dem wollen wir ein Ende setzen. ({2}) Dafür bringen wir mehrere Gesetze auf den Weg. Das ATAD-Umsetzungsgesetz ist eines davon. Die Anti-Steuervermeidungsrichtlinie ist das Ergebnis von jahrelangen OECD-Beratungen und -Verhandlungen – eine Initiative, die wir international unterstützen und antreiben. Doch der Kampf für mehr Steuergerechtigkeit hat viele mächtige Gegner; einige davon sitzen auch hier. ({3}) Statt dem Foulspiel ein Ende zu setzen, wird ihnen nach dem Mund geredet. Wir wollen einen fairen Wettbewerb statt eines Wettbewerbs um die besten gezinkten Karten. Es sind nicht zu viele Maßnahmen, die wir hier ergreifen; es sind zu wenige. Und verhindert hat das die Union. Wieder einmal müssen wir feststellen: Sie vertreten nicht immer die Interessen dieses Landes, sondern sind die Hilfsarbeiter einer gut bezahlten Lobby. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, fast ikonisch dafür steht ein Brief der IDW-Beraterlobby von dieser Woche an den Finanzausschuss. ({5}) Nicht nur, dass die Vertretung der Wirtschaftsprüfer Richtlinien gegen Steuervermeidung aufweichen will; das Papier deckt sich auch eins zu eins mit den Forderungen der Union. Und das i-Tüpfelchen dabei ist: Es bezieht sich sogar auf Unterlagen aus den koalitionsinternen Verhandlungen. Ja, wir als SPD-Fraktion und Bundesfinanzminister Olaf Scholz wollten der Gewinnschieberei mit Krediten einen Riegel vorschieben. ({6}) Tatsächlich wird ein Drittel aller Gewinne so in Steueroasen versenkt. Doch die Union blieb den Wünschen der Lobby treu. Kein Wunder also, dass wir es nicht schaffen, den Geldschiebern das Handwerk zu legen! Ich kann Ihnen nur einen Tipp geben: Öffnen Sie Ihre Augen! Dann sehen Sie: Die Welt verändert sich. Unternehmen müssen wieder mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Das wollen nicht nur die Menschen hier; das wollen auch immer mehr Menschen in anderen Ländern. Schauen Sie doch einfach in die USA oder nach Großbritannien: Dort will man die Steuern für Unternehmen erhöhen, statt weitere Senkungsorgien einzuleiten. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Cansel Kiziltepe. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Albrecht Glaser. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute erneut über das ATAD-Umsetzungsgesetz, also die Umsetzung der Anti-Tax Avoidance Directive – um das Akronym in den ursprünglichen Titel zu übersetzen –, einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Steuervermeidung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, und über eine Änderung des Körperschaftsteuergesetzes. Das machen wir alles in einer halben Stunde. Im ATAD-Umsetzungsgesetz sollen zwei Richtlinien der EU aus den Jahren 2016 und 2017 in nationales Recht gegossen werden. Jetzt, also am Ende der Wahlperiode, im Kehraus, liegt der Gesetzentwurf vor, obwohl schon im Koalitionsvertrag vom März 2018 diese Form des Kampfes gegen Steuerhinterziehung vereinbart war und die EU im Januar 2020 wegen des zögerlichen Verhaltens Deutschlands ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hat. Das Ergebnis des Gesetzesvorhabens ist ernüchternd. Ich möchte nur zwei Beispiele nennen: Erstens. Bei der Wegzugsbesteuerung wurde eine Regelung geschaffen, die die Richtlinie gar nicht verlangt, also eine typische Übererfüllung des Solls bei der deutschen Umsetzungsgesetzgebung. Sofern ein inländischer Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, muss er nach geltender Rechtslage seine nicht realisierten Vermögenswerte versteuern, zum Beispiel den Verkehrswert seines Wohnhauses, in dem er selber wohnt. Allerdings wird ihm die Steuer beim Umzug in einen anderen EU-Staat so lange gestundet, bis er das Vermögen veräußert hat. Diese Regelung wurde ohne Not verschärft: Die Steuer beim Umzug, egal ob ins EU-Ausland oder in einen Drittstaat, wird nur für sieben Jahre gestundet und muss dann bezahlt werden, auch wenn etwa das Haus gar nicht verkauft wird. Wer hat sich das ausgedacht? ({0}) Herr Güntzler wird gleich versuchen, das zu korrigieren. Es ist trotzdem richtig. ({1}) Außerdem schränkt sie die Mobilität des Steuerpflichtigen ein, obwohl doch innerhalb der EU Niederlassungsfreiheit besteht. Deshalb spricht nach der EuGH-Rechtsprechung alles dafür, dass diese Regelung EU‑rechtswidrig ist. ({2}) Zweitens. Noch absurder sind die neuen Regelungen bei der sogenannten Hinzurechnungsbesteuerung. Ein deutsches Unternehmen muss für bestimmte Einkünfte aus Niedrigsteuerländern zusätzlich Ertragsteuern in Deutschland bezahlen – was richtig ist. Eine Niedrigbesteuerung liegt dann vor, wenn der ausländische Steuersatz unter 25 Prozent liegt. Es gibt aber kaum ein Land mit einer Unternehmensbesteuerung von über 25 Prozent. Das heißt, fast alle Länder sind nach dieser Definition Niedrigsteuerländer. Eine Ablehnung dieses Gesetzentwurfs, meine Damen und Herren, ist somit selbstverständlich geboten. ({3}) Nicht viel besser sieht es beim Körperschaftsteuermodernisierungsgesetz aus. Hier wird der Versuch unternommen, die Besteuerung von Personengesellschaften derjenigen der Kapitalgesellschaften anzupassen – ein Anliegen, das seit Jahren in der Fachwelt diskutiert wird. Aber auch hier, meine Damen und Herren, ist die gesetzgeberische Umsetzung misslungen; sie führt zu keinem praxistauglichen Ergebnis. ({4}) Zusätzlich beklagenswert ist, dass ein bereits bekanntes Institut zur Begünstigung von nicht ausgeschütteten Gewinnen – § 34a des Einkommensteuergesetzes – nicht so ertüchtigt wird, dass es in der Praxis insbesondere von Einzelunternehmen auch genutzt werden kann. Nach einhelliger Einschätzung der Sachverständigen hätte man aber genau diese Regelung reformieren müssen und können, um das Ziel zu erreichen, dass das Steuersystem in Deutschland für den familiengeführten Mittelstand wieder wettbewerbsfähig wird, in Sonderheit eben auch für Einzelunternehmen, die sich dann freier für die Rechtsform der GmbH oder des Einzelunternehmens entscheiden können. Keine wirkliche Reform im Steuerbereich während der ganzen Legislaturperiode und nicht einmal ein wirksamer Kampf gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung bei internationalen Vernetzungen! Trotzdem hat sich der Finanzminister gestern wieder selbst gelobt und insbesondere behauptet, beim Thema Steuerbetrug wichtige Beiträge geleistet zu haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Widerspruch zwischen Wort und Tat könnte nicht größer sein. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Albrecht Glaser. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Fritz Güntzler. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie die Vorredner schon herausgestellt haben, beraten wir heute mit dem Körperschaftsteuer-Modernisierungsgesetz und dem ATAD-Umsetzungsgesetz zwei wichtige Gesetze – leider nur in 30 Minuten. Man könnte viel mehr debattieren, und wenn ich mir so manche Rede anhöre, bräuchte man schon viel mehr Zeit, um die Dinge alle wieder richtigzustellen, die hier falsch behauptet worden sind. ({0}) Herr Kollege Glaser, die Wegzugbesteuerung betrifft nur Fälle mit Kapitalgesellschaftsanteilen und nicht Immobilien. Also das war schon mal falsch. ({1}) Frau Kollegin Kiziltepe, auch Ihre Wertung könnte man, würde ich sagen, etwas anders sehen. Ich habe jedenfalls wahrgenommen, dass es ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland bezüglich der Umsetzung der ATAD gibt, weil der Bundesfinanzminister keinen Entwurf vorgelegt hat, also ein Versagen des Bundesfinanzministeriums hier vorliegt. ({2}) Uns das jetzt in die Schuhe zu schieben, halte ich für kein faires Vorgehen. Den Punkt Finanzbeziehungen, den Sie angesprochen haben: Auch das haben wir inhaltlich besprochen. Es geht dabei um eine Darlehensgewährung an ausländische Tochtergesellschaften. Sie haben recht: Das wird oft missbraucht. ({3}) Aber es gibt mittlerweile die Zinsschranke. Wir haben den § 1 AStG. Wir haben die Hinzurechnungsbesteuerung. ({4}) Wir haben ein breites Instrumentarium, um dem Herr zu werden. Das sollten Sie sich bitte mal angucken. Wir haben in der Hinzurechnungsbesteuerung einen sogenannten Substanztest. Den bräuchten wir für manche Reden hier im Deutschen Bundestag anscheinend auch, meine Damen und Herren. ({5}) Das Wesentliche ist aber das Körperschaftsteuer-Modernisierungsgesetz. Kern dieses Gesetzes ist, dass es Personenhandelsgesellschaften in Zukunft ermöglicht wird, die Steuerlast zu optimieren durch einen Wechsel zur Körperschaftsteuer – ein lang gehegter Wunsch der Wirtschaft, aber auch von vielen Steuerfachleuten, die gesagt haben: Wir haben dort keine gerechte Besteuerung. Wir haben keine Rechtsformneutralität bei der Besteuerung. Bereits im Jahre 2000 gab es den ersten Versuch, der damals dann nicht weiter umgesetzt wurde. Nun gibt es – und da ein großes Lob an das Bundesfinanzministerium – einen klugen Vorschlag, das jetzt umzusetzen. Wir werden diese Option schaffen. Ohne dass es einen zivilrechtlichen Wechsel der Rechtsform gibt, kann die Personenhandelsgesellschaft sich in Zukunft wie eine Kapitalgesellschaft besteuern lassen. ({6}) Warum ist das wichtig? Weil die Belastungsunterschiede so groß sind. Eine Kapitalgesellschaft bezahlt auf ihre nicht entnommenen Gewinne je nach Gewerbesteuerhebesatz circa 30 Prozent, eher etwas mehr. Bei einer Personenhandelsgesellschaft, die nach dem sogenannten Transparenzprinzip besteuert wird, wo also gleich bis auf den Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft durchgegriffen wird, greift der persönliche Steuersatz. Das können in der Spitze bis zu 46 Prozent sein. Sie sehen: ein Unterschied von 16 Prozentpunkten. Das ist Liquidität, die den Unternehmen dann fehlt, wenn sie die Gewinne in den Unternehmen lassen, Geld, mit dem sie investieren und – was viel wichtiger ist, auch in schwierigen Zeiten – ihre Widerstandsfähigkeit stärken könnten, indem sie Eigenkapital bilden. Von daher ist es klug, dieses Wahlrecht geschaffen zu haben. ({7}) Wir haben einen zweiten Strang bei der Rechtsformneutralität, nämlich seit dem Jahr 2008 die Thesaurierungsbegünstigung in § 34a EStG. Und ja, wir als Union hätten uns vorstellen können, da noch ein wenig zu verbessern. Denn wir müssen sehen, dass sie in der Anwendung des Gesetzes gar nicht vorkommt. Nur 0,09 Prozent aller Personengesellschaften nutzen das. Es muss ja Gründe geben, warum das so ist. Diese liegen auch alle auf dem Tisch. Leider konnten wir uns in der Koalition nicht dazu durchringen, dieses Instrument zu verbessern. Ich glaube, zusätzlich zu der Option auch den § 34a EStG zu verbessern, wäre eine gute Lösung gewesen. ({8}) Wir haben auch die Investitionsfristen verlängert – für die Fachleute und Feinschmecker: die §§ 6b und 7g Einkommensteuergesetz –, weil gerade in der Coronazeit manche Investitionen nicht durchgeführt werden konnten und diese Steuerbegünstigungen sonst weggefallen wären. Es ist, glaube ich, klug, hier um ein weiteres Jahr zu verlängern. Wir haben dann im Rahmen des ATAD-Umsetzungsgesetzes auch die Abgabefristen für die Steuererklärung 2020 um weitere drei Monate verlängert. Ich glaube, das ist ein richtiges Signal an die steuerberatenden Berufe, die derzeit viel leisten. Denn im Rahmen der Gewährung der Wirtschaftshilfen sind es die steuerberatenden Berufe, die die Anträge stellen müssen, die es auch aushalten müssen, wenn es mit den Auszahlungen nicht so läuft, wie wir alle es uns gewünscht hätten. Der Mandant ruft nämlich nicht unbedingt bei der NBank in Niedersachsen oder bei den anderen auszahlenden Stellen an, sondern meldet sich bei seinem Steuerberater. Von daher ein großes Danke an die Steuerberaterzukunft in dieser Zeit für das, was sie geleistet haben, ({9}) und eine Anerkennung ihrer Tätigkeit vielleicht dadurch, dass sie sich dann in Ruhe mit den Steuererklärungen 2020 beschäftigen können. Also: Zwei gute Gesetze, denen Sie alle zustimmen können. Manche werden es nicht tun, habe ich vernommen. Das bedaure ich natürlich sehr. Aber wir haben ja zum Glück eine Mehrheit, und von daher wird es diese Gesetze geben. Herzlichen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katja Hessel. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach zwei Vertragsverletzungsverfahren und über zwei Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Anti-Steuervermeidungsrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Aber statt mit diesem Gesetz die europäischen Mindeststandards umzusetzen und ein Level Playing Field für deutsche Unternehmen zu schaffen, verschärft die Bundesregierung erneut ohne Not und erschwert damit die Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Unternehmen. ({0}) Dabei hat die öffentliche Anhörung im Finanzausschuss gezeigt, dass insbesondere die Wegzugsbesteuerung die deutschen Familienunternehmen und ihre Gesellschafter sowohl in ihrer unternehmerischen Freiheit wie auch in ihrer internationalen Mobilität erheblich einschränkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt nicht am deutschen Gesetzgeber, Lebensmodelle für Unternehmen und ihre Familien im deutschen Steuerrecht regeln zu wollen. ({1}) Auch die seit Jahren zu hohe Niedrigbesteuerungsgrenze bei der Hinzurechnungsbesteuerung muss endlich an das globale Steuerniveau angepasst und abgesenkt werden. Wir Freie Demokraten haben hierzu einen Antrag vorgelegt. Das Gegenargument: „Wir müssen an dieser Grenze jetzt nichts tun; denn die OECD hat sich jetzt ja auf einen Mindeststeuersatz geeinigt, bzw. wir einigen uns noch“, ist nicht überzeugend. Denn das Inclusive Framework verhandelt schon seit Jahren, während die OECD-Mitgliedstaaten ihre Unternehmensteuersätze im Durchschnitt auf 23,5 Prozent abgesenkt haben. Das rechtfertigt keine Niedrigbesteuerungsgrenze von 25 Prozent, meine Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Hier hat die Bundesregierung ganz klar ihre Chance zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen Außensteuerrechts verschlafen. Und noch etwas anderes hat die Bundesregierung verschlafen: die Schaffung eines wettbewerbsfähigen Unternehmensteuerrechts. Es reicht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, seit dem Kalenderjahr 2019 auf gute Beschlüsse zur Modernisierung des Unternehmensteuerrechtes hinzuweisen, wenn wir keine Umsetzung hiervon im Deutschen Bundestag sehen. ({3}) Denn auch mit dem Optionsmodell ist nur für einen ganz kleinen Teil der Personengesellschaften eine Alternative geschaffen. Aber was ist denn genau mit denen, die eben keinen fiktiven Formwechsel wollen, sondern nur eine rechtsformneutrale Besteuerung ihrer nicht entnommenen Gewinne? Dazu ist in dem Entwurf gar nichts enthalten; das haben Sie verschlafen. ({4}) Auch hierzu haben wir einen Antrag eingebracht, der die Thesaurierungsbegünstigung praktikabel machen und verbessern würde, ohne dass es großen administrativen oder finanziellen Aufwand gäbe. Zudem würde unser Konzept das Eigenkapital der Unternehmen stärken, statt den Abbau des Eigenkapitals in einer gesetzlichen Verwendungsreihenfolge fördern zu wollen. Wie wichtig Eigenkapital ist, zeigt uns die Pandemie jeden Tag aufs Neue. Es ist endlich Zeit für eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts und eine Reform desselben. Dass Sie als Regierung dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, haben die letzten Wochen erneut unter Beweis gestellt. Sie haben es eben versäumt, durch eine echte Reform der Unternehmensbesteuerung den Unternehmen ein Stück Wettbewerbsfähigkeit in diesem Land zurückzugeben. Wir werden uns deswegen bei der Abstimmung über das Körperschaftsteuer-Modernisierungsgesetz enthalten, und das ATAD-Umsetzungsgesetz werden wir ablehnen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Hessel. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahren ringen die Staaten vor allen Dingen im Rahmen der OECD um ein abgestimmtes Vorgehen beim Kampf gegen schädlichen Steuerwettbewerb und gegen aggressive Steuergestaltung international tätiger Unternehmen. Die vorliegende, allerdings auch längst überfällige Umsetzung der Anti-Steuervermeidungsrichtlinie der Europäischen Union begrüßen wir deshalb. ({0}) Ich würde dem Gesetzentwurf gerne zustimmen, allerdings wird die Freude getrübt, weil zwei große Lücken dennoch bestehen bleiben. Erstens. Es ist seit Langem bekannt, dass internationale Konzerne konzerninterne Kredite benutzen, um Gewinne in Niederlassungen in Niedrigsteuerländern zu verschieben und dort weniger Steuern zu zahlen. Laut Netzwerk Steuergerechtigkeit sind solche internen Verrechnungen für etwa ein Drittel der weltweiten Gewinnverschiebungen verantwortlich. Der ursprüngliche Referentenentwurf sah eine Neuregelung der Verrechnungspreise für solche konzerninternen Finanzbeziehungen vor. Vom Bundesrat wird sie gefordert, Frankreich hat Leitlinien definiert, innerhalb derer sich diese Zinssätze bewegen müssen. Nichts davon hat den Weg in dieses Gesetz gefunden. Das ist ärgerlich und muss dringend korrigiert werden. ({1}) Zweitens. Auch bei der Hinzurechnung von Gewinnen ausländischer Tochterunternehmen zum zu versteuernden Ertrag des Unternehmens in Deutschland bleibt eine erhebliche Lücke bestehen. Auch hier sah der ursprüngliche Referentenentwurf vor, diese sogenannte Hinzurechnungsbesteuerung auch auf ausländische Investmentfonds anzuwenden. Das Bundesfinanzministerium selbst hatte diese Besteuerungslücke erkannt, ({2}) die jetzt aber nicht geschlossen wird. Dies nicht zu tun, ist grob fahrlässig. Die Lücke muss so schnell wie möglich geschlossen werden – offensichtlich eine Aufgabe für eine andere Mehrheit links von CDU und CSU. ({3}) Wirklich ärgerlich dagegen ist das zweite Gesetz, das Gesetz zur Modernisierung der Körperschaftsteuer, also der Gewinnbesteuerung für Unternehmen. Hier soll Personengesellschaften, also zum Beispiel Unternehmen in der Rechtsform einer offenen Handelsgesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft nach dem HGB – wer mal eine kaufmännische Ausbildung gemacht hat, erinnert sich daran vielleicht noch –, erlaubt werden, sich bei der Steuer wie eine Kapitalgesellschaft, also wie eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft, behandeln zu lassen. Diese Gleichstellung an sich ist in Ordnung. Das wird aber als Wahlmöglichkeit ausgestaltet, deren Entscheidung auch wieder geändert werden kann. Der Bundesrat urteilte vernichtend, dieses Optionsmodell sei – Zitat – „für die Praxis allenfalls eingeschränkt tauglich“, es sei „nicht hinreichend rechtssicher“ und es sei „mit erheblicher Mehrarbeit für die Finanzbehörden verbunden“. Sachverständige in der Anhörung sprachen von einem Konstrukt zur Steueroptimierung oder einem „Beschäftigungsprogramm für große Steuerberatungsfirmen“. Diesen Gesetzentwurf werden wir daher ablehnen. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nichts zeigt deutlicher, wie die Koalition es hält mit dem Kampf gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung, als heute dieses Gesetzespaket. Die europäische Richtlinie gegen Steuervermeidung ist seit über zwei Jahren von dieser Bundesregierung nicht umgesetzt worden. Zwei Vertragsverletzungsverfahren sind seitens der Europäischen Kommission eingeleitet worden. Jetzt kommt zwar dieses Umsetzungsgesetz, aber es kommt nur im Paket, und das mit einem brandneuen Schlager für alle begeisterten Unternehmensteuergestalter. Das ist diese Koalition im Kampf gegen Steuervermeidung, meine Damen und Herren! ({0}) Das Körperschaftsteuer-Modernisierungsgesetz ermöglicht zukünftig Personengesellschaften, dass sie jedes Jahr entscheiden dürfen, ob sie sich als Personengesellschaft oder als Kapitalgesellschaft veranlagen lassen wollen. Wie gut sich dieses KöMoG – schön gekürzt – für Steuertricksereien eignet, konnten wir bereits im Vorfeld feststellen, als es nämlich die ersten Videos gab, wie man das nutzen kann. Das konnten wir im Gesetzgebungsprozess gerade noch rechtzeitig geradebiegen. Aber es ist völlig klar, dass es weitere Steuergestaltungsmöglichkeiten gibt. Deswegen ist es uns völlig unverständlich, warum dieses Steuergestaltungsmonstrum jetzt von Ihnen hier verabschiedet wird, wo es doch eine viel einfachere Alternative gibt, nämlich die Reform des § 34a des Einkommensteuergesetzes. Die Thesaurierungsbegünstigung existiert schon. Sie ist aber im Moment so gestaltet, dass man sie nicht handhaben kann; man muss sie deutlich verbessern. Dafür liegen Vorschläge, auch von Bündnis 90/Die Grünen, seit Jahren auf dem Tisch. Das sollten Sie tun statt dieses Murks, meine Damen und Herren. ({1}) Denn davon haben alle Personengesellschaften etwas, nicht nur die großen Supergestalter. Es würde auch die Investitionskraft von allen Unternehmen stärken, statt nur die Gestalterindustrie zu befördern. Und es wäre einfach handhabbar, und das übrigens vor allen Dingen für die Finanzämter. Ihr Gesetz – das hat auch die Anhörung gezeigt – führt auch noch zu weiteren Problemen. So erhöhen sich die Risiken von Steuerausfällen, zum Beispiel, wenn ausländische Gesellschafter beteiligt sind; denn Sondervergütungen sind derzeit bei Kapitalgesellschaften abzugsfähig, bei Personengesellschaften aber nicht. Außerdem ist die Anerkennung dieser neuen Optionsregel im Ausland noch überhaupt nicht geklärt. Das Verhältnis zu Doppelbesteuerungsabkommen ist völlig unklar, und das wird zu weiteren Streitfällen und Steuerausfällen führen. Es wird mit Sicherheit noch weitere Lücken geben. Deswegen hätten Sie zumindest unserem Änderungsantrag zustimmen sollen, in dem wir gefordert haben, die nationale Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle endlich einzuführen, damit wir zumindest relativ zügig feststellen können, welchen großen Schaden dieses Gesetz anrichtet. Aber auch das haben Sie abgelehnt, meine Damen und Herren. ({2}) Zur Umsetzung des ATAD-Gesetzes. Davon begrüßen wir, was doch noch übrig geblieben ist. Aber auch hier muss man entsprechend der heutigen Überschrift in der „Frankfurter Rundschau“ feststellen: Tricksen bleibt auch mit diesem Gesetz weiter erlaubt. – Dank an die Union in diesem Hause. Dabei hatte Sie der Bundesrat mit Mehrheit auf Antrag von Baden-Württemberg bereits dazu aufgefordert, dem Verschieben von Gewinnen in Niedrigsteuerländer durch Verrechnungspreise durch eine entsprechende Änderung endlich einen Riegel vorzuschieben. Wir als Opposition haben das hier auch noch mal eingebracht. Dem könnten Sie heute zustimmen. Geben Sie sich einen Ruck! Ansonsten ist das alles Murks. ({3}) Heute ist ein trauriger Tag im Kampf gegen Steuervermeidung in Deutschland. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einem kleinen Witz anfangen. Fritz Güntzler hat einen wunderbaren Versprecher gehabt. Er hat nämlich gesagt, dass man mit dem KöMoG eine Personengesellschaft zur Körperschaft optimieren kann. Das beschreibt so ein bisschen den Gedanken, der dahintersteckt. ({0}) Ich glaube, man kann der CDU viel vorwerfen, aber die CDU regiert mit. Die FDP regiert besser nicht, haben wir gelernt. Deshalb ist diese Vorwurfsebene für mich nicht ganz nachvollziehbar. Jörg Cezanne hat einen wichtigen Einzelpunkt angesprochen, nämlich die konzerninterne Finanzbeziehung. Das ist sicher eine offene Baustelle, von der wir glauben, man müsste diesem Vorschlag des Bundesrats folgen; aber wir brauchen auch für die nächsten Legislaturperioden Arbeit, und die ist damit mit Sicherheit vorgegeben. ({1}) Cansel Kiziltepe hat schon erläutert, was das ATAD-Umsetzungsgesetz alles leistet. Das ist die Fortsetzung der Bekämpfung von Steuergestaltung, und das geschieht sehr intensiv. Ich will noch einen Einzelpunkt nennen, den wir ebenfalls regeln, der sich ein bisschen anders gestaltet, als heute vorgestellt wurde. Ich habe zum Beispiel vor zehn Jahren einen Anteil an einer GmbH für 1 Million Euro gekauft. Dieser Anteil ist nach zehn Jahren 11 Millionen Euro wert. Somit habe ich eine Wertsteigerung um 10 Millionen Euro. Wenn ich den Anteil in Deutschland verkaufe, muss ich den Veräußerungsgewinn versteuern. Deshalb mache ich das nicht, sondern ich ziehe ins Ausland. Denn wenn ich ins Ausland ziehe, entziehe ich meinen Anteil dem deutschen Steuerrecht. Durch die Verlagerung des Wohnsitzes ins Ausland ist die Veräußerung plötzlich steuerfrei. Zwar stimmt es schon, dass es noch eine gewisse beschränkte Steuerpflicht in Deutschland gibt. Die ist bei uns aber regelmäßig durch Doppelbesteuerungsabkommen ausgeschlossen. Insofern ist es wichtig, diese sogenannte Wegzugsbesteuerung zu regeln, damit ich mich bei Wegzug meiner Steuerpflicht nicht entziehe und ihr nicht nachkomme. ({2}) Wir tragen hier im Haus – ich glaube, über alle Fraktionen hinweg – eine Monstranz vor uns her: Wir wollen immer alles vereinfachen, zum Beispiel das Steuerrecht. – Aber heute machen wir es richtig kompliziert, und zwar nicht im Einzelfall, sondern systemisch. Wir machen unser System komplizierter. Im Moment ist es so: Eine Personengesellschaft erwirtschaftet Gewinne, ist aber transparent. Transparent heißt ja durchsichtig, und was ich nicht sehe, kann ich auch nicht besteuern. Aufgrund der Transparenz gucken wir aber durch das Unternehmen der Personengesellschaft durch. Und wen sehen wir? Den Gesellschafter, und den besteuern wir. Das ist ein Mensch, und der muss Einkommensteuer zahlen. Der Gesellschafter zahlt also auf den Gewinn seines Unternehmens Einkommensteuer gemäß dieser runden Kurve, die bis zu einem Steuersatz von etwa 42 Prozent ansteigt. Wenn man 500 000 Euro verdient, zahlt man ungefähr 40 Prozent Einkommensteuer. Die Kurve kann, das ist klar, ziemlich hoch steigen. Der Gesellschafter erhält aber die Gewerbesteuer zurück, also ist alles wunderbar. Eine Körperschaft zahlt aber nur 30 Prozent Steuern auf den Gewinn. Jetzt merkt man schon: Als Personengesellschaft ab etwa 76 000 Euro Gewinn muss ich bei der Einkommensteuer mehr als 30 Prozent zahlen und bin damit gegenüber einer Körperschaft benachteiligt. Die Folge ist: Wenn ich jetzt also in der Personengesellschaft Gewinne gemacht habe und diese eigentlich ins Unternehmen geben will, damit die Innenfinanzierung stärker wird – wir wollen alle, dass investiert wird –, geht das nicht, weil ich schon so hohe Steuern gezahlt habe. So werden Investitionen unmöglich. Deshalb gibt es heute die Idee, zu sagen: Wir behandeln die Personengesellschaft zivilrechtlich wie gehabt – es ändert sich an der Rechtsform nichts –, aber steuerrechtlich eröffnen wir die Option, sich der Körperschaftsteuer zu unterwerfen. Dass es gewisse Qualifizierungsprobleme im Zusammenhang mit Verlagerungen ins Ausland gibt, hat Lisa Paus dargestellt. Das ist auch der Komplexität geschuldet. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass findige Wirtschaftsgestalter, Wirtschaftsprüfer, also Leute, die sich beruflich mit entsprechenden Gestaltungen beschäftigen, sich das Gute vom einen und das Gute vom anderen entsprechend kombinieren und dann möglichweise Steuersubstrat verloren geht. Deshalb haben wir ein Schlupfloch, das uns bekannt ist, schon gestopft. Wir kennen nicht alle Schlupflöcher der Zukunft, aber so bleibt für die nächsten Legislaturperioden etwas zu tun. Komplexität dient ja immer denen, die darüber nachdenken, wie sie Regeln auch in komplexen Strukturen umgehen können, und das wollen wir natürlich künftig vermeiden. Also: Viel Vergnügen bei der künftigen Steuergesetzgebung. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lothar Binding, auch für die Lehrstunde. Wir haben hier oben wieder einiges gelernt. Das ist eine unfassbare Fähigkeit von Herrn Binding; das will ich einfach mal sagen. ({0}) Man muss es ja nicht teilen, aber bei Ihnen verstehe ich es einfach. ({1}) Letzter Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielleicht kann ich ja auch noch ein bisschen zur Fortbildung beitragen, liebe Frau Präsidentin.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, jetzt können Sie nachlegen.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsidentin! Wir haben als CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Beginn der Wahlperiode ein wichtiges Positionspapier zur Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland auf den Weg gebracht und einstimmig beschlossen. Kernpunkt dieses Papiers sind drei Säulen: Wettbewerbsfähigkeit stärken, Bürokratie abbauen und Strukturen verbessern. Heute setzen wir mit diesem Gesetz, das auf dieses Papier zurückgeht, einen weiteren wichtigen Schritt zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Mittelstands und zur Herstellung der rechtsformneutralen Besteuerung mit der Einführung des Optionsmodells um. Deswegen ist es heute ein guter Tag im Parlament. Was bedeutet „rechtsformneutrale Besteuerung“? Es ist unser Ziel und muss unser Ziel sein, dass alle Firmen, ob Einzelunternehmen, Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft, gleichermaßen besteuert werden, also rechtsformneutral. Heute versteuern Einzelunternehmer und Personengesellschaften ihren Gewinn – Herr Kollege Fritz Güntzler hat es auch schon erläutert – mit 46 Prozent im Spitzensteuersatz. Somit ist wichtige Liquidität für Investitionen in Digitalisierung, in Modernisierung, in Internationalisierung entzogen. Kapitalgesellschaften versteuern ihren Gewinn, der in der Firma verbleibt, mit 15 Prozent Körperschaftsteuer und circa 17 Prozent Gewerbesteuer, also 32 Prozent, und haben damit einen Vorteil von 14 Prozentpunkten gegenüber Einzelunternehmen und Personengesellschaften. Diese Ungleichbehandlung führt dazu, dass dem deutschen Mittelstand notwendige Liquidität für Investitionen entzogen ist. Deswegen gibt es hier Wettbewerbsnachteile, die wir heute abschaffen. Aus unserer Sicht sind zwei Maßnahmen notwendig: einmal die Einführung des Optionsmodells – das setzen wir heute um – und zum Zweiten eine Verbesserung der begünstigten Thesaurierungsbesteuerung, also einen niedrigeren Steuersatz für die Gewinne, die im Unternehmen bleiben und nicht auf das Privatkonto des Unternehmers fließen. Beides gehört zusammen. Leider konnten wir mit dem Koalitionspartner den zweiten Teil nicht umsetzen, der aber genauso wichtig gewesen wäre. Wir müssen das in der nächsten Legislaturperiode machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wir laden Sie natürlich dann auch herzlich ein, es dieses Mal mit uns auch umzusetzen. ({0}) Ich glaube, wichtig ist in der ganzen Debatte, dass wir auch hier vom Parlament aus einmal die Unterschiede betonen. Die Debatte heute war ja sehr emotional. Die Unterschiede könnten wirklich nicht größer sein. Von der linken Seite des Hauses – Rot-Rot-Grün – wurde heute wieder gesagt: Alle Unternehmer sind Steuertrickser. ({1}) Der Mittelstand muss höher besteuert werden. ({2}) Dann kommt die Vermögensteuer. Dann kommt die Vermögensabgabe. Dann kommt mehr Bürokratie ({3}) durch nationale Anzeigepflichten. ({4}) Dann kommt eine Erhöhung der Steuern. – Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer erwirtschaftet denn die Steuern in Deutschland? Wer stellt denn 80 Prozent der Ausbildungsplätze zur Verfügung? ({5}) Das sind die Mittelständler in unserem Land. Das sind die fleißigen und mutigen Mittelständler. ({6}) Deswegen sagen wir von hier ein großes Dankeschön an unseren deutschen Mittelstand. Übrigens: Die ganze Welt beneidet uns um diesen Mittelstand. ({7}) Sie wollen ihn kaputtmachen, und das lassen wir nicht durchgehen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss man sich ganz deutlich anschauen, wer mit welchem Wahlprogramm in diese Wahl geht ({8}) und welches die wirtschaftlichen Folgen sein werden. Wenn Sie Geld ausgeben wollen für Kultur, für Soziales – was notwendig ist –, für Kinderbetreuung, für andere Dinge, ({9}) dann muss es ja auch von irgendwo in den Haushalt hineinkommen. ({10}) Das schaffen wir eben nicht durch Wegnahme von Substanz oder durch höhere Steuern, sondern das schaffen wir nur durch Wachstum, durch Innovationskraft und durch Investitionen in die Zukunft.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Binding?

