Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/15/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir müssen noch durchhalten. Wir haben jetzt jeden Tag und jede Woche neue Meldungen über den Impffortschritt in Deutschland, und das ist eine positive Nachricht für die Zukunft. Aber wir wissen: Die Infektionszahlen gehen weiter nach oben. Wir haben unverändert eine schwierige Situation, und deshalb brauchen wir noch mal eine nationale Kraftanstrengung in diesen Tagen. ({0}) Meine Damen und Herren, bei der Kraftanstrengung, die wir jetzt als Bundesregierung mit einer Formulierungshilfe auf den Weg gebracht haben, die die Regierungsfraktionen eingebracht haben und die der Bundestag debattieren wird, geht es darum, für Klarheit, Übersichtlichkeit und Verlässlichkeit zu sorgen. Wir wollen sicherstellen, dass es gemeinsame, einheitliche Regeln in ganz Deutschland gibt, was zu geschehen hat, wenn die Infektionszahlen zu sehr nach oben gehen. Und ich bin froh darüber, dass diese Initiative jetzt beraten wird. ({1}) Denn wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir die Infektionszahlen nach unten kriegen, damit sich der Impferfolg auch möglichst bald in den Infektionszahlen selber niederschlagen kann. Wenn wir das jetzt nicht machen würden, würden wir das später sehr bereuen. Und deshalb sage ich: Eine bundesweite Notbremse ist ein richtiger Schritt, und es ist gut, dass wir das machen. ({2}) Zu den Regeln, um die es jetzt geht, gehören natürlich auch viele andere Sachen, zum Beispiel, dass wir dafür Sorge tragen, dass auch in den Unternehmen getestet wird; denn Tests sind sehr, sehr wichtig für die Sicherheit, die wir als Bürgerinnen und Bürger brauchen. Ich bin froh, dass auch das auf den Weg gebracht worden ist. ({3}) Meine Damen und Herren, es geht auch darum, dass wir alles dafür tun, dass die Familien in dieser Situation alle Chancen haben, mit ihr zurechtzukommen. Deshalb gehört zum Durchhalten ganz unbedingt auch, dass die Kinderkrankentage noch einmal verbessert worden sind. Alles zusammen soll dazu beitragen, dass wir den Endspurt jetzt bewältigen. ({4}) Wir müssen noch durchhalten, und das gilt natürlich auch für das, was wir finanziell stemmen müssen, um sicherzustellen, dass die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen dieser Krise nicht so negativ sind, wie sie ohne aktive Fiskalpolitik, ohne aktive Politik des deutschen Gesetzgebers und des Haushaltsgesetzgebers wären. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir Unternehmen und Arbeitsplätze auch bis zum Ende der Krise mit Wirtschaftshilfen unterstützen können. Darum geht es bei dem Nachtragshaushalt. ({5}) Das sind also die finanziellen Grundlagen für neue und für fortgesetzte Hilfen für Gastronomen, für Hoteliers, für diejenigen, die Kultureinrichtungen betreiben, für diejenigen, die Sportveranstaltungen durchführen wollen, und für alle, die das jetzt nicht machen können wie zu anderen Zeiten. Die Wirtschaftshilfen sind wichtig, und sie werden fortgesetzt. Das machen wir mit dem Nachtragshaushalt möglich. ({6}) Das gilt selbstverständlich auch für all das, was notwendig ist, um dafür zu sorgen, dass die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger geschützt wird. Wir müssen immer noch viel Geld ausgeben, für die Impfstoffbeschaffung zum Beispiel, für all das, was wichtig ist, damit wir Leben und Gesundheit sichern können. Deshalb ist es auch für alle gesundheitspolitischen Maßnahmen richtig, dass wir jetzt mit dem Nachtragshaushalt die finanziellen Grundlagen dafür schaffen. ({7}) Nicht alles, was jetzt in den nächsten Tagen und Wochen zu entscheiden ist, wird schon im Detail in diesem Nachtragshaushalt geregelt; da sind auch Spielräume formuliert und vorgesehen. Deshalb will ich ein Thema ganz besonders aufgreifen, von dem ich glaube, dass wir darüber jetzt schon nachdenken müssen, dass wir es in den Blick nehmen müssen: Gerade die Kinder und Jugendlichen sind von dieser Pandemie ganz besonders herausgefordert, und das ist ein kleines Wort für eine ganz, ganz große Anstrengung bei diesen jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Sie brauchen unsere Unterstützung nicht nur jetzt in dieser Situation angesichts vieler Dinge, die nicht stattfinden können, da man sich nicht mit seinen Freundinnen und Freunden treffen kann, da man sich nicht in der Jugendeinrichtung treffen kann, da man nicht die Möglichkeit hat, all das zu tun, was in den Schulen sonst stattfindet. Es muss ein Aufholpaket geben, durch das wir allen die Chance geben, wieder eine gute Zukunft zu gewinnen. Auch das gehört aus meiner Sicht zur Coronapolitik dringend dazu. ({8}) Wir können all das, was jetzt notwendig ist, finanziell auch stemmen. Denn das gehört auch zu den Tatsachen, die wir berücksichtigen müssen, wenn wir über Nachtragshaushalt und Schulden, um die es ja immer geht, reden. Wir haben seriös gewirtschaftet in den letzten Jahren. ({9}) Wir haben eine sehr, sehr gute Grundlage für alles, was notwendig ist. Deshalb kann man sehr klar sagen: Wir werden nach der Krise besser dastehen, als alle anderen G-7-Staaten vor der Krise dagestanden haben. Wir werden eine geringere Staatsverschuldung haben, als wir nach der letzten Krise hatten. Alles das zusammen wird dazu beitragen, dass wir trotz der riesigen Mittel, die wir jetzt einsetzen, trotz der Kreditermächtigung, trotz der Schulden, die wir zusätzlich machen, wirtschaftlich wieder wachsen können, um eine gute Zukunft zu gewinnen. Wobei ich sehr klar sagen werde und will: Das wird nicht einfach; denn wir dürfen ja nicht nur an die kommende Legislaturperiode denken. Wir müssen auch wissen: Die Kredite, die wir jetzt aufnehmen, werden zurückgezahlt, ab 2026 alle zusammen. Das wird eine erhebliche Belastung für den Haushalt bedeuten. Deshalb auch an dieser Stelle ein klares Bekenntnis: Ohne faire Besteuerungsregeln wird das niemals funktionieren, und deshalb müssen wir hierzulande dafür sorgen, dass es fair zugeht. Aber wir brauchen auch große Fortschritte auf internationaler Ebene. Ich bin der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen sehr, sehr dankbar, dass sie jetzt die Initiativen für eine globale Mindestbesteuerung freigegeben hat, dass Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika und all die anderen Länder zusammen in diesem Sommer Regeln festlegen und damit eine faire Besteuerung der digitalen Konzerne, aber auch eine globale Mindestbesteuerung durchsetzen. Der Dumpingwettlauf bei den Steuern nach unten ist zu Ende. Das ist die Entscheidung dieses Jahres. ({10}) Aber auch das will ich hier sagen: Es gibt hohe Investitionen, die wir für die Zukunft brauchen, und sie werden langfristig abgesichert. Wir brauchen einen starken Sozialstaat, der uns jetzt in der Krise und auch in der Zukunft hilft. Auch das wird finanziell abgesichert. Deshalb ist der Nachtragshaushalt ein offensiver, ein mutiger Schritt. Wir können durchhalten, und wir werden die Krise hinter uns lassen. Das ist die Botschaft, die auch damit verbunden ist. Schönen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Boehringer, AfD. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nun stehen wir also zum vierten Mal in gut zwölf Monaten hier für eine Haushaltseinbringung, und erneut werden alle etablierten Maßstäbe der Haushaltsführung gesprengt: per 2021 nun 240 Milliarden Euro Schulden in nur einem Haushaltsjahr, 44 Prozent Kreditfinanzierungsquote des Haushalts. Das sind historische, zuvor niemals gesehene oder auch nur denkbare Dimensionen. Warum? Angeblich nur wegen Corona. Wir respektieren alle die Sorgen der Menschen vor einer real existierenden Infektionskrankheit, vor allem bei den Risikogruppen. Trotzdem sind die objektiven Fakten folgende: Die Regierung erhält den epidemiologischen und haushalterischen Ausnahmezustand derzeit über willkürliche Inzidenzzahlen aufrecht, die durch die massiv gesteigerte Anzahl von Tests in Schulen und Betrieben überall künstlich hochgetrieben werden. ({0}) Dies, obwohl die Regierung sogar selbst sagt – gestern in der „Welt“ –, dass andere Parameter als die absoluten Fallzahlen den Schweregrad der Pandemie abbilden, zum Beispiel der Anteil der Covid-Patienten an allen Intensivpatienten. Gerade einmal 20 Prozent der Intensivstationsbelegungen sind sogenannte Coronapatienten, also die, die wegen bzw. in vielen Fällen einfach nur mit Covid intensiv liegen. Auch nach 13 Monaten ist weiterhin kein Beleg erbracht, dass ausgerechnet die Lockdown-Maßnahmen, die Testmanie oder gar die Chaosimpfungen eine Eskalation der Pandemie verhindert haben. ({1}) Daten der Johns-Hopkins-Universität zeigen das Gegenteil anhand von Vergleichen von Ländern mit und ohne Lockdown. ({2}) – Wenn ich die Zwischenrufe höre: Ich habe die Daten dabei. Die Bundesregierung ist auch nach zwei Coronawintern noch immer in der Belegpflicht angesichts der gewaltigen Kollateralschäden an Psyche und Grundrechten der Menschen – von den existenziellen Schäden der Wirtschaft ganz zu schweigen. Wenn ich Zeit hätte, Herr Minister, würde ich jetzt über die Heuchelei reden, die Sie eben in Bezug auf die Kinder veranstaltet haben. Sie berauben diese Kinder ihrer Zukunft und aktuell ihres guten Alltags ({3}) und heucheln, etwas für die Kinder zu tun. Das ist wirklich übel. Die haushalterische Notsituation ist seit März 2020 eine unglaublich ergiebige Ausrede für uferloses Schuldenmachen. Auch im Haushalt 2021 findet man erneut keinerlei Einsparungen und verfassungswidrigerweise noch immer keine Auflösung der großen Asylrücklage. Zudem weist nur ein kleiner Anteil der mit 240 Milliarden Euro Neuverschuldung finanzierten Maßnahmen überhaupt einen Bezug zu Corona auf. Auf unsere vielfachen Nachfragen im Ausschuss hin wurde von der Regierung zuletzt gar nicht mehr behauptet, dass all diese Ausgaben coronabedingt seien, auf EU-Ebene übrigens ebenso wenig. Auch die neue EU-Coronaverschuldungskapazität wurde entgegen den Interessen Deutschlands als Haupthafter federführend vom deutschen BMF durchgesetzt. Von diesen 800 EU-Milliarden haben nur etwa 30 Prozent einen nachvollziehbaren Coronabezug. ({4}) Wir haben erst April. Es ist rekordverdächtig, wenn Olaf Scholz jetzt beantragt, den Schuldenhaushalt 2021 nach nur vier Monaten um weitere 60 Milliarden Euro Schulden aufzustocken. Und wer sagt uns denn, dass dieser Haushalt nun der letzte für 2021 sein wird? Noch im Dezember 2020 war für das BMF völlig unabsehbar, dass der Lockdown über Dezember hinaus dauern würde, obwohl man es natürlich bereits besser wissen musste. Ich hatte hier schon am 8. Dezember 2020 in der Debatte gesagt: „Der vorliegende Haushaltsentwurf gibt die Coronaausgleichszahlungen in derzeitiger Höhe nur etwa bis Sommer 2021 her.“ Und so müssen wir heute mit Ansage einen Nachtragshaushalt debattieren, der diesmal Corona-Lockdown-Folgen etwa bis zum Herbst vorsieht. Genauer wissen wir das nicht, weil das BMF sich hartnäckig weigert, die Basis der Etatkalkulation offenzulegen. Mein Tipp: Genau bis zur Bundestagswahl wird der völlig verantwortungslose Dauer-Lockdown mit 240 Milliarden Kreditgeld nun finanzierbar sein. Doch ab Herbst droht dann bereits die nächste milliardenschwere Etatlücke, um die sich dann der nächste Finanzminister und der nächste Bundestag kümmern müssen. ({5}) Aber es wurde ja seriös gewirtschaftet – das stand schon auf meinem Redezettel; das kam eben noch mal. Gemeint war natürlich: gut vorgesorgt in Form der formellen Notsituation auch schon für 2022. Erneut – das ist heute schon sicher – wird dann die verfassungsrechtliche Schuldenbremse ausgesetzt und somit der Artikel 115 Grundgesetz missbraucht im dann fünften Coronaschuldenhaushalt seit März 2020. ({6}) In diesem Sinne, Herr Minister, hinterlassen Sie Ihrem Nachfolger dann tatsächlich ein bestelltes Feld: ein mit Schuldgeld ganzer künftiger Generationen gedüngtes. Sie haben in diesen Bundestag in nur 13 Monaten mehr Schulden eingebracht, als der Bund zuvor in 20 Jahren gemacht hatte. Die EU finanziert jetzt sogar fast zwei Drittel ihres nunmehr verdreifachten Etats auf Pump. Es ist alles ökonomisch völlig unverantwortlich. ({7}) Sie nehmen die Bundeshaushalte bis 2058 in Geiselhaft. Deutschland haftet für die Schulden anderer Staaten. Künftig wird dann in Rom und Athen mitentschieden, wie hoch der Bundeshaushalt auszufallen hat. Das ist illegal. ({8}) Denn selbstredend wird dadurch künftig die haushalterische Gesamtverantwortung dieses Bundestags aufgegeben. Unsere Verfassungsklage dagegen liegt bereits in Karlsruhe. Schon zum regulären 2021er-Haushalt hatten wir diesem Haus eine Normenkontrollklage vorgeschlagen. Leider ist da niemand sonst mitgegangen. Tja, 2021 wird nun das Jahr der massiven Auswirkungen des Lockdowns. Bei Familienbetrieben und Mittelständlern wird derzeit die Lebensleistung von Generationen vernichtet – wegen der völlig unverhältnismäßigen Reaktion der Regierung auf eine Infektionskrankheit. ({9}) Die AfD erkennt den Coronamittelbedarf zu einem kleinen Teil an, und zwar verfassungskonform, das heißt ohne illegitime Verlängerung der haushalterischen Notsituation. Die wirklich sinnvollen Ausgaben im Gesundheitswesen und beim Kurzarbeitergeld und an einigen wenigen anderen Stellen anerkennt auch die AfD. Wir haben alle diese Ausgaben, ebenso die zum Schutz der Risikogruppen, seit März 2020 immer mitgetragen und mitfinanziert. Die Rettung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft kann aber nur über das Ende des Lockdowns kommen, ({10}) nicht über unbezahlbare Dauersubventionen, nicht über gewaltige Coronasteuererhöhungen, die ja schon sicher absehbar sind, nicht über permanente massenhafte Pflichttestungen und Bürgerrechtseinschränkungen und keinesfalls über unzureichend getestete Impfungen oder gar über eine faktische Impfpflicht, die wir kategorisch ablehnen. ({11}) Absolute Grundrechte, wie etwa das auf Freizügigkeit und körperliche Unversehrtheit, sind eben Grundrechte. Die Deutschen müssen sich diese im Grundgesetz 1949 aus guten historischen Gründen als Individualrechte verfassten unabdingbaren Grundrechte weder „erimpfen“ noch „ertesten“ lassen. ({12}) Diese Regierung verlässt den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wo ist der Verfassungsschutz, wenn man ihn braucht? ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Boehringer, nach der Rede, die Sie eben gehalten haben: Gehen Sie mal rüber zur Charité auf die Intensivstation! Würden Sie dort die gleiche Rede halten – vor Ärzten, vor Krankenschwestern und vor an Covid-19 Erkrankten, die beatmet werden müssen, die heute vier bis sechs Wochen da liegen, weil es mittlerweile die unter 60-Jährigen trifft? ({0}) Da gehen Sie hin und halten mal Ihre Rede und reden davon, dass das eine unverhältnismäßige Reaktion der Bundesregierung ist! ({1}) Ich will hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts herbeireden; aber die Höhe der Infektionswerte erschreckt einen schon. ({2}) Nachlaufend ist der Anstieg der Zahl der belegten Intensivbetten. Ich möchte nicht – ich sage das ganz ausdrücklich –, dass auch bei mir in der Fraktion der eine oder andere möglicherweise erst mit Bildern zur Vernunft kommt, wo zu sehen ist, wie in der Charité oder bei mir in Ribnitz-Damgarten in den Bodden-Kliniken die Intensivpatienten auf den Fluren liegen müssen, weil die Krankenzimmer belegt sind. Das möchte ich nicht. ({3}) – Das ist kein Unsinn. ({4}) Wenn Sie sich die Zahlen angucken, sehen Sie: Jeden Tag gibt es 80 bis 100 neue Intensivpatienten. Rechnen kann ich noch: Das sind in 7 Tagen 600 bis 700 und in 14 Tagen 1 500 weitere Intensivpatienten. Dann sind wir bei über 6 000 in der Bundesrepublik Deutschland, und dann ist die Kapazitätsgrenze erreicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen ist es richtig, dass wir handeln. Aber wenn man die Zahlen betrachtet, erschrecken die einen schon. 2020, 2021 und 2022: 450 Milliarden Euro Schulden. Die müssen jetzt nicht alle eintreten; das weiß ich auch. Das ist im letzten Jahr auch nicht der Fall gewesen. Aber die größere Kraftanstrengung wird sein, wieder die verfassungsgemäße Schuldengrenze einzuhalten. Das wird in der Zukunft die größere Kraftanstrengung werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich halte es auch für gerechtfertigt, im nächsten Jahr noch mal die Ausnahme von der Schuldenbremse in Anspruch zu nehmen. Das Entscheidende ist heute auch nicht die Verschuldungsquote des Staates, sondern das Entscheidende ist die Kreditfinanzierungsquote des Bundeshaushaltes. ({5}) Die Kreditfinanzierungsquote war im Jahr 2010 bei 15 Prozent; in diesem Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist sie bei 44 Prozent. Wir treffen Vorsorge, und das ist auch richtig. Wer sich den Pandemievorsorgetitel anschaut, sieht: Da sind jetzt schon 18 Milliarden Euro raus; wir füllen ihn wieder auf. 18 Milliarden! Das ist, Kollege Boehringer, kein Geld, das irgendwie sinnlos ausgegeben worden ist. Das ist ausgegeben worden fürs Testen, fürs Impfen, für Krankenhausfinanzierung, und es ist zum Beispiel – darüber werden wir wahrscheinlich noch reden müssen – für das Kurzarbeitergeld ausgegeben worden. Ich könnte noch viele Punkte nennen. Oder wollen Sie nicht, dass Familien geholfen wird? Wollen Sie nicht, dass Unternehmen geholfen wird? Wollen Sie nicht, dass wir Impfstoffe kaufen? Oder wollen Sie nicht, dass wir testen? Ich will dieses alles, und deswegen ist dieser Nachtragshaushalt richtig. ({6}) Ein Satz zu den Unternehmenshilfen. Gerade eben habe ich noch mal die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern angehört. Sie hat diese Woche gesagt: Der Bund hält seine Zusagen nicht ein. – Wir haben unsere Zusage eingehalten. Wir haben noch mal massiv aufgestockt, Herr Bundesfinanzminister – der Wirtschaftsminister ist jetzt nicht da –, Stichwort „Eigenkapitalzuschuss“ bei der Überbrückungshilfe III. Wir haben reagiert nach der Ministerpräsidentenkonferenz vom 3. März. Aktuell stehen bei den Unternehmenshilfen insgesamt 65 Milliarden Euro zur Verfügung; deswegen brauchen wir den Titel mit 25 Milliarden Euro im Nachtragshaushalt jetzt nicht anzupacken. Beantragt, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind mittlerweile rund 20 Milliarden Euro. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Immer wieder ist von den Ländern zu hören: Der Bund tut nichts. – Die Wirtschaftshilfen, Überbrückungshilfe I, II, III, November-, Dezemberhilfe, bezahlt komplett, zu 100 Prozent, der Bund allein, die Länder setzen um. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das muss mal gesagt werden: Bei der Novemberhilfe und Dezemberhilfe sind 85 Prozent der beantragten Volumina umgesetzt. Bei der November- und Dezemberhilfe stehen wir seit Wochen bei etwa 6 Milliarden Euro. Die Antragsvolumina steigen nicht mehr groß. Das heißt, da wird auch nicht mehr viel kommen. Ich glaube, gerade die Überbrückungshilfe III ist gut konzipiert, nicht branchenbezogen, sondern insgesamt für alle gleichmäßig passend. Ich bin davon überzeugt, dass die auch helfen wird. Ein Wort zu einer ganz spannenden Debatte, die auch in meinem Heimatland gerade wieder geführt wird. Schlagzeile: Kommunen haben einen Überschuss von 339 Millionen Euro. – 339 Millionen Euro! Es gibt zwei Gründe. Der erste Grund ist: Der Bund-Länder-Finanzausgleich zur Erhöhung oder Zurverfügungstellung eines Ausgleichs der kommunalen Finanzkraft ist in Mecklenburg-Vorpommern auf Druck der CDU komplett im kommunalen FAG gelandet – komplett, 330 Millionen Euro. Zum zweiten Grund. Ich habe mich mal nach Gewerbesteuereinnahmen bei mir an der Küste umgehört. Rügen, Usedom, Fischland-Darß: kein Einbruch. Und wissen Sie, wer die großen Gewerbesteuerzahler dort sind? Hotellerie und Gastronomie. Das sind dort die großen Gewerbesteuerzahler. Der zweite Grund ist der Ausgleich des Bundes bei der Gewerbesteuer. Ich will hier mal die Unterschiedlichkeit der Inanspruchnahme und der Finanzlage von Bund, Ländern und Kommunen deutlich machen. Bund, Defizit bei den Einnahmen: 131 Milliarden Euro. Finanzierungsüberschuss: 39 Milliarden Euro. Kommunen: positiver Überschuss von 2,7 Milliarden Euro. Aber jetzt kommt’s. Herr Bundesfinanzminister, Kinder- und Jugendhilfe ist Sache der Länder und Kommunen. Der Bund hat ein Minus bei den bereinigten Einnahmen von 43,5 Milliarden Euro. Die Länder haben ein Plus bei den bereinigten Einnahmen von 32,3 Milliarden Euro. Der Grund ist: Hier ist beim Bundesamt für Statistik die Bundeszuweisung an die Länder eingerechnet. Diese ist da gegenüber dem letzten Jahr eingerechnet. Das heißt 32,3 Milliarden Euro mehr in 2020 als in 2019. Die Kommunen haben ein Plus von 13,6 Milliarden Euro bei den bereinigten Einnahmen. Das sollte uns schon mal zu denken geben, was wir noch zu leisten haben, oder auch, wenn andere originär zuständig sind, was sie dann selber zu leisten haben. Ich bin Carsten Schneider und Anja Hajduk dankbar. Guckt man ins Jahr 2017 zurück: Prüfungsrechte des Bundesrechnungshofs. Wenn wir diese Verfassungsänderung nicht gemeinsam vorgenommen hätten, würde nicht auf den Tisch kommen, dass die Länder Stand Ende 2017 Reste bei den Regionalisierungsmitteln von 4 Milliarden Euro haben, aufwachsend auf 5 Milliarden Euro – Aussage des Bundesrechnungshofs im Haushaltsausschuss. Ich könnte diese Liste noch so weiterführen. Warum sage ich dieses gerade oder mache das sehr deutlich? Ja, wir wollen dieses Jahr 240 Milliarden Euro an Schulden aufnehmen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die größere Kraftanstrengung – ich wiederhole mich – wird das Herauswachsen aus den Schulden sein, um wieder das Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, einzuhalten, die Schuldengrenze einzuhalten. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Otto Fricke, FDP. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister, das, was der Kollege Rehberg gesagt hat, war für Sie eigentlich ein klarer Tiefschlag; denn er hat genau beschrieben, was Sie hinterlassen. Man muss einfach auch heute wieder feststellen: Das war nicht die Rede eines Finanzministers, eines Haushaltsministers, sondern das war die Rede eines Wahlkämpfers und Kanzlerkandidaten. ({0}) Was Sie mit dem deutschen Haushalt in den vier Jahren gemacht haben, ist, dass Sie ihn im Endeffekt in eine so tiefe Krise geführt haben, dass ich Eckhardt Rehberg nur zustimmen kann: Wer auch immer die nächste Regierung stellen wird, wird sich mit den Überbleibseln Ihrer eigentlich nicht mehr vorhandenen Haushaltspolitik auseinandersetzen müssen. ({1}) Es ist eine unkontrollierte Ausgabenwelle, die wir hier vorfinden. Es ist jetzt, wenn wir die Nachtragshaushalte dazunehmen, der vierte Verschuldungshaushalt, den wir hier erleben. ({2}) Es ist an der Stelle auch die typische Reaktion eines Wahlkämpfers, eines Sozialdemokraten. Meine Fraktion bestreitet überhaupt nicht, dass wir uns gegenwärtig in einer Krisensituation befinden, ({3}) und wir alle sind der Ansicht – unabhängig von der Frage, was der Grund dafür ist –, dass wir helfen müssen. Aber all das, was Sie machen, Herr Finanzminister – und da können Sie so lange in Ihren Papieren rumblättern, wie Sie wollen, statt zuzuhören, wie es eine Regierung im Parlament eigentlich tun sollte –, ({4}) zeigt doch nur ganz genau, wie Sie hier agieren. Dieses Parlament ist Ihnen eigentlich egal. Die SPD kann der Wahlkampfrede zuhören; die CDU, die mehr mit sich selbst beschäftigt ist, nimmt das alles hin. Aber es betrifft diejenigen draußen, die es am Ende bezahlen müssen. Sie sagen: Wir müssen helfen. – Richtig, wir müssen helfen. Aber wie hat Bertolt Brecht doch so schön in „Der Jasager. Der Neinsager“ geschrieben: „Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war.“ Man hätte sich mal damit beschäftigen müssen, wie man die Hilfen besser aufstellt, anstatt neue Behörden, neue Vorgänge zu schaffen. Und wir wissen doch auch, warum der Wirtschaftsminister nicht da ist: weil er die 57. Bürokratieregel finden muss, wie den Unternehmen vielleicht nun geholfen – bzw. nicht geholfen – werden kann. ({5}) Das Schlimmste, Herr Minister, ist – und das ärgert mich so sehr –: Wenn man in einer Notsituation ist, dann guckt man nicht nur: „Wo gebe ich mehr aus?“, sondern vielleicht auch mal: Wo gebe ich weniger aus? Worauf kann ich verzichten? ({6}) Um es ganz einfach zu machen: Dieser Finanzminister ist noch nicht einmal in der Lage, zu sagen: Okay, Leute, Corona geht weiter. Die Behördenvertreter werden weniger reisen. Wir reduzieren mal alle Reisekosten, wenigstens ein bisschen, und wenn es nur ein paar Millionen weniger Neuverschuldung bedeutet. – Nein, es bleibt alles beim Alten! Und genau das ist das, was Sie machen: Sie belassen es beim Alten, geben ein bisschen mehr drauf, schaffen sich eine Wahlkampfkasse, lassen sich hier applaudieren. Das ist im Endeffekt keine Haushaltspolitik, sondern das ist zukunftsvergessen und nicht das, was dieses Land eigentlich von einem Finanzminister erwarten könnte. ({7}) Das Zweite – und das ärgert mich auch sehr – ist, dass Sie in Ihrer Rede auf eine Sache nicht hingewiesen haben, die in diesem Nachtragshaushalt steht, nämlich die Erhöhung der Zinskosten um 4,5 Milliarden Euro. 4,5 Milliarden Euro mehr als noch im Dezember geplant muss dieses Land im Bereich der Zinsen ausgeben. 4,5 Milliarden! Das heißt, alle grünen Träume von kostenlosen Investitionen, alle linken Träume von kostenloser Mehrverschuldung sind zu Ende geträumt. Seit Mitte Februar sind die Zinsen weltweit gestiegen. Bei uns ist es so, dass inzwischen sogar schon die 15-jährigen Anleihen im positiven Bereich sind. ({8}) Um das einmal umzurechnen: Wenn Sie eine Verschuldung von 1 300 Milliarden Euro – 1,3 Billionen – haben, dann werden Sie an der Stelle sagen: Okay, das ist ja nicht schlimm. – Aber 0,1 Prozentpunkte mehr Zinsen – darauf sei nur mal hingewiesen – sind 1,3 Milliarden Euro. Das heißt, steigt die Verzinsung beim Bund um 0,1 Prozent, müssen Sie 1,3 Milliarden Euro mehr bezahlen. Was bedeutet das? Um ein Beispiel zu geben, was man mit 1,3 Milliarden Euro machen kann: Alle neuen Schüler bis 2023 könnten von diesem Geld ein iPad mit Stift bekommen. ({9}) Das ist dann weg, weil Sie eine Verschuldungspolitik machen, die zukunftsvergessen ist und Zinsen nicht berücksichtigt. ({10}) Das kann nicht die Zukunft sein. Ich will zum Schluss sagen: Dieses Land hat einen besseren Nachtragshaushalt verdient. Dieses Land hat aber noch etwas anderes verdient, nämlich endlich wieder einen Finanzminister. Dafür wird es Zeit. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Nachtragshaushalt müsste die Bundesregierung eigentlich drei Fragen beantworten: Erstens. Werden geeignete und wirksame Maßnahmen ergriffen, mit denen wir gesund aus der Krise und aus dem Lockdown herauskommen? Zweitens. Werden arme Menschen und Menschen in prekären Situationen wirksam unterstützt? Und – drittens – vor allem: Wer bezahlt die Coronarechnung? Darauf gibt die Bundesregierung keine ehrlichen Antworten. Wir aber sagen: Wir wollen vor der Bundestagswahl wissen, wer die Pandemiekosten bezahlen soll, meine Damen und Herren. ({0}) Aus dem Wellenbrecher-Lockdown ist nun ein Dauerwellen-Lockdown geworden. Woran liegt das? Das private Leben der Menschen wird drastisch eingeschränkt, aber das Wirtschaftsleben kann in vielen Bereichen einfach so weiterlaufen, als ob es keine Pandemie gäbe. Wenn es um Systemrelevanz geht, denke ich an Krankenhäuser, an Pflege, an den Lebensmittelhandel. Aber ich sage ganz deutlich: Der Bau von Panzern und Maschinengewehren ist nicht systemrelevant. Darum muss hier gestoppt werden, meine Damen und Herren! ({1}) Schriftlich wollte ich von der Bundesregierung wissen: Gibt es Überlegungen, die Produktion in Wirtschaftsbereichen, die nicht systemrelevant sind, in der Krise zu reduzieren? Die Antwort war Nein. Wir sagen: Das ist die falsche Antwort, meine Damen und Herren! ({2}) Erinnern wir uns: Die Kanzlerin wollte vor Ostern einen einzigen Ruhetag einlegen. Und was passierte? Sie wurde von den Cheflobbyisten der Autoindustrie zurückgepfiffen. Spätestens danach war klar, wer hier das Sagen in diesem Land hat. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren! ({3}) Viele Menschen denken inzwischen: Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten sind einfach unfähig. – Ich glaube aber, es geht um etwas anderes. Es geht um Interessen. Jeder muss wissen, dass im Präsidium der CDU die Wirtschaftslobby einen festen Platz hat und dort klare Ansagen macht, was geht und was nicht geht. Auch das muss sich ändern, meine Damen und Herren! ({4}) Die Kanzlerin fordert jetzt eine Notbremse für Schulen, aber nicht für Heckler & Koch und andere Kriegswaffenhersteller. Aber wir fragen Sie: Was ist eine Notbremse wert, die Schülerinnen und Schüler ausbremst und gleichzeitig der Rüstungsindustrie weiter grünes Licht gibt? Das geht so nicht weiter, meine Damen und Herren! ({5}) Und wir fragen uns auch, warum über drastische Ausgangssperren diskutiert wird, aber nicht über die Einschränkung nicht systemrelevanter Produktionen. Meine Damen und Herren, der Finanzminister will uns einreden: Wir werden aus der Krise herauswachsen. – Das ist eine Milchbubenrechnung! Und weil Sie auch in dieser Rede wieder behauptet haben, Deutschland werde nach der Krise besser dastehen als alle anderen Länder, können wir zurückblickend auf das vergangene Jahr, auf die vergangenen Monate nur sagen: Hier ist mehr Bescheidenheit angesagt. Es wurde ja auch behauptet, Deutschland werde beim Impfen besser vorankommen als alle anderen Länder. Das ist von der Realität widerlegt. Stellen Sie sich endlich der Realität! ({6}) Wir wissen alle: Die Pandemie trifft arme Menschen besonders hart. Bis Ende August 2020 haben 15,5 Millionen Haushalte in Deutschland Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Gering- und Normalverdiener sind am stärksten betroffen. 