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne. Dann wird meine Zeit länger; das freut mich. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, aber viel länger nicht. – Herr Binding. ({0}) – Nein, das ist nicht abgesprochen.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicher nicht.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Normalerweise sage ich ja: lieber Sebastian. Aber du hast eben gesagt: Und Sie wollen den Mittelstand kaputtmachen.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will hier erklären, dass wir dem Mittelstand viel verdanken, dass wir ihn schätzen, dass wir heute mit unserer Zustimmung zum KöMoG ihn essenziell stärken, dass unsere ganze Politik darauf ausgerichtet ist, unser Land zu stärken. Deshalb fand ich es, gelinde gesagt, nicht fair – manche hätten vielleicht gesagt: unverschämt –, uns zu unterstellen, wir wollten den Mittelstand kaputtmachen. ({0}) Das war eine völlig unseriöse Bemerkung. In der Tendenz hört man das manchmal. Auch die Pauschalierung, dass wir allen Unternehmern Betrügereien unterstellen würden: Nein, nur den Betrügern; denn die gibt es eben auch. Es gibt aber Leute hier im Haus, die die Betrüger schützen wollen, und zwar systematisch. Und dazu gehören wir nicht. ({1})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie, lieber Herr Kollege, eigentlich haben Sie bzw. hat Frau Kiziltepe ja mit den Unterstellungen angefangen, als sie in der ersten Rede in dieser Debatte gesagt hat, wir seien sozusagen die Lobbyisten der Steuertrickser. ({0}) Da muss ich ehrlich sagen: Das ist eine Unverschämtheit. ({1}) Das ist eine wirkliche Unverschämtheit. Was wir heute tun – das würde heute wahrscheinlich so nicht eingebracht, wenn wir nicht so viel Druck gemacht hätten –, ist, ein Optionsmodell umzusetzen, damit unsere Unternehmen mehr Möglichkeiten haben, zu investieren. Wenn Sie die Möglichkeiten in der nächsten Periode durch Vermögensteuer, ({2}) Vermögensabgabe und höhere Steuersätze wieder abschöpfen, dann wird dieses ganze Gesetz von heute obsolet sein. Also: Sie müssen schon auf einem Weg bleiben. Sie können nicht auf der einen Seite vielleicht etwas ermöglichen, weil wir es gefordert haben, und dies auf der anderen Seite wieder abschöpfen, sodass der Mittelstand dann kein Geld für Investitionen mehr hat. ({3}) – Das ist die Antwort auf Ihre Frage; jawohl. Wir haben großes Vertrauen in den deutschen Mittelstand und seine Innovationskraft. Natürlich gibt es überall auch Betrügereien. Die wollen wir abstellen. Aber den gesamten Mittelstand, die Firmen und die Industrie in unserem Land unter Generalverdacht zu stellen, ({4}) ist absolut falsch. ({5}) Wir geben Vertrauen, wir wollen den Mittelstand stärken, und das machen wir heute mit diesem Gesetz. Deswegen bitte ich herzlich um Zustimmung. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Menschen fragt, was ihre wichtigsten Themen sind, was sie beschäftigt, dann hört man in den aktuellen Umfragen nach Klimawandel und Corona schnell das Thema Rente. Deshalb ist es gut, dass wir uns kurz vor Ende der Wahlperiode heute hier noch einmal ausführlich darüber unterhalten, damit die Wählerinnen und Wähler im September wissen, woran sie sind. Die gesetzliche Rente stärken ist ein Thema dieser Debatte. Das ist nicht nur eine gute Idee, das ist zwingend notwendig, um das Vertrauen in den Sozialstaat zu erhalten. Zugegeben, die gesetzliche Rente ist vielleicht nicht so sexy wie ein Aktiendepot, aber im Gegensatz zu Kapitalmarktfantasien ist sie zuverlässig. ({0}) Deshalb haben wir die gesetzliche Rente mit vielen Leistungsverbesserungen in den vergangenen Jahren gestärkt. Vor allem mit der Einführung einer Grundrente sorgen wir dafür, dass ein Kernversprechen des Sozialstaats gilt: Wer jahrzehntelang in die Rentenversicherung eingezahlt hat, soll im Alter etwas davon haben. Das war, wie alle mitbekommen haben, mit unserem Koalitionspartner nicht ganz so einfach, aber mittlerweile findet auch der Kollege Straubinger die Grundrente großartig, wie er im Ausschuss erklärt hat. ({1}) Und er hat recht: Die Grundrente ist ein Riesenschritt. Die von den Grünen geforderte Garantierente setzt am gleichen Problem an, geringe Rentenansprüche bei langjähriger Versicherungszeit oder Erwerbstätigkeit sollen aufgewertet werden. Im Detail gibt es Unterschiede. So wirkt die grüne Garantierente eher positiv für Männer, die Grundrente eher positiv für Frauen. Das halten wir für besser, weil vor allen Dingen Frauen im Alter eine geringere Rente haben als Männer. ({2}) Damit die Menschen die gesetzliche Rente für eine sinnvolle Einrichtung halten, muss sie sich am erworbenen Lebensstandard orientieren. Deshalb müssen die Renten den Löhnen und Gehältern folgen, damit auch Rentnerinnen und Rentner am Wohlstand teilhaben können. Wir haben durchgesetzt, dass das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent absinkt. ({3}) Wir wollen, dass das Rentenniveau längerfristig stabilisiert wird und, wenn möglich, wollen wir es auch wieder erhöhen. Gute Löhne, Tarifverträge und eine aktive Arbeitsmarktpolitik sind die entscheidenden Stellschrauben für eine gute Rente; und da gibt es noch einiges zu tun. Zuallererst muss der Mindestlohn deutlich rauf, auf 12 Euro! ({4}) Das reicht aber noch nicht. Nach den jüngsten Zahlen nimmt die Tarifbindung weiter ab. Nur noch 42 von 100 Betrieben in Deutschland unterliegen einem Tarifvertrag. Diese Tarifflucht muss gestoppt werden. ({5}) Tarifverträge müssen leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das ist gut für gleiche Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen. ({6}) Das ist aber auch gut für die Beschäftigten, und das ist auch gut für eine ordentliche Altersversorgung. In der aktuellen Debatte gibt es ja immer wieder die schlichte Forderung: Wir leben länger, also müssen wir auch länger arbeiten. Auch der Kanzlerkandidat der Union, Herr Laschet, kommt mit solchen Ideen um die Ecke. Das ist nicht nur falsch, sondern fast schon zynisch; ({7}) denn eine weitere pauschale Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters würde für viele, die nicht länger arbeiten können, eine Rentenkürzung bedeuten. Und das machen wir nicht mit. ({8}) Es ist im Übrigen keine besonders neue Erkenntnis, dass die Lebenserwartung ungleich verteilt ist. Der Bayerische Rundfunk hat neulich berichtet, dass die Kluft zwischen der Lebenserwartung im Süden Deutschlands und der im Norden dramatisch ist. In Bremerhaven sterben Männer sechs Jahre früher als in München. Das hat sicherlich nicht nur was mit der guten Luft in München zu tun, sondern mit der Sozialstruktur, mit der Arbeitsmarkt- und Berufsstruktur in Bremerhaven. Wer länger arbeiten will und kann, soll das gerne tun – wir wollen das fördern. Aber es muss freiwillig sein. Die gesetzliche Rente muss reichen, um im Alter ordentlich über die Runden zu kommen. ({9}) Zusätzliche Vorsorge ist für uns eine Ergänzung, aber kein Ersatz. Es war der Konstruktionsfehler bei Riester, ({10}) den Anspruch zu haben, Einbußen bei der gesetzlichen Rente ausgleichen zu können. Das hat neben vielem anderem nicht funktioniert. Die beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente ist die betriebliche Altersversorgung, am besten tarifvertraglich organisiert. Allerdings hat nur die Hälfte der Beschäftigten überhaupt Zugang zur betrieblichen Altersversorgung, im Handwerk ist es jeder Zehnte. Welche Möglichkeiten sich mit Fantasie bei tarifvertraglichen Regelungen auftun, zeigt die von der IG Metall ausgehandelte Vereinbarung für das Metallhandwerk in Niedersachsen. Dort können Beschäftigte früher in Rente gehen – ohne Abschläge; denn die Arbeitgeber zahlen für Beschäftigte ab 50 jeden Monat 50 Euro zusätzlich in die Rentenkasse. ({11}) Damit können Abschläge ausgeglichen werden, bzw. die Rente wird erhöht, wenn man das Renteneintrittsalter erreicht. Wir wollen zusätzliche Zahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung erleichtern. Die Grünen schlagen zur Stärkung der gesetzlichen Rente eine Bürgerversicherung vor. Das ist nahe bei unserer Idee einer Erwerbstätigenversicherung, in die alle einbezogen werden sollen: Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Beamte und natürlich auch Abgeordnete. ({12}) Bei der Bürger- und Erwerbstätigenversicherung geht es um gesellschaftliche Solidarität, und Solidarität in der Alterssicherung heißt eben für uns auch, dass Mandatsträger/-innen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Das ist keine neue Debatte. Eine Expertenkommission hatte 2013 unter dem ehemaligen FDP-Justizminister Schmidt-Jortzig Vorschläge für eine Reform der Altersversorgung von Abgeordneten gemacht. Ein Teil der Kommission um Schmidt-Jortzig – jetzt müssten der FDP die Ohren klingeln – hat den Vorschlag gemacht, Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen ({13}) mit einem Bausteinmodell von Zusatzversorgung und privater Vorsorge. So ähnlich ist auch der Vorschlag der Linken. ({14}) Wir haben da zwei Kritikpunkte. Erstens schweigen Sie sich über die Finanzierung der Beiträge aus. Zweitens. Bei aller Sympathie für den Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen: Er hat einige rechtliche Brisanz, wenn es darum geht, dass künftig Rentenansprüche gedeckelt werden sollen. In jedem Fall würde es das Image der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich verbessern, wenn auch Abgeordnete dort organisiert wären. ({15}) Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Die SPD hat auf ihrem Parteitag die Forderung nach einer Erwerbstätigenversicherung noch einmal bekräftigt. Und ich bin sicher: Die neue Bundestagsfraktion wird dieses Thema, nämlich die Einbeziehung von Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung, in der nächsten Wahlperiode mit Mut und Energie anpacken. Vielen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Als nächster Redner hat der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute mal wieder mehrere Anträge zur Rente. Warum wird denn ständig an der Rente herumgedoktert? Weil in den letzten Jahrzehnten die falschen Weichen gestellt wurden und deswegen immer mehr Probleme auftreten. Immer mehr Rentner leben in Armut, und immer mehr Berufstätige werden von ihrer Rente nicht leben können. Das liegt schlicht an der Demografie. Das erste Kind bekommen Mütter in Deutschland durchschnittlich mit 30 Jahren, viele auch erst mit über 40 Jahren, ein Alter, in dem so manche in anderen Ländern schon Großmütter sind. Auf eine Frau kommen im Schnitt nur anderthalb Kinder. Mindestens zwei, eher drei bräuchten wir für eine gesunde Gesellschaftsentwicklung. Die Linken wollen diese demografischen Probleme lösen, indem man jenen Geld wegnimmt, die noch eine halbwegs vernünftige Rente bekommen. Und die Lösung der Grünen lautet: noch mehr Zuwanderung von unqualifizierten jungen Männern. Wir lehnen Ihre Anträge ab; denn sie gehen in die völlig falsche Richtung. ({0}) Ihre Lösungsansätze sorgen für soziale Spannungen und noch mehr Kosten im Sozialsystem, Geld, das dann für die Rente fehlt. Stattdessen müssen wir das demografische Problem angehen. Aktuell will die linke Ideologie jungen Männern und Frauen einreden, dass auf der Straße fürs Klima zu hüpfen wichtiger ist als eine gute Ausbildung. Man redet jungen Frauen ein, ihr ganzes Lebensglück liege in Selbstverwirklichung und Emanzipation. Familie und Kinder, die für viele Grundlage eines glücklichen Lebens sind, werden vom linken Mainstream bekämpft. Stattdessen werden Ökofanatikerinnen zu Helden stilisiert, wenn sie davon sprechen, keine Kinder zu bekommen, um das Klima zu schonen. Jungen Männern rauben die Linken jedes Selbstbewusstsein, indem schon die Einladung einer Frau zum Essen als sexuelle Belästigung stigmatisiert wird. ({1}) Der linke Diskurs macht aus jungen Männern und Frauen entsexualisierte, ideologische Soldaten, die sich der links-grünen Umerziehung der Gesellschaft statt ihrer eigenen persönlichen Entfaltung widmen sollen. ({2}) Dieser links-grüne Klassenkampf macht Männer und Frauen gleichermaßen unglücklich. ({3}) Statt Familien zu gründen und ein erfülltes Familienleben zu haben, sollen sie das Klima retten, gegen Diskriminierung kämpfen, Minderheiten unterstützen und am besten noch ein paar Waisenkinder in Afrika betreuen. ({4}) Jungen Menschen wird auf allen Kanälen gesagt, was sie zu tun und zu lassen haben. ({5}) Sie versuchen ja, mir jetzt auch wieder zu erzählen, was wir zu tun und zu lassen haben. ({6}) Wenn sich hier jemand schämen sollte, dann Sie, dafür dass Sie so massiv in die persönliche Entfaltung dieser ganzen Menschen eingreifen. ({7}) Die linke Ideologie redet immer von Toleranz, aber sie selbst toleriert und respektiert die persönlichen Lebenswegentscheidungen von jungen Menschen nicht. ({8}) Wir müssen diesen Irrweg so schnell wie möglich beenden und Männer Männer und Frauen Frauen sein lassen. Nur so können wir die Demografie und auch die Rente in Ordnung bringen. ({9}) Wir müssen klarmachen, dass es genauso in Ordnung ist, Hausfrau und Mutter zu sein, wie es in Ordnung ist, berufstätig zu sein. Wir müssen dafür sorgen, dass Familien von nur einem Gehalt leben können. ({10}) Und wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen so gut ausgebildet werden, dass Unternehmen ihnen langfristige Vollzeitstellen anbieten, damit sie die Sicherheit haben, die sie brauchen, um eine Familie zu gründen. ({11}) Anstatt der hier vorliegenden Anträge brauchen wir einen grundlegenden Wechsel in der Bildungs- und Familienpolitik; denn nur so kann die Rente eine Zukunft haben. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sichert. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemach, gemach! Die Äußerungen mögen einem nicht gefallen, aber wenn man über die Demografie spricht, dann hat das schon einen Rentenbezug in irgendeiner Form. ({0}) Frau Brantner, das Gute ist, dass die Frage zur Sache vom Präsidenten entschieden wird und nicht vom Plenum. – Herzlichen Dank. ({1}) Der Kollege Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt ja Gesellschaften, wo die Demografie wesentlich besser ausschaut und die Rentenversorgung für die Bürgerinnen und Bürger trotzdem ganz schlecht ist. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute in zweiter Lesung mit den Anträgen der Grünen zu einer umfassenden Rentenversicherungsneugestaltung und gleichzeitig auch mit dem Antrag der Linksfraktion, die ja glaubt, dass die Zukunft der Rente gerettet werden kann, indem die Abgeordneten in die Rentenversicherung einbezogen werden. ({1}) Dies relativiert sich allein schon angesichts der Kräfteverhältnisse zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung mit einem Umfang von 242 Milliarden Euro im Vergleich zu 42 Millionen Euro für die Abgeordnetenversorgung, um die es hier ja auch geht. ({2}) Aber dazu später. Werte Damen und Herren, voranzustellen ist im Gegensatz zum Herrn Kollegen Kapschack, glaube ich, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auf die gesetzliche Rentenversicherung und auf unsere Altersversorgung verlassen können. Kollege Kapschack, der natürlich durchaus wichtige Dinge angesprochen hat, zum Beispiel, wie in der Zukunft die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung gestaltet werden kann, lehnt es für seine Fraktion ja ab, zumindest über die Lebensarbeitszeit zu diskutieren. Ich glaube, Franz Müntefering, seinerzeit Bundesarbeitsminister, war da wesentlich weiter. Der hat nämlich erkannt, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung und der besseren Altersentwicklung notwendig ist, für einen späteren Renteneintritt zu sorgen. ({3}) Dies haben wir in dieser Koalition gemeinsam geschafft, ({4}) und das hat Sicherheit für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland bedeutet, lieber Herr Ralf Kapschack. Das bedeutet natürlich auch, dass in der Zukunft, wenn die Lebenserwartung weiterhin steigt, über diese Frage zumindest zu diskutieren ist. ({5}) Aber zurück zu den Anträgen von den Grünen und von den Linken. Die Grünen schlagen ja in ihrem großartigen Konzept mit vor, die Rentenversicherung in eine Erwerbstätigenversicherung umzugestalten und nach 30 Versicherungsjahren eine Garantierente einzuführen, die so hoch sein soll, dass das Grundsicherungsniveau mindestens erreicht bzw. übertroffen wird. Jetzt frage ich mich, von welchem Grundsicherungsniveau Sie ausgegangen sind: von dem in Ostdeutschland oder von dem in der Stadt Düsseldorf? Das ist auch mit eine Frage, die zu klären ist. Von daher zeigt sich, wie relativ diese Vorschläge zu betrachten sind. ({6}) Von der Seite der Wissenschaft – wir hatten dazu eine Anhörung – wurde sehr deutlich gesagt, was davon zu halten ist. Professor Bomsdorf hat einen massiven Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip festgestellt. Denn wenn ich eine Garantierente unabhängig von der Einzahlungsform auszahle – also die gleiche Rente daraus resultiert, ob über ALG-II-Bezüge eingezahlt wurde, ob über Minijobbezüge eingezahlt wurde oder ob über der Beitragsbemessungsgrenze liegende Bezüge eingezahlt wurden –, so ist das ein Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip. ({7}) – Ja, natürlich! Auch wenn Sie da mit dem Kopf schütteln, Herr Kollege Kurth, ({8}) ist das natürlich ein Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip und vor allen Dingen eine Versündigung gegen die fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitten in Deutschland. Das muss man hier auch feststellen. ({9}) – Das soll gelebte Solidarität sein, dass der eine, der im Monat 1 000 Euro Rentenversicherungsbeiträge zahlt, die gleiche Rente bekommt, wie jemand, der nur 80 Euro Rentenversicherungsbeiträge im Monat zahlt? ({10}) Wenn das Ihr Weltbild ist, dann ist das ja in Ordnung. Dann treten wir gerne hier und natürlich auch bei der anstehenden Bundestagswahl in einen Wettstreit ein. ({11}) – Herr Präsident, der Kollege Kurth würde gerne eine Frage stellen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das ist schön. Es ist klar, dass Sie das gerne möchten, weil das Ihre Redezeit verlängert, Herr Kollege Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe ja noch 12 Minuten, Herr Präsident, oder?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das sind Sekunden. Auch in Bayern sind 12 Sekunden 12 Sekunden. ({0}) Herr Kollege Kurth, an sich sind Sie noch dran. Aber Sie haben jetzt trotzdem das Wort für eine Frage. ({1})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Ich weiß, dass ich gleich noch dran bin; aber Sie haben mich gerade direkt angesprochen, und außerdem haben Sie unser Konzept willentlich missverstanden. ({0}) Ich fasse mich ganz kurz, und Sie können auch sehr kurz antworten. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir sagen: Wer nach 30 Versicherungsjahren nicht 30 Entgeltpunkte – das entspricht rund 1 000 Euro – hat, der hat Anspruch auf diese Garantierente. Und wer an der Beitragsbemessungsgrenze verdient und entsprechend einzahlt, der kommt gar nicht erst in die Lage, eine Rente in dieser Höhe beziehen zu müssen. Also: Ein bisschen mehr Sorgfalt beim Lesen unseres Antrags würde ich sehr begrüßen. ({1}) Danke. ({2})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kurth, finden Sie es wirklich richtig, jemanden, der 30 Jahre lang Minijobbeiträge bezahlt hat – bei einem Minijob mit einem Verdienst von derzeit 450 Euro zahlt der Versicherte selbst 3,56 Euro; das heißt 30 Jahre lang Monat für Monat 3,56 Euro –, mit jemandem, der regelmäßig höhere Beiträge bezahlt hat, sodass er mit diesen zumindest nach 30 Beitragsjahren eine Rente auf Grundsicherungsniveau erreicht hat, gleichzustellen? Dieser muss nämlich Beiträge in Höhe von mindestens 800 Euro im Monat zahlen, wenn nicht mehr. Na, 1 000 Euro muss er zahlen, wenn er das nach 30 Jahren erreichen will. ({0}) – Doch! Herr Strengmann-Kuhn, auch Sie schütteln mit dem Kopf. – Der muss fast 1 000 Euro zahlen, wenn er nach 30 Jahren auf eine Rente kommen will, die genauso hoch wie die Grundsicherung ist. Gut, jetzt kann man streiten, wie hoch die Grundsicherung sein soll, ob Sie sie bei 1 200 Euro ansetzen oder bei 700 Euro; so groß ist ja die Differenz in Deutschland. Von daher, Herr Kollege Kurth: Wenn Sie das als gerecht empfinden, bin ich Ihnen dankbar für diese Aussage. Wir werden dies im Wahlkampf sicherlich thematisieren. ({1}) In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Aber vor allen Dingen zeigt die Debatte sehr deutlich: Die Rentenversicherung und die Alterssicherung der Bürger sind am besten bei der Union aufgehoben. Und daran sollten Sie sich alle orientieren. ({2}) – Doch, Marianne!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Straubinger. – Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlkampf soll ja das große Gespräch unserer Demokratie über die Themen sein, die in der nächsten Legislaturperiode zur Gestaltung anstehen. Deshalb ist es gut, dass wir hier vor der Wahl auch noch mal unterschiedliche rentenpolitische Konzepte diskutieren können, heute ganz konkret Anträge von Grünen und Linken. Denn in der Tat ist die nächste Legislaturperiode die letzte, in der wir noch handeln können – das gilt für alle Megatrends, bei denen wir handeln müssen: Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie –, bevor die geburtenstarken Jahrgänge anfangen, in Rente zu gehen. Die spannende Frage ist nur: In welche Richtung wollen wir laufen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie wissen: Ich zahle als Abgeordneter nicht nur freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung ein, ({0}) ich bin auch sehr offen für eine Debatte darüber, ob wir ein anderes System schaffen können, wie es zum Beispiel in Schleswig-Holstein unter Beteiligung des geschätzten Präsidenten Wolfgang Kubicki geschaffen wurde. Darüber können wir reden. Aber wenn, dann orientieren wir uns, würde ich sagen, mehr am Charakter von Selbstständigen; denn denen entsprechen Abgeordnete am ehesten. Das löst aber nicht das demografische Problem in der Rentenversicherung, ({1}) genauso wie alles andere, was Sie in Ihrem Antrag so von sich geben, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, auch nur der Wunsch nach einer Einheitskasse ist. Wir haben doch in der Anhörung klipp und klar gehört – bei den Grünen trifft der Kritikpunkt genauso zu –, dass das nicht nur kein Problem in der Rentenversicherung mit Blick auf die Demografie löst, sondern mit Blick auf die demografischen Besonderheiten, zum Beispiel von Beamten, die Probleme sogar verschärfen würde. Das ist doch keine zukunftssichere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn Sie schon selber in Ihrem Antrag schreiben, Sie machten etwas im gerade noch so verfassungsmäßig zulässigen Maße, ({3}) dann sollte man vielleicht darüber nachdenken, ob nicht die ganze Idee schlecht ist. ({4}) Das ist also definitiv der falsche Weg. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, passt zwischen Sie und Die Linke in der Sozialpolitik wieder einmal nicht viel Luft. Sie denken mit Ausnahme des letzten Punktes ganz ähnlich. Auch Ihre Lösung ist die Einheitskasse. Sie wollen – ganz konkret; das steht explizit da drin – die Rentenpolitik dieser Großen Koalition, die unverantwortliche Rentenpolitik dieser Großen Koalition, über 2025 hinaus festschreiben. Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, müssen Sie sich aber fragen lassen, wie das finanziert werden soll. ({5}) Eine bessere Arbeitsmarktlage alleine wird da nicht reichen. Dazu findet man im Antrag allerdings nichts. Doch! Wenn man genauer liest, findet man etwas – der Haushälter Otto Fricke muss gut aufpassen –: einen „steuerfinanzierten Stabilisierungsbeitrag“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken Sie sich das System mal als ein Gefäß, das mit Blick auf die Demografie vor Herausforderungen steht und deshalb sozusagen ein Leck hat: Wenn Sie in ein solches Gefäß mehr Wasser reinfüllen, haben Sie kein Problem gelöst. ({6}) Das ist keine nachhaltige Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({7}) Sie müssen beantworten, wie das finanziert werden soll. Das ist eine Frage, die wir der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode oft gestellt haben. 68 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr ab 2030, 80 Milliarden Euro schon zusätzlich pro Jahr ab 2035 – wie soll das finanziert werden? Soll der Beitragssatz explodieren – 25 Prozent? Wollen Sie einen Steuerzuschuss in Richtung Hälfte des Bundeshaushalts? Wollen Sie die Steuern erhöhen? 80 Milliarden Euro, das wären ungefähr 6 Prozentpunkte Mehrwertsteuererhöhung! Wenn Sie die Rentenpolitik der Großen Koalition übernehmen, müssen Sie diese Fragen im Wahlkampf auch beantworten. ({8}) Auf eine Antwort warten wir aber immer noch, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Richtig wäre, nicht nur unser Rentensystem zu modernisieren, sondern strukturell zu reformieren. Da schlagen wir – Sie wissen es – eine gesetzliche Aktienrente nach schwedischem Vorbild vor. ({10}) Was die Schweden erfolgreich machen, was die Verbraucherzentralen uns vorschlagen, das wäre ein Weg, nicht nur die Staats- und Rentenfinanzen zu stabilisieren, sondern sogar dafür zu sorgen, dass der Sinkflug des Rentenniveaus aufgehalten wird, umgekehrt wird und Geringverdiener überproportional profitieren. Das wäre zukunftsgemäße Rentenpolitik. Ihr Antrag ist es leider nicht. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. ({0}) – Nicht aufgeben! ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dietmar Bartsch, Fraktion Die Linke. ({2})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2,4 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhalten weniger als 1 000 Euro Rente, obwohl sie 40 Jahre eingezahlt haben. Das ist jeder Dritte. Wir Abgeordnete erhalten nach den vier Jahren, die jetzt jeder von uns hier im Parlament war, eine Altersentschädigung von rund 1 000 Euro, ohne dass wir auch nur einen Cent eingezahlt haben. Das ist inakzeptabel. Das muss man ändern, weil es dafür in der Bevölkerung überhaupt kein Verständnis gibt. ({0}) Deswegen unser Vorschlag: Wir wollen, dass die Mitglieder des nächsten Deutschen Bundestags, den die Bürgerinnen und Bürger am 26. September wählen, in die gesetzliche Rente verpflichtend einzahlen. Es ist doch nicht hinnehmbar, dass wir hier Entscheidungen treffen, die uns alle null Komma null berühren. Tatsache ist doch, dass die Rente zu Zeiten Helmut Kohls in einem besseren Zustand war als heute – und für uns gibt es weiterhin ein Extrasystem. Wir müssen aus der Rentenparallelgesellschaft raus und rein in die Mitte der Gesellschaft. ({1}) Meine Damen und Herren, lieber Johannes Vogel, wir haben unseren Antrag verfassungsrechtlich auf Herz und Nieren prüfen lassen. ({2}) Das Gutachten von Professor Steinmeyer und Dr. Lovens-Cronemeyer – der Kollege Birkwald ist gerne bereit, es allen, die das wünschen, zur Verfügung zu stellen – ({3}) zeigt, dass es keine – ich betone: keine – verfassungsrechtlichen Bedenken gibt. Das ist eine klare Aussage. Lieber Max Straubinger und lieber Johannes Vogel, wir wissen doch auch, dass dieser Schritt nicht das grundsätzliche Problem der gesetzlichen Rente löst. Das behauptet doch auch niemand. ({4}) Aber es hätte eine tiefe Symbolik, es wäre ein Signal an die Bürgerinnen und Bürger für mehr Gemeinsinn und für mehr Vertrauen; da hat der Kollege Kapschack doch völlig recht. Das Image der gesetzlichen Rente muss verbessert werden. Und wir können einen Beitrag dazu leisten. Gerade angesichts der Verwerfungen in der Krise sind doch solche Signale enorm wichtig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Bartsch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Max Straubinger, CSU?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Max Straubinger – immer gern. Aber dann muss er die Maske abnehmen, sonst verstehe ich sein Bayerisch nicht. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bartsch, Sie haben von der Symbolik gesprochen, und das veranlasst mich zu der Frage, wieso dann Die Linke im Thüringer Landtag noch keinen Antrag gestellt hat, dass die dortigen linken Abgeordneten oder überhaupt alle Abgeordneten der gesetzlichen Rentenversicherung unterworfen werden. ({0}) Wieso ist bis heute noch kein solcher Vorschlag gekommen, obwohl der Kollege Birkwald bei der letzten Diskussion zugesichert hat, dass es einen Antrag geben wird? ({1})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Also, lieber Kollege Straubinger, erst mal reden wir hier über den Bundestag. Ich würde mich freuen, wenn Sie, wie Sie es andeuten, auch der Auffassung sind, dass wir das machen können und dass wir das hinkriegen. Ich werbe dafür, dass das in Thüringen und in allen anderen Bundesländern genauso geschieht, nämlich dass alle in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, auch die Abgeordneten in Thüringen, im Übrigen auch die in Bayern. Ich bin dafür, dass wir zu einer einheitlichen Rentenkasse kommen, in die wirklich alle einzahlen, auch Selbstständige, alle Abgeordneten, auf allen Ebenen: die bayerischen, die thüringischen und auch die aus meinem Heimatbundesland Mecklenburg-Vorpommern. ({0}) Das ist unsere Haltung, und die ist unverändert, egal wie sich einzelne Landesverbände verhalten. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Bartsch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage – dann ist aber Schluss – von Herrn Brandner? ({0}) – Das entscheidet der Redner; das entscheiden nicht wir.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich lasse auch die Frage von Herrn Brandner noch zu.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Brandner, Sie haben das Wort.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Bartsch. – Ich schließe an die Zwischenfrage des Kollegen gerade eben an. Meine Frage betrifft ebenfalls Thüringen: Ich war ja einige Jahre Mitglied des Thüringer Landtags, unter anderem in den Jahren 2015 und 2016. Ich erinnere mich extrem gut, dass die AfD-Fraktion im Landtag einen Antrag eingebracht hatte, in dem darauf gedrungen wurde, dass die Mitglieder des Thüringer Landtags in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollten. Der Antrag wurde von der dortigen Linkenfraktion geschlossen abgelehnt. Wie ist das jetzt in Einklang zu bringen mit dem, was Sie uns hier erzählen?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Brandner, ich kann Ihnen versichern: Sie haben die Ehre, dass wir nie Anträgen von Ihnen zustimmen werden, und zwar aus grundsätzlichen Gründen. ({0}) Wer eine rassistische Politik macht, dem stimmen wir auch nicht bei Rentenanträgen zu. Da können Sie auch in Zukunft ganz sicher sein. ({1}) Aber ich sage Ihnen ebenso zu, dass wir auch in Thüringen darum kämpfen werden, dass alle einzahlen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Bartsch, eine letzte Zwischenfrage aus den Reihen der SPD-Fraktion, und dann machen wir auch weiter. Ich finde es toll, wie lange Sie dadurch reden dürfen, aber das überschreitet dann doch alle Möglichkeiten.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bitte, gerne.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bartsch, es ist schön, dass Sie auch diese Zwischenfrage zulassen. – Ich finde, dass Sie sich Fragen nach Ihrer Glaubwürdigkeit in der Debatte schon gefallen lassen müssen. Thüringen ist dafür ein gutes Beispiel, aber es stellen sich auch noch andere Fragen in dem Zusammenhang. Herr Bartsch, wenn Sie das wirklich wollen, dass alle Abgeordneten in diesem Haus in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden – ({0}) Kollege Kapschack hat Ihnen ja unsere Position dazu gesagt –, wenn Sie wollen, dass wir das gemeinsam hinbekommen, dann frage ich mich, warum Sie nicht den Vorstoß unternehmen, dass wir gemeinsam eine Kommission einrichten. ({1}) Warum gehen Sie nicht auf die anderen Fraktionen zu mit einer gemeinsamen Initiative? ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie den Fragesteller doch erst mal seine Frage formulieren.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie als Fraktionsvorsitzender halten hier populistische Reden, in denen Sie Leute, die 40 Jahre lang im Deutschen Bundestag sitzen, mit Leuten vergleichen, die 40 Jahre lang im Niedriglohnsektor arbeiten. Das ist das, was ich nicht in Ordnung finde. ({0}) – 40 Jahre, hat er gesagt! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob Ihnen das gefällt oder nicht: Der Fragesteller kann seine Frage jetzt erst mal zu Ende formulieren. Danach kann der Kollege Dr. Dietmar Bartsch antworten. Es kann vielleicht noch die Möglichkeit einer Kurzintervention der Linken geben, aber es macht doch keinen Sinn, den Fragesteller durch dauernde Zwischenrufe zu unterbrechen.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für mich ergibt sich daraus, dass es Ihnen nur darum geht, politischen Vorteil aus dieser Debatte zu ziehen und das Ganze zu einer Neiddebatte zu machen, ({0}) anstatt dass wir hier gemeinsam versuchen, eine Lösung hinzukriegen, ({1}) dass wir als Abgeordnete in die Rentenversicherung einzahlen, damit mehr Vertrauen für die Rentenversicherung entsteht, wie es Herr Kapschack gesagt hat. Das würde auch zu mehr Glaubwürdigkeit in der Altersvorsorge führen. Aber diese gewinnen wir nicht dadurch, dass wir hier Neiddebatten führen, Leute gegeneinander ausspielen und populistische Reden halten, wie Sie das hier tun. ({2})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kollege, erst mal bin ich immer froh, wenn ausgerechnet Sie aus der Sozialdemokratie über Glaubwürdigkeit reden. Das ist wirklich sensationell. Damit will ich beginnen. ({0}) Zweitens. Sie müssen bitte zuhören. Ich habe gesagt – und ich bleibe dabei –: Es ist skandalös, wenn Menschen 40 Jahre einzahlen und weniger Rente bekommen als wir nach vier Jahren. Das ist ein Widerspruch, der ist unauflösbar. ({1}) Drittens. Von wegen Glaubwürdigkeit: Ja, wir wissen, dass Die Linke das vermutlich nicht allein durchsetzen wird. Deswegen sind wir selbstverständlich bereit, eine Kommission oder was auch immer zu gründen. Ich wünsche mir andere Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, damit wir bei den Renten grundlegende Veränderungen erreichen. Denn jetzt ist die Situation doch so, dass Altersarmut zunimmt. Wir müssen dafür sorgen, dass keine Altersarmut da ist, dass jeder von seiner Rente leben kann, dass sie lebensstandardsichernd ist. Ihre Koalition regiert seit so vielen Jahren, und dann gibt es diese Renten – Ihr Problem ist das! Aber Sie nennen es Populismus, wenn wir das ansprechen. Sie haben nicht geliefert. Der Kollege Kapschack hat hier ein Angebot gemacht, das weitgehend vernünftig ist. Da können wir uns doch treffen, sehr gern – aber bitte nicht diese Wahlauseinandersetzung, nur weil wir das in den Bundestag einbringen. Sie wollen das nicht; das ist verständlich. Aber wir wollen das, wir wollen eine Rente für alle – im Gegensatz zu vielen anderen. ({2}) Das ist die Lage. Man kann nicht anderen Populismus vorwerfen, wenn man selber über Jahre versagt hat auf diesem Gebiet. ({3}) Ich will noch eines sagen. – Jetzt läuft wieder die Redezeit. Ich nehme gerne noch ein paar Zwischenfragen, Herr Präsident. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Bartsch, Ihre Zeit ist immer noch angehalten. Sie dürfen jetzt in aller Ruhe mit Ihrer Rede fortfahren. Ich habe an Sie keine Fragen, und ich lasse auch keine weiteren Fragen zu. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich sage noch einmal ausdrücklich: Selbstverständlich sind wir bereit, hier im Deutschen Bundestag darüber zu reden. Ich will noch eines anschließen – denn das betrifft Sie auch –: Wir sind dafür, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung einbezogen werden – auch wenn das nur Symbolik ist, da dadurch keine große Summe zusammenkommt –; denn die Mitglieder der Bundesregierung erhalten nach vier Jahren völlig unabhängig von der Qualität der Arbeit, die sie geleistet haben, 4 000 Euro Ruhegeld – finden Sie das in Ordnung? –, ({0}) und zwar ohne einzuzahlen. Das geht so nicht. Obendrein haben sie zweimal die Bezüge erhöht. Wir haben hier im Bundestag alle zusammen beschlossen, dass wir unsere Bezüge nicht erhöhen. Jetzt sinken sie sogar, was vernünftig ist. Die Bundesregierung hat das leider nicht gemacht. Das finde ich höchst problematisch. Warum wird da uns nicht gefolgt? Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Ich ahne ja, dass unser Antrag jetzt keine Mehrheit bekommt. Aber ich wünsche mir, dass wir in der nächsten Legislatur zu einer Diskussion kommen – das wäre auch besser für den Wahlkampf –, mit der Substanz: Wir wollen uns rentenpolitisch in die Gesellschaft integrieren, damit wir wirklich zu einer Erwerbstätigenversicherung kommen, in die alle einzahlen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bartsch. – Die Fraktion Die Linke hat eine Kurzintervention beantragt, die ich nicht zulasse, weil Kurzinterventionen nur beantragt werden können, wenn man sich mit dem Redner auseinandersetzen will und nicht mit Fragestellern. Wenn Sie sich mit dem Fragesteller auseinandersetzen wollen, müssten Sie das bilateral klären. Der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartsch, unabhängig davon, ob es jetzt wünschenswert oder notwendig ist, Bundestagsabgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen – nebenbei, wir halten das für wünschenswert und notwendig –, ist das keine Systemfrage, die über die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung wirklich entscheidet. ({0}) Natürlich kann man Symbolpolitik machen. Ich halte es aber für wesentlich notwendiger, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die zum Beispiel auch Johannes Vogel hier aufgeworfen hat. Das ist die Debatte, die in den letzten Jahren immer stärker an Bedeutung zunimmt – diese Debatte wird bereits geführt –, ob die gesetzliche Rente das Fundament einer wenigstens annähernd den Lebensstandard sichernden Altersversorgung ist, ob das Umlagesystem, das sich auf eine breite Basis stützen kann, wirklich die Grundlage bildet oder ob wir einen relevanten Teil dieses Umlagesystems einfach abtrennen und die gesetzliche Rente durch Kapitalmarktrisiken ersetzen. Das ist die Frage. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sagt ganz klar Nein zu Letzterem und Ja zur Bürgerversicherung, Ja zu einem breiten umlagegestützten Solidarsystem. ({1}) Natürlich haben wir in unserem Antrag, der hier jetzt heute zur Abstimmung steht, nicht nur einen sogenannten Stabilisierungszuschuss – aus Steuern finanziert –, sondern einen breiten Maßnahmenmix präsentiert. Wir sind nicht so naiv, zu sagen, das kann man nur mit einem Ding machen. Auf einem Bein steht man schlecht. Deswegen haben wir einen Tausendfüßler, wenn man so will, an Maßnahmen, nämlich gute Löhne, eine vernünftige Tarifbindung – die Herr Kapschack schon angesprochen hat –, eine gesteigerte Frauenerwerbstätigkeit – da ist noch viel Nachholbedarf, Herr Sichert; wir brauchen hier keinen Abbau, wie Sie das hier propagiert haben –, qualifizierte Zuwanderung, aber natürlich auch vernünftige Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten beispielsweise, die keine hohe Qualifikation haben. Das klappt übrigens im Moment ganz gut. Wir schlagen weiterhin vor: gesunde und gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen, damit es weniger Erwerbsminderungsrenten gibt. Wir schlagen gleichzeitig eine Mindestbeitragsbemessungsgrenze vor; das heißt, dass in den untersten Einkommensbereichen arbeitgeberfinanziert etwas höhere Beiträge gezahlt werden. Und als Ultima Ratio ist es auch längst nicht undenkbar, in moderater Weise auch die Beiträge zu erhöhen. Wenn schon die Rentenkommission der Bundesregierung – und da saßen die Arbeitgeber ja mit drin – einen Korridor von 22 bis 24 Prozent beschreibt, dann ist das ungefähr auch ein Spielraum, den man ebenfalls mit einsetzen kann. Alles zusammen kann man sehr wohl langfristig die Rente auf dem gegenwärtigen Niveau stabilisieren, und das brauchen wir auch, damit die Rente als Einkommensversicherung funktioniert und damit die Leute das Vertrauen nicht verlieren in den Sozialstaat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kurth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke, FDP-Fraktion?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne, Otto.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kurth, zunächst will ich ausdrücklich sagen, dass ich es schätze, dass Sie auch um die unangenehmen Punkte nicht herumreden, sondern auch sagen: Es kann durchaus sein, dass an bestimmten Stellen Erhöhungen kommen. Nun bin ich Haushälter und deswegen interessiert mich an der Stelle immer die Gesamtmathematik. Erstens würde mich interessieren – ich habe mir das gerade noch einmal angeguckt –: Für das Projekt, das Sie jetzt beschreiben, mit zusätzlichen Zuschüssen usw., gilt auch da, was Sie in Ihrem Wahlprogramm schreiben: „Wir können nicht versprechen, dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist“? ({0}) Das steht so wörtlich in Ihrem Programm. Oder ist das für die Grünen ein prioritäres Projekt, das auf jeden Fall zu finanzieren ist? Und zweitens. Sie haben ganz viele Gruppen genannt. Wenn man den Ansatz hat – ich gebe Ihnen da recht –: „Es muss für alle gelten“, dann muss ich aber als Haushälter für den Bundeshaushalt fragen: Gilt das dann explizit auch für Beamte, sprich: kommen dann auch die Beamten – und das ist ja keine kleine Gruppe wie die Abgeordneten; das haben Sie richtig gesagt; darüber kann man auch diskutieren – aus ihrem Altersversorgungssystem, der Pension, heraus und in die gesetzliche Rentenversicherung hinein?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zwei interessante Aspekte und Fragen. Ich fange mal mit dem Ersteren an: Ja, wir sind so ehrlich, dass wir sagen: „Es kann Situationen geben, dass man nicht alles finanzieren kann“, und ich halte es für sinnvoll, auch um Politikverdrossenheit vorzubeugen, dass man diese Möglichkeiten dem Wähler auch klar vor Augen hält, ({0}) anstatt blind das Blaue vom Himmel zu versprechen, was die Fraktion Die Linke nach meinem Geschmack leider viel zu oft tut. Aber das betrifft jetzt nicht diese rentenpolitischen Maßnahmen insofern, als dass wir uns – und das hat der Kollege Johannes Vogel ja auch ganz richtig gesagt – demografisch noch auf der Sonnenseite befinden, einen sehr hohen Beschäftigungsstand haben und daher ein bisschen Luft sozusagen für die Anlaufphase noch haben. Das Thema „gute Löhne“ ist allerdings keines, was der Bundeshaushalt zu lösen hat. Eine gesteigerte Erwerbstätigkeit von Frauen ist auch keine Frage des Bundeshaushalts. Qualifizierte Zuwanderung ist eine Sache, die den Bundeshaushalt sogar entlastet, anstatt ihn zu belasten. Und die anderen fiskalischen Punkte oder Beiträge, das ist etwas, was auf der Strecke erst ziemlich spät kommt. Zwei Bemerkungen noch kurz zu den Beamtinnen und Beamten: Wir schlagen ein mehrstufiges Modell vor. Wir haben ja nicht die Illusion, dass sich die Verbreiterung der Versichertenbasis hin zu einer Bürgerversicherung in einem Schritt durchsetzen ließe. In einem ersten Schritt würden wir beispielsweise einbeziehen: Abgeordnete, die nicht anderweitig abgesicherten Selbstständigen – aber nicht als Melkkuh, um die Beiträge einzustreichen, ({1}) sondern um den Sozialschutz für sie sicherzustellen, gerade für die Soloselbstständigen in prekären Verhältnissen –, dann die Minijobber, indem wir die Minijobs in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführen, und Langzeitarbeitslose. Das ist der erste Schritt, den wir beschreiten würden. Was die Beamtinnen und Beamte betrifft, das geht ja zurück auf die preußische Rechtsordnung von Achtzehnhundert dunnemals. Das ist natürlich insgesamt ein schwieriger Prozess, der sehr lange dauern wird, und da haben die Länder natürlich mitzureden. Sie wissen auch: Die allermeisten Beamten sind Landesbeamtinnen und ‑beamte und nicht Bundesbeamte. Insofern ist das etwas, was, glaube ich, weder in der nächsten noch in der übernächsten Wahlperiode realistischerweise an dieser Stelle ansteht. ({2}) Ich möchte jetzt noch ein paar Sätze dazu sagen, was es bedeuten würde, wenn wir an dieser Stelle die Kapitalmarktrisiken eingehen würden. Johannes Vogel, Sie schlagen vor, 2 Prozent der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in einen staatlichen Fonds zu stecken, der dann am Aktienmarkt investiert. Wir haben es mit 27 Milliarden Euro zu tun, die auf der einen Seite ganz unmittelbar dem Umlagesystem fehlen, die aber auf der anderen Seite am Kapitalmarkt erst mal untergebracht werden müssen, und das in der jetzigen Situation, wo die Aktienkurse auf einem hohen Niveau sind, wo es einen immensen Liquiditätsüberschuss am Kapitalmarkt gibt, wo wir mit strukturellen Risiken konfrontiert sind: Digitalisierung, demografischer Wandel, die Bewältigung der Erderhitzung. Darin liegen natürlich auch ökonomische Chancen; aber man muss schon die richtige Welle erwischen, damit man nicht untergeht. In so einem Moment verpflichtend einen Teil der Beiträge der Versicherten in diesen Hochrisikokapitalmarkt fließen zu lassen, finde ich schon verwegen. Dann gibt es ja auch einige Problembären am Kapitalmarkt; das ist ja nicht nur Wirecard, sondern wir haben auch Managementversager. Ich verweise an dieser Stelle beim DAX zum Beispiel auf den Bayer-Konzern mit seiner Monsanto-Übernahme. Wir haben leider am Kapitalmarkt auch immer wieder die Abteilung Lug und Trug am Werk – in der Vergangenheit die Deutsche Bank oder VW, die 27 Milliarden Euro alleine in den USA an Entschädigungszahlungen verbrannt haben, und das ist noch lange nicht am Ende. Und wir haben diverse Glücksritter mit einem, das kann man wohl so sagen, parasitären Geschäftsmodell, wie zum Beispiel das Unternehmen Delivery Hero, das ein Monopol anstrebt, sonst rechnet sich das gar nicht: 30 Milliarden Euro Börsenwert, 3 Milliarden Euro Umsatz, 0 Cent Gewinn. Das kann man alles machen. Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Anlagen, wenn das freiwillig ist, wenn das Menschen machen, die die Risiken auch verkraften können und die Möglichkeiten haben, anderweitig ihren Lebensstandard und Lebensunterhalt zu sichern. Aber die gesetzliche Rentenversicherung, diese Pflichtversicherung, ist nicht der Ort dafür, solche Risiken einzugehen und den Absturz zu riskieren. Und darum, meine Damen und Herren: Ein breit aufgestelltes System, ein großes Risikokollektiv, um es mal versicherungstechnisch auszudrücken, ist die allerbeste und auch die solidarischste Absicherung für das Alter. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn uns die Coronakrise eines gezeigt hat, dann, dass wir auf eine tragfähige und stabile soziale Sicherung angewiesen sind. Viele Menschen in unserem Land haben das soziale Netz zum ersten Mal erlebt: Aufträge gingen zurück, Geschäfte mussten geschlossen bleiben. Es waren Maßnahmen gefragt, die die Menschen finanziell absichern. Als wichtigstes Instrument erweist sich dabei seit über einem Jahr das Kurzarbeitergeld. ({0}) Auch die neu entwickelten Coronasoforthilfen haben viele mit dringend benötigten Finanzmitteln ausgestattet. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Netz hat auch Maschen, durch die jemand durchfallen kann. So hat uns die Coronakrise die Lücken in unserem sozialen Sicherungsnetz aufgezeigt. Gerade Selbstständige erfuhren schmerzhaft, dass sie ohne Absicherung in der Arbeitslosenversicherung keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld hatten. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, die Maschen der sozialen Sicherungsnetze zu verkleinern und einen guten Schutz für alle zu schaffen. So fordert die SPD in ihrem Zukunftsprogramm, die Selbstständigen mit einem Sicherungsgeld in die Arbeitslosenversicherung einzubeziehen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind dafür verantwortlich, dass die Weichen für die Zukunft jetzt richtig gestellt werden. Unser Sozialstaat soll auch für die kommenden Generationen sein Versprechen halten: Du wirst von der Gemeinschaft aufgefangen. – Und wo wird eine soziale Generationenpolitik anschaulicher als in der Rentenversicherung? Liebe Grüne, in Ihrem Antrag singen Sie auf den ersten zwei Seiten das Hohelied der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie haben recht: Unsere gesetzliche Rentenversicherung ist ein sehr gutes Sicherungsnetz. ({2}) Sie ist krisenfest und sorgt für einen Lohnersatz im Alter, auch für Hinterbliebene und bei Erwerbsminderung. Wie machen wir diese gesetzliche Rentenversicherung nun zukunftsfest? Ich sage: durch einen Mix aus Maßnahmen. Ich will hier heute drei benennen: Die erste und wichtigste Maßnahme ist der Umbau der Rentenversicherung zu einer echten Erwerbstätigenversicherung. ({3}) Noch zahlen viele Berufsgruppen wie Beamte, Selbstständige oder freie Berufe ihre Beiträge für die Alterssicherung in Sondersysteme ein. Wie jede Versicherung wird aber auch die Rentenversicherung umso stärker, je mehr Personen zu ihr beitragen. Deshalb brauchen wir eine Bürgerversicherung. Natürlich würden dann auch Abgeordnete in die Rentenversicherung einzahlen, und ehrlich: Dabei würden wir uns keinen Zacken aus der Krone brechen. Wir sind gewählt, und zwar auf Zeit, immer für vier Jahre. Vor unserem Abgeordnetenmandat hatten wir Berufe, wie sie viele Bürgerinnen und Bürger auch haben, und nach unserem Mandat können wir hoffentlich in unseren Beruf zurückkehren. Die Alterssicherung soll unsere Unabhängigkeit garantieren. Aber das wird sie auch, wenn wir in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und es eine Art zusätzliche betriebliche Altersvorsorge für Abgeordnete gibt. Wir teilen hier das Anliegen von Linken und Grünen und setzen uns dafür ein, dass die Abgeordneten bald in die Rentenversicherung einbezogen werden. ({4}) Die zweite Maßnahme für eine zukunftsfeste Rente ist die Gewährleistung eines stabilen Rentenniveaus. Die SPD steht dabei für ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent. ({5}) Ich finde, wir sollten uns klar dazu bekennen, dieses Niveau auch über das Jahr 2095 hinaus beizubehalten ({6}) – 2025! Entschuldigung – und das auch gesetzlich festzuschreiben; bis 2095, darüber lässt sich reden. Arbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ihren Wert im Alter nicht verlieren. Jeder muss sich darauf verlassen können, dass er im Alter ein verlässliches und ausreichend hohes Einkommen hat. Es ist aber absehbar, dass die Rentenfinanzierung ab dem Jahr 2030 schwieriger wird. Letztlich ist es aber immer eine Frage der politischen Prioritäten, wie viel uns als Gesellschaft ein sicheres Rentensystem wert ist. Ich will, dass die junge Generation Vertrauen in die gesetzliche Rente hat. Liebe junge Leute, ja, auch ihr werdet im Alter abgesichert sein. Dafür setzen wir uns ein! ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine dritte essenzielle Maßnahme zur Stärkung der Rentenversicherung ist die Lohnpolitik. Ich weiß nicht, wie oft in diesem Hohen Haus schon gesagt wurde, dass die Rente das Spiegelbild des Erwerbslebens ist; aber es stimmt. Deshalb kämpfen wir gegen prekäre Beschäftigung, gegen niedrige Löhne und für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt; denn nach wie vor sind es überwiegend die Frauen, die beruflich zurückstecken und die Betreuung der Kinder übernehmen. Damit ist ihre Rente im Alter niedriger. Heute Vormittag haben wir hier in erster Lesung unser Gesetz zum Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder eingebracht. Das hilft enorm bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und es ist ein großer Schritt hin zu mehr Gleichstellung. ({8}) Niedrige Löhne im Arbeitsleben sind ein Garant für niedrige Renten nach dem Arbeitsleben. Wir setzen uns für einen Mindestlohn von 12 Euro ein. Unsere Vorschläge zur Stärkung der Tarifbindung liegen auf dem Tisch. Und da, wo die Löhne in der Vergangenheit zu niedrig waren, haben wir die Grundrente eingeführt. Über 1,3 Millionen Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, profitieren davon. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Unser ganzes Bemühen gilt mehr sozialer Sicherheit: in der Rente und in allen anderen Bereichen, in denen Bürgerinnen und Bürger auf ein reißfestes Netz angewiesen sind – gestern, heute und in Zukunft. Ich danke Ihnen. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Dr. Bartke. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen und die Linken versuchen sich mal wieder an der Rentenversicherung, und da kommt nichts Gutes bei raus. Was die Grünen in der Regierung leisten, haben wir unter Schröder gesehen, und bei den Linken wird es geradezu verfassungsfeindlich. Also wirklich, diese Idee, dass man die Beitragsbemessungsgrenze aufhebt und dadurch bessere Renten quasi kürzt, also die Rentenauszahlungen der Menschen konfisziert, deckelt, wird bestimmt genauso grandios funktionieren wie der Berliner Mietendeckel. ({0}) Rot-Rot-Grün ist ja in Berlin auf die Nase gefallen, der Mietendeckel war verfassungswidrig. Was haben wir jetzt davon? Die Eigentümer haben verloren, die Vermieter haben verloren, die Mieter haben verloren, müssen jetzt massiv nachzahlen. Rot-rot-grüne Politik ist Politik, bei der einfach alle verlieren, meine Damen und Herren! ({1}) Aber wir können es uns nicht leisten, dass die Rentner verlieren. Wir können es uns nicht leisten; denn wir haben ihnen gegenüber eine Verantwortung. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet, und wir müssen dafür sorgen, dass das Rentenniveau auch in Zukunft passt. Machen wir uns nichts vor: Dieses Niveau ist bedroht. Es ist bedroht, weil wir eine schrumpfende Erwerbstätigengeneration haben, weil wir zu wenige Kinder haben und weil von denen, die wir haben, ganz viele ins Ausland gehen, vor allem, wenn sie besser verdienen. Wegen Ihrer völlig irren Steuer- und Abgabenpolitik und ihrer grünen Spinnereien gehen die Leute. ({2}) Alles, was Sie von den Grünen dem entgegenzusetzen haben, ist wirklich reichlich primitiv. Sie wollen, dass alle Möglichen in die Rentenversicherung mit einzahlen. Abgeordnete, Selbstständige, Beamte, sogar Arbeitslose und Hartz-IV-ler sollen also ins System einzahlen. Und weil das auch noch nicht reichen wird, werden Sie Tausende Mütter in die Arbeit zwingen, Billionen Migranten ins Land importieren und Milliarden Steuergelder in die Rente stecken. Irgendeiner muss Ihre Mindestrentenvorstellungen usw. ja bezahlen. Und das sind natürlich die Erwerbstätigen oder – über die Schulden – eben die Kinder. Von wegen: Sie machen nachhaltige Politik, Sie machen gar keine nachhaltige Politik. Es ist unsozial, und es funktioniert auch nicht. Wir wollen diese Menschen auch einbeziehen. Wir wollen auch, dass Abgeordnete in die Rentenversicherung miteinbezogen werden, ganz einfach, damit wir selbst erleben, was wir hier beschließen. Wir wollen das Beamtentum auf hoheitliche Bereiche konzentrieren. Und wir wollen Selbstständige absichern, die keine private andere Versorgung haben. Aber das machen wir nicht, um das System zu schützen, sondern aus gesellschaftlichen Gründen. Das System selbst profitiert nämlich nicht; denn die erwerben ja alle wieder Ansprüche, wenn sie einbezogen werden, es sei denn, man konfisziert die, wie die Linken das wollen. ({3}) Das wahre Problem ist, dass wir zu wenige Kinder haben. ({4}) Deswegen brauchen wir eine generative Komponente in der Rentenversicherung, damit wir Kinder haben, die dieses Rentenversicherungssystem stützen, die ihre Eltern lieben, die ihr Land lieben, die ihre Heimat lieben. Darauf baut ein Umlagesystem auf. Wenn ich das nicht will, dann brauche ich so ein kapitalgedecktes Ding, das auch nicht funktioniert, wie das von der FDP. ({5}) Aber jetzt muss ich noch mal mit Ihnen von den Grünen schimpfen, weil ich das wirklich perfide finde. ({6}) Ich finde es perfide: Sie gehen da in die Welt hinaus – zum Beispiel mit Ihrem Covergirl Luisa Neubauer – und vermitteln den Leuten, gerade den jungen Leuten, dass Sie für eine prosperierende Zukunft sorgen würden. Was Sie den jungen Menschen hinterlassen werden, wenn Sie mal an die Macht kommen – Gott bewahre! –, das ist ein grandioser Schuldenberg, das ist eine völlig kaputte Wirtschaft und das ist ein katastrophales Rentensystem, meine Damen und Herren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Würden Sie bitte zum Schluss kommen?