30 Prozent der Menschen mit besonders niedrigen Einkommen hatten seit Beginn der Pandemie Probleme, laufende Rechnungen zu bezahlen. Das ist nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis einer falschen Politik. Wir brauchen endlich eine sozial gerechte Politik in unserem Land, meine Damen und Herren! ({7}) Und gestern erst mussten sich Bezieher von Sozialleistungen auch noch vom Chef der Arbeitsagentur verhöhnen lassen. Ich kann nur sagen: Das war, mit einem Wort zusammengefasst, mehr als schäbig. ({8}) Meine Damen und Herren, die Menschen können ihre Miete nicht mehr bezahlen, und die Unionsfraktion klagt gegen den Berliner Mietendeckel. ({9}) Ich kann nur sagen: Das ist nicht nur mies, sondern hier zeigen sich auch klare Fronten. Immer da, wo das große Geld zu verdienen ist, finden sich auch die Abgeordneten der Union. Das ist gerade in der Pandemie unerträglich! ({10}) Ich kann Ihnen sagen: Sie können diese Scharte nur ausbügeln, wenn Sie hier im Bundestag noch in dieser Legislaturperiode einen bundesweit wirksamen Mietendeckel beschließen. Das wäre die richtige Entscheidung. ({11}) Im Nachtragshaushalt steht nicht, wer die Coronarechnung bezahlen soll. Und wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Es gibt nur zwei realistische Möglichkeiten, die Schulden abzubauen: entweder den Sozialstaat herunterfahren oder Milliardäre und Multimillionäre gerecht besteuern. Wir als Linke entscheiden uns für die zweite Variante. Wir brauchen endlich eine wirksame Besteuerung von Milliardären und Multimillionären, meine Damen und Herren! ({12}) Sie wollen die Politik der Schuldenbremse fortsetzen. Doch die Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Sie ist ökonomischer Unsinn und gehört endlich auf den Müllhaufen der Geschichte; ({13}) denn sie blockiert die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Wir müssen jetzt in Bildung, Krankenhäuser, preiswerte Wohnungen investieren. Die Klimakrise wird von uns noch viel größere finanzielle Kraftanstrengungen erfordern als die Coronakrise. Da darf niemand auf der Bremse stehen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Sven Kindler, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist nun der dritte Nachtragshaushalt innerhalb eines Jahres, den wir hier diskutieren. Ich sage klar: Es ist in dieser schweren Notlage, in dieser Pandemie richtig, dass die Bundesregierung die Kreditaufnahme erhöht. Es ist richtig, die Laufzeit der Wirtschaftshilfen zu verlängern. Und es ist auch richtig, mit diesem Nachtragshaushalt jetzt Impfstoffe zu finanzieren. Das ist richtig. Das stellen wir auch nicht infrage, und das unterstützen wir in diesen konkreten Punkten auch. ({0}) Aber, Herr Scholz, man muss an dieser Stelle auch festhalten – Sie haben die Coronapolitik der Bundesregierung angesprochen –, dass die extrem gefährliche Situation, in der sich Deutschland jetzt befindet – mit so hohen Inzidenzzahlen, mit vollen Intensivstationen –, doch damit zusammenhängt, dass die Bundesregierung keine konsequente Strategie bei der Coronapolitik verfolgt. Das hängt damit zusammen, dass wir seit Oktober in einem nicht wirksamen Halb-Lockdown sind und die Bundesregierung keine Strategie hat – genauso wie die MPK. Man ist immer hinter der Welle, anstatt die Welle frühzeitig und konsequent zu brechen. ({1}) Diese Strategie nach dem Motto „Too little, too late“ – immer zu wenig und zu spät –, die kann so nicht weiter funktionieren. Sie haben den Gesetzentwurf für die Bundesnotbremse angesprochen, Herr Scholz. Aber wir wissen doch alle hier im Haus, dass das nicht ausreichen wird, um die Inzidenzzahlen zu senken, und zwar schnell. Und das ist notwendig. Der Kollege Rehberg hat hier sehr genau ausgeführt, was mit den Intensivstationen passiert, wenn wir die Inzidenzzahlen jetzt nicht schnell senken. Deswegen fordere ich Sie auf: Wir im Bundestag müssen beim Infektionsschutzgesetz deutlich bessere, deutlich wirksamere Maßnahmen beschließen, gerade im Bereich der Arbeitswelt, gerade im Bereich der Wirtschaft; der darf nicht weiter ausgespart werden. Wir müssen jetzt handeln, und zwar schnell! ({2}) Konkret zum Nachtragshaushalt. Was Sie hier vorgelegt haben, Herr Scholz, ist wirklich nur das Allernötigste. Im Grunde sind es viele technische Anpassungen, die Sie hier vornehmen. Aber es ist kein Wille zum Gestalten mit diesem Nachtragshaushalt wirklich erkennbar. ALG-II-Empfänger/-innen werden bei diesem Nachtragshaushalt wieder leer ausgehen. Es gibt weiterhin keine wirksame, richtige Absicherung für Soloselbstständige. Und vor allen Dingen fehlt eine Perspektive: Was passiert nach dem Sommer mit Deutschland? Wie geht es dann weiter? Denn die Bundesregierung sagt ja selber: Dann werden wir hoffentlich aus dem Gröbsten heraus sein. – Aber dann muss man, finde ich, auch einen Plan vorlegen: Wie funktioniert die wirtschaftliche Erholung? Wie funktioniert der Wiederaufbau? Das muss man dann im Haushalt konkret absichern. Dann brauchen wir eben zusätzliche Investitionen, dann brauchen wir neue Innovationen, neue Impulse. Das muss man im Haushalt absichern. Aber das sehen wir nicht in diesem Nachtragshaushalt. Das ist viel zu wenig, was Sie hier vorgelegt haben. ({3}) Konkret fehlt es an Investitionen in Klimaschutz, in Bildung, in Digitalisierung. Damit vergibt die Bundesregierung hier auch eine Chance, einen ambitionierten Wiederaufbauplan vorzulegen. Ich frage mich schon: Wie soll die Bundesrepublik Deutschland nach dieser Pandemie mit diesem ewigen Weiter-so, mit diesem ewigen Verwalten des Status quo international wieder den Anschluss gewinnen? Wir sehen doch, wie viel in die Zukunft investiert wird in China, aber auch in den USA. Die neue Administration von Joe Biden hat jetzt einen ambitionierten Plan vorgelegt für Klimaschutz, für die Energiewende, für Forschung, für Digitalisierung, für ein großes Investitionsprogramm und für gute neue Arbeitsplätze. Da ist nichts verdruckst; da ist richtig Power hinter. Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland eine Bundesregierung bekommen, die wie die Biden-Administration wirklich anpackt, die wirklich vorangeht. Das brauchen wir nach der nächsten Bundestagswahl! ({4}) Sie haben gesagt, Herr Scholz, man braucht hohe Investitionen nach Corona. Aber die Investitionsstrategie dafür fehlt. Ein Blick in Ihren Haushalt zeigt: Der Nachtragshaushalt, aber auch die Eckwerte für den Haushalt 2022 und die Finanzplanung sehen vor, dass die Investitionen erst sinken und dann eingefroren werden. Das ist aus meiner Sicht Arbeitsverweigerung. Dass wir mehr Investitionen nach der Pandemie brauchen, das sagen nicht nur wir; das sagen übrigens auch Arbeitgeber und Gewerkschaften, und zwar im Gleichklang. Erst diese Woche hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft eine neue Studie vorgelegt. Arbeitgeber und Gewerkschaften sagen gemeinsam: Wir brauchen mehr Investitionen, und dafür müssen wir auch die Möglichkeit nutzen, das über neue Kredite zu finanzieren. – Sie sagen gleichzeitig: Wir müssen die Schuldenbremse reformieren, und wir müssen dafür sorgen, dass wir keine harten, zu kurzen Tilgungsfristen haben, damit sich Deutschland nach Corona eben nicht kaputtspart. – Ich finde, es wird Zeit, dass man auch auf die Stimmen aus der Wirtschaft hört. Wir brauchen endlich eine investitionsfreundliche Haushaltspolitik; das ist auch wirtschaftsfreundlich. Wir dürfen nicht weiter an alten Dogmen festhalten. ({5}) Dafür brauchen wir auch eine Reform unserer Schuldenregeln. ({6}) Ich sage: keine Abschaffung, eine Reform – keine Abschaffung, wie es die Linkspartei will, aber auch kein starres Festhalten, wie es die Unionsfraktion will. ({7}) Vielmehr brauchen wir eine Reform unserer Schuldenregeln. Denn es geht darum, dass wir Investitionen, die neues Vermögen schaffen, finanzieren und dafür auch neue Kredite aufnehmen. Die Ablehnung dessen, gerade aus der Unionsfraktion, lässt sich aus meiner Sicht inzwischen nur noch ideologisch begründen; denn mit makroökonomischer Expertise hat das wenig zu tun. Aber auch mit mikroökonomischer Expertise, also mit einzelwirtschaftlichem Sachverstand, hat das wenig zu tun. Es ist doch absurd, bei dauerhaft niedrigen Zinsen auf neue Kredite zu verzichten, wenn man gleichzeitig einen so hohen Investitionsstau hat. ({8}) Welche Unternehmerin würde denn, wenn es extrem niedrige Zinsen gibt und sie gleichzeitig veraltete Maschinen hat, nicht sagen: ({9}) „Ich nutze diese Chance; ich investiere jetzt in neue, effizientere Maschinen, erneuere meinen Investitionsstock“? Das würde man doch machen. Man wäre doch mit dem Klammerbeutel gepudert, diese große Chance jetzt nicht zu nutzen. Ich fordere Sie auf: Kommen Sie endlich in der ökonomischen Realität an, und handeln Sie endlich! Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Dennis Rohde, SPD. ({0})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Mal, dass wir hier über den Haushalt gesprochen haben, war am 11. Februar. Seit dem 11. Februar sind 16 500 Menschen in Deutschland an Corona verstorben. Das zeigt die dramatische Situation und die dramatische Lage, in der wir uns befinden. Ich will mich Eckhardt Rehberg anschließen: Ich würde mir wünschen, Herr Boehringer, Sie würden auch den Familien, den Menschen, die Familienangehörige verloren haben, das erzählen, was Sie gerade in diesem Haus gesagt haben. ({0}) Lieber Sven-Christian Kindler, ich habe gerade gehört, dass die Zahlen auch so hoch sind, weil nicht genug Entschlossenheit da ist, weil man in Regierung und MPK nicht durchgreift. Ich möchte mal deutlich machen: Die Grünen sitzen in elf Landesregierungen. ({1}) Sie stellen einen Ministerpräsidenten. Viellicht nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen, sondern auch mal die eigenen Leute in die Kritik nehmen und sie fragen, was sie denn da falsch gemacht haben! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der dramatischen Lage werden wir weiter Einschnitte in unser tägliches Leben in Kauf nehmen müssen. Wir werden weiter Grundrechte gegeneinander abwägen müssen und werden weiter unsere Freiheitsgrundrechte nicht so ausüben können, wie wir es uns alle wünschen würden. Deswegen müssen wir auch weiterhin politisch handeln. Aber weil hier gerade gesagt wurde, das, was wir machen, sei eine unkontrollierte Ausgabenwelle, will ich noch mal klarstellen: Das sind milliardenschwere Hilfspakete, damit Unternehmerinnen und Unternehmer durch diese Krise kommen, ({3}) damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vor der Krise einen Job hatten, durch diese Krise nicht ihren Beruf verlieren. ({4}) Das sind milliardenschwere Pakete, um Impfstoffe anzuschaffen, um unser Gesundheitssystem zu stärken. – Deswegen: Wer sagt, das seien alles unkontrollierte Ausgaben, der möge doch sagen, er wolle Insolvenzen, er wolle Arbeitslosigkeit, er wolle keine Impfungen. Denn das ist die Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) In der Krise kann man launige Reden halten; aber am Ende des Tages muss man handeln. Man muss handeln, damit eben nicht Unternehmerinnen und Unternehmer, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Ende die Zeche für eine Krise zahlen müssen, für die sie selbst nichts können. Dann sieht Handeln so aus wie das, was der Bundesfinanzminister Olaf Scholz vorgelegt hat, indem man die Pakete, die es gibt, stärkt und aufstockt und die deutliche Botschaft sendet: Wir lassen euch auch im Jahr 2021 nicht im Stich, und das, was wir euch bisher an Hilfe angeboten haben, das verbessern wir, das bauen wir aus, und das stellen wir euch auch weiter zur Seite. ({6}) Nun ist diese Krise eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Unser Staat ist voll handlungsfähig, finanziell voll handlungsfähig; der Minister hat es gesagt: Wir stehen nach der Krise besser da als die anderen G-7-Staaten vor der Krise. – Wir stehen, gemessen an unserem Schuldenstand, nach dieser Krise besser da als nach der Wirtschaftskrise 2009. Wir können uns das leisten, zumal wir im Haushaltvollzug 2020 so viel eingespart haben, ({7}) dass das, was wir jetzt drauflegen, sogar noch hinter dem zurückbleibt, wovon wir mal als Worst Case ausgingen. Wir haben einen handlungsfähigen Staat. Und nichtsdestotrotz sage ich: Diese Krise ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und es ist nicht einzig und allein der Staat gefordert. Deswegen finde ich es auch richtig, dass wir deutlich gemacht haben: Wenn es um Testen geht und wenn es um Arbeitsschutz geht, dann sind auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in Deutschland gefordert, diejenigen, die kein Homeoffice anbieten wollen oder können, diejenigen, die ihre Produktion aufrechterhalten, die vielleicht sogar mehr Gewinn gemacht haben als vor der Krise; auch die müssen ihren Teil zum Schutz ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beitragen, und auch das stellen wir sicher. ({8}) Und – der Bundesfinanzminister hat es angesprochen –: Wir wissen, dass Familien einer ganz besonderen Belastungssituation unterliegen. Wenn man darüber diskutiert, bei welcher Inzidenz man Schulen, Kitas wieder schließt, dann muss man auch immer mitdenken, dass das dann bedeutet, wieder Homeoffice und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Deswegen ist es auch richtig, dass wir in den letzten zwölf Monaten einen Fokus auf Kinder und Familien gelegt haben und auch weiterhin legen werden, indem wir die Kinderkrankentage weiter ausbauen, ({9}) indem wir den Kinderbonus noch mal verankern und indem wir auch über ein gutes und tragfähiges Konzept diskutieren, wie man das, was Kinder jetzt verpasst haben – sei es in der Schule, aber auch in der Freizeit –, durch staatliche Angebote wieder ausgleichen kann, damit sie auch alle Chancen in ihrem weiteren Leben haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Die Botschaft des heutigen Tages ist daher: Ja, wir stehen weiter vor enormen Kraftanstrengungen, nicht nur als Haushaltsgesetzgeber, sondern als Gesellschaft; jeder von uns wird weiterhin verzichten müssen. Die staatliche Botschaft heute ist: Erstens. Der Staat ist voll handlungsfähig. Zweitens. Der Staat steht auch weiter in aller Konsequenz an der Seite der Bürgerinnen und Bürger – mit den Hilfspaketen, die er auf den Weg gebracht hat und weiter auf den Weg bringen wird. Denn wir sind der festen Überzeugung: Nur gemeinsam können wir das Virus besiegen, und nur gemeinsam können wir diese Pandemie hinter uns lassen. Mit diesem Nachtragshaushalt legen wir das weitere Fundament. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Karsten Klein, FDP. ({0})

Karsten Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004780, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Impfen schützt die Menschen in diesem Land. Impfen verhindert Krankheiten; Impfen schützt vor Lockdown; Impfen schütz vor Folgeschäden, und es bewahrt die Bildungschancen unserer jungen Generation. ({0}) Deshalb stehen wir Freien Demokraten auch hinter den eingestellten Haushaltsmitteln, hinter den 6,2 Milliarden Euro, für den Bereich Impfen – keine Frage! ({1}) Aber, liebe Bundesregierung, man muss den Impfstoff auch zum Gamechanger machen, und deshalb: Nur ein verimpfter, ein verabreichter Impfstoff ist ein wirksamer Impfstoff. Deshalb muss der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn endlich die Frage beantworten, warum wir im Vergleich der europäischen Partner nur einen schlechten Mittelfeldplatz bei der Impfgeschwindigkeit belegen, warum 20 bis 25 Prozent der gelieferten Impfstoffe nicht verimpft sind. ({2}) Das sind Fragen, die endlich geklärt gehören. Dieses Versagen bei der Impfstrategie schadet diesem Land. ({3}) Dieses Versagen bezahlen die Menschen in diesem Land nicht nur mit ihrer Gesundheit. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmen bezahlen es im Zweifel mit ihrer Existenz und mit ihren Zukunftsperspektiven. ({4}) Deshalb: Lassen Sie die Mittel im Haushalt wirken! Wir brauchen mehr Tempo bei der Impfstrategie! ({5}) Um die wirtschaftlichen Folgen abzumildern, die aus dieser Krise entstehen, schlagen wir Freien Demokraten Ihnen seit einem Jahr ein sehr wirksames Kriseninstrument vor, und zwar die Einführung einer negativen Gewinnsteuer. ({6}) Vor allem würden die Mittel bei den Betroffenen auch ankommen. Ihre Wirtschaftshilfen, die im Haushalt stehen, kommen ja gar nicht an. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Überbrückungshilfe III – Stand dieser Woche –: 7,4 Milliarden Euro beantragt, 3,1 Milliarden Euro bei den Betroffenen angekommen. Das ist doch keine wirksame Wirtschaftshilfe in einer Krisensituation. ({7}) Ihre Wirtschaftshilfe ist ein Konjunkturprogramm, aber leider nur für die Insolvenzverwalter. Da hilft es auch nichts, wenn Sie noch mal 25,5 Milliarden Euro ins Schaufenster stellen. Bei der Wirtschaftshilfe muss endlich geliefert werden! ({8}) Dieses ganze Staatsversagen möchten Sie mit einem Schuldenberg überdecken. Wir Freien Demokraten sagen Ihnen eins: Wenn Sie noch mal 50 Milliarden Euro Schulden über die Feststellung einer Notsituation aufnehmen wollen und der gleiche Betrag als Rücklage eingestellt ist, dann vergehen Sie sich an der nächsten Generation. Zuallererst werden in einer Krise Reserven aufgebraucht, bevor man zukünftige Generationen belastet. ({9}) Dieser Haushalt ist ein Anschlag auf die Generationengerechtigkeit, Herr Finanzminister. Dieser Haushalt ist nicht enkelfit, und deshalb werden Sie zu diesem Haushalt auch keine Zustimmung der Freien Demokraten, der FDP, erhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. André Berghegger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Dennis Rohde, da ich dir ja sonst auch nicht widerspreche, werde ich das jetzt auch nicht tun; aber in guter koalitionärer Zusammenarbeit möchte ich deinen Beitrag ergänzen – das gehört zur Vollständigkeit des Bildes dazu –: Wir haben in 2020 im Vollzug dennoch Rekordschulden aufgenommen. Wir haben nichts eingespart. ({0}) Denn Schuldenmachen ist immer der leichtere Weg, als auf andere Art und Weise einen Ausgleich hinzubekommen. ({1}) Ich denke, das gehört zur Vollständigkeit des Bildes dazu. ({2}) Meine Damen und Herren, besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Wenn wir ein – in Anführungszeichen – „normales“ Haushaltsjahr hätten, würden wir nicht fünf Monate nach der Bereinigungssitzung hier stehen und über einen Nachtragshaushalt sprechen. Das wäre nicht realistisch. Jetzt, in dieser Situation, ist das aber, denke ich, nachvollziehbar. Wir haben 2021 – das haben wir mehrfach gehört – ein verändertes Pandemiegeschehen, eine veränderte Virusvariante und nach wie vor erhebliche Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Deshalb ist es haushalterisch richtig, frühzeitig zu handeln, zu reagieren, um das gesamte Jahr über handlungsfähig zu sein. ({3}) Haushalt ist bekanntermaßen in Zahlen gegossene Politik. Und das gilt, glaube ich, jetzt mehr denn je. Wir stemmen uns als Bund mit aller Kraft finanzpolitisch gegen diese Pandemie. Die Ausgaben der Pandemiebewältigung werden wir finanzieren, wenn sie absehbar sind und eine gewisse Haushaltsreife erreicht haben. Aber ich würde auch Wert darauf legen, diesen Nachtrag auf die Pandemiebewältigung zu beschränken, das heißt, wenn möglich, auf die Einzelpläne 15, 32 und 60; das sind Gesundheit, Bundesschuld und Allgemeine Finanzverwaltung. Alle anderen Einzelpläne haben wir vor gerade mal fünf Monaten ausführlich debattiert, diskutiert und entschieden. Zu Kennzahlen des Nachtrages. Wir haben das Haushaltsvolumen um 50 Milliarden auf jetzt 550 Milliarden Euro erhöht. Wir haben die Nettokreditaufnahme um 60 Milliarden auf 240 Milliarden Euro erhöht. Das sind die nackten Zahlen. Aber was ist das denn eigentlich für eine Dimension? Das will ich an zwei Beispielen noch mal deutlich machen: Die Nettokreditaufnahme innerhalb von zwei Jahren – 2020, 2021 – beträgt 370 Milliarden Euro. Das ist die Summe, die einem Haushaltsvolumen des Bundes von vor wenigen Jahren entspricht, um die Größenordnung einmal festzustellen. Und die Kreditaufnahme in zwei Jahren – 2020 und 2021 – entspricht der Summe der Kreditaufnahme in den 20 Jahren zuvor. Das waren auch keine einfachen Zeiten; es sei nur an die Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren erinnert. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten dieses Nachtrages. Wir werden natürlich die Unternehmenshilfen ausweiten. Unternehmer, die besonders schwer und lange betroffen sind, erhalten zusätzlich zu den Hilfen einen Eigenkapitalzuschuss; das Stichwort fiel auch schon. Das ist, denke ich, ganz wichtig, um den Unternehmen in dieser Situation eine Hilfeleistung zu gewähren. Wir werden nach den Erfahrungen aus der Praxis die Überbrückungshilfe III weiter ausbauen. Ich hoffe einfach, dass diese Hilfen schnell ankommen, schneller als vielleicht in der Anfangsphase der Pandemie. An dieser Stelle möchte ich gern die Gelegenheit nutzen, um mit einer Mär aufzuräumen – auch das ist schon in dieser Debatte angeklungen –: Manche Vertreter der Länder behaupten immer wieder, der Bund leiste seine Hilfen nicht. Aber ehrlicherweise wird diese Behauptung auch durch ständige Wiederholung nicht besser. Ein Blick auf Dashboard Deutschland hilft. Es beschreibt tagesaktuell, wie die unterschiedlichen Zuschussvarianten und Hilfsprogramme bearbeitet und abgerufen worden sind. Jedes Programm hat mindestens einen Auszahlungsstand von über 80 Prozent, Stand gestern. Eine Ausnahme gibt es: die aktuell zu bearbeitende Überbrückungshilfe III. Aber das ist auch logisch; da gehen jeden Tag neue Anträge ein. ({4}) Deswegen bitte ich – anders formuliert – die Vertreter der Länder: Suchen Sie den Schwarzen Peter nicht immer beim Bund. Zweitens. Wir werden Maßnahmen im Gesundheitsbereich anheben. Über die Impfstoffbeschaffung haben wir oft und lange geredet; aber fest steht nach wie vor: Fast jeder Beschaffungspreis ist bei schnellem Einsatz volkswirtschaftlich günstig. Ziel muss es doch sein, die Beschränkungen in dieser Gesellschaft so lange wie nötig, aber vor allen Dingen so kurz wie möglich aufrechtzuerhalten. Deswegen werden wir als Bund da auch noch mal eine zusätzliche Finanzierung unterstützen. Zu guter Letzt wollen und müssen wir natürlich die Mindereinnahmen im steuerlichen Bereich darstellen. Dies bietet mir die Gelegenheit, noch mal auf das Verhältnis von Bund und Ländern im Allgemeinen zu sprechen zu kommen. Der Föderalismus hat sich bei uns über Jahrzehnte bewährt, und er hat uns stark gemacht. Aber ich beobachte seit Jahren eine Entwicklung mit Sorge, und zwar unabhängig von der Couleur der Landesregierungen: Wir dürfen uns nicht zu einer Art Wohlfühlföderalismus weiterentwickeln nach dem Motto: Die Länder können und wollen sich bei bestimmten schwierigen Fragen nicht einigen oder verständigen, obwohl notwendige Entscheidungen zu treffen sind, Stichwort „Flickenteppich an Regelungen“. Dann muss der Bund eingreifen, soll sich aber bitte sonst nicht zu sehr einmischen, und darüber hinaus soll er noch großzügig finanzieren. – Ich halte diese Entwicklung, höflich formuliert, für unglücklich. ({5}) Der Maßstab unseres Handelns muss doch die Zuständigkeitsregelung und die daraus folgende Finanzverantwortung aus dem Grundgesetz sein. Und wenn wir hoffentlich zügig die Pandemie in den Griff bekommen haben, danach einen Strich darunter machen und dabei feststellen, dass die Zuständigkeitsregelungen nicht mehr zeitgemäß sind, dann müssen wir – aber später – sachlich und in Ruhe darüber reden. Zu den Zahlen im Besonderen: Natürlich hatten Bund, Länder und Kommunen im letzten Jahr geringere Steuereinnahmen. Aber mit den Hilfen des Bundes hatten Länder und Kommunen Mehreinnahmen und der Bund noch größere Mindereinnahmen. Und wenn man sich jetzt die Haushalte der Kommunen genauer anguckt und Einnahmen und Ausgaben gegenüberstellt, stellt man fest, dass die Kommunen in dieser schwierigen Situation im letzten Jahr sogar finanzielle Überschüsse in den Kernhaushalten aufgewiesen haben. Das wird viel zu wenig erwähnt; wir sollten es aber immer mal wieder betonen und in Erinnerung rufen. ({6}) Der Bund, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in Zukunft die reguläre Schuldenbremse nur dann so schnell wie möglich wieder einhalten können, wenn er deutliche Prioritäten bei den Ausgaben setzt. Da sehe ich keine großen Spielräume für weitere großräumige Entlastungen von Bund und Ländern. Darin fühle ich mich auch immer wieder durch die Position des Bundesrechnungshofes bestätigt. Ich komme zum Schluss. Wir können nur immer wieder betonen: Erst die solide Haushaltsführung über Jahre hinweg hat uns die finanziellen Möglichkeiten eröffnet, um in Deutschland jetzt so helfen zu können. Das zeichnet uns auch im Vergleich zu anderen Ländern international aus. Deswegen danke ich an dieser Stelle dem Vater dieser Politik, Wolfgang Schäuble, der nach langer Zeit diese Kehrtwende eingeleitet hat. ({7}) Zu dieser finanziellen Solidität müssen wir so schnell wie möglich zurückkehren, um für die Zukunft gewappnet zu sein; denn es werden auch wieder schwierige Phasen folgen. Das sollte und muss unser Anspruch sein. Meine Damen und Herren, die Menschen in diesem Land haben es verdient, dass nach so vielen schweren Monaten endlich Besserung in Sicht kommt. Das ist nicht nur, aber auch unsere Verantwortung. Der Nachtrag wird dazu einen Beitrag leisten. Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Marco Bülow.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man in einer Krise Schulden aufnimmt, dann ist das erst mal selbstverständlich und auch richtig. Die Frage ist aber, wofür man sie aufnimmt und ob man in die Vergangenheit investiert oder in die Zukunft. Gerade in einer Pandemie braucht man Investitionen in die Zukunft. Dafür müssten Schulden da sein. Des Weiteren müsste man immer in so einer Situation sowohl auf die Einnahmeseite als auch auf die Ausgabenseite blicken. Das gehört zu einer solchen Debatte dazu. Hierzu möchte ich drei Punkte kurz nennen: Erstens. Wenn man Geschenke ohne Gegenleistung verteilt, wie zum Beispiel letztes Jahr an die Lufthansa, dann muss man sich nicht wundern, wenn dieses Geld irgendwann fehlt. Oder nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Mercedes schüttet 1,4 Milliarden Euro an Dividenden aus. Diese Dividenden landen nicht hauptsächlich bei deutschen Aktionären, sondern irgendwo im Ausland. Dieses Geld ist weg. 700 Millionen Euro hat Mercedes aber auf der anderen Seite als Kurzarbeitergeld angenommen. Das ist schäbig. Genau vor diese Ausgaben müsste die Politik einen Riegel schieben. ({0}) Ich könnte jetzt noch einen weiteren Punkt aufmachen, nämlich dass die Kosten für externe Mitarbeiter in den Ministerien wachsen – trotz Pandemie. ({1}) Auch das wäre ein Schritt, wenn man da eingreifen würde. Zweitens. Nehmen wir den Militärhaushalt. Der Militärhaushalt ist seit 2014, also innerhalb von nur sieben Jahren, um 15 Milliarden Euro gestiegen, und er steigt auch während der Pandemie. Warum gehen wir da nicht ran? Mit Panzern und den ganzen Neuanschaffungen werden wir nicht die Pandemie bekämpfen und auch nicht die Auswirkungen, die Covid hinterlässt. Auch das ist eine Sache, die wir mal hinterfragen sollten. Drittens. Ich habe hier schon mal von der Blacklist gesprochen, also von den Ausgaben, die getätigt werden, und von den Einnahmen, die nicht hereingeholt werden. Auch dazu gibt es eine neue Meldung. Wir können natürlich gern noch mal über Cum/Ex und die ganzen Dinge sprechen, bei denen es die Regierung und die Länder versäumt haben, Steuerprüfer einzusetzen, die genau dem auf den Grund gehen, weswegen dann viele Sachen verjährt sind. Heute gibt es neu die Meldung, dass Menschen mit einem Einkommen von über 500 000 Euro im Jahr immer seltener kontrolliert werden. Es gibt nur noch die Hälfte der Kontrollen, die es früher gab. Auch dadurch geht uns Geld verloren. Über diese Dinge müsste auch bei Haushaltsdebatten und Nachtragshaushalten gesprochen werden. ({2}) Am Ende geht es vor allen Dingen darum, dass die Pandemie und die Maßnahmen gegen die Pandemie dafür sorgen, dass die Ungleichheit in diesem Land rapide wächst, dass einige sogar hohe Profite machen und sich die Taschen vollstopfen trotz oder wegen dieser Pandemie und andere – die breite Mitte und viele von denen, die nicht viel haben, also sozusagen diejenigen, die in der Pflege oder in anderen Bereichen schuften – die Lasten zu tragen haben, aber keine Unterstützung kriegen oder ihre Existenz verlieren. Und auf die müssten wir uns konzentrieren. In Deutschland gibt es überhaupt keine Untersuchungen und Debatten darüber – in vielen Ländern gibt es starke Debatten darüber –, was die Auswirkungen für das gesellschaftliche Gefüge bedeuten, wie ungleich sie sind und wer am Ende die Zeche zu zahlen hat; denn darauf kommt es ja an. Wir sprechen jetzt über den Nachtragshaushalt, aber die nächsten Jahre werden wir doch darüber reden, wer die Zeche zu zahlen hat. Das werden wieder diejenigen sein, die nicht besonders viel haben. – Da müsste Politik für sorgen, da müsste ein Finanzminister für sorgen, und dafür müsste eine Regierung sorgen. Danke. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU. ({0})

Florian Oßner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Nachtragshaushalt setzt drei Schwerpunkte: erstens Gesundheit, zweitens Wirtschaft, drittens Familie. So werden unter anderem Mehrausgaben beim Gesundheitsministerium in Höhe von 8,7 Milliarden Euro abgebildet, davon allein 6,2 Milliarden Euro für die Beschaffung von wichtigen Impfstoffen, und 1,5 Milliarden Euro für unsere Krankenhäuser. Diese leisten momentan in ihrer Flächendeckung die Mammutaufgabe der Pandemiebewältigung vor Ort. Dafür an alle Ärzte und Pflegekräfte ein großes Lob und Dankeschön vorab! Auch wenn es viele nicht mehr hören können: Jeder Euro in diese Arbeit ist ein gut investierter Euro. ({0}) Auch für die wirtschaftliche Bewältigung der Pandemie enthält der Nachtragshaushalt noch einmal mehr Mittel. Damit stehen in diesem Jahr insgesamt 65 Milliarden Euro an Wirtschaftshilfen zur Verfügung. Das ist ein historisch gigantisches Programm für unseren Mittelstand. Auch wenn die Auszahlung anfangs schleppend lief, so ist doch am Ende entscheidend, dass diese Hilfen bei unseren Unternehmen ankommen. Wir sollten deshalb diese Hilfen nicht immer schlechtreden und in Misskredit ziehen. Nein, ganz im Gegenteil: Dies war und ist ein maßgeblicher wirtschaftlicher Stabilitätsfaktor für unser Land. ({1}) Angesichts all der schwierigen Umstände in den Familien, mit Homeschooling, den fehlenden Betreuungs- und Bewegungsmöglichkeiten für die Kinder, liegen oft – verständlicherweise – die Nerven blank. Meiner Frau und mir geht es da nicht viel anders. Das ist schon eine richtige Belastungsprobe für unsere Familien. Mit den zusätzlichen Kinderkrankentagen, dem Kinderzuschlag, der Unterstützung von Alleinerziehenden und nun darüber hinaus mit dem Kinderbonus in Höhe von 150 Euro pro Kind setzen wir jedoch eine wichtige Kernbotschaft ab: Die Familien sind die Herzkammer unserer Gesellschaft, und das soll auch in Zukunft so bleiben. ({2}) CDU und CSU haben gemeinsam jahrelang für ausgeglichene Haushalte in Deutschland gesorgt und damit die Staatsfinanzen konsolidiert. Dies war auch die Grundvoraussetzung für staatliche Handlungsfähigkeit und Krisenfestigkeit. Trotz der hohen Ausgaben, die überwiegend der Bund im Vergleich zu den Ländern und Kommunen zu schultern hat, steht Deutschland wirtschaftlich noch wesentlich besser da als viele andere große Volkswirtschaften. Viele reden derzeit über die Erfolge in Großbritannien und den USA, was die Pandemiebewältigung angeht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir in Deutschland die niedrigste Schuldenquote der G 7, also der sieben großen Industrienationen, haben. Unsere gute Haushaltspolitik der vergangenen Jahre macht es uns möglich, jetzt verstärkt zu investieren. Der Weg der Neuverschuldung darf letztlich aber nur eine Ausnahme bleiben; denn wie der britische Ökonom David Ricardo trefflich bereits im 19. Jahrhundert beschrieben hat: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. – Wir müssen deshalb festhalten, falls wir weiterhin Leistungsgerechtigkeit wollen: Es gibt auf Dauer keine verantwortbare Alternative zu einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik. ({3}) Der Bundesrechnungshof weist zu Recht in seinem Lagebericht in diesem Monat darauf hin, dass wir Gefahr laufen, unsere Vorbildfunktion innerhalb der Europäischen Union zu verlieren. Wir sind die letzte große Volkswirtschaft mit dem bestmöglichen Kreditrating aller drei wichtigen Ratingagenturen. Aus diesem Grund möchte ich auch alle Kolleginnen und Kollegen sowie die Ministerien aufrufen, alle, ja wirklich alle Ausgabewünsche auf ihren investiven Charakter für die Zukunft Deutschlands abzuprüfen. Mit einer Nettokreditaufnahme von 240 Milliarden Euro erreichen wir einen Höchstwert, der so einmalig bleiben muss. ({4}) Wenn ich mir dabei das grüne Wahlprogramm mit dem Titel „Deutschland. Alles ist drin“ anschaue, ({5}) dann bekommt die Aussage der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken einen richtig dicken Schrecken; sie hat ja gesagt: Niemand müsse Angst vor Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot haben. – Auweia! Die Grünen wollen laut Wahlprogramm einführen: Ein Klimawohngeld, eine Mobilitätsprämie, eine Kindergrundsicherung mit GarantiePlus-Betrag, eine allgemeine Garantiesicherung, eine KinderZeit Plus. Nahverkehr, Volksbildung, Diversity – nur ein kurzer Auszug – sollen üppigst subventioniert werden. Der grüne Staat ist ein Umverteilungsstaat, ({6}) er sitzt auf einem Berg von Geld und teilt es den Richtigen zu. Ein besserer Titel des grünen Programms wäre aus meiner Sicht deshalb: Deutschland – wer soll das alles nur bezahlen? ({7}) Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte an den Bundesfinanzminister richten. Sehr geehrter Herr Minister und SPD-Kanzlerkandidat, wir als Haushälter der Unionsfraktion stellen Ihnen hier sicherlich keinen Blankocheck aus. Die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen werden wir auch weiterhin im Blick haben. Nach der Rekordneuverschuldung in diesem Jahr müssen wir in den nächsten Jahren die Defizite wieder absenken und zum Pfad ausgeglichener Haushalte zurückkehren. Seien Sie sich versichert, dass wir als CDU und CSU gemeinsam hierfür alle Hebel in Bewegung setzen werden. Herzliches „Vergelts Gott!“ fürs Zuhören. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie diese Erklärung zulassen. In der gestrigen Debatte zum Thema Transparenzregister ist es bei einem Debattenbeitrag von Fabio De Masi von der Fraktion Die Linke zu einer Aussage gekommen, die meiner Fraktion zugeschrieben wurde und mit mir persönlich namentlich in Verbindung gebracht wurde: „Geldwäsche sei die Notwehr des kleinen Mannes.“ – Diese Aussage ist falsch, ist unwahr und ehrabschneidend. Geldwäsche ist eine Straftat, und die Äußerung „Geldwäsche sei die Notwehr des kleinen Mannes“ kann als Aufforderung zu einer Straftat ausgelegt werden. Ich als Mitglied des Finanzausschusses verwehre mich dagegen, mit solchen Straftaten oder der Duldung von solchen Straftaten in Verbindung gebracht zu werden. Im Nachgang dieser Äußerung haben wir uns die Plenardebatten seit 2018, insbesondere mit Herrn De Masi, angeschaut. Es gibt keine Äußerung, die auch nur annähernd dazu geeignet wäre, hier verwechselnd in Verbindung gebracht zu werden. Ganz im Gegenteil: Hätte Herr De Masi den Äußerungen von mir, von uns in den Debatten zugehört, wüsste er die Positionierung in Sachen Panama Papers, Paradise Papers und Geldwäsche. Deshalb ist diese Äußerung so nicht tragbar. Es ist allerdings richtig, dass ich für meine Fraktion ein Positionspapier entwickelt hatte, und daraus möchte ich abschließend ganz kurz zitieren, damit auch Herr De Masi – Sie werden mit ihm wegen der Verbreitung dieser Unwahrheiten wahrscheinlich noch hart ins Gericht gehen – ({0}) zitieren kann: In Deutschland erwirtschaftete Gewinne, die in der Regel mit deutschen Bürgern erzielt werden, müssen auch in Deutschland versteuert werden. Die Möglichkeiten, zum Beispiel überhöhte Lizenzgebühren, IT-Kosten, Gewinne aus Tochtergesellschaften in Niedrigsteuerländern zu verschieben, müssen geschlossen werden. Eine umfassende Transparenz über relevante Geschäftsbeziehungen inländischer Steuerzahler/Steuerpflichtiger mit Konzerngesellschaften in Drittstaaten ist herzustellen. Das zur Aufklärung. Hätte Herr De Masi diese Äußerung nicht hier im Plenum getätigt, würde ich hier keine Erklärung abgeben müssen. Dann hätte er heute Morgen bereits die Aufforderung zu einer strafbewehrten Unterlassungserklärung vorliegen. Das abschließend dazu. Auch wenn Sie hier versuchen, Oppositionspolitik zu machen: Aus Sicht Ihrer Fraktion Die Linke –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, eine Erklärung nach § 32 der Geschäftsordnung unterliegt strengen Begrenzungen.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– möchte ich Sie bitten, bei der Wahrheit zu bleiben. Danke. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie hätten so viel tun können in einem Jahr! Fällt Ihnen denn außer Lockdown so gar nichts ein? Nur eine Frage dazu: Glauben Sie, Corona war das letzte Virus? Glauben Sie, so etwas kommt nie wieder vor? – Es wird wieder geschehen, mit einem ganz anderen Virus, anderen Gefahren. Und dann? Ein weiteres Jahr Lockdown, zwei Jahre, zehn Jahre? Nein, Ihnen fällt nichts ein. Das ist auch kein Wunder; denn Sie umgeben sich nur mit Beratern, denen auch nichts anderes einfällt als Lockdown, alternativ Brückenlockdown oder Tunnellockdown. Das ist Kuba-Syndrom im Endstadium. ({0}) Aber Sie können nicht ewig so weitermachen. Vielleicht können Sie alle Experten mundtot machen, die nicht aus Ihrer Blase kommen. Sie können sich auch im Hinterzimmer immer neue Repressalien für das Volk ausdenken. Aber Sie können nicht dauerhaft den Bundestag als Gesetzgeber entmachten. Nicht mit uns! Nicht mit der Alternative für Deutschland! ({1}) Das Parlament beschließt die Gesetze, und hier muss die Diskussion stattfinden, nicht hinter verschlossenen Türen. ({2}) Die föderalismusfeindliche Zentralisierung der Entscheidungen beim Bund ist allerdings genauso falsch. Die Debatte muss zurück ins Parlament – regelmäßig, ohne Wenn und Aber, sofort. ({3}) Oder benennen Sie Ihre Kungelrunden doch um. Wie wäre Politbüro? Das wäre zumindest ehrlich. ({4}) Aber Ehrlichkeit ist das Letzte, was sich diese Regierung erlauben kann. Sie müssen Ihr Versagen verschleiern. Das ist der Grund für den Endloslockdown. Sie müssen verschleiern, dass Sie alles vermasselt haben, was Sie nur vermasseln konnten: rechtzeitige Beschaffung von medizinischem Material und Masken für das Fachpersonal, das Impfdesaster. Schon die Bestellung haben Sie vergeigt. ({5}) Sie haben die Tests verschlafen, ganz zu schweigen von der Ausstattung der Schulen und Behörden. Jeder Gastronom hat bessere Schutzkonzepte als diese Regierung. Lernen Sie von den Bürgern! Denn dieses Volk kann sich weitaus besser selbst aus der Krise helfen. ({6}) Sie haben nichts dazu beigetragen, gar nichts. Im Gegenteil! Als Sie vor den Masken warnten, begannen Privatleute und Unternehmen, Masken zu nähen und zu verteilen. Hygiene und Desinfektion, Abstand und Kontaktvermeidung – nichts davon haben Sie erfunden. Die Bürger haben es Ihnen vorgemacht. Nicht Sie, sondern Privatunternehmen haben Impfstoffe entwickelt, ({7}) Tests auf den Markt gebracht und Konzepte für sichere Öffnungen entwickelt. Diese simplen Fakten, die Chronik Ihres Versagens, wollen Sie verschleiern. Warum? Nur um sich selbst als Retter aus der Not darzustellen. Dazu brauchen Sie Angst und Panik. Nichts soll nach Normalität aussehen. ({8}) In Wahrheit haben Sie nicht Angst vor den hässlichen Bildern – oh nein! –, Sie fürchten die schönen Bilder: die rodelnden Kinder, die Menschen beim Spazieren und Bummeln, Schlittschuhläufer, Badegäste, Biergarten und Straßencafé. Diese Bilder fürchten Sie. „Deutschland. Aber normal“ – das fürchten Sie! ({9}) Sie schüren Angst und Panik. Sie inszenieren den Notfall, um als Retter in der Not dazustehen. ({10}) Es geht bei Ihnen nicht um Inzidenzwerte, sondern nur um Ihre eigenen Umfragewerte, die sich angesichts ständiger Korruptionsskandale im freien Fall befinden. ({11}) Tausende Menschen sind dafür in den Heimen einsam gestorben nach Monaten der Isolationsfolter. Milliarden Euro haben Sie dafür verbrannt, inklusive dilettantisch gemachter Apps und Werbekampagnen. Geben Sie den Bürgern die Verantwortung zurück! Freiheit als Freiwilligkeit. ({12}) Respektieren Sie das Parlament als den Ort der Debatte und Diskussion! ({13}) Berufen Sie endlich eine unabhängige und ausgewogene Expertenkommission ein. Bei der Gelegenheit: Wir brauchen keinen Unterausschuss Corona, wir brauchen einen Untersuchungsausschuss Corona. Dieser wird kommen, spätestens im Herbst. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Karin Maag, CDU/CSU, hat das Wort, sobald das Pult dafür bereitet ist. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Seitz, schnell und schlampig! Allein der Antrag als solcher ist ja eine Zumutung. Weder hat das Bundeskanzleramt – Zitat – „zum wiederholten Male die Verlängerung der ‚Lockdown-Maßnahmen‘ ... beschlossen“ – das hat das Bundeskanzleramt übrigens noch nie –, noch hat Herr Professor Schrappe mit den Kollegen ein Thesenpapier entwickelt. Sie beziehen sich vermutlich – das wird aus dem Antrag nicht klar – auf die sieben Thesenpapiere unter dem Titel „Die Pandemie durch SARS-CoV-2/CoViD-19“. Papiere eins bis sechs behandeln Aspekte wie Epidemiologie, Prävention und Gesellschaftspolitik und sind hier übrigens bekannt. Papier sieben verhält sich im Wesentlichen zum Thema Impfen. ({0}) Die Herren Professoren Schmidt-Chanasit und Stöhr gehören nicht zu den Autoren dieser Thesenpapiere. Bei den Herrn Professor Schrappe zugeschriebenen Zitaten machen Sie sich noch nicht mal die Mühe, diese zu belegen. ({1}) Aber es geht Ihnen ja auch nicht um den konstruktiven Diskurs. Nein, offensichtlich soll dieser Antrag der Coronaresolution Ihres Parteitags am Wochenende ein restbürgerliches Tarnmäntelchen umhängen. Ihr Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke sprach im Zusammenhang mit Corona von einer – Zitat – „herbeigetesteten Pandemie“ und einem – wiederum Zitat – „Testwahnsinn“. Weiteres Zitat: „Die Testung und die Anzahl der Testung führt überhaupt dazu, dass wir eine Pandemie haben.“ – Zitat Ende. Sie lehnen den PCR-Test zum Nachweis der Infektion ab und fordern in Ihrer Resolution – Zitat –, „zu seit Jahrzehnten bewährten Diagnosemethoden zurückzukehren“. Sie schwafeln dort über angebliche Meldungen zu alarmierend hohen Nebenwirkungen und – Zitat – „auffällig vielen Corona-Ausbrüchen und erhöhten Sterberaten nach Impfungen in Heimen“. Mit Verlaub: Blödsinn. ({2}) Ja, es gibt Nebenwirkungen, leichte wie auch in geringerem Umfang schwerere. Aber dank unserer funktionierenden Impfüberwachung werden diese auch sofort erkannt, bewertet und vor allem die richtigen Konsequenzen daraus gezogen. Also: Aufklärung, Hinweise, Impfempfehlungen, die angepasst werden. Deshalb kann ich hier sagen, dass bei den bislang zugelassenen Impfstoffen der Nutzen der Impfung die Gefahren einer Nebenwirkung deutlich und weitaus überwiegt. Wenn in einer Alteneinrichtung in Osnabrück nach der zweiten Impfung 14 Senioren mit der britischen Variante angesteckt wurden und die Senioren entweder asymptomatisch sind, das heißt keinerlei Beschwerden haben, oder leichte Krankheitsverläufe haben, dann beweist es eines, nämlich dass die Impfung offensichtlich wirkt. ({3}) Wenn wir das jetzt alles zusammenrechnen: Mit dieser Vorgeschichte fordern nun ausgerechnet Sie den Deutschen Bundestag auf, eine unabhängige Expertenkommission einzurichten. Wozu sie eingerichtet werden soll, wird jetzt nicht ganz klar, weil in Ihrem Antrag an dieser Stelle das Verb fehlt; ({4}) aber das ist ja nun auch wurscht. ({5}) Sie wollen sich doch gar nicht mit den Fakten auseinandersetzen. Sie wollen sich doch offensichtlich gar nicht beraten lassen. Sie haben sich mit dieser Resolution doch klar auf die Seite der Coronaleugner gestellt. ({6}) Weiterhin fordern Sie uns auf, unsere legislativen Pflichten wahrzunehmen. Wir tun das. Gleich morgen haben Sie erneut die Gelegenheit, an dieser Stelle zum Entwurf eines Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes zu debattieren. Die Lage ist nämlich höchst angespannt: Die Zahl der Neuinfektionen ist nahezu flächendeckend nach oben gegangen, die Tagesinzidenz beträgt im Deutschlanddurchschnitt 160. ({7}) Wir sind mitten in der dritten Welle. Wir haben Landkreise mit einer Inzidenz von 400, 500. 4 600 Coronapatienten sind in intensivmedizinischer Behandlung, und das Personal kann nicht mehr. ({8}) Wer den Appell von Professor Hallek am Dienstag in Köln gehört hat, wer gehört hat, dass wieder planbare Operationen verschoben werden müssen, wer gehört hat, dass jetzt die 40- bis 60-Jährigen in den Kliniken liegen – ({9}) bei den beatmeten Intensivpatienten haben wir eine Sterberate von 50 Prozent –, wer sich mit Long Covid befasst hat, mit den Schäden, die dauerhaft entstehen können, der weiß, dass wir dringend schnell harte Maßnahmen brauchen und nicht so einen Quatsch wie Ihre Anträge. ({10}) Jetzt müssen wir notgedrungen, weil die unterschiedlichen Interessen der Länder es offensichtlich nicht mehr zulassen, bundeseinheitlich per Gesetz festlegen, was zu tun ist, wenn in einem Landkreis die Inzidenz über 100 steigt. Aus gesundheitspolitischer Sicht – das sage ich deutlich – wäre es schön gewesen, wir hätten das Gesetz noch diese Woche verabschiedet. Aber wir verabschieden das Gesetz doch nicht, weil wir, Herr Seitz, in den letzten Wochen und Monaten keine Fortschritte erzielt hätten! Hausärzte und Impfzentren haben beim Impfen Tagesrekorde erreicht. In der Woche nach Ostern wurden von Montag bis Freitag 2,6 Millionen Impfungen durchgeführt. 18 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind jetzt geimpft – einmal wenigstens. Wir kommen unserem eigenen Anspruch – darauf lege ich Wert –, dass wir hier wieder Spitzenpositionen einnehmen, endlich näher. Sogar die Länder sind mittlerweile gut dabei. Seit 8. März haben sie flächendeckend 15 000 Teststationen aufgebaut, zusätzlich kommen die privaten hinzu. Jeder Bürger hat einen Anspruch auf mindestens eine Testung pro Woche. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bei dieser Gelegenheit appelliere ich an Sie: Nehmen Sie diesen Anspruch auch wahr! Es ist wichtig, sich testen zu lassen. ({11}) Jetzt frage ich Sie von der AfD: Welche Ideen hat die AfD zum Schutz vor unkontrollierter Ausbreitung des Virus, zum Schutz der Intensivstationen, zum Schutz aller Altersgruppen vor Long Covid? ({12}) Die Infektionen laufen zu lassen, zu leugnen, das ist doch keine Strategie, das ist Zynismus! Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nicht wundern: Wir von der Union lehnen diesen Antrag ab. Danke schön. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Wieland Schinnenburg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei meiner letzten Rede hatte ich eine Lupe mitgebracht, um den Antrag der AfD genauer zu untersuchen. Heute habe ich Ihnen einen Spiegel mitgebracht. Sie werden gleich sehen, welche Bedeutung das hat. ({0}) Zunächst war ich durchaus hoffnungsfroh, als ich den AfD-Antrag gelesen habe: Zum ersten Mal ein Antrag zur Rechtspolitik, der nicht von Herrn Brandner kommt. ({1}) Da war eine gewisse Hoffnung, dass dieser vielleicht etwas besser wird. Der Autor, der Herr Reusch, ist ja auch Leitender Oberstaatsanwalt. Ich verbinde mit Staatsanwälten, dass sie schneidig sind und genau ermitteln. Das wäre gut. Nach der Lektüre dieses Antrags bin ich ein wenig enttäuscht. Ja, er ist schneidig, er ist aber katastrophal schlecht ermittelt, meine Damen und Herren. ({2}) Lassen Sie mich das an drei Punkten erläutern. Erstens. Sie schreiben dort hinein, das Bundeskanzleramt habe beschlossen, dass der Lockdown verlängert werde. Herr Reusch, Sie sollten wissen, das Ganze ist so abgelaufen, wie es ablaufen muss: Die Koalitionsfraktionen haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, über den nächste Woche abgestimmt wird. So ist es im Grundgesetz vorgesehen. Herr Reusch, lernen Sie erst einmal öffentliches Recht, bevor Sie solche Anträge schreiben! ({3}) Zweitens. Sie schreiben in Ihrem Antrag, der Lockdown bestehe seit einem Jahr. Das ist falsch. Der Lockdown besteht noch nicht einmal seit einem halben Jahr. Herr Reusch, den Kalender lernt man bereits in der Grundschule. Auch das sollten Sie nachholen, um zu wissen, wie ein Kalender funktioniert. Drittens. Sie sagen, die Bundesregierung umgebe sich nur mit Menschen, die die gleiche Meinung hätten wie sie selbst. Das erstaunt nun wirklich. Hier brauchen wir jetzt den Spiegel. ({4}) Schauen Sie einmal in den Spiegel. Sie machen das doch! Sie beschäftigen sich nur mit Menschen, die die gleiche Meinung haben wie Sie. Schauen Sie in diesen Spiegel, dann sehen Sie: Sie selbst tun das, was Sie den anderen vorwerfen. Meine Damen und Herren, es ist nur peinlich, was Sie in Ihren Antrag hineinschreiben. ({5}) Schlimmer als dieser Fehler ist aber, dass Sie noch nicht einmal konkrete Vorschläge machen. Sie sagen nur, Sie wollten eine Expertenkommission, die sich Gedanken machen soll. Ja, Herr Reusch, meine Fraktion und auch andere Fraktionen machen sich seit einem Jahr Gedanken. Aber sie machen sich nicht nur Gedanken, sie machen auch konkrete Vorschläge. Wir wollen mehr Impfen, wir wollen mehr Testen, wir wollen eine bessere Nachverfolgung. Davon ist bei Ihnen nichts zu sehen. Was von Ihnen kommt, das ist Hilfe für das Coronavirus. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie bekämpfen die Maskenpflicht, Sie bekämpfen das Impfen und machen keine konkreten Vorschläge. Das Coronavirus dankt sehr herzlich für das, was Sie tun. Wenn ich ein Coronavirus wäre, ich würde AfD wählen, meine Damen und Herren! ({7}) Denn wenn wir Ihrer Manie folgen würden, hätten wir Millionen mehr Infizierte, Zigtausend mehr Tote, kurz: wir hätten den „AfD“, den Absturz für Deutschland. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. Deswegen werden wir Ihren Antrag auch ablehnen. ({8}) – Ja, da können Sie ruhig klatschen. Hinzu kommt noch Folgendes. Sie sagen im zweiten Petitum, der Bundestag solle sich legislativ anstrengen. Herr Reusch, liebe AfD-Fraktion, alle Fraktionen in diesem Haus strengen sich seit einem Jahr legislativ an und machen konkrete Vorschläge: die Koalitionsfraktionen schlechte, die FDP gute. Sie dagegen machen gar keine. Ihr Antrag ist nicht nur unnütz, er ist auch gefährlich. Wir werden ihn ablehnen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis, SPD. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Schinnenburg – – ({0}) – So, jetzt aber. ({1}) – Ignorieren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Schinnenburg hat in unterhaltsamer Weise dargestellt, was in der Tat eine unglaubliche Ernsthaftigkeit birgt: Wir alle erwarten – und diejenigen, die in der Regierung sind, haben sich auch darauf verständigt –, dass die Stimme der Opposition natürlich ernsthaft mit einbezogen wird in Regierungshandeln und in die Debatte hier im Bundestag. Wir möchten die Argumente hören. Aber ich finde, diese Anträge der AfD beleidigen meinen Intellekt. Das ist einfach so. ({2}) Sich mit solchen Anträgen auseinanderzusetzen, ist hier natürlich parlamentarische Gepflogenheit – selbstverständlich. Aber die Anträge der AfD, die auch auf den Beschlüssen von Parteitagen basieren, sind dermaßen skurril und dermaßen populistisch, rechtspopulistisch, dass man das hier auch so benennen muss: entweder sehr unterhaltsam, wie Herr Schinnenburg das gemacht hat, oder aber mit Argumenten, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Wir tun das. ({3}) Ich glaube, dass wir als SPD-Fraktion zusammen mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU in den letzten Monaten bewiesen haben, dass es uns darum geht, nicht nur ernsthaft zu beraten und Argumente abzuwägen, sondern natürlich politisch zu handeln und die Ergebnisse, die auf Beratungen fußen, eben auch in parlamentarische Debatten einfließen zu lassen und in Gesetzgebung zu gießen. Das ist unser Handeln seit über einem Jahr. Wir beweisen damit, dass es uns nicht um die Frage geht, wer hier recht hat, sondern um die Fragen: Was ist richtig? Was sind die richtigen Maßnahmen? Worauf können wir uns verlassen? Was wird durch die Pandemie eingeschränkt? Welchen Schritt müssen wir als nächsten tun? Sie dagegen tun das Testen in Ihren Parteitagsbeschlüssen als Irrweg ab. Sie stimmen Anträgen zu, die vorsehen, dass Sie nur noch Investoren ins Land hineinlassen wollen, die 5 Millionen Euro mitbringen, und versuchen dann auch noch irgendwie, das für sich in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das ist so krude, dass man das nicht mit ernstzunehmender Opposition vergleichen mag. Wir als SPD-Fraktion gehen morgen in die erste Lesung des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes. Und ich sage Ihnen: Wir machen es uns nicht leicht. Dass wir es uns nicht leicht machen, zeigt sich auch daran, dass wir die Stimmen, die aus dem Kanzleramt kommen und die sagen, wir müssten noch einmal nachdenken, wahrnehmen. Das wollen wir gerne tun. Wir werden darüber nachdenken, ob dieses Vierte Bevölkerungsschutzgesetz mit den Maßnahmen, die wir bisher in der Beratung miteinander vereinbart haben, wirklich den richtigen Effekt haben wird. Wir werden auch darüber beraten, ob die Inzidenzen die einzige Grundlage sind, auf der wir Entscheidungen fällen können. Alles das zeigt, dass wir als SPD-Fraktion auch zusammen mit unserem Koalitionspartner bereit sind, Argumente abzuwägen, auch Argumente zuzulassen – das ist ja das Entscheidende –, um dann das Richtige zu tun und dafür zu sorgen, dass wir wieder möglichst schnell in eine Öffnungsdebatte hineinkommen können, die die Hoffnung in diesem Land befördert. Wir verlangen der Bevölkerung sehr viel ab, ja. Aber wir versuchen, das mit Argumenten tatsächlich zu untermauern – nicht mit purem Populismus, sondern mit Argumenten. Das ist unser Ziel. Dafür sind wir hier im Parlament verantwortlich. Sowohl was die Opposition anbelangt, als auch was die Regierungsfraktionen anbelangt, glaube ich, dass wir unsere Rollen richtig einnehmen, bis auf die AfD. Denn das, was wir hier in einem Jahr von der AfD gehört haben – rauf, runter, Impfstrategie ja/nein, Teststrategie ja/nein und andere Maßnahmen ja/nein –, das ist eigentlich beschämend. Dieses Beschämen soll uns, die wir demokratische Parteien hier im Parlament vertreten, anspornen, wirklich das Richtige miteinander zu tun und nicht nachzulassen, damit wir die Pandemie in diesem Land demnächst beherrschen. Das muss unser Ziel sein. Ich sage noch mal: Verschonen Sie uns bitte mit Ihren Anträgen. ({4}) Lassen Sie uns die Zeit nehmen für ernsthafte Beratungen, aber nicht für das, was Sie hier aufs Papier geschmiert haben. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Friedrich Straetmanns, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, dass wir hier über Alternativen zur derzeitigen Politik der Pandemiebekämpfung durch die Bundesregierung reden müssen. Das war es dann aber auch schon mit der Übereinstimmung. Ihr Antrag zeigt mal wieder perfekt Ihren Politikansatz auf. Sie setzen hier einen völlig inhaltsleeren Antrag auf, um über das Thema Coronamaßnahmen reden zu können. Den Menschen da draußen gaukeln Sie dabei vor, Sie würden ihnen mehr Gehör verschaffen wollen. Doch wenn man sich Ihren Antrag anschaut, sieht man, dass davon keine Rede sein kann. Sie wollen ein Gremium aus Expertinnen und Experten installieren, das ausschließlich Personen aus dem medizinischen Bereich und der Wirtschaft beinhaltet. Ganz normale Bürgerinnen und Bürger: Fehlanzeige. Menschen, die sich mit den Funktionsweisen innerhalb der Gesellschaft auskennen, kommen nicht vor; denn Sie interessiert letztlich auch nur das ungestörte Funktionieren der Kapitalvermehrung. ({0}) Ihnen sind Ihre anonymen und nichtanonymen Großspender in der Praxis dann eben doch näher als die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. ({1}) Besonders lustig wird es dann aber, wenn Sie den Bundestag auffordern, tätig zu werden. ({2}) Es ist richtig: Sie machen selten den Eindruck, dass Sie verstanden haben, wie dieser Bundestag funktioniert; aber dass das so weit geht, dass Sie offenbar ganz vergessen haben, dass Sie selbst Teil des Bundestages sind und damit eigene Gesetzesinitiativen einbringen könnten, ist selbst für Ihre Verhältnisse das neue Level der Absurdität. ({3}) Meine Fraktion und ich haben bereits vor Monaten einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Einführung eines Pandemierats vorsieht. In unserem Entwurf werden Bundestag und Bundesregierung von einem Gremium beraten, das sich unter anderem aus Personen aus dem Gesundheitswesen, aus den Sozialwissenschaften, aus dem pädagogischen Bereich und eben auch aus Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt; denn die aktuell zu treffenden Abwägungen sind wesentlich komplexer, als dass sie nur zwischen Wirtschaft und Gesundheitswesen besprochen werden könnten. ({4}) Aber das verstehen offenbar weder Sie von der AfD noch Sie von den Regierungsparteien. Die Strategie der Bundesregierung besteht ganz offensichtlich darin, im privaten Bereich auch noch das Letzte herauszuquetschen, damit für die Betriebe, insbesondere für das produzierende Gewerbe, möglichst wenige Einschränkungen erfolgen müssen. ({5}) Es ist für diese Koalition selbstverständlich, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb und auf dem Weg dorthin einem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen, während sie nach Feierabend auf ihre ohnehin oft zu kleinen Wohnungen beschränkt bleiben sollen. Ihre geplante Ausgangssperre ist nicht nur falsch, sie ist auch vollkommen unverhältnismäßig. ({6}) Allgemeine Ausgangssperren sind ein scharfes Schwert, das jetzt bei einer Inzidenz von 100 gezogen werden soll. Die Schließung von Schulen soll dagegen erst bei einer Inzidenz von 200 erfolgen. Derweil kann in Papenburg, trotz absurd hoher Fallzahlen, über Wochen munter weiter am Kreuzfahrtschiff geschraubt und geschweißt werden. Darüber hinaus ziehen Sie mit Ihrer Ausgangssperre zu einem völlig falschen Zeitpunkt die völlig falschen Schlüsse aus aktuell noch einmal untermauerten Forschungsergebnissen: Die Ansteckungsgefahr tendiert draußen fast gegen null. Und gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem es wärmer wird und die nach Sozialkontakten lechzenden Menschen sich da draußen mit Abstand treffen könnten, machen Sie das für die Abendstunden unmöglich. Damit verlagern Sie, liebe Bundesregierung, die Treffen sehenden Auges in die Innenräume, wo sie nämlich nicht zu kontrollieren sind. Das ist absolut fahrlässig und konkurriert mit der Osterruhe sehr hart um den Titel der am wenigsten durchdachten Maßnahmen der letzten 14 Monate. ({7}) Ich will mir gar nicht ausmalen, auf was für absurde Ideen Sie noch kommen werden, sollte diese Strategie nicht greifen. Sollten Familien auf das gemeinsame Abendessen verzichten, damit in Stuttgart weiter der Porsche vom Band rollt? Werden Sie tagsüber Grünanlagen sperren, außer auf dem Weg zur und von der Arbeit natürlich? Oder werden Sie die Mittagspause abschaffen, um Kontakte zu reduzieren? Ab welcher Inzidenz sollen Paare getrennt schlafen, um die Rüstungsexporte nicht zu gefährden? ({8}) Oder werden Sie vielleicht die Arbeitszeiten erhöhen, damit die Arbeiterinnen und Arbeiter zu müde für private Treffen sind? Ich traue Ihnen mittlerweile alles zu, was garantiert, dass die Gewinne der Konzerne bloß nicht geschmälert werden. ({9}) Aber diese Gefahr besteht ja momentan ohnehin nicht. Die Gewinne explodieren, und die Milliardäre mehren ihr Vermögen. Die Reichen dieses Landes können sich gemütlich einrichten, während die Löhne in der Breite sinken. In den luxuriösen Villen wird man sich dieses Maßnahmenregime sehr gemütlich anschauen können, während die Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihren 42 Quadratmetern bleiben. Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. Aber irgendwann ist auch hier das Ende der Fahnenstange erreicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Und was machen CDU und CSU derweil? Die stürzen sich genüsslich in einen innerparteilichen Kampf um die Kanzlerkandidatur, als ob die Katastrophe namens Pandemie nicht existieren würde. In der Folge beschäftigt sich die Union seit Wochen mit sich selbst statt mit der Bekämpfung der Pandemie. ({10}) Ich muss sagen: Da bleibt mir glatt die Spucke weg. Das ist ein Niveau an Ignoranz, Selbstbezogenheit und Fahrlässigkeit – mit Ihnen kann doch niemand ernsthaft koalieren wollen; das sage ich in Richtung der Grünen. ({11}) Aber irgendwann in diesem Jahr wird diese Katastrophe vorbei sein. Dann gilt es, die Menschen an das zu erinnern, was hier veranstaltet wurde. Ich bin mir sicher, dass sie im September bei der Bundestagswahl den einen oder anderen Denkzettel verteilen werden. Meine Fraktion und ich werden jedenfalls alles tun, damit dieses Trauerspiel hier nicht in Vergessenheit gerät. Vielen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Straetmanns! Ich achte die Geschäftsordnung des Bundestags hoch. Mir ist auch § 36 Absatz 1 Satz 1 der Geschäftsordnung präsent. Danach kann der Präsident den Redner zur Sache verweisen, wenn dieser vom Verhandlungsgegenstand abweicht. Ich vermute, dass es – wie immer – so ist, dass das auch für die Rednerin gilt. Ich will Ihnen aber ehrlich sagen: In Bezug auf diesen Antrag der AfD fällt es mir äußerst schwer, sechs Minuten Redezeit sinnvoll zu füllen. ({0}) Tiefer als mit diesem Antrag kann man eigentlich nicht mehr fliegen, Herr Brandner. ({1}) Es ist mir ein Rätsel, wer bei Ihnen auf die Idee kommt, für so ein dünnes Ding eine ganze Stunde Debattenzeit zu beantragen. ({2}) Ich habe eine andere Vermutung. Ich glaube nicht, dass Roman Reusch dahintersteht, sondern dass Sie es sind, Herr Brandner, ({3}) weil ich weiß, dass Sie jeden Morgen in freudiger Erregung einen Namen googeln, nämlich Angela Merkel. Dieser Name kommt auch in der Überschrift über dem „Focus“-Artikel vor, den Sie hier dann – leicht umformuliert – wiedergeben, allerdings natürlich nur die Teile, die in Ihr Weltbild passen. Für die Lektüre der Thesenpapiere, um die es in diesem Artikel eigentlich geht, hat es dann offenbar schon nicht mehr gereicht. Dann kommt eine erste Forderung: die Einrichtung einer unabhängigen Expertenkommission. Das klingt erst mal gut. Allerdings haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass in der Welt der AfD bestimmte Begriffe vollkommen umgedeutet werden, manchmal bis zum Gegenteil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Es soll schon Leute geben, die überlegen, ein Wörterbuch zu schreiben: AfD-Deutsch – Deutsch-Deutsch. Wenn die AfD zum Beispiel vom Volk redet, meint sie ja meistens nur sich selbst. Wenn sie konservativ sagt, dann heißt das Chauvinismus mit Dackelkrawatte. Und unabhängige Experten sind bei Ihnen Leute, die das vertreten, was die AfD hören möchte. ({4}) Dafür muss man noch nicht einmal unbedingt Experte sein. Es kann auch ein Lobbyist der Automobilindustrie schnell mal zum Lungenfacharzt geadelt werden, wenn er nur das Genehme sagt. Dagegen werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eine andere Einschätzung als die AfD haben, von Ihnen in Knastklamotten plakatiert und angegriffen. Weil es nun nicht allzu viele Wissenschaftler mit eigenem Kopf gibt, die den ganzen Tag das Programm der AfD herunterbeten, scheuen Sie auch nicht davor zurück, wissenschaftliche Aussagen aus dem Zusammenhang zu reißen, wenn es Ihnen nützlich erscheint. ({5}) Das hat vor ein paar Monaten hier die Juraprofessorin Andrea Kießling erlebt. Mit dem Rückgriff auf die Gruppe um Matthias Schrappe in diesem Antrag ist es ganz ähnlich. Diese Gruppe hat sicher andere Einschätzungen von der Wirkung von Schließungen des öffentlichen Lebens als die Bundesregierung – die Debatte dazu wird ja gerade insgesamt kontrovers geführt, und diese Gruppe schlägt auch Alternativen zur reinen Orientierung an der Sieben-Tages-Inzidenz vor; das tun wir Grüne übrigens auch, die FDP genauso –, aber diese Gruppe um Matthias Schrappe lehnt Kontaktbeschränkungen keineswegs ab, und sie macht sich Gedanken darum, wie die Impfkampagne erfolgreich gestaltet werden kann, ({6}) weil sie die Bedeutung der Impfung für eine Bewältigung der Pandemie kennt und akzeptiert. Das taucht in Ihrem Antrag natürlich nicht auf; denn die AfD hat ja am Wochenende erst einen Grundsatzbeschluss zu Corona gefasst, der vor allem gegen die Impfung raunt. Von einer verantwortungsvollen Impfkampagne, wie sie Schrappe und andere fordern, ist das so weit weg wie das Selbstbild von Stefan Brandner von der Realität. ({7}) Wir Grüne fordern seit Juni 2020 einen Pandemierat. Viele haben sich – das freut mich – dieser Forderung angeschlossen. Ich will Ihnen sagen, dass es mir allmählich so vorkommt, als ob die Verweigerung dieses Pandemierats tatsächlich die Mutter aller Probleme ist, ({8}) das zentrale Versäumnis unter den vielen Versäumnissen im letzten Jahr. Uns fehlen schmerzhaft wissenschaftliche Rede und Gegenrede, uns fehlen unterschiedliche Disziplinen an einem Tisch. Das ist eben etwas anderes, als wenn der Kollege Lauterbach nachts seine liebsten Fachzeitschriften durcharbeitet oder bei uns Janosch Dahmen oder Toni Hofreiter. Das ist aber auch etwas ganz anderes als das, was der AfD vorschwebt. Wer in einem Pandemierat etwas lernen wollte, der müsste mit Zweifel und Selbstzweifel umgehen können und damit, dass in unsicherer Lage man Mut zu Thesen braucht und dass diese sich dennoch als falsch erweisen können. Aber Zweifel und Selbstzweifel und die Herren von der AfD … Sie merken es selber, da muss ich nichts weiter zu sagen. ({9}) Bei der zweiten Forderung wird es dann ganz traurig, Herr Brandner. Eine Stunde Debattenzeit für eine Forderung des Bundestags an den Bundestag, „staatliche Handlungsmöglichkeiten zur Beendigung der … Lockdown-Maßnahmen … zu benennen“. Um andere Instrumente als Schließungen ringen alle Fraktionen hier im Haus. Für die Grünen könnte ich jetzt monatealte Anträge herunterbeten: zur Ausstattung der Gesundheitsämter, zur Verbesserung der Corona-Warn-App, zur Teststrategie, zur Beschaffung von Selbsttests, zu klaren Stufenplänen, zu besserer Kommunikation und Impfaufklärung, zu einer Testpflicht in den Betrieben usw. usw. Von der AfD kenne ich ausschließlich Äußerungen, was sie alles nicht will: keine Testpflicht, keine Unterscheidung nach Immunitätsstandard, keine Verpflichtung von Unternehmen, Tests am Arbeitsplatz anzubieten, keine Kontaktreduzierung, keine Maskenpflicht. – Selbst komplett blank, aber so einen Antrag stellen. ({10}) Ich übersetze Ihnen zum Schluss noch so einen Satz, verabschiedet am letzten Wochenende auf dem Parteitag der AfD: Es soll „den mündigen Bürgern selbst überlassen bleiben, in welchem Maße sie sich selbst schützen möchten“. ({11}) Das heißt auf Deutsch: Es ist Ihnen vollkommen – ich würde es am liebsten so ausdrücken wie bei mir auf dem Dorf – wurscht, wie die völlig erschöpften Beschäftigten auf den Intensivstationen durch die nächsten Wochen kommen. Das ist Ihnen vollkommen egal. Sie jammern hier rum, dass Sie ausgegrenzt werden. Das ist die AfD: Eiseskälte! ({12}) Sie grenzen sich selber aus. Ich bin froh, dass ich mit Ihnen selten in einem Raum sein muss. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Erwin Rüddel, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man die Ausführungen des Kollegen Seitz verfolgt hat, dann kommt man zu dem Eindruck, dass die AfD weiterhin die Pandemie leugnet. Und daher ist dieser Antrag eigentlich nur konsequent, weil er diesen Eindruck bestätigt. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass man sehen sollte, wie andere Staaten, auch die, die immer beispielhaft genannt werden, im Vergleich zu uns durch die Pandemie gekommen sind. Ich glaube, es muss auch mal gesagt werden, dass wir so schlecht nicht dastehen und wir unsere Menschen in Deutschland sehr gut geschützt haben, besser als viele andere Staaten, die immer als Beispiel genannt werden. ({0}) An dieser Stelle möchte ich unserem Gesundheitsminister noch mal ganz herzlich danken. Wir haben viele Argumente gehört. Wir steuern auf die dritte Welle zu. Wir hören es jeden Tag in den Medien: Die Zahl der Neuinfektionen explodiert. ({1}) Wir haben weniger Intensivbetten. ({2}) Wir haben täglich Menschen auf Intensivstationen, die um ihr Leben kämpfen. Wir haben ein aggressives Virus mit vielen Mutationen. ({3}) Wenn das Virus auch nicht tödlicher wird, so wird es auf jeden Fall ansteckender. Was schon gesagt worden ist – auch ich möchte das betonen –: Immer mehr jüngere Menschen sind betroffen. Wir diskutieren hier im Plenum – das werden wir in den nächsten Tagen noch deutlich intensivieren – Maßnahmen, die in der Pandemie notwendig sind. ({4}) Deshalb brauchen wir diese Aufforderung von der AfD nicht. Wir werden über das vierte Infektionsschutzgesetz debattieren ({5}) und entscheiden. Ich hoffe, wir werden möglichst schnell entscheiden, weil wir hier unter einem enormen Zeitdruck stehen. Mit Debatten allein werden wir das Virus nicht beeindrucken, sondern wir müssen hier konsequent handeln und entscheiden. Ich weiß, dass wir etwas im Zeitverzug sind; aber die Länder haben am 3. März Maßnahmen beschlossen, die sie jederzeit, heute und morgen, umsetzen könnten, noch bevor wir in der nächsten Woche die entscheidenden Maßnahmen mit dem vierten Infektionsschutzgesetz beschließen. Deshalb mein Aufruf an die Länder, schon im Vorgriff das zu tun, was wir nächste Woche beschließen werden, zumindest das, was sie in der MPK am 3. März beschlossen haben. Ich möchte auf einen Aspekt ganz besonders hinweisen, und zwar auf das Impfen. Das ist die Chance. Wir stehen jetzt vor großen Risiken, wir haben aber die Chance, in wenigen Tagen die Aggressivität des Virus zunehmend in den Griff zu bekommen. Wir sollten bei der Diskussion darauf achten, dass diese verschärften Maßnahmen tatsächlich eingesetzt werden müssen und wirken müssen. Wir werden im April so viele Menschen impfen, wie wir bis zum April, von Dezember bis Ende März, geimpft haben. Und wir werden die Zahl im Mai noch mal verdoppeln. Ich will damit nur deutlich machen, in welcher Dynamik wir im Impfprozess sind. Sie haben alle gelesen, dass noch mehr Impfstoff im Zulauf ist, weil BioNTech uns mit zusätzlichem Impfstoff beliefern kann. Wir werden am Ende des zweiten Quartals 60 Prozent der Bevölkerung geimpft haben. Wir werden im Juli mindestens 70 Prozent der Menschen geimpft haben und damit Herdenimmunität erreicht haben. Wenn wir diese große Chance nicht verspielen wollen, dann müssen wir jetzt kurzfristig, schnell, konsequent handeln, damit dieser Impferfolg dann auch relativ schnell wirken kann. Je länger wir jetzt warten, desto länger warten wir auch auf den Erfolg durch den Impfprozess. Deshalb mein Appell: Wir können debattieren, wir müssen debattieren; aber wir müssen zu einem schnellen Ergebnis kommen, damit wir den Menschen schnell wieder die Perspektive auf ein normales Leben, wie wir es früher gewohnt waren, geben. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

({0}) – Da werden schon die ersten Stühle geschmissen. – Meine Damen und Herren! Ich wurde schon oft erwähnt. Jetzt stehe ich leibhaftig hier am Rednerpult. ({1}) Wir reden zum Thema „Alternative Maßnahmen zur Lockdown-Politik der Bundesregierung“. Das ist die Forderung der AfD zu diesem Tagesordnungspunkt. Und diese Forderung ist auch wirklich wichtig genug, um hier debattiert zu werden. Wie wichtig das ist, haben die sieben Vorredner in eindrucksvoll peinlicher Weise bewiesen. ({2}) Wir haben, Frau Rottmann, den Antrag extra ganz kurz und in fast einfacher Sprache abgefasst, damit Sie das alles begreifen. Und trotzdem haben Sie unseren Antrag nicht verstanden. Wir als AfD wissen nicht mehr, was wir noch machen sollen. ({3}) Seit nunmehr 13 Monaten versagt und dilettiert die Bundesregierung unter Angela Merkel und um Jens Spahn, der komischerweise immer noch im Amt ist, und versucht, mit den Mitteln des Mittelalters, meine Damen und Herren, die Herausforderungen unserer Zeit in den Griff zu bekommen. Nicht etwa Experten entscheiden, sondern durch politischen Nepotismus ins Amt Gekommene und im Amt Gebliebene. Menschen werden beschwichtigt, belogen, eingesperrt, drangsaliert, Zwangsmaßnahmen unterworfen. Menschen, die sich gegen unsinnige Maßnahmen zur Wehr setzen, werden als „Leugner“ bezeichnet. Und schließlich: Die Herrscher verdienen sich an der Krise eine goldene Nase. Ich erwähne nur die erbärmlichen Korruptionsfälle in der CDU und in der CSU. ({4}) Meine Damen und Herren, aber auch herrschaftstechnisch ist vieles sehr mittelalterlich. Waren damals alle Herrscher irgendwie miteinander verwandt, verschwägert oder verschwippt, so gibt es heute überall Koalitionsregierungen buntester Art und Weise: Jeder aus dem Altparteienreigen regiert irgendwo mit und trägt auch alles mit. Hier im Bundestag versuchen Sie dann von Rot über Grün bis Gelb erfolglos, ein bisschen Opposition zu spielen. Wie zu absolutistischen Zeiten interessiert es die Herrscher nicht, was geschrieben steht, was Recht ist: Gewaltenteilung, Föderalismus? Fehlanzeige! Seit etwa einem Jahr werden wir von einem verfassungswidrigen Gremium regiert, das von der absolutistisch agierenden Bundeskanzlerin geführt wird: die Ministerkonferenz, abgerundet durch ein paar Bundesminister und handverlesene Haus- und Hofexperten. Apropos Mittelalter: Es gibt auch die Inquisition und den Hofnarren. Das eine heißt jetzt Verfassungsschutz, das andere Karl Lauterbach. ({5}) Meine Damen und Herren, alles wie früher. Nur den Scheiterhaufen haben Sie nicht wieder eingeführt, wahrscheinlich weil das CO2-neutral nicht machbar ist. ({6}) Viel Lug, viel Trug, alles angeblich alternativlos. Und genau hier kommt unser Antrag ins Spiel. Jeder, der für ein selbstbewusstes, starkes Parlament und für eine lebendige Demokratie steht, muss unserem Antrag heute zustimmen. ({7}) Schluss mit angeblich alternativloser Mittelalterpolitik, die auf Hofschranzen, Hofnarren und Angsthasen gestützt ist, hin zu einem aufgeklärten Pluralismus, ({8}) zu kraftvoller Politik, die von Experten gemacht und die im Parlament verabschiedet wird, meine Damen und Herren. Hätten Sie es von Anfang an so gemacht, wie es die AfD gefordert hat, ({9}) wenn das Grundlage Ihres Handelns gewesen wäre, stünde Deutschland wesentlich besser da, genauso wie Deutschland wesentlich besser dastehen würde, wenn die AfD endlich in Regierungsverantwortung käme. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere daran, dass um 11.05 Uhr die Urnen für die Wahlen, die wir am Beginn der Tagesordnung eröffnet haben, geschlossen werden. Wer noch wählen will, muss es innerhalb der nächsten zwei Minuten tun. Jetzt hat das Wort der Kollege Sebastian Hartmann, SPD. ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unfassbar, mit welchem Hass die sogenannte Alternative für Deutschland agiert, ({0}) wenn sie versucht, unser Land zum Scheitern zu bringen und diese Gesellschaft auseinanderzutreiben. ({1}) Dabei sind doch Vertrauen und Akzeptanz das Wichtigste in einer Pandemie, die wir nur gemeinsam, ehrlich und anständig bewältigen können, ({2}) wenn es darum geht, eine globale Herausforderung in den Griff zu bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Es ist gerade die AfD die Partei, die den Klimawandel leugnet, ({4}) der von Expertinnen und Experten aus ihren Reihen infrage gestellt wird. ({5}) Es ist die AfD, deren Menschen auf Intensivstationen liegen, wenn sie angeblich eine leichte Grippe haben. Meine Damen und Herren, das ein Jahr nach Beginn der Pandemie hier erleben zu müssen und einen solchen Antrag vorgelegt zu bekommen, ist zynisch ohne Ende. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hartmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hilse?

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einverstanden. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich möchte nur darauf hinweisen – ich hatte es schon mehrmals gesagt –, dass die AfD nicht den Klimawandel leugnet. ({0}) Wer das machen würde, wäre dumm. Wir sagen einfach nur, dass die menschengemachten CO2-Emissionen keinen maßgeblichen Einfluss haben. ({1}) – Keinen maßgeblichen Einfluss! – Gut, okay. Genauso verhält es sich natürlich auch mit dem Coronavirus. Niemand, auch nicht Menschen, die draußen demonstrieren, leugnet, dass es diesen Coronavirus gibt. Ich würde Sie auch im Sinne Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit sehr bitten, diese Vokabel „leugnen“ einfach nicht zu verwenden, ({2}) weil das die Diskussion einfach unerträglich macht. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Nachfrage aus den Reihen der AfD zeigt ein Muster auf – ich glaube, darüber sollten wir in diesem Haus einmal offen sprechen –: Wenn nichts mehr wahr ist, ist auch nichts mehr falsch und der Tyrannei Tür und Tor geöffnet. – Was Sie versuchen, ist die ständige Erschütterung durch falsche Behauptungen, Aus-dem-Zusammenhang-Reißen und falsches Zitieren. ({0}) Tatsächlich gibt es eine Basis, auf der wir als Demokratinnen und Demokraten im Deutschen Bundestag in der ({1}) – hören Sie doch zu! – erfolgreichsten Republik und erfolgreichsten Demokratie der deutschen Geschichte handeln, weit über die Reihen einer Koalition hinaus, indem der Bundestag auch die Opposition einbezieht und wir gemeinsam um den besten Weg ringen. Aber wenn Sie ständig aus dem Zusammenhang reißen, ständig immer wieder infrage stellen, was als wissenschaftliche Erkenntnis existiert, können Sie gar keinen Kurs finden. Nehmen Sie doch nur, was die AfD auf ihrem letzten Bundesparteitag beschlossen hat. Sie stellen die Coronapandemie als solche insgesamt infrage und erkennen gleichzeitig nicht, dass es erst der Erfolg der Maßnahmen ist, die wir hier beschlossen haben, ({2}) dass von 81 Millionen Menschen in diesem Land nur 2,9 Millionen erkrankt sind und nur 77 000 unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger verstorben sind. Das müssen Sie sich vorhalten lassen. ({3}) Sie profitieren davon, dass wir als Opposition und Regierung der Verantwortung nachgekommen sind, was Sie niemals tun. Deswegen möchte ich noch mal darauf eingehen, dass genau das, was in dem Antrag gefordert wird, gerade jetzt stattfindet: Wir diskutieren im Parlament und ringen um den besten Weg. Die SPD-Bundestagsfraktion hat auch nicht davor zurückgeschreckt und dieses Ringen auch immer wieder als Anlass genommen, zu hinterfragen: „Ist das der beste Weg, den wir gehen?“, indem wir zum Beispiel im Januar gesagt haben: Herr Bundesgesundheitsminister, was ist mit den Impfstoffen? Beschaffen wir sie schnell genug? Was ist mit den Testungen? Können wir etwas tun? Oder wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Diskussion nicht nur in einer Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidentenkonferenz stattfindet, sondern hier im Parlament. Das tun wir auch jetzt. Wir haben Erfolge erzielt, wenn es zum Beispiel darum geht, dass das Vorliegen der pandemischen Lage nicht ausschließlich an einem Inzidenzwert festgemacht wird, sondern wir auch Kapazitäten von Intensivstationen und die Belastung des Gesundheitssystems hinzunehmen, meine Damen und Herren. ({4}) Diese Punkte müssen uns mit Sorge erfüllen. Gerade in diesem Moment gehen nicht nur die Inzidenzwerte hoch, sondern auch die Belastung im Gesundheitssystem ist so hoch, dass wir uns Sorgen machen, ob wir nicht nur die an Corona erkrankten Mitbürgerinnen und Mitbürger behandeln können, sondern auch Menschen mit anderen Erkrankungen. Das ist doch der Anlass, zu sagen: Wir brauchen einheitliche Regeln. Wir werden uns das nicht leichtmachen; das ist auch schon angekündigt worden; denn die härteste Maßnahme, der tiefste Grundrechtseingriff bietet nicht ausschließlich die Chance, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir brauchen Akzeptanz und Vertrauen in das Wirken der Maßnahmen; Akzeptanz vor allen Dingen dafür, sich freiwillig entsprechend zu verhalten, Kontakte einzuschränken. Das ist aus unserer Sicht wichtig. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion als Partei der Arbeit wissen eines: dass gerade der Begriff des Lockdowns ein sehr schwieriger ist. Ein Viertel aller in Deutschland beschäftigten Menschen kennt diesen Begriff gar nicht. Das sind insbesondere die, die den Laden am Laufen halten: in den Ver- und Entsorgungsbetrieben, in den Krankenhäusern, bei Polizei und Ordnungsbehörden. Das sind diejenigen, die durchgearbeitet haben, die aber umgekehrt einen Anspruch darauf haben, dass dort, wo es ausreichend Möglichkeiten gibt, wo Homeoffice möglich ist, wo mehr Testungen möglich sind oder wo man Arbeitsformen verändern kann, andere Maßnahmen ergriffen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darüber werden wir in der nächsten Woche als Deutscher Bundestag mit der demokratischen Opposition und in der Regierungskoalition verhandeln, und erst danach werden wir das Infektionsschutzgesetz oder das Bevölkerungsschutzsystem anpassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das können wir doch zusagen. ({5}) Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sie haben einen Anspruch darauf, dass, bevor es zu solchen Maßnahmen kommt, alle anderen Maßnahmen ergriffen worden sind. Bessere Vorsorge, mehr Investitionen in das Gesundheitssystem, bessere Bezahlung, mehr Kapazitäten, was Testungen angeht – das ist alles eine Frage der staatlichen Ressourcenplanung. Überlegen Sie bei den nächsten Wahlen, wer dafür steht, diesen Staat kaputtzusparen, wer infrage gestellt hat, dass Krankenhäuser auch in ländlichen Räumen existieren sollen. ({6}) Da wird die Entscheidung getroffen, ob wir einen starken, solidarischen, handlungsfähigen Staat haben. Es wird auch darum gehen, dass wir in der nächsten Krise besser aufgestellt sind. Wir sind stolz darauf, dass wir diese Verantwortung gemeinsam tragen, liebe Kolleginnen Kollegen. Nun freuen wir uns auf die Debatten mit den demokratischen Fraktionen hier im Parlament. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich komme zurück zu den Wahlen. Die Zeit für die Wahlen ist abgelaufen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? ({0}) – Dann aber jetzt bitte zügig. Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Martens für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag von der AfD beschränkt sich darauf, eine Expertenkommission beim Deutschen Bundestag vorzuschlagen. Zur Begründung wird angeführt, dass wir alle hier unseren legislativen Pflichten als Gesetzgeber nicht nachkommen würden. Der Kollege Hartmann hat gerade eben dargestellt, dass das nicht stimmt, sondern wir diese Woche in der Tat ausführlich über das vierte Bevölkerungsschutzgesetz sprechen werden und genau das stattfindet, was Sie hier bemängeln, nämlich Gesetzgebung. Es ist also nicht richtig, dass wir unseren Pflichten hier nicht nachkämen. Wir handeln im Bundestag, auch wenn Ihnen das im Ergebnis möglicherweise nicht ganz gefallen mag. ({0}) Die Einrichtung von Expertengremien ist bereits vor längerer Zeit von anderen Fraktionen, auch von der FDP, verlangt worden, allerdings bei der Bundesregierung und dem Bundesrat und nicht beim Bundestag; denn entschieden werden muss von uns und nicht von Experten, meine Damen und Herren. ({1}) Den Kleinigkeiten stellen Sie sich nicht, etwa der Frage: Wie soll denn ein solches Gremium besetzt werden? Von der Mehrheit, der Großen Koalition oder gar von der Regierung? Nein, damit wären Sie nicht einverstanden. Wer soll denn dann darüber bestimmen, wer in einem solchen Expertengremium sitzt? Wahrscheinlich würde es nach dem Proportionsverhältnis der Fraktionen besetzt. Selbstverständlich! Da könnten Sie dann auch jemanden schicken. Aber – davor warne ich – solche Gremien haben die Neigung, politisiert zu bleiben. Das heißt, dass man immer die Leute schickt, die man sowieso gerne hören möchte, und vor allen Dingen Leute schickt, die ins eigene Weltbild passen. Bei der AfD wären das dann Attila Hildmann und Xavier Naidoo. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn Sie eine Expertenkommission für das Parlament verlangen, möchte ich Ihnen einen Rat geben: Niemand kann Fraktionen daran hindern, sich selber mit Sachverstand zu bewaffnen. ({3}) Die SPD hat das gemacht. Wir haben sogar jemanden in den eigenen Reihen: ({4}) Professor Dr. Andrew Ullmann; er ist Infektiologe, er versteht was davon. Und dann kann man auch sachgerechte Anträge machen, wie etwa die FDP schon im Februar mit ihrem Siebenstufenplan, der genau regelt, was wann passieren könnte, meine Damen und Herren. ({5}) Wie gesagt: Sachverstand zu beschaffen, ist einfach. Bitte werfen Sie uns nicht vor, wenn Sie darauf verzichten, meine Damen und Herren. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Zeit für die Wahlen ist abgelaufen. Ich gehe davon aus, dass jetzt alle Mitglieder des Hauses Gelegenheit hatten, ihre Stimme abzugeben. Ich schließe die Wahlen und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt gegeben. Das Wort hat nun der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über alternative Maßnahmen zur Lockdown-Politik. Zu diesen Alternativen trägt die AfD nichts bei. Aber ich will vor allem sagen: Was wir im Moment brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nicht noch mehr Alternativen, sondern was wir brauchen, ist mehr Einheitlichkeit. Und das ist das, was wir liefern. Viele Bürger verstehen die Uneinheitlichkeit von Coronaregeln nicht mehr. Deswegen braucht der Bund eine stärkere Rolle, deswegen wollen wir vereinheitlichen. Das werden wir mit dem vierten Bevölkerungsschutzgesetz tun. Daran wird sich noch einiges verändern, aber das ist der richtige Problemschwerpunkt. So löst man konkret Probleme, nicht durch die Anträgchen, die Sie uns hier vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({0}) Aber Sie machen auf ein schönes Phänomen aufmerksam. Wenn man sich nämlich die Beiträge der AfD zur Coronapolitik anschaut, dann erkennt man sehr schnell: Je komplexer die Probleme, desto kürzer Ihre Antworten. Fünf Zeilen Begründung – das ist mit Blick auf den Anspruch dieser Debatte eine Beleidigung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Sie überschreiben den Antrag mit „Alternative Maßnahmen zur Lockdown-Politik“, schlagen in Wahrheit aber gar keine Alternativen vor. Sie führen zwei schmale Vorschläge an: die Einrichtung einer unabhängigen Expertenkommission und die Aufforderung, dass der Bundestag seinen legislativen Verpflichtungen nachkommen solle. Beides sollten Sie sich aber lieber selbst ins Stammbuch schreiben, statt hier Dinge zu fordern, die so überhaupt nicht zusammenpassen. Sie fordern eine Expertenkommission, und das im völligen Widerspruch zu Ihren Inhalten. Herr Brandner schwadroniert hier davon, dass man das Parlament stärken möchte, will dann aber in seinem Antrag die Verantwortung an eine Expertenkommission outsourcen. Lesen Sie doch wenigstens mal Ihre eigenen Anträge. Die sind kurz; die dürften selbst Sie verstehen, Herr Brandner. ({2}) Es geht darum: Wenn wir schon über Expertenkommissionen reden, kann ich Sie nur auffordern, sich einmal mit den Experten zu beschäftigen. Wir machen das in der Bundestagsfraktion: Wir haben mit den Intensivmedizinern gesprochen. Wir sind als Abgeordnete – und das nicht nur in unserer Fraktion, sondern ganz übergreifend in diesem Hause – in unseren Wahlkreisen doch jeden Tag vor Ort. Wir reden mit den Verantwortlichen in den Gesundheitsämtern, wir reden mit den Verantwortlichen in den Krankenhäusern, und die zeichnen ein anderes Bild von der Realität, als Sie es mit den Coronaleugnern und Verschwörungstheoretikern auf Ihren Parteitagen zeichnen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bild in der Realität der Pandemiebekämpfung ist im Moment ein Bild der Sorge. 20 500 Intensivbetten sind belegt, es gibt nur noch 3 300 freie Intensivbetten. Das, was droht, wenn wir jetzt nicht handeln, ist die Gefahr einer Triage, ist die Gefahr einer Auswahl, wer gerettet werden kann und wer sterben muss. Ihr schiefes Verständnis von Gesundheitsschutz muss man Ihnen anlasten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Das ist nicht das Verständnis unserer Verfassung und nicht das Verständnis dieses Hauses. ({4}) Besonders aberwitzig wird es dann – darauf ist ja hier schon eingegangen worden –, wenn Sie – und das ist der inhaltliche Kern Ihres Antrages – den Bundestag auffordern, seinen legislativen Pflichten nachzukommen. Ich weiß nicht, ob Sie das für sich schon abgeschrieben haben: Sie fordern damit quasi sich selbst auf, Sie sind Teil des Deutschen Bundestages. ({5}) Sie brauchen hier keinen Aufforderungsbeschluss, sondern könnten ja selbst Initiativen vorlegen. Sie verhalten sich aber so wie der schlechte Schüler, der sich selbst und die Klasse auffordert, die Hausaufgaben zu erledigen, und am nächsten Tag feststellt, dass alle die Hausaufgaben gemacht haben, nur er selbst nicht. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss doch hier darum gehen, dass Sie konkrete Vorschläge machen. Wir erledigen unsere Hausaufgaben. Wir wissen, dass es umstritten ist, womit wir uns im Moment auch beim Bevölkerungsschutzgesetz auseinandersetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Amthor, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Dehm? ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, überraschend, aber, Herr Dehm, gerne. ({0}) – Ja, ja, das ist ja manchmal übergreifend.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. Dann ist mir die Überraschung auch gelungen. Zwei Fragen. – Erste Frage: Kennen Sie das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages? Das ist jetzt drei Tage alt. Ich habe das in Auftrag gegeben, und Sie können es bei „Telepolis“, falls Sie es nicht kennen, nachlesen, nämlich dass die Inzidenzen so, wie sie aufgestellt sind, als Kategorien zu pauschal sind und nicht wirklich zielgenaues Pandemiebekämpfen möglich machen. Die zweite Frage. Sie haben ja etwas von dem Maskenskandal mitbekommen. Glauben Sie nicht auch, dass Lobbytätigkeit in dieser Krise und während der Bewältigung der Pandemie die Möglichkeit, Vertrauen zu gewinnen – und wir brauchen das Vertrauen sehr großer Teile der Bevölkerung –, erschüttert? Und was halten Sie generell davon, dass Lobbytätigkeit in diesem Zusammenhang, in der Pandemie, ganz besonders geahndet werden sollte, wenn dabei in der Not mit Masken hantiert wird?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Dehm, fangen wir vielleicht mit dem letzten Thema an. Ich teile da Ihre Einschätzung; unsere Fraktion teilt die Einschätzung. ({0}) Deswegen stellen wir uns auch an die Spitze der Bewegung, ({1}) beklagen das nicht nur, sondern haben das Lobbyregister auf den Weg gebracht, das Abgeordnetengesetz geändert. ({2}) Und da sollten Sie nicht den Eindruck erwecken, als wenn hier irgendeiner das billigt, was wir dort erlebt haben. ({3}) Aber zu dem anderen Thema. Ich kenne das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes. Es kommt aber nicht zu dem pauschalen Schluss, dass der Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes verfassungswidrig wäre. Wir gehen auf diese Bedenken ein. ({4}) Wir haben noch am Freitag eine Anhörung dazu im Gesundheitsausschuss. Es wird auch Änderungen im parlamentarischen Verfahren geben. Und Sie haben Recht: Die Inzidenz alleine ist für uns nicht das Kriterium bei der Pandemiebekämpfung. Sie ist nicht das alleinige Kriterium. ({5}) Es geht natürlich auch um solche Fragen: Wie kommen wir voran mit dem Impfen? – Manches geschieht noch zu langsam, aber mit großen Erfolgen. Es geht darum: Wie kommen wir voran beim Testen? Und wir werden es nicht alleine von diesem Kriterium abhängig machen. Aber Gesetzgebung funktioniert so, dass sie nicht willkürlich sein kann, sondern dass wir ein operationables System von Kriterien entwickeln müssen. Und die Experten sagen uns, es müsste die 50er-Inzidenz sein. Wir finden das überwiegend zu engmaschig und sagen deswegen: Die 100er-Inzidenz soll das Kriterium für die Notbremse sein. ({6}) Das hat sich übrigens nicht der Bundestag ausgedacht, sondern die Ministerpräsidentenkonferenz. Danach können Sie sich ja vielleicht mal bei Herrn Ramelow erkundigen. Ich halte diesen Maßstab jedenfalls für vertretbar, und die Details werden wir hier im parlamentarischen Verfahren glattziehen. Das Gesetz, so wie wir es vorschlagen, ist verfassungsgemäß, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Aber es geht eben darum – die Linksfraktion schert jetzt aus; das ist klar, Wahlkampf gehört dazu –, wie wir es auch überwiegend sehen, dass sich alle konkret in die Pandemiebekämpfung einbringen. Das haben wir in der Ministerpräsidentenkonferenz erlebt, sehen aber, dass wir jetzt hier im Bundestag nachziehen müssen. Das ist richtigerweise der Ort der Debatte. Und ich will in aller Klarheit sagen: Die AfD braucht uns nicht dazu auffordern, die Pandemiebekämpfung zum Thema des Parlaments zu machen. Wir kommen nämlich nicht nur den Aufforderungen nach, sondern tun es selbst mit unserer Politik. Das, was Sie hier beibringen, ist nur heiße Luft und sonst nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Und lassen Sie mich zum Abschluss noch eines sagen: Wenn die AfD davon redet, die Pandemie sei herbeigetestet, dann ist das ungefähr so ein Logik- und Wirklichkeitsverständnis, als wenn man den Rechtsextremismus für ein herbeigeredetes Problem hält. Beides ist eine Gefahr für Deutschland, beides werden wir nicht billigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir lehnen Ihren Antrag ab. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Timon Gremmels für die SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann sich in der Kernzeit des Deutschen Bundestages am Donnerstagvormittag diesem wichtigen Thema der Pandemie, den alternativen Coronamaßnahmen, auf zwei Wegen nähern, entweder seriös, sachlich, mit konkreten Vorschlägen, so wie das die Linken, die Grünen, die FDP als Opposition gemacht haben – konstruktiv, zielorientiert –; oder man macht das so wie die AfD: populistisch, dünn und in weiten Teilen auch einfach dumm, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Herr Seitz, wenn man Ihre Rede so gehört hat, könnte man ja eigentlich gemäß einem alten Spruch meinen: Aus Schaden wird man klug. Aber anscheinend trifft das bei Ihnen nicht zu. Und Sie erzählen hier auch noch die Unwahrheit. Sie sagen, hier würde das Parlament entmachtet. Genau das Gegenteil passiert doch morgen: Wir werden mit dem Vierten Bevölkerungsschutzgesetz das Parlament wieder deutlich stärken, und wir werden mehr Mitsprache haben. Wir diskutieren und ringen doch hier um verschiedene Wege, und wir diskutieren auch innerhalb der SPD ganz intensiv darüber, was die richtigen Wege sind. Genau das machen wir. Aber dann muss man sich auch die Mühe machen und arbeiten und darf nicht nur populistische Anträge hier stellen. Und wenn Sie als AfD in Ihrem Antrag sagen, der Bundestag möge beschließen, seine legislativen Pflichten endlich wahrzunehmen: Sie sind – leider, sage ich – in dieser Wahlperiode auch die Legislative. Nehmen Sie Ihre Arbeit wahr! Machen Sie doch Vorschläge! Legen Sie Gesetzentwürfe vor! Machen Sie Ihre Arbeit, und belästigen Sie uns hier nicht mit populistischen Reden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Ich sage Ihnen: Die RKI-Zahlen von heute sagen etwas ganz anderes als Ihr Parteitagsbeschluss vom Wochenende – Abschaffung der Maskenpflicht haben Sie da thematisiert –: ({2}) 30 000 Neuinfektionen gab es alleine gestern. Die Zahlen schnellen nach oben. Wir müssen dringend handeln. Wir müssen handeln. Ich würde mir ja auch wünschen, mit Parteitagsbeschlüssen könnte man Corona abschaffen; wäre ich sofort dafür. Aber so einfach ist die Welt nun mal nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Aber es ist auch wichtig, dass wir neben der Diskussion um das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz den Menschen wieder eine Perspektive geben, dass wir Hoffnung machen, dass wir begleitend diskutieren, wie wir Wirtschaftshilfen verstetigen, wie wir die Überbrückungshilfe III weiterentwickeln, wie wir konjunkturelle Impulse setzen, weil sie natürlich gebraucht werden. Ich sage Ihnen aus den Gesprächen in der letzten Woche, die ich in meinem Wahlkreis hatte: Dazu gehört eine Kunsthochschule in Kassel, junge Absolventen, junge Künstlerinnen und Künstler, die es auch in Nichtcoronazeiten schon schwer haben, einen Berufsstart hinzulegen. Es ist jetzt für sie schwierig, überhaupt Auftritte zu kriegen, weil die Kunst- und Kulturbranche seit einem Jahr im Stillstand ist. Wenn ich mit dem Einzelhandel spreche, ist es ähnlich. Ich war in einem Geschäft ({3}) und habe dort mit einer Dame gesprochen, der Inhaberin, die Tränen in den Augen hatte, als sie mir gesagt hat: „Click & Meet“ war eine Hoffnung, eine Perspektive; dieses Instrument brauchen wir möglichst schnell wieder. – Und deswegen gilt es, jetzt schnell noch mal alle Kräfte zu mobilisieren, damit wir auch wieder eine Perspektive geben können, damit der Einzelhandel nach dieser Krise auch funktioniert, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da müssen wir uns auch mit dem Thema beschäftigen, warum es denn sein kann, dass der Schuheinzelhandel, dass der Bekleidungseinzelhandel schließen muss, nicht öffnen kann, gleichzeitig aber die Supermärkte in ihren Non-Food-Abteilungen diese Sortimente aufbauen können. ({4}) Und dazu erwarte ich vom Wirtschaftsministerium konkrete Vorschläge, damit wir auch dort konkrete Perspektiven geben können. Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Bekämpfung der Coronapandemie steht im Vordergrund. Ehrlich gesagt, die Menschen bei mir im Wahlkreis haben wenig Verständnis dafür, dass CDU und CSU sich gerade ausschließlich mit sich selbst beschäftigen. Ich finde, es geht nur gemeinsam. ({5}) Das besagt das Positionspapier, das die SPD beschlossen hat. Wir wollen die Coronapandemie gemeinsam bekämpfen, und zwar sachlich orientiert, als Partnerin der Bürgerinnen und Bürger. Deswegen sehe ich den weiteren Beratungen mit Freude entgegen. So geht Demokratie auch in schwierigen Zeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Volker Ullrich hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren seit einer Stunde einen Antrag der AfD zur Lockdown-Politik. Es ist sehr viel Zutreffendes über den fehlenden intellektuellen Anspruch gesagt worden, mit einer Fünf-Zeilen-Begründung zu versuchen, die Pandemie zu erfassen. ({0}) Aber ein Satz hat mich erbost, nämlich jener – ich zitiere –, dass wir „mit dem … Virus leben müssen“. Das ist nicht die Haltung, die wir jetzt an den Tag legen sollten, ({1}) sondern entscheidend ist, dass wir das Virus bekämpfen, dass wir die Menschen schützen, dass wir denjenigen zur Seite stehen, die tagtäglich in den Krankenhäusern für die Menschen kämpfen, und dass wir dafür Sorge tragen, dass wir mit Impfen, mit Testen und weiteren Maßnahmen die Pandemie bekämpfen. Eine Kapitulation vor der Pandemie kann niemals unsere Haltung sein. ({2}) Ein zweiter Punkt. Sie schreiben, dass die Entscheidungen über Maßnahmen durch die Exekutive angeordnet werden, und nehmen das als Kritikpunkt. Da muss ich Ihnen deutlich zurufen, dass unser Gemeinwesen nun mal so funktioniert. Der Bundestag stellt den gesetzlichen Rahmen auf. Dieser Pflicht sind wir nachgekommen mit dem Infektionsschutzgesetz, und dieser Pflicht werden wir auch weiter nachkommen durch die Fortschreibung des Infektionsschutzgesetzes, worüber wir uns intensiv unterhalten. Aber es ist Aufgabe der Exekutive, die entsprechenden Maßnahmen im Rahmen der Parlamentsgesetze zu erlassen. Das ist das notwendige Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament. Das sollten wir auch nicht durch diese Krise aus den Angeln heben. Was mich, Herr Kollege Brandner, wirklich erstaunt hat, ist, dass Sie hier diese Allegorien des Mittelalters verwenden. ({3}) Ich will Ihre Worte gar nicht wiederholen, weil sie, wie ich finde, unparlamentarisch waren. ({4}) Aber ich sage Ihnen: Beim Mittelalter denke ich spontan an den Begriff „AfD -Aderlass für Deutschland“. ({5}) Aber es zeigt eines einmal mehr, nämlich dass Sie sich mit Ihrem Denken in einer voraufklärerischen Tradition befinden. Das bedeutet Wissenschaftsfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit. Das wird durch Ihre Rede deutlich zum Ausdruck gebracht. ({6}) Ich möchte noch einmal auf die Situation hinweisen, in der wir uns im Augenblick befinden: ({7}) Über 4 000 Patienten werden derzeit intensivmedizinisch behandelt. Wir haben 30 000 Neuinfektionen in Deutschland, der weit überwiegende Teil verursacht durch die Mutante B.1.1.7, die vielleicht nicht tödlicher ist, aber auf alle Fälle wesentlich ansteckender und die damit die Gefahr in sich trägt, wesentlich mehr Menschen zu infizieren. Am Horizont taucht eine weitere Gefahr auf, nämlich die sogenannte brasilianische Mutante P1 mit einer noch höheren Ansteckungswahrscheinlichkeit. Zudem haben wir im Augenblick eine exponentielle Steigerung des Infektionsgeschehens. Das alles bildet den Rahmen, in dem wir uns befinden. Dem steht gegenüber, dass täglich zwischen 500 000 und 700 000 Menschen geimpft werden, dass wir es geschafft haben, die Bewohner der Alten- und Pflegeheime weitgehend zu schützen, und dass 15 000 Teststationen bereitstehen, um den Bürgerinnen und Bürgern kostenlose Schnelltests anzubieten. Aber klar ist auch, dass trotz Impfen und Testen im Augenblick die Steigerung der Fallzahlen allein durch diese Maßnahmen nicht begrenzt werden kann. Man kann in der jetzigen Situation – übrigens in keinem Land der Welt, auch nicht in den Vereinigten Staaten – den exponentiellen Anstieg nicht allein durch Impfen und Testen bremsen. Deswegen brauchen wir für eine vorübergehende Zeit eine Mischung von weiteren Maßnahmen. Wir müssen impfen und testen, brauchen gleichzeitig aber auch Lockdownmaßnahmen, die verhältnismäßig sind, die Kontaktbeschränkungen beinhalten, um damit die Welle zu brechen, um nach der Welle mit niedrigeren Inzidenzzahlen durch Impfen und Testen die Pandemie tatsächlich zu bekämpfen. ({8}) Das ist unser Ansatz, und der ist wissenschaftlich begründet. Ich glaube, dass die Menschen in diesem Land diesem Ansatz trotz mancher Debatte über Details auf alle Fälle vertrauen können. In diesem Sinne: Lassen Sie uns anständig an diesem Kurs weiterarbeiten. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die heutige Debatte mit den heutigen Anträgen ist die politische Aufstellung klar. Die AfD würde sagen: viel zu viel in die Schiene, aber ohne Konzept. Die FDP würde mehr liberalisieren und fordert mehr Wettbewerb. Dies ist ihr altbekanntes Konzept. ({0}) Die Linke würde am liebsten rückverstaatlichen, und der Bund solle den ÖPNV am besten auch noch machen. ({1}) Das ist ein Konzept aus einem anderen Jahrtausend. Den Grünen reicht das alles nicht. Aber wenn es konkret wird, dann wird es unkonkret bei den Grünen. ({2}) Wenn nämlich die Großprojekte ins Zentrum rücken, beispielsweise der Brenner-Nordzulauf oder die Fehmarnbeltquerung, dann ist man schnell dagegen. Das ist ein Konzept von Philosophen. ({3}) Ich stelle fest: Diese Koalition macht eine gute und moderne Bahn- und Schienenpolitik. ({4}) Wir handeln nach dem Motto „kein Weiter-so, sondern ein Richtig-so – modernisieren, investieren, digitalisieren, harmonisieren, priorisieren“. ({5}) Mit dieser Bahn- und Schienenpolitik haben wir dokumentiert, dass dieser Bereich für uns höchste Priorität hat, ({6}) und wir haben in der Koalition ein bürger- und klimagerechtes Gesamtkonzept für die Mobilität der Zukunft. ({7}) Unsere Leitlinien sind Klimaschutz, Lärmschutz, Mobilitätsschub, Digitalisierungsschub, Logistikschub, Innovationen und Investitionen. Ich kann Sie nur einladen, dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Die Schiene europaweit stärken – Das Jahr der Schiene erfolgreich nutzen“ zuzustimmen. Warum? Weil wir viele, viele große Projekte haben. Da ist zum einen der Deutschlandtakt, der zum Europatakt werden soll: schneller, öfter und überall. Das haben wir durch unsere Initiative unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft so in die Wege geleitet. Zum anderen ist da der Trans Europ Express 2.0, eine Verbindung der europäischen Metropolen. Das haben wir im September vorgestellt, und schon im Dezember gab es die ersten Verbindungen auf einer konkreten Strecke, und zwar der Strecke München–Zürich, mit einer Fahrzeitverkürzung auf 3 Stunden und 30 Minuten und einem Investitionsvolumen von 500 Millionen Euro. Das ist ein wirkliches Angebot neben den vielen Strecken des grenzüberschreitenden Fernverkehrs. ({8}) Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III sieht so viel Geld wie nie zuvor vor: 86 Milliarden Euro. Wer hätte vor dieser Legislaturperiode gedacht, dass wir so viel Geld aufbringen können und die Kraft dazu haben, zusammen mit dem Finanzminister dieses Angebot zu machen? Weiterhin steht mehr Geld für das GVFG bereit, mehr Geld für die Regionalisierung, mehr Geld für ein Bahnhofsprogramm, das sogar den Koalitionsvertrag übererfüllt. Wir nehmen 5 Milliarden Euro für 3 000 Bahnhöfe in die Hand, um sie barrierefrei zu machen, zu modernisieren, vor allem auch sicherer zu machen. Weiterhin gibt es Investitionsprogramme, Gleisanschlussprogramme, Programme zu Elektrifizierung und alternativen Antrieben. Wir sind auch Lärmschutzeuropameister, ich sage sogar: Lärmschutzweltmeister. Wir haben andere Voraussetzungen geschaffen und mutigere als andere europäische Länder. Wir sind Logistikweltmeister. Wir sind Exportweltmeister. Wir tätigen Investitionen auf Rekordniveau, sodass wir zum ersten Mal verkünden können: 2022 werden die Investitionen in die Schiene höher sein als die in die Straße. Wir investieren in Innovationen wie in die Digitale Automatische Kupplung. Wir digitalisieren nicht nur die Fahrzeuge, sondern vor allem wollen wir – das ist auch ein Appell an alle Unternehmen, die in dem Bereich aktiv sind – Glasfaser an jedem Kilometer Schiene. Das wollen wir. Wir wollen flächendeckenden Mobilfunk, die Digitale Schiene Deutschland, ETCS. Wir wollen auch raus aus dem Diesellokzeitalter. ({9}) Deswegen: Gehen wir in die Elektrifizierung, gehen wir in die alternativen Antriebe! Wir haben unter unserer deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der Berliner Erklärung noch mal dokumentiert, wie wichtig es ist, den Schienengüterverkehr grenzüberschreitend zu organisieren. Und wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, es auch in der Coronapandemie geschafft, dass die Lieferketten für die Versorgung fast zu 100 Prozent aufrechterhalten werden können. Die Häfen profitieren davon. Natürlich haben wir uns verkehrsträgerübergreifend aufgestellt. Ich denke an die Auswirkungen der Krisensituation im Suezkanal. Da haben wir sofort reagiert, die Reeder, die Hafenbetreiber, DB Cargo und die Eisenbahnunternehmen zusammengeholt und darüber informiert, damit wir eben keinen Flaschenhals produzieren, sondern dass wir beweisen, dass wir Logistikweltmeister sind und nicht nur die Güter für den täglichen Bedarf wieder in die Regale bringen, sondern auch die für die industrielle Produktion. Das sind alles positive Botschaften. ({10}) Wir wollen nicht lockerlassen, damit die Schiene weiter Nummer eins bleibt bei der Priorisierung und bei Investitionen. Wer hat denn den ersten digitalen Knoten in Stuttgart gemacht? Das war der Bund mit einer Investition in Höhe von über 420 Millionen Euro. Wer hat sich dafür entschieden, dass wir ein großes Elektrifizierungsprogramm aufsetzen? ({11}) Ja, wir haben Verbesserungspotenzial. Es läuft nicht alles gut beim System Schiene. Aber dazu sind wir ja da, nämlich die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Ich lade Sie ein, weiterhin eine europäische Vision eines grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehrs zu unterstützen. Diese Bundesregierung hat so viel Geld für den Bereich Schiene aufgebracht wie nie zuvor. Deswegen wird es in den nächsten Monaten darum gehen, dieses bürgernahe, klimagerechte Gesamtkonzept „Mobilität“ klarzumachen und den Bürgern zu sagen: Das ist die richtige Balance unter den Verkehrsträgern mit der hohen Priorität für die Schiene. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! „Die Bahn soll’s richten“, das ist die heimliche Überschrift dieser Debatte. Am Überbietungswettbewerb in Selbstlob und Wünsch-dir-was-Gerede wird sich die AfD allerdings nicht beteiligen. ({0}) Wir wissen, dass die Bahn gut ist, etwa wenn es um große Verkehrsmengen oder um Städteverbindungen geht. Die AfD widerspricht aber energisch allen Ideen für eine planwirtschaftliche Verkehrswende, die sehr vielen Menschen Mobilität nehmen wird, weil sie ihnen vor allem das Autofahren unerschwinglich macht. ({1}) Es ist richtig, die Bahn mit Digitalisierung und guter Infrastruktur beherzt ins 21. Jahrhundert zu holen. Sie wird den Straßenverkehr aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen können. Da haben Sie, Herr Minister Scheuer, recht, wenn Sie bei der AfD die letzten Realisten vermuten, die die Bedeutung des Straßenverkehrs erkennen. ({2}) Wo die Bahn gute Angebote macht, werden die Leute gerne umsteigen. Einen politischen Zwang hierzu lehnt die AfD in aller Deutlichkeit ab. Die Koalition tischt uns einen Jubelantrag zur Sofortabstimmung auf. So möchten Sie mit der Mehrheit in diesem Hause all das begrüßen, was Sie sowieso gerade machen, und die Regierung zu all dem auffordern, was sie sowieso gerade plant. Nicht, dass das alles komplett falsch wäre, aber es greift eben vieles zu kurz. Beispielsweise fehlt jede Perspektive, wie die Unternehmensstruktur der Deutschen Bahn reformiert werden soll. Da ist die Sofortabstimmung nur konsequent, denn für eine Beratung in den Ausschüssen fehlt einfach die Substanz. Im Gegensatz zu diesem Schönwetterantrag beschäftigen wir uns bei der AfD buchstäblich damit, wie man die Bahn erst einmal wetterfest machen kann. Die Kunden werden sich auf die Bahn nur verlassen, wenn sie wirklich verlässlich fährt. Deshalb darf sich das Desaster beim Wintereinbruch im Februar nicht mehr wiederholen. ({3}) Natürlich kann der Winter mal so hart werden, dass nicht mehr alle Züge fahren. Aber es darf eben nicht von vornherein der Plan sein, dass wichtige Bahnstrecken tagelang nicht geräumt werden, mit allen Folgen für den Personen- und Güterverkehr. Deshalb beantragt die AfD eine sehr hohe Priorität für die Verfügbarkeit der Schieneninfrastruktur und Strafzahlungen, wenn dieses Ziel verfehlt wird. Wo die Koalition schon von „ambitionierten Klimaschutzzielen“ spricht, legen die Grünen in ihrem Antrag noch eine Schippe drauf und verlangen mit demselben Wort auch noch eine „ambitionierte Umsetzung“. ({4}) Für den Deutschlandtakt fordern Sie die Staatswirtschaft auch beim Fernverkehr. Und zu Ihrer ideologischen Verkehrslenkung kommen hinzu: Erhöhung der Lkw-Maut, Verteuerung von Dieselkraftstoffen, massive Einschnitte bei der Straßeninfrastruktur und vieles mehr. Dahin geht also die Reise, jedenfalls wenn diese Partei an der nächsten Bundesregierung beteiligt wird. Ich spreche das hier vonseiten der AfD sehr deutlich an, denn wir haben wohl als Einzige in diesem Haus keine Koalitionspläne mit den Grünen für die Zeit nach der Bundestagswahl. ({5}) Die FDP-Anträge, die heute zur Abstimmung stehen, gehen bei Bahnreform, Ausbau und Verfügbarkeit der Infrastruktur in die richtige Richtung und finden auch die Zustimmung der AfD-Fraktion. Die Bahn ist kein Allheilmittel, aber mit der Digitalisierung und gezieltem Ausbau ihrer Stärken ist sie die richtige Alternative für viele. Dann wird sie aus freier Entscheidung gerne genutzt. Genau da will die AfD hin. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Detlef Müller das Wort. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haben Sie es gemerkt? Europa und Schiene: Das sind zwei Themen, von denen die AfD so überhaupt keinen Plan hat. ({0}) Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat das Jahr 2021 zum Jahr der Schiene erklärt. Aus diesem Anlass haben wir als Koalitionsfraktionen den hier zu diskutierenden Antrag vorgelegt. Er reiht sich ein in die bisherige Verkehrspolitik dieser Koalition, die sich so stark wie keine davor auf die Schiene konzentriert hat. ({1}) Bisher haben wir in diesem Bereich auch schon viel auf den Weg gebracht – der Minister hat es angesprochen – mit der Bereitstellung von Mitteln in Rekordhöhe für Investitionen in die Infrastruktur, mit den Planungen zum Deutschlandtakt und mit den verschiedenen Planungsbeschleunigungsgesetzen, die eine schnellere Umsetzung von Maßnahmen bringen sollen und hoffentlich auch werden. Dass die Schiene der Verkehrsträger der Zukunft ist, habe ich wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen an dieser Stelle schon mehrfach erwähnt. Kein Verkehrsmittel ist sicherer, kein Verkehrsmittel ist klimafreundlicher, kein Verkehrsmittel ist nachhaltiger; bequemer und schöner ist sowieso keines. Um aber diese Vorteile zu nutzen, braucht es ein klares Bekenntnis zur Schienenpolitik. In Deutschland hat die Große Koalition dieses klare Bekenntnis im Koalitionsvertrag abgelegt und in den vergangenen vier Jahren mit Leben erfüllt. Wir haben uns ambitionierte Ziele für den Verkehrssektor Schiene gesetzt: die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030, die Steigerung des Anteils der Schiene am Güterverkehr bis auf 25 Prozent und die Umsetzung des Deutschlandtaktes. Dass diese Ziele nun auch von europäischer Seite flankiert werden, ist absolut zu begrüßen. Wie so vieles in unserem vereinten Europa endet auch der Personen- und Güterverkehr auf der Schiene eben nicht an nationalen Grenzen. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn wir die Leistungsfähigkeit der Schiene steigern wollen, braucht es auch europäische Anstrengungen bei der einheitlichen Digitalisierung des Schienenverkehrs, bei der Stärkung des Güterverkehrs durch neue technische Möglichkeiten wie die digitale automatische Mittelpufferkupplung, aber auch bei der Unterstützung des Einzelwagenverkehrs, bei der Durchbindung von Personen- und Güterverkehren zwischen europäischen Ballungsräumen und hinsichtlich der Möglichkeit, europäische Bahntickets europaweit einfach zu buchen. Hierfür bietet das Europäische Jahr der Schiene eine gute Grundlage, um die bisher gemachten Schritte fortzuführen. Denn sicher ist auch: Nur mit einer starken und modernen Schiene lassen sich die Klimaziele für Deutschland und Europa erreichen. Und eine starke Schiene muss mit den Wettbewerbern auf der Straße und in der Luft mithalten können. Daran müssen gerade wir als Transit- und Exportland im Herzen der Europäischen Union ein großes Interesse haben. Deshalb entbindet uns das europäische Engagement im Schienenverkehr auch gerade nicht von nationalen Kraftanstrengungen. Hier – meine Nachrednerinnen und Nachredner werden sicherlich darauf hinweisen – haben wir noch viel zu tun. Herr Minister, es geht eben nicht nur um das „Wir wollen“, sondern auch um das „Wir müssen“ und das „Wir werden“. ({3}) Meine Damen und Herren, wir brauchen deutlich mehr Tempo, um unser Ziel der Elektrifizierung von 70 Prozent der Strecken bis 2025 zu erreichen. Um das zu schaffen, müssten wir pro Jahr rund 500 Kilometer Strecke elektrifizieren – und nicht 60 bis 70 Kilometer wie jetzt. Ja, ich kenne den aktuellen Strategiewechsel des Ministeriums von „elektrifizierte Streckenkilometer“ hin zu „elektrischer Betriebsleistung“. Das umfasst also auch alternative Antriebe; richtig. Aber am Ausbau der tatsächlichen Elektrifizierung mittels Fahrleitung führt kein Weg vorbei. ({4}) Meine Damen und Herren, wir müssen die Elektrifizierung unserer grenzüberschreitenden Strecken, gerade nach Polen und Tschechien, dringend beschleunigen. Wir brauchen die vollständige Ausstattung der Bahntrassen mit moderner Breitband- und Mobilfunkinfrastruktur. Wir müssen den Schienenverkehr attraktiver und komfortabler für die Menschen gestalten, indem wir den Deutschlandtakt umsetzen und mit unseren europäischen Nachbarn koordinieren. Und wir müssen endlich dafür sorgen, dass der seit Jahrzehnten geprägte Satz „Mehr Güter von der Straße auf die Schiene“ nicht nur ein Lippenbekenntnis und ein frommer Wunsch bleibt. Meine Damen und Herren, wir müssen gerade jetzt zudem sicherstellen, dass uns die Auswirkungen der Coronapandemie im Bereich der Schienenpolitik nicht um Jahre zurückwerfen. Gerade wegen der derzeitigen Nachfrageeinbrüche im Personen- und Güterverkehr braucht es in Deutschland und in Europa weiterhin das klare Bekenntnis zur Schiene. Nur das gibt uns die Chance, im Verkehrssektor gestärkt aus dieser Krise zu treten. Für dieses Bekenntnis steht dieser Antrag. Stimmen Sie zu! Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Torsten Herbst, FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns im Europäischen Jahr der Schiene, und das könnte echt eine gute Werbung für den Bahnverkehr sein. Die Vorstellung, mit einem Zug 1 000 Kilometer schnell und komfortabel durch Europa zu fahren, ist faszinierend. Doch wie sieht die Realität aus? Schauen wir uns an, wie es wäre, wenn wir von Berlin nach Paris fahren würden – das sind, glaube ich, etwas über 1 000 Kilometer –: Mit dem Flugzeug sind Sie in unter zwei Stunden dort, und mit dem Zug dauert es zwischen 8 und 9 Stunden. Das ist kein attraktives Angebot; deshalb müssen wir an dieser Stelle mehr machen. Das liegt nicht an den Franzosen, sondern wir in Deutschland sind zu langsam, Herr Verkehrsminister. ({0}) Man kann es auch nicht auf die EU schieben; ich glaube, da gibt es die richtigen Impulse für einen attraktiveren Bahnverkehr. Wir müssen unsere nationalen Hausaufgaben lösen. Der Minister hat es selbst angesprochen: Unsere Langsamkeit bei der Fehmarnbeltquerung, beim Zulauf zum Brenner-Basistunnel und auch zur Schweiz steht einem attraktiven Bahnverkehr im Wege. Hier müssen wir schneller werden, genauso wie bei der Elektrifizierung von Bahngrenzübergängen nach Osteuropa. Der aktuelle Stand ist leider ein Trauerspiel. ({1}) Ich frage mich: Wo waren eigentlich die Initiativen während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für einheitliche Technikstandards, für Planungsbeschleunigung und vor allem für mehr Wettbewerb? Jetzt hat der Minister gesagt, das sei typisch FDP. Ja, ist es, weil wir glauben, dass Wettbewerb eine Lösung ist, um einen attraktiveren Bahnverkehr zu erzielen. In Ihrem Antrag, liebe Koalition, kommt das Wort „Wettbewerb“ überhaupt nicht vor. ({2}) Wir können uns ja mal im Ausland umschauen. In Italien haben Sie im Personenfernverkehr die Auswahl zwischen zwei Anbietern: dem staatlichen Anbieter Trenitalia mit dem Frecciarossa und dem Italo-Zug eines privaten Anbieters. Was ist passiert? Viele Leute sind vom Flugzeug auf den Zug umgestiegen, weil es ein attraktives, preiswertes, serviceorientiertes Angebot ist. Demnächst können Sie sich in Spanien zwischen den Hochgeschwindigkeitszügen der spanischen und der französischen Staatsbahn entscheiden. Sie können in die Tschechische Republik, nach Schweden und in viele andere Länder schauen, die zeigen, dass man mit mehr Wettbewerb, mehr Angebot, mehr Auswahl für Fahrgäste das Bahnfahren insgesamt attraktiver macht. Deshalb ist Wettbewerb einer der zentralen Schlüsselfaktoren, meine Damen und Herren. ({3}) In Deutschland schieben wir leider Problemberge vor uns her. Der Ausbau und die Modernisierung des Schienennetzes gehen schleppend voran, trotz des vielen Geldes, das zur Verfügung steht. Die DB, immerhin der größte Bahnkonzern Europas, ist auf dem Weg, von einem Problemfall zu einem Sanierungsfall zu werden. Bei 40 Milliarden Euro Jahresumsatz 30 Milliarden Euro Schulden – das ist kein gesundes Verhältnis mehr, meine Damen und Herren. Deshalb sollten Sie sich gerade im Europäischen Jahr der Schiene mal anschauen, was die EU-Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, was man tun kann, damit es mehr Wettbewerb gibt, damit es mehr Service, mehr Auswahl für die Reisenden gibt. Wir glauben, eine attraktivere Bahn gibt es nur mit einer Topinfrastruktur und einem fairen, vernünftigen Wettbewerb auf nationaler und europäischer Ebene. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wenn es nach uns gegangen wäre, dann könnten wir jetzt, im Europäischen Jahr der Schiene, die Verbindung von 15 europäischen Hauptstädten mit Nachtzügen feiern und die Möglichkeit, dieses Bahnangebot beispielsweise für die Besucher der Fußball-Europameisterschaft zu nutzen. Jetzt haben wir Corona, aber wir haben auch ein völlig aus der Zeit gefallenes Verkehrsministerium und eine Große Koalition, die es jahrelang verschlafen hat, diese Alternative zum Flugverkehr, diese klimafreundliche Reiseoption in Europa und in Deutschland auszubauen. ({1}) Als Sie, Herr Scheuer, im September letzten Jahres mit einem Riesenpressebohei verkündet haben, dass der Trans Europ Express 2.0 mit acht Verbindungen am Tag, acht Verbindungen in der Nacht und drei durchlaufenden Länderverbindungen auf die Schiene gebracht wird, haben wir das sehr begrüßt. Wir waren echt angetan davon und dachten: Holla, da tut sich was! – Was ist davon übriggeblieben? Nichts! Es ist auf zwei Verbindungen geschrumpft. Jetzt haben Sie gesagt, die Verbindung München–Zürich wird eingeweiht. Diese Verbindung ist längst überfällig; das hat mit Ihrem Konzept überhaupt nichts zu tun. Ich muss sagen: Der Antrag, der hier vorliegt, wäre ja schön und gut, wenn er ein Oppositionsantrag wäre. Dann könnten wir dem auch zustimmen, Kollege Müller. Ich leide auch mit Ihnen; denn ich kann total gut verstehen, dass Sie frustriert sind. Aber Sie sind nun mal in der Regierung, und Sie hätten viele der Maßnahmen, die darin stehen, längst umsetzen müssen; das war auch verabredet. ({2}) Nehmen wir nur mal das Elektrifizierungsthema. Die Elektrifizierung von grenzüberschreitenden Strecken nach Polen, nach Tschechien fehlt. Das steht schon seit Jahren und Jahrzehnten auf der Tagesordnung dieses Verkehrsministeriums. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man so schnarchnasig sein kann. Dazu kommt noch, dass sich jetzt gerade die Bahnverbände melden und sagen: Das Elektrifizierungsprogrämmchen, das die Bundesregierung jetzt endlich auf den Weg gebracht hat, ist weit von dem entfernt, was längst beschlossen ist. – Bis 2025 sollen 3 500 Kilometer endlich mit Oberleitungen versehen werden. Was macht der Verkehrsminister? ({3}) Er setzt Autobahnen unter Strom. Ich finde, das ist komplett verkehrt. Wir brauchen endlich eine Orientierung auf die Elektrifizierung der Schiene. ({4}) Aber jetzt möchte ich noch zu einem anderen Punkt kommen. Es stehen ein paar Dinge im Antrag, die gar nicht verkehrt sind, die völlig okay sind. Sie loben sich natürlich auch noch über den grünen Klee – das tun Sie immer wieder – beim Thema Investitionshochlauf. Aber in Wirklichkeit werden im Haushalt 2021 so viele Milliarden Euro wie noch nie für den Ausbau von Autobahnen eingesetzt. Das sind noch mal 383 Millionen Euro mehr als letztes Jahr. Die Schiene bekommt nur 60 Millionen Euro mehr und liegt damit weit unter dem, was notwendig wäre, um den Bundesverkehrswegeplan umzusetzen. Das ist kein Glanzprogramm, das ist ein Armutszeugnis! ({5}) Wir haben mit unserem Antrag noch mal deutlich gemacht, dass wir eine Umverteilung hinkriegen müssen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Leidig, achten Sie bitte auf die Zeit.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Man kriegt keinen Klimaschutz und keine sozial und ökologisch gerechte Verkehrswende hin, wenn man nicht umverteilt von der Straße auf die Schiene, in den öffentlichen Nahverkehr. Schluss mit den Subventionen für die klimaschädlichen –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Leidig, setzen Sie bitte den Punkt.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und letztlich sozial zutiefst ungerechten Verkehren. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Matthias Gastel das Wort. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es könnte alles so schön sein: Europa und die Bahn, beides passt wunderbar zusammen. – Was nicht zusammenpasst, ist die Koalition von CDU/CSU und SPD auf der einen und die Bahn auf der anderen Seite. Schauen wir mal in den Antrag der beiden Koalitionsfraktionen und auf die praktizierte Bahnpolitik hier in Deutschland. Sie schreiben in Ihrem Antrag: „Aufwuchs der Mittel im Schienenetat“. Bei einem Blick in den Etat 2020 stellen wir dann fest: 1,6 Milliarden Euro für Aus- und Neubau der Schienenwege und doppelt so viel für neue Straßen. Sie schreiben in Ihrem Antrag: „Ausbau der Schienenwege … schreitet weiter voran“. Die Realität? Leider nicht in Deutschland. 2020, im letzten Jahr: 125 Kilometer Straßenzubau – alleine Straßen des Bundes –, 0 Kilometer neue Schienenwege. Wir haben verschiedene Verträge mit Nachbarstaaten für den Ausbau des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs. Die Nachbarstaaten haben ausgebaut, Deutschland nicht. Seit den Vertragsunterzeichnungen sind viele Jahre vergangen, und nichts wurde gebaut: Frankfurt–Nürnberg–Prag 30 Jahre, die Oberrheinstrecke Richtung Schweiz 45 Jahre. Deutschland ist Nachzügler. ({0}) Welch ein unschönes Wort für diese Fakten! Viel versprochen und nichts gehalten. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein Schwerpunkt muss die Elektrifizierung sein. – Sie haben kürzlich 173 Bahnstrecken bezüglich ihrer Tauglichkeit oder Notwendigkeit für die Elektrifizierung untersucht. Gerade mal zwei davon wollen Sie tatsächlich mit einer Oberleitung versehen. Meine Damen und Herren, wir als grüne Bundestagsfraktion haben über einen langen Zeitraum intensiv an einem eigenen Bahnkonzept gearbeitet und haben heute einen entsprechenden Antrag dazu vorgelegt. Wir wollen, dass sich die Deutsche Bahn wieder auf ihr Kerngeschäft Eisenbahn konzentriert. Wir wollen, dass Infrastruktur gewinnfrei betrieben wird. Wir wollen den Deutschlandtakt mit deutlich besseren Angeboten für die Fahrgäste umsetzen. Anders als Sie sagen wir auch, wie wir das konkret umsetzen wollen. ({1}) Wir wollen stillgelegte Bahnstrecken reaktivieren, die Bahn wieder in die Fläche bringen. Wir wollen Nachtzüge zwischen europäischen Metropolen. Wir sagen, wie wir es machen wollen. Sie können sich noch nicht mal dazu hinreißen, zu sagen: Wir senken die Trassenpreise. – Sie reden nur und tun nichts dafür. ({2}) Wir wollen ökologisch schädliche Subventionen abbauen. Warum verzichtet der deutsche Staat jährlich auf über 7 Milliarden Euro an Dieselsteuer? Warum subventioniert der deutsche Staat Regionalflughäfen, die schon vor der Coronakrise nicht wirtschaftlich gearbeitet haben? Wir als Grüne wollen Verkehre auf die Schiene verlagern. Wir wollen den Menschen barrierefreie, bezahlbare, nachhaltige Mobilitätsangebote auf der Schiene machen. Ich sage ganz bewusst und gezielt in Richtung SPD: Man kann aus der Bahn mit Blick auf einen großen, wachsenden Arbeitsmarkt so viel machen. Sie lassen all die Chancen liegen, jede Menge zukunftsfähige, nachhaltige Arbeitsplätze zu schaffen. Sie als Union und SPD bremsen gemeinsam beim Klimaschutz wie auch beim Ausbau der Schienenwege. Sie bremsen den Arbeitsmarkt im Bahnsektor, der wesentlich größer werden könnten, als er es derzeit ist. Gehen Sie runter von der Bremse, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gastel.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– für eine starke Bahn in Europa und in Deutschland. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! All die Anträge zum Europäischen Jahr der Schiene, zur Schiene als solche, die wir heute beraten, zeigen doch, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses die Absicht haben, den Schienenverkehr in Deutschland und in Europa weiter zu stärken und voranzubringen, und das ist eine gute Nachricht. Die bessere Nachricht dazu ist – das zeigt unser Antrag deutlich –: Wir reden nicht nur darüber, sondern wir haben in den letzten Jahren bereits manches umgesetzt, Herr Gastel. ({0}) Seit 2009 haben sich die Investitionen in die Schiene im Bundeshaushalt verdoppelt. Mit dem Klimapaket haben wir den Investitionsturbo für die Schiene angeworfen. Wenn man die LuFV III dazuzählt, sind das dreistellige Milliardenbeträge, die wir in den Schienenverkehr investieren, damit dieser durch den massiven Investitionshochlauf und den Ausbau des Netzes schneller wird, damit er digitaler wird – unter anderem durch die Digitale Schiene Deutschland –, damit er kundenfreundlicher wird – vor allem durch den Deutschlandtakt – und damit er leiser wird. So haben wir den Schienenlärm durch den Einsatz leiser Güterwaggons um 50 Prozent reduziert. ({1}) Damit sind wir auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel. Unser Schienennetz ist per Definition kein nationales Thema; denn dieses Netz ist mit den Netzen unserer Nachbarn verknüpft. Im Schienengüterverkehr gibt es schon lange die Korridore von Mailand bis Rotterdam. Auch im Personenverkehr steigt das Interesse an durchgehenden Verbindungen von Stuttgart ans Mittelmeer oder auch von Paris nach Berlin. Die Bundesregierung hat im Rahmen der europäischen Ratspräsidentschaft im vergangenen Jahr bereits wichtige Impulse gesetzt: für eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Länder – Stichwort „European Rail Platform“ –, für mehr europäische Zugverbindungen bei Tag und bei Nacht mit dem TEE 2.0, mit dem Nachtzugkonzept – beides übrigens im Sinne unserer Schienenpolitik auf eigenwirtschaftlicher Basis –, für einen besseren Güterverkehr.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Donth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig?