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Menschen, die im Begriff sind, Ihnen Vertrauen zu schenken, die werden genauso irregeführt werden wie die Berliner Mieterinnen und Mieter. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist jugendfeindlich, das ist unmoralisch, und das ist falsch. Haben Sie vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. ({0}) – Ich weiß gar nicht, warum das so eine Erregung auslöst. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn das Thema heute nicht so ernst wäre, dann würde ich in schallendes Gelächter ausbrechen. Es ist schon nahezu skurril, wie die AfD eine Politik fordert, die Frauen zurück nach Hause befördert, zurück an den Herd befördert. ({0}) Nichts gegen Frauen, die sich dafür entscheiden, häusliche Aufgaben zu übernehmen; aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, ein Mann ist keine Altersvorsorge. Ich weiß ja nicht, ob Sie mal mit den Damen in Ihrer Fraktion gesprochen haben. ({1}) Frauen von heute haben oft auch noch andere Lebensziele, außer Kinder zu bekommen und sich zu Hause um den Haushalt zu kümmern. Frauen sind heute hochqualifiziert. Frauen wollen ihrem Beruf nachgehen, oft auch ihrer Berufung; schön, wenn das funktioniert. ({2}) Ich finde es schade, dass Sie da so von gestern sind. Aber das müssen Sie mit sich vereinbaren. ({3}) Meine Damen und Herren, ein Thema des heutigen Tages ist die Abgeordnetenversorgung. Aber hierbei handelt es sich – das bemerkt Die Linke ja selbst in den ersten Zeilen ihres Antrags – um Symbolpolitik. Deswegen möchte ich jetzt auch gar nicht näher darauf eingehen, sondern mich den ernsten Fragen dieser Debatte widmen. Meine Damen und Herren, wir kennen alle diese Situation: Menschen sitzen in unseren Wahlkreisbüros, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. In ihrem Leben sind Dinge geschehen, es gab Zeiten der Arbeitslosigkeit, es gab Zeiten der Krankheit, man hat wenig verdient; das gibt es gerade bei uns in den neuen Bundesländern häufig. – Aber ich glaube, die Antwort, die Sie geben, dass immer das System schuld ist, dass andere schuld sind, ist nicht richtig. Ich glaube, wir müssen den Menschen schon deutlich machen, dass Altersvorsorge etwas ist, was ein Stück weit auch mit der eigenen Erwerbs- und Lebensbiografie zu tun hat. ({4}) Wir bedauern es zutiefst, dass es Menschen in diesem Land gibt, die im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind, die bedürftig sind. Aber wir leben in einem Sozialstaat, und wir versuchen, diesen Menschen nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen. Worauf kommt es denn an beim Thema Altersvorsorge? Die Lösung steckt schon im Begriff selbst: Vorsorge. Und die beginnt nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern sie beginnt frühzeitig. ({5}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so wichtig, dass wir es zu einem Grundsatz unserer Sozial- und Vorsorgepolitik machen, frühzeitig den Menschen nahezubringen, wie eine gute Altersvorsorge im Leben aussieht. Das können wir schon in den Schulen tun. ({6}) Das können wir in jungen Jahren tun. Dafür müssen wir sensibilisieren und hier nicht irgendeine Scheindiskussion führen, ({7}) in der man so tut, als hätten wir ein massives Problem in unserem sozialen Sicherungssystem. Meine Damen und Herren, seien wir doch mal ehrlich. ({8}) Was fordern Sie? Was ist Ihr Ziel? Was ist das Ziel Ihrer Sozialpolitik? Ihr Ziel ist die Abschaffung des Drei-Säulen-Modells, einer guten, breiten Basis für die Vorsorge in Deutschland. Was Sie wollen, ist der Einheitsbrei. ({9}) Was Sie wollen, ist die Abschaffung von Individualität, von Freiheit bei der Vorsorge. Denken Sie mal daran: Es gibt Menschen, die wollen vielleicht anders vorsorgen, die haben die Möglichkeit, anders vorzusorgen, und die tun das auch. Warum wollen Sie denn, dass Deutschland ein Land wird, in dem man dem Menschen diese Freiheiten nimmt? ({10}) Mal ganz ehrlich: Die Methoden, die Sie vorschlagen, sind erschreckend. Sie zeigen eine dramatische Ausgestaltung der gesetzlichen Rente auf, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze nahezu ohne Obergrenze in die Höhe schnellen lassen und dann noch nach dem Motto verfahren: Wer mehr zahlt, bekommt auch weniger. Was glauben Sie denn, wie lange der soziale Friede in unserem Land unter dieser Prämisse noch vorhanden sein wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Deswegen glaube ich, es ist gut und richtig, dass wir voller Überzeugung gegen diesen Antrag stimmen. Ich möchte noch einen Satz sagen zu einer Sache, die mich grundsätzlich sehr stört: Die Diskussionen über die Rentenpolitik sind fast ausschließlich fokussiert auf die gesetzliche Rente. Viele Menschen in Deutschland – um nicht zu sagen: die meisten Menschen in Deutschland – konzentrieren ihre Altersvorsorge auf die zweite und die dritte Säule. ({12}) Wenn Sie das mit anschauen, wenn Sie sehen, wie Vorsorge in Deutschland passiert, was die Menschen tatsächlich im Portemonnaie haben oder im heimischen Garten oder im Grundbuch zu stehen haben, dann stellen Sie fest, dass die Lage ganz anders aussieht. Insofern spreche ich mich einmal mehr heute für eine sachorientierte, für eine lösungsorientierte Politik aus, ({13}) die die Dinge beim Namen nennt und den Menschen nicht irgendetwas vorgaukelt. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier rentenpolitische Anträge und Vorschläge der Linken und der Grünen. Ich möchte auf die Vorschläge der Linken eingehen, die sich ja teilweise mit denen der Grünen decken. Ziel Ihres Antrages ist es, alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung hineinzuzwingen, sage ich jetzt mal. Sie wollen mit den Politikern anfangen. Da haben wir von Herrn Bartsch schon gehört: Das ist vor allen Dingen eine symbolische Fragestellung. Dann wollen Sie die Beamtinnen und Beamten mit in die Rentenversicherung einbeziehen. Da haben wir von Herr Kurth gehört: Das ist in den nächsten zwei Legislaturperioden überhaupt nicht denkbar und machbar. Dazu ist noch daran zu erinnern, dass die größte Zahl der Beamtinnen und Beamten gar nicht in bundesgesetzgeberischer Verantwortung steht, sondern in landesgesetzgeberischer Verantwortung. Und am Ende bleiben dann die Selbstständigen, Freiberufler, Landwirte und andere mehr, die Sie in die gesetzliche Rentenversicherung hineinbringen wollen. Dabei vertrauen Sie darauf, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit dieser einfachen Rechnung hinters Licht führen können, dass mehr Beitragszahler jetzt dauerhaft die Rente stabilisieren würden. Aber nichts ist falscher als das; denn – das wissen Sie – die Beitragszahler von heute sind auch die Rentenempfänger der Zukunft. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss man ansetzen. Wir müssen Rentenpolitik endlich nicht nur in Legislaturperioden denken, sondern tatsächlich auch mal in Jahrzehnten. Denn darauf kommt es an, wenn man seriöse und nachhaltige Rentenpolitik machen will. ({1}) Dann bringen Sie das Beispiel Österreich. Dabei sollten Sie eigentlich wissen, dass man nicht ohne Weiteres das eine System mit dem anderen System vergleichen kann. Das fängt schon bei der Berechnung der Durchschnittshöhe der Rente an. Sie beachten dabei nicht, dass man in Österreich erst nach 15 Jahren überhaupt einen Rentenanspruch hat – in Deutschland nach 5 Jahren – und dadurch die durchschnittliche Rentenhöhe ({2}) allein in Deutschland schon über 100 Euro niedriger ist als in Österreich. Diese Zahlen müssen die Bürgerinnen und Bürger aber kennen, um einzuschätzen, was Ihre Vorschläge tatsächlich wert sind. ({3}) Sie verschweigen natürlich, dass der Rentenversicherungsbeitrag in Österreich höher ist. In Deutschland sind es 18,6 Prozent, in Österreich 22,8 Prozent. ({4}) Der Anteil der Arbeitgeber liegt in Österreich bei 12,55 Prozent, wohingegen er in Deutschland bei 9,3 Prozent liegt. Da werden Sie natürlich sagen: Kein Problem, sollen die Arbeitgeber eben mehr zahlen. ({5}) Aber Sie verschweigen wiederum, dass die steuerliche Belastung der deutschen Unternehmen bei 29,3 Prozent liegt und die der österreichischen bei 22,5 Prozent. ({6}) Deshalb kann man nicht einfach so das eine System mit dem anderen vergleichen, wie Sie es hier tun. Das ist unseriös, und das wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern hier sagen. ({7}) Was Sie auch nicht sagen, ist, dass die Pflegeversicherung in Deutschland einen stationären Pflegeplatz mit 2 000 Euro finanziert, während das in Österreich nur mit 1 700 Euro der Fall ist. Insofern gibt es da eine Differenz von 300 Euro. Auch das müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Das sind 300 Euro, die dort aus der Rente bezahlt werden müssen, die aber in Deutschland nicht aus der Rente bezahlt werden müssen. Auch das ist ein Punkt, auf den wir die Bürgerinnen und Bürger hinweisen müssen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich plädiere für eine seriöse Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen, und nicht für Scheindebatten, Scheinvergleiche und Scheinrechnungen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Der Kollege Birkwald kommt ja noch. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute darüber, ob die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollen. ({0}) Das ist ein wichtiges Thema, über das wir hier offen debattieren müssen, weil es nicht nur darum geht, wie wir bezahlt werden, sondern auch darum, welche Stellung und welche Rolle wir als Abgeordnete und welches Verhältnis wir zu den Bürgerinnen und Bürgern haben. Da muss ich an die Adresse der Linken sagen: Da hat dieses Parlament keine Nachhilfe von Ihnen nötig. ({1}) Wir haben im letzten Jahr alle miteinander gemeinsam hier beschlossen, auf die Erhöhung der Diäten zu verzichten, ({2}) weil sich dieses Land in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befindet ({3}) und weil wir hier solidarisch mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern waren. ({4}) Wir haben sogar noch mehr gemacht: Wir haben dieses Jahr sogar unsere Diäten gekürzt. Das ist in Europa ein Novum, und deshalb brauchen wir uns von Ihnen keine Lektion anzuhören. ({5}) Ich sage das insbesondere, weil Sie in Thüringen letztes Jahr und dieses Jahr wieder die Diäten im Landtag erhöht haben. Wenn Sie Symbolpolitik machen wollen, dann fangen Sie vor Ihrer Haustüre an, Herr Bartsch. ({6}) Ich finde es bedauerlich, dass Sie diese Symbolpolitik hier wirklich für populistische Politik missbrauchen. Ich möchte das auch mal darlegen: Sie sagen, wir sollen in die gesetzliche Alterssicherung einzahlen. Das bedeutet nicht nur eine geringere Rente in der Zukunft – das ist richtig –, sondern es bedeutet auch, dass das laufende Netto von allen Abgeordneten niedriger wird. Das ist also eine doppelte Reduzierung der Bezahlung, die wir haben. Herr Bartsch, Sie haben hier in der ersten Lesung gesagt, Sie wollen Vertrauen aufbauen. Sie machen aber keinen Gegenvorschlag, wie das dann eventuell kompensiert werden könnte, so wie es zum Beispiel in Schleswig-Holstein – Kollege Vogel hat es richtigerweise angesprochen – und auch in Nordrhein-Westfalen passiert ist. Der Grund dafür ist, dass es Ihnen eben nicht darum geht, in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, sondern der Grund ist, dass Sie schlicht und ergreifend die populistische Forderung aufsetzen möchten: Die da oben verdienen zu viel, die müssen weniger verdienen. ({7}) – Das ist der Kern Ihrer Politik in diesem Antrag. Deshalb möchte ich sagen: Vorsicht an der Bordsteinkante. ({8}) Denn diese Symbolpolitik ist eine Mogelpackung. Sie wollen ja nicht nur, dass Abgeordnete einzahlen, sondern später sollen auch Beamte einzahlen. Diese doppelte Kürzung, die Sie bei uns vornehmen wollen, würde auch die Beamten treffen. ({9}) Auch die hätten dann eine geringere Pension und ein geringeres Nettoeinkommen. ({10}) Das beträfe zum Beispiel die Polizistinnen und Polizisten in diesem Land, die sowieso schon nicht so wahnsinnig viel verdienen, insbesondere in der Situation, in der wir uns gerade befinden. Ich finde es wirklich heuchlerisch, was Sie hier machen. ({11}) Dann gibt es in Ihrem Antrag noch zwei andere Punkte. Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze mehr als vervierfachen, und Sie wollen eine Beitragsäquivalenzgrenze einführen. Auf gut Deutsch: Man zahlt mehr ein, bekommt aber nicht mehr raus. ({12}) Da muss ich ehrlich sagen: Ich habe nicht verstanden, wie das zu einer Verbesserung beitragen soll; denn das trifft ja nur diejenigen, die jetzt schon in der Versicherung drin sind. Das führt nicht dazu, dass ein einzelner Beamter oder ein einzelner Selbständiger dazukommt, sondern es bedeutet nur, dass diejenigen, die jetzt schon in der Rentenversicherung drin sind, mehr einzahlen müssen. ({13}) Herr Bartsch, weil Sie gerade Ihren Sachverständigen zitiert haben: Das Interessante ist, dass der in der Anhörung ein bisschen was anderes gesagt hat als Sie hier gerade. ({14}) Der Herr Dr. Lovens-Cronemeyer hat bezweifelt, dass der Vertrauensschutz, den Sie den Abgeordneten gewähren möchten, ausreichen wird. Das steht wörtlich im Protokoll drin; lesen Sie es nach. Bezüglich der Beitragsbemessungsgrenze hat er weiter gesagt – ich zitiere –: Natürlich muss auch gewährleistet sein, gerade bei einer drastischen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, dass der Bürger und die Bürgerin, die einzahlen, auch wieder etwas herausbekommen. Aber genau das ist ja nicht der Fall. Sie wollen ja, dass diejenigen, die mehr einzahlen, nicht mehr rauskriegen; sonst können Sie das finanzielle Plus in der Rentenversicherung gar nicht finanzieren. Da haben Sie also einen echten Rohrkrepierer aktiviert. ({15}) Da muss ich Ihnen ganz klar sagen: Sie verwechseln zwei Systeme. Wenn Sie umverteilen wollen, dann reden wir über Steuerpolitik. Das können wir gerne tun; da können wir auch streiten. Aber bei der Rente geht es um Eigentumsfragen. Das ist Geld, das den Bürgerinnen und Bürgern gehört – ob es Ihnen passt oder nicht. Deshalb warne ich davor, diesen Antrag zu unterstützen. Ich finde, wir müssen durchaus darüber reden, ob wir zum Beispiel auch kapitalgedeckte Vorsorge ermöglichen. Andere Länder in Europa machen es: alle skandinavischen, die Niederlande; selbst die Briten machen es. Da muss ich sagen, Herr Kollege Kurth: Auch in Ihrem grünen Wahlprogramm findet sich da etwas Spannendes. Sie haben zwar gerade eben gesagt, dass Sie nicht für die Kapitaldeckung sind. Aber im Wahlprogramm steht etwas von einem Bürgerfonds, der einen Beitrag dazu leisten kann, die kapitalgedeckte Rente zu ermöglichen. Ich bin gespannt, wie Sie das im Wahlkampf dann tatsächlich erklären. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Nun – der Kollege kann es kaum noch erwarten – hat das Wort: Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Präsident der Herzen! ({0}) Meine Damen und Herren! Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Daraus wurde nichts, und das ist schlecht. ({1}) Wir Linken wollen Selbstständige gut absichern. Wir wollen eine echte Erwerbstätigenversicherung einführen. Wir wollen die Spaltung in hervorragend abgesicherte Beamtinnen und Beamte und Freiberufliche auf der einen Seite und Altersarmut von Frauen, Soloselbstständigen und Menschen mit niedrigen Löhnen auf der anderen Seite endlich beenden. ({2}) Wir wollen eine universelle, leistungsfähige und verlässliche gesetzliche Rente für alle Menschen mit Erwerbseinkommen wie in Österreich. ({3}) Lassen Sie uns mit den Bundestagsabgeordneten beginnen und dann mit den Selbstständigen, Freiberuflichen und den Beamtinnen und Beamten weitermachen. Wir 709 Mitglieder des Deutschen Bundestages bestimmen über die Renten von 77 Millionen Menschen, den heutigen und den künftigen Rentnerinnen und Rentnern. Und was rentenpolitisch für Pflegerinnen, Maurer oder Bankangestellte gilt, sollte auch für uns Bundestagsabgeordnete gelten. Das ist der erste Schritt. ({4}) Zweitens wollen wir die Beitragsbemessungsgrenze drastisch anheben, zunächst schrittweise, Kai Whittaker, auf das Doppelte, also auf 14 200 Euro monatlich. Dann müssten beispielsweise Bundestagsabgeordnete, höhere Beamte, Ärztinnen, Unternehmer, Steuerberaterinnen und andere Besserverdienende endlich entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit Rentenbeiträge zahlen. Und bei einem Bruttogehalt von beispielsweise 10 000 Euro wären das eben nicht mehr nur 660 Euro, sondern 930 Euro Rentenbeitrag plus Arbeitgeberanteil. Schon heute verdienen knapp 1,5 Millionen Rentenversicherte an oder über der Beitragsbemessungsgrenze. Und das wären dann bis zu 13 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die Rentenversicherung. ({5}) – Ja, das würde zu höheren Renten führen. Aber, Markus Kurth, wir wollen drittens eine Beitragsäquivalenzgrenze einführen, damit die Bundestagsabgeordneten, die Besser- und Bestverdienenden auf einen Teil ihrer Rentenansprüche solidarisch verzichten müssten. ({6}) – Keine Angst. ({7}) Nur gesetzliche Renten, die nach heutigen Werten über rund 3 200 Euro lägen, sollen mit jedem Beitragseuro mehr sehr viel geringer steigen als heute. Und in der ersten Lesung rief der geschätzte Kollege Patrick Schnieder dazwischen, das sei verfassungswidrig; das habe ich heute auch wieder gehört. ({8}) Darum haben wir den Verfassungsrechtler Professor Heinz-Dietrich Steinmeyer und den Rechtsanwalt Dr. Sebastian Lovenz-Cronemeyer mit einem verfassungsrechtlichen Gutachten zu diesen Fragen beauftragt, völlig ergebnisoffen – ich betone: ergebnisoffen. ({9}) Und: Professor Steinmeyer ist ein sehr renommierter Verfassungsrechtler. Er wird häufig von der Union zu öffentlichen Sachverständigenanhörungen eingeladen. Das Ergebnis hat mich sehr gefreut, und es ist sonnenklar: Es gibt erstens keine verfassungsrechtlichen Bedenken, die Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, zweitens keine verfassungsrechtlichen Bedenken, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben – nur bei der völligen Abschaffung müssen wir nachbessern; das machen wir auch –, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und drittens und letztens ist auch die Einführung einer Beitragsäquivalenzgrenze und damit die Abflachung sehr hoher Renten dann möglich, wenn sie gut begründet wird und mindestens die Hälfte der Rentenbeiträge weiter rentensteigernd wirkt. – Also, stimmen Sie bitte unserem Antrag zu. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Bernd Fabritius, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Dr. h. c. Bernd Fabritius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004268, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist offenkundig Wahlkampf. Meine Damen und Herren, Kollege Vogel hat es bereits festgestellt: Versprechen, wohlklingend, aber nicht zu Ende gedacht, durchsetzt mit Ideologie auf der einen Seite, Populismus und unbegründeten Neiddebatten auf der anderen – so könnte man die Anträge kurz und erschöpfend zusammenfassen. ({0}) Bündnis 90/Die Grünen möchten die gesetzliche Rentenversicherung für alle stärken. Das liest sich gefällig; einem vertieften Blick aber hält es nicht stand. Es ist ein Mix von Versprechen ohne gangbare Überlegungen, wie das alles finanziert werden soll, gepaart mit üblicher Gängelei derer, die es offenkundig haben: die Arbeitgeber. Sie wollen eine Bürgerversicherung, in die schlicht jeder einbezogen werden soll. Sie wollen Vereinheitlichung, ohne den Beleg dafür zu erbringen, dass auch nur ein Problem einer generationengerechten Alterssicherung gelöst wird. Dann wollen Sie alle möglichen Einnahmen einer Beitragspflicht unterwerfen, etwa solche aus Vermietung und Verpachtung. Derartiges hat, meine Damen und Herren, mit Rentenversicherung rein gar nichts zu tun. Rente ist Einkommensersatz nach einem Versicherungsfall. Bei den von Ihnen genannten Einkommensarten gibt es im Rentenfall nichts zu ersetzen. Den Arbeitgebern wollen Sie zusätzlich eine Mindestbeitragsbemessungsgrundlage aufbürden, eine einseitige Beitragszahlung aus einem fiktiven Lohn, nach Ihren Plänen etwa 2 600 Euro monatlich. Meine Damen und Herren, bei solchen Überlegungen können wir uns jede Mindestlohndebatte künftig sparen! ({1}) Weiter geht Ihr Wohlfühlprogramm mit einer Garantierente bereits nach 30 Jahren, bei welcher – man höre! – Anrechnungszeiten von bis zu acht Jahren Schul- und Studienzeiten auch ohne jeden Abschluss oder Arbeitslosigkeit als Versicherungszeit zählen sollen, und das alles bereits ab dem 60. Lebensjahr. Wer das bezahlt? – Fehlanzeige. Auch das hat der Kollege Vogel bereits festgestellt. Überzeugender lässt sich das Lebensmodell „Aus dem Hörsaal über ein bisschen Arbeitslosigkeit in die Rente“ kaum darstellen, und genau deswegen lehnen wir das ab. ({2}) Zum Antrag der Linken kann ich mich kürzer fassen. Die gesetzliche Rentenversicherung soll gegenüber – ich zitiere – „den … Angeboten auf dem Markt erhebliche Vorteile“ bieten, sodass alle, die nicht einbezogen werden, an einem Gerechtigkeitsdefizit leiden sollen. Das wollen Sie angeblich beseitigen, und beginnen soll das mit den Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Es liest sich ein bisschen wie bei Jan Böhmermann, meine Damen und Herren. Zur Umsetzung möchten Sie die Beitragsbemessungsgrenze verdoppeln und gleichzeitig eine Beitragsäquivalenzgrenze einführen. Was das bedeutet, stellen Sie selbst klar: Sie wollen – ich zitiere – „von allen besserverdienenden … zusätzliche Finanzmittel erhalten, für die später keine Ansprüche entstehen werden“, so wörtlich in Ihrem Antrag. ({3}) Das ist klassisch linke Politik, meine Damen und Herren, ein tiefer Griff in die Taschen der Menschen, die Sie bestehlen, ohne etwas dafür zu bieten. Enteignung nennt man das, und so etwas lehnen wir ebenfalls ab. ({4}) Nein, Sie beseitigen mit Ihrem Antrag keine Gerechtigkeitslücken, Sie schaffen welche. Populismus ist Ihr Instrument, mit dem Sie das zu begründen suchen. Es ist nicht zum ersten Mal, meine Damen und Herren, dass Populismus im Rentenrecht zu harten Gerechtigkeitsdefiziten geführt hat. Oskar Lafontaine hat 1996 als Parteivorsitzender der SPD die Devise ausgegeben: „Populismus ist besser, als unpopulär zu sein.“ – Inhalt derartigen Populismus war schon damals eine unsägliche Neiddebatte mit dem Ziel politischen Gewinns im Wahlkampf durch das Aufhetzen von Teilen der Gesellschaft gegeneinander. Die Offensive des damaligen Vorsitzenden der SPD, gerichtet gegen Aussiedler und Spätaussiedler, ganz konkret gegen Russlanddeutsche, denen in einem Federstrich auch noch die eigene kulturelle Identität abgesprochen wurde, aber auch gegen Landsleute aus Mittel- und Osteuropa, die aufgrund eines Kriegsfolgeschicksals ihre Heimat und ihre dort erarbeitete Alterssicherung aufgrund ihrer Lebensarbeitsleistung verloren haben und heute bei uns leben, hat dann letztlich zu einer drastischen Ausgrenzung dieser Menschen aus den Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung geführt. Dabei sind sie ein Gewinn für die gesetzliche Rentenversicherung und generieren durch das vorteilhafte Verhältnis Beitragszahler/Leistungsempfänger auch heute noch hohe mehrstellige Millionenbeträge an Überschüssen in unserem Rentensystem. Ein Drittel der Spätaussiedler aus Russland sind bei Zuzug jünger als 18, knapp die Hälfte, genauer 44 Prozent, sind im Alter zwischen 18 und 45, nur 6,8 Prozent sind älter als 65. Das Verhältnis Beitragszahler/Rentner liegt irgendwo bei drei zu eins oder noch besser. Die persönliche Lebensarbeitsleistung dieser Menschen wird missachtet, der Generationenvertrag wird verletzt. Das, meine Damen und Herren, ist eine eklatante Gerechtigkeitslücke, die wir als Union in dieser Wahlperiode sehr gerne beseitigt hätten. Wir haben dazu mehrfach und konstruktiv Vorschläge unterbreitet, die in ihrem Zusammenspiel fast kostenneutral hätten umgesetzt werden können. Leider wurde die Beseitigung dieser Gerechtigkeitslücke zulasten aller Spätaussiedler und Aussiedler durch eine beharrliche Blockadehaltung der SPD in der Koalition verhindert. Das ist absolut unverständlich und sehr, sehr bedauerlich. ({5}) Selbst der Härtefallfonds zum Ausgleich von Nachteilen in der Rentenüberleitung, für jüdische Zuwanderer, für Aussiedler und Spätaussiedler würde die Chance bieten, in dieser Frage noch etwas zur Gerechtigkeit beizutragen. Wenige Plenarwochen haben wir bis zum Ende dieser Wahlperiode noch Zeit. Packen wir doch diese wichtigen Anliegen gemeinsam an! Es wäre ein Gebot der Gerechtigkeit. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Die Zahl der Verkehrstoten ist seit Anfang der 70er-Jahre um circa 86 Prozent zurückgegangen, und das bei steigendem Verkehrsaufkommen. 1970 hatten wir noch über 21 000 Verkehrstote auf unseren Straßen zu beklagen. 2019 waren es circa 3 000. Dies war der niedrigste Stand seit Beginn der Statistik vor mehr als 60 Jahren. 2020 verstarben zwar noch weniger Menschen bei Verkehrsunfällen, aber dies ist mit Sicherheit zum Teil der Coronapandemie geschuldet. Deshalb will ich das auch nicht mit heranziehen. Bei den Schwerverletzten hat es in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls einen deutlichen Rückgang gegeben. Viele Akteure haben dazu beigetragen, dass wir hier besser geworden sind: einmal wir, der Deutsche Bundestag, mit der Gesetzgebung; die Länder, die Kommunen, die Polizei und die zahlreichen gemeinnützigen Vereine, Verbände, Schulen, viele Unternehmen und vor allem natürlich die vielen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, die die Regeln beachten und ihr Verkehrsverhalten an die jeweilige Situation anpassen. Für uns alle muss aber feststehen: Darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Jedes Unfallopfer ist eines zu viel. ({0}) Deswegen bekennen wir uns klar zur Vision Zero. Mittelfristig soll die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten und Schwerverletzten auf null sinken. Das ist ein ambitioniertes Ziel; denn die Rückgänge bei den Verunglücktenzahlen haben sich in den letzten Jahren verlangsamt. Das bedeutet, eine weitere Verbesserung der Verkehrssicherheit bedarf einer immer größeren Anstrengung. In unserem vorliegenden Antrag schlagen wir konkrete Maßnahmen vor. Ich möchte nun ein paar dieser Maßnahmen benennen: Dort, wo es Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt, kann die Technologie der Section Control für mehr Gerechtigkeit bei den Kontrollen sorgen, auch auf Bundesstraßen. Hierbei wird die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen zwei Messpunkten errechnet. Es spielt also keine Rolle, wenn man mal aus Versehen 20 Sekunden etwas zu schnell fährt. Man kann das auf dem Rest der Strecke auch wieder ausgleichen. Wichtig dabei ist: Eine generelle Überwachung der Fahrerinnen und Fahrer ist nicht zulässig und muss technisch ausgeschlossen sein. Meine Damen und Herren, die meisten tödlichen Unfälle ereignen sich auf den Landstraßen. Dort sind Geschwindigkeiten höher als innerorts. Außerdem werden Landstraßen häufig von Bäumen gesäumt, und es gibt wenig Leitplanken, anders als auf den Autobahnen. Es sollte daher den Behörden leichter möglich sein, auf schmalen und gefährlichen Landstraßenteilstücken ein Tempolimit von 80 km/h anordnen zu können, präventiv und nicht erst, wenn es hier schwere Unfälle oder auch schon Tote gegeben hat. ({1}) Meine Damen und Herren, deutlich weniger Unfallopfer als auf Landstraßen sterben innerhalb von Ortschaften. Trotzdem passieren innerorts die meisten Unfälle mit Personenschäden. Viele Bürgermeister, egal welcher Partei sie angehören, wünschen sich daher die Möglichkeit, auf einzelnen Strecken leichter Tempo 30 anordnen zu können. Dabei ist es uns wichtig: Es darf nicht um Tempo 30 aus rein ideologischen Gründen gehen, erst recht nicht auf Bundes- und Hauptstraßen; das steht explizit so im Antrag. Es muss Sinn machen und verhältnismäßig sein, und es darf dabei nicht zu flächendeckenden Tempo-30-Gebieten kommen. Die Regelgeschwindigkeit innerorts ist und bleibt 50 km/h. ({2}) Abschließend noch ein kurzer Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Einführung der Anschnallpflicht in den 70er-Jahren hat dazu beigetragen, jedes Jahr Tausende Menschenleben zu retten. Es gibt nur wenige Maßnahmen mit einer ähnlich großen Wirkung. Es ist aber möglich, dass uns das in Zukunft auch mit dem autonomen Fahren gelingen kann. Denn das größte Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr ist und bleibt auch für eine längere Zeit noch der Mensch. Die meisten Unfälle gehen auf menschliches Versagen zurück. Mit intelligenten Fahrzeugen, die miteinander vernetzt sind, wird es kein zu schnelles Fahren mehr geben. Wichtig sind auch kein Alkohol am Steuer – darauf sollte man auch beim autonomen Fahren verzichten – und keine Ablenkung vor allem durch Smartphones oder Handys. Es ist also aus Gründen der Sicherheit wichtig, die Automatisierung und Vernetzung im Verkehrsbereich weiter voranzutreiben. Wir haben heute Nacht das passende Gesetz dazu beschlossen. Ich bitte heute, diesem Antrag zuzustimmen. Es ist ein guter Antrag. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rainer. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig, dass jeder Verkehrstote einer zu viel ist. Dass sich die Zahl der Unfallopfer wohl nie ganz auf null senken lassen wird, ist leider auch ein Teil der Wirklichkeit. Als Ansporn für die Verkehrssicherheitsarbeit ein Nullziel zu formulieren oder eine Vision Zero, das kann man machen, wenn man mit der Frustration umgehen kann, dass dieses Ziel irgendwie immer hinter dem Horizont liegen wird. Man kann so ein Nullziel auch für Drogentote und Opfer von Badeunfällen formulieren oder für Opfer von Krankenhauskeimen. Vielleicht sollte man das auch wirklich tun. Ob das Ziel der Vision Zero ehrlich zugunsten der Verkehrssicherheit eingesetzt wird oder aber hintenrum als Vehikel für eine Verbotspolitik, das kann man daran messen, ob die eingesetzten Mittel, die vorgeschlagenen Maßnahmen sinnvoll und verhältnismäßig sind. ({0}) In Sachen Badeunfälle zum Beispiel: mehr Personal im Rettungsdienst, bessere Aufklärung über Gefahren, aber eben hoffentlich keine Sperrung der Badeseen und keine allgemeine Schwimmwestenpflicht. ({1}) Wie verhält es sich also mit den Vorlagen zum Straßenverkehr, über die wir heute abstimmen? Der Gesetzentwurf der Grünen soll den Einbau von elektronischen Abbiegeassistenten in Lkw fördern. Das Ziel ist gut: weniger von diesen schrecklichen Unfällen, bei denen Radfahrer unter abbiegende Lastwagen geraten. Aber die Grünen wären eben nicht die Grünen, wenn sie nicht auch hier wieder den Verbotshammer auspacken würden. Ganze Städte für Lkw ohne diese Technik zu sperren, könnte nicht nur Lieferketten brechen, sondern auch europäisches Recht. ({2}) Der Gipfel aber ist, dass Sie auch noch wollen, dass der Staat Lastwagen beschlagnahmen kann, die verbotenerweise in solche Zonen einfahren. Lesen Sie bitte noch mal nach, was Juristen unter „verhältnismäßig“ verstehen. ({3}) Die AfD-Fraktion lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Mehr Fördergelder für den Einbau der Elektronik, vielleicht aber auch mehr Gefahrenbewusstsein bei den Radfahrern wären der bessere Weg. ({4}) Die Koalition bringt wieder einmal einen Antrag zur Sofortabstimmung ein, und auch hier teilt die AfD-Fraktion das Ziel, die Verkehrssicherheit zu verbessern. Die Schwächen des Antrags sind aber offensichtlich. Die Tempoüberwachung mit Abschnittskontrolle – Ihre Forderung unter Ziffer 11 – bedeutet: Eine Technik erfasst am Anfang und am Ende des Abschnitts jedes Fahrzeug und berechnet das Durchschnittstempo. Werden da die Daten ausreichend geschützt? Das Thema war schon vor Gericht, und es ist nicht zu Ende diskutiert. Ziffer 18: Gehwege von Fahrzeugen freihalten. Geht es da um Fahrräder, E‑Scooter oder Autos? Das steht nicht dabei. Wahrscheinlich meinen Sie den Lieferverkehr, der unter der zunehmenden Parkplatznot leidet, die viele Städte auch mit Absicht herbeiführen. Ladezonen werden das Problem leider nicht lösen. Eine Politik für ein Miteinander der Verkehrsteilnehmer statt gegen das Auto würde weiterführen. ({5}) Und bei Ziffer 20 lassen Sie endgültig die Maske fallen. Tempo 30 auch – ich zitiere – „unabhängig von besonderen Gefahrensituationen anzuordnen“, hat eben gerade nichts mit Verkehrssicherheit zu tun. Im Gegenteil: Tempo 30 auf Hauptstraßen wird die Wirkung der Verkehrsberuhigung in den Wohnstraßen umkehren und die Zahl der Unfälle steigen lassen. Meine Damen und Herren, die AfD-Fraktion steht für einen realistischen Ansatz für mehr Verkehrssicherheit, für ein Miteinander im Verkehr, aber gegen die Politik mit der Überschrift „Alle gegen das Auto“. Deshalb lehnen wir auch den Antrag der Koalition ab. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre, SPD-Fraktion. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mobilität ist ein Stück Freiheit; sie ist aber nichts, wenn sie nicht sicher ist. Für uns Sozialdemokraten gilt es jetzt, die hohen Infrastrukturinvestitionen von Olaf Scholz und die technologischen Entwicklungen effektiv einzubinden, um die Verkehrswende zu einem Erfolg für alle zu machen. ({0}) Der Kollege Rainer hat es eben gesagt: Ja, die Zahlen von Getöteten und Schwerverletzten sind im Langzeittrend rückläufig, und das ist gut so. Aber für die schwächeren Verkehrsteilnehmer/‑innen, die Fußgänger/‑innen, Radfahrer/‑innen, Senioren und Kinder, hat sich dieser Fortschritt nicht eingestellt. Im Gegenteil: Im Straßenverkehr herrscht heute ein Gegeneinander, kein Miteinander. Dieses Sinnbild steht unserer Gesellschaft nicht gut. Wir, meine Damen und Herren, wollen ein solidarisches Miteinander. Dafür braucht es Regeln. Und deshalb freue ich mich, dass auf den letzten Metern dieser Legislatur ein mutiger Antrag aus diesem Parlament kommt, ({1}) der die Wirklichkeit akzeptiert und die Verantwortung klar benennt. ({2}) Wir haben die Ziele des letzten Verkehrssicherheitsprogramms bis 2020 nicht erreicht. Das, was das BMVI gemacht hat, genügt unseren Ansprüchen leider nicht. Mittlerweile liegt uns – leider mit deutlicher Verzögerung – eine Fortschreibung des Programms vor; das ist gut. Aber jenseits dieses strategischen Rahmens fordern wir den Verkehrsminister – diesen und auch die künftigen – auf, einen echten Impuls für die Verkehrssicherheit zu senden, ein klares Signal für die Verkehrswende, die auch Verkehrssicherheitswende heißen muss. Dafür braucht es erstens ambitionierte Ziele. Wir wollen bis 2030 das Ziel des europäischen Rahmenprogramms erreichen, nämlich die Halbierung der Zahl von Getöteten und Schwerverletzten. ({3}) Zweitens braucht es dafür konkrete Maßnahmen und den Mut, sie auch selbst umzusetzen. Der Bund muss hier Initiative ergreifen. Stichwort „Tempo 30“: Viele Kommunen wollen ihren Verkehr entschleunigen, dürfen es aber schlicht nicht. Wir fordern die Möglichkeit für Kommunen, Tempo 30 für einzelne Straßen auch unabhängig von besonderen Gefahrensituationen anzuordnen. Das, meine Damen und Herren, ist ein Schritt in die richtige Richtung. ({4}) Gleiches gilt für das Problem „Landstraßen“. Ich komme aus dem Kreis Gütersloh, der mitunter ziemlich ländlich ist. Die Menschen im Kreis Gütersloh wissen daher leider auch sehr genau, was ein Unfall auf einer Landstraße bedeutet. Aber nicht nur bei uns im Kreis Gütersloh weiß man das. 60 Prozent aller getöteten Personen sterben auf Landstraßen. Deshalb machen wir hier mehrere konkrete Vorschläge, um das zu ändern. Auch hier müssen Kommunen Geschwindigkeiten anpassen dürfen, und sie müssen explizit Überholverbote aussprechen können, wo es die Situation eben erfordert. Die Kommunalos wissen, wovon ich hier spreche. Wir erwarten, dass unsere Forderungen im Wahlkampf nicht untergehen. Wir erwarten, dass das BMVI den Willen des Parlaments umsetzt. Die Vision Zero ist – das steht übrigens auch in der Überschrift unseres gemeinsamen Antrags – unser gemeinsames Leitbild für die Verkehrssicherheit. Handeln wir auch so! Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Oliver Luksic, FDP-Fraktion, auf. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vision Zero ist in der Tat ein wichtiges langfristiges, aber auch sehr ambitioniertes Ziel. Man muss hier vor allem die Faktoren „Mensch“, „Infrastruktur“ und „Technik“ angehen. Der Mensch ist die Hauptursache, vor allem die Ablenkung – Stichwort „Handy am Steuer“; das hätte man auch hier adressieren können. Bei der Infrastruktur sind es der Zustand des Fahrbahnbelags, fehlende Fahrbahnmarkierungen und mangelnder passiver Schutz, beispielsweise auch an Landstraßen. Und beim Faktor Technik würde der Abbiegeassistent in der Tat viel bringen. Aber wenn wir dieses sehr ambitionierte Ziel erreichen wollen, geht das nur mit intelligenter, vernetzter Mobilität von morgen. Nur mit Digitalisierung wird Vision Zero möglich sein. Deswegen unterstützen wir diese Vision. ({0}) Allerdings stehen in Ihrem Antrag eine ganze Reihe von Punkten, bei denen ich wirklich äußerst gespannt bin, ob der Herr Scheuer sie auch sofort so umsetzt, wie Sie das gesagt haben. Ein Antrag, der jetzt kurz vor Ende der Legislatur kommt, mit einer Reihe von guten Punkten – die meisten der 27 Punkte sind gut – – ({1}) – Das weiß ich nicht. Aber ob er das jetzt noch umsetzt, da werde ich in der Tat genau hinschauen. Fangen wir mal an. Die Einführung von Ladezonen wollen alle. Sie haben gerade die Straßenverkehrs-Ordnung geändert: 110 Euro Strafe und 1 Punkt für widerrechtliches Halten. Fragen Sie mal Kurier- und Expressdienste, wie das vermieden werden soll. Warum haben Sie das nicht umgesetzt? Tempo 30 – Sie haben ja gerade das Problem aufgezeigt – gefahrenunabhängig anzuordnen, das ist ein Systembruch. Außerorts soll es gefahrenabhängig erfolgen, innerorts gefahrenunabhängig. Wir wollen es natürlich vor Kitas, vor Schulen, vor Pflegeheimen, da, wo viel Verkehr ist. Da braucht man Tempo 30. Was Sie jetzt aber machen, ist – das hat der Kollege Rainer eben falsch gesagt –: Sie öffnen die Tür für flächendeckend Tempo 30. Dass die Union das mitmacht, hat mich überrascht. Mal sehen, was der Minister davon umsetzt. ({2}) Der nächste Punkt, bei dem ich auch überrascht war – Glückwunsch an die SPD, dass Sie sich da durchgesetzt haben –, ist das Thema „Section Control“, also die abschnittsweise Totalüberwachung von Autobahnen. In Niedersachsen gab es dazu einen Feldversuch. Die Kosten waren mit 320 000 Euro allein für die Miete immens hoch. Über die Zahlen und die Effekte kann man streiten. Ich würde gerne mit Erlaubnis des Präsidenten aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 zur automatisierten Kennzeichenkontrolle nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz zitieren, weil das für mich den Kern des Problems gut beschreibt: Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden … und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein. Das ist der springende Punkt: Wir wollen keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung auf Rädern. ({3}) Neben den Themen „Section Control“ und „Tempo 30“ hat jetzt auch noch der Alkohol-Interlock den Weg in den Antrag gefunden. Also: viel Überwachung, Bevormundung, Bürokratisierung. Wir sind gespannt, was der Verkehrsminister davon umsetzt. Die ganzen anderen sinnvollen Punkte hätten Sie ja die letzten vier Jahre umsetzen können. Leider haben Sie das nicht gemacht. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Thomas Lutze, Fraktion Die Linke, auf. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Über das Ziel, dass im Straßenverkehr niemand zu Schaden kommen soll, sind wir uns, glaube ich, alle einig; das hat auch die bisherige Debatte gezeigt. Und positiv ist mit Sicherheit auch, dass die Anzahl der Verkehrstoten auf vergleichsweise niedrigem Niveau und weiter rückläufig ist. Trotzdem sind im Jahr 2020, selbst unter Pandemiebedingungen, 2 719 Menschen im Straßenverkehr gestorben. Und auch wenn die Zahl der Schwerverletzten mit 58 016 rückläufig ist – das ist immerhin ein Rückgang von 11 Prozent –: Es sind über 58 000 Schicksale von Menschen, Menschen, die oftmals bleibende körperliche oder seelische Schäden ihr ganzes Leben mit sich tragen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es mir zu wenig, was die Koalition hier an Maßnahmen zur Steigerung der Verkehrssicherheit vorsieht. ({0}) Vier Beispiele: Erstens. Wir brauchen mehr Maßnahmen, die das alltägliche Autofahren überflüssig machen. Wir müssen den ÖPNV noch stärker fördern, vor allen Dingen auch im ländlichen Raum. ({1}) Wir müssen deutlich mehr Güter über die Schienen und Wasserstraßen transportieren als über die Fernstraßen und Autobahnen. Verkehrsvermeidung verringert Verkehrsunfälle. Zweitens. Deutschland braucht endlich ein Tempolimit auf Autobahnen. Auch wenn die Opferzahlen hier besonders rückläufig sind: Noch immer sterben Menschen, weil ungebremst gerast werden darf. Tempo 130 ist eine zwingende Notwendigkeit, und das nicht nur aus Sicht der Verkehrssicherheit. ({2}) Das gilt im Übrigen auch für Tempo 80 auf Landstraßen und für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts. Drittens. Wir müssen die technischen Überwachungsvereine und ähnliche Organisationen stärken. Autos und Lkws sind heute mit viel elektronischer Technik ausgestattet. Vieles davon dient der Verkehrssicherheit. Das ist vollkommen unstrittig und auch gut so. Die Daten, die hier aber ausgelesen und bearbeitet werden, müssen für Organisationen wie TÜV, DEKRA und Co uneingeschränkt lesbar sein. Eine Abwägung zwischen den Interessen der Autobauer, die auch berechtigt sind, und der Verkehrssicherheit darf nicht zum Nachteil der Verkehrssicherheit ausfallen. ({3}) Denn gerade wenn man ernsthaft über autonomes Fahren nachdenkt und hier forscht, dann ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor. Viertens. Wir brauchen zwingend eine Nullkommanull-Promillegrenze, was den Alkohol im Straßenverkehr angeht. ({4}) Das passt im Übrigen auch zu dem Titel „Vision Zero“. Beim Thema Verkehrssicherheit ist also noch viel Luft nach oben. Ich hoffe sehr, dass ab Oktober neue Mehrheiten hier im Bundestag die Kraft und den Mut haben, wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Im Übrigen: Für ein Tempolimit auf Autobahnen gibt es bereits heute eine Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern, weshalb selbst der ADAC seinen Widerstand aufgegeben hat.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nachahmung ist also empfohlen. Ein herzliches Glückauf und vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lutze. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Antrag der Koalitionsfraktionen so liest, fragt man sich wirklich, was Sie eigentlich in den letzten Jahren hier gemacht haben, ob Sie in der Opposition saßen oder woran es eigentlich hängt. In der drittletzten Sitzungswoche der Legislaturperiode bringen Sie einen Antrag ein, wo Sie das Wenige, was passiert ist, begrüßen und loben, um dann einen langen Forderungskatalog von Maßnahmen vorzulegen, die Sie in den zurückliegenden nahezu acht Jahren nicht ergriffen haben. ({0}) Seit dem Jahr 2013 bleiben die Zahlen der Verkehrstoten relativ konstant hoch. Während die Sicherheit für die Insassen von Fahrzeugen durch technischen Fortschritt höher wurde, was gut ist, nimmt sie für die übrigen Verkehrsteilnehmer ab. Schwere Unfälle unter Beteiligung von Fußgängern und Radfahrenden nehmen zu. Es werden im Antrag dennoch annähernd keine konkret wirksamen Maßnahmen benannt. Sinnvoll ist zumindest, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie Vision Zero als Leitgedanken in die Straßenverkehrs-Ordnung aufnehmen wollen; das fordern wir schon seit Jahren. Aber konkrete Maßnahmen im Verkehrsrecht, in der Verkehrserziehung, in der Infrastruktur und in der Fahrzeugtechnik ersetzt das nicht. ({1}) Unter Punkt 20 Ihres Katalogs wollen Sie es Kommunen erleichtern, innerorts Tempo 30 unabhängig von besonderen Gefahrensituationen anzuordnen. Warum haben Sie das eigentlich in den zurückliegenden acht Jahren nicht einfach gemacht? ({2}) Und wieso darf es eigentlich dabei nicht zu flächendeckenden Tempo-30-Gebieten kommen? Und das vor dem Hintergrund, dass die Zahl der getöteten Fahrradfahrenden in den letzten Jahren sogar noch gestiegen ist. Sie sprechen davon, mehr für Verkehrssicherheit zu tun. Die einzig konkrete Maßnahme ist eine Verschärfung der Sanktion für Alkohol im Radverkehr. Also, meine Damen und Herren: Keine Frage, wir sind für eine Senkung der Promillegrenzen im Straßenverkehr. Aber es ist schon bemerkenswert, dass die einzige konkrete Sanktion, die gefordert wird, allein die Radfahrenden betrifft. ({3}) Was im Übrigen Sanktionen und auch Kosten betrifft, machen Sie um den Straßenverkehr, um den motorisierten Verkehr nach wie vor einen großen Bogen und fassen alle Akteure mit Samthandschuhen an. Was wir für Vision Zero brauchen, sind Verkehrssicherheitszonen, Abbiegeassistenzsysteme und andere technische Lösungen – insbesondere für den Schutz der vulnerablen Gruppen, die Sie im Antrag sogar explizit erwähnt haben –, Tempolimits auf Autobahnen, Landstraßen und Bundestraßen, innerorts Regelgeschwindigkeit 30 und, meine Damen und Herren, eine deutlich spürbare Sanktionierung von rücksichtslosem Verhalten im Straßenverkehr. Wir brauchen eine faire Aufteilung des öffentlichen Raums, die alle Verkehrsteilnehmenden berücksichtigt, und das nicht erst in zehn Jahren, wohin Sie Vision Zero geschoben haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass wir heute den Antrag der Regierungskoalition „Vision Zero – Unser Leitbild für die Verkehrssicherheit“ beraten und auch verabschieden können. Wir haben sehr viel Kraft dort investiert. Mit der Kollegin Korkmaz-Emre haben wir viele Stunden verbracht, um hier einen guten Antrag auf den Weg zu bringen, damit auch die Regierung weiß, was die Fraktionen erwarten und was die Positionen der Fraktionen sind. ({0}) In dieser Legislaturperiode konnte schon sehr viel für die Verkehrssicherheit erreicht werden. Ich nenne den Unfallverhütungsbericht 2018/2019. Der hat nämlich gezeigt, dass wir sehr erfolgreich sind. Wenn auch über 3 000 Menschen 2019 starben, so waren es dennoch 7 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Das ist der niedrigste Stand seit vielen, vielen Jahren, und das bei stetig wachsendem Verkehr. Jetzt ist ganz neu – da möchte ich der Kollegin Wagner gerne widersprechen –, dass die Regierung eine gemeinsame Strategie von Bund, Ländern und Kommunen für die Verkehrssicherheit auf den Weg gebracht hat, nämlich den Pakt für Verkehrssicherheit. Das ist das erste Mal, dass sich alle drei zusammen einig sind, dass sie ein gemeinsames Ziel beschreiben sollen. Es war immer schwierig, Ziele zu definieren. Denn wer kann sie umsetzen? Wir können Regeln vorgeben. Aber die Überwachung liegt bei den Ländern, die Umsetzung häufig bei den Kommunen. Dass die sich jetzt endlich zusammengesetzt haben, das fand ich ein sehr starkes Signal, und das möchte ich auch lobend erwähnen. ({1}) Ich nenne auch den Kraftakt der Zustimmung zur Straßenverkehrs-Ordnung im Bundesrat. Das hat die Bundesregierung auf den Weg gebracht, und der Bundesrat hat sich ein bisschen verheddert. Es hat lange gedauert, dass überhaupt etwas auf den Weg gebracht wurde. Das zeigt ja, wie schwierig es ist, in diesem Bereich voranzukommen. Deswegen freue ich mich, dass das im April gelungen ist. Ich möchte auch daran erinnern, dass wir jetzt die Festschreibung des Mindestabstands beim Überholen von Fahrrädern von 1,50 Meter und das Verbot des Parkens auf Radwegen endlich erledigt haben. ({2}) Ich hätte mich gefreut, wenn die Grünen eher zugestimmt hätten; das hätte uns auch einigen Ärger erspart. ({3}) Ich nenne den Einsatz der Bundesregierung auf europäischer Ebene für den verpflichtenden Einbau von Abbiege- und Notbremsassistenten, und ich nenne die „Aktion Abbiegeassistent“ und die damit verbundene Förderung in Höhe von 15 Millionen Euro für die Nachrüstung von Abbiegeassistenten, solange der Einbau noch nicht verpflichtend ist. In der nächsten Sitzungswoche wird das Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung für den Zeitraum bis 2030 vorliegen. Mit diesem wird die Verkehrssicherheit noch mal einen Schub bekommen, und das ist gut so. Das BMVI hat in den Jahren 2019 und 2020 mit Zustimmung des Parlaments jeweils 15,4 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit zur Verfügung gestellt. Trotz dieser sehr gut aufgestellten Haushaltstitel fordern wir in unserem Antrag, dass dem BMVI für die geplante Straßenverkehrsakademie zusätzliche Mittel zukommen zu lassen sind und der Titel für Verkehrssicherheitsarbeit aufzustocken ist, damit vorhandenes Wissen noch besser angewandt werden kann. Ferner fordern wir, zu Zwecken der Erhöhung der Verkehrssicherheit die Einführung von Fahrassistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen weiter zu fördern. Außerdem soll die Offensive des BMVI zum Radverkehr in gleicher Höhe über das Jahr 2023 hinaus weitergeführt werden. Motorradunfälle sind ein großes Problem. Deshalb fordern wir, dass der Einsatz von Unterfahrschutz an Bundesfernstraßen an Gefährdungspunkten im Haushaltstitel des Bundeshaushalts weiter zu forcieren ist. ({4}) Außerdem fordern wir die Verbesserung der Verkehrssicherheit im Radverkehr. Es macht Sinn, auch ländliche Wege in die Radverkehrsplanung, in die Netzplanung einzubeziehen und im Einzelfall auch mal landwirtschaftliche Wege, wenn es ein Lückenschluss ist, durch Bundesmittel zu fördern. ({5}) Wir möchten den Schutz aller Verkehrsteilnehmer und ein sicheres Miteinander. Deshalb möchten wir eine Verbesserung für alle: für diejenigen, die zu Fuß sind, für diejenigen, die mit dem Fahrrad unterwegs sind, für sowohl Junge als auch Alte. Deswegen möchten wir, dass Gehwege nur durch diese Personengruppe zu nutzen sind. Man stelle sich nur vor, man sei blind und habe plötzlich einen Roller vor der Nase; das ist keine schöne Situation. Alle sind aufgefordert, daran zu arbeiten. ({6}) Ich freue mich, dass wir diesen Antrag heute verabschieden. Das Motto des Pakts der Verkehrssicherheit lautet: „Sichere Mobilität – jeder trägt Verantwortung, alle machen mit“. Dazu lade ich Sie alle recht herzlich ein. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sehen und hören, hat das Präsidium gewechselt. Wir arbeiten konzentriert weiter. Für alle zur Orientierung: Im Moment sind wir bei 19.35 Uhr, was das Ziel am heutigen Abend anbetrifft. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Bela Bach für die SPD-Fraktion. ({1})

Bela Bach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004957, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die heutige Debatte gerne nutzen, um einen Bogen zu spannen vom Abbiegeassistenten und der Datenschutz-Grundverordnung bis hin zum Altgriechischen. Eine Utopie ist ihrer antiken Wortherkunft nach ein Nicht-Ort, ein Ort also, an dem wir noch nicht sind. Das trifft auch auf die Vision Zero zu. Es mag sein, dass wir das Ziel, die Anzahl der Verkehrstoten auf null zu reduzieren, tatsächlich nie erreichen werden. Es ist aber dennoch ein Meilenstein, wenn wir heute beschließen, sie als Leitgedanken in die StVO aufzunehmen. ({0}) Dafür danke ich den Berichterstattenden von SPD und Union, der Kollegin Elvan Korkmaz-Emre und dem Kollegen Gero Storjohann, die diesen Antrag federführend erarbeitet haben. ({1}) Die Vision Zero wird damit zum verbindlichen Gesetzeszweck. Daran werden sich alle Maßnahmen messen lassen müssen, die nach der StVO ergriffen werden. Jedes aufgestellte Verkehrsschild, jede Ausnahmegenehmigung und ‑erlaubnis und jede Teilnahme am Straßenverkehr ist dann im Lichte der Vision Zero zu messen. Dazu wird nach der Bundestagswahl dann hoffentlich endlich auch das wirksamste Instrument gehören, nämlich das Tempolimit auf deutschen Autobahnen. ({2}) Es stimmt zwar, dass wir heute so wenig Verkehrstote und ‑verletzte wie nie haben, aber wir erleben eine Verlagerung: Im Bereich der Pkw-Fahrer werden es konstant weniger: bei den Radfahrern, den Pedelec-Fahrern und auch bei den Fahrern von Elektrokleinstfahrzeugen schaut das aber anders aus. Deswegen war es richtig und wichtig, dass wir die „Aktion Abbiegeassistent“ ins Leben gerufen haben und so Radfahrer schützen, bis die europäische Regelung im Jahr 2022 bzw. 2024 ihre Wirkung entfalten kann. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen wir den Einsatz von Fahrassistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen weiter fördern. Dazu gehört auch, dass der Umgang mit diesen Systemen zum festen Bestandteil der Fahrerlaubnisprüfung und der Fahrausbildung wird. Wir wissen, dass automatisierte Fahrsysteme als Vorstufen des autonomen Fahrens für mehr Sicherheit sorgen können, ganz einfach, weil sie menschliche Fehler verhindern. Gleichwohl fürchten aber 60 Prozent der Autofahrerinnen und ‑fahrer um ihre Datensicherheit. Wir haben mit der Datenschutz-Grundverordnung schon einen sehr hohen europäischen Standard; aber wir legen heute mit diesem Antrag den Grundstein dafür, das Vertrauen in informationstechnische Systeme weiter zu stärken, indem wir ganz klar formulieren, dass der Zugriff Dritter auf Fahrzeugdaten begrenzt werden muss. ({3}) Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Dieser wichtige Antrag ist ein Aufschlag, die Zahl der Verkehrstoten und ‑verletzten weiter zu senken. Es wird aber die Aufgabe einer neuen politischen Mehrheit sein, diese Vision in Zukunft fortzuschreiben und der Utopie damit so nah wie möglich zu kommen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin im März 1953 geboren und war im Jahre 1969 gerade 16 Jahre alt, als § 175 StGB, verschärft durch die Regelungen der Nazis, noch in Kraft war. Vielleicht war dieses Jahr prägend für mich. Vielleicht war die erste Änderung des § 175, nach der homosexuelle Handlungen erwachsener Männer – ich war damals 16 Jahre alt – nicht mehr unter Strafe standen, einer der Gründe, in diesem Land nicht nur zu leben, sondern auch rechtsstaatlich zu arbeiten und mich für diese Republik einzusetzen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich sage dies deshalb, weil mir in der letzten Legislatur die Gnade zuteilwurde, an der Aufhebung der Urteile nach § 175 und damit der großen Schande dieses Landes mitzuwirken. Mir wurde außerdem die Gnade zuteil, an der Ehe für alle mitzuwirken. Ich weiß, wie schwierig es ist, im parlamentarischen Verfahren Mehrheiten zu erreichen, Mehrheiten, die über den Tag hinaus gelten, Mehrheiten, die dazu dienen, dass die Entscheidung eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft und eine hohe Akzeptanz unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern hat. Ich war es auch, der zur Einführung der Ehe für alle im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der letzten Legislatur an die 30-mal einen Vertagungsantrag gestellt hat. ({0}) – Ja, Kollegin Künast, Sie erinnern sich. – Mit stoischer Ruhe habe ich immer wieder Vertagungsanträge gestellt, und zwar nicht, um zu keiner Entscheidung zu kommen, nicht um die Ehe für alle, die mir ein Herzensanliegen war und ist, nicht Gesetz werden zu lassen, sondern um die Chance zu haben, bis zum letzten Tag der Legislatur um eine Mehrheit zu werben, damit die Ehe für alle, also auch für gleichgeschlechtliche Paare, Wirklichkeit wird. Wir haben auf diese Weise ein ganz kleines Lichtchen, nämlich den Gesetzentwurf, der damals durch den Bundesrat eingebracht wurde, am Leben erhalten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, angesichts der heutigen nachmittäglichen Debatte und auch mancher Kommentare, die aus Teilen der Community und des LSVD kommen, bin ich enttäuscht und traurig; denn durch das Aufsetzen dieser Entscheidung am heutigen Tag, obwohl jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier weiß, dass für eine Änderung des Grundgesetzes eine Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten dieses Hohen Hauses erforderlich ist, wird die Änderung nicht erreicht. Wer dies weiß und auf Abstimmung drängt, bringt dieses wichtige Thema, nämlich die Ergänzung des Grundgesetzes um die geschlechtliche Identität, nur aus parteipolitischem Kalkül auf die Tagesordnung, nur aus dem Kalkül heraus, jetzt eine Schlagzeile zu haben, schnell etwas aufpoppen zu lassen, und lässt dabei die Gefahr außer Acht, damit den Gegnern dieser Änderung, zu denen ich nicht gehöre – das will ich ausdrücklich sagen –, Munition in die Hand zu geben, was vielleicht ein stumpfes, aber dennoch ein Schwert ist, zu sagen: Der Deutsche Bundestag hat dies ja schon einmal mit Mehrheit abgelehnt. – Ich halte dies für perfide, halte dies nicht für in Ordnung, halte dies nicht für gut. Ich hätte es besser gefunden, wenn wir bis zum letzten Tag dieser Legislatur versucht hätten, diese Änderung des Grundgesetzes zu erreichen. ({1}) Kollege Jan-Marco Luczak weiß das. Wir werden innerhalb der Pfingstwoche noch mal miteinander reden und besprechen, welche Möglichkeiten es gibt, die Grundgesetzänderung doch noch auf den Weg zu bringen, doch noch einen Weg zu finden, wie wir zwei Drittel der Frauen und Männer dieses Hohen Hauses für eine Änderung des Grundgesetzes begeistern. Ich sage an dieser Stelle auch: Als jemand, der in seinem 16. Lebensjahr quasi noch als Krimineller behandelt wurde, möchte ich mit dieser Grundgesetzänderung den Menschen, die gleichgeschlechtlich leben, den Menschen, die in unterschiedlichen sexuellen Identitäten und mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen leben, die Freiheitsrechte geben, die ihnen gehören. Mir ist egal, ob ich heute schnellen Zuspruch bekomme oder ob es ein schwieriges, ein langes, ein zähes Verhandeln wird, zu dem unser früherer Bundestagspräsident Thierse immer sagte: Demokratie ist halt nicht bunt. Demokratie ist nicht schrill. Demokratie ist grau, enttäuschungsbehaftet und anstrengend. Aber Artikel 3 Grundgesetz ist es wert, diesen anstrengenden Weg zu gehen, genauso wie er es wert ist beim Rassebegriff, bei dem auch noch keine entsprechende Einigung erzielt worden ist, obwohl man auf Kabinettsebene schon einen Weg gefunden hat. Weil dies der Fall ist und weil auch die Kinderrechte noch ins Grundgesetz gehören, glaube ich, sollten wir auf populistische Anträge, auf das schnelle Tagesgeschäft, das bei Twitter passt, das bei Facebook, das bei Instagram passt, bei diesem ernsthaften Thema verzichten. ({2}) Wir sollten ernsthaft, intensiv, aber auch demokratisch darum ringen, wie wir die Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und, mit Verlaub gesagt, dann auch im Bundesrat erreichen, um das Grundgesetz so anzupassen, wie es sich gehört. Auf diesem Weg werden Sie in mir immer einen Mitstreiter haben. Für populistische Anträge, die schnell auf die Tagesordnung kommen in dem Wissen: „Wir verlieren die Abstimmung eh, aber wir hatten es auf der Tagesordnung“, werden Sie jedoch keine Zustimmung von mir bekommen und auch keine Unterstützung, weil es der Sache nicht dient und die Menschen in diesem Land, die darauf warten, dass Artikel 3 des Grundgesetzes ergänzt wird, nur noch ein weiteres Mal enttäuscht. Und noch weiter enttäuscht müssen die Menschen in unserem Land nicht werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist der Bericht des Rechtsausschusses über den bisherigen Verlauf der Beratungen zu einem Gesetzentwurf, mit dem die drei Fraktionen Grüne, Linke und FDP den Artikel 3 des Grundgesetzes ändern und die sexuelle Identität hineinschreiben wollen. Der Umfang des Berichts ist überschaubar. Der Gesetzentwurf ist hier im Plenum im November 2019 zuerst beraten und in den Rechtsausschuss überwiesen worden. Der Rechtsausschuss hat gleich danach, im Dezember 2019, beschlossen, eine Anhörung durchzuführen, und hat dies kurz darauf, im Februar 2020, auch getan. Und seitdem, also seit nunmehr 15 Monaten, ruhte der See ziemlich still, bis dann die Antragsteller zu der Ausschusssitzung in dieser Woche ihren Gesetzentwurf wieder auf die Tagesordnung des Rechtsausschusses haben setzen lassen. Der Ausschuss hat allerdings mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit beschlossen, das Thema in dieser Sitzung nicht zu behandeln. Wenn den Antragstellern das Thema so sehr wichtig ist, dann wundert es etwas, warum sie nicht in den vergangenen 15 Monaten die Gelegenheit genutzt haben, es entspannt durch den Ausschuss zu bringen, sondern bis kurz vor Toresschluss gewartet haben. Im Ausschuss liegen ja noch weitere Gesetzentwürfe von Grünen und Linken vor, mit denen ebenfalls der Artikel 3 des Grundgesetzes geändert und das Verbot der Rassendiskriminierung gestrichen werden soll. Dieses Thema haben sie in den letzten Monaten regelmäßig immer wieder im Ausschuss auf die Tagesordnung gesetzt, und genauso regelmäßig ist es von den Regierungsfraktionen wieder abgesetzt worden. Da kann man nun allerdings mit dem Finger zeigen und sagen, dass der Fortgang der Beratungen von den Koalitionsfraktionen verhindert wurde. Bei dem hier gegenständlichen Gesetzentwurf ist das anders. Den haben die Antragsteller halt einfach 15 Monate liegen lassen. Dass sie das getan haben und das Verfahren nun vielleicht in dieser Legislaturperiode nicht mehr abgeschlossen wird, das betrachten wir als AfD-Fraktion recht entspannt. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir auf eine solche Änderung des Grundgesetzes auch keinen besonderen Wert legen. Warum das so ist, dazu habe ich hier an dieser Stelle bereits in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs etwas gesagt. Wer mag, kann das auf der Netzseite des Bundestags nachlesen oder auch sich die ganze damalige Debatte noch einmal anhören. Ich muss das also heute nicht alles noch einmal wiederholen, möchte aber die Gelegenheit nutzen, einen Aspekt noch hinzuzufügen. Wir halten unsere Verfassung für im Großen und Ganzen ziemlich gelungen und sehen deshalb die Versuche, dort noch Weiteres hineinzuschreiben, in den meisten Fällen eher skeptisch. Gerne wird dabei vorgetragen, es gehe ja gar nicht darum, etwas Grundsätzliches zu ändern, sondern nur darum, wesentlich Unstreitiges zu verdeutlichen oder sichtbar zu machen. Aber wie das so ist: Wenn man neuen Verfassungstext schafft, dann muss und dann wird sich auch die Gerichtsbarkeit und die Professorenschaft an den juristischen Fakultäten zu diesem neuen Text verhalten. Ob das Ergebnis dieser Auslegung durch die Gerichte und die Rechtslehre dann dem entspricht, was man sich hier vielleicht vorgestellt hat, als man einer Verfassungsänderung zustimmte, das ist ganz ungewiss. Manchmal kommen dabei auch ursprünglich gerade nicht gewollte Ergebnisse heraus. Das Beispiel der Verfassungsänderung von 1994, nach der aus dem Gebot der Gleichberechtigung hinterher dann ein Gebot der Gleichstellung gemacht wurde, also das genaue Gegenteil, hatte ich ja kürzlich schon erwähnt, als wir über die Zusätze sprachen, die viele hier in den Artikel 6 zu den sogenannten Kinderrechten hineinschreiben wollen. Ich will jetzt gar nicht unbedingt den antragstellenden Fraktionen unterstellen, dass sie auf eine ähnliche Entwicklung auch in Bezug auf die hier gerade gegenständliche Verfassungsänderung spekulieren. Aber die Gefahr ist nun mal nicht zu übersehen oder zu leugnen. Und deshalb werden wir diese Verfassungsänderung dann auch ablehnen, falls sie später noch zur Abstimmung kommen sollte. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen, am 17. Mai, haben wir den Internationalen Tag gegen Homophobie, gegen Transphobie und Biphobie begangen. Leider ist es jedes Jahr notwendig, dass wir diesen Tag begehen und daran erinnern, dass es Menschen auf der Welt, in unserem Land und auch ganz konkret hier in Berlin gibt, die angefeindet werden, die angegriffen werden, die beleidigt werden, einfach nur, weil sie so sind, wie sie sind. ({0}) Schwule und Lesben können sich in bestimmten Stadtteilen nicht frei bewegen. Sie sind nicht frei, obwohl wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. Ich finde, es muss uns zu denken geben, wenn diese Menschen angegriffen werden. Wir sehen, dass die Zahl der Straftaten ansteigt. Wir hatten von 2019 auf 2020 einen Anstieg um ein Drittel, davor sogar um 60 Prozent. Ich finde, wir alle miteinander dürfen nicht akzeptieren, dass es so etwas in unserem Land gibt. ({1}) Die Frage ist: Was können wir dagegen tun? Natürlich muss es darum gehen, Prävention zu verbessern. Es muss darum gehen, in der Erziehung, in den Schulen dafür zu werben, dass die offene gleichgeschlechtliche Lebensweise ganz selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehört. Wir müssen natürlich auch die Straftaten, die begangen werden, verfolgen. Wir haben in den letzten Jahren viel auf den Weg gebracht, auch als Große Koalition, insbesondere wenn es um die Straftaten geht, die im Internet begangen werden, wenn es um Hasskriminalität geht. Ich denke da an das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Wir haben gute Instrumente geschaffen, dagegen besser vorgehen zu können. Aber wir sehen, dass all das möglicherweise nicht ausreicht. Ich glaube, wir brauchen eine Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Ich habe heute Morgen mit meinem Kollegen Stefan Kaufmann 100 000 Unterschriften von der Initiative „Grundgesetz für alle“ entgegengenommen, die sich genau für das Thema, das wir heute im Hohen Haus diskutieren, nämlich eine Änderung von Artikel 3 Absatz 3 GG, einsetzt, dafür, dass wir eine freie, offene, aber auch bunte Gesellschaft haben und dass dies auch ein deutliches, sichtbares Zeichen in unserer Verfassung findet. Ich persönlich bin dafür. Daraus will ich überhaupt kein Hehl machen; ich habe das schon seit vielen Jahren deutlich gemacht. Ich weiß aber, dass im Hohen Hause, auch in meiner Fraktion, viele noch unentschlossen und manche noch dagegen sind, nicht weil sie etwas gegen Schwule oder Lesben haben, sondern weil sie sagen: Die Verfassung ist ein hochstehender Rechtstext, und in Artikel 3 Absatz 3 ist schon jetzt durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genau das geschützt, was wir hier ändern wollen, die sexuelle Identität. – Das sind Argumente, die man nicht einfach vom Tisch wischen kann. Ich persönlich habe in meiner Jungfernrede, als ich 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, genau so argumentiert. Ich habe damals auch gesagt: Wir dürfen die Verfassung nur ändern, wenn es wirklich notwendig ist. – Ich habe mich also gegen die Änderung von Artikel 3 Absatz 3 ausgesprochen. Heute bin ich anderer Auffassung. Ich glaube, wir brauchen diese Änderung von Artikel 3 Absatz 3, nicht nur mit Blick auf die Zahl der Straftaten, die ansteigt, sondern auch, weil ich glaube, dass wir ein deutliches und sichtbares Zeichen im Text unserer Verfassung haben müssen, mit dem klargestellt ist, dass Menschen in unserem Land so leben und auch lieben können dürfen, wie sie es wollen. Deswegen bin ich für diese Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3. ({2}) Ich glaube, es wäre ein starkes Zeichen dieses Hohen Hauses zum Ende einer Legislaturperiode, wenn wir das machen würden. Es darf in unserem Land keinen Platz für Diskriminierung geben, keinen Platz für Hass gegen Schwule und Lesben. Aber richtig ist auch, was der Kollege Brunner gerade ausgeführt hat. Wir befinden uns gegen Ende der Legislaturperiode, wir sind aber noch nicht am Ende der Legislaturperiode. Wir haben noch zwei Sitzungswochen vor uns. Deswegen gibt es nach wie vor noch Gespräche und das Werben. Ich habe es gerade gesagt: Viele im Haus, in den unterschiedlichen Fraktionen, sind noch nicht entschlossen. Ich finde, wir sollten die Zeit nutzen und bis zum Schluss dafür kämpfen, dass es diese Änderung des Grundgesetzes gibt. Deswegen sehe ich es genauso wie mein Kollege Karl-Heinz Brunner: Dass wir heute und hier darüber diskutieren, das kann man machen. Aber am Ende ist klar, was damit beabsichtigt ist. Es ist letztlich ein Wahlkampfmanöver, das hier versucht wird. Über den Antrag, der dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vorliegt, werden wir sprechen. Aber es ist klar, dass es die Zweidrittelmehrheit, die benötigt wird, auch um die Geschäftsordnung zu ändern, heute und hier nicht geben wird; die Gespräche finden noch statt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist der durchsichtige Versuch, einen Keil zwischen die Große Koalition zu treiben. Ich kann Ihnen sagen: Das wird heute nicht gelingen. Wir werden aber die verbleibenden zwei Wochen nutzen, um die Gespräche weiterzuführen. Ich sage es noch einmal: Ich persönlich glaube, dass wir diese Änderung von Artikel 3 Absatz 3 brauchen. Wir brauchen ein starkes, ein deutliches, ein sichtbares Zeichen in unserer Verfassung, dass alle Menschen hier frei leben und lieben können. Dafür will ich an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich werben. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Jens Brandenburg das Wort. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als homosexueller Mann wurde Wolfgang Lauinger von den Nationalsozialisten verfolgt. Er hat das glücklicherweise überlebt. Fünf Jahre später wurde er in der Bundesrepublik Deutschland auf Basis des von den Nazis übernommenen § 175 StGB erneut inhaftiert. Zitat: Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft. Erst 1994 wurde dieser Paragraf vollständig abgeschafft. 50 000 Männer wurden in der Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich verurteilt, weil sie einen anderen Mann liebten. Liebe war strafbar. Ein solches Unrecht darf sich niemals wiederholen. ({0}) Auch das Grundgesetz hat Herrn Lauinger nicht geschützt. Im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht hat in den 50er- und in den 70er-Jahren die strafrechtliche Verfolgung homo- und bisexueller Männer ausdrücklich gebilligt. Seitdem haben sich die gesellschaftliche Haltung zu Homosexualität und sicher auch – wir haben es eben gehört – die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geändert. Das ist gut so. Aber gesellschaftlicher Wandel ist keine Einbahnstraße. Die politische Radikalisierung in vielen Ländern weltweit zeigt doch, wie zerbrechlich vermeintlich sicher geglaubte Minderheitenrechte sein können. Dafür reicht schon ein Blick ins benachbarte Polen mit den angeblichen LGBT-freien Zonen zurzeit. ({1}) – Ich verstehe Ihre Schnappatmung; aber zu dem Thema, glaube ich, haben Sie genug gesagt. ({2}) Künftige Generationen homo- und bisexueller, aber ausdrücklich auch trans- und intergeschlechtlicher Menschen müssen sich auf ihre Verfassung verlassen können. Vertrauen oder spekulieren wir also nicht über eine wohlwollende Zusammensetzung künftiger Bundesverfassungsgerichte, sondern garantieren wir den ausdrücklichen Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität endlich im Wortlaut des Grundgesetzes. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brandenburg, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von der Kollegin Barrientos?

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, gerne im Nachgang; die Debatte ist ja noch lang. – Einen entsprechenden Entwurf hat die FDP-Fraktion gemeinsam mit den Grünen und übrigens auch der Linksfraktion vor zwei Jahren in den Deutschen Bundestag eingebracht. Vor 15 Monaten haben in der Anhörung des Rechtsausschusses sämtliche geladenen Sachverständigen diesen Entwurf ausdrücklich begrüßt. Ich freue mich sehr, dass einige Fachkollegen aus der Unionsfraktion sehr öffentlich immer wieder für eine Ergänzung des Artikels 3 werben. Das geht ja so weit, dass Kollege Luczak in der letzten Debatte die Grünen sogar dafür disste, dass sie diese Forderung in einem ganz anderen Antrag nicht noch einmal wiederholt haben. Daran muss sich die Unionsfraktion jetzt auch messen lassen. Wir sind in einer ganz besonderen Woche, einer Woche, die am Montag mit dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit begonnen hat. Auch die Koalitionsfraktionen haben sich mit großen Gesten, mit Versprechungen und mit großen Symbolen daran beteiligt. Es ist eine Woche, die am Sonntag mit dem Tag des Grundgesetzes enden wird, mit einem klaren Auftrag, unsere Verfassung für stürmischere Zeiten zu wappnen. Umso scheinheiliger ist es doch, dass die Koalition ausgerechnet in dieser Woche, am Mittwoch, jegliche Beratung dieses Gesetzentwurfs im Ausschuss blockiert hat. ({0}) Wer am Montag die Regenbogenflagge hisst, darf der Community nicht am Mittwoch in den Rücken fallen. Die Koalition – wir haben es gehört – begründet das Ganze mit weiterem Beratungsbedarf. Die Frage ist doch ganz einfach: Wollen Sie die sexuelle Identität im Grundgesetz schützen, ({1}) oder wollen Sie das nicht? Kollege Brunner und auch Kollege Luczak haben es so dargestellt, dass es unfair sei, dass die Opposition das Thema so ganz plötzlich und überraschend auf die Agenda setzt. Das Gegenteil ist doch richtig – auch wenn die AfD es nicht mitbekommen hat –: Wir waren in gemeinsamen Gesprächen, zwei Jahre lang, und haben immer wieder gesagt: Wir als Opposition sind bereit, euch Zeit zu geben. Wir geben euch Zeit, in den eigenen Fraktionen und in der Koalition eine Mehrheit zu finden. – Zwei Jahre lang! Jetzt ist die Legislatur fast abgelaufen. Ich finde es ein Unding und übrigens auch ein seltsames parlamentarisches Verständnis, jetzt denen einen Vorwurf zu machen, die sich nicht solcher Geschäftsordnungstricks bedienen. ({2}) Zwei Jahre reichen aus. In gerade einmal acht Monaten hat übrigens der Parlamentarische Rat damals das komplette Grundgesetz beraten. Da werden doch zwei Jahre für drei Worte durchaus reichen. ({3}) Niemand darf aufgrund seiner sexuellen Identität diskriminiert werden. Das muss unsere Verfassung endlich sicherstellen. Das soll jeder wissen, der unser Grundgesetz liest. Also hören Sie bitte auf mit diesen Geschäftsordnungstricks, auch mit den Boykotts jetzt im Ausschuss.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brandenburg.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Konzentrieren wir uns auf die Debatte. Stellen Sie sich der inhaltlichen Debatte, und schaffen wir dann gemeinsam, möglichst noch in dieser Legislatur, die Zweidrittelmehrheit für dieses große Vorhaben! Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FDP, Grüne und meine Fraktion, Die Linke, wollen die im Grundgesetz als Lehre aus der Geschichte aufgeführten Schutzmerkmale gegen Diskriminierung – von Geschlecht bis politische Anschauung, seit 1994 auch Behinderung – um den Punkt „sexuelle Identität“ ergänzen. Wir sind nicht allein. Im September letzten Jahres sprachen sich die Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsausschusses für eine Ergänzung des Gleichheitsartikels aus. Viele Landesverfassungen haben entsprechende Formulierungen, andere Nationen wie Portugal und Schweden auch. Die Debatte wird seit Bestehen des Grundgesetzes geführt. Hundert Organisationen fordern die Änderung noch in dieser Legislatur, über 80 000 Unterschriften der Petition „Grundgesetz für alle!“ wurden den Fraktionen heute übergeben. Vor diesem Hintergrund den Punkt von der Tagesordnung zu nehmen, ist kaum plausibel zu machen; aber es gibt Ihrerseits offenbar noch Bedenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ein Zitat der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano zu bedenken geben: Es waren die Nazis, die Menschen in „unterschiedlich wertvolle“ Kinder, Frauen und Männer klassifizierten. … Nach der Befreiung 1945 riefen wir Überlebenden alle „Nie wieder!“. Für unsere Mitgefangenen mit dem rosa Winkel galt das aber nicht: Sie wurden in den meisten Ländern, auch in Deutschland, weiterverfolgt. Gesetzliche Grundlage dieser Verfolgung von Homosexuellen war der § 175 StGB. Er existierte vom Kaiserreich bis 1994 in der BRD, während der Nazizeit und bis 1969 in verschärfter Form. In der DDR hatte er eine mildere Entsprechung im deutlich weniger verfolgten § 151. Schwule Männer wurden auch nach dem Naziterror durch die Anwendung dieses Paragrafen massenhaft kriminalisiert, sozial zerstört, verhaftet, vor allem noch in den späten 50ern. Lesbische Frauen und trans Personen wurden psychiatriert und entmündigt. Es hätte diese elende Verfolgungsgeschichte deutlich verkürzt, wenn im Grundgesetz nicht diese traurige Lücke gelassen worden wäre, wenn „sexuelle Identität“ oder ein vergleichbarer Begriff in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht ein Tabu geblieben wäre; es hätte Existenzen gerettet. ({0}) Wir sollten diese Leerstelle nicht länger stehenlassen, aus geschichtspolitischen, antifaschistischen Gründen und weil der verfassungsfeste Schutz von Personen, die aufgrund bestimmter Merkmale verletzlich sind, im Alltag einen Unterschied macht. Eine Grundgesetzänderung verhindert nicht die schlimme Tat im Einzelnen, aber den Hintergrund, das gesellschaftliche Klima. Er verändert das, was schon junge Menschen in der Schule lernen, wenn sie sich mit dem Grundgesetz befassen. Dass die überfällige Ergänzung 1994 scheiterte, obwohl die Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat sie befürwortete, ist bis heute überhaupt nicht gut. Das Versäumte endlich nachzuholen, wäre ein wichtiges Signal, das positiv in die ungewisse Zukunft wirkt, an alle Menschen, die dadurch mehr Anerkennung erfahren, auch an die, die diese Anerkennung verweigern oder mit Füßen treten und dafür keinerlei Legitimation haben dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Mehrheiten unter Umständen bereit sind, Minderheitenrechte preiszugeben, müssen Diskriminierungsverbote fest verankert sein. Worauf warten wir also noch? ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen haben Sie von Union und SPD mit Ihrer Mehrheit im Rechtsausschuss verhindert, dass unser interfraktioneller Gesetzentwurf, die sexuelle Identität ins Grundgesetz aufzunehmen, überhaupt debattiert wird. ({0}) Heute gibt es diese Debatte nur, weil es Oppositionsrechte gibt. Ich muss Ihnen sagen: Das ist ein unwürdiges parlamentarisches Verfahren. ({1}) Unser gemeinsamer Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken liegt schon lange vor, die Anhörung ist lange her, und ich erinnere Sie deswegen noch einmal daran: Alle Sachverständigen sprachen sich für die Ergänzung in Artikel 3 aus. Zeit für Ihre Meinungsbildung gab es genug, Gespräche gab es auch genug. Darum ist es völlig unverständlich, dass Sie jetzt sogar die Beratung verweigern wollen. Ich sage Ihnen: Diskriminierungsschutz für Menschen im Grundgesetz ist das Gebot der Stunde. Das Thema ist zu ernst für Ihr politisches Geplänkel. Ich habe kein Verständnis dafür, und den Populismus, den Karl-Heinz Brunner uns hier vorwirft, den spiegele ich Ihnen einfach zurück. ({2}) Sie haben diese Woche unter Beweis gestellt, dass Sie für die Würde und den Schutz queerer Menschen keinen Finger heben. Was Sie aber mit größtem Selbstverständnis gehoben haben, waren überall Regenbogenfahnen zum IDAHOBIT. Ihre Widersprüchlichkeit für die Anliegen von LGBTIQ ist leider deutlich. Sich mit Fahnen der Solidarität für die Rechte von Lesben, Schwulen, bi-, trans- und intergeschlechtlichen Menschen zu schmücken, ist doch keine Mode. Für diejenigen, die seit Jahrzehnten für die Ergänzung der „sexuellen Identität“ in der Verfassung kämpfen, ist das maximal enttäuschend. Deswegen frage ich Sie als Kollegin hier geradeheraus: Was haben Sie von der Spitze der SPD am Montag gemeint, als Sie zum IDAHOBIT mit der Forderung zur Ergänzung des Artikels 3 nach vorne gegangen sind? Was meinte Paul Ziemiak mit dem Tweet vom Adenauer-Haus, an dem die Regenbogenflagge wehte? Was meint Kollege Luczak damit – Sie sagen es jetzt wieder –, wenn er auf allen Kanälen die Ergänzung der „sexuellen Identitäten“ fordert? Was bedeutet das am Ende? ({3}) Wenn Sie heute nicht den Schritt nach vorn machen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf noch nicht einmal zur Debatte zulassen, bedeutet das nichts. Ich finde, wer A sagt und Flaggen hisst, der muss auch B sagen. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen, appelliere ich eindrücklich an Sie: Es ist so überfällig, in unserer Verfassung ein klares Bekenntnis zum Schutz queerer Menschen abzugeben; denn Hass und Hetze gegen queere Menschen nehmen zu. Beim Mord in Dresden war das Tatmotiv homophobe Gesinnung; das wurde zum heutigen Urteil zum ersten Mal klar und deutlich gesagt. Diese Signalwirkung ist wichtig. Wir haben die Pflicht, ausnahmslos alle Menschen zu schützen, diesen Schutzanspruch zu verankern und sichtbar zu machen. Die sexuelle Identität muss ins Grundgesetz. ({4}) Also, Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mit dieser Verfassungsänderung ein Signal an unsere Gesellschaft geben, dass jeder queere Mensch vom Staat gesehen wird und gemeint ist, egal wie er lebt und wie er liebt. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes schützt vor Diskriminierungen. Geschützt werden beispielsweise die Herkunft, die Heimat, die Sprache und auch das religiöse Bekenntnis, also all das, was einen Menschen ganz persönlich ausmacht. Und ja, auch die sexuelle Identität oder Orientierung gehört zum Menschen und macht seine Persönlichkeit aus. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die sexuelle Identität bereits in gleichem Umfang geschützt wie die besonderen Diskriminierungsmerkmale in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes. Es ist der Ausdruck eines besonderen Schutzversprechen des Staates, auch die sexuelle Orientierung eines jeden zu schützen und dafür einzutreten, dass jeder leben und lieben darf, wie er möchte. Das ist in unserem Staat unverhandelbar. ({0}) Es ist Gegenstand der verfassungspolitischen Auseinandersetzung, zu klären, ob es genügt, dass dieses Schutzversprechen nur in der ständigen Rechtsprechung gilt, oder ob es der Staat ganz ausdrücklich ins Grundgesetz aufnimmt. Dazu müssen wir auch ein Stück weit auf die historische Abfolge blicken. Im Jahr 1949 und im Jahr 1951, zu den Zeiten, als das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention für Deutschland in Kraft getreten sind, haben wir in unserem Land durch § 175 des Strafgesetzbuches noch bitteres Unrecht vollzogen. Ich bin froh, dass sich der gesellschaftliche Wandel bis heute durchgesetzt hat. Einen ganz wichtigen Schritt haben wir erst gestern im Deutschen Bundestag beschlossen – auch daran möchte ich erinnern –, nämlich die Rehabilitierung der dienstrechtlich verurteilten Soldaten wegen homosexueller Handlungen. Ich glaube, das war ein ganz wichtiges Zeichen des Deutschen Bundestages. ({1}) Die neueren Rechtstexte sehen vor, dass die sexuelle Orientierung explizit geschützt wird, beispielsweise in der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Jetzt ist die große verfassungsrechtliche Frage: Wollen wir diesen Schutz der sexuellen Orientierung, der für uns selbstverständlich ist, der zur Verfassungsidentität unseres Landes gehört, im Artikel 3 des Grundgesetzes verankern oder nicht? ({2}) Darüber, meine Damen und Herren, ist eine politische Debatte erlaubt. Das muss auch innerhalb unserer Fraktion möglich sein. Vor dem Hintergrund, dass wir darüber debattieren, dass wir für eine Grundgesetzänderung auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat brauchen, meine ich, dass das wertvolle Ziel der Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes nicht an einem kurzfristigen Streit scheitern sollte, ({3}) sondern es muss ein Ziel sein, das von der gemeinsamen Überzeugung der demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag getragen wird und welches gemeinsam mit den Ländern verabschiedet wird. Deswegen meine ich: Lassen Sie uns über diese Frage intensiv diskutieren; denn hier geht es um die Verfassungsidentität unseres Landes, und es geht darum, dass wir zu einem gemeinsamen überzeugenden Ergebnis kommen. Denn es muss ganz klar sein: Es darf in unserem Land kein Unterschied machen, wie jemand liebt. Jeder hat den Schutz des Grundgesetzes verdient. – Das hat eine wichtige Signalwirkung. Das ist ein wichtiges Symbol. Darüber sollten wir intensiv beraten. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit ist reif. Die Zeit ist reif; denn nach dem heutigen Sitzungstag sind in dieser Legislaturperiode nur noch zwei Sitzungswochen vorgesehen. Seit zwei Jahren liegt der gemeinsame Gesetzentwurf zur Ergänzung des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes um das Merkmal der sexuellen Identität dem Deutschen Bundestag vor. Das war genug Zeit für eine intensive Debatte. Jeder, wirklich jedes Mitglied dieses Hohen Hauses, konnte sich an all den Diskussionen beteiligen und hatte zwei Jahre lang Zeit, sich eine eigene Meinung zu bilden. Man mag jetzt viel von Wahlkampfmanövern sprechen oder Wahlkampfmanöver unterstellen, weil die Koalitionsfraktionen das gerade blockieren. Ich glaube, die eigentliche Frage ist doch viel größer; denn sie berührt im Kern unser Verständnis einer parlamentarischen Demokratie. ({0}) 30-mal haben Sie in der vergangenen Legislaturperiode mit genau denselben Geschäftsordnungstricks die Debatte, und zwar die Beratung im Ausschuss, über die Öffnung der Ehe für alle verhindert. Am Ende war es den Koalitionsaussagen völlig anderer Parteien und dem Bauchgefühl der Kanzlerin auf einem Podium der „Brigitte“ zu verdanken, dass es überhaupt zu einer parlamentarischen Entscheidung gekommen ist. ({1}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Ergebnis in der Sache war genau richtig und erfreulich. Aber genau dieses Verfahren hat wahnsinnig viel Vertrauen zerstört; denn die parlamentarischen Debatten, auch die öffentlichen Debatten, dienen einer Darstellung von Pro- und Kontraargumenten, sodass jeder politische Entscheidungen nachvollziehen und bewerten kann. Jeder Einzelne von uns, jedes Mitglied dieses Hauses, ist nur dem eigenen Gewissen unterworfen. Aber die Öffentlichkeit, die Bevölkerung, unsere Wählerinnen und Wähler haben ein Anrecht darauf, ganz genau zu erfahren, wie wir uns zu zentralen Fragen der Verfassungsordnung positionieren. ({2}) Damit nach all dieser Beratungszeit diese zentrale Frage, dieses große, wichtige Vorhaben zum dauerhaften Schutz vor Diskriminierung ganzer Generationen homo-, bisexueller, trans- und intergeschlechtlicher Menschen, nicht am Ende der Legislatur im Papierkorb landet, beantragen wir den sofortigen Übergang in die zweite Lesung; denn ich habe nicht verstanden, was über die Pfingstferien noch passieren soll, was in den letzten zwei Jahren nicht gelungen ist. Wir wissen genau: Nach den Fristen, die der Deutsche Bundestag vorsieht, ist genau jetzt der Zeitpunkt, die letzte Möglichkeit, überhaupt noch eine sinnvolle Beratung durchzuführen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition spielt auf Zeit. Wir haben auch keine klare Zusage gehört, in welche Richtung es gehen soll. Wir wissen alle, dass hauptsächlich die Unionsfraktion – ich freue mich ausdrücklich über die Fachpolitiker – eine Zweidrittelmehrheit verhindert. Aber auch die SPD sollte sich an dieser Stelle nicht aus der Verantwortung drücken. Wir haben in den letzten Monaten gemeinsam mit der Koalition und mit der Opposition viele, viele Gespräche über eine Änderung des Artikels 6 des Grundgesetzes geführt. Dabei hat meine Fraktion, die Freien Demokraten, in jedem Gespräch immer und immer wieder betont: Wir sind gerne zu gemeinsamen Lösungen bereit. Für uns gehört aber Artikel 3 des Grundgesetzes zum Gesamtpaket dazu. Es war Ihre Justizministerin, Frau Lambrecht, die das jedes Mal abgewehrt hat und somit sowohl für Artikel 6 als auch für Artikel 3 eine gute Lösung verhindert hat. Die Koalition muss jetzt Farbe bekennen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brandenburg, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verdrängung und Aussitzen ist keine Lösung. ({0}) Stellen Sie sich bitte der Debatte, und lassen Sie uns noch heute darüber abstimmen. Wenn Sie keine Gegenargumente in der Sache haben, können Sie ja einfach zustimmen. Vielen Dank. ({1})

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Guten Tag, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 1999 sind Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Kosovo. Seit 22 Jahren beteiligen wir uns an der Mission KFOR. Es ist kein Geheimnis, dass es in allen Fraktionen des Deutschen Bundestags Zweifel und auch kritische Fragen gibt, ob nach einer so langen Zeit diese Mission noch notwendig ist. ({0}) Ich stehe hier, um aus voller Überzeugung für eine Verlängerung von KFOR mit Beteiligung der Bundeswehr zu werben. ({1}) Der eine oder andere mag vielleicht denken: Das ist jetzt schon so lange her. -1999 waren im Kosovo noch die Spuren eines furchtbaren Bürgerkriegs zu erkennen. Das Land lag teilweise in Schutt und Asche. Wer sich aber mit der Lage des westlichen Balkans und insbesondere mit der Lage des Kosovo im Jahr 2021 beschäftigt, der wird feststellen, dass diese geschundene Region nach wie vor von nachhaltiger Versöhnung, von Frieden und Stabilität noch ein Stück entfernt ist. ({2}) Ja, es gibt deutliche Fortschritte, und deshalb hat sich auch die Mission KFOR grundlegend geändert. ({3}) 1999 waren es noch 6 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die dort einen ganz gefährlichen Dienst verrichtet haben. Jetzt sind es noch 70. ({4}) Ihr Auftrag ist es, die kosovarischen Sicherheitsbehörden zu beraten, bei der Ausbildung von Sicherheitskräften zu helfen. Wenn jetzt irgendjemand fragt: „Ist das die Militarisierung der deutschen Europa- oder Außenpolitik?“, will ich allen entgegenrufen: Das ist ein kleiner Bestandteil eines breit gefächerten Engagements. Ich erinnere an die Rechtsstaatsmission EULEX. Ich erinnere an unser Engagement, um Demokratie, wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Stabilität, Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit und Medienvielfalt zu sichern. Unser Wort, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat im westlichen Balkan und insbesondere im Kosovo Gewicht. Wir tragen eine ganz besondere Verantwortung. Niemand mag sich einreden wollen, dass das, was im südöstlichen Europa passiert, nicht auch unmittelbare oder zumindest mittelbare Wirkungen auf die Sicherheit Deutschlands und der Europäischen Union hat. Der westliche Balkan ist der Innenhof Europas. Wir haben ein gerüttelt Maß Interesse daran, die EU-Perspektive, die wir 2003 für alle Staaten des westlichen Balkans, auch für den Kosovo, ausgesprochen haben, mit Leben zu füllen. Wie schwierig das ist, erleben wir in diesen Zeiten. Wir haben massive Konflikte zwischen Bulgarien und Nordmazedonien. Dort geht es um Themen, die der Nichtexperte oder die Nichtexpertin kaum noch zu verstehen vermag. Die Bulgaren fordern beispielsweise, dass man nur die Langform des Namens – also „Republik Nordmazedonien“ – nutzt. Sie sind nicht der Auffassung, dass Mazedonisch eine eigene Sprache ist. Auf diesem Niveau diskutieren wir derzeit im westlichen Balkan! Auch der 2013 begonnene Normalisierungsdialog zwischen Serbien und Kosovo ist noch nicht dort, wo wir ihn uns eigentlich wünschen; denn der Normalisierungsdialog mit einem vertraglichen, verbindlichen Abkommen ist die Voraussetzung dafür, dass Serbien und Kosovo in einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis eine Chance auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union haben. ({5}) Ich will einmal daran erinnern, wie der Strukturwandel konkret vonstattengeht. In Prizren hatten wir bis vor wenigen Jahren noch ein Lager der Soldatinnen und Soldaten. Inzwischen haben wir in Prizren ein Innovationscamp, wo junge Start-ups Betriebe gegründet haben, um Arbeitsplätze zu sichern. Das ist wichtig vor allem für die junge Generation; denn die derzeitige Perspektive dieser Länder sieht in der Regel so aus, dass die gut ausgebildeten jungen Menschen, die sich nach Europa sehnen, ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und sagen: Wir warten nicht länger, sondern wir gehen in die Europäische Union. Wir haben die Geduld verloren. – Umso wichtiger ist es, dass wir alles dafür tun, dass dort nicht neue Konflikte ausbrechen. Lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel dafür benennen, wie fragil die Lage nach wie vor ist. Es gibt Akteure in der Europäischen Union und auch in der Region selber, die meinen, wir könnten Probleme dadurch lösen, dass wir Grenzen nach ethnischen Zugehörigkeiten neu ordnen. Ich kann nur eindringlich davor warnen. ({6}) Die Zukunft des Kosovo, die Zukunft des westlichen Balkans, liegt in multireligiösen, multiethnischen Gesellschaften, und wir müssen lernen, friedlich miteinander zu kooperieren und zu koexistieren. Das ist die Voraussetzung. Genau dazu trägt auch KFOR mit einem ganz veränderten Mandat bei. Ich möchte mich auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedanken. Ich weiß, dass es – in allen Fraktionen – nicht wenige gibt, die ein gerüttelt Maß an Expertise und profunder Kenntnis mitbringen und die sich auch als Partnerinnen und Partner dieses schwierigen Transformationsprozesses im westlichen Balkan verstehen. Ich will Sie alle ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Im Kosovo ist die Lage derzeit hoffnungsvoller denn je. Wir haben eine neue Regierung, an der Spitze Albin Kurti, der sich den Kampf gegen Korruption, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zum Ziel gesetzt hat. ({7}) Er hat eine stabile parlamentarische Mehrheit; aber es wird ohne unsere Unterstützung nicht funktionieren. Gerade die Pandemiebekämpfung hat gezeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Europäische Union als der Hort von Demokratie, Wohlstand und Sicherheit alleine gesehen wird. Wenn wir dort ein Vakuum hinterlassen – sei es ein sicherheitspolitisches, sei es ein gesellschaftspolitisches oder sei es auch ein wirtschaftspolitisches –, dann gibt es andere Akteure – Russland, China –, die sich dort trefflich zu engagieren wissen. Ob das in unserem Interesse als Europäische Union liegt, die wir der Demokratie, dem respektvollen Umgang mit Minderheiten, der Rechtsstaatlichkeit, der Medienfreiheit und Medienvielfalt verpflichtet sind, wage ich zu bezweifeln. Deshalb noch einmal: Auch wenn Ihre Ungeduld in den vergangenen Jahren gewachsen ist, bitte unterstützen Sie die Fortsetzung dieses Mandates. Es ist nicht nur wichtig für die friedlichen Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo, es ist nicht nur wichtig für die Stabilität und Demokratisierung des westlichen Balkans, sondern es liegt auch im ureigensten deutschen nationalen Interesse und im Interesse der Europäischen Union. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jens Kestner für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders begrüße ich das Mitglied des serbischen Parlaments oben auf der Tribüne, Herrn Karic, auch im Namen meiner Fraktion. Schön, dass Sie hier sind! Danke schön. ({0}) Die heutige Gelegenheit, über die Lage im Kosovo zu sprechen, stellt uns die Aufgabe, über eine weitere Frage nachzudenken, die viel weitreichender ist, als der Einsatz unserer Soldaten bedeutet. Wir sollten uns die Frage stellen, ob Deutschland in seiner Politik konsequent ist: auf der einen Seite gegenüber dem Kosovo, aber auf der anderen Seite gegenüber Serbien, ob wir wirklich alles tun, um den Westbalkan dauerhaft zu befrieden und eine Region des Friedens und der Stabilität zu schaffen. Dieser Frage sollten wir uns auch angesichts der kürzlich erfolgten Entschuldigung des tschechischen Präsidenten Milos Zeman gegenüber dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic wegen des NATO-Angriffs auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 stellen. ({1}) Der Vorwand für diesen kriegerischen Akt, welche die damalige Bundesregierung mit einer Lüge einläutete, war, eine angebliche humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, obwohl ihre direkte Folge eine neue humanitäre Katastrophe war, nämlich die Aussiedlung von fast einer Viertelmillion Serben und anderer Nichtalbaner aus dem Kosovo. Aber war es wirklich notwendig, dass man 2008 die Abspaltung des Kosovo von Serbien unterstützt hat, und zwar zu einem Zeitpunkt, als in Belgrad schon demokratische Kräfte die Regierung führten, welche in der Lage gewesen wären, mit uns zusammen die Schaffung einer funktionalen multiethnischen Gesellschaft auf dem Gebiet von ganz Serbien inklusive des Kosovo zu erreichen? Auch heute haben wir in Belgrad Gesprächspartner in der Regierung, die gezeigt haben, dass sie in der Lage sind, sowohl eine funktionale multiethnische Gesellschaft als auch einen wirtschaftlich dynamischen und fortschrittlichen Staat aufzubauen. Deshalb stelle ich heute in diesem Haus die Frage: Welche Art von Dialog zwischen Belgrad und Pristina wollen wir unterstützen, um nicht Gefahr zu laufen, Serbien und den Kosovo weiterhin zu entfremden? Serbien, zu dem der Kosovo für mich weiterhin gehört, muss näher an uns gebunden werden, anstatt hier immer wieder das Trennende zu suchen. ({2}) Wenn wir für uns in Anspruch nehmen, dass wir gegen neue Grenzziehungen, egal wo auf der Welt, sind, haben wir nicht das Recht, über die Tatsache hinwegzusehen, dass wir selbst unmittelbar an einer widerrechtlichen Grenzziehung in dieser Region mitgewirkt haben. ({3}) Und Serbien weist heute, wie ich finde, immer noch zu Recht auf diesen Gegensatz hin. Falls wir nicht den Mut haben, unsere eigene Politik gegenüber dieser Region zu hinterfragen und zur Achtung des Völkerrechts durch eine Art Wiederintegration des Kosovo in Serbien zurückzukehren, sollten wir im Vorfeld auch keine Innovationen und mutige Lösungen ablehnen, unter dem Vorwand der Unantastbarkeit der Grenzen; denn dieses Prinzip haben wir selbst missachtet. Ich rufe die Bundesregierung auf, sich ernsthaft Gedanken über dieses Thema zu machen, um nicht durch die Lösung eines Problems zusätzliche Probleme zu schaffen und Serbien als das Schlüsselland, wie es hier schon angesprochen wurde, in der Region zu zwingen, Partner für andere Lösungen auf anderen Seiten zu suchen. Ich weiß, dass auch Belgrad über Kompromisslösungen nachdenkt. Aber im Grunde teile ich die Worte des damaligen österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache: „Kosovo ist ohne Zweifel ein Teil Serbiens.“ Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Selbstbestimmungsrecht gilt auch für das kosovarische Volk. ({0}) Dass es für dauerhaften Frieden eines Dialogs zwischen Serbien und dem Kosovo bedarf, ist unbestritten. Es ist erfreulich, dass dieser Dialog sowohl in Belgrad als auch in Pristina weiter fortgeschritten ist als in der Fraktion meines Vorredners. ({1}) Die Beteiligung der Bundeswehr an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo ist mittlerweile der längste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr. Seit 1999 haben dort 130 000 deutsche Soldaten und Soldatinnen Dienst geleistet. Seit über 20 Jahren haben sie dazu beigetragen und tragen sie weiter dazu bei, die Lage im Kosovo und auf dem Westbalkan insgesamt deutlich zu entspannen und zu stabilisieren. Für diesen Einsatz, der bei vielen unserer Soldaten und Soldatinnen, auch bei zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Spuren an Leib und Leben hinterlassen hat, möchte ich an dieser Stelle meine hohe Anerkennung und meinen tiefen Respekt zum Ausdruck bringen. ({2}) Die Lage im Kosovo hat sich auch aufgrund der internationalen Sicherheitspräsenz dort beruhigt. Deshalb konnte die NATO ihre Kräfte in den letzten Jahren schrittweise reduzieren. Heute stehen KFOR und damit auch das Bundeswehrkontingent als sogenannter Third Responder nur noch in der dritten Reihe. In der ersten Reihe steht die Polizei des Kosovo. In der zweiten Reihe steht die Bereitschaftspolizei der Rechtsstaatsmission EULEX Kosovo der Europäischen Union. Auch wenn die Situation in der Republik Kosovo heute überwiegend ruhig und stabil ist, besteht doch nach wie vor ein latentes Potenzial für Konflikt und Eskalation. Noch immer fehlen notwendige politische Fortschritte, die weitere militärische Anpassungen erlauben würden. Solange wesentliche Fragen zwischen den Republiken Kosovo und Serbien ungelöst sind – dazu gehört auch die andauernde Debatte um mögliche Gebietsaustausche –, solange eine Normalisierung der Beziehungen unverändert aussteht, braucht es weiter KFOR als stabilisierenden Faktor. Wir dürfen und wir wollen nicht riskieren, dass ein unerwarteter Zwischenfall oder politische Fragilität den Anlass für Eskalationen bieten, vor allem im Norden des Landes. Deswegen wirkt KFOR als robuste Rückversicherung und als Sicherheitsgarant. Mit unserer Beteiligung an KFOR unterstreichen wir unser Engagement für Frieden und Sicherheit im Land und in der Region. Deshalb wollen wir unseren Beitrag mit einer Obergrenze von 400 deutschen Soldatinnen und Soldaten unverändert fortsetzen. Das gewährleistet, dass die Bundeswehr bei einer unerwarteten Verschlechterung der Lage schnell und flexibel reagieren kann. Die KFOR-Mission bleibt für die Entwicklung der Republik Kosovo wichtig, für die Stabilität auf dem Westbalkan und als ein verantwortungsvoller Beitrag Deutschlands für ein friedliches Miteinander in Europa. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Antrag der Bundesregierung, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo fortzusetzen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Renata Alt für die FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor Kurzem sorgte ein inoffizielles Papier über Grenzverschiebungen auf dem Balkan für große Unruhe, auch in Brüssel. Kaum ein Dokument hat in der Vergangenheit so hohe Wellen geschlagen wie dieses Papier – man kann auch sagen: ein Pamphlet –, aus gutem Grund. Denn nach den Vorstellungen des mutmaßlich hochrangigen Verfassers würde der Westbalkan in der Form, so wie er heute besteht, nicht mehr existieren. Der Kosovo würde vollständig von der Landkarte verschwinden. Meine Damen und Herren, solche Ideen sind brandgefährlich. Solche Ideen sind eine Blaupause für die nächste kriegerische Auseinandersetzung in Südosteuropa. Und wie Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani betonte: Das passt nicht in die heutige Zeit. – Es gibt immer noch ethnische Spannungen in der Region. Teilungsfantasien werden diese sicher nicht lösen. Seit mehr als 20 Jahren ist KFOR der Stabilitätsanker in der Region, und wie man sieht, ist er nach wie vor unverzichtbar: Erstens. China, Russland, die Türkei und die arabischen Staaten weiten ihren Einfluss auf dem Westbalkan immer mehr aus. Zweitens. Zwar gab es schon länger im serbisch dominierten Norden Kosovos keine bewaffneten Zwischenfälle mehr – zum Glück, muss man sagen –, der Frieden bleibt aber weiterhin fragil. KFOR schafft Stabilität und somit auch Frieden in der Region. Serbien rüstet militärisch auf, Serbien sendet fragliche Signale, was die eigenen Ambitionen in der Region betrifft. Ein Abkommen zwischen Kosovo und Serbien ist in weite Ferne gerückt. Aktuell verhandeln beide Länder nicht einmal am selben Tisch. Gerade jetzt ist eine Spitzendiplomatie erforderlich – mehr denn je. Das Eskalationspotenzial ist immer noch sehr hoch. Die EU müsste eigentlich jetzt bei der Vermittlung mit einer klaren und starken politischen Agenda aktiver werden. ({0}) Denn die Glaubwürdigkeit der EU steht gerade auf dem Westbalkan schon längst auf dem Spiel. Es ist völlig unverständlich, dass der Kosovo noch immer keine Visafreiheit hat. Deutschland muss hier sein Gewicht stärker in die Waagschale legen und Kosovo noch mehr unterstützen. Meine Damen und Herren, der KFOR-Einsatz leistet einen großen Beitrag zur Stabilität des Kosovo und der Region. Wir brauchen vor Ort weiterhin eine einsatzfähige Truppe für den Fall einer Eskalation. Deshalb werden wir Freie Demokraten der Mandatsverlängerung zustimmen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1999 tönte Joseph Fischer, mit seiner Luftwaffe ein zweites Auschwitz und die serbische SS zu stoppen. Vor 20 000 Tonnen Bomben und Uranmunition mussten die Menschen in Belgrad in denselben Luftschutzkellern kauern wie einst vor Hitlers Luftwaffe. Die Bilanz des mittlerweile 22 Jahre andauernden Militäreinsatzes, begonnen durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg von der damaligen rosa-grünen Regierung und der NATO, ist ein künstlich geschaffener Staat Kosovo, mit dem Bruch der Resolution 1244 der Vereinten Nationen, die die Souveränität und territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens garantierte. Es gibt keine nennenswerte eigene Industrie, aber dafür fast 47 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und: Kosovo ist Hochburg von IS-Terroristen mitten in Europa. Offiziell notiert die Webseite des Auswärtigen Amtes – Zitat –: Organisierte Kriminalität ist weit verbreitet. In Kosovo befinden sich mehrere hunderttausend illegale Schusswaffen in Privatbesitz; die Hemmschwelle zu deren Einsatz ist vergleichsweise niedrig … richtet sich jedoch in aller Regel nicht gegen Ausländer. Meine Damen und Herren, wie bitte bringen Sie solche Zustände mit dem sicheren Umfeld zusammen, das Sie hier seit über zwei Jahrzehnten als Begründung für dieses Mandat angeben? ({0}) Es ist noch schlimmer: Das Pulverfass Kosovo wird laut Medienberichten in Serbien auch noch mit deutschen Waffen weiter ausgerüstet. Und wir als Linke sagen ganz klar: Das Kosovo gehört endlich konsequent entwaffnet. ({1}) Der zurückgetretene Präsident Hashim Thaci, ehemaliger UCK-Anführer, bekannt unter dem Namen „die Schlange“, wird vor dem Sondergericht in Den Haag angeklagt, und das ist gut so. Über ihn, Ihren Bündnispartner, stand schon im Bericht des Bundesnachrichtendienstes von 2005: Er kontrolliert im gesamten Kosovo ein aktives kriminelles Netzwerk. – Laut Amnesty International wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit von der UCK mindestens 800 Morde begangen. 2010 stellte der Europarat fest, dass führende UCK-Mitglieder, allen voran Thaci, neben Mord und Folter auch in Organhandel involviert waren. Und dahin schieben Sie bis heute tatsächlich insbesondere Angehörige der Romaminderheit ab. Das ist wirklich kriminell! ({2}) Meine Damen und Herren, die Verfolgung von Minderheiten, Organisierte Kriminalität, Waffenschiebereien bis hin zur Ermordung von bekannten Politikern wie Oliver Ivanovic stehen im Kosovo nach 22 Jahren Ihrer Sicherung durch den KFOR-Einsatz auf der Tagesordnung. Wir Linke lehnen diesen Einsatz ab. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Rahmen der Debatte gerade schon darüber geredet, dass es zwischen Pristina und Belgrad im Moment viele Konfliktpunkte gibt; aber es gibt einen Punkt, in dem sich überraschenderweise die neue Außenministerin des Kosovo und der Präsident von Serbien, Herr Vucic, einig sind: Beide finden, dass KFOR unbedingt im Kosovo präsent bleiben muss. Und wenn sich die beiden einig sind, dann werden wir wohl verstehen, worum es geht, ({0}) nämlich dass KFOR der Garant für die Sicherheit der Menschen im Kosovo ist. Unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Zuschreibung oder Herkunft sorgt KFOR dafür, dass Angst voreinander ein Haltebecken hat: Falls etwas passiert, gibt es eine Ebene der Sicherheit, die international garantiert wird. Wenn ich mit den Menschen im Kosovo spreche – wir Grüne sprechen dort mit allen Vertreterinnen und Vertretern, die im Parlament und in der Gesellschaft vertreten sind, sowohl auf serbischer Seite, mit der Serbischen Liste, als auch mit den verschiedenen Parteien auf der kosovo-albanischen Seite –, dann ist klar: Alle diese Menschen teilen den Wunsch, dass sich das Kosovo auf den Weg in die EU machen kann. Ich möchte hier ausdrücklich sagen: Wir als Grüne wie auch, denke ich, die Bundesregierung stehen hinter diesem Ziel und wollen die Region und Kosovo auf diesem Weg begleiten. ({1}) Aber wir müssen auch glaubwürdiger werden, und deswegen – Frau Kollegin Alt hat es zu Recht angesprochen – muss die Visaliberalisierung – auch als Zeichen der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union: wenn Standards erreicht werden, muss geliefert werden – unbedingt und schnell kommen. Es ist nicht vertretbar, dass ausgerechnet das Kosovo nach dem Einhalten der Zusagen hier außen vor bleibt. Und es ist gefährlich für die ganze Region, wenn das Gefühl entsteht: Manche werden anders behandelt als andere. Wir sollten uns auch weiterhin dafür einsetzen, dass das Kosovo endlich durch alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Staat anerkannt wird. ({2}) Es ist nicht hinzunehmen, dass die Situation dauerhaft so bleibt, wie sie ist. Und wir sollten in unseren Gesprächen mit Freunden aus anderen Hauptstädten dieses Argument nicht außen vor lassen. Denn für uns ist klar: Die Anerkennung des Kosovos ist ein nicht verhandelbares Ziel. Natürlich muss auch Kosovo seinen Beitrag zur Annäherung leisten. Natürlich muss Kosovo sicherstellen, dass die Inklusion und der Schutz der serbischen Minderheit, der kosovarischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die Serben sind oder sich als Serben verstehen, in seinem Staat gewährleistet ist. Aber: Kosovo wird als Staat anerkannt werden müssen. Dieses Ziel ist meiner Ansicht nach nicht verhandelbar. ({3}) Denn es ist klar: Diese Region wird nur dann eine erfolgreiche Zukunft haben, wenn wir, so wie Michael Roth es gesagt hat, dafür sorgen, dass die Menschen in der Region miteinander an einer gemeinsamen Zukunft in der EU arbeiten. Das muss das Ziel der Politik in dieser Region sein. In dem aktuellen politischen Klima bleibt die Präsenz von KFOR ein unerlässlicher Stabilitäts- und Friedensgarant. Solange wir keinen dauerhaften Frieden in der Region erreicht haben, werden wir dieses Mandat unterstützen. Danke sehr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Balkan ist keine Region der Welt, in der nach ethnischen Grundsätzen neue Grenzen gezogen werden können, gezogen werden sollten, wenn man die Gefahr eines weiteren Krieges nicht provozieren will. Deswegen war die Rede des AfD-Kollegen so grandios daneben, ja gefährlich. ({0}) Es bedarf da auch keiner Freundlichkeiten gegenüber einem serbischen Abgeordnetenkollegen, nein. Natürlich ist Serbien ein ganz wichtiger Bestandteil der Region. Der Ausgleich mit dem Kosovo, der übrigens dank der Gesten des jetzigen serbischen Staatspräsidenten, Aleksandar Vucic, auf einem sehr guten Weg war und ist, muss von uns auf europäischer Ebene in der Tat stärker befördert werden. Ich bedauere etwas, dass der Dialog, der mit dem Namen „Berlin“ verbunden ist, von dem auch viele Initiativen ausgehen und für den es mit unserem Freund Miroslav Lajcak einen eigenen Beauftragten der EU gibt, nicht so recht vorankommt. Kollegin Alt, ja, auch ich bin der Ansicht, dass wir über das Thema der Visafreiheit, bei dem es um die Zusage der Europäer geht, so reden müssen, dass wir als diejenigen gelten, die Zusagen einhalten. Ich bin der Meinung, dass wir dem engagierten Vortrag des Herrn Staatsministers Roth, dessen Inhalt ich nur unterstreichen kann, sehr deutlich Folgendes hinzufügen müssen: Wenn man das, was in diesem Non-Paper steht, von dem wir alle gehört haben, das wir gelesen haben, vollziehen würde, was nicht der Fall sein wird, würde das die AfD-Ideen konterkarieren. In diesem Papier wird mit der Idee gespielt, dass das Kosovo, jedenfalls der albanische Teil, und Albanien zu einem Großalbanien zusammengeführt werden sollen und vielleicht die Gegend nördlich des Ibar bei Mitrovica an Serbien geht. Das löst keine Probleme. Das ändert nicht die Situation der Minderheiten. Das macht die Minderheiten nur kleiner – kleiner in der Region –, aber mit Blick auf eine Gleichbehandlung aller nicht weniger sprengstoffbeinhaltend im politischen Sinne. ({1}) Deswegen und vor allem, weil, wenn man Gebietsveränderungen macht, keiner eingrenzen kann, wo das beginnt und wo das aufhört, sollte man das nicht tun. Es geht um den ganzen Balkan. Die Vorstellung, man könnte die Republika Srpska, Bosnien, mit Serbien zu einem Großserbien verbinden, ist genauso abwegig wie das, was wir gerade über den Kosovo gehört haben und hören. Unsere Aufgabe ist es, mit dem Zeichen der Stabilität – dazu gehört KFOR – dafür zu arbeiten, dass die Nachkriegsordnung, die mühselig erarbeitet worden ist, sich stabil weiterentwickeln kann; denn wir wissen, alles andere, was sonst kommen würde, würde nur schlechter und leider auch gewalttätiger werden. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Visafreiheit für das Kosovo, und zwar jetzt! Ich appelliere von dieser Stelle aus insbesondere an die Niederlande und an Frankreich, die sich hier immer noch querstellen, obwohl jeder weiß – auch das Europäische Parlament hat so abgestimmt –, dass das Kosovo alle Kriterien, die von uns, von der Europäischen Union, aufgestellt wurden, damit sie die Visafreiheit erlangen können, längst erfüllt hat. Deswegen sollten wir, insbesondere diese beiden Länder, uns hier nicht weiter querstellen. Das hat übrigens auch etwas mit der Glaubwürdigkeit der gesamten Europäischen Union zu tun. Deswegen ist das jetzt das Gebot der Stunde. ({0}) Der Kosovo ist uns wichtig, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Die Menschen des Kosovo sind uns wichtig. Ebenso wichtig sind uns selbstverständlich auch die vielen Soldatinnen und Soldaten und die Zivilbeschäftigten, die in dem über 20 Jahre dauernden Einsatz ihren wertvollen und immer noch erforderlichen und wichtigen Dienst in der KFOR-Mission tun. Deswegen kann man nur sagen: Herzlichen Dank für diese geleistete so wichtige Arbeit! ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine neue Regierung in Pristina – wieder einmal, möchte ich fast sagen. Es ist die zweite Regierung Kurti, die mit großen Herausforderungen im Inneren wie im Äußeren zu kämpfen hat. Da ist natürlich zuallererst die Pandemiebekämpfung, die diese Regierung, die dieses arme Land vor ganz besondere Herausforderungen stellt. Da ist die kraftvolle Agenda zur Bekämpfung der Korruption, die die Regierung schon aufgelegt hat. Ich sage an der Stelle aber auch: Ich erwarte schon, dass auch der Normalisierungsprozess mit dem nördlichen Nachbarn, eben mit Serbien, mit einer ebenso hohen Priorität versehen wird. Eine entsprechende Äußerung vermisse ich, und zwar sowohl von der Staatspräsidentin wie auch aus den Reihen der Regierung. Das muss erfolgen, sehr verehrte Damen und Herren. ({2}) Zurzeit gibt es aber auch ein wunderbares Chancenfenster; es gibt nämlich einen neuen transatlantischen Ansatz zwischen der Europäischen Union und der Joe-Biden-Regierung. Ich sage auch: Das ist eine wunderbare Chance, den Ballast der White House Papers aus der Zeit der unsäglichen Westbalkanpolitik der Trump-Administration endlich über Bord zu werfen und beherzt in einem transatlantischen Ansatz Reformen nach vorne zu bringen. Es gibt immer wieder viele Ideen, leider auch in der letzten Zeit wieder. Eine davon ist die Überlegung, dass man einen Gesamtwestbalkanansatz verfolgt, also alle sechs Westbalkanstaaten gemeinsam bewertet und an die EU heranführt. Ich würde sagen, derjenige, der diese Idee vertritt, der muss auch akzeptieren, dass das einem Eingeständnis eines totalen Versagens der EU-Erweiterungspolitik der letzten zehn Jahre gleichkommt. Ich lehne diese Idee ganz klar ab. ({3}) Frau Präsidentin, sehr verehrte Damen und Herren, ich schließe mit Hausaufgaben. Wer in der Schule seine Hausaufgaben nicht erledigt, der wird nicht versetzt. Ebenso ist es in dem EU-Annäherungsprozess: Derjenige, der nicht Reformen liefert, der nicht voranschreitet, kann sich der EU nicht weiter annähern. Deswegen appelliere ich an die Regierung Kurti – ich traue es Albin Kurti auch, ehrlich gesagt, zu –, jetzt mutiger Möglichmacher zu sein, wenn es darum geht, im Norden des Kosovo bei der mehrheitlich serbischen Bevölkerung den Gemeindeverbund endlich umzusetzen, ihn endlich Realität werden zu lassen. Davor haben sich die kosovarischen Regierungen, gleich welcher parteipolitischen Couleur, in den letzten Jahren immer gedrückt. Sie haben sich dazu verpflichtet. – Macht endlich eure Hausaufgaben! Damit schließe ich. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über das Mandat für die deutsche Bundeswehr im Rahmen der Operation UNIFIL. Wenn wir auf diese Region gucken, wenn wir auf den Libanon schauen – ich bin mir sicher, da geht es Ihnen so wie mir –, dann schauen wir natürlich auf einen schwierigen jahrzehntelangen regionalen Prozess. Lassen Sie mich deswegen am Anfang meiner Rede sagen, was wir alle hier, glaube ich, empfinden: Wir empfinden eine gewisse Erleichterung darüber, dass wir nach dieser schlimmen Auseinandersetzung der letzten Tage jetzt eine Waffenruhe erreicht haben. Das ist gut für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Israels, das ist aber auch gut für die Opfer, die es auf palästinensischer Seite gegeben hat. Das hat auch etwas mit unserem heutigen Thema zu tun. Denn bedauerlicherweise haben wir auch gesehen, dass im Rahmen dieser Eskalationen erneut israelisches Territorium beschossen worden ist, auch aus dem Libanon heraus. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es wichtiger denn je, diesen politischen Prozess wieder aufzunehmen. Es ist wichtiger denn je, die uns zur Verfügung stehenden politischen und militärischen Instrumente dafür zu nutzen. Deswegen bitte ich Sie um die Unterstützung für dieses so wichtige Mandat. ({0}) UNIFIL alleine wird weder den innerlibanesischen Konflikt noch den Konflikt zwischen vor allem der Hisbollah-Miliz und anderen Milizen im Libanon und Israel lösen können. Aber in den letzten Jahren – und dafür bin ich unseren Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen dankbar – hat UNIFIL nicht nur einen Beitrag dazu geleistet, den Waffenschmuggel über die Seeseite zu unterbinden – das ist ein wichtiger Zugangsweg insbesondere für die Hisbollah –, sondern UNIFIL hat auch Instrumente der klassischen Vertrauensbildung entwickelt. Das, was dort auch deutsche Soldatinnen und Soldaten an der sogenannten Blue Line leisten, ist von der Bedeutung her nicht zu unterschätzen. Wir haben gesehen, dass trotz aller Zuspitzung in diesem Konflikt Instrumente wie der Dreiparteiendialog, der dort stattfindet, nicht nur benutzt werden können, um täglich – leider zum Teil immer noch täglich – aufkommende Spannungen und auch militärische Auseinandersetzungen zu adressieren, sondern er war auch die Grundlage dafür, dass in den letzten Monaten beispielsweise zwischen Israel und dem Libanon – unter anderem durch UNIFIL und die Vereinigten Staaten von Amerika vermittelt – Gespräche über die Demarkierung der Seegrenze stattfinden konnten. Auch das ist ein ganz wichtiges Instrument. Bedauerlicherweise muss ich bei dieser Rede aber auch darauf hinweisen: Was UNIFIL nicht leisten kann, ist, die innerlibanesische Konfliktsituation aufzulösen. Wir haben es im Moment nicht nur mit den genannten regionalen Spannungen zu tun. Die innenpolitische Situation hat durch die dramatischen Bilder, die ja auch in Deutschland wahrgenommen und diskutiert worden sind, zu einer großen Welle des Mitgefühls und der Solidarität geführt. Im Grunde genommen ist die politische Krise, die ökonomische Krise, die soziale Krise und die humanitäre Krise dieses Landes einer Lösung nicht einen Schritt nähergeführt worden. Warum erwähne ich das bei einer Debatte über UNIFIL? Weil wir durch den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten und auch durch die Instrumente, die wir uns mit UNIFIL geschaffen haben, eine ganz zentrale Institution in diesem so schwachen, zerklüfteten und fragmentierten libanesischen Staatswesen gestärkt haben, und das sind die libanesischen Streitkräfte! Diese Streitkräfte sind wahrscheinlich die einzige zentrale Institution des libanesischen Staates, die fraktions-, konfessions- und parteiübergreifend akzeptiert wird. Das ist nicht nur eine hohle Phrase, sondern wir haben in den schwierigen Konflikten innerhalb des Libanon in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass beispielsweise durch die Entsendung von Armee-Einheiten bei Auseinandersetzungen in Tripolis geschlichtet werden konnte. Auch wenn wir mit der Anzahl der dort sozusagen stationierten libanesischen Streitkräfte nicht zufrieden sind, gilt das im reduzierten Maße aber auch für den Süden des Libanon, der in den letzten Jahren bekanntlich das große Konfliktfeld dargestellt hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier nicht übertreiben, sondern nüchtern feststellen: Wenn der Währungsverfall nicht aufgehalten wird, wenn der Libanon nicht endlich eine handlungsfähige Regierung bekommt, dann steht eines zur Disposition, nämlich diese Institution, die für das Land so wichtig ist, weil beispielsweise die Finanzierung der Streitkräfte dann nicht mehr sichergestellt werden kann. Das Land – daran muss man hier erinnern – hat 15 Jahre furchtbaren Bürgerkrieg hinter sich. Das Friedensabkommen von Taif hat diesen Bürgerkrieg beendet. Das ist eine historische Errungenschaft. Aber sie hat die zugrundeliegenden Konflikte nicht lösen können. Wir haben heute – das ist ja auch der Grund, weshalb so viele Libanesinnen und Libanesen in den letzten Jahren und Monaten auf die Straße gegangen sind – im Grunde genommen dieselben Akteure, die sich schon damals im Bürgerkrieg in unterschiedlichen Konstellationen – auch in wechselnden Konstellationen – gegenüberstanden. Ich glaube, dass wir hier auch ein deutliches Zeichen in Richtung Beirut aussenden müssen. Es gibt keinen in dieser politischen Klasse, der nicht für diese Krise Verantwortung trägt. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass es trotz umfangreicher Angebote der politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Unterstützung nicht gelungen ist, eine Regierung zu bilden, die das Mindestmaß an öffentlichen Dienstleistungen und Verlässlichkeit für die eigene Bevölkerung sicherstellt. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Appell geht an die Verantwortlichen in Beirut. Sie sollen wissen, dass nicht nur der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag, sondern auch der Europäischen Union insgesamt – das gilt beispielsweise auch für den französischen Staatspräsidenten; das ist ja öffentlichen Äußerungen zu entnehmen – im Moment der Geduldsfaden reißt. Das bedeutet auch, dass es eine persönliche Verantwortung dieser Führungsfiguren gibt. Ich glaube, alle Optionen müssen auf den Tisch. Deutschland hat deutlich gemacht, dass wir nicht nur über Unterstützung in Form von UNIFIL reden – ich hoffe sehr, dass Sie dieses Mandat verlängern werden –, sondern auch in Form von sehr konkreter wirtschaftlicher und humanitärer Unterstützung. Wir sind inzwischen der zweitgrößte bilaterale Geber für den Libanon in einem politischen Umfeld, in dem sich die klassischen Freunde dieses Landes und die klassischen Geldgeber – auch die Golfstaaten – abgewandt haben. Denn auch sie haben inzwischen – ich muss mich hier ja freundlich ausdrücken – keine Geduld mehr, sich mit der dortigen unfähigen politischen Klasse zu verständigen, um tatsächlich zu einem Mindestmaß der politischen Handlungsfähigkeit zurückzukehren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die furchtbare Explosion, die Tragödie im Hafen von Beirut, ist auch weiterhin ein Symbol für den Zustand des Landes. Man muss sich einmal vorstellen, dass außer dem designierten und dann nicht ins Amt gekommenen Premierminister – den kennen wir ja sehr gut; es ist der heutige Botschafter des Libanon in Berlin – kein einziger Vertreter der dort führenden politischen Parteien sich vor Ort überhaupt hat blicken lassen. Das ist tatsächlich ein Symbol, das man eigentlich in einer demokratisch verfassten Gesellschaft nicht akzeptieren kann. Deswegen schauen die Bürgerinnen und Bürger des Libanon eben auch sehr genau darauf, ob die internationale Unterstützung – auch UNIFIL – sich jetzt ebenfalls zurückzieht, ob wir uns ebenfalls abwenden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss. – Wir dürfen uns nicht abwenden von diesem Land, das so wichtig ist. Aber wir brauchen auch eine klare Sprache. Ich glaube, beides ist wichtig, und um beides bitte ich Sie. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Bystron für die AfD-Fraktion. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsminister, Sie haben das schon richtig gesagt: Wir sind heute hier, um eine Mission zu diskutieren, die den Waffenschmuggel unterbinden soll, damit die Terroristen, damit die Israel-Hasser, damit die Feinde der Juden sich nicht bewaffnen und Israel nicht angreifen können. Wir tun das heute, wenige Tage nachdem dort der Konflikt entflammt ist, wo gerade die Hamas-Terroristen Israel angegriffen haben. Sie hatten es erwähnt: Jetzt soll es angeblich eine Waffenruhe geben. – Ich habe schnell nachgeschaut, was Ihr Außenminister Heiko Maas dazu getwittert hat. Der hat sich auch gefreut, dass es jetzt eine Waffenruhe gibt. Binnen weniger Minuten hat der ehemalige amerikanische Botschafter hier in Deutschland, Rick Grenell, der sich in der Region sehr engagiert und auch gut auskennt, zurückgeschrieben: Nein, das ist keine Waffenruhe. Es ist einfach nur eine Pause, weil der Hamas die Raketen ausgegangen sind. – Und da sind wir wieder bei unserem Thema. Und Heiko Maas? Was hat er da gemacht? Er hat sich auch noch mit dem sogenannten Palästinenserpräsidenten Abbas getroffen und hat von guten Gesprächen geschrieben. Da hat ihn der Kollege Trittin sofort daran erinnert, dass auch Abbas an dieser Eskalation schuld ist. Zuletzt hat sich Heiko Maas mit Premierminister Netanjahu getroffen, und da hat sich Folgendes zugetragen: Netanjahu hat ihm Trümmer einer bewaffneten Drohne, einer Rakete, gezeigt und ihm gesagt: Schauen Sie, damit wird auf uns aus dem Iran geschossen. – Und was hat Heiko Maas gemacht? Und das steht in mehreren Zeitungen: Maas steht daneben und schweigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole das. Der Außenminister, der sagt, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, steht in Israel, und der israelische Premierminister zeigt ihm, dass sein Land aus dem Iran angegriffen wird, und dieser Außenminister steht da und schweigt. Da frage ich mich: Warum schweigt er denn? Vielleicht deswegen, weil Deutschland alle diese Terroristen die ganze Zeit mitfinanziert und mit diesem Iran paktiert? ({0}) Und wir sprechen hier heute über UNIFIL. Ich sage Ihnen: Wissen Sie, diese Mission ist ein reines Alibi. Das ist ein reines Alibi, damit Sie sagen können, Sie täten irgendwas gegen die Feinde Israels. Aber effektiv tun Sie gar nichts! ({1}) Diese Mission besteht seit 1978; viele Kollegen wissen das. Seit 2006 wird hier im Parlament immer wieder darüber gesprochen, ob wir sie fortsetzen können, und es ist immer wieder das Gleiche. Wir haben da überhaupt keine Ergebnisse erzielt. Gerade jetzt haben italienische Soldaten sogar Waffenschmuggler erwischt. Und was ist passiert? Das waren irgendwelche Hamas-Leute. Die haben sie mit Waffen einfach weggescheucht. Das Einzige, was die UN macht, ist, dass sie versucht, das zu vertuschen. Deswegen bitte ich Sie: Das hier ist das Parlament. Das ist der Ort der Meinungsbildung; hier sollen wir Meinungen austauschen. Also bitte, hören Sie auch darauf, was wir als Opposition Ihnen sagen. Es werden noch viele kompetente Beiträge von Kollegen kommen, die auch gegen diese Mission sind. Also, hören Sie auf diese Argumente, ändern Sie Ihre Meinung und beenden Sie diese unsinnige Mission – investieren Sie das Geld lieber woanders –, und dann werden wir zu einem Konsens kommen. Vielen, vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage im Nahen Osten ist angespannt. Wir hoffen, dass die Waffenruhe von heute Nacht in Israel und im Gazastreifen hält. Aber angesichts der Eskalation der letzten Tage im Süden Israels ist es umso wichtiger, dass an der Grenze im Norden Israels zum Libanon die Lage ruhig bleibt. Der Wert der UNIFIL-Mission als Stabilitätsanker zeigt sich gerade in diesen Tagen. Der Libanon befindet sich in mehrfacher Hinsicht in einer Krise. Das Land spürt nach wie vor die Folgen der schweren Explosionen im Hafen von Beirut. Die Regierungsbildung verläuft weiter schleppend, die Coronapandemie kommt dazu, und Migrationsbewegungen wirken sich verschärfend auf die politische und die dramatische wirtschaftliche Lage im Libanon aus. Der Verfall der libanesischen Währung und das unveränderte Budget der libanesischen Armee beeinträchtigen die Kernaufgaben der Streitkräfte wie die Grenzkontrolle und die Bekämpfung des Terrorismus. Nach wie vor ist die libanesische Regierung nicht in der Lage, die Sicherung der eigenen Grenze zu Israel oder seiner Seegrenze vollständig in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Ja, der Libanon ist dafür verantwortlich, dringend benötigte politische Reformen einzuleiten. Aber er kann diese Krise nicht ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft überwinden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist das Ziel eines dauerhaften Waffenstillstandes zwischen Israel und Libanon, das wir weiter verfolgen. Dafür ist UNIFIL mit einem umfangreichen Mandat ausgestattet. Neben der Überwachung des Waffenstillstandes zwischen Israel und Libanon ist es ein Auftrag der Mission, den unkontrollierten Zufluss von Waffen nach Libanon zu verhindern. UNIFIL unterstützt die libanesischen Streitkräfte dabei, ein sicheres Umfeld für die Zivilbevölkerung zu schaffen und staatliche Aufgaben übernehmen zu können. UNIFIL bietet außerdem den nahezu einzigen Rahmen zur politischen Lösung offener Fragen zwischen Libanon und Israel, die sich ja trotz der Waffenstillstandsvereinbarung von 2006 noch immer miteinander im Kriegszustand befinden. UNIFIL wirkt zwischen den Parteien moderierend und deeskalierend – jeden Tag. Die Bundeswehr beteiligt sich seit der Einrichtung im Jahr 2006 an der maritimen Komponente von UNIFIL und leistet damit einen wirksamen Beitrag zur Stabilität in der Region. Unser Engagement ist von Libanon und von Israel ausdrücklich gewünscht. Der Beitrag der Bundeswehr besteht aus seegehenden Einheiten, aktuell der Korvette „Magdeburg“, aus Stabs- und Führungsunterstützungselementen in Zypern sowie aus Personal im UNIFIL-Hauptquartier und zur Führung der Maritime Task Force. Unsere Ausbildung der libanesischen Marine werden wir fortsetzen; denn wir haben hier viel erreicht. Die libanesische Marine ist mittlerweile in der Lage, ihre Hoheitsgewässer selbstständig mit der eigenen Küstenradarorganisation zu überwachen. Wir wollen diese Ausbildungserfolge sichern und weiter in praktische Fähigkeiten investieren. Zudem wird seit dem 15. Januar 2021 die UNIFIL-Flotte auf Bitte der Vereinten Nationen von einem deutschen Admiral geführt. Das unterstreicht unser besonderes Engagement für den Libanon und die Region. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausbildung durch das deutsche Kontingent, die Projekte im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative der Bundesregierung haben die Fähigkeiten der libanesischen Marine zweifellos verbessert. Deswegen wollen wir dieses Mandat fortsetzen. Unseren Soldatinnen und Soldaten, die sehr erfolgreich bei der Ausbildung der libanesischen Marine und bei den weiteren Aufgaben unseres Mandats gearbeitet haben, möchte ich sehr herzlich danken. – Sie möchte ich um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung dieses Beitrags bitten. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Christian Sauter das Wort. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! UNIFIL ist eine der ältesten UN-Missionen überhaupt. Die Dauer der Mission zeigt ihre besondere Stellung. Wie fragil die Sicherheitslage ist, das beweist die derzeitige Eskalation vor Ort ohne Zweifel. Der Raketenbeschuss der Hamas auf Israel ist auf das Schärfste zu verurteilen. Das Raketenabwehrsystem hat auf Israels Seite noch höhere Opferzahlen verhindert. Israel hat das unmissverständliche Recht, seine Bürger zu schützen und hierfür Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Hier kann und darf es keine zwei Meinungen geben. ({0}) So wurde Israel allerdings nicht nur aus Gaza angegriffen. Mehrfach sind auch aus dem Libanon Raketen abgefeuert worden. Von wem dies genau ausging, ist unklar. UNIFIL bestätigt den Beschuss. Israel ist zu Recht in Sorge um die weitere Eskalation im Norden, nicht zuletzt, da die Iran-nahe Hisbollah-Miliz bis an die Zähne bewaffnet ist und damit das Drohpotenzial der Hamas weit übertrifft. Die UNIFIL-Mission hat dementsprechend ihre Patrouillen im Südlibanon verstärkt. In Kooperation überstützt sie zur Vermeidung weiterer Angriffe die örtlichen Kräfte. Durch die konsequente Seeraumüberwachung und die andauernde Unterstützung und Ausbildung der libanesischen Sicherheitskräfte verhindern nach aktuellem Stand gut 130 beteiligte deutsche Soldaten Waffenschmuggel und unerlaubte Bewegungen auf hoher See. Den Waffentransport auf dem Landweg kann man damit jedoch aktuell nicht verhindern. Die Korvette „Magdeburg“ ist derzeit in UNIFIL eingemeldet. Mit Übernahme des Kommandos der Maritime Task Force am 15. Januar wurde die Stellung der deutschen Marine innerhalb der Mission unterstrichen. Zum ersten Mal wird sie von einem deutschen Admiral geführt, unterstützt von einem Stab, dessen größter Anteil aus deutschen Soldaten besteht, die nun im Hauptquartier in Naqoura und in Limassol ihren Dienst verrichten. Die deutschen Soldaten leisten in einer gefährlichen Situation einen hervorragenden Dienst. Hierfür gilt ihnen unser ausdrücklicher Dank. ({1}) Ihre Sicherheit muss oberste Priorität haben; auch daran darf kein Zweifel bestehen. Die Anerkennung des UNIFIL-Einsatzes zeigt sich aber auch in wiederholten Bitten Israels und des Libanon nach fortgesetzter Präsenz. UNIFIL als Vermittler im Dreiparteienmechanismus zwischen den israelischen und libanesischen Streitkräften ist einzigartig. Durch die Pandemie sowie anhaltende Regierungs- und Finanzkrisen droht die Zunahme der Instabilität im Libanon. Die Mission kann dem etwas entgegenwirken und so zur Sicherheit in der Region beitragen. Die seit Freitagmorgen geltende Waffenruhe ist eine gute Nachricht. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels und muss dies auch weiterhin klar und deutlich zeigen. Der Ausschussüberweisung stimmen wir zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Zaklin Nastic für Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der im Bundeskabinett beschlossene Antrag zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes der Mission UNIFIL liest sich wie ein neues Kapitel in Grimms Märchen. Wieder einmal begründen Sie den Einsatz damit, er würde dazu dienen, den Waffenschmuggel über den Seeweg zu verhindern. Mit Verlaub, Sie wissen doch, wie scheinheilig Ihre Behauptung hier ist, dass dies angeblich eine abschreckende Wirkung hätte und deswegen überhaupt noch nie bei einer Kontrolle dort Waffen gefunden wurden – mal abgesehen davon, dass es rein technisch wirklich unsinnig ist, die Vordertür schwer zu bewachen, während die Hintertür sperrweit offen steht. Es ist doch Ihr NATO-Bündnispartner Erdogan, der auch an diesem Einsatz beteiligt ist, der seit geraumer Zeit mit Waffen und Geld selbst im Libanon zündelt. Wir Linken sagen ganz klar: Beenden Sie endlich diesen unsinnigen Einsatz! ({0}) Meine Damen und Herren, während Sie erneut mit der Bundeswehr eine kostspielige geopolitische Marke im Mittelmeer setzen, droht im Libanon eine humanitäre Katastrophe neuer Art, die Millionen von Menschen ihre Heimat kosten könnte. Man kann sich leider auch nicht des Eindrucks erwehren: Sie schauen einfach zu, offenbar mit der Hoffnung, über eine Destabilisierung des Libanons doch noch mit der verheerenden Regime-Change-Politik gegenüber Syrien zum Zuge zu kommen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, wie in Ihrer Begründung steht, dass im Libanon, der sich in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem letzten Bürgerkrieg befindet, tatsächlich ein Bundeswehreinsatz zu dessen Stabilität beitragen könnte. ({1}) Wenn Ihnen wirklich etwas an der Stabilität des Libanons liegt, dann unterstützen Sie ihn doch bei der Versorgung von 1,5 Millionen Geflüchteten aus Syrien! ({2}) Ich frage Sie auch: Welche Initiativen haben Sie eigentlich unternommen, um den Hunderttausenden geflüchteten Palästinensern im Libanon eine Zukunftsperspektive zu bieten? Uns ist keine bekannt. Die Linke dringt auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik. Statt Bundeswehrsoldaten sollten Sie lieber Entwicklungshilfe nach Libanon schicken. Statt Rüstungsexporte in den Nahen Osten fortzusetzen, beenden Sie endlich diese! Damit wäre den Menschen dort geholfen. Das wäre ein wirklicher Beitrag zum Frieden im Nahen Osten. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Omid Nouripour das Wort. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! UNIFIL operiert auf Wunsch von Israel im Libanon. Wir erinnern uns sehr gut, dass UNIFIL im Jahr 2006 einen Krieg hat beenden können. Deshalb wird meine Fraktion diesem Einsatz zustimmen. Es ist erfreulich, zu sehen, dass es jetzt eine ausgehandelte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas gibt. Wir hoffen sehr, dass diese Waffenruhe hält, im vollen Wissen, dass der Status quo nicht haltbar ist und sehr viel mehr passieren muss, damit wir eine belastbare Friedenslösung bekommen. Aber wir sehen gleichzeitig ja auch, dass der Beschuss des Staates Israel eben nicht nur aus Gaza kam, sondern auch aus Libanon, und zwar von der Hisbollah, einer Terrororganisation, die bis zu 200 000 Raketen oder auch mehr hat und von der wir wissen, dass sie auch immense Unterstützung vom Iran bekommt. Auch deswegen ist es notwendig, sich dort zu engagieren, damit der Konflikt zwischen dem Staat Libanon und dem Staat Israel nicht weiter eskaliert. ({0}) Allerdings gibt es nicht nur die Bedrohung Israels, die von der Hisbollah ausgeht, und die aggressive Regionalpolitik der Hisbollah im Einklang mit dem Iran, beispielsweise in Syrien, sondern die Hisbollah hält auch die eigene Bevölkerung als Geisel. An ganz vielen Dimensionen sieht man das, beispielsweise daran, dass sie nicht alleine, aber maßgeblich derzeit dazu beitragen, dass die Regierungsbildung im Lande verunmöglicht wird. Ein Symbol dieses Würgegriffs der Hisbollah der eigenen Bevölkerung gegenüber war der Künstler Lokman Slim, den ich mehrfach treffen durfte, der, selbst aus dem Süden Beiruts kommend, seit Jahren die Missstände mit künstlerischen Aktionen anprangerte, mit lauter und unglaublich mutiger Stimme immer wieder darauf hinwies, welche Verbrechen die Hisbollah an den Menschen im Libanon begeht. Lokman Slim wurde am 4. Februar erschossen. Er war 58 Jahre alt. Ruhe er in Frieden. Ich finde, seiner Familie, seiner Frau schulden wir wenigstens einen klaren Aufruf und eine klare Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung dieses Mordes; denn dass es Gerechtigkeit gibt, ist das Mindeste, was wir an dieser Stelle von der Justiz einfordern müssen. ({1}) Aber es gibt viele andere Symbole in diesem Land. Es ist gerade auch vom Staatsminister dankenswerterweise darauf hingewiesen worden, dass das Symbol dafür, dass das Land am Abgrund steht, der Hafen von Beirut ist. Wirtschaftlich ist er unglaublich wichtig. Aber auch diese Explosion ist weit davon entfernt, aufgeklärt zu werden. Wir haben eine feste Vorstellung, wir wissen aber nicht hundertprozentig, wie es kommen konnte, dass so viele verschiedene Stellen im Staat versagt haben, dass die Chemikalien dort einfach so lange liegen bleiben konnten, bis es zur Katastrophe kam. Der Libanon ist politisch und wirtschaftlich am Abgrund: 40 Prozent Arbeitslosigkeit, 85 Prozent und mehr Währungsverfall. 90 Prozent der über 1 Million syrischen Flüchtlinge brauchen humanitäre Hilfe, 75 Prozent der gesamten Bevölkerung. Auch Covid grassiert auf dramatische Art und Weise. In dieser multiplen Krise, bei all dem Versagen der politischen Eliten des Landes, ist es notwendig, alles dafür zu tun, dass das Vertrauen der Menschen in die Staatlichkeit wächst. UNIFIL leistet auch mit der Ausbildungsmission einen wesentlichen Beitrag dazu. Das ist eine ganz schwierige und langwierige Mission. Deswegen aber, weil Libanon genau diesen Staatsaufbau braucht und weil die Menschen verdient haben, dass wir ihnen beistehen, damit sie ihr Vertrauen in ihre Staatlichkeit auch zurückgewinnen können, ist diese Mission wichtig, und wir stimmen ihr zu. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Nahe Osten ist ein Pulverfass, ein Pulverfass, über dem die Funken fliegen. Der Libanon ist ein fragiles, zerbrechliches Gebilde, gespalten in ethnische und religiöse Gruppen: in Sunniten und Schiiten, Maroniten und andere christliche Gruppen, Drusen, Palästinenser und syrische Flüchtlinge. Und egal wo man hinschaut: Es gibt Probleme und Konflikte. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Regierung schafft es nicht, sich neu zu bilden, die politische Führung denkt mehr an sich und die eigene Klientel als an das Wohl des Landes und seiner Menschen, die Währung verfällt, es herrschen Hunger und Not. Verschärft wird das Ganze durch die Coronapandemie und jüngst durch die Explosion im Hafen von Beirut. Es fehlt an Stabilität im Libanon. Hinzu kommt der aktuelle Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Es sind ja auch schon aus dem Libanon Raketen geflogen. Ich schreibe das in dem Falle aber eher den palästinensischen Flüchtlingen bzw. ihren Nachfahren zu als der Hisbollah, weil ich unterstelle, dass die Hisbollah besser getroffen hätte. Ein führender Hisbollah-Funktionär sagte am Montag: „Euer Kampf ist unser Kampf.“ Das sind Sätze, die nicht gerade beruhigen. Und auf einer Demonstration in Beirut wurde skandiert: „Tel Aviv, wir kommen!“ In dieser Situation braucht es Stabilität. In dieser Situation braucht es die Friedensmission der Vereinten Nationen dringender denn je. Die Mission UNIFIL ist seit Jahren ein Stabilitätsanker. Ich war 2008 selber als Oberleutnant zur See im Rahmen einer Reservedienstleistung Teil dieser Blauhelmtruppe, und ich kann sagen: Die Mission bringt Stabilität zu Wasser und zu Lande. Wir brauchen Stabilität im Nahen Osten, wo immer es geht. ({0}) UNIFIL schafft auch den Rahmen für eine politische Lösung, und UNIFIL stärkt die offizielle libanesische Armee. Die Stabilität liegt im deutschen Interesse. Dazu tragen unsere Korvette „Magdeburg“ und das Personal bei. Ich werbe für diese VN-Mission und bitte Sie, sie zu unterstützen. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte geht das Wort an Matern von Marschall von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Flagge des Libanon trägt die Zeder, dieses alte Symbol für Frieden und Gerechtigkeit. Davon ist dort leider wenig zu spüren. Gleichwohl ist es Ziel dieser Mission, ein wenig mehr Stabilität in dieses krisengeschüttelte Land zu bringen. Wenn, dann ist vielleicht die libanesische Armee die einzige überhaupt noch integrierende Kraft in diesem auseinanderfliehenden Land, in dem im Prinzip ja der sogenannte Konfessionalismus herrscht, also die sehr differenzierte Besetzung der verschiedenen Regierungsämter und des Amtes des Parlamentspräsidenten mit Angehörigen der verschiedenen Konfessionen, was es so schwierig und labil macht. Ich will die bedeutende Unterstützung bei der Ausbildung der libanesischen Marine – Staatssekretär Silberhorn hat darauf hingewiesen –, die ja auch ihre Wirkung zeigt, durchaus in einen Zusammenhang – insofern will ich auch die Kollegin Nastic korrigieren – mit unserem humanitären und entwicklungspolitischen Ansatz stellen, mit dem wir in diesem Land in ungeheuer umfassender Weise seit Jahren viel leisten, und zwar mit über 2,2 Milliarden Euro in der letzten Dekade, 750 Millionen Euro davon in der humanitären Hilfe; die übrigen Mittel kommen aus dem Entwicklungsministerium. ({0}) Nach dieser entsetzlichen Explosion im Hafen von Beirut, in diesem Ammoniumnitratlager, war sehr viel medizinische Versorgung notwendig. Ich habe mir noch einmal vor Augen geführt – um nur ein Beispiel zu nennen –, welche bedeutende Unterstützung hier etwa die Malteser geleistet haben. Deswegen ist es richtig, weil so viele Menschen gerade auch in der Pandemie medizinische Unterstützung benötigen, dass wir diesen Ansatz unterstützen, und zwar mit 30 Millionen Euro allein für die Arbeit der Malteser in den Jahren bis 2023. Das, finde ich, ist bedeutend. Stellen Sie sich zum Abschluss noch einmal dieses kleine Land nördlich von Israel vor: mit 10 000 Quadratkilometern nur ein Drittel so groß wie das Land Baden-Württemberg, 6 Millionen Einwohner, 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge, 500 000 palästinensische Flüchtlinge. Wenn man dieses Land in dieser Situation alleinlässt, wie es Die Linke und die AfD hier fordern, dann zeigt man seine wahre Haltung, nämlich absolute Verweigerung internationaler, globaler humanitärer Verantwortung. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Demokratie lebt davon, dass Menschen sie gestalten, dass sie sich beteiligen. Dabei werden sie die Demokratie verändern; die Demokratie wird sich weiterentwickeln. Und genau das ist ja das Großartige an Demokratie: dass sie niemals fertig ist und dass es keinen Endpunkt gibt, der zu erreichen ist. Autoritäre Systeme werden erschüttert durch Veränderung; Demokratien leben von ihr. Unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es, den Rahmen so zu setzen, dass alle Menschen sich ohne Hürden einbringen können. Auf drei Entscheidungen, die wir hier treffen sollten, gehe ich ein; es gibt aber noch viele mehr, die unter diesem Tagesordnungspunkt behandelt werden. Der erste Punkt: Unser Grundgesetz ändern. Selbst kleine Kinder können sich beteiligen. Es muss ihnen nur möglich gemacht werden. Wir müssen sie ernst nehmen. Genau deswegen wollen wir so sehr, dass Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung in unser Grundgesetz kommen. ({0}) Die öffentliche Anhörung am Montag hat genau das deutlich unterstrichen. Von vielen wird gern gesagt, ja, das sei wichtig; denn die Kinder seien ja unsere Zukunft. Ja, sind sie. Aber es geht gar nicht so sehr um die Zukunft. Es geht streng genommen noch nicht mal um uns, sondern es geht um die Kinder. Sie sind jetzt schon da, und sie wollen und sollen ihr Leben selbst gestalten, und zwar von Anfang an. ({1}) Zweitens: Demokratieförderung. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Sie ist oft harte Arbeit – gerade dann, wenn sie angegriffen wird, gerade dann, wenn Angriffen auf Demokratie und Menschenwürde der Nährboden entzogen werden muss. Das ist eine Daueraufgabe, und ihre Erfüllung muss dauerhaft gewährleistet werden, überall in unserer Republik. Dafür soll das Demokratiefördergesetz sorgen. Meinetwegen könnte es auch Wehrhafte-Demokratie-Gesetz heißen; Hauptsache, es stellt klar: Demokratiefördernde Arbeit und Prävention sind eine gesetzliche Verpflichtung – an jedem Ort, ohne Misstrauen gegenüber denjenigen, die diese wichtige Arbeit leisten, dafür gerne mit einem neuen Zweck: Demokratieförderung im Gemeinnützigkeitsrecht. ({2}) Drittens: die Absenkung des Wahlalters. Unbedingt! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen das und haben das ja auch schon in mehreren Bundesländern umgesetzt. Kleiner Funfact am Rande: In NRW, BaWü und Hessen, wo Ihre Kolleginnen und Kollegen, die heute hier das Wahlalter senken wollen, mitregieren, ist das Wahlalter auf Landesebene nicht gesenkt worden, obwohl es möglich wäre. Dass beispielsweise Jugendliche in Kommunen in BaWü ab 16 wählen können, hat Grün-Rot eingeführt. Mit Grün-Schwarz ist es keinen Meter weitergegangen. Schwarz und Grün oder Schwarz und Gelb ergeben für mehr Beteiligung offensichtlich keinen Aufbruch in bessere Zeiten. ({3}) Jugendliche sind nicht reif genug, können mit der Verantwortung nicht umgehen, und im Übrigen traf ich schon mal einen Jugendlichen, der nicht wählen wollte. – Alles schon gehört. Das Wahlrecht ist aber aus sehr guten Gründen an keine Voraussetzungen gebunden. Es mag vor 100 Jahren auch Frauen gegeben haben, die gar nicht wählen wollten. Das ist aber kein ausreichender Grund, das Frauenwahlrecht allen zu verwehren. ({4}) So ist es auch bei Minderjährigen: Wer wählen will, soll wählen können. Dabei ist aus meiner Sicht im Grunde jede Altersgrenze willkürlich. Zum Schluss teile ich noch eine Erinnerung mit Ihnen: Ein katholischer Bischof, wohlgemerkt, sagte mir bei einem Treffen, bei dem wir auch auf das Wahlalter zu sprechen kamen: Frau Rüthrich, bei uns können die Gremien auch von 14-Jährigen mitgewählt werden. Und wissen Sie was? Die katholische Kirche gibt es immer noch! ({5}) In dem Sinne – das ist vor allem an den werten Koalitionspartner gerichtet –: Nur Mut! Lassen Sie uns endlich dafür sorgen, dass alle Menschen mitmachen und mitbestimmen können! Es wird unserem Land guttun. Damit ein schönes Wochenende! ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Nicole Höchst, AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir beraten heute mehrere Anträge dieser Legislaturperiode, welche sich alle mehr oder weniger ehrlich dem Thema Bürgerbeteiligung widmen. Die Grünen fordern beispielsweise in ihrem fast bis zur Unkenntlichkeit und Unlesbarkeit gegenderten Antrag die Einrichtung sogenannter Bürger-Sternchen-Räte. Diese sollen am Gesetzgebungsprozess beteiligt werden. Aha! Das muss leider, wie sich gestern in der Stadtratssitzung in Speyer zeigte, als weiterer Versuch gewertet werden, grundgesetzlich verbriefte Demokratie umzuformen in eine Art Demokratiesimulation. Die vortragende Expertin selbst ging in der dargebotenen Präsentation explizit auf den Umgang mit sogenannten unerwünschten Ergebnissen ein. Danke, meine Damen und Herren Experten für Buntheit, Toleranz und Vielfalt, dass Sie im Vorfeld die Hosen derart runterlassen. ({0}) Ihnen geht es gar nicht um Bürgerbeteiligung in einem demokratischen Prozess. Ihnen geht es leider darum, den Bürgern mehr Beteiligung vorzugaukeln – absurdes Theater mit dem alleinigen Ziel, das vorher festgelegte Ergebnis auch zu erreichen. Wer gibt denn die Ergebnisse vor? Das deutsche Volk gewiss nicht. ({1}) Werte Antragsteller, warum sollten Jugendliche das aktive Wahlrecht zugesprochen bekommen, wenn sie selbst kein passives Wahlrecht besitzen? Kein 16-Jähriger darf Auto fahren oder branntweinhaltige Getränke kaufen, sich ohne Einwilligung der Eltern tätowieren lassen oder entscheiden, ob er eine Zigarette rauchen möchte oder nicht. Vor Gericht gilt das Jugendstrafrecht. Aber wegweisende Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft, die soll er treffen können? Das passt vorn und hinten nicht zusammen, meine Damen und Herren! Bürgerrechte sollten aus Sicht der AfD-Fraktion unbedingt mit Bürgerpflichten korrespondieren. ({2}) Meine Damen und Herren, wir leben in seltsamen Zeiten. Wir erleben in der heutigen Debatte die weitere Dekonstruktion des Begriffs „Demokratie“ durch Regierung und Antragsteller. Schon wieder. Bejubelt von einer Bestelljournaille, sogenannten Faktenfindern, NGO- und Stiftungsdemokratie, Zentralen für politische Bildung und auch durch die zum Teil steuergeldfinanzierte Zivilgesellschaft, zwängen Sie zum Zwecke der Demokratieförderung die öffentliche Meinung in den erwünschten Meinungskorridor. Bravo! Eine selbsternannte Sprachpolizei ächtet Begriffe, spricht Sprech- und Denkverbote aus. Dieser neuen exklusiven Demokratie scheint jedes Mittel recht zu sein: Demokratiestiftungen, Demokratieprojekte und wohl in Bälde auch Demokratiegesetze. Sie wähnt sich in ihrer Deutungshoheit unangreifbar. Wer sollte schon etwas gegen Demokratie haben? ({3}) Leider handelt es sich bei diesem Demokratiekonzept in Wahrheit um einen richtig heftigen Etikettenschwindel, nämlich um den schlecht versteckten Versuch, unliebsame Parteien, Organisationen, Medien, Ideen, Fakten und Personen aus dem demokratischen Spektrum durch Skandalisieren und Kriminalisieren auszugrenzen. ({4}) Ein ungeheuerlicher, ja fast tyrannischer Vorgang, meine Damen Herren! Denn dadurch werden praktisch Steuergelder zur Vernichtung der politischen Opposition auf allen Ebenen eingesetzt. Das ist die traurige Realität in Deutschland 2021, meine Damen und Herren. ({5}) Die Alternative für Deutschland ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die sich diesem ungeheuerlichen Vorgang widersetzt. Wir treten mutig gegen den epochalen Irrtum ein, Demokratie, Partizipation, Menschen- und Freiheitsrechte seien teilbar und durch eine Regierung zuteilbar. Für echte Bürgerbeteiligung und Volksentscheide nach Schweizer Vorbild sind wir zu haben, nicht aber für Ihren faulen Budenzauber. Herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Martin Patzelt. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir streiten uns hier trefflich über Demokratie. Um die Wege und die Möglichkeiten dieser Demokratie, so wie Frau Rüthrich das gesagt hat, für uns alle zu erhalten, bedarf es eines andauernden Bemühens. Ich neige dazu, keinem im Raum zu unterstellen, dass dies für ihn kein ernstliches Anliegen wäre. Es ist schade, wenn es zu solchen Unterstellungen kommt. Denn ich glaube, das bringt uns alle nicht weiter. Lassen Sie mich mal einen ganz anderen Aspekt beleuchten. Wir wissen, dass wir dieses hohe Gut schützen und erhalten müssen. Sein Bestand ist kein Selbstläufer; es wurde schon gesagt. Meine sehr tiefe und feste Überzeugung ist: Demokratie wird nicht gefestigt, wenn wir mit dem hohen Gut des Wahlrechts mit Blick auf die Wahl zum Deutschen Bundestag inflationär umgehen. Kein junger Mensch wird demokratiefähiger allein durch das Absenken des Wahlalters unter seine Volljährigkeit. ({0}) Vielmehr braucht es eine Kompetenz zum demokratischen Zusammenleben, die sich insbesondere durch die Fähigkeit zu Empathie, zu Toleranz und zu gewaltloser Konfliktlösung darstellt. Solche Fähigkeiten aber fallen nicht vom Himmel. Sie können auch nicht einfach in einem intellektuellen, zumeist ideologisch gefärbten Nachholprozess erworben werden. Hierbei spreche ich aus meinen DDR-Erfahrungen. Man hat dort insbesondere bei jungen Menschen mit hoher Intensität ideologische Beeinflussung vornehmen wollen, und das Ergebnis lag eigentlich fast bei null. Demokratiekompetenz ist das Ergebnis spezifischer Bedingungen im Sozialisationsprozess. Wenn ich mit meinen Erfahrungen für einige vielleicht etwas altbacken daherkomme, dann möchte ich auf die vielfältigen einschlägigen empirischen Forschungsergebnisse zur Bedeutung der frühen Kindheit für die Ausbildung von Empathie- und Bindungsfähigkeit, zur verantworteten Teilhabe am Zusammenleben verweisen. Drei der unerlässlichen Bedingungen möchte ich hier einmal benennen und mit persönlichen Erfahrungen bebildern: Erstens. Die Erfahrung von ungebrochener Liebe und Zuwendung in den ersten Lebensmonaten durch eine unverwechselbare Bezugsperson – vorzugsweise natürlich die Mutter, aber wenn das nicht möglich ist, durch eine andere unverwechselbare Bezugsperson –, die nicht durch ihr Fehlen oder ihr Weggehen irreversible Ängste auslöst. Zweitens. Die Erfahrung beispielhafter demokratischer Einstellungen und beispielhaften Verhaltens bei Bezugspersonen, vorzugsweise bei Eltern, Erziehern und Lehrern. Eine meiner ganz starken Erinnerungen ist das Erlebnis, als mein Vater mich auf die Schultern setzte und im Juni 1953 auf die Straße ging. Ich war als Kind dabei, und ich konnte mir erklären lassen, was er wollte und um was es ging. Ich habe nicht verstanden, dass sich meine Eltern so vehement weigerten, uns in staatliche Organisationen eintreten zu lassen. Später habe ich dies nachvollzogen. Aber immer war mein Elternhaus auch ein politisches Elternhaus, und ich konnte diesen Weg der Entwicklung und des Verständnisses langsam mitgehen. Drittens. Weitgehende und wachsende Angebote der Teilhabe an familiären und gesellschaftlichen Aufgaben, Rechten und Pflichten – nicht zugewiesenen Pflichten und Rechten, sondern beratschlagt und gemeinsam begründet unter der Wahrung der Gleichwertigkeit aller, die da verhandelt haben am Küchentisch oder am Abendbrottisch. Auch diese Erfahrung habe ich gemacht, welche ich später als Heimleiter in die Heimordnung übernommen habe. Dort musste ich mich vor den jungen Menschen verantworten, wenn sie mit meinem Verhalten nicht einverstanden waren. Dann konnten sie einen Erzieher ihres Vertrauens suchen, gemeinsam miteinander das Problem beraten und mich womöglich korrigieren.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und: die Übung des Diskurses von klein auf, liebe Kolleginnen und Kollegen, des Diskurses, der partnerschaftlich geführt wird. Wenn der nicht von Kindheit an eingeübt wird, dann können wir später mit noch so vielen teuren und guten Programmen arbeiten. Wir werden es nicht erreichen. – Wir als Politiker neigen, gerade beim Erleben schwieriger Ereignisse, zur schnellen Symptombekämpfung, vergleichbar mit der Feuerwehr. Dafür geben wir manchmal Millionen aus.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege, Sie sind eine Minute drüber.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch einen Satz sagen, Frau Präsidentin, den allerletzten; alles andere lasse ich aus. Von dem erheblichen Aufwuchs für das gute Programm „Demokratie leben!“ sollten viel mehr Projekte für die Unterstützung von hilfreichen Sozialisationsbedingungen profitieren und mehr für die Evaluation der Wirkung geförderter Projekte wie der empirischen Untersuchungen von Lebensläufen extremistischer Jugendlicher verwandt werden. Danke schön. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Dieser Satz wird abgefragt. Es geht weiter mit der FDP-Fraktion und dem Kollegen Grigorios Aggelidis. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Schade, dass wir heute all dies unter einem Tagesordnungspunkt zusammenfassen. Vieles kommt hier leider zu kurz, dabei ist jedes Thema sehr wichtig für unsere Demokratie und für alle Menschen, die mit ehrenamtlichem Engagement so viel leisten in unserem Land. Das Wahlrecht ab 16 Jahren ist eine alte FDP-Forderung und längst überfällig. Hier stimmen wir sehr gerne zu. ({0}) Lassen Sie mich nun zum Ehrenamt und zur Demokratieförderung kommen. Wir von der FDP-Fraktion wollen endlich konsequent das Ehrenamt unterstützen, fördern und vor allem entlasten. Wir schlagen zu Anfang fünf Punkte vor: Freiheit und Freibeträge für kleine zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine schaffen, bürokratische Hürden konsequent abschaffen, Chancen und Vorteile der Digitalisierung nutzen, Haftungsrisiken für ehrenamtlich Engagierte, vor allem in den Gremien, minimieren und Wertschätzung und Anerkennung durch ein Anerkennungsportal. Auf zwei Punkte gehe ich etwas genauer ein. Das größte Problem für bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt ist die nie enden wollende und immer stärker werdende Bürokratie. Sie führt dazu, dass Menschen vom Ehrenamt abgeschreckt werden. Das betrifft vor allem die Positionen, die Verantwortung bedeuten, nämlich in den Gremien und den Vorständen. Das müssen wir ändern, meine Damen und Herren. ({1}) Deshalb fordern wir unter anderem die Schaffung von klaren, praktikablen und lebensnahen gesetzlichen Regelungen, eine Abgrenzung zu Großvereinen sowie hauptamtlich geführten Vereinen und Organisationen hinsichtlich Auflagen und Vorgaben, Einführung einer Überprüfung von Regelungen und Gesetzen auf mögliche Auswirkungen für das Ehrenamt – quasi ein Ehrenamts- und Engagementcheck –, bundeseinheitliche einfache Arbeitshilfen und Richtlinien zum Umgang mit Gesetzen und Vorgaben, beispielsweise durch die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, und mehr digitale Verwaltungsverfahren. Die zweite Säule, die ich genauer ausführen möchte, ist ein Anerkennungsportal, das die ehrenamtliche Tätigkeit endlich belohnt und wertschätzt. Hier können diese Tätigkeiten erfasst und in ein Guthaben für vielfältige Leistungen umgewandelt werden. Dieses Guthaben soll aber im Gegensatz zu jetzigen Systemen auch noch abgerufen werden können, nachdem die ehrenamtlichen Tätigkeiten beendet worden sind. Diese Entfristung ist wichtig, weil viele Ehrenamtliche es während ihres Engagements zeitlich kaum schaffen, neben Beruf und gegebenenfalls Familie die Leistungen beispielsweise über eine Ehrenamtskarte in Anspruch zu nehmen. Kommen wir nun zum Thema Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz. Unsere Position ist: Für eine wehrhafte Demokratie brauchen wir Vielfalt der Vereine, Stiftungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und vor allem Freiheit. Wir wollen diese Vielfalt in einer lebendigen Bürgergesellschaft fördern; denn sie leistet einen elementaren Beitrag zu einer friedfertigen und lebendigen Demokratie. Wenn Vereine und Stiftungen staatliche Förderung bekommen, ist es für uns Freie Demokraten selbstverständlich, dass sie sich zu den Grundwerten unserer Verfassung vorbehaltlos bekennen, meine Damen und Herren. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, letzte Punkte. – Demokratiefördernde Maßnahmen vor Ort müssen wir evaluieren, um zu gewährleisten, dass sie wirksam und nachhaltig sind.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Den letzten Satz, bitte, Herr Kollege. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie sehen: Uns sind die Themen „Ehrenamt“ und „Demokratieförderung“ sehr wichtig. Daher haben wir nicht nur wichtige Anträge dazu eingebracht, sondern ein umfassendes Positionspapier beschlossen und es als einen Schwerpunkt ins Bundestagswahlprogramm aufgenommen. Helfen wir gemeinsam dem Ehrenamt, es als Bollwerk unserer Demokratie zu verstehen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin, den Kollegen haben Sie nach einer Minute aufmerksam gemacht.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Immer noch bestimmen das Präsidium und vor allem die Geschäftsführer vorher, wie lange die Redezeiten der einzelnen Redner sind. – Es folgt Herr Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, ich werde mich bemühen, die Zeit einzuhalten.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Aber Sie wissen: Mühe allein genügt nicht. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da haben Sie recht. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grüne und FDP haben hier mehrere Anträge vorgelegt, deren Inhalte meine Fraktion und ich in den vergangenen Jahren größtenteils so oder so ähnlich auch schon vorgelegt haben. Das Wahlalter bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre zu senken, ist überfällig. ({0}) Es gibt kein stichhaltiges Argument, warum 16-Jährige grundsätzlich weniger entscheidungsfähig sein sollen als 59-Jährige. Wir müssen daher dringend das Wahlalter absenken! ({1}) Weiterhin soll das Ehrenamt gestärkt werden. Auch das begrüßen wir ausdrücklich. Ohne die ganzen Initiativen und Vereine wären Kultur und Sozialleben nicht ansatzweise so vielseitig, wie es der Fall ist. Aber: Ehrenamtliche arbeiten teilweise in Bereichen, die nur existieren müssen, weil der Staat seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommt. Die Menschen tun dies gerne, und ich bin ihnen äußerst dankbar. Aber dass etwa Tafeln in einem reichen Land wie Deutschland notwendig sind, ist eine Schande. ({2}) Zudem soll ein Bürgerrat Demokratie als beratendes Gremium von Regierung und Parlament etabliert werden. Wir hatten gestern ein spannendes Fachgespräch dazu. Ich bin absolut dafür, dieses Konzept weiter zu verfolgen; denn es ist vielversprechend, um die Akzeptanz für politische Entscheidungen zu erhöhen. Doch dass die Beteiligung eines Bürgerrats Demokratie an der Wahlrechtskommission nach Intervention der Union wieder herausgestrichen wurde, lässt mich ahnen, wohin der Hase auch diesmal wieder läuft, nämlich in Richtung grundsätzlicher Ablehnung durch die Union. Denn obwohl es kein gutes inhaltliches Argument gibt, das Wahlalter nicht zu senken oder Bürgerräte nicht zu etablieren, so gibt es doch einen machtpolitischen Grund: Die Union will ihre Machtposition um jeden Preis halten. – Erstaunlich: Im Koalitionsvertrag hatten Sie noch die Einsetzung einer Kommission zu mehr Beteiligung der Bürger/‑innen angekündigt. Im August 2018 habe ich mich nach dem Stand erkundigt. Da wurde behauptet, man sei dabei, die organisatorischen und technischen Vorbereitungen zu treffen. Im September 2020, also ganze zwei Jahre später, habe ich dann nachgehakt, und es hieß: Ja, man sei in Gesprächen. – Bis heute ist nichts Substanzielles passiert. Also seien Sie doch bitte einfach ehrlich und sagen Sie, dass Sie die Themen „Beteiligung der Bürger/‑innen“ und letztlich auch „Vertrauen in unsere Institutionen“ gar nicht interessieren. Das ist ein Armutszeugnis! ({3}) Wofür Sie Ihre Machtposition nutzen, wurde uns die letzten Monate immer wieder verdeutlicht: Mit Maskendeals bessert man sich entweder selbst das Konto auf oder verschafft einer Unternehmensberaterin mit Parteibuch 50 Millionen Euro an Provision – direkt finanziert aus Steuergeldern; dazu die Nachrichten aus NRW. Insgesamt brauchen wir Mittel, um dies zu verhindern und den Diskurs zu befördern. Deshalb werden wir den vorliegenden Anträgen unsere Zustimmung nicht verweigern, sondern sie unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Frau Dr. Anna Christmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren haben auf Bundesebene erstmals zwei Bürger/‑innenräte stattgefunden: einer zu der Frage, wie wir unsere Demokratie weiterentwickeln, und einer zu Deutschlands Rolle in der Welt. – Das bedeutet, dass jeweils circa 150 Menschen ausgelost worden sind und gemeinsam Empfehlungen an die Politik erarbeitet haben. Ich glaube, das ist ein ganz besonderes Instrument. Deshalb schlagen wir Grüne heute die Institutionalisierung auf Bundesebene vor. ({0}) Mein Respekt gilt den Initiatorinnen und Initiatoren, die diese zwei Bürger/‑innenräte möglich gemacht haben, und auch dem Bundestagspräsidenten, der den zweiten dieser Bürger/‑innenräte unter seine Schirmherrschaft gestellt hat. Das war ein wichtiges Signal, das wir jetzt aufnehmen und die Etablierung dieses Instruments weiter vorantreiben sollten. ({1}) Wenn man mit den Menschen spricht, die dabei waren, bekommt man äußerst bewegende Eindrücke geschildert. Allein der Moment, in dem die Einladung zum Bürger/‑innenrat im Briefkasten landet, ist besonders. Erst denken manche, die das nicht kennen: „Was ist denn das? Irgendeine Werbung?“, und dann reift die Erkenntnis: Das ist eine echte Einladung zum Mitmachen in unserer Demokratie. Die eigene Expertise und Meinung ist gefragt. – Das ist wirklich ein besonderes Erlebnis von Demokratie. ({2}) Gestern in der Evaluationsvorstellung haben wir gelernt, dass diese Erfahrungen mit der Teilnahme an Bürger/‑innenräten sehr positiv sind. Denn wer aktiver Teil von Demokratie war, der weiß hinterher auch demokratische Aushandlungsprozesse und Kompromisse ganz anders zu schätzen und zu würdigen. Wer es einmal erlebt hat, der weiß, was das ausmacht. Deswegen sind wir überzeugt, dass es ein Beteiligungsgesetz braucht, das die Fragen klärt, die jetzt auf dem Tisch liegen, nämlich: Was machen wir eigentlich mit den Empfehlungen, die jetzt vorliegen? Dafür gibt es bisher keine Prozesse. Auch die Frage, welche weiteren Bürger/‑innenräte denn stattfinden sollen, stellt sich. Es braucht ein Beteiligungsgesetz, das diese Fragen klärt und Bürger/‑innenräte zu einem festen Bestandteil unserer Demokratie macht. ({3}) Ich möchte unseren Vorschlag heute auch als Einladung an Sie alle verstanden wissen; denn ich denke, es ist wichtig, dass wir als Parlament so einen Weg auch gemeinsam gehen und unsere Demokratie durch eine Weiterentwicklung stärken. Ich möchte heute auch mit einem Missverständnis aufräumen: Zum Teil kursiert ja die Einschätzung, dass mit Bürger/‑innenräten so etwas wie Gegenparlamente aufgebaut würden. Das Gegenteil ist der Fall. Bürger/‑innenräte sind eine echte Bereicherung der repräsentativen Demokratie. ({4}) Das zeigen alle Erfahrungen aus Deutschland, aber auch international. Sie sind gerade für politisch schwierige Fragen geeignet, bei denen eine Spaltung der Gesellschaft droht. Bürger/‑innenräte sind geeignet, Menschen zusammenzubringen; und das macht sie so wertvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Demokratie ist nicht statisch, sondern sie muss lebendig bleiben und sich weiterentwickeln, um zu bestehen. Dafür sind aus unserer Sicht natürlich nicht nur die erwähnten Bürger/‑innenräte ein wichtiges Instrument. Vielmehr muss auch das Wahlalter endlich auf 16 Jahre sinken. ({5}) Denn gerade junge Menschen brauchen das Signal, dass ihre Stimme wichtig ist. Wir wollen, dass sie Teil der Demokratie sind. Deswegen haben wir das zum Beispiel in Baden-Württemberg jetzt im Koalitionsvertrag verankert. Wir stehen für das Wahlalter ab 16. ({6}) Auch ein Demokratiefördergesetz ist natürlich überfällig, um Menschen verlässlich zu unterstützen, die sich für eine starke und wehrhafte Demokratie einsetzen. Mal hier und da ein Projekt zu fördern, reicht nicht aus, um der zunehmenden Verbreitung von Hass und Hetze und antidemokratischen Entwicklungen entgegenzutreten. Wir brauchen hier Verlässlichkeit, und der Bund muss endlich liefern. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Demokratie muss in den nächsten Jahren lebendiger werden. Wir sollten uns alle gemeinsam auf diesen Weg machen. Wir haben heute hier viele Vorschläge diskutiert, bei denen aus unserer Sicht dringend weiter an der Umsetzung gearbeitet werden muss. Ich appelliere an Sie und wünsche mir von uns allen, dass wir uns mit diesen Instrumenten intensiv auseinandersetzen und sie wirklich auf den Mehrwert für die Stärkung unserer repräsentativen Demokratie überprüfen. Ich hoffe, dass wir uns dann gemeinsam auf einen fruchtbaren Weg machen. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Ingrid Pahlmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Pahlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich stelle mal die These auf: Die effektivste Demokratieförderung ist die Ehrenamtsförderung. Demokratie lernt man nämlich am leichtesten und nachhaltigsten im Ehrenamt, beim bürgerschaftlichen Engagement. Beim Miteinander in einem Verein oder einem Verband, bei der Freiwilligen Feuerwehr, bei einer Initiative, beim Arbeiten vieler miteinander zum Wohle vieler lernt man einfach so nebenbei Rücksichtnahme, Respekt, Verlässlichkeit, das Geltenlassen anderer Meinungen ({0}) und Weltanschauungen. ({1}) Alle rund 30 Millionen Engagierten in unserem Land verdienen unseren allerherzlichsten Dank und unseren größten Respekt. ({2}) Weil ich um die Bedeutung und um die Unverzichtbarkeit des Ehrenamtes weiß und selber in der Hospizarbeit tätig bin, ist es mir eine große Freude und Ehre, im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement Mitglied und auch Obfrau für unsere Fraktion zu sein. In diesem Untergremium des Familienausschusses kämpfen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg in großer Einigkeit für engagementfreundlichere Rahmenbedingungen. In der Sitzung am vergangenen Dienstag haben wir den Tätigkeitsbericht des Unterausschusses beschlossen. Auf über 140 Seiten wird ausführlich beschrieben, mit wie vielen verschiedenen Aspekten von Engagement und Ehrenamt wir uns befasst haben, welche Experten wir in die Sitzungen einluden, um zu hören, was den Engagierten auf den Nägeln brennt und was ihr Tun beschwert. Um dem Thema mehr Raum und Aufmerksamkeit einzuräumen, so wie es das verdient hätte, hätte ich mir wirklich gewünscht, wir hätten den Tätigkeitsbereich hier im Plenarsaal in einer eigenständigen Debatte beraten können. ({3}) Das war der Wunsch des gesamten Unterausschusses. Leider ist die Tagesordnung der Plenarwoche mal wieder so voll, dass dies nicht möglich war. Deshalb nutze ich meine Redezeit hier, um den Unterausschuss und vor allen Dingen seine Themenfelder in den Fokus zu rücken. Sosehr wir im Unterausschuss auch kollegial an einem Strang gezogen haben, müssen wir doch konstatieren, dass dem Gremium in seiner jetzigen Konstellation durchaus manches an Durchschlagskraft fehlt. Viele Baustellen, die wir angehen müssen, um das Ehrenamt zu entfesseln, fallen eben in die Zuständigkeit anderer Ausschüsse, ob es nun der Finanzausschuss oder der Innenausschuss ist. Wir sind uns im Unterausschuss einig, dass wir dringend einen eigenständigen Vollausschuss brauchen, der auch eigene Beschlüsse fassen kann. Wir müssen die bisher breit aufgestellte Zuständigkeit für das bürgerschaftliche Engagement an einer Stelle bündeln, um den vielen Vereinen, Verbänden und Initiativen das Leben leichter zu machen; denn dass dies nötig ist, haben uns viele Gespräche gezeigt. Meine Uhr läuft ab; ich sehe es. ({4}) Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Wir haben für Erleichterungen im Steuerrecht und im Gemeinnützigkeitsrecht gesorgt, die Ehrenamtspauschale erhöht und vieles Weitere gemacht. Dennoch brauchen wir insgesamt mehr Power, mehr Aufmerksamkeit, um die Arbeit der Millionen Freiwilligen politisch zu flankieren. Deswegen noch mal mein Appell: Lassen Sie uns das demokratische Miteinander stärken und nach der Bundestagswahl einen Vollausschuss Bürgerschaftliches Engagement einrichten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, und ich danke der Präsidentin für 16 Sekunden mehr Redezeit. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ihre Uhr läuft gewiss noch nicht ab. ({0}) Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Helge Lindh. ({1})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Die AfD läuft sich wieder warm. Auf meine Groupies kann ich mich immer verlassen. Vielen Dank. ({0}) Ich habe Sie auch gehört, das Protokoll auch, aber das Publikum leider nicht. Egal, fangen wir an. Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle die Debatte über Demokratie noch ein bisschen radikalisieren und auch emotionalisieren. Natürlich ist Demokratie ein Selbstzweck und ein Wert an sich. Es geht um Institutionen und Verfahren, aber es geht auch um mehr. Deshalb ist es dringend notwendig, in den Blick zu nehmen, dass wir so etwas wie eine gemeinsame Welt produzieren in einer Gesellschaft, die zusehends auseinanderfliegt. Deshalb brauchen wir – das wurde hinreichend begründet – das Demokratiefördergesetz, und zwar schneller und konsequenter denn je. ({1}) Deshalb benötigen wir auch Bürgerräte – wir haben als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein eigenes Konzept dafür – bei brisanten Themen, ohne uns aber von den Fragen der direkten Demokratie zu verabschieden. Wir sehen das als Gesamtkunstwerk, aber eben nicht als Instrument, um stark Beteiligte noch besser zu beteiligen und die ohnehin schon Abgehängten noch mehr abzuhängen. Das würde wenig Sinn machen. ({2}) Deshalb brauchen wir auch ein Wahlrecht ab 16. Und wir brauchen Parität auch in diesem Hause, ({3}) und wir brauchen mehr Diversität in diesem Hause. Wir brauchen endlich auch ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer. ({4}) Denn es ist – auf Deutsch gesagt – eine ziemliche Sauerei und ein Verrat an vielen Menschen, die dieses Land mit aufgebaut haben, dass sie bis zum heutigen Tag immer noch nicht in der Kommune wählen können. Das leitet uns, glaube ich, weiter zu den Fragestellungen, die die zentralen sein sollten, jenseits der konkreten Institutionen und Instrumente. Wenn wir feststellen, dass in einzelnen Wahlbezirken unserer Wahlkreise Tausende ihre Stimme abgeben, in anderen Wahlbezirken aber nur Hunderte, dann stimmt etwas nicht. Dann ist das der eigentliche demokratische Skandal. Denn damit ist das Stimmgleichgewicht nicht mehr gegeben. Wir erleben, dass ein Teil der Bevölkerung faktisch nicht mehr teilnimmt am demokratischen Prozess. Das ist die Frage, die wir in den Mittelpunkt stellen sollten. Wir müssen uns auch überlegen, dass viele Angebote, die wir machen, von denjenigen, die nur den Mindestlohn haben oder sich leicht darüber bewegen, nicht wahrgenommen werden, weil sie abends viel zu erschöpft sind, um zu einer Beteiligungsveranstaltung oder zu einer Diskussion über den Bürgerhaushalt gehen zu können. Aber sie sind genau diejenigen, die die Demokratie brauchen, und ihrer haben wir uns anzunehmen. ({5}) Wir sollten uns auch einmal die Frage der Demokratie im Betrieb stellen. In meiner Heimatstadt Wuppertal beschließt gerade das Riesenunternehmen Schaeffler, um sein Milliardenvermögen zu bewahren, was in Wirklichkeit nicht besonders gefährdet ist, über 700 Familienexistenzen in den Orkus zu jagen, Lebensleistung damit nur zur Optimierung des Ertrages zu vernichten, –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– obwohl es Antworten darauf gibt in Form der Mitbestimmung. Auch das ist eine eklatante Verletzung von Demokratie. Genau an diese Menschen im Betrieb von Schäffler, die ich eben genannt habe, an diejenigen, die nicht wählen gehen, an diejenigen, die arm sind oder sich knapp oberhalb der Armutsgrenze bewegen, haben wir zuallererst zu denken, wenn wir von Demokratie sprechen. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Zum Schluss der Debatte hören wir Philipp Amthor von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es an der Vielgestaltigkeit gehört. Wir debattieren eine ganze Reihe verschiedener Anträge zur Stärkung der Demokratie, zur Stärkung des Engagements. Um das Verbindende herauszustellen: Ja, ich glaube, wir sind uns überwiegend einig, dass gerade in diesen Zeiten unsere Demokratie unter Druck steht, dass wir eine wehrhafte Demokratie brauchen, dass wir Initiativen zur Stärkung des Engagements in unserer Demokratie brauchen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch Anlass für Widerspruch aus meiner Fraktion, und dafür möchte ich zwei Punkte aufgreifen: die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 und einige Töne, die wir hier zum Demokratiefördergesetz gehört haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nicht überraschen: Wir lehnen eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 für den Bundestag weiterhin ab. Es geht darum, dass wir eine Kohärenz in unserer Rechtsordnung brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es nach wie vor einfach widersprüchlich, dass man den Deutschen Bundestag wählen soll und gleichzeitig ohne Zustimmung der Eltern keine rechtswirksamen Verträge abschließen kann. ({0}) Das passt doch nicht zusammen. Rechte und Pflichten, Freiheiten und Verantwortung müssen eine Einheit bilden. Das gilt für uns auch im Wahlrecht. ({1}) Ich will vor allem sagen: Durch diese Polarisierung und das Zuspitzen nur auf den Wahlakt selbst, verkennen Sie eines: Engagement junger Leute in der Politik bedeutet so viel mehr als nur den Wahlakt. ({2}) Als ich mich mit 16 in der Jungen Union engagiert habe, meinen ersten Bundestagswahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern mit meinem Amtsvorgänger geführt habe, durfte ich am Ende dieses Bundestagswahlkampfes selbst nicht wählen. ({3}) Ich wäre aber im Traume doch nicht darauf gekommen, deswegen zu sagen: Ich engagiere mich nicht mehr in der Politik. Es geht nicht nur um den Wahlakt; es geht darum, wie wir das breite Interesse junger Menschen inhaltlich einbinden. Deswegen wünsche ich mir, dass wir auch in der Wahlrechtsreformkommission mehr darüber reden und es nicht nur auf diese Altersfrage reduzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Ich möchte aus aktuellem Anlass noch etwas zum Thema Demokratiefördergesetz sagen. Hier neigt man ja immer zu einem Etikettieren und glaubt, die wehrhafte Demokratie könne man einfach durch Überschriften erreichen. Ich möchte das auch in Richtung der Sozialdemokraten sagen, weil es in den letzten Wochen einige heftige Angriffe auf die Innenpolitiker meiner Fraktion gab. ({5}) Unsere frühere Familienministerin Franziska Giffey hat gesagt: Man kann nicht Halle, Hanau und Chemnitz beklagen und dann ihr wehrhaftes Demokratiegesetz blockieren. – Ich kann sagen: Das ist scheinheilig; denn eine wehrhafte Demokratie erreicht man nicht durch irgendwelche Gesetzesetikette, sondern man erreicht sie, indem man wehrhafte Sicherheitsbehörden schafft. ({6}) Man kann nicht Hanau, Halle und Chemnitz kritisieren und gleichzeitig moderne Sicherheitsgesetze blockieren, wie wir es hier in Teilen des Parlaments erleben. Deswegen weise ich diese Kritik auch im Namen unserer Fraktion zurück. Die Diskussion setzt sich fort. – Herzlichen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verspreche, es wird etwas weniger polarisierend, aber nicht weniger wichtig. Wir alle kennen es: Man öffnet den Briefkasten, und es fällt einem ein Stapel von Prospekten entgegen, von denen wir die allermeisten weder bestellt haben noch lesen wollen. Deshalb haben die Zivilgerichte unseres Landes in ständiger Rechtsprechung als Ausdruck der Grundrechte der Bürger auch einen Unterlassungsanspruch auf unerwünschte Werbung anerkannt. Die allermeisten Bürger drücken diesen Anspruch aber nicht durch eine komplizierte Erörterung von Grundrechten aus, sondern schlicht durch einen Aufkleber „Keine Werbung“. Das finden wir gut, und das soll grundsätzlich auch so bleiben. Aber es gibt einen besonderen Fall, in dem diese Aufkleber immer wieder für Rechtsunsicherheit sorgen, und das ist der Einwurf von politischer Wahlwerbung in der heißen Wahlkampfphase. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, politische Werbung ist ein elementarer Bestandteil politischer Willensbildung. Sie steht in einem direkten Zusammenhang mit demokratischer Legitimation, und sie stellt aktives Mitgestalten am politischen Willensbildungsprozess dar. Wir wollen, dass das in der heißen Wahlkampfphase ermöglicht wird, und wir sehen, dass dabei ein Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen notwendig ist. Natürlich ist klar: Auch politische Wahlwerbung kann unerwünscht sein. Und es ist natürlich auch ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht der Bürger, dass sie über Inhalte nicht informiert werden müssen und möchten. Etwas metaphorisch kann man davon sprechen, dass es natürlich auch einen grundrechtlichen Schutz unserer Briefkästen gibt. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass die Wahlwerbung Bestandteil der Rechte der Parteien ist, dass es Ausdruck der Meinungsfreiheit der Parteimitglieder ist, für ihre Interessen zu werben. Wir finden, dass diese Rechte miteinander in den Ausgleich gebracht werden müssen und legen deshalb heute eine Novellierung des Parteiengesetzes vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben seit Jahren eine unsichere Rechtslage. Unter Berufung auf diese kleinen Schilder „Keine Werbung“ haben einige Bürger versucht, vor den Zivilgerichten Unterlassungsansprüche gegen die Parteien zu erwirken – teilweise erfolgreich, teilweise nicht erfolgreich. Aber ich finde – und das liegt doch in unser aller Interesse –, dass wir es nicht unseren ehrenamtlichen Wahlkampfhelferinnen und Wahlkampfhelfern überlassen können, vor dem Einwurf einer Wahlwerbung noch zu überlegen, wie jetzt die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Bremen oder des Kammergerichts Berlin aussieht. Vielmehr müssen wir hier Rechtssicherheit schaffen. Ich finde, diese Klarstellung haben auch die fleißigen Menschen im Wahlkampf für unser aller Parteien verdient, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir lösen das durch den Grundsatz eines faktischen Duldungszwangs für Wahlwerbung in Wahlkampfzeiten. Warum sage ich „faktischer Duldungszwang“? Weil wir uns nicht entschieden haben, das Ganze im Zivilrecht zu lösen, sondern weil wir uns entscheiden, hier eine allgemeine öffentlich-rechtliche Klarstellung im Parteienrecht vorzuschlagen. Dort soll künftig eine klarstellende Regelung getroffen werden, die explizit Wahlwerbung in Wahlkampfzeiten erlaubt und damit einen Abwägungsmaßstab schafft für die Gerichte, für die Ordnungsbehörden und die im Übrigen auch deutlich macht, dass wir es aus demokratietheoretischen Gesichtspunkten nicht richtig finden, dass einzelne Gemeinden sich zu wahlwerbefreien Zonen erklären wollen. Wir haben damit einen entscheidenden Vorschlag für mehr Rechtssicherheit gemacht, der aber auch die Interessen der Bürger kennt und natürlich Grenzen setzt. Wir haben drei Beschränkungen vorgesehen. Erstens soll dieser Duldungszwang nur möglich sein, wenn es um Wahlwerbung von Parteien und Wahlvorschlagsträgern geht, die zu einer Wahl zugelassen sind und für diese Wahl Wahlvorschläge eingereicht haben. Zweitens soll diese Regelung nur auf den Zeitraum des Wahlkampfes erstreckt werden, also unmittelbar auf die zwei Monate vor dem Wahltermin. Drittens bleibt inhaltlich klar: Die Wahlwerbung muss sich natürlich ihrerseits in den Grenzen der Rechtsordnung bewegen. Deswegen sei auch die Angst genommen: Niemand muss Hetze und Extremismus in seinem Briefkasten hinnehmen, und explizite Ausschlüsse wie zum Beispiel der Hinweis „Keine NPD-Wahlwerbung“ bleiben natürlich richtig und zulässig. Ich sage aber auch: Wichtiger als ein Ausschluss von Meinungen im Sinne eines Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens bleibt in der wehrhaften Demokratie natürlich die Auseinandersetzung mit politischen Meinungen. Die kann man von uns in jeglicher Hinsicht erwarten. Wir haben heute einen Vorschlag gemacht für eine ausgleichende Regelung, für ein Mehr an Sicherheit für alle Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer. Wir finden, das ist eine Ergänzung, die gut ist: gut im Sinne von Rechtssicherheit, aber auch gut im Sinne von Demokratie. Wir werben um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Fabian Jacobi. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungsfraktionen legen uns einen Gesetzentwurf vor, mit dem in das Parteiengesetz ein einzelner unscheinbarer Satz eingefügt werden soll. Die praktische Konsequenz, auf die dieser Satz abzielt, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung. Bislang ist es nicht mit letzter Eindeutigkeit klar, ob das an einem Briefkasten angebrachte Schild „Werbung verboten“ auch auf die Druckerzeugnisse bezogen werden muss, die Parteien vor einer Wahl zum Zwecke der Information über ihr Programm und ihre Kandidaten verteilen oder verteilen lassen. Der Gesetzentwurf möchte das in der Weise auflösen, dass zwar nicht immer und ständig, aber doch in Wahlkampfzeiten der Einwurf von Wahlwerbematerial gestattet sein soll. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil es schließlich so was wie ein – auch rechtlich anerkanntes – Recht am eigenen Briefkasten gibt, demzufolge ein jeder sich den Einwurf von unerwünschter Werbung verbitten und dies notfalls auch gerichtlich durchsetzen kann. Der Gesetzentwurf sieht das wohl. Er beruft sich darauf, dass auch die Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes vom Grundgesetz vorgesehen ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass es angemessen sei, dieses Rechtsgut in gewissen engen Grenzen hier überwiegen zu lassen. Das ist durchaus nicht zwingend. Wir halten es aber angesichts der sehr geringen Intensität des Eingriffs für vertretbar und werden dem Gesetz wohl zustimmen. ({0}) Indem der Gesetzentwurf den Artikel 21 des Grundgesetzes und die darin verbriefte Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes anspricht, gibt er jedoch Anlass, noch eine weitere Problemlage in den Blick zu nehmen. Zu den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Parteien richtet, gehört es, dass sie sich nicht nur nach außen an der Demokratie beteiligen, sondern sich auch selbst demokratisch organisieren. Das bedingt die Notwendigkeit der Abhaltung von Parteitagen, wie es das Parteiengesetz ja auch vorschreibt. Auch die vom Gesetzentwurf hervorgehobene Beteiligung an Wahlen setzt die vorherige Abhaltung von Versammlungen zur Aufstellung von Kandidaten voraus. Parteien müssen also, um ihre verfassungsmäßig vorgesehene Funktion zu erfüllen, Versammlungen abhalten können. Dies ist leider in der Praxis nicht in dem wünschenswerten Maß gewährleistet. Leider kommt es in Deutschland seit einigen Jahren vermehrt vor, dass private Vermieter von Extremisten dergestalt unter Druck gesetzt, teilweise geradeheraus bedroht werden, dass sie sich – obwohl grundsätzlich zu einer Vermietung bereit – aus Gründen des Selbstschutzes dazu nicht mehr in der Lage sehen. In dieser Situation kommt den Trägern öffentlicher Gewalt, die über geeignete Räumlichkeiten verfügen können, eine besondere Verantwortung zu, die von Verfassung und Gesetz geforderten Versammlungen zu ermöglichen. ({1}) Leider wird diese Verantwortung aber nicht in allen Fällen, wo dies nötig wäre, hinreichend gesehen. Ganz im Gegenteil: Teilweise werden Vorwände gesucht, um sich ihr zu entziehen. Der vorliegende Gesetzentwurf sollte daher um eine Lösung auch dieses Problems erweitert werden. Gerne werden wir die Beratung im Ausschuss dazu nutzen, dies in Angriff zu nehmen, und freuen uns schon auf konstruktive Beiträge der anderen Fraktionen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Der Kollege Mahmut Özdemir hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1 ({0}) Deshalb folgt jetzt Linda Teuteberg von der FDP-Fraktion. ({1})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den die Koalition hier vorlegt, nennt sich „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze“. Entgegen manchem Vorurteil haben Parteien in unserer Verfassungsordnung eine herausragende Rolle. Sie sind nicht lästiges Übel, sondern sie sind aus gutem Grund, aus historischer Erfahrung, ein wichtiger Akteur in unserer Demokratie. Sie sind für die politische Willensbildung und auch für die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat verantwortlich. So wie Parteien manchmal fälschlicherweise als lästig empfunden werden, so ist es manchmal auch mit Wahlwerbung. Auch diese ist aber essenziell für unsere Demokratie; ({0}) denn der Wettbewerb, der Austausch, die Auseinandersetzung über verschiedene politische Positionen setzen Information voraus. Insbesondere jetzt, in den Zeiten der Pandemie, hat das eine ganz besondere Bedeutung. Wenn man Menschen nicht direkt bei Veranstaltungen begegnen kann, ist der Austausch in Wort und Schrift erst recht besonders wichtig. Es geht hier auch um Aufgabenerfüllung in der Demokratie, um Meinungsaustausch und, lieber Kollege Amthor – ich habe es richtig verstanden; aber ich würde sogar weitergehen –, auch die Wahlwerbung ist in Wahrheit im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie ein Interesse am Bestehen unserer Demokratie haben. ({1}) Deshalb besteht in der Zulässigkeit von Wahlwerbung nicht per se ein logischer Gegensatz zu den Interessen der Bürger, auch wenn sie im Einzelfall bestimmte Werbung nicht haben wollen. Vielmehr können wir dem zum Beispiel mit der zeitlichen Begrenzung Rechnung tragen. Das Anliegen ist unbedingt wichtig. Um das, was manchmal als lästig empfunden wird, beneiden uns viele Menschen in anderen Teilen der Welt: frei und geheim wählen zu können und die Geschicke unseres Landes zu bestimmen. ({2}) Wir unterstützen daher grundsätzlich das Anliegen des Gesetzentwurfes, für eine lebendige, ehrenamtlich organisierte Parteiendemokratie die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist im besten Sinne Daseinsvorsorge für die Demokratie. Wir haben aber einige konkrete Fragen zu dem Gesetzentwurf, und das wird in den Beratungen zu klären sein. Denn: Was verstehen wir alles unter Wahlwerbung? Warum spricht das Gesetz davon, etwas zuzulassen, statt einfach mit dem Begriff Zulässigkeit als einer Art zivilrechtlicher Klarstellung zu arbeiten? Welchen Regelungen soll die Norm vorgehen? Und nicht zuletzt: Ist das Anliegen eigentlich wirklich in § 5 des Parteiengesetzes richtig verortet? Das alles können wir aber in den weiteren Beratungen klären, und das sollten wir tun. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute mit kleinen, aber wichtigen Änderungen des Parteiengesetzes. Diese sollen politische Wahlwerbung für die Parteien erleichtern, die bei Wahlen mit eigenen Wahllisten antreten. Die Erleichterungen betreffen den Zeitraum von ein bis zwei Monaten vor dem Wahltermin, also die Zeit des heißen Wahlkampfes. Aus meinen bisherigen Beteiligungen an den Wahlkämpfen meiner Partei kenne ich nur zu gut die zahlreichen Aufkleber auf den Briefkästen: keine Werbung. – Natürlich habe ich dann in diese Briefkästen keine politische Wahlwerbung eingelegt, ({0}) aber mich zugleich über die pauschale Gleichsetzung politischer Wahlwerbung mit dem klassischen Verkaufsprospekt der Waren- oder Supermarktketten geärgert. ({1}) Dass hier eine Gleichbehandlung erfolgt, beruht auf Entscheidungen, die das OLG Bremen im Jahr 1990 auch auf die politische Wahlwerbung übertragen hat, was ich übrigens in der Gleichsetzung immer schon für falsch gehalten habe, da es komplett die verfassungsrechtliche Bedeutung der demokratischen Willensbildung durch die Wahlwerbung und die grundgesetzliche Rechtsposition der Parteien verkennt. Deshalb begrüßt Die Linke die Klarstellung im Parteiengesetz, die es erlaubt, im Rahmen des direkten Wahlkampfes Wahlwerbung auch in die Briefkästen einzulegen, die den kleinen Aufkleber „keine Werbung“ aufweisen. Zutreffend verweist der Entwurf auf die Abwägung zwischen privatrechtlichen Abwehrinteressen gegen unerwünschte Werbung und dem öffentlichen Interesse an demokratischer Willensbildung. Ich halte es auch für geboten, in diesem Abwägungsprozess den öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Information der Bevölkerung als Grundlage der demokratischen Wahlentscheidung höher zu gewichten als den Anspruch auf Nichtbefassung mit politischen Inhalten. Durch diese Gesetzesänderung kann nun auch in Bielefeld durch meine Parteimitglieder – und auch ich selber kann das tun – wieder umfassend Wahlwerbung in die Briefkästen eingelegt werden. ({2}) Ich habe zu Beginn deutlich betont: Wir, Die Linke, werden diesen Gesetzentwurf unterstützen. Wir warten aber im Ausschuss noch auf bestimmte Erklärungen und Nachjustierungen. Und wir warten auf andere Änderungen des Parteiengesetzes. Wann wollen Sie endlich Parteispenden durch Konzerne und Verbände verbieten? ({3}) Wann wollen Sie endlich diese unsäglichen Spendendinner à la Spahn verbieten? Wann wollen Sie endlich vollständige Transparenz bei Nebentätigkeiten von Abgeordneten herstellen? ({4}) Und wann werden Sie endlich die Kontakte von Lobbyisten in Gesetzgebungsverfahren vollständig und verpflichtend offenlegen? An meinen Fragen merken Sie: Es gibt viel zu tun. Wir als Fraktion werden hier auch in der nächsten Legislaturperiode nicht lockerlassen. Das sind wir unserer Überzeugung und unseren Wählerinnen und Wählern schuldig. ({5}) Ich bedanke mich und will zum Abschluss noch einmal meinen Lieblingsverein, den DSC Arminia Bielefeld, grüßen. ({6}) Ich bedanke mich für eine tolle Saison, und ich wünsche morgen viel Erfolg in Stuttgart. Ihr habt es verdient, Jungs! Ihr seid richtig klasse! Danke. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das war innerhalb der Redezeit und völlig in Ordnung. – Das Wort geht an Britta Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ich Arminia-Bielefeld-Fan bin und eine Stehplatzdauerkarte habe, weiß ja jeder, ({0}) und für wen ich morgen bin, ist auch klar. Aber jetzt geht es um den Gesetzentwurf zum Parteiengesetz. Meine Damen und Herren, anders als die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, SPD und die der Linken und der FDP haben wir mit diesem Gesetzentwurf erhebliche Schwierigkeiten. ({1}) Aus unserer Sicht ist es so, dass Sie mit Ihren unbestimmten Änderungen drohen, einen Flurschaden im Parteiengesetz anzurichten, der weitgehende Auswirkungen hat. Die Regelung ist im Wortlaut so unbestimmt, dass sogar Private generell Adressaten sein könnten. Ich müsste also an meinem Gartenzaun theoretisch grundsätzlich – so der Gesetzestext – demnächst Wahlwerbung zulassen. Man muss Ihren Gesetzentwurf so lesen, dass die gesamte öffentliche Gewalt verpflichtet ist, ihre Einrichtungen in Wahlkampfzeiten den Parteien grundsätzlich zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, das ist grotesk; anders kann man es nicht sagen. Als Beispiel für die chaotische Regelung im Entwurf zitiere ich diesen Satz: Die Regelung richtet sich an die Träger hoheitlicher Gewalt, also auch an Gerichte und an die Bürger, die in ihrer staatsrechtlichen Stellung als Aktivbürger nach Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes in Wahlen Staatsgewalt ausüben … und im Wahlkampf am Prozess der politischen Willensbildung des Volkes teilhaben. Bürger/-innen als Träger hoheitlicher Gewalt sind also den Parteien gegenüber an Artikel 21 Grundgesetz gebunden? Das ist doch Irrsinn! ({2}) Die Regelung geht tatsächlich weit, weit über die Postwurfwahlsendung hinaus. Sie ist vom Wortlaut her so unbestimmt, dass sogar Private generell Adressaten sein können. Auch das Beispiel, das zeigt, wie sich das Ganze denn im Hinblick auf die Einrahmung des eigenen Grundstückes – beispielsweise Gartenzaun – verhält, fällt nach dem Gesetzestext grundsätzlich unter die zu duldende Wahlwerbung. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, hier einen solch unbestimmten Gesetzentwurf vorzulegen! Durch die entscheidende Erweiterung der Reichweite des § 5 – den werden wir uns in der Anhörung noch genauer anschauen – wird wirklich klar, wie weit Sie hier gehen wollen. Die Verpflichtung, den Parteien kostenlos Wahlwerbung im Rundfunk zu erlauben, ist ein weiterer Punkt, der hochproblematisch ist; auch darüber müssen wir in der Anhörung diskutieren. Sie setzen sich mit dem Gesetzentwurf kurzerhand über den Willen der Bürger/‑innen hinweg, die an ihrem Briefkasten den Aufkleber „Hier bitte keine Werbung einwerfen“ haben. Überlassen Sie es doch dem Souverän, dem Bürger, der Bürgerin, selbst zu entscheiden, ob sie Parteienwerbung entgegennehmen möchten oder nicht, und handeln Sie nicht mit einem derart unbestimmten Gesetzentwurf. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Zum Abschluss der Debatte redet Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, im Parteiengesetz die politische Werbetätigkeit der Parteien zwei Monate vor einer Wahl grundsätzlich zuzulassen. Die verfassungsrechtliche Dimension unseres Gesetzentwurfes ist durch zwei Prinzipien gekennzeichnet: zum einen durch das Demokratieprinzip als Verfassungskern und zum anderen durch die Regelung, dass Parteien an der Willensbildung mitwirken. Das bedeutet für uns, dass dieser wichtigen Aufgabe von Parteien, nämlich klarzumachen, dass demokratische Wahlen durchgeführt und vorbereitet werden, ein besonderer Rang im Verfassungsgefüge zukommt. Ich denke zunächst einmal an all die ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, die vor der Frage stehen: Kann ich jetzt einen Wahlprospekt meines Kandidaten in einen Briefkasten einwerfen, der beschriftet ist mit „keine Werbung“, oder darf ich das nicht? Hier besteht eine Rechtsunsicherheit. Wir wollen diese Rechtsunsicherheit beseitigen, und zwar zugunsten der Demokratie und einer allgemeinen Haltung, dass zumindest kurz vor Wahlen Wahlwerbung möglich sein muss. Ich meine, dass die Wahlwerbung nicht ohne Weiteres unter den Begriff der Werbung gefasst werden kann. Das ist auch eine Frage des Aufkommens. Heutzutage gibt es kostenlose Wochenzeitschriften, mit denen beinahe im Tagesrhythmus die Briefkästen bestückt werden. Es macht einen Unterschied, ob Sie innerhalb eines Jahres 50, 100, 150, 250 Prospekte aus Ihrem Briefkasten nehmen oder ob Sie kurz vor einer Wahl in einem ganz begrenzten Zeitraum über Ihre Kandidaten im Wahlkreis informiert werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied, und da müssen wir deutlich machen: Wahlwerbung hat nichts mit kommerzieller Werbung zu tun. ({0}) Das ergibt sich übrigens auch aus einer verfassungsrechtlichen Betrachtung. Das Recht darauf, dass keine Werbung eingeworfen werden darf, ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Abwehrrecht, und dieses wirkt weit – gar keine Frage. Aber es steht auch nicht schrankenlos, sondern es muss mit anderen Wertentscheidungen und Grundrechten abgewogen werden. Hier muss eine Abwägung mit dem Demokratieprinzip vorgenommen werden und mit der Aufgabe der Parteien, an der Willensbildung teilzunehmen. Deswegen meine ich, dass es in einem ganz eng begrenzten Zeitraum und begrenzt auf die Parteien, die zugelassen sind zu einer Wahl, im Rahmen der Rechtsordnung möglich sein muss, auch Wahlwerbung anzubringen. Das ist übrigens auch eine Frage der Chancengleichheit der Parteien. Ich möchte auf einen Aspekt hinweisen, der heute noch gar nicht besprochen worden ist: Bei Landtags- und Bundestagswahlen mit ihrer 5‑Prozent-Hürde – die in Deutschland verfassungsrechtlich belegt und gesichert ist – treten natürlich auch kleinere Parteien an, die nur in geringem Maße Zeiten im Fernsehen haben. In einer Zeit, in der man sich viel auf Spitzenkandidaten fokussiert, muss es auch für kleinere Parteien gerade im Rahmen der Chancengleichheit Raum geben, für sich zu werben. Welche Möglichkeiten haben sie? Es ist die direkte Ansprache im öffentlichen Raum, es sind Wahlplakate, und es ist auch die Briefkastenwerbung. Mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir eine Auslegungsregel im öffentlichen Recht. Diese Auslegungsregel besagt, dass Werbetätigkeit grundsätzlich zuzulassen ist. Das ist übrigens auch eine Art Appell an die Gebietskörperschaften, Wahlwerbung im öffentlichen Raum nicht über Gebühr einzuschränken. Klar, ärgern wir uns auch selbst über die Ausmaße mancher Werbeplakate, gar keine Frage. Aber im Kern gehört zu einer Demokratie auch dazu, dass Wahlwerbung möglich sein muss; denn eine Gesellschaft ohne Wahlwerbung und ohne politische Auseinandersetzung wäre eine ärmere, weil sie nicht demokratisch wäre. Deswegen wollen wir heute die demokratische Mitwirkungsmöglichkeit sichern. Lassen Sie uns im Ausschuss über diesen Gesetzentwurf intensiv diskutieren, dabei aber immer die zwei grundsätzlichen Prinzipien im Hinterkopf behalten: Demokratieprinzip und Willensbildung des Volkes als Aufgabe der Parteien. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier über 4,35 Milliarden Euro. Das ist exakt die Summe, die die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen an zwei Braunkohlekonzerne, nämlich die RWE AG und die LEAG, für die Stilllegung alter Kohlekraftwerke – teilweise uralter Kohlekraftwerke; in einzelnen Fällen sogar aus den 1960er-Jahren – zu zahlen beschlossen haben. Viele Menschen in diesem Land fragen sich: Ist diese Summe eigentlich angemessen? Wir reden von 4,35 Milliarden Euro für ein Kraftwerk – beispielsweise bei mir zu Hause in Weisweiler, in der Städteregion Aachen –, dessen älteste Blöcke 1965 in Betrieb gegangen sind. Da war Ludwig Erhard Bundeskanzler und die CDU noch eine seriöse Partei. Für solche Kraftwerke derartige Geldmengen zu bezahlen, das ist eine Vergoldung des Kohleausstieges! Das ist, ehrlich gesagt, unverantwortlich, und das ist eine Steuergeldverschwendung, die wir so nicht akzeptieren können. ({0}) Man konnte ganz deutlich sehen, wie der Aktienkurs von RWE gestiegen ist, als diese Zahl bekannt wurde. Das hatten selbst die Investoren nicht erwartet, dass es ein solch üppiges Geschenk geben würde. Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht von Geldern für den Strukturwandel – das ist völlig in Ordnung; über Einzelheiten bei der Umsetzung kann man streiten –, wir reden nicht über das Anpassungsgeld für die Beschäftigten. Das ist völlig okay, das unterstützen wir; das ist notwendig, um die Konsequenzen abzufedern. Es geht einzig und allein um die Frage: Müssen die Kassen von zwei Braunkohlekonzernen mit 4,35 Milliarden Euro bedient werden? Und, wenn ja: Wie berechnet sich überhaupt diese Summe? Diese Frage haben wir uns gestellt; diese Frage haben wir auch dem Bundeswirtschaftsministerium gestellt. Die Antwort war: Für diese 4,35 Milliarden Euro gibt es eine formelbasierte Entscheidungsgrundlage, also eine Formel. ({1}) Wir haben nachgefragt: Wie sieht die Formel aus, nach der man berechnet? Daraufhin wurde es sehr still im Bundeswirtschaftsministerium; es kam gar nichts mehr. Die Herausgabe der Formel wurde verweigert. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Greenpeace danken, ({2}) die über ein Jahr mit Klagen auf Grundlage des Umweltinformationsgesetzes das Bundeswirtschaftsministerium gezwungen haben – man fragt sich ja, warum gerade diese Formel –, diese Formel herauszugeben. Was dabei herauskam, hat viele überrascht und hat zu großem Erstaunen geführt: Die Parameter dieser Formel sind alle extrem im Sinne der Kohlekonzerne gerechnet worden, zum Beispiel hat man einen viel zu niedrigen CO2-Preis von 17 Euro – wir sind im Moment bei über 50 Euro – zugrunde gelegt; auch viele andere Parameter in dieser Formel nützen den Konzernen. Dann kommt natürlich diese hohe Summe von 4,35 Milliarden Euro raus. Und was passierte letztes Wochenende, als diese Formel bekannt wurde? Peter Altmaier schrieb auf Twitter: Diese Formel war gar nicht die Grundlage für die Berechnung. Wir haben mit denen verhandelt. – Und dann kommen auch 4,35 Milliarden Euro raus, genau dieselbe Zahl? ({3}) Das waren natürlich seriöse Grundlagen; das waren andere Parameter, die auch niemand kennt und die ebenfalls nicht bekannt sind. Meine Damen und Herren, ich kann darüber, ehrlich gesagt, nur den Kopf schütteln. ({4}) Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie durch Intransparenz, durch Vertuschung am Ende Milliarden von Steuergeldern in Konzernkassen geschoben werden. Wir brauchen dieses Steuergeld für den Klimaschutz, wir brauchen es für den Strukturwandel, ({5}) wir brauchen es, Herr Kippels, für die Beschäftigten im Rheinischen Revier und in den Revieren in Ostdeutschland; aber es gehört nicht in die Konzernkassen. Deshalb sage ich Ihnen von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen: Nur zehn Monate, nachdem Sie den Kohleausstieg beschlossen haben – in Wahrheit war es ja eine Laufzeitverlängerung für Kohlekraftwerke –, ist schon völlig klar: Das ganze Ding ist hinfällig. Sie kommen mit einem Klimaschutzgesetz, wo das Emissionsbudget für 2030 im Energiesektor 108 Millionen Tonnen beträgt. Das bedeutet: 2030 wird kein einziges Kohlekraftwerk mehr in Deutschland laufen. Sagen Sie den Menschen jetzt ehrlich: Wir werden bis 2030 aus der Kohle aussteigen. – Retten Sie die Dörfer im Rheinischen Revier, die dann nicht mehr abgebaggert werden müssen. ({6}) Das nützt dem Klimaschutz, das schafft Planungssicherheit für alle Beteiligten und sorgt auch für Frieden in diesem langwierigen Konflikt um die Kohle. Schaffen Sie endlich Klarheit, eiern Sie beim Thema Kohleausstieg nicht länger rum, wenn Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen wollen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Bareiß. ({0})

Thomas Bareiß (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003734

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der deutsche Ausstieg aus der Kohleverstromung ist eine Jahrhundertaufgabe und eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Energiewende bei uns in Deutschland. Seit Mitte letzten Jahres ist das Kohleausstiegsgesetz in Kraft, und mit diesem Gesetz klären wir die energiepolitischen Herausforderungen, die mit dem Kohleausstieg verbunden sind, rechtssicher, wirtschaftlich vernünftig und sozial ausgewogen. Bei diesem Gesetz orientierten wir uns maßgeblich an den Empfehlungen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. Wichtig für uns war, diese Empfehlungen ernst zu nehmen und so weit wie möglich umzusetzen, damit der erzielte gesamtgesellschaftliche Konsens nicht im Kern zerstört wird. Die in der Kommission versammelten Experten aus Umweltverbänden, Vertretern der Gewerkschaften und Industrie schlugen eine einvernehmliche Verhandlungslösung mit den Betreibern von Braunkohlekraftwerken vor. Dafür gibt es auch gute Gründe, meine sehr verehrten Damen und Herren: Erstens. Bei der Braunkohle gibt es nur zwei große Betreiber. Zweitens. Die Kraftwerke sind eng mit dem Tagebau verbunden und bilden damit ein Gesamtsystem, das auch beim Rückbau und bei der Stilllegung entsprechend betrachtet werden muss. Und drittens: Die Braunkohle hat in den betroffenen Regionen, in der Lausitz beispielsweise, eine unglaubliche Bedeutung. Deshalb muss man dem auch besonders gerecht werden. Teil der Verhandlungslösung ist auch, dass die Betreiber von Braunkohleanlagen für die gesetzlich vorgeschriebene vorzeitige Stilllegung ihrer Kraftwerke eine angemessene Entschädigung erhalten müssen. Damit ist die Höhe der Entschädigung das Ergebnis eines intensiven Verhandlungsprozesses, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren mit berücksichtigt werden muss. Eine angemessene Entschädigung kann nicht nur entgangene Gewinne der betroffenen Unternehmen betrachten, sondern muss auch die erheblichen Kosten berücksichtigen, die beispielsweise im Tagebau aufgrund der vorgezogenen Stilllegung entstehen. Ein weiterer Aspekt sind die zusätzlichen Sozialkosten der Unternehmen. Auch muss in die Bewertung die Entschädigung einfließen, dass die betroffenen Unternehmen umfassend auf Rechtsbehelfe verzichtet haben. Das war unabdingbar für die rechtssichere Umsetzung des deutschen Kohleausstiegs. Diese und weitere Erwägungen führten dann im Kern zu dem gefundenen Verhandlungsergebnis. Diese Debatte heute und die aufgeworfenen Vorwürfe gehen deshalb an der Sache gänzlich vorbei. ({0}) Eine derartige Formel – darauf bezog sich der Vorwurf von Herrn Krischer – hat keinen Eingang in das Kohleausstiegsgesetz gefunden, weil eine so komplexe und langfristige Maßnahme nicht in einer einzigen Formel abgebildet werden kann. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die vereinbarte Entschädigung mit dem geltenden Recht, insbesondere mit dem europäischen Beihilferecht, vereinbar ist. Genau das wird von der Europäischen Kommission derzeit auch ergebnisoffen geprüft. Die Bundesregierung bringt sich engagiert und konstruktiv in dieses Verfahren ein, auch weil es unser Kerninteresse ist, hier schnell Rechtssicherheit und ‑klarheit zu erlangen. Im Rahmen des Verfahrens besteht umfangreich Gelegenheit zur Stellungnahme für alle Beteiligten, sodass alle Positionen gehört werden. Lassen Sie uns nach vorne blicken und den Kohleausstieg gemeinsam vollziehen, auch um der besonderen Herausforderung und der Bedeutung des Kohleausstiegs für unsere nachhaltige Energieversorgung gerecht zu werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Steffen Kotré von der AfD-Fraktion. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Rahmen der weltdümmsten Energiepolitik wurde nicht nur der Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch ein Kohleausstieg beschlossen. Dazu wurden dann eben die Verträge mit den Kraftwerksbetreibern geschlossen und Entschädigungsfragen geregelt. Und nun beklagen sich die Grünen, dass die Entschädigung zu hoch sei. Aber seien wir doch mal ehrlich: Sie sind doch der treibende Keil in dieser ganzen Situation. ({0}) Sie haben diese Enteignung mit auf den Weg gebracht, die dann CDU/CSU und SPD hier weiter vorantreiben, und jetzt beklagen Sie sich über die Folgen. Das ist scheinheilig, meine Damen und Herren. ({1}) Sie interessieren an dieser Stelle auch überhaupt nicht die Kosten, die für die Steuerzahler daraus erwachsen. Diese unsozialen Folgen interessieren Sie nicht. Das sehen wir auch an anderer Stelle Ihrer ideologischen Politik, die leider auch von CDU/CSU und SPD übernommen worden ist. Auch der Wegfall von zigtausend Arbeitsplätzen interessiert Sie nicht. Scheinbar geben Sie erst Ruhe, wenn im energieintensiven Bereich die Deindustrialisierung vonstattengegangen ist. Genau das kritisiert ja auch der Bundesrechnungshof in bemerkenswerter Schärfe. Eine zuverlässige und preisgünstige Versorgung mit Strom sei zunehmend fraglich, und die Energiewende in dieser Form gefährde den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wenn wir uns den Geschäftsbericht von Wacker Chemie, einem der größten Stromabnehmer in Deutschland, ansehen, lesen wir darin, dass sie ihren Standort hier aufgrund der hohen Strompreise und aufgrund der mangelnden Versorgungssicherheit verlassen wollen. Auch aus diesen Gründen haben sie ihre Halbleitersparte an ein ausländisches Unternehmen abgegeben. Das ist die Folge Ihrer unsozialen Politik, die Sie jetzt zu kritisieren versuchen. ({2}) An dieser Stelle sei bemerkt: Sie schwadronieren jetzt immer wieder von neuen Arbeitsplätzen in der Windindustrie und der Photovoltaikbranche. Wir alle wissen: Das sind hochsubventionierte Arbeitsplätze, für die der Stromkunde aufkommt. Und nicht mal das klappt. Jetzt muss sogar noch der Steuerzahler mit aufkommen, um hier die Stromversorgung aus instabilen Erneuerbaren in Ihrem Sinne zu sichern. Aber warum sagen Sie das den Leuten nicht? Natürlich wurden auch Arbeitsplätze in der Steinkohlenbranche subventioniert; das ist völlig klar. Das steht aber nicht im Verhältnis zu den 1 bis 2 Billionen Euro, die uns dieser Spaß der Energiewende kosten wird. Der Kohlepfennig ist nichts im Vergleich zum Windeuro. ({3}) Tischen Sie den Menschen bitte nicht immer wieder das Märchen auf, dass die Kernenergie nicht wettbewerbsfähig sei! Das Gegenteil ist der Fall. Die Kernenergie hat uns über all die Jahre einen Vorteil gegenüber anderer Verstromung von 300 bis 600 Milliarden Euro gebracht. Und bitte tischen Sie auch nicht immer dieses Märchen auf, dass die Energiewende, die sogenannten Klimamaßnahmen und die umweltschädliche E-Mobilität Deutschlands Wohlstand mehren könnten! Staatsdirigistische Wirtschaftspolitik und Subventionen in alte Technologien haben noch nie Werte geschaffen, sondern immer nur vernichtet. ({4}) Ich bitte Sie auch, aufzuhören, zu sagen, die Unternehmen in dieser Branche würden diesen gefährlichen Quatsch von selbst mitmachen. Nein, die Automobilbranche wird faktisch gezwungen, vom Verbrenner Abstand zu nehmen, und auch die Energieunternehmen werden faktisch gezwungen, aufgrund dieser ideologischen Politik von der richtigen konventionellen Stromerzeugung abzuweichen. Die Konzernlenker sehen, dass sie nicht anders können. Sie werden eben gezwungen und machen daraus das Beste für ihr Unternehmen und die Arbeitsplätze. Aber glauben Sie mir: Wenn wieder Realitätssinn in die Politik reinkommt, dann wird wieder verlässliche Stromversorgung auf der Tagesordnung stehen und dieser infantile Größenwahn, mit Sonne und Wind eine Industrienation am Laufen zu halten, ein Ende haben. Nachfolgende Generationen werden vermutlich nur mit dem Kopf schütteln können, dass man diesen Irrweg beschritten hat. ({5}) Was die Grünen in ihrer Berechnung natürlich unterschlagen haben, ist der Klageverzicht der Betreiber. Natürlich muss man das auch entsprechend bezahlen. Das wird hier an keiner Stelle erwähnt. Sie haben unter anderem mithilfe der Regierungskoalition Fakten geschaffen. Es wurden Enteignungen durchgeführt, und jetzt beklagen Sie die Folgen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist scheinheilig, und es ist höchste Zeit, dass unser Land wieder normal wird. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Thomas Jurk. ({0})