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Kollege Donth, dass Sie es erlauben. – Wir arbeiten ja nun schon viele Jahre zusammen im Verkehrsausschuss. Ich habe in Vorbereitung auf diesen Tagesordnungspunkt noch mal ein bisschen geguckt, wie wir über Nachtzüge diskutiert haben. Sie haben 2014 gesagt, es sei abenteuerlich, dass ein paar Nostalgiker – das war 2014! – verlangen würden, dass Nachtzüge subventioniert werden, das sei ein völlig abwegiger Vorschlag. Jetzt habe ich zwei Fragen an Sie. Erstens. Schätzen Sie die Nachtzugverbindungen in Europa inzwischen anders ein? Also, haben Sie Ihre Position dazu ein bisschen geändert? Und zweitens. Haben Sie eine Ahnung, in welcher Größenordnung der Flugverkehr in Europa subventioniert wird?

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Leidig. – Sie haben Recht: Wir machen leider schon längere Zeit miteinander Politik im Verkehrsbereich. In der Tat haben Sie mich richtig zitiert. Es ging 2014 darum, dass die Deutsche Bahn als Unternehmen für sich die Entscheidung getroffen hat: Es rechnet sich wirtschaftlich nicht mehr, Nachtzugangebote unter den Bedingungen, die die Deutsche Bahn hat, durchzuführen. Der Wunsch von Ihrer Seite war damals: Dann muss man eben Geld reinbuttern, damit es weiterhin funktioniert. – Wir haben heute wieder ein startendes Nachtzugangebot, ({0}) das zum Beispiel die ÖBB in Kooperation auch mit der Deutschen Bahn anbietet. Wir setzen uns für dieses Impulsprogramm ein; ich habe das gesagt, vielleicht haben Sie es nicht gehört. Unser Minister hat das Thema im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft aufgegriffen: Wir wollen nicht nur den TEE 2.0 als europäische Verbindung, sondern auch wieder Nachtzugverbindungen auf eigenwirtschaftlicher Basis. Dagegen hatten wir noch nie etwas; insofern musste ich meine Meinung nicht ändern. Das Konzept passt. Wir setzen uns mit der Digitalen Automatischen Kupplung – DAK; das lässt sich leichter aussprechen –, die auch den Einzelwagenverkehr im Güterbereich attraktiver macht, für einen besseren Güterverkehr ein. Und – das ist auch ganz wichtig –: Wir setzen uns für eine Vereinheitlichung von Steuerungs- und Zugsicherungssystemen ein. Aber wir können, so viel wir wollen, in die grenzüberschreitende Zusammenarbeit investieren und schnellere, konkurrenzfähige Verbindungen zum Flugzeug schaffen, es bleibt ein Problem, wenn ich ein Flugticket von Frankfurt nach Valencia im Internet buchen kann, während ich für dieselbe Strecke mit dem Zug umständlich bei mehreren Bahnunternehmen buchen muss. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss sich im Interesse der Kunden und der Eisenbahn dringend ändern, deshalb stärken wir die Bundesregierung bei der Umsetzung dieses Vorhabens. Bahnfahren muss europaweit für Kunden mit einem Klick über ein einheitliches, komfortables und einfaches Portal buchbar sein. ({1}) Zusammengefasst: Wir haben für einen noch besseren Schienenverkehr in Deutschland bereits entscheidende Weichen gestellt und viel getan. Unser verkehrspolitischer Sprecher, Alois Rainer, würde als Metzgermeister sagen: Darf’s ein bisschen mehr sein? – Ich sage: Ja, es darf, es muss und es wird auch etwas mehr sein, und das werden wir gemeinsam weiter verfolgen. Ich danke ganz besonders unserem Verkehrsminister Andreas Scheuer. ({2}) Ohne seinen starken Aufschlag und seine Initiative in Europa hätten wir da nicht so viel bewegen können; Gleiches gilt auch für unseren Schienenbeauftragten Enak Ferlemann. Er kennt gefühlt nicht nur jede Weiche im deutschen Netz, er weiß auch, wie die Bahnen in Polen, in Frankreich, Schweden, Italien oder anderen europäischen Ländern ticken. Unser gemeinsames Ziel ist und bleibt, die Schiene in Deutschland und in Europa zu stärken. Deshalb haben wir diesen starken Antrag heute vorgelegt, und dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In diesem Antrag reden wir von einem bedarfsgerechten Ausbau des Schienennetzes. Dafür haben wir in dieser Koalition erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt, und zwar nicht nur, wie hier immer zitiert wurde, für die Bedarfsplanmaßnahmen, sondern auch in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung und weiteren Sonderprogrammen für den Schienenausbau. Jetzt führen wir natürlich die Diskussion: Wie setzt man dieses Geld, was ja Steuergeld ist, sinnvoll ein? Dafür gibt es Regeln; allerdings sind diese Regeln sehr an betriebswirtschaftlichen und weniger an volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtet. Ich glaube, wir alle sind einer Meinung: Die Bahn ist ein volkswirtschaftlicher Vorteil, und so muss man sie auch bewerten. ({0}) Wir als Deutscher Bundestag haben für die großen europäischen Linien Abhilfe geschaffen, indem wir zusätzliche Gelder für mehr Lärmschutz – quasi als Nachteilsausgleich, mit Bürgerbeteiligung – bereitstellen können. Das ist gut und richtig! Aber viel sinnvoller wäre es doch, von vornherein die Bewertungsmodalitäten zu ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Diese Chance bietet sich uns jetzt bei den Projekten, die wir über das sogenannte GVFG, Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, fördern. Als Erstes hat diese Koalition die Mittel für regionale Projekte deutlich erhöht: von 333 Millionen Euro im Jahr auf jetzt 1 Milliarde Euro, und in fünf Jahren werden die Mittel auf 2 Milliarden Euro pro Jahr verdoppelt. Das ist eine richtige Leistung. ({1}) Aber: Damit die Länder diese Mittel jetzt sinnvoll einsetzen können, braucht es einen neuen Bewertungsmaßstab. Die sogenannten Bewertungen, die wir für diese Projekte haben, verhindern im Moment, zum Beispiel bei Strecken in Rheinland-Pfalz, eine sinnvolle Elektrifizierung. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, funktioniert so nicht! Herr Scheuer, Sie haben uns schon mehrfach einen neuen Vorschlag für eine sogenannte standardisierte Bewertung versprochen. Wir brauchen sie; die Länder brauchen sie; wir brauchen sie jetzt, damit wir unser Geld vernünftig einsetzen können, damit das Ziel, die europäischen Bahnen auch in Deutschland zu stärken, sinnvoll umgesetzt werden kann. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinder sind besonders schutzbedürftig. Das erleben wir gerade jetzt, in dieser Zeit der Pandemie. Bei fast allen Entscheidungen, die wir treffen, müssen wir immer genau überlegen: Wie wirken sie sich auf Kinder aus? Welche Spätfolgen werden sie haben? Manchmal habe ich den Eindruck, dies geschieht nicht oft genug. Ich höre diese Einschätzung auch von vielen Kolleginnen und Kollegen. Ich finde, wenn dem so ist, wird es Zeit, dass wir diesen Worten auch Taten folgen lassen sollten. ({0}) Es ist Zeit, dass Kinderrechte im Mittelpunkt unseres Rechtssystems auch sichtbar gemacht werden, und dieser Mittelpunkt ist unser Grundgesetz. Der Entwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben und den wir heute beraten, schreibt konkret drei Dinge ausdrücklich fest: Erstens. „Die … Rechte der Kinder … sind zu achten und zu schützen.“ Das umfasst vor allem das Recht der Kinder, sich zu „eigenverantwortlichen Persönlichkeiten“ zu entwickeln. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen, sie müssen besonders geschützt werden. Zweitens betonen wir, dass das Kindeswohl immer angemessen zu berücksichtigen ist – nicht nur im Familienrecht, sondern überall dort, wo Kinder betroffen sind. Denken Sie zum Beispiel an die Planung eines Wohngebiets. Da muss künftig geprüft werden: Ist sie kindgerecht? Gibt es dort genug breite Gehwege? Gibt es dort genug Spielwege? Das ist nur ein Beispiel. ({1}) Überall da, wo Kinder betroffen sind, muss deren Wohl angemessen berücksichtigt werden. ({2}) Drittens verankern wir den Anspruch des Kindes auf rechtliches Gehör ausdrücklich im Grundgesetz. Das bedeutet: Kinder sollen die Gelegenheit haben, sich zu äußern, wenn Gerichte oder Behörden Entscheidungen über ihre Lebenssituation treffen. Jetzt kann man sagen: Wieso wird so ein rechtliches Gehör überhaupt im Grundgesetz verankert? Das gibt es doch schon. – Wir mussten leider erleben, dass in einigen ganz besonders schlimmen Verfahren, wo es um Kindesmissbrauch ging, genau das leider nicht oder nicht ausreichend erfolgt ist, was dramatische Konsequenzen für die Kinder nach sich zog. Das soll nie wieder passieren. ({3}) Deswegen ist es nötig, dies im Grundgesetz sichtbar festzuschreiben. Mit der Festschreibung der Grundrechte bringen wir unsere Überzeugungen, unsere Werte zum Ausdruck. Sie machen deutlich, was uns als Gesellschaft besonders wichtig ist. Was das Grundgesetz vorgibt, ist unmittelbar für alle staatlichen Stellen dann auch verbindlich: für die Verwaltung, für die Justiz und für den Gesetzgeber. Bei der Auslegung und Anwendung aller Gesetze gibt das Grundgesetz die Richtung vor. Wir erleben doch gerade jetzt, wie wir alles immer auch daraufhin überprüfen: Ist es verfassungsgemäß? Mit der geplanten Grundgesetzänderung – das ist mir ganz wichtig, weil es da viele Sorgen gibt, die ich hier ausdrücklich auch ansprechen will – verschieben wir keine Rechte von den Eltern hin zum Staat. Das sagt unser Entwurf ganz klar und unmissverständlich aus. ({4}) Die Eltern sind es, denen das Recht und die Verantwortung zukommen, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen. Nur dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist, dürfen staatliche Stellen eingreifen. Dabei bleibt es auch in Zukunft, meine Damen und Herren. ({5}) Eine Ergänzung des Grundgesetzes wird das Kindeswohl stärker ins Bewusstsein rücken; es wird mehr im Mittelpunkt stehen. Bei uns Juristinnen und Juristen gilt das Gleiche wie in anderen Berufen: Besonders prägend ist, was wir in der Ausbildung lernen. Und da spielt unser Grundgesetz eine ganz besondere Rolle. Kinderrechte werden im Rechtsalltag präsenter, wenn sie ausdrücklich in der Verfassung stehen. Meine Damen und Herren, wir wollen, dass Politik, Justiz und Verwaltung, dass die Menschen, die die für Kinder bedeutsamen Entscheidungen treffen, die Kinderrechte immer im Blick haben. Deshalb spannen wir ein zusätzliches Sicherheitsnetz auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt die historische Chance, etwas ganz Wichtiges und Wertvolles für unsere Kinder zu tun. Diese Chance sollten wir unbedingt ergreifen. Deswegen appelliere ich an die Kompromissbereitschaft aller hier im Haus. Lassen wir diese historische Chance nicht ungenutzt verstreichen, im Interesse der Kinder in unserem Land. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir behandeln hier mit dem Thema „Kinderrechte ins Grundgesetz“ einen wahren Klassiker; denn dieses Thema spielen die sozialistischen Fraktionen des Hauses seit Jahrzehnten immer mal wieder. Und weil es so ein klassisches Thema ist, werde ich in dieser Rede auch die beiden klassischen Zitate verwenden, die Sie alle erwarten. ({0}) Zu dem Gesetzentwurf der Regierung hat uns die Bundesrechtsanwaltskammer eine Stellungnahme übersandt. Ich weiß nicht, ob Sie sie gelesen haben. Tun Sie es; denn die Bundesrechtsanwaltskammer ist es, die uns das erste klassische Zitat vorhält: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. ({1}) Sie wollen in den Artikel 6 des Grundgesetzes vier Sätze hineinschreiben, und die Rechtsanwaltskammer bewertet sie einzeln: Satz eins, ein Verweis auf ohnehin bestehende Rechte. Fazit: kann weg. Satz zwei bleibt hinter dem zurück, was in Gestalt der Kinderrechtskonvention ohnehin gilt. Fazit: kann weg. Satz drei, erneut ein Verweis auf das, was ohnehin in der Verfassung steht. Fazit: kann weg. Satz vier, auch das eine bloße Wiederholung von etwas, was bereits in der Verfassung steht. Fazit: kann weg. Ich könnte es mir jetzt einfach machen und mich schlicht dieser Bewertung meiner Standesvertretung anschließen und sagen: ({2}) Was Sie da vorschlagen, ist überflüssig, also sollten wir das bleiben lassen. ({3}) Dann aber kommt mir der zweite Zitatenklassiker in den Sinn. Der stammt von einem Herrn Scholz, seinerzeit Generalsekretär, heute Kanzlerkandidat der SPD. Sie wissen alle, wie das Zitat lautet: „Wir wollen die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern“. Dieser Ausspruch ist deshalb ein Klassiker, weil er eine tief in das Erbgut linker Ideologie eingeschriebene Überzeugung auf kesse Weise zum Ausdruck bringt, nämlich dass Sozialisten, um die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden, zuvörderst die Kinder aus ihren Familien lösen und durch den Staat formen müssen. Nun ist das Projekt „Kinderrechte ins Grundgesetz“ immer ein linkes Projekt gewesen, das durch die sozialistischen Fraktionen vorgetragen wurde und dem die CDU/CSU entgegengetreten ist. Nunmehr hat die CDU/CSU die Seiten gewechselt. Und damit sind wir bei einer der faszinierenden Fragen unserer Zeit, nämlich warum Konservative immer verlieren. Ein Aspekt der Antwort könnte sein: weil sie nicht begreifen oder nicht begreifen wollen, dass es egal ist, was sie sich bei der Verabschiedung eines Gesetzes vorstellen. Entscheidend ist, was andere später daraus machen können. ({4}) Ein Blick in die Geschichte unserer Verfassung sollte Warnung genug sein. Die Verfasser des Grundgesetzes haben den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz gut und eindeutig formuliert, insbesondere klar auf das Individuum bezogen. Im Gefolge der Wiedervereinigung wollten die Sozialisten Artikel 3 des Grundgesetzes dann im Sinne ihrer kollektivistischen Ideologie korrumpieren und einen Befehl zur Gleichstellung der Geschlechter hineinschreiben. Die damaligen bürgerlichen Parteien waren noch nicht völlig sediert. Sie erkannten den Anschlag auf das Wesen der Verfassung, und so wurde dieser Vorstoß abgewehrt. Ein Gleichstellungsauftrag wurde nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Man wollte dann einen Kompromiss machen. Das Ergebnis war der Satz von der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung. Ein fataler Fehler; denn seitdem behaupten die Sozialisten aller Fraktionen einfach, dieser Satz bedeute das, was seinerzeit gerade abgelehnt wurde, nämlich den Gleichstellungsauftrag. Sollte es in diesem Hause noch irgendwo übrig gebliebene Konservative oder Liberale geben, mögen sie sich das zur Warnung gereichen lassen. Wenn Sozialisten die Verfassung verbessern wollen, dann ist Gefahr im Verzug. Wir als AfD-Fraktion sagen daher: Finger weg von Artikel 6! Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thorsten Frei das Wort. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Ministerin, Kinder sind das Wichtigste, was wir in unserer Gesellschaft haben. Deswegen wollen wir unsere Politik auch an ihren Bedürfnissen ausrichten, um bestmögliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir haben diesen Gesetzentwurf vorgelegt, wohl wissend, dass man dadurch, dass man Kinderrechte in unserer Verfassung sichtbar macht, einige grundlegende Probleme nicht beheben kann; das hat die Frau Ministerin in ihrer Rede vorgetragen. Wenn wir das ins Grundgesetz schreiben, heißt das noch lange nicht, dass unzulässige Nichtanhörungen von Kindern vor Gericht nicht mehr vorkommen, dass kinderfeindliche Stadtplanungen nicht mehr vorkommen und dass ein unzureichender Personalschlüssel in den Jugendämtern unseres Landes nicht mehr vorkommt. Das erreichen wir damit nicht. Deswegen sind wir als Gesetzgeber gefordert, darauf zu achten, dass Umsetzungsdefizite beseitigt werden, dass Geld dort vorhanden ist, wo es Kinder in unserer Gesellschaft brauchen, und dass wir vor allen Dingen auch bei einfachgesetzlichen Regelungen die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Dass wir darüber nicht nur reden, haben wir erst vor wenigen Wochen gezeigt, als wir das Gesetz zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs verabschiedet haben. Da haben wir entsprechende Regelungen in das Familienverfahrensgesetz geschrieben. Wir reden also nicht nur, wir handeln, und das ist gut für Kinder und Familien. ({0}) Der zweite Aspekt, den ich erwähnen möchte: Ja, Kinder haben Grundrechte. Sie haben Grundrechte, weil das Grundgesetz und die Grundrechte für alle Menschen in unserem Land gelten. Trotzdem ist es richtig, mit dieser Verfassungsänderung sichtbar zu machen, dass Kinder auch Rechtssubjekte sind, und dass wir klarmachen, dass sich alles, was wir tun, letztlich am Kindeswohl auszurichten hat. ({1}) Und das Kindeswohl ist angemessen zu berücksichtigen – darüber haben wir viel diskutiert –, nicht vorrangig, nicht besonders, nicht wesentlich, sondern angemessen, weil unser Grundgesetz keine Hierarchie der Grundrechte für die einzelnen Grundrechtssubjekte kennt. Wenn es einen Konflikt gibt, dann wird er im Wege der praktischen Konkordanz aufgelöst. So ist es in unserem Verfassungsrecht angelegt, und so muss es auch bleiben, weil es unter Umständen sein kann, dass man einen Kinderspielplatz verkleinern muss, um ein Krankenhaus vergrößern zu können. Dann ist es eine richtige Entscheidung, die einzelnen Interessen gegeneinander abzuwägen. Deswegen kommt es darauf an, das Kindeswohl angemessen zu berücksichtigen. Wir wollen alles tun, um Kinderrechte zu stärken. Das, was für uns als Unionsfraktion bei all diesen Beratungen, die jetzt immerhin schon anderthalb Jahre andauern, wesentlich war, ist, dass das fein austarierte Dreiecksverhältnis von Kindern, Familie und Staat in Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes und die jahrzehntelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angegriffen werden. Frau Ministerin, Sie haben darauf hingewiesen: Genau das geschieht mit der Umsetzung dieses Gesetzentwurfs. Wir verändern das nicht. Wir machen deutlich: Das ist kein gleichschenkliges Dreieck, wo die Kinder gleich weit von Familie und Staat entfernt sind. Es ist ein spitzwinkliges Dreieck, wo Kinder und ihre Eltern, wo Kinder und Familie nah beieinander stehen und der Staat in einiger Entfernung das Wächteramt übernimmt, falls das Kindeswohl verletzt wird. ({2}) Genau dabei muss es bleiben. Der Staat soll kein zusätzliches Recht neben dem Wächteramt bekommen. Der Staat ist nicht besser für die Kinder. Die Familien sind diejenigen, die die Erstverantwortung für die Kindererziehung und die sich daraus ergebende Pflicht haben. Das machen wir hier deutlich. Deswegen ist es ein guter Gesetzentwurf. ({3}) Ich appelliere an Sie: Schauen Sie ihn sich genau an. Ich bin davon überzeugt, dass es ein guter Schritt in die Zukunft ist. Es lohnt sich, darüber zu streiten und am Ende zu einem Ergebnis zu kommen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Thomae das Wort. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion zur Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz trägt die Bundestagsdrucksachennummer 19/28440. Das klingt wie irgendeine Sache unter tausend anderen, aber eine Grundgesetzänderung ist auch im dichten Parlamentskalender eine Besonderheit; denn wir packen das Grundgesetz nicht jeden Tag und nicht häufig in einer Wahlperiode an. Wenn wir es tun, wenn wir jetzt über eine Änderung des Grundgesetzes hinsichtlich der Kinderrechte beraten, dann sollten wir damit ein zweites Anliegen politisch verknüpfen, das uns wichtig erscheint, nämlich die Verankerung eines weiteren negativen Diskriminierungsmerkmals in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz: die sexuelle Identität. Das passt nach unserer Auffassung sehr gut zusammen. Beide Dinge berühren den privatesten, den intimsten Bereich des Menschen, die Kinderrechte und die sexuelle Identität der Menschen. Die Geschichte der Homosexuellen, der Bi-, Trans- und Intersexuellen ist eine Geschichte der Benachteiligung, Diskriminierung und Verfolgung. Deswegen ist jetzt die Zeit gekommen, im Grundgesetz eindeutig klarzumachen, dass es wegen der sexuellen Identität keine Benachteiligung mehr geben darf. ({0}) Dazu gibt es schon einen Gesetzentwurf der Grünen, der Linken und der FDP aus dem Jahr 2019. Wenn wir das jetzt nicht noch einmal beraten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dann wird es in dieser Wahlperiode nichts mehr damit werden; das muss doch klar sein. Deswegen erwarte ich von Ihnen, Frau Ministerin, von der SPD und den Grünen, dass wir gemeinsam, Sie mit uns, der FDP und mir, dafür kämpfen, dass wir auch über diesen Punkt sprechen. Ich habe das Gefühl, dass auch in der Union die Bereitschaft vorhanden ist, anzuerkennen, dass die Zeit dafür reif ist. ({1}) Für die Kinderrechte liegt nun auch der Vorschlag der FDP auf dem Tisch. Auch für uns ist wichtig, dass das Gefüge zwischen Eltern, Kindern und Staat nicht verändert wird, dieses spitzwinklige Dreieck, in dem Eltern und Kinder nah beisammen sind und in weiter Ferne der Staat sein Wächteramt dann ausübt, wenn das Kindeswohl in Gefahr ist. Das ist seine Aufgabe; aber die Erziehungshoheit der Eltern darf nicht angetastet werden. Wir wollen nicht, dass sich der Staat als stiller Miterzieher in das Familienleben einmischt. ({2}) Wir wollen nicht den Staat stärken. Wir wollen die Kinder stärken, ohne dass wir dadurch die Elternrechte und die Familien schwächen. ({3}) Ein weiterer Punkt ist, dass wir Kinder als Rechtssubjekte im Grundgesetz sichtbar machen wollen, aber auch als Satzsubjekte; denn wenn wir von Kinderrechten sprechen, dann müssen auch Kinderrechte drin sein. Nur zu sagen, dass der Staat das Kindeswohl angemessen berücksichtigen muss, was er ohnehin immer tun muss – er ist immer zu angemessenem Verhalten verpflichtet –, ist ein Stück zu wenig. Ein bisschen mehr muss es schon sein, wenn wir über Kinderrechte sprechen; sonst wäre es eine reine Mogelpackung. ({4}) Die Vorgespräche haben schon stattgefunden; sie haben aber noch zu keiner Einigung geführt. Wir brauchen für eine Grundgesetzänderung nach Artikel 79 Absatz 2 Grundgesetz eine doppelte Zweidrittelmehrheit: in diesem Haus, also im Bundestag, und im Bundesrat. Da ist noch keine Kompromisslösung gefunden worden. Aber wir werden konstruktiv an diesen Beratungen mitwirken. Ich freue mich darauf, dass wir am Ende vielleicht doch noch eine Lösung finden –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege!

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und Kinderrechte und ein neues Merkmal, die sexuelle Identität, im Grundgesetz verankern werden. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, heute hätte ein guter Tag für die Kinderrechte in Deutschland sein können. 31 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention und übrigens fast auf den Tag genau 20 Jahre, nachdem die PDS-Fraktion als erste Fraktion hier im Deutschen Bundestag beantragt hat, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, hat sich die Bundesregierung dazu durchgerungen, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Aber ich habe bewusst den Konjunktiv gewählt; denn es ist kein guter Tag für die Kinderrechte in Deutschland. Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, liebe Bundesregierung, liebe Frau Ministerin Lambrecht, trägt den Stempel der CDU/CSU, die eigentlich keine Kinderrechte im Grundgesetz will. Dieser Stempel ist in erster Linie angstdurchsetzt. Das möchte ich Ihnen an Beispielen belegen. Liebe CDU/CSU-Fraktion, die Kinderrechte in der UN-Kinderrechtskonvention sind im Wesentlichen in drei Grundrechte aufgeteilt: in ein Recht auf Beteiligung, ein Recht auf Förderung und ein Recht auf Schutz. Und die UN-Kinderrechtskonvention formuliert global, dass das Kindeswohl ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. Genau diese vier Aspekte haben Sie nicht umgesetzt. Sie wollen die Beteiligungsrechte von Kindern nicht stärken. Warum haben Sie eigentlich Angst davor, Kinder zu beteiligen? Gerade das letzte Jahr hat doch gezeigt, wie wesentlich und wichtig es ist, dieses Grundrecht auf Beteiligung festzuschreiben. Sie drücken sich davor. ({0}) Sie wollen das Kindeswohl nicht als einen vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt festschreiben. Die UN-Kinderrechtskonvention besagt ja gar nicht, dass das Kindeswohl das Einzige sei, was zu berücksichtigen ist. Nein, dort steht: ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt. Warum wollen Sie das nicht? Warum haben Sie Angst davor, das Kindeswohl aufzuwerten? Der Kollege Thomae hat zu Recht gesagt: Was Sie in Ihren Gesetzentwurf geschrieben haben, steht im Wesentlichen bereits im Grundgesetz. Der Rechtsstaat ist immer zu angemessenem Handeln verpflichtet. Eine angemessene Berücksichtigung, was soll diese Formulierung im Grundgesetz? Das ist ja maximal nichts. Und Sie haben Angst davor, dass die Elternrechte geschmälert werden. Also das ist etwas, was ich inzwischen überhaupt nicht mehr verstehe. Als Vater von drei Kindern sage ich Ihnen: Eltern sind, gerade wenn es um die Durchsetzung der Grundrechte ihrer Kinder geht, die ersten Fürsprecher. Eltern sind die, die die Rechte ihrer Kinder häufig durchsetzen müssen, und zwar gegenüber dem Staat. Die Erzählung, die ganz rechts offen aufgemacht wird und der Sie sich irrsinnigerweise in Teilen auch noch anschließen, geht ungefähr so: Wenn Kinderrechte gestärkt werden, entsteht in den Familien eine Art Bürgerkriegssituation. Der Staat greift zu und klaut die Kinder. – Das halte ich, ehrlich gesagt, für völlig irre. Das ist eine völlig irre Erzählung. ({1}) Im Gegenteil: Wer Kinderrechte stärkt, der stärkt am Ende auch die Rechte von Eltern, und zwar als Abwehrrechte gegen einen übergriffigen Staat. ({2}) Außerdem wollen Sie die Kinderrechte hinter das Wächteramt ins Grundgesetz schreiben. Diese Reihenfolge ist interessant hinsichtlich der Rechtsdogmatik. Warum schreiben Sie die Kinderrechte hinter das Wächteramt? Das hat in der Konsequenz zur Folge, dass Kinderrechte nur dort wirken, wo das Wächteramt bereits gegriffen hat. Das heißt, nur in der Situation, wenn ein Kind zum Beispiel aus der Familie genommen wird, greifen die Kinderrechte, aber nicht global. Warum haben Sie diese Stelle gewählt? Ich finde, Ihr Gesetzentwurf ist weniger als nichts. Frau Lambrecht, Sie haben den demokratischen Fraktionen im Haus Gesprächsbereitschaft angeboten. Deshalb will ich zumindest mal transparent machen: Wir haben hier vor zwei Jahren einen Gesetzentwurf eingebracht. Dieser darf bis heute nicht in die Anhörung im Rechtsausschuss. Sie blockieren dies mit Ihrer Koalitionsmehrheit, genauso wie Sie es mit einem entsprechenden Gesetzentwurf der Grünen machen. Sie haben die Fraktion Die Linke, obwohl wir die Ersten waren, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege!

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– die hier die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz beantragt haben, aus den Verhandlungen geschmissen, weil die Unionsfraktion gesagt hat, mit den Linken rede sie nicht. Mir ist schleierhaft, wie Sie so zu einer Zweidrittelmehrheit kommen wollen. Wir bieten ernsthaft an, über Kinderrechte im Grundgesetz zu reden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müller, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber dann müssen Sie die Fraktion der Linken auch ernst nehmen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Deligöz das Wort. ({0})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in Zeiten der Pandemie, und unsere Kinder leiden. Ja, sie sind vereinsamt, sie sind unsicher, sie entwickeln Depressionen. Das Recht auf Bildung – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Deligöz, ich muss Sie unterbrechen. Für alle gilt die Anrede des Präsidiums.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entschuldigung, Frau Präsidentin. Ich entschuldige mich vielmals. Das war die Aufregung vor dieser Rede. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich setze an diesem Punkt an. Anne Lütkes vom Deutschen Kinderhilfswerk hat kürzlich gesagt, gerade in dieser Zeit zeige es sich, dass die Politik „ein einziges Desaster“ sei, was die Rechte von Kindern anbelangt. Gerade jetzt, in der Pandemie, hätten Kinderrechte in der Verfassung einen Unterschied ausgemacht: in unserer Haltung, in der Prioritätensetzung, in unserer Einstellung. Das, was Sie, Frau Ministerin, uns hier aber vorgelegt haben, ist – da zitiere ich den Deutschen Anwaltverein – ein Danaergeschenk für Kinderrechte. ({0}) Ich will Ihnen auch genau sagen, warum. Erstens. Der Entwurf fällt bei der Berücksichtigung des Kindeswohls sehr weit hinter dem zurück, was in diesem Land eigentlich schon erreicht und bestehendes Recht ist. Er fällt zurück hinter die UN-Kinderrechtskonvention, zu der wir uns völkerrechtlich verpflichtet haben. Er fällt zurück hinter die EU-Grundrechtecharta. Er fällt zurück hinter die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. ({1}) Zweitens. Nahezu alle Kernelemente der UN-Kinderrechtskonvention, sei es der Kindeswille, sei es das Beteiligungsrecht, sei es der Schutz des Kindes, sei es das Recht auf Förderung, sei es die Kindesentwicklung, fehlen komplett in Ihrem Entwurf. Sie sind gar nicht erst enthalten. Drittens. Sie beschränken sich in mehreren Sätzen auf eine überflüssige Wiederholung dessen, was sowieso schon in unserer Verfassung steht. Das ist kein Fortschritt. In dem Moment, in dem wir die Einzelgesetze weiterentwickeln, das aber nicht in der Verfassung nachvollziehen, ist es kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Deshalb reicht es nicht aus, das bestehende Recht zu wiederholen. ({2}) Herr Kollege Frei, ich möchte hier feststellen: An das Dreieck „Kind, Eltern, Staat“ wollen auch wir nicht ran. ({3}) Was wir wollen, ist eine Klarstellung und Stärkung der Kinderrechte. Ich bin übrigens überzeugt davon, dass, wenn wir die Kinderrechte in diesem Land stärken, wir damit auch die Elternrechte stärken, wenn die Eltern die Rechte ihrer Kinder wahrnehmen. ({4}) Da müssen wir sie doch unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch schwieriger finde ich das, was die SPD macht. In Ihrem Wahlprogramm schreiben Sie, dass Sie „Kinderrechte auf Schutz, Beteiligung und Förderung und den Vorrang des Kindeswohls im Grundgesetz verankern“ werden. Das, was Sie uns vorgelegt haben, ist aber das genaue Gegenteil. Wenn Sie zu dem stehen, was Sie in Ihrem Wahlprogramm stehen haben, sind Sie aufseiten des Fortschritts. Dann können Sie aber der Vorlage, die die Ministerin vorgelegt hat, auf keinen Fall zustimmen. Wir Grüne sind mit dabei, wenn es um konstruktive Verhandlungen geht. Aber konstruktive Verhandlungen müssen nach vorne zeigen und für den Fortschritt bei der gesellschaftlichen Modernisierung stehen und nicht für den Rückschritt. Dafür sind wir nicht zu haben. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin davon überzeugt, die SPD ist davon überzeugt: Wir brauchen Kinderrechte im Grundgesetz! ({0}) Aber eins nach dem anderen. Kindheit, was für eine tolle Zeit: Verstecken spielen, Ostereier suchen, Playmobil zum Leben erwecken und das Durchsetzen des eigenen Willens mit dem Ziel, gehört zu werden, ernst genommen zu werden. Das erlebe ich übrigens auch jeden Tag als Mutter von zwei Kindern. Wir alle wissen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Sie benötigen gezielte Förderung und besonderen Schutz neben dem Gehörtwerden. Um das zu erreichen, muss das Kindeswohl in den Mittelpunkt. Und es ist völlig klar – meine beiden Vorredner haben das auch gesagt –: Wer Kinder stärkt, stärkt automatisch Familien; denn dort leben die Kinder. ({1}) Um das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu rücken, muss es endlich Verfassungsrang bekommen. ({2}) Das bedeutet, dass sich alles staatliche Handeln, ob von Gerichten, von Verwaltungen oder von Parlamenten, am Kindeswohl orientieren muss, und zwar noch stärker, als es heute schon der Fall ist. Und der Vorschlag von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht garantiert genau das. Danke dafür! ({3}) Diese Grundgesetzänderung hat konkrete und nachhaltige Auswirkungen. Es entstehen zwar nicht sofort mehr Spielplätze und bessere Schulwege, und auch die Kinderarmut wird nicht auf einen Schlag beseitigt, aber wir dürfen nicht vergessen, was unser Ziel ist. Unser Ziel ist, Deutschland zum kinderfreundlichsten Land in Europa zu machen. ({4}) Natürlich helfen da konkrete Gesetze – das wurde schon gesagt – wie das Gute-KiTa-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz, die große Reform der Kinder- und Jugendhilfe, die hoffentlich nächste Woche im Bundestag beraten und beschlossen werden wird, oder ein Corona-Aufhol-Paket für Kinder und Jugendliche im Nachtragshaushalt in Höhe von 2 Milliarden Euro. Aber der fundamentale Wandel wird erst durch Kinderrechte im Grundgesetz kommen; denn nur so werden sie zum Maßstab staatlichen Handelns, immer und überall, nur so rückt der Wert Kindeswohl in den zentralen Wertekanon unserer Gesellschaft, in das Grundgesetz, und außerdem – nicht zu vergessen – ist das Grundgesetz immer Bezugspunkt für viele gesellschaftspolitische Debatten und damit auch immer Bezugspunkt für sozialen Fortschritt. Diese Zielgröße muss das Kindeswohl im Grundgesetz sein. ({5}) Genau aus diesen Gründen haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das Thema groß gemacht und auf die Agenda gesetzt. Und deshalb wünsche ich mir, dass wir im Sinne der Kinder zusammenkommen, wir alle. Diese Chance ist historisch. Sie wird so schnell nicht wiederkommen. Schaffen wir es nicht, bleiben die Türen lange verschlossen. Die SPD wird jeder Verbesserung an diesem Entwurf – jeder Verbesserung! – im Sinne der Kinder und ihrer Familien zustimmen. Aber es geht nicht mit der SPD allein. Wir brauchen eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Also brauchen wir neben uns die CDU/CSU, Die Linke, die FDP und die Grünen, um im Bund und in den Ländern die entsprechenden Mehrheiten zu bekommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. – Ich setze meine Hoffnungen auf die Brückenbauerinnen und Brückenbauer in all diesen Fraktionen, in all diesen Parteien. Lassen Sie uns diese historische Chance nutzen, für unsere Kinder und für ihre Familien! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Bettina Wiesmann das Wort. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Gesellschaft und unsere Grundansichten sind nicht starr, sondern verändern sich. Auch das Grundgesetz wurde immer wieder angepasst, seit 1949 mehr als einmal pro Jahr. Das ist lebendige Demokratie, und auf diese Elastizität, zu der auch ein Stück Widerstand gegenüber Moden gehört, können wir stolz sein. Warum brauchen wir ein Kindergrundrecht? Weil Kinder, Minderjährige für unsere Gesellschaft von elementarer Bedeutung sind. Sie sind nicht eh da, wie man früher gedacht hat, und sie sind kein Anhängsel; sie sind systemrelevant. Deshalb dürfen wir nicht hinnehmen, dass bis heute Kinder weder ausreichend geschützt noch angehört werden, wenn es um ihr Wohlergehen geht. Übrigens: Ohne soziale Kontakte und ohne Schule werden junge Menschen in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Wir müssen uns schon fragen, ob wir das in der Pandemie genügend beachten. Wir können das jedenfalls nicht allein den Eltern überlassen. Legislative, Exekutive, alle Ebenen sind gefragt. ({0}) Dass Kinder alle Grundrechte beanspruchen dürfen, musste uns das Bundesverfassungsgericht seit 1968 mehrfach ins Stammbuch schreiben. Man kann das in den 154 Bänden der Entscheidungen suchen, oder man schreibt es eben doch an die richtige Stelle ins Grundgesetz, wo es von jedem gefunden und dann auch beachtet werden kann. ({1}) Worum geht es uns dabei im Einzelnen? Erstens. Pflege und Erziehung sind Recht und Pflicht der Eltern. Sie haben die Erstverantwortung für ihre Kinder; das betonen wir in dem Entwurf nochmals und stärken damit das Elternrecht. Zweitens. Kinder sind in ihren Rechten und in ihrer eigenen Entwicklung zu achten und zu schützen. Selbstverständlich? Nein, das müssen wir manchen Eltern bis heute, aber vor allem auch vielen staatlichen Stellen hinter die Ohren schreiben. Ich will weder übergriffige Eltern noch einen übergriffigen Staat. Wir stärken die Kinder, ohne sie dem Staat auszuliefern, und natürlich stärken wir damit auch Familien. ({2}) Drittens. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Jeden Tag sorgen Eltern als Treuhänder für das Wohl ihrer Kinder. Der Staat als Wächter muss das Wohl erst ermitteln; denn jedes Kind ist einzigartig. „Angemessen“ heißt deshalb, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen – nicht ausschließlich, aber auch nicht nachrangig. Mehr verlangt übrigens auch die UN-Kinderrechtskonvention nicht. Damit verpflichten wir besonders den Staat zur Sorgfalt; das ist wichtig. Viertens. Kinder müssen rechtliches Gehör finden. Sie können sich kaum selber auf Artikel 103 Grundgesetz berufen. Staat und Justiz müssen Wege finden, um Kinder in Rechtssachen immer zu achten. In dieser Wahlperiode haben wir dazu viel auf den Weg gebracht, aber wir sind noch nicht am Ziel. Werden Kinder richtig beachtet, wenn sich Eltern scheiden lassen, wenn sie Jugendhilfeverfahren unterliegen, wenn sie missbraucht, misshandelt worden sind? Wir wissen das seit Langem, aber es dauert zu lange. Deshalb erhöhen wir mit dieser Grundgesetzänderung den Schutz und die Beteiligung der Kinder in eigener Sache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Regierungskompromiss weist einen klugen Weg. Kompromisse sind Errungenschaften aus vertiefter Debatte und der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ein Wesenskern unserer Ordnung. Ich danke deshalb dem Koalitionspartner für die Bereitschaft bisher, und ich ermuntere Grüne, FDP und gern auch die Linken, auf die Koalition zuzugehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Jetzt, bitte.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre Gesetzentwürfe lassen das zu. Ein guter Kompromiss wird realen Missständen abhelfen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Wiesmann, bitte.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es müssen auch die Zurückhaltenden unter uns diese Verantwortung wahrnehmen. Ich für meinen Teil werde jeden weiter loben, der dazu beiträgt, und ich bedanke mich. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Gut. Vielen Dank, Frau Kollegin Wiesmann. – Nächste Rednerin ist die fraktionslose Kollegin Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist es also so weit: Die Union lässt sich von den sozialistischen Vordenkern aller linken Lager dazu drängen, eine völlig unnötige Änderung des Grundgesetzes in Gang zu setzen. Das Niveau dieser Debatte zu einer juristisch komplexen Frage strotzt jedoch – das darf ich sagen – von banalen und peinlichen Beteuerungen, die keiner fachlichen Beurteilung standhalten. Sie beantragen die ausdrückliche Aufnahme sogenannter Kinderrechte in das Grundgesetz, und das, obwohl es aussagekräftige Gutachten im Bundestag und darüber hinaus gibt, die sich im Ergebnis dagegen aussprechen. Es geht den Verfechtern einer solchen Änderung langfristig um etwas ganz anderes: Es ist der Aufbau eines Gegensatzes zwischen den natürlichen Rechten der Eltern im Rahmen ihrer familiären Hoheit und den längst vorhandenen Rechten der Kinder. Dass Ihre Grundgesetzänderung durch und durch unehrlich ist, lässt sich auch noch viel plakativer zeigen. Ich zitiere aus einer bunten und für Kinder und Schulen bestimmten Veröffentlichung dieses Deutschen Bundestages. Darin ist ganz kindgerecht die aktuelle Rechtslage beschrieben, und was Grundschulkinder verstehen, muss doch niemand der Bundesregierung erklären: Jedes Kind hat das Recht auf Schutz vor körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt, auf Bildung, auf Mitsprache in seinen Angelegenheiten, auf Fürsorge, auf Ernährung und darauf, zu sagen, was es denkt. – Was Sie demnächst hier beschließen wollen, ist überflüssig, und es birgt entgegen aller Beteuerungen die Gefahr einer schrittweisen Veränderung des materiellen Rechts in diesem Land. Liebe Union, wenn Sie glauben, dass die grünen Sozialisten es Ihnen in einer zukünftigen Koalition danken werden, dass Sie ganz freiwillig und wiederholt im vorauseilenden Gehorsam die bürgerliche Grundlage unseres Zusammenlebens entreißen, dann, meine Damen und Herren, haben Sie sich gründlich getäuscht. Herzlichen Dank.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Petry. – Letzter Redner in dieser Debatte wird der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion sein. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes ist stets etwas Besonderes, zumal wenn es sich um den Grundrechtsteil handelt. Mit insgesamt vier Sätzen sollen Kinderrechte im Grundgesetz festgeschrieben werden. Für eine Gesellschaft, deren Zukunftsmusik Kinderlachen sein muss, ist das ein wichtiger Moment. Es geht um die Anerkennung der Grundrechtsberechtigung von Kindern, um das Kindeswohlprinzip, um Anhörungsrechte und um die Klarstellung, dass die Elternrechte unberührt bleiben. Jetzt mag mancher einwenden: Das ist doch materiell bereits im Grundgesetz geregelt. – Das stimmt auch: Verfassungsrechtlich wird der Kern von Artikel 6 nicht angetastet. Aber es ist eine wichtige und notwendige Klarstellung. Das Kindeswohlprinzip ist bereits jetzt wesensbestimmender Teil des Schutzes von Ehe und Familie, und Kinder – das ist mir wichtig zu betonen – stehen bei den Eltern. Ihre Gemeinschaft, die Familie, ist vom Staat geschützt. Die UN-Kinderrechtskonvention stellt das klar und gilt in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes. Die Frage ist: Ist diese Änderung also nur Symbolpolitik? Darauf muss es zwei Antworten geben. Zum einen: Im Verfassungsstaat sind auch Symbole wichtig. Symbole drücken Haltungen und Wertentscheidungen aus. Also ist die Verankerung von Kinderrechten ein Symbol dafür, welchen Raum wir dem Schutz von Kindern in unserer Verfassungsordnung zuschreiben. Aber es ist mehr. Es ist auch die notwendige Klarstellung, dass das Wohl von Kindern einen besonderen Rang im Grundgesetz einnehmen wird. Das stärkt nicht den Staat, sondern das stärkt Kinder und Familien; das ist das wichtige Signal. ({0}) Es ist auch eine konsequente Rechtsentwicklung. In Grundgesetzdebatten wurde zweimal erwogen, Kinderrechte aufzunehmen: bereits 1948 und 1993. Beide Male hat man sich dagegen entschieden. ({1}) Jetzt sind wir weiter. Wir haben in den letzten Jahren eine Rechtsentwicklung verfolgt, die die Rechte von Kindern stärker in den Mittelpunkt gestellt hat: das Recht auf gewaltfreie Erziehung seit dem Jahr 2000 und die uneingeschränkte Geltung der UN-Kinderrechtskonvention seit 2011. Kinderrechte sind also ein verfassungspolitisch wichtiges Zeichen. Sie sind auch realpolitisch wichtig, weil wir im Augenblick eine Zeit erleben, in der es Kinder besonders schwer haben, in der Familien leiden. Wir werden mit diesem Gesetz nicht die Folgen von Corona bekämpfen; aber wir senden ein starkes Symbol: dass Kinder einen besonderen Schutz im Grundgesetz genießen. Deswegen bitte ich um konstruktive Beratungen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 13 a und b sowie Zusatzpunkt 2.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf Antrag meiner Fraktion diskutieren wir heute erneut über den zu niedrigen Mindestlohn. Und ja, ich kenne Ihre Leier: Löhne werden von den Sozialpartnern festgelegt und nicht von der Politik. ({0}) Aber an eines will ich Sie mal erinnern: Dass Menschen von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben können, ist die Folge politischer Entscheidungen in diesem Haus. Niedriglöhne sind schließlich nicht vom Himmel gefallen. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes hat die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften geschwächt. Hartz IV hat sie diszipliniert, und so konnten sie der Tarifflucht der Arbeitgeber kaum etwas entgegensetzen. Deswegen ist die Tarifbindung im freien Fall, und deswegen ist eine gesetzliche Lohnuntergrenze überhaupt erst notwendig geworden. ({1}) Und um eines klarzustellen: Solange in diesem Parlament diese Entscheidungen nicht korrigiert werden, werden wir uns nicht davon abhalten lassen, den zu niedrigen Mindestlohn immer und immer wieder zu problematisieren. ({2}) Mittlerweile haben sich die Wohlfahrtsverbände, der DGB, die Grünen und auch die SPD unserer Forderung nach 12 Euro Mindestlohn angeschlossen. Die Minister Heil und Scholz stellen ihn jetzt für 2022 in Aussicht. In Aussicht stellen ist als Teil der Regierung allerdings zu wenig. Bevor Sie sich jetzt wieder aufregen: Ich weiß, das Problem der SPD in dieser Regierung heißt Union. – Da waren einige mehr damit beschäftigt, sich Hunderttausende Euros in die eigene Tasche zu schaufeln, anstatt den Beschäftigten armutsfeste Löhne zu garantieren. ({3}) Lächerliche 10 Cent Mindestlohnerhöhung haben die Kolleginnen und Kollegen bekommen. Wenn es nach einigen in der Union gegangen wäre, dann hätte es sogar eine Reduzierung gegeben. Wie verkommen muss ein Wertekompass da sein! ({4}) Und als wäre das nicht schon beschämend genug, akzeptiert die Bundesregierung auch noch, dass die Menschen um den mickrigen Mindestlohn von 9,60 Euro geprellt werden. 2,4 Millionen Beschäftigte waren zuletzt Opfer von Mindestlohnbetrug. Dass Sie dieser kriminellen Energie einiger Arbeitgeber seit Jahren keinen Riegel vorschieben, ist keine Fahrlässigkeit, das grenzt mittlerweile an Vorsatz, und damit muss Schluss sein. ({5}) Ein Mindestlohn von 12 Euro stützt Wirtschaft und Konjunktur und kommt überwiegend Frauen in den systemrelevanten Berufen zugute. Und er mildert die gravierenden Lohnunterschiede zwischen Ost und West ab. Sie können doch keinem mehr erzählen, dass über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Kolleginnen und Kollegen in Ostdeutschland pro Jahr über 7 000 Euro weniger an Gehalt haben als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Deswegen: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Es ist Zeit für einen Mindestlohn von 12 Euro. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Ferschl. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unanständiges Lohndumping passt nicht zu einer sozialen Marktwirtschaft. Die Konkurrenz zwischen Unternehmen sollte über gute Produkte, gute Qualität, Innovationen stattfinden, aber nicht über Lohndrückerei. ({0}) Deshalb ist, war und bleibt es richtig, dass wir auch in Deutschland eine Lohnuntergrenze, einen Mindestlohn beschlossen und eingeführt haben. Als Union bekennen wir uns auch voll und ganz dazu, dass wir das zusammen mit den Sozialdemokraten hinbekommen haben. Vielen Dank! ({1}) Nun ist es so: Löhne werden nicht im Deutschen Bundestag verhandelt, sondern zum Erfolg der sozialen Marktwirtschaft gehört, dass starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände miteinander gute Tarifpolitik betreiben und gute Löhne vereinbaren. Überall da, wo die Tarifbindung stimmt, haben wir auch hohe Löhne. Deswegen war es richtig, dass wir beim Konzept des Mindestlohns entschieden haben: Wir wollen das Gleiche beim Mindestlohn einführen, nämlich eine paritätisch aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern besetzte Kommission mit einem neutralen Vorsitzenden, die den Mindestlohn festlegt, autonom und ohne politischen Einfluss. Der Bundesarbeitsminister – den ich begrüße – hat anschließend nur die Möglichkeit, entweder den Beschluss der Mindestlohnkommission eins zu eins in eine Rechtsverordnung umzusetzen oder gar keinen Mindestlohn zu machen. Einfluss nehmen kann er nicht. Ich finde, das ist das richtige, gute und probate Mittel, um einen Mindestlohn zu machen. Das sollten wir nicht zerstören. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Birkwald, bitte, Sie haben das Wort.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Kollege Weiß, dass Sie die Zwischenbemerkung zulassen. Herr Kollege Weiß, Sie haben eben, obwohl meine Kollegin Ferschl zu Beginn ihrer Rede den Sachverhalt deutlich gemacht hat, wiederholt behauptet, wir wollten Löhne politisch festlegen. ({0}) Ich halte hier fest: Das ist nicht so. Der jetzige Mindestlohnmechanismus funktioniert auch so, wie wir das fordern: Ein gesetzlicher Mindestlohn ist einmal politisch festgelegt worden, und danach schlägt die Mindestlohnkommission nach ihrer Geschäftsordnung frei, ohne politischen Einfluss, die Mindestlohnerhöhungen vor. – Meine Fraktion Die Linke schlägt vor – und das nicht erst seit heute, gestern oder vorgestern, sondern seit Jahren, seit es unsere Fraktion und unsere Partei gibt –, den gesetzlichen Mindestlohn politisch gesetzt einmalig auf 12 Euro anzuheben – diesen Vorschlag haben wir bereits 2016 gemacht; es wäre jetzt vielleicht an der Zeit, gleich 13 Euro zu nehmen –, und danach soll die Mindestlohnkommission entscheiden. Deswegen brauchen wir für diese Kommission eine Geschäftsordnung, die sie nicht knebelt, sondern ihr die Möglichkeiten gibt, die wir brauchen. Das ist derzeit nicht der Fall. Darüber können Sie mit Mitgliedern der Mindestlohnkommission sprechen. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das Beispiel für die Mindestlohnkommission, wie wir Linken sie uns vorstellen, haben wir aus England. Da gibt es die Equal Pay Commission. Da funktioniert das gut. Ich kann uns allen nur empfehlen, auch mal nach links und rechts und über den Kanal zu gucken. Lassen Sie uns den Mindestlohn einmal anheben, jetzt auf 12 Euro, und danach soll die Kommission entscheiden. Ich danke Ihnen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Weiß, Sie haben jetzt genau die gleiche Zeit, um zu antworten. Das war ja keine Frage und keine Kurzintervention, sondern eher eine eigene Rede; aber bitte. Die drei Minuten haben Sie jetzt zusätzlich.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident. – Herr Kollege Birkwald, die Mindestlohnkommission ist frei in ihrer Entscheidung. Wenn die Mindestlohnkommission sich eine Geschäftsordnung gibt, ist das ihre Entscheidung. Weder die Bundesregierung noch der Deutsche Bundestag haben der Mindestlohnkommission eine Geschäftsordnung gegeben. Um es klar zu sagen: Was Sie hier vortragen, stimmt einfach nicht. Die Kommission ist frei. ({0}) Das Zweite ist: Das, was Sie beantragen und auch die Grünen beantragen, ist nichts anderes als der Versuch, die Mindestlohnkommission auszutricksen und per Gesetz einen Mindestlohn festzulegen. Jetzt muss ich mal ganz klar sagen: So, wie Sie das machen, ist das meines Erachtens eine massive Misstrauenserklärung gegen die Gewerkschaften in Deutschland. ({1}) Die Grünen beschweren sich auch noch, dass die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre den Mindestlohn festlegt. Entschuldigung, die Mindestlohnkommission hat in ihrem letzten Beschluss eine Steigerung in Halbjahrestranchen vereinbart, und so ist das auch durch die Rechtsverordnung in Kraft gesetzt worden. Das zeigt: Die Mindestlohnkommission hat einen breiten Gestaltungsspielraum. ({2}) Wir wollen der Mindestlohnkommission diesen Gestaltungsspielraum erhalten. Ich behaupte, ein politisch festgelegter Mindestlohn ist nicht besser als der der Mindestlohnkommission. Ihnen geht es nur um eines: Sie sind traurig, dass Sie kein Wahlkampfthema mehr haben. ({3}) Jetzt möchte die Frau Kollegin Müller-Gemmeke Sie auch noch beehren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. Aber das ist dann auch die letzte Zwischenfrage bei diesem Redner.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Kollege Weiß, ich muss jetzt einfach noch mal nachfragen, weil Sie ja behaupten, dass es keine Vorgaben gibt und die Mindestlohnkommission ganz frei entscheiden kann. Geben Sie mir recht, dass im Mindestlohngesetz festgeschrieben wurde, dass die Anpassung des Mindestlohns sich an der Tarifentwicklung orientieren muss? Geben Sie mir recht, dass das im Mindestlohngesetz steht und dass genau das im Endeffekt dazu führt, dass eben die Mindestlohnkommission nicht frei entscheiden kann? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Abschluss der Debatte, wenn ich wieder in meinem Büro bin, schicke ich Ihnen das Gesetz zum Lesen zu. ({0}) – Ja, Entschuldigung, im Gesetz steht nirgends, aber auch nirgends: Die Mindestlohnkommission muss sich an der zurückliegenden Lohn- und Tarifentwicklung orientieren. „Muss“ steht da nirgends. ({1}) Sie soll verschiedene Kriterien berücksichtigen, aber ein „muss“ gibt es nicht. ({2}) – Doch, Sie haben von „muss“ gesprochen. ({3}) Herr Präsident, wann gibt es das Protokoll?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Weiß, Frau Müller-Gemmeke, ich möchte mich in den Streit zwischen Ihnen beiden nicht einmischen, aber den können Sie auch außerhalb des Plenarsaals weiter fortsetzen. ({0}) Ich finde, Herr Kollege Weiß, Sie beantworten jetzt die Frage, und dann fahren Sie in Ihrer normalen Rede fort; denn wir haben noch mehr auf der Tagesordnung.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, ich halte fest: Ein „muss“ gibt es nicht. Es gibt verschiedene Kriterien, die im Gesetz ganz allgemein beschrieben sind. Letztendlich ist die Mindestlohnkommission frei in ihrer Entscheidung. Ich finde das auch richtig. ({0}) Das sind freie Sozialpartner, Gewerkschaften, Arbeitgeber, die miteinander verhandeln. Wir sollten ihnen politisch nicht ins Handwerk pfuschen. ({1}) Jetzt will ich aber auf die viel zentralere Frage zu sprechen kommen. Es ist ja nicht unser politischer Wunsch, dass wir ein Volk von Mindestlöhnern werden, sondern die Frage ist: Warum bekennen sich die Union und seit dem Godesberger Programm auch die Sozialdemokraten zur sozialen Marktwirtschaft? Weil wir die Kernaussage von Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ tatsächlich für möglichst alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland möglich machen wollen, sprich: sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit. Deswegen kann Mindestlohn höchstens etwas sein, was man vorübergehend bezieht, aber es kann nicht sozusagen die Lebensperspektive sein. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht, den das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund diverser Studien hat verfassen lassen, zeigt ja sehr deutlich, dass dieses Versprechen auch funktioniert; denn etwa ein Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor verlässt diesen Niedriglohnsektor bereits nach einem Jahr. Über die Hälfte schafft das nach drei Jahren. Das zeigt: Sie bekommen den Mindestlohn eine kurze Zeit, aber nicht zeit ihres Lebens; das ist auch richtig so. Ich finde, da sind wir schon gut. Aber ich will auch betonen: Da könnten wir noch besser werden, dass also sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit für möglichst alle Mitbürgerinnen und Mitbürger Realität wird. Deswegen, glaube ich, wird es unsere politische Aufgabe sein, da noch mehr Dynamik reinzubringen, nämlich durch eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, durch mehr Angebote in der Qualifizierung, durch Fort- und Weiterbildung. Also, unser Motto ist: Raus aus dem Mindestlohn – das ist unser Ziel – und nicht im Mindestlohn verharren! ({2}) Ich fände es gut, wenn in so einer Debatte genau auf diese zentrale Frage Antworten gegeben würden. Dazu steht in den Anträgen der Grünen und der Linken gar nichts. Deswegen muss ich sagen: Mangelhaft! Wir wollen nicht ein Volk von Mindestlöhnern werden. Wir wollen Aufstieg durch Arbeit und Bildung für alle Menschen in Deutschland möglich machen, vor allem für alle jungen Menschen. Das sollte unsere Anstrengung sein für die kommenden Jahre. ({3}) Zu Recht wird darauf hingewiesen: Ein Mindestlohn funktioniert nur, wenn er auch kontrolliert wird; d’accord. Deswegen haben wir zum Beispiel die Zahl der Ausbildungsplätze für diejenigen, die in die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gehen, verdoppelt: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort werden ja nicht als solche geboren; sie müssen erst ausgebildet werden. Wir werden vor allem im kommenden Jahr eine große Zahl zusätzlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die fertig ausgebildet sind, bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit einstellen können, sodass diese, wie es von den Verantwortlichen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit bereits geschildert wird, ab nächstem Jahr erhebliche Raumprobleme haben wird, die dann der Finanzminister – dafür ist nicht der Arbeitsminister zuständig – lösen kann und lösen sollte. Also Ja zur Kontrolle, Ja zur Erhöhung der Ausbildungszahlen, Ja zu mehr Einstellungen! Wir brauchen nicht angemahnt zu werden. Wir machen das. Auch die Kontrolle gehört zum guten Mindestlohn dazu. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass wir mit der gut aufgestellten Mindestlohnkommission und mit einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik auch in Zukunft dafür sorgen, dass es eine klare Grenze für Lohndumping in Deutschland gibt, dass aber auch aus dem Mindestlohn heraus ein Aufstieg zu guter Beschäftigung und zu guten Löhnen möglich wird. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Witt, AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! In der sozialen Marktwirtschaft im Sinne von Ludwig Erhard herrscht aus gutem Grund Tarifautonomie. Und in Bereichen, wo es keine Tarifbindung gibt, wird die Entlohnung individuell ausgehandelt. Wir Alternativen stehen zum Mindestlohn ohne Wenn und Aber und stellen uns gegen jede Form von prekären Arbeitsverhältnissen. Der Mindestlohn muss aber eine gewisse Verhältnismäßigkeit bewahren. Es darf nicht sein, dass ein staatlich festgelegter Mindestlohn höher angesetzt wird als ein unter freien Tarifpartnern ausgehandelter Lohn in der untersten Tarifgruppe. Daher gibt es seit einigen Jahren die Mindestlohnkommission – wie Herr Kollege Weiß vorhin minutenlang ausgeführt hat –, die eine hervorragende Arbeit leistet. Es wäre zwar wünschenswerter, dass wir in der sozialen Marktwirtschaft auf ein derartiges Kontrollorgan verzichten könnten, aber nach der Agenda 2010, die die SPD nachhaltig verkorkst hat, blieb ja keine andere Möglichkeit. ({0}) Nach sechs Jahren beschäftigen sich nun zwei Fraktionen hier im Hohen Haus, die offenbar soziale Marktwirtschaft bis heute nicht verstanden haben, mit der Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro. Doch was bedeutet die Erhöhung des Mindestlohns für Arbeitnehmer und was für Arbeitgeber? Machen wir doch einfach mal die Rechnung auf. Ein Mitarbeiter, Steuerklasse I, verdient bei aktuellem Mindestlohn bei 40 Stunden in der Woche und 9,50 Euro 1 645 Euro brutto im Monat. Ihm bleiben nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben 1 215 Euro netto; das ergibt einen Nettostundenlohn von 7 Euro. Den Arbeitgeber kostet dieser Mitarbeiter 2 200 Euro, sprich also knapp 13 Euro brutto pro Stunde. Bei Ihrer Forderung erhöht sich der Nettostundenlohn für den Arbeitnehmer lediglich um 1,44 Euro; für den Unternehmer verteuern sich die Kosten für den Mitarbeiter auf gut 16 Euro pro Stunde. Diese Kosten müssen eins zu eins auf die Dienstleistung oder das Produkt aufgeschlagen werden. ({1}) Ein Wahlgeschenk der Linken und Grünen, das sich nicht nur als Potemkin’sches Dorf entpuppt, sondern Sie erreichen damit das Gegenteil dessen, was Sie eigentlich möchten. Denn gerade in den Branchen, die aktuell durch die Zwangsmaßnahmen der Regierung mit dem Rücken zur Wand stehen, wird in der Regel der Mindestlohn gezahlt – das wissen Sie alle –: Gastronomie, Hotellerie, Einzelhandel, Veranstaltungs- und Schaustellergewerbe, um nur einige zu nennen. Eine Mindestlohnerhöhung wird ausschließlich die klein- und mittelständischen Unternehmen treffen. Ich kann Ihnen sagen: Statt Beschäftigten mehr Netto vom Brutto zu geben, was ihnen wirklich guttun würde, sorgen Sie mit dieser Erhöhung des Mindestlohns für einen massiven Stellenabbau. Einige Dienstleistungen wird man so verteuert nicht mehr anbieten können, und die Unternehmen werden vom Markt verschwinden. Aber vielleicht ist dies genau das, was Sie wirklich beabsichtigen. ({2}) Wir Alternativen sind der Meinung: Ihre Anträge sind genau das, was wir in und nach diesem Dauerlockdown nicht gebrauchen können. Arbeit muss sich wieder lohnen. Diese Forderung von uns Alternativen ist umzusetzen. Aber Ihr Weg über einen staatlich verordneten Mindestlohn ist definitiv der falsche. Verantwortlich dafür, dass Menschen kein Auskommen mit ihrem Einkommen in diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen haben ist, letztendlich die Regierung. Denn wir haben hier in Deutschland nicht nur die höchste Abgabenlast der Welt und die höchsten Strompreise für Endverbraucher, ({3}) sondern die Regierung schröpft auch kleine Erwerbstätige bis aufs Blut, sodass sich viele ernsthaft die Frage stellen: Wozu soll ich überhaupt arbeiten gehen, wenn ich bei Hartz-IV-Bezug das Gleiche bekomme? ({4}) Daher müssen wir Ihre unausgereiften Anträge leider komplett ablehnen. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Witt. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Einführung des gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohnes war und ist ein Meilenstein für unser Land. ({0}) Millionen Menschen profitieren von diesem Mindestlohn, und alle Schwarzmalereien der Gegnerinnen und Gegner haben sich nicht bewahrheitet. ({1}) Ja, es war ein langer, es war ein harter Weg. Es waren viele Jahre Kampf und Einsatz gemeinsam mit den Gewerkschaften, bis wir 2014 hier in diesem Haus den Mindestlohn beschließen und einführen konnten. Ich bin allen dankbar, die dabei mitgemacht haben und auch zugestimmt haben. Die Chance haben Sie von der Linken, die heute den Antrag einbringen, damals verpasst. ({2}) Aber wir machen uns nichts vor: Immer mehr Menschen arbeiten viel – – ({3}) – Ich bin froh, dass wir euch, lieber Matthias Birkwald, an unserer Seite haben im Kampf für einen guten Mindestlohn, für eine Erhöhung. Das, was ihr im Antrag beschreibt, ist ja im Grunde nicht verkehrt. ({4}) Da ist ja vieles drin, was auch wir – Hubertus Heil, Olaf Scholz – in unserem Eckpunktepapier längst vorgelegt haben; aber darauf kommen wir noch. Ich will sagen: Immer mehr Menschen – das dürfen wir doch an dieser Stelle nicht verkennen, da dürfen wir nicht wegblicken; man muss den Blickwinkel ändern und auf diejenigen blicken, die arbeiten, und das sind ganz viele Menschen – arbeiten viel und immer mehr, bekommen aber immer weniger. In der Pandemie haben wir doch gesehen, dass diejenigen, auf die es am meisten ankommt, oft diejenigen sind, bei denen am wenigsten ankommt. Das ist doch ein Problem. Deswegen dürfen wir hier nicht zuschauen; wir müssen handeln. Wir als Sozialdemokraten sagen: Die Mindestlohnkommission ist genau richtig – da gehört es hin –; sie ist paritätisch besetzt, die Gewerkschaften und die Arbeitgebenden sind dabei. Aber wir sehen doch jetzt auch, dass die Kommission den Mindestlohn nach sieben Jahren um insgesamt 1 Euro erhöht hat, von 8,50 Euro auf 9,50 Euro. Ist das nicht ein bisschen wenig? ({5}) Müssen wir nicht überlegen, wie wir ein neues Instrument einbauen können, Peter Weiß? Wir wollen diese Mindestlohnkommission behalten – ja! –; aber müssen ihr mehr Spielraum einräumen. Sie muss auch überlegen, wie hoch die Armutsgefährdung ist, und braucht einfach mehr Spielraum, damit es besser läuft. ({6}) Denn Arbeit hat doch ihren Wert, und dieser Wert muss sich im Mindestlohn widerspiegeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir haben heute zu Beginn der Debatte schon von zwei Redenden gehört, dass es ein langer Kampf war, den Mindestlohn zu bekommen. Ein genauso langer Kampf, genauso so dicke Bretter sind es auch, wenn es jetzt darum geht, den Mindestlohn zu erhöhen. Das haben wir festgestellt. Ich will an dieser Stelle schon sagen, liebe Union, lieber Koalitionspartner: Ich glaube, in dem Punkt kommen wir nicht mehr zusammen. – Wenn es anders ist, freue ich mich darüber; dann machen wir das auch noch vor der Sommerpause. Aber ich glaube, dass wir hier einfach einen Dissens haben. Die SPD hat in ihr Wahlprogramm geschrieben:12 Euro Mindestlohn brauchen wir mindestens, und die Zuschläge dürfen auch nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden, weder der Zuschlag für Nachtarbeit – da ist es ja schon der Fall – noch alle anderen Erschwerniszulagen. Bei den Kontrollen haben wir vieles auf den Weg gebracht; aber da können wir auch noch vieles deutlich verbessern. Ich will auch sagen: Im Zeichen der Pandemie finden die Kontrollen im Moment schleppend oder fast gar nicht statt. Das muss sich einfach verbessern. Den Spielraum haben wir geschaffen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Rützel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Kollege Rützel, lieber Bernd, vieles ist sympathisch. Vielleicht versteigt sich die SPD irgendwann noch zu der Größe, zuzugeben, dass die Idee des Mindestlohns, der erste Vorschlag, einen Mindestlohn einzuführen, aus den Reihen der Linken kam ({0}) und wir die Erfinder des Mindestlohns sind. ({1}) Aber man sollte sich ja nicht rechthaberisch auf den Meriten ausruhen, sondern auf die Zukunft blicken. Du hast ja eben den Kollegen Witt von der AfD mit seiner Argumentation gehört, der vorgerechnet hat, wie kleine und mittlere Unternehmer – von den Konzernen, von denen die AfD ja gelegentlich auch Spenden kassiert, hat er wenig gesprochen; man verschanzt sich ja hier immer gerne hinter den kleinen und mittelständischen Unternehmern – bei jeder Erhöhung des Mindestlohns leiden. ({2}) Die Frage ist natürlich dann, ob es überhaupt eine Mindestlohnerhöhung geben kann, bei der diese Argumentation, die etwas demagogisch klingt, nicht angewendet werden könnte. Ich wollte dich fragen: Kommt dir nicht auch die Argumentation, wie sie eben von der AfD vorgetragen worden ist – du bist ja schon lange im Parlament, du hast ja schon lange diese Diskussion miterlebt –, so vor wie gelegentliche Argumentationen des Arbeitgeberflügels der CDU, des Arbeitgeberflügels der Grünen und des Arbeitgeberflügels der FDP?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Dehm, lieber Diether, die Argumentation meines Vorredners von der AfD war so absurd, dass ich gar nicht darauf eingegangen bin. ({0}) Aber ich will jetzt an dieser Stelle sagen: Wenn das, was der Vorredner beschrieben hat, der Fall wäre, dann müssten wir ja mit dem Mindestlohn deutlich runtergehen – auf 3 Euro, auf 2 Euro –, und am Ende des Tages müsste man sogar noch Geld mitbringen – so wie es früher einmal war –, ({1}) um es abzugeben, damit man überhaupt arbeiten darf. Das kann doch nicht die Idee sein. Die Idee muss sein, eine Wertschöpfung hinzubekommen, Teil der Wertschöpfung zu sein; denn Arbeit hat ihren Wert. Wenn ich ein Geschäftsmodell habe, das darauf aufbaut, dass das Ganze nur dann funktioniert, wenn der Stundenlohn 2 Euro oder 3 Euro beträgt, dann ist das kein Geschäftsmodell; dann ist das eine Ausbeutung. So was brauchen wir nicht. ({2}) Von daher ist das natürlich keine Argumentation. Ich will an dieser Stelle sagen – das gehört noch zur Antwort dazu, was die Redezeit betrifft –: ({3}) Wir haben ja auch vieles im Bereich des Midilohnes gemacht, also für diejenigen, die über 450 Euro, aber weniger als 1 300 Euro verdienen. Das sind nämlich oft diejenigen, die ohnehin keine Steuern zahlen. Was wollen wir da mit Steuerersparnis machen? Wir erstatten Sozialversicherungsbeiträge. Das hilft den Menschen richtig in der Tasche, ohne dass die Leistungen dadurch geringer werden. Das heißt, da ist vieles für diejenigen auf den Weg gebracht worden, die im Niedriglohnbereich arbeiten. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Rützel, wir haben eine weitere Zwischenfrage, und zwar aus der AfD-Fraktion.

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das ist alles seine Redezeit. Alles gut.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Rützel, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Aber da muss ich jetzt doch reingrätschen, wenn Sie behaupten, die AfD stünde für Stundenlöhne von 2 oder 3 Euro. Das ist einfach nicht wahr. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da bin ich froh.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir haben auch im Wahlprogramm stehen, dass wir einen Mindestlohn unterstützen, aber nur deswegen, weil es wegen der aktuellen politischen Situation und der verkorksten Agenda‑2010-Politik der SPD und der Grünen damals – so wie es mein Kollege Witt vorhin gesagt hat – nötig ist. Warum geben Sie eigentlich nicht zu, dass ein wesentlicher Teil des Problems bei den Menschen, die niedrige Einkommen erhalten, die Tatsache ist, dass erstens die Sozialversicherungsbeiträge viel zu hoch sind, zweitens die Steuern viel zu hoch sind und drittens die Währung viel zu instabil ist, als dass hieraus eine echte Wertschöpfung gewonnen werden könnte? Herr Witt hat Ihnen gerade vorhin vorgerechnet, was für die Arbeitgeber auch nur die geringste Erhöhung von Löhnen bedeutet. Viele Arbeitgeber machen das, weil sie gutes Personal wollen. Das ist übrigens ein weiteres Argument dagegen, dass es zu Stundenlöhnen von 2 bis 3 Euro kommen könnte: Auf einem wirklich freien Markt – aber davon sind Sie als Sozialisten ja ganz weit weg – würde so einen Job niemand annehmen. Das gehört nämlich auch dazu: Arbeiternehmer-, Arbeitgebersuche. Wesentliche Punkte sind, dass wir die Sozialversicherungsbeiträge ein bisschen runterkriegen müssen, dass wir auch steuerlich entlasten müssen, damit von dem, was der Arbeitgeber zu bezahlen hat, auch möglichst viel bei dem Arbeitnehmer ankommt, der die Leistung erbringt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Währung wieder etwas wert ist. Warum treten Sie nicht aus dem Euro aus? ({0}) Das wäre das wesentliche Element, um wieder Wertschöpfung zu haben. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Rützel, bevor Sie antworten: Vielleicht sollten wir uns darauf verständigen, dass Zwischenfragen Fragen sein sollten und dass auch Kurzinterventionen so gehalten werden sollten, dass es keine weiteren Reden sind. ({0}) Das gilt nicht nur für Sie, Herr Kleinwächter, sondern für alle Beteiligten hier. Weitere Reden zu halten, in Zwischenfragen gekleidet, ist nicht der Sinn der Veranstaltung. Herr Kollege Rützel, Sie haben jetzt das Wort.

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe Ihr Statement genau verfolgt und habe drei Fragen rausgehört. Erstens – was immer der Fall ist –: Sie wollen aus dem Euro raus. – Ich glaube, dass der Euro stabil ist und dass der Euro stabiler ist, als die D-Mark jetzt im Moment wäre. ({0}) Und kein Mensch kommt mehr auf die Idee, dass wir heute noch mal die D-Mark einführen. Das ist der erste Punkt. ({1}) Der zweite Punkt ist, dass Sie gesagt haben, die Steuern müssten runtergehen. Diejenigen, über die wir hier sprechen, haben kein Problem damit, dass sie hohe Steuern zahlen müssen. Die haben ein Problem damit, dass sie nichts in der Tasche haben, weil so wenig Lohn da ist. ({2}) Also hilft es denen nicht, wenn man die Steuern senkt. Ich sage: Alle sollen dankbar sein, dass wir alle viele Steuern zahlen können. Dann ist auch viel in der Lohntüte drinnen. Den ersten Punkt habe ich jetzt vergessen. – Was war der erste Punkt? ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, dass auch die AfD einen Mindestlohn will, der nicht bei zwei Euro liegt. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich ja schon gut gefunden, dass Sie das nicht wollen. Aber als Ihre Argumentation habe ich gehört, dass es nicht weiter nach oben gehen darf. Deswegen ist es natürlich Unsinn, dass festgestellt wird, dass Sie jetzt nicht für Stundenlöhne von 2 Euro sind. Ich weiß gar nicht, ob überhaupt jemand hier im Raum für 2 Euro Stundenlohn ist, die es übrigens vor dem Mindestlohn gab. – Ich hoffe, ich habe Ihre Fragen ordentlich beantwortet. ({0}) Zum Schluss will ich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn wir über den Mindestlohn reden, dann dürfen wir ihn nicht nur alleine betrachten. Mindestlohn ist gut – 12 Euro, 13 Euro –; aber er ist immer noch nicht so gut wie ein Tariflohn. ({1}) Deswegen müssen wir in Zukunft, wenn öffentliche Aufträge vom Bund, von den Ländern, von den Kommunen – auch im Pflegebereich – vergeben werden, sicherstellen, dass Versorgungsverträge nur noch dort abgeschlossen werden, wo Tarifbindung gilt und Mindestlöhne gezahlt werden. Denn wer Vollzeit arbeitet, der muss von seinem Lohn anständig leben können. – Das hat nicht die Linke erfunden, lieber Matthias Zimmer, das hat, glaube ich, schon Papst Leo XIII. vor 100 oder wie viel Jahren gesagt:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt zum Schluss.

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein rechtschaffener Arbeiter muss sich und seine Familie von seinem Lohn ernähren können. – Darum geht es und um nichts anderes. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rützel. ({0}) – Keine Ekstase hier, bitte. Nächster Redner ist der Kollege Carl-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion. ({1})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen unter Ihnen mögen sich erinnern: Die FDP hat die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2014, sagen wir, eher kritisch begleitet. Umso mehr dürfen Sie sich heute freuen, wenn ich hier zu Protokoll gebe: Der deutsche Mindestlohn ist aus Sicht der FDP ein Erfolg. ({0}) – Freuen wir uns, dass viele Menschen pro Stunde mehr verdienen und insgesamt die Beschäftigung weiter zugenommen hat, zumindest bis Corona. Der deutsche Mindestlohn ist deshalb ein Erfolg, weil sich die Politik nach dem Startschuss zurückgezogen hat und die Lohnfestsetzung da gelassen hat, wo sie hingehört, nämlich bei den Sozialpartnern. ({1}) Ich frage mich ernsthaft: Warum wollen Sie jetzt – in bester sozialromantischer Absicht vielleicht, aber auf Teufel komm raus – genau die Leitplanken abschaffen, die zu diesem Erfolg geführt haben? Nun sagen Sie als Antragsteller: Der Mindestlohn schützt aber nicht vor Armut. – Da hilft ein Blick in den sechsten Armutsbericht: Zeiten niedriger Einkommen sind Übergangsphasen. Nach einem Jahr ist ein Drittel der Geringverdiener wieder raus, nach drei Jahren fast die Hälfte; Peter Weiß hat dazu ausgeführt. Aufstieg ist möglich und findet auch statt. Insgesamt hat sich die Armut in Deutschland seit 2005 praktisch halbiert. Nicht der intervenierende Staat schützt vor Armut, sondern, liebe Kolleginnen und Kollegen, Aufschwung und Wachstum. Das ist unser Job: Aufschwung und Wachstum sicherstellen. Dann gibt es weniger Armut. ({2}) Vielleicht zielen die Antragsteller auch auf diejenigen ab, die als armutsgefährdet gelten. Die Quote ist in den letzten Jahren in etwa gleich geblieben, ja; aber das liegt daran, dass alle Einkommensklassen gleichermaßen vom Aufschwung profitiert haben. Da jammert man nicht, da freut man sich für alle, die profitiert haben, auch die niedrigen Einkommen. Die Flut hebt eben alle Boote. Übrigens: Wer sich für die Auswirkungen eines angeblich armutsfesten Mindestlohns interessiert, der braucht nicht lange suchen. Ein Blick nach Frankreich genügt. Der dortige Mindestlohn beträgt knapp 1 500 Euro im Monat. Gleichzeitig ist aber die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland, und zwar mit einer verfestigten hohen Arbeitslosigkeit gerade junger Menschen. Das halte ich für unsozial. Bienvenue in der Welt politisch festgesetzter Lohnuntergrenzen! ({3}) Wir Freien Demokraten setzen dagegen auf das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft, den Aufstieg aus eigener Kraft. Schaffen wir Bildungsgerechtigkeit, verbessern wir Vereinbarkeit von Familie und Beruf, fördern wir Start-ups und Selbstständigkeit! Das hilft gegen beides: gegen Arbeitslosigkeit und gegen Armut. Ich wiederhole mich: Der deutsche Mindestlohn ist ein Erfolg. Bei seiner Einführung stand zu Recht der Kampf gegen Lohndumping im Zentrum; Peter Weiß hat dazu ausgeführt. Drei Gefahren sollten damals gebannt werden: erstens erhöhte Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten, zweitens Eingriffe in die Tarifautonomie mit allen Verwerfungen beim Lohnabstandsgebot, drittens ein politischer Mindestlohnüberbietungswettbewerb in Wahljahren. Mit den Forderungen von Linken und Grünen würden genau diese Gefahren nicht gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen. Übrigens: Minister Heil und Kanzlerkandidat Olaf Scholz haben Anfang März in ihrem Eckpunktepapier ganz ähnliche Pläne formuliert. Das ist kein Zufall. Es ist auch kein Zufall, dass wir hier eine so muntere Debatte erleben. Wir sind im Wahlkampf. In fünf Monaten wird gewählt. Just in der Coronazeit, wo Hunderttausende um ihren Job bangen, läuten Sie den Wahlkampf ein und fordern das, was Gift für den Arbeitsmarkt ist: einen Überbietungswettlauf um den Mindestlohn. Das lassen wir nicht zu. Die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission ist der Garant für die Stabilität am Arbeitsmarkt, genau wie die Unabhängigkeit der EZB Garant für die Stabilität des Euro ist. Daran sollten wir festhalten. Herr Präsident, wenn mir vor fünf Jahren jemand prophezeit hätte, dass ich mal Gralshüter des deutschen Mindestlohngesetzes sein würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ich nehme die Rolle gerne an, aber wünsche mir ein bisschen mehr Unterstützung von den Sozialdemokraten. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Cronenberg. – Kollege Birkwald, man darf auch noch dazulernen; so ist das nicht. ({0}) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({1})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, schön, dass Sie heute mit dabei sind. Entgegen allen düsteren Prophezeiungen gab es durch den Mindestlohn eben keine negativen Effekte – im Gegenteil: nur positive. Der Niedriglohnbereich wurde ein Stück weit kleiner, die Zufriedenheit der Beschäftigten hat sich erhöht, und der aktuelle Evaluationsbericht bestätigt: Der Mindestlohn ist und bleibt wichtig. Gleichzeitig zeigt der Bericht auch Probleme bei der Durchsetzung. Die Fraktion Die Linke greift das mit sehr detaillierten Forderungen auf. Der Antrag heute ist also richtig gut, weil er konkret und ausführlich ist. ({0}) Auch wir Grünen fordern mit unserem Antrag, über den heute abgestimmt wird, dass der Mindestlohn auf 12 Euro angehoben wird. Diese Erhöhung ist notwendig, weil der Mindestlohn auf sehr niedrigem Niveau gestartet ist. Jetzt geht es darum, rund 10 Millionen Beschäftigte, von denen viele als systemrelevant gelten, über die Armutsschwelle zu heben. Das ist einfach eine Frage der Gerechtigkeit. ({1}) Wichtig ist aber auch, dass wir Grünen weiterhin zur Mindestlohnkommission stehen. Wir wollen sie aber weiterentwickeln und ihr mehr Spielräume ermöglichen. Die Höhe des Mindestlohns darf sich nicht weiter allein an der Tarifentwicklung orientieren, sondern der Mindestlohn muss tatsächlich vor Armut schützen. Und das wollen wir festschreiben; denn der Schutz vor Armut ist zentral. Nur so können wir beispielsweise den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken. ({2}) Ganz wichtig ist: Der Mindestlohn muss natürlich auch durchgesetzt werden, und deshalb muss der Mindestlohn auch ausreichend kontrolliert werden. Zwei Voraussetzungen sind dafür wichtig: Erstens. Die Arbeitszeit muss ausreichend dokumentiert werden, und zwar nicht nur die Dauer, sondern auch die tatsächlichen Arbeitszeiten, also Beginn und Ende der Arbeitszeit. Zweitens. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit braucht endlich ausreichend Personal. Hier haben wir gerade erst die Zahlen abgefragt, und die sind fatal. 1 600 neue Stellen wurden für die Kontrolle des Mindestlohns versprochen. Jetzt, sechs Jahre später, sind zwar die Planstellen da, aber mittlerweile sind 2 000 der Stellen überhaupt nicht besetzt. Das ist ein trauriger Negativrekord, und das ist einfach nicht akzeptabel. ({3}) Der Mindestlohn ist wichtig, aber er ist nur die unterste Haltelinie. Echte Lohngerechtigkeit geht am besten mit guten Tarifverträgen. Deshalb sollte die Tarifbindung endlich gestärkt werden; ein Stichwort ist beispielsweise „Bundestariftreuegesetz“. Kollege Weiß und Kollege Rützel, es reicht einfach nicht, immer nur über Tarifbindung und Tarifverträge zu reden. Sie müssen hier endlich handeln und die Tarifbindung endlich stärken. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen an vielen Stellen ansetzen. Ein höherer Mindestlohn, der tatsächlich vor Armut schützt, wäre zumindest ein Anfang. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Professor Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der französische Dominikaner Jean Baptiste Lacordaire hat einmal gesagt, dass es im Verhältnis von Starken und Schwachen die Freiheit ist, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Das ist ein sehr wahres Wort, und das war auch der Grund, warum wir 2014 den Mindestlohn eingeführt haben: weil wir immer mehr zu der Erkenntnis gekommen sind, dass auf dem Arbeitsmarkt die Möglichkeit kollektiven Handelns von Arbeitnehmern abnimmt und Gestaltungen von Arbeitsbedingungen zunehmen, die wir schlicht und einfach als unanständig empfinden. Deswegen brauchte es einen gesetzlichen Mindestlohn, und ich bin froh, dass der organisierte Liberalismus durch Herrn Cronenberg das mittlerweile auch so sieht. ({0}) Es ist ja auch völlig klar: Es gibt im „Der Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith ja auch schon den Hinweis auf den gerechten Lohn, und ein guter Liberaler sollte so was natürlich immer präsent haben. ({1}) Lieber Bernd Rützel, es war richtig, was du eben gesagt hast, nämlich dass es damals ein Meilenstein gewesen ist. Es ist ein Meilenstein in zweierlei Hinsicht gewesen: Der erste Punkt ist der Schutz der Arbeitnehmer. Es ist ganz klar, dass wir nicht weiter in Niedriglohnbereiche abrutschen, die unanständig sind, und dass Lohndumping nicht zu einem Geschäftsmodell wird. Peter Weiß hat eben gesagt: Der Wettbewerb muss organisiert werden über Innovation, über gute Produkte, über guten Service, über gute Dienstleistung, aber nicht über die Fähigkeit, den Lohn zu drücken. Deswegen war das Mindestlohngesetz eine notwendige, eine subsidiäre Maßnahme, die tatsächlich ein Meilenstein gewesen ist, was den Schutz der Arbeitnehmer angeht. Darüber hinaus gab es noch einen zweiten Punkt – und damit komme ich jetzt zu dem Dissens, der uns ein bisschen prägt –: Das Mindestlohngesetz schützt ja auch die anständigen Unternehmer vor den unanständigen. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass in meiner Heimatstadt Frankfurt der damalige Handwerkskammerpräsident gesagt hat: Wir brauchen den Mindestlohn, damit unsere anständigen Handwerksmeister wettbewerbsfähig bleiben. ({2}) Das ist der ganz entscheidende Punkt. ({3}) Im Mindestlohngesetz steht ja auch der Passus drin, dass die Frage des Mindestlohns zu entscheiden ist anhand eines Mindestschutzes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – das ist das, was ich zuerst gesagt habe –, um – das ist das Zweite – faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen und Beschäftigung nicht zu gefährden. Deswegen haben wir uns damals für den Mindestlohn entschieden als ein ordnungspolitisches Instrument zur Regulierung des Wettbewerbs. Das ordnungspolitische Instrument zur Regulierung des Wettbewerbs war etwas einfacher als sozusagen der gerechte Lohn nach der katholischen Soziallehre, den wir Leo XIII. verdanken. Denn der gerechte Lohn geht weit darüber hinaus. Ich kann mich gut erinnern: Wir waren damals in London bei der Low Pay Commission, bei der Mindestlohnkommission, und haben uns dort diese ganzen Dinge einmal erklären lassen. Die Leute dort haben sehr deutlich gesagt: Das, was wir als Mindestlohn machen, ist tatsächlich eine ordnungspolitische Maßnahme. Das ist jetzt kein Living Wage, also kein lebensstandarderhaltender Lohn, sondern es ist sozusagen ein ordnungspolitisches Modell. Wir sind damals damit gut gefahren, weil wir gesagt haben: Wir beschränken uns darauf. – Ich kann mich erinnern, dass auch einige Vertreterinnen und Vertreter der Grünen mit dabei gewesen sind. Die waren von der Argumentation der britischen Kollegen damals ausgesprochen angetan. Ich halte sie nach wie vor für richtig. Ich halte nach wie vor auch für richtig, dass wir als Gesetzgeber diese ganze Angelegenheit nicht neu aufrollen. Wir haben damals im Jahr 2014 einen Mindestlohn von 8,50 Euro akzeptiert, weil die Gewerkschaft 8,50 Euro wollte, und 8,50 Euro war in etwa der Lohn, den es branchenübergreifend in der Zeitarbeit gab; darunter wollten wir nicht gehen. Aber jetzt als Parlament, nachdem wir 2014 fest zugesagt haben: „Die Politik mischt sich da nicht ein“, den Mindestlohn erneut festzulegen, halte ich für gefährlich, halte ich für falsch. Denn wer würde uns dann glauben, dass wir das nicht ein drittes oder ein viertes Mal machen würden? Ich habe nichts dagegen, dass der Mindestlohn auf 12 Euro steigt. Aber das soll bitte die Mindestlohnkommission machen, nicht das deutsche Parlament. ({4}) Das ist der richtige Weg, und deswegen lehnen wir den Antrag der Grünen ab. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Zimmer. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Rängen und zu Hause an den Geräten! Werte Kollegen! In Zeiten von Corona meint jeder, dass das Füllhorn ausgeschüttet werden soll, und da sind natürlich die Kollegen von den Linken und den Grünen ganz vorne mit dabei. In einem Wahlkampfjahr wird dann auch gerne mal die Liebe zum kleinen Arbeiternehmer neu entdeckt. Aber ich sage Ihnen eins, liebe Grüne: Der klassische Mindestlohnempfänger ist nun wahrlich kein grüner Hipster oder Ökofantast. Der Mindestlohnempfänger ist nicht Ihre normale Klientel. Aber was tut man nicht alles für eine Wählerstimme! Die Grünen und die Linken wollen jetzt den Mindestlohn auf 12 Euro erhöhen, um den Niedriglohnsektor aufzuwerten. Ich möchte Sie mal daran erinnern, warum wir überhaupt so einen starken Niedriglohnsektor haben. Als Sie noch den Kellner unter Ihrem Koch Kanzler Schröder gespielt haben, da hat man doch mit Ihrer Zustimmung zur Hartz-IV-Reform überhaupt erst dafür gesorgt, dass der Niedriglohnsektor ausgebaut wurde. Oder was glauben Sie, wo die vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse herkommen? ({0}) Sich jetzt hinzustellen und einen Abbau des Niedriglohnsektors zu fordern und den guten Samariter zu spielen, das nenne ich scheinheilig. Ich sage Ihnen eins – auch wenn es Die Linke nicht wissen will –: Ich bin auch für eine Anhebung des Mindestlohns. Ich bin sogar dafür, dass den Menschen mehr als 12 Euro pro Stunde gezahlt wird; denn die Menschen sollen auch von ihrem Einkommen leben können. Ich will keine Aufstocker, die von drei Minijobs gleichzeitig nur mit Ach und Krach leben können. Aber alles hat seine Zeit. Die Mindestlohnkommission hat dafür gesorgt, dass wir dieses Jahr den Mindestlohn gleich zweimal erhöhen. Jetzt wollen Sie mehr. Ich frage Sie: Wie sollen denn all die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Zeiten der Krise noch höhere Lohn- und Lohnnebenkosten tragen? Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen, nicht einmal und nicht zweimal. ({1}) Was Sie vorhaben, führt unweigerlich zu noch mehr Insolvenzen und garantiert nicht zu mehr Wohlstand. Ich sage Ihnen: „Gegeneinander statt miteinander“ führt in der Beschäftigungspolitik zu nichts. Anstatt alles über Gesetze und Verbote zu regeln, müssen wir uns was Besseres überlegen. Zum Beispiel: Geben wir den Betriebsräten in den Unternehmen, die nicht unter einen Tarifvertrag fallen, Tariffähigkeit. Dann können die Betriebsparteien ihren eigenen, höheren Mindestlohn vereinbaren, und wer keinen Betriebsrat besitzt, der fällt unter das Mindestlohngesetz. ({2}) – Danke. – Wir von der AfD, der neuen Volkspartei, ({3}) wollen einen Wohlstandslohn, der für ein menschenwürdiges Leben reicht. Wir wollen aber auch Arbeitsplätze in Deutschland sichern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Und das geht nicht, wenn man rein populistische Forderungen wie unsere Linken und Grünen stellt ({0}) und damit unweigerlich in die nächste Krise geht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Pohl.

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aus diesen Gründen lehnen wir die Anträge ab. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danke schön. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muss ich mich fragen: Herr Pohl, in welcher Welt leben Sie eigentlich? ({0}) Aber jetzt zum Thema. Der aktuelle Mindestlohn beträgt seit Januar dieses Jahres 9,50 Euro je Zeitstunde. Das ist bereits die dritte Anpassung. Sie fällt coronabedingt nicht so hoch aus wie zunächst beabsichtigt. Und ja, Sie haben recht: Das ist zu wenig, zu wenig, um nicht in Armut zu leben, zu wenig für eine armutsfeste Rente. Aber die Höhe des Mindestlohns und dessen vorsichtige Anpassung legen wir hier nicht fest. Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie groß die Proteste gegen die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes waren, die im Übrigen bei starker Enthaltung der Linken erfolgte. ({1}) Damals ging die Welt unter, auch wenn das heute vielleicht keiner mehr wahrhaben will. Prognostiziert wurden Szenarien von Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung von Unternehmen ins Ausland und diverse Bürokratiemonster durch überbordende Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohnes. Diese Märchenstunde setzt die AfD heute hier fort. Eingetroffen ist von alledem nichts. Im Gegenteil: Der Mindestlohn ist ein Erfolg und hat gezeigt, dass auch die Wirtschaft durch steigende Binnennachfrage profitiert. Nur