Thomas Jurk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst stelle ich fest, dass die Bergleute und Kraftwerker der Kohlekonzerne seit vielen Jahrzehnten dafür sorgen, dass bei uns jederzeit Strom aus der Steckdose kommt. ({0}) Wir sprechen also von hart arbeitenden Menschen, die für eine sichere Energieversorgung in Deutschland sorgen. Die Grünen versuchen hier dagegen, den Eindruck zu erwecken, dass sich die bösen Kapitalisten von RWE und der LEAG die Taschen auf Steuerzahlerkosten füllen. Das ist völlig absurd; denn für die Zahlung des Bundes besteht eine ganz klare Zweckbindung: Die Mittel sollen die Tagebaufolgekosten abdecken. ({1}) – Das steht im Vertrag. Sie müssen ihn mal lesen, Herr Krischer. Diese Zweckbindung der Bundesmittel – – ({2}) – Entschuldigung! Können Sie mir mal zuhören? Dann können Sie gerne weiterdiskutieren. Ich muss Ihnen das jetzt erst mal erklären; dann können wir weitermachen. ({3}) Diese Zweckbindung der Bundesmittel ist in dem öffentlich-rechtlichen Vertrag in vielfacher Hinsicht abgesichert. Lesen Sie die §§ 10 oder 16! ({4}) Im Fall der LEAG geschieht das sogar über eigene Zweckgesellschaften in Brandenburg und Sachsen, welche die Zahlungen des Bundes erhalten. Daran ist eben nichts fragwürdig. ({5}) Das sehen natürlich auch die Grünen in Brandenburg und Sachsen so; denn sie haben die jeweiligen Vorsorgevereinbarungen der Zweckgesellschaften mitgetragen. Das Verhalten der Grünen auf Länderebene ist eben auch logisch; denn je weniger Geld der Bund zur Deckung der Tagebaufolgekosten gibt, desto höher ist das Risiko für die Länder, am Ende auf diesen Kosten sitzen zu bleiben, und diese Kosten sind nicht gering. Ein Beispiel aus der Lausitz ist der Cottbuser Ostsee im einstigen Tagebau Cottbus-Nord. Die Flutung läuft bereits seit 2019. Insgesamt wird die LEAG allein für die Herstellung des Ostsees 300 Millionen Euro einsetzen. Sie können es gerne im aktuellen Bundesrechnungshofbericht nachlesen: Bund und Länder haben seit 1991 bereits rund 12 Milliarden Euro über die LMBV in die Braunkohlesanierung des Mitteldeutschen und Lausitzer Reviers gesteckt. Insofern halte ich die im Vertrag vereinbarten Summen durchaus für nicht unrealistisch. ({6}) Wir sollten zudem eines nicht vergessen: Es geht bei dem öffentlich-rechtlichen Vertrag auch um die sozialverträgliche Umsetzung des Kohleausstiegs. Dazu haben sich die Kohlekonzerne im Vertrag verpflichtet. Dies ist ein ganz wesentlicher Teil des von der Kohlekommission vorgeschlagenen Kompromisses, und dazu steht die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich. ({7}) Es ist völlig klar, dass die tarifvertraglichen Regelungen zum Anpassungsgeld niemals greifen können, wenn die vereinbarte Entschädigungssumme infrage gestellt wird. Wer also die Hand an die Entschädigung legt, wie das die Grünen hier tun, der legt auch die Hand an die soziale Absicherung des Kohleausstiegs. ({8}) Die Höhe der Entschädigungszahlung ist im Übrigen nicht fragwürdig berechnet, sondern das Ergebnis eines intensiven Verhandlungsprozesses. Darin sind verschiedene Erwägungen eingeflossen. Ich nenne insbesondere die durch die vorgezogenen Kraftwerkstilllegungen fehlenden Deckungsbeiträge zur Finanzierung der Tagebaufolgekosten. Außerdem ist ein umfassender Rechtsbehelfsverzicht der Betreiber einschließlich eines Ausschlusses der Schiedsgerichtsbarkeit vereinbart worden. Letzteres ist ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt, wie inzwischen alle wissen, selbst wenn sie nicht Völkerrecht studiert haben sollten. ({9}) Dazu noch grundsätzlich ein Hinweis: Im Kohleausstiegsgesetz wurde in Bezug auf die Braunkohle aus guten Gründen keine Berechnung der Entschädigungshöhe vorgenommen; denn dazu hätten wir eine Vielzahl von spekulativen Annahmen für die nächsten 20 Jahre treffen müssen. Wie die inzwischen sehr stark von Finanzinvestoren getriebene Entwicklung der Preise von CO2-Zertifikaten im europäischen Emissionshandel zeigt, wäre dies wenig realistisch gewesen. Ebenso kennen wir nicht die Kosten der sozialverträglichen Umsetzung des Ausstiegs. Mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag und den bereits in Kraft getretenen gesetzlichen Vorschriften wird die Reduzierung und Beendigung der Braunkohleverstromung in Deutschland planbar und vor allem rechtssicher umgesetzt. Deutschland ist zweifelsohne auf eine sichere Energieversorgung angewiesen. Zugleich stehen wir bei der Strukturentwicklung in den Revieren vor großen Aufgaben. Forderungen nach einem noch früheren Kohleausstieg sind deshalb fehl am Platze. Wir brauchen mehr Verlässlichkeit in der Energie- und Klimapolitik und keine neuen Unsicherheiten und Risiken. ({10}) Die jüngsten Aussagen – und das ist ein Beweis für neoliberale Politik – aus den Reihen der Grünen zur Erhöhung des CO2-Preises auf 150 Euro pro Tonne CO2 sind da wenig hilfreich. Jetzt geht es darum, den Strukturwandel in den Revieren zu gestalten und den Kohleausstieg praktisch umzusetzen. ({11}) Lassen Sie uns künftig darüber und weniger über Ihre Verschwörungstheorien sprechen! Mit einem herzlichen Glückauf verabschiede ich Sie alle ins Wochenende. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht hier ausschließlich um das undurchsichtige Verfahren zur Berechnung der Entschädigungszahlungen für die Betreiber von Braunkohlekraftwerken, anders gesagt, es geht wieder einmal um handwerkliche Fehler, die die Bundesregierung hier gemacht hat. Genau diese Intransparenz haben wir in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Ich fange mal von vorne an: Kohleausstieg. Um es ganz klar zu sagen: Wir sind nicht gegen den Kohleausstieg. Wir kritisieren nur den Weg, den die Regierung eingeschlagen hat. Ich glaube, dass über den Emissionshandel, wenn er richtig angegangen worden wäre, der Kohleausstieg wirtschaftlicher, effizienter und mit einem garantierten Beitrag zum Klimaschutz abgeschlossen worden wäre. ({0}) Das heißt, der beim Kohleausstieg geschlossene öffentlich-rechtliche Vertrag schränkt nicht nur den Handlungsspielraum künftiger Regierungen ein, sondern er steht auch im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz; denn durch den öffentlich-rechtlichen Vertrag in Verbindung mit den Entschädigungszahlungen wird nicht nur die Freiheit der kommenden Generationen eingeschränkt, sondern auch die Flexibilität und Freiheit in der Gegenwart. Weniger Freiheit, meine Damen und Herren, geht gar nicht. Noch mal zu den Entschädigungszahlungen. Ich habe schon in der damaligen Debatte über den öffentlich-rechtlichen Vertrag ganz klar gesagt: Wenn der Staat in die Wirtschaft eingreift, muss entschädigt werden – das steht völlig außer Frage –, und wie man zu dieser Entschädigung kommt, muss ganz klar auf den Tisch. Man spricht auch von vollständiger Transparenz. Das ist genau unser Kritikpunkt: Das Wirtschaftsministerium spricht nun – ich zitiere – von einer Freihändigkeit des Verfahrens. Durch den komplexen Sachverhalt könne keine Formel zur Berechnung der Entschädigungen genutzt werden. – Wie darf ich mir das jetzt vorstellen? Sie haben eine Summe festgelegt, ohne eine Berechnung anzustellen? Wie sind Sie denn auf den Zinssatz von 7,5 Prozent für entgangene Gewinne gekommen? ({1}) Haben Sie gewürfelt, meine Damen und Herren? ({2}) Meine Bewertung an der Stelle lautet: Durchgefallen! Und jetzt kommt es: Im März kam ein Bericht aus Brüssel, aus dem wir die Einzelheiten erfahren haben. Das ist an sich schon eine Farce. Aber die Einschätzung der Kommission setzt dem noch die Krone auf, und zwar hat sie erhebliche Zweifel, ob die entgangenen Gewinne dem möglichen Minimum entsprechen. Sie hat Zweifel an der Richtigkeit der Nutzungsdauer. Sie hat Zweifel, ob Investitionskosten zur Modernisierung einbezogen wurden. Zudem wurden nicht für alle Anlagen Daten übermittelt. – Das ist nur ein ganz, ganz kleiner Auszug aus den Bedenken, die die Kommission hat. Wer soll denn da noch was glauben? Falls das Ergebnis positiv ausfällt, meine Damen und Herren, würde die Bemängelung durch die Kommission die Anpassungsklausel im öffentlich-rechtlichen Vertrag aktivieren. Das bedeutet: Alles wieder von vorn, ein Rattenschwanz an Nachverhandlungen, immer und immer mehr Probleme. Ich will es zusammenfassen. An diesem Beispiel erkennt man ganz deutlich: Ein staatliches Mikromanagement, wie es sonst nur bei den Grünen üblich ist, führt in diesem Fall zu schwerwiegenden Problemen, die nicht sein müssten. Solch eine Salamitaktik, um Informationen unter Verschluss zu halten, geht auf lange Sicht nicht auf. Eine Nachberechnung der Entschädigungen könnte in diesem Fall sogar sinnvoll sein. Dann wäre zumindest die Transparenz gegeben, die man von der Regierung jetzt augenscheinlich nicht erwarten kann. Ich kann es nur immer wieder wiederholen: Ein Kohleausstieg über den Emissionshandel wäre der bessere Weg. Er wäre erstens marktbasiert, er wäre zweitens schneller als die derzeitige Lösung, er wäre drittens im Einklang mit unseren europäischen Nachbarn, und er würde viertens – und das ist, glaube ich, ganz wichtig, da wir über hohe Summen reden – die Bürger keine Milliarden an Steuergeldern kosten. Das ist, glaube ich, die Botschaft an der Stelle. Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsten. Danke schön. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank. – Als nächster Redner kommt Lorenz G. Beutin von der Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss doch klar sein, dass diese Bundesregierung zu wenig beim Klimaschutz tut, dass mehr Ambition notwendig ist. Die Bundesregierung hat das ein Stück weit auch eingesehen. Die Bundesregierung sagt: Wir wollen das Klimaziel erhöhen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das reicht doch nicht. Es reicht doch nicht, die Ziele höher zu setzen, sondern wir brauchen entschiedene Maßnahmen beim Klimaschutz. ({0}) Wenn wir darüber reden, dann geht es auch um die Frage des Kohleausstiegs. Beim Kohleausstieg sagen Sie: Sie wollen das erst 2038 machen, obwohl alle wissenschaftlichen Studien Ihnen sagen, 2038 ist zu spät, wenn Sie das Pariser Klimaabkommen einhalten wollen. Das heißt, wir brauchen den Kohleausstieg spätestens 2030, und das ist möglich, wenn wir den Bereich der erneuerbaren Energien entschieden ankurbeln. ({1}) Aber was machen Sie stattdessen? Sie werfen jetzt den Kohlekonzernen 4,4 Milliarden Euro hinterher, und das ohne große Not und – das ist das Irre; das haben wir ja eben gehört – ohne eine wirkliche Berechnungsgrundlage, das heißt, auf Basis einer ziemlichen Willkürlichkeit, die Ihnen gerichtlich schnell wieder aus der Hand geschlagen werden kann. Der Kollege Neumann hat hier eben richtig analysiert, was da für ein Rattenschwanz dranhängen kann. Gehen Sie doch nicht so fahrlässig mit den Steuergeldern der Bürgerinnen und Bürger um! ({2}) Sie begründen das mit der Frage eines sogenannten Rechtsfriedens. Ganz ehrlich, zum einen frage ich mich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Wie müsste denn ein Rechtsfrieden aussehen? Rechtsfrieden würde man doch erreichen, wenn man jetzt endlich das tut, was notwendig ist, um die Lebensgrundlagen unserer zukünftigen Generationen zu erhalten. ({3}) Die andere Frage ist – und da gibt es offensichtlich eine Diskrepanz zwischen Herrn Jurk und Herrn Bareiß; ich habe Ihre Aussagen jedenfalls so verstanden, dass Sie da sehr unterschiedlicher Meinung sind –: Wofür sollen denn diese Entschädigungen eingesetzt werden? Die Problematik ist: Gesetzlich festgelegt sind tatsächlich Rückstellungen für Tagebaufolgekosten, das heißt, die sind bereits gesetzlich festgelegt. Auf der anderen Seite sagen Sie von der SPD jetzt aber: Das soll dann auch noch für die Tagebaufolgekosten aufgewendet werden. 4,4 Milliarden Euro für weitere Tagebaufolgekosten, obwohl das eigentlich schon gesetzlich geregelt ist? Ja, wo sollen denn jetzt plötzlich diese ganzen Schäden herkommen? Die sind doch bereits gesetzlich abgedeckt. Was Sie da machen, ist einfach vollkommen unhaltbar. Sie schmeißen den Konzernen ohne Not Milliarden hinterher. Kehren Sie um! So wird das nichts! ({4}) – Sie sagen: „Das kriegen die Länder“; aber das ist vollkommen falsch. Das Geld kriegen die Konzerne, und das ist das Problem. Wissen Sie, wer die LEAG beispielsweise in der Hand hat? Das sind tschechische Finanzspekulanten. Das sind doch nicht irgendwelche Leute, die sagen: Wir sind gutwillig, wir wollen unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit diesen Milliarden etwas Gutes tun. – Darum geht es doch nicht. Nein, was wir machen müssten, ist Folgendes: Wir müssten dieses Geld in den Strukturwandel investieren, um die Beschäftigung in diesen Regionen zu erhalten, indem wir die Menschen weiterqualifizieren, indem wir gute neue Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen schaffen, im Bereich erneuerbare Energien, im Bereich Batterietechnologie und in anderen Branchen. Das bedeutet, sich um Beschäftigung zu kümmern, und nicht das, was Sie hier praktizieren. ({5}) Die große Gefahr bei diesen Milliarden ist, dass sie zu einer Art Überlebensgarantie werden. Das heißt, das wird so eine Art Laufzeitverlängerung, wie wir sie auch schon beim Atomausstieg erlebt haben. Beim Atomausstieg haben Sie schon erlebt, wie schief man mit diesem Rechtsfrieden liegen kann. Ganz ehrlich, ich will ein solches Desaster wie beim Atomausstieg nicht noch mal erleben. Das können wir uns beim Kohleausstieg nicht noch mal leisten. ({6}) Also, stecken Sie das Geld in gute Beschäftigung. Stecken Sie das Geld in zivilgesellschaftliche Projekte in den Regionen, in die Förderung von Schulen, in die Förderung von Kitas, in die Förderung von Kultur- und Demokratieprojekten. Aber schmeißen Sie es nicht den Konzernen hinterher. ({7}) Schauen wir uns das Ganze noch mal an: Was könnte man mit dem Geld noch machen? Ich kann es Ihnen einfach sagen: Bauen wir den Bereich der Photovoltaik aus, packen wir Photovoltaikanlagen auf jedes öffentliche Gebäude; mit dem Geld könnte man 200 000 Gebäude mit Solaranlagen vollpacken. Oder investieren wir in Wärmepumpen; 150 000 Wärmepumpen könnten Sie mit dem Geld finanzieren. Oder machen wir ein Programm für energetische Sanierung; packen wir die 4,4 Milliarden Euro da rein, damit man endlich bezahlbares Wohnen und energetische Sanierung zusammenbringt und Menschen nicht mehr rausgeschmissen werden. So wird da ein Schuh draus! Schmeißen Sie das Geld nicht den Konzernen hinterher. Nutzen Sie es für wirksamen Klimaschutz. Nutzen Sie es für gute Beschäftigung. Nutzen Sie es für die Zukunft in den Kohleregionen. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion, an Dr. Klaus-Peter Schulze. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den sieben Jahren, in denen ich hier dabei bin, haben wir nie am Freitag vor Pfingsten um diese Zeit noch eine Debatte gehabt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, man muss hier bestimmte Dinge einmal aufklären: Der Kollege Krischer rief rein: Dann sollen die doch die Rekultivierung selbst bezahlen. – Ich weiß nicht, ob allen bewusst ist, wie man zu Rekultivierungskosten kommt. Die werden zum Anfang errechnet, und dann wird für jede Tonne Kohle, die gefördert wird, eine Summe x ermittelt, und die muss im Wirtschaftsplan nachgewiesen werden. Wenn man den Tagebau dann aber fünf oder zehn Jahre eher schließt, fehlt genau diese Summe. Sie haben mehrmals die Summe von 4,3 Milliarden Euro betont. Da hätten Sie auch dazusagen können, dass die Erhaltung des Hambacher Forstes den Steuerzahler 1,3 Milliarden Euro kostet, weil der Tagebau umgeplant werden muss und die ursprüngliche Tagebauführung nicht mehr möglich ist. Das gehört zur Wahrheit dazu. Wenn man sich dann hier vorne hinstellt und sagt: „Wir wollen 2030 schließen“, dann werden demnächst – ich ja nicht mehr – die Nachfolger darüber zu diskutieren haben: Wie zahlen wir und woraus zahlen wir die dann erforderlichen Rekultivierungskosten? ({0}) In der Lausitz sind die Laufzeiten bis 2038 kalkuliert. Wenn man dann aber 2030 aufhört, fehlen wieder acht Jahre. Das muss man ganz einfach berücksichtigen. ({1}) Ich glaube, der grundlegende Fehler, der gemacht wurde – auch von Ihrer Fraktion, Herr Krischer, und von Ihnen ganz besonders –, ist, dass nicht umfassend darauf hingewiesen worden ist, welche Probleme da noch dranhängen. Ich nenne nur mein Lieblingsthema Gips. Wir müssen die Zahl der Bergwerke verdoppeln. Jetzt laufen die Grünen in den Gebieten herum, in denen Gips vorkommt, und verkünden, sie wollten keinen Tagebau haben. Ich nenne auch das Thema Abfall. Bei mir im Wahlkreis in Jänschwalde sind bisher 500 000 Tonnen komprimierte Abfälle mit verbrannt worden. Die Verbrennungsanlage fällt weg. Es muss jetzt eine neue errichtet werden. Da fragen mich die Bürger: Warum hat uns das denn keiner von vornherein gesagt? Das Kraftwerk kommt weg, und jetzt kommt da ein Ersatzbrennstoffkraftwerk hin, was ja auch notwendig ist. Denn ich bin dagegen, dass unsere Abfälle nach Westafrika kommen und dann anschließend ein paar Jahre später im Atlantik schwimmen. ({2}) Wenn man A sagt, muss man auch B sagen, und das haben Sie nicht gemacht. Lieber Kollege Neumann – das muss ich auch noch ansprechen –: Zu sagen, wir regeln das über einen Emissionshandel, ist sicherlich ein möglicher Weg gewesen; den hat ja Ihre Fraktion auch verfolgt. Aber dann frage ich mich, was mit den Strukturmitteln passiert wäre. Da hätte man in der Region nichts bekommen. Sie kommen doch auch aus der Lausitz. Wir müssen doch mal auch an unsere Region denken. Ich sage: Mir ist es sehr schwergefallen, hier dem Kohleausstieg zuzustimmen. Aber dadurch, dass uns Mittel zur Verfügung gestellt werden, bin ich davon überzeugt worden, das zu machen. Wenn wir das über den Emissionshandel gemacht hätten, hätte es nicht funktioniert. Herr Beutin, Ihnen muss ich auch mal eines sagen: Sie kommen ja aus Ostholstein, wo ich übrigens mein verlängertes Pfingstwochenende zubringen werde. ({3}) – Zumindest haben Sie da Ihren Wahlkreis. – Sie müssen sich mal in die Region versetzen. Sie müssen mal mit den Leuten vor Ort reden. ({4}) Viele, viele Familien werden ihr Einkommen verlieren, und zwar nicht nur die unmittelbar Beschäftigten, sondern auch die mittelbar Beschäftigten. Da muss eine Region ganz einfach erwarten, dass die Dinge, die über 100 Jahre Bergbau entstanden sind, jetzt einem Ende zugeführt werden und anschließend die Umwelt noch lebenswert ist. Ich sage: Ohne eine vernünftige Rekultivierung und ohne die Sanierung des Wasserhaushaltes werden wir keine Regionalentwicklung und keine Strukturentwicklung für die Zukunft hinbekommen. Deswegen sage ich: Wir sollten an den Dingen, so wie sie beschlossen wurden und so wie sie das Wirtschaftsministerium ausgehandelt hat, jetzt festhalten, um letztendlich der Region eine Zukunft zu geben. Ich wünsche uns allen ein schönes Pfingstwochenende. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Herr Krischer, Sie bemängeln ja hier, dass Sie keine Formel haben, nach der Sie vorgehen. Ich hätte auch gern eine Formel. Ich würde gern mal wissen, wie viel Zehntausendstel Grad Celsius wir bei einer Reduzierung der Klimakatastrophe für jede hinausgeworfene Steuermilliarde bekommen. Aber ich glaube, eher legt ein Hund sich einen Wurstvorrat zu, bevor wir diese Zahl einmal aus dem Ministerium bekommen werden. ({0}) So bleibt es dabei: Klimaschutzpolitik ist einfach nur ein schwarzes Loch, in dem die Steuermilliarden auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Mit dem Kohleausstiegsgesetz hat der Bundestag im vergangenen Jahr – wir erinnern uns – einen schrittweisen Ausstieg aus der Verstromung von Stein- und Braunkohle beschlossen. Dies greift in die unternehmerische Freiheit der bisherigen Betreiber ein, und deswegen stehen ihnen Entschädigungszahlungen zu.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege Dr. Kraft, kann ich mal Ihren Sticker sehen? Es ist nicht erlaubt, Sticker zu tragen. Würden Sie ihn bitte abnehmen?

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Kein Problem.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. Sehr nett. – Sie bekommen die Sekunden dazu.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich danke. – Die Höhe von über 4 Milliarden Euro wird nun von der Fraktion der Grünen infrage gestellt. Wer in den vergangenen Jahren im Berliner Politikbetrieb aufgepasst hat, dem fällt sofort das Gezerre um die Entschädigungen beim Ausstieg aus der Kernkraft ein; das war ja ganz analog. Blicken wir ganz kurz zurück: In 2011 beschließt der Bundestag ein Ende der kommerziellen Stromerzeugung aus Kernkraft. Dazu wurde das 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes beschlossen. Im Dezember 2016 befindet dann das Bundesverfassungsgericht, dass die dort enthaltenen finanziellen Regelungen nicht ausreichend sind. Daraufhin arbeitet die jetzige Regierung das 16. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes aus. Im Sommer 2018 wird dieses vom Bundestag, also von uns, beschlossen. Im September 2020 befindet das Bundesverfassungsgericht erneut, dass dieses 16. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes die bestehenden Verpflichtungen aus 2016 nicht erfüllt. Eine weitere Änderung muss her, und diese liegt uns derzeit mit dem Entwurf des 18. Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vor; er liegt gerade im Ausschuss. Das Bundesverfassungsgericht hat also allen Absichten, die enteigneten Unternehmen mit Brosamen abzuspeisen, eine klare Absage erteilt. Das sollten sich die sozialistischen Fraktionen hier im Hause einmal gut merken: Ihre feuchten Enteignungsträume werden für den Steuerzahler immer sehr, sehr teuer. ({0}) Aber das ficht Sie ja nicht. Es ist doch immer das Geld anderer Leute, das Geld des Steuerzahlers, und das ist Ihnen in der Regel ja immer komplett egal. ({1}) Die verschiedenen Regierungen haben es also in über zehn Jahren nicht geschafft, die Entschädigungszahlungen für die Kernkraftwerksbetreiber rechtskonform hinzubekommen, und wollen jetzt schon das nächste Fass aufmachen. Zudem ist der Ausstiegsfahrplan des Kohleausstiegsgesetzes durch die jüngsten Pläne der Regierung zur Verschärfung der Klimaplanziele wieder komplett infrage gestellt. Wir wissen also noch nicht einmal, worüber wir hier konkret reden. Es wird ja auch von Ihnen gefordert, diesen Ausstiegsfahrplan zu überarbeiten. Wir müssen also auch feststellen: Es gibt nicht so wirklich was Aktuelles für diese Aktuelle Stunde am Freitagabend. Sprechen wir also lieber über die Versorgungssicherheit mit Energie und Strom in Deutschland. Wir haben ja heute bereits mehrfach das Märchen von der preiswerten Energie aus Sonne und Wind gehört. Jeder private und unternehmerische Stromkunde weiß bei einem Blick auf seine Rechnung, dass diese Schutzbehauptungen der Koalition reine Lügen sind. Wie könnte es sonst sein, dass das Vorreiterland in Sachen erneuerbare Energie die teuersten Strompreise aller Industrie- und Flächenstaaten hat? Dank Ihres rückschrittlichen Technologieverständnisses setzen Sie bei der dauerhaften Versorgung unseres Landes nämlich auf gänzlich unzuverlässige Energiequellen. Das klingt nicht nur doof, das ist es auch. ({2}) Während Sie jede Abschaltung eines zuverlässig arbeitenden Kern- oder Kohlekraftwerkes in Deutschland feiern, bauen unsere Nachbarn entlang der Grenze neue Kraftwerke auf, und das nicht nur für den Eigenbedarf, sondern weil sie genau wissen, dass Strom in Deutschland dank Ihrer Politik in Zukunft Mangelware sein wird. Diese Nachbarn reiben sich jetzt schon alle die Hände, weil sie diesen Strom in Zukunft zu Premiumpreisen nach Deutschland exportieren können. In Frankreich arbeiten bereits jetzt rechnerisch zwei komplette Kernkraftwerksblöcke nur für den Export von Strom nach Deutschland. Das ist das Ergebnis Ihrer Energiepolitik. Die Grünen, die den deutschen Ausstieg aus der Kernkraft so frenetisch beklatscht haben, bemängeln nun die schlechteren Sicherheitsbedingungen in französischen Kernkraftwerken. Frau Kotting-Uhl, wenn ich Sie zitieren darf – das war vorgestern im Ausschuss –: Die Sicherheitsstandards in deutschen Kernkraftwerken waren höher als die in den französischen jetzt. – Wäre es da nicht besser gewesen, statt teures Geld über die Grenze zu werfen und dort zwei Blöcke mit niedrigeren Sicherheitsniveaus, als es in Deutschland der Fall wäre, zu unterhalten, die deutschen einfach zu behalten? Die Franzosen hätten ihre dann abgestellt. Auch Polen sieht seine energetische Zukunft nur durch Kernenergie gesichert – mit Neubauten entlang der deutschen Grenzen. Die Behauptung, dass Deutschland mit seinen minderwertigen erneuerbaren Energien Vorreiter einer weltweiten Bewegung wäre, ist also wieder mal nur reines Wunschdenken. ({3}) Das Fazit ist klar: Sie vernichten unsere heimische, preiswerte und zuverlässige Stromversorgung. Das wird für den deutschen Stromverbraucher drastische Folgen haben, die Sie als angebotsorientierte Stromversorgung schönfärben wollen. Doch auf gut Deutsch sind das nichts anderes als Unterversorgung und Mangelwirtschaft, die uns in die teure Abhängigkeit von ausländischen Stromimporten treiben. Ihre Politik macht Menschen arm, meine Damen und Herren, wie immer im Sozialismus. Aber ich hoffe sehr, dass im September der Wähler Sie dafür abstrafen wird. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollege Kraft. – Ich muss noch etwas nachholen – nicht bei Ihnen; Sie dürfen gehen. Aber ich wollte noch den Hinweis geben: Es gilt natürlich für alle Abgeordneten des Hauses, dass wir keine Sticker tragen, wenn wir zum Rednerpult gehen. Das gilt auch für Sie, Herr Beutin; Sie haben ihn getragen. Das ist uns aber nicht aufgefallen; wir wurden darauf hingewiesen. Gleiches Recht für alle. – Vielen Dank. Als nächste Rednerin spricht Claudia Moll für die SPD-Fraktion. ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, dass wir heute erneut über den Kohleausstieg sprechen. Sie wollen jedoch nicht über die drängenden und konkreten Herausforderungen der Menschen in den Kohleregionen und im Industrieland Deutschland sprechen. Sie stellen die Entschädigungszahlungen an die Braunkohlekonzerne in den Mittelpunkt der heutigen Debatte. Gut! Das passt bestimmt in Ihren Wahlkampf: Schmutziges Geld für schmutzige Konzerne. Da lacht doch das Wahlkämpferherz der Grünen am Infostand. ({0}) Ich finde, wir müssten jetzt endlich diese Symboldebatten sein lassen. Entschädigungszahlungen sind doch nicht das fundamentale Problem. Während wir hier über Entschädigung streiten, gehen in den Revieren die Lichter aus. ({1}) – Ach, komm. – Wir müssen wohl auch nicht darüber reden, dass die Entschädigungen – – ({2}) – Habe ich eben bei ihm auch so gebrüllt? Nein, habe ich nicht, obwohl ich mich tierisch aufgeregt habe. ({3}) Ja, heizen Sie mich noch mehr an! Wir müssen wohl auch nicht darüber reden, dass die Entschädigungen auch ihre Berechtigung haben. Sie wissen natürlich auch, dass es bei den Entschädigungen nicht nur um entgangene Gewinne geht. Nein, es geht um Sozialkosten und Mehrkosten bei der Renaturierung. Wenn man Tagebaue früher beendet, fallen natürlich auch höhere Kosten an. ({4}) Wer will denn hier noch als Unternehmer tätig sein und Arbeitsplätze schaffen, wenn in der Politik ein ständiges Hin und Her gemacht wird? ({5}) Das passt Ihnen nicht ins Bild; Sie sprechen nicht darüber. Sie waren ja auch Teil dieses Hin und Her. Als Teil der rot-grünen Landesregierung haben Sie doch die Entscheidung zur Kohle NRW mitgetragen, nur um sich ein Jahr danach gut zu inszenieren und den Protesten anzuschließen. Anstatt dass Sie jetzt mithelfen, die gewaltigen Folgen zu meistern, machen Sie weiter Ihre Show. ({6}) Ich sehe nur eines: grüne Politikerinnen und Politiker, sei es im Bund, im Land oder in den Kommunen, die nur über den Ausstieg reden, nicht aber über die Konsequenzen. Ich sage es deshalb noch mal: Während wir hier über die Entschädigungen streiten, gehen in den Revieren die Lichter aus. Wir müssen uns doch die Frage stellen, wie unser Land Industrie- und Energieland bleibt, ein Land mit wertvollen und guten Arbeitsplätzen. Ich frage mich ernsthaft: Wo ist Ihr Beitrag dazu? Wo bleibt die Aktuelle Stunde, dass der Kohleausstieg schon morgen losgeht und noch kein Job in der Lausitz oder im Rheinischen Revier entstanden ist? ({7}) Sehen Sie es denn nicht auch, dass viele Forschungsarbeitsplätze gefördert werden, aber die klassischen Industriejobs anscheinend nicht mehr gewünscht sind? ({8}) Ich glaube, Sie wollen sich mit diesen konkreten Fragen der Transformation gar nicht befassen. ({9}) Und wenn Sie mal konkret etwas anpacken müssen, kommt nichts dabei rum. Ernsthaft: In ganz Baden-Württemberg sind zwölf Windräder in 2020 in Betrieb genommen worden. ({10}) Das ist grüne Klimapolitik. Ganz toll! ({11}) Sie scheinen zufrieden, wenn die bösen Konzerne eins über die Mütze kriegen und die schmutzigen Kohlekumpel obendrein. ({12}) Nicht mit mir, nicht mit uns Sozialdemokraten! ({13}) Ich bin heilfroh, dass Olaf Scholz Sie im Wahlkampf genau da stellen wird. Klimaschutz ist eine ganz konkrete Frage, Klimaschutz ist eine soziale Frage, und Olaf Scholz hat ganz klar gesagt: Wir müssen jetzt die Voraussetzungen für einen erfolgreichen und sozial gerechten Klimaschutz schaffen. ({14}) Für mich sind das vor allem gute und nach Tarif bezahlte Arbeitsplätze. ({15}) Strukturwandel muss vor Ort funktionieren und die Betroffenen einbinden. ({16}) Wir dürfen nicht denken, dass alles geregelt ist, wenn wir nur über das Aussteigen aus der Kohle oder über Entschädigungen für Konzerne sprechen. Wir haben viele Baustellen vor der Brust, wichtigere Baustellen als den Streit um Entschädigungen. Wenn man Klimaschutz wirklich will, müssen wir diese Fragen lösen: Zukunft für die Kumpels, Zukunft für die Region, Zukunft für unser Industrieland. Und ich habe deshalb am Ende meiner Rede eine ganz herzliche Bitte an Sie, liebe Grüne: Solange Sie weiter nur auf diesen Symboldebatten rumreiten, sprechen Sie bitte nicht davon, dass kein Kumpel zurückgelassen werden soll. Sie leisten hier und heute wieder keinen Beitrag dazu. Das sage ich Ihnen als stolzes Mitglied einer Bergmannsfamilie. Das sage ich Ihnen als Sozialdemokratin, die will, dass Klimaschutz für die Menschen in unserem Land sozial gerecht gelingt. ({17}) Und ich darf mit Stolz „Glückauf!“ sagen. ({18})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Kollegin, die Redezeit ist beendet.

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Lisa Badum von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kennen das: Es ist Freitagnachmittag bzw. ‑abend, wir reden über Lobbyismus und vorgetäuschten Klimaschutz, und im Zentrum der Debatte steht die Union bzw. das Wirtschaftsministerium. Ein bisschen neu ist, aber leider auch nicht mehr so sehr, dass sich die SPD an die Seite dieser Lobbytruppen wirft. Also, Frau Moll, die Krokodilstränen gerade eben – Wahnsinn! Sie verschweigen natürlich, dass es Strukturhilfegelder und Gelder für die soziale Abfederung gab und dass wir heute dezidiert über Entschädigungen für Konzerne reden. Aber die Menschen wissen das, Gott sei Dank. ({0}) Ja, so weit erst mal nichts Neues zum Thema vorgetäuschter Klimaschutz. Aber es gab ja neue Entwicklungen in den letzten Wochen, weil sich beispielsweise die Union nach eigener Aussage neuerdings für Ehrlichkeit einsetzt und mit dem Klimaschutz wirklich ernstmachen will. Die Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes war ja auch der letzte Schliff, der bei Ihnen diese inneren Klimaüberzeugungen noch mal so richtig zum Tragen gebracht hat. Ich vermute auch: Dieser Skandal, den wir heute diskutieren, das ist genauso dieser Schliff, der uns zeigt, wie ernst es Ihnen mit dem Neubeginn in der Klimapolitik ist; dieser Skandal, der die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 4,3 Milliarden Euro kostet, meine sehr geehrten Damen und Herren. Bis zum heutigen Tag weigert sich das Wirtschaftsministerium, uns diese geheime Summe offenzulegen. Herr Bareiß, Sie hatten hier neun Minuten Zeit; Sie haben, glaube ich, eine Minute genutzt. Es wäre genug Zeit gewesen, die komplizierteste Formel aller Zeiten zu erklären. Aber Sie haben es nicht getan – ({1}) ich glaube, ehrlich gesagt, auch deswegen, weil Sie bei Ihren Tricksereien selber schon den Überblick verloren haben. Wir haben es gehört: Einerseits spricht man von einer formelbasierten Entschädigungslogik. Andererseits wiederum ist die Berechnungsformel für die Höhe der Entschädigung gar nicht so wichtig. Einerseits soll die Entschädigung für entgangene Gewinne der Konzerne gelaufen sein, andererseits – das haben wir jetzt wieder von der SPD gehört – für Tagebaufolgekosten und Sozialkosten. Sehr verwirrend! ({2}) Mit Blick auf die EU wird Ihnen die ganze Sache dann doch etwas sehr heiß; denn – so schreibt Ihr eigenes Ministerium – sollte es eine öffentliche Diskussion, wie wir sie hier haben, über Ihre Berechnungen geben, dann könnte das die Beziehung der Bundesrepublik Deutschland zur EU ungünstig beeinflussen. Das ist ja wirklich interessant. ({3}) Denn Fakt ist: Gutachten haben ergeben, dass Sie mit absurd niedrigen CO2-Preisen und viel zu hohen entgangenen Gewinnen für die Konzerne gerechnet haben. An Ihnen war die Marktentwicklung völlig vorbeigegangen. Dass wir einen Green Deal haben, ein erhöhtes europäisches Klimaschutzziel verhandelt wird, dass die Reform des Emissionshandels besprochen wird, das haben Sie einfach nicht gehört. Das ist doch lächerlich. Sie wollen Unternehmen Milliarden für einen vermeintlichen Gewinn hinterherwerfen, den diese Unternehmen nie haben werden. Sie haben einen schmutzigen Kohle-Deal auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschlossen. ({4}) Was das Ganze zu einem noch größeren Skandal für uns Grüne macht, sind, ehrlich gesagt, noch mal der Stil und die Attitüde, mit denen Sie hier auftreten: keinerlei Einsicht, sondern nach dem Motto „Augen zu und weiter so“. Sie denken, Sie können diese 4,35 Milliarden Euro – das haben wir von Frau Moll gehört – öffentliche Gelder zahlen, ohne dass es die Öffentlichkeit interessieren sollte, wohin das Geld fließt und warum. Dieser dreckige Deal war Ihnen sogar so wichtig, dass Sie Gutachten unter Verschluss gehalten haben. Selbst auf Nachfrage haben Sie gesagt: Diese Gutachten existieren nicht. – Sie müssen sich jetzt von der EU-Kommission durchleuchten lassen, weil Ihnen dieser dreckige Deal so wichtig war, weil Sie sagen: Nein, die Öffentlichkeit muss das nicht mitbekommen. – Ich frage mich wiederum: Ist das der Beleg für Ihren Neustart? Steht das für Ehrlichkeit und wirklich ernstgemeinte Klimapolitik? Ich muss jetzt nach dieser Debatte auch an die Seite der SPD sagen: Ich glaube, nein. Aber die weitere Frage, die mich noch interessieren würde, die wir heute noch nicht besprochen haben und die vielleicht auch für die Menschen an den Bildschirmen interessant ist, lautet: Was ist das klimapolitische Signal an die Bevölkerung, das Sie damit senden? – Meiner Ansicht nach ist es das Signal, dass Sie den Unternehmen, die über Jahrzehnte mit dem Blasen von CO2 in unsere Atmosphäre einen Riesenreibach gemacht haben, noch Geld hinterherwerfen wollen, den Unternehmen, die völlig an Innovation vorbeigegangen sind, die die Marktsituation völlig unrichtig eingeschätzt haben. Diesen Konzernen geben Sie noch Geld. Das ist die Seite, auf der Sie stehen. ({5}) Auf der anderen Seite stehen innovative Unternehmen wie Bürgerenergiegesellschaften, Mittelständler, Stadtwerke, seit Jahren bereit, die Energiewende voranzubringen. Die wollen losgehen. Die wollen wirklich Ökostrom produzieren und Anlagen ausbauen. Aber Sie bringen eine hanebüchene EEG-Reform nach der anderen, um sie auszubremsen. Sie begünstigen mit diesen Milliarden für die Kohleindustrie den Wettbewerber, der ohnehin an der Schwelle der Marktbeherrschung steht. Sie wollen die Marktmacht der Großen zementieren. Das ist Ihr Signal an die Bevölkerung. ({6}) Da zeigt es sich wieder: Sie setzen sich nicht – wie nach eigener Aussage – für mehr Ehrlichkeit im Klimaschutz ein, sondern, wie wir gesehen haben, für einen schmutzigen Deal, weil Sie nicht aus Überzeugung und mit Weitblick handeln, sondern aus panischer Angst vor der Bundestagswahl. Hören Sie auf mit dem Taktieren!

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Legen Sie die Zahlen offen, und beenden Sie Ihre schmutzigen Deals! Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Dr. Andreas Lenz von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir steigen aus der Kohle aus; das wurde heute schon deutlich. Die Welt ändert sich. Wir haben das frühzeitig erkannt. Wir steigen aber nicht nur aus, wir steigen auch ein: in Erneuerbare. Wir schauen auf Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. Herr Kotré, Wacker Chemie ist ein florierendes Unternehmen und macht gerade auch im Moment gute Geschäfte mit Polysilizium. Die Nachfrage brummt entsprechend, gerade auch, was den Bereich der Halbleiterindustrie betrifft, und übrigens auch, was den Bereich der Photovoltaik betrifft. Insofern bleibt Wacker Chemie am Standort Deutschland und auch hier ein Vorzeigeunternehmen. ({0}) Wir betreiben natürlich neben dem Ausbau der Erneuerbaren auch Strukturpolitik. Wir bieten Perspektiven. Das ist der Unterschied – die Kollegin der SPD hat es ja vorhin klargemacht –: Uns sind beim Kohleausstieg sämtliche Dimensionen der Nachhaltigkeit wichtig, die soziale Dimension, die Menschen, die Perspektiven für die Menschen, die ökonomische Situation, die ökonomische Perspektive, die Arbeitsplätze, gerade auch die Arbeitsplätze der Zukunft, und natürlich auch die ökologische Perspektive im Sinne des Umwelt- und des Klimaschutzes. Der sozialverträgliche, der klimafreundliche und auch der umweltverträgliche Kohleausstieg ist und bleibt eine der größten Reformen der vergangenen Jahre. Dass Sie von den Grünen vor allem jetzt vor dem Wahlkampf dieses skandalisieren, das sind wir ja gewohnt. Dabei ist uns etwas gelungen, was vor dieser Legislatur die Wenigsten für möglich hielten. Ich sage Ihnen von den Grünen eines: Der eigentliche Skandal ist, dass Sie skandalisieren, wo es überhaupt keinen Skandal gibt, sehr geehrte Damen und Herren. Also, sprechen Sie bitte nicht von Seriosität an dieser Stelle. Die WSB-Kommission, die Kohleausstiegskommission, beschreibt einen Ausstiegspfad bei der Kohle, bei der Braun- und bei der Steinkohle, eine Reduzierung um 6 GW allein im vergangenen Jahr und in diesem Jahr. Es ist übrigens auch schneller möglich, auszusteigen. Es ist natürlich ein Kompromiss, aber ein Kompromiss mit klaren Ausstiegspfaden und ein Kompromiss mit klaren Einstiegspfaden, Einstiegspfaden in Erneuerbare, aber zuweilen natürlich auch in Gas, wenn es um die Frage der Versorgungssicherheit geht. Wir schauen auf die Strukturen vor Ort. Wir wollen die Zukunft durch kluge Strukturpolitik gewinnen. Wir lassen die Menschen nicht im Stich. Auch hier stehen wir zu unserem Wort. Deshalb haben übrigens alle Vertreterinnen und Vertreter in der Kommission diesem Kompromiss zugestimmt. ({1}) Jetzt suchen Sie immer nach der Weltformel für die Berechnung der Entschädigungszahlungen. Diese Weltformel gibt es natürlich in der Form nicht. Klar ist aber auch: Wir können und wir wollen auch nicht enteignen. Ich weiß, dass Sie von den linken Parteien das natürlich gerne machen würden. Sie würden gerne nicht nur Kraftwerke enteignen, sondern auch sämtliche anderen Dinge. ({2}) Von der Verfassung her ist uns das einfach nicht möglich, uns ist es aus guten Gründen nicht möglich. ({3}) Die Ausstiegskommission – das möchte ich auch noch mal betonen – hat die Vorgabe einer einvernehmlichen Lösung gegeben. Der technisch, der wirtschaftlich, aber auch der rechtlich komplexe Rückbau der Tagebauen wird mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag einvernehmlich geregelt, und er wird in diesem Sinne auch gut geregelt. Hinsichtlich der Entschädigungen lassen Sie sich eines bitte noch sagen: Die EU-Kommission prüft, und wenn es am Ende für den Steuerzahler günstiger wird, dann habe ich überhaupt nichts dagegen. Ich habe immer gesagt: Es gilt der Grundsatz: So viel wie nötig, aber nicht mehr. ({4}) Letzten Endes ist es doch so: Wir bringen die Dinge in einem schwierigen Prozess zusammen: Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung. Wir nehmen die Menschen mit, wir machen Angebote, wir schaffen neue Strukturen. Wir stehen zu Eigentumsrechten, zu Marktwirtschaft. Dass Sie von den Grünen natürlich von der Marktwirtschaft weder was verstehen noch was halten, das wissen wir auch. Von der Geschichte der sozialen Marktwirtschaft wissen Sie auch nicht viel. Das ist ein weiterer Unterschied. In dem Sinne machen wir weiter mit dem Kohleausstieg, der auf Basis der Beschlüsse der Kohleausstiegskommission, der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, stattfindet. In dem Sinne: Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank für die geschenkten Sekunden. – Zum Abschluss der Aktuellen Stunde hören wir von der CDU/CSU-Fraktion Dr. Georg Kippels. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Bürgerinnen und Bürger in den Revieren! Die Bundestagswahl wirft ihre Schatten voraus. Es kommt dann zu den immer wiederkehrenden Empörungsritualen der Grünen, insbesondere wenn es um das Thema der Energiekonzerne und den Strukturwandel geht. Daran sind wir gewöhnt. Es hat in diesem Fall ein bisschen lange gedauert; das Gesetz ist ja am 3. Juli 2020 verabschiedet worden. Offenbar hat man also längere Zeit gebraucht, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob die 4,35 Milliarden Euro Entschädigung angemessen oder unangemessen sind, ob man sie nachvollziehen kann, ({0}) ob man sich Fragen zurechtlegen soll oder ob nicht möglicherweise doch diese Dimension in Ansehung der Größenordnung der Aufgabe, die wir mit dem Strukturstärkungsgesetz und dem Kohleausstiegsgesetz bewältigt haben, angemessen sein könnte. Kurzum: Wir müssen uns mit dieser Frage heute nun mal beschäftigen; das tun wir sehr gern. Ich finde es nur außerordentlich unredlich, dass hier immer wieder eine argumentative Rosinenpickerei betrieben wird. Auch diesen Vorwurf kann ich Ihnen, Herr Krischer, nicht ersparen: In Ihrem Redebeitrag eben wurden minutiös die Punkte herausgepickt, die Ihnen in der Darstellung gefallen. Aber darüber, womit man sich sinnvollerweise oder zur Abrundung des Bildes beschäftigen müsste, schweigen Sie sich aus. Ich mache das ganz konkret, damit wir uns auch an der Argumentation abarbeiten können. Sie haben eben die Dimension von 4,35 Milliarden Euro als unvorstellbar groß beschrieben. Ich weiß jetzt nicht, wo der Bezugspunkt ist, aber ich habe einen Bezugspunkt: Aus dem jetzt in die Endphase kommenden Verfahren zum Atomausstieg steht derzeit eine Summe von 2,43 Milliarden Euro als zusätzliche Entschädigung im Raum. Sie wurde von Gerichten empfohlen. Im Moment laufen die Vergleichsverhandlungen. Aber entscheidend ist jedenfalls, dass innerhalb eines rechtsstaatlichen Verfahrens ganz offensichtlich Positionen bewertet worden sind – und zwar nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in Gerichtssälen –, die erkennen ließen, dass der vorzeitige Eingriff in ein Unternehmenssystem es rechtfertigt, unter Berücksichtigung bestimmter Positionen Entschädigungsleistungen erbringen zu müssen. Und das ist der springende Punkt: erbringen zu müssen. In diesen – bislang knappen – Ausführungen des Gerichts gibt es den interessanten Hinweis, dass nicht nur der entgangene Gewinn, der zugegebenermaßen vom CO2-Preis beeinflusst werden kann – allerdings nicht rückwirkend, sondern mit einer Perspektive zum Zeitpunkt des Einstellungsbeschlusses –, sondern vor allen Dingen auch nutzlos getätigte Investitionen eine ganz gravierende Rolle spielen. ({1}) Sie haben eben wunderbar auf das Kraftwerk Weisweiler verwiesen, wo Sie sich auch für einen Tweet haben ablichten lassen. Nur, Weisweiler ist mit Sicherheit das mit Abstand schlechteste Beispiel, um eine Vergütungsrechtfertigung darzustellen. Hätten Sie sich vielleicht mal vor die BoA-Blöcke in Neurath gestellt! Die sind 2012 in Betrieb genommen worden, Investitionssumme: 2,6 Milliarden Euro bei einer Abschreibungsperspektive von 25 bis 30 Jahren; davon sind jetzt gerade mal 9 vergangen. Da haben wir einen entscheidenden Berechnungspunkt, wo vergebliche Investitionen vergütet werden müssen. ({2}) Der zweite Punkt, der eben so ein bisschen beiläufig dargestellt worden ist, betrifft die Tagebaue. Die Tagebaue haben einen lange geplanten Ablauf, der jetzt im Grunde genommen vollkommen über Bord geworfen wird. Wir haben nicht die sukzessive Bearbeitung im Rahmen des Braunkohleabbaus, sondern wir müssen von Grund auf eine neue Planung und vor allen Dingen eine Mengenbewegung in enormer Größenordnung durchführen. Das ist im Augenblick kalkulatorisch noch gar nicht abzusehen, weil wir nicht wissen, wie die Bodenqualitäten sind und ob die tektonischen Verhältnisse geklärt werden können. ({3}) Sie haben eben – natürlich auch mit Blick auf meine üblichen Einwendungen – noch mal die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genannt. Ja, aber das Geld fließt nicht einfach in die Kassen der Konzerne, sondern das sind die liquiden Mittel, aus denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch die, die gerade kein APG erhalten, in den nächsten Jahren eine Vergütung erhalten müssen – 9 000 Mitarbeiter mit zahlreichen Familien, die auch durch die soziale Verantwortung des Unternehmens eine Perspektive geboten bekommen müssen. ({4}) Alles das fließt in diese Berechnungssumme ein, die mit Sicherheit nachvollziehbar darzustellen ist. Eines will ich dazu noch sagen: Selbst die Kohlekommission hat in ihrem ausführlichen Papier sofort erkannt, dass es hier nicht mit einer Berechnung, sondern nur mit einem ausgewogenen Verhandlungsmodell zu Rechtsfrieden kommen kann. Der Rechtsfrieden war beabsichtigt. ({5}) Sie wollen den nicht. Und deshalb müssen wir uns mit dieser Frage jetzt überflüssigerweise auseinandersetzen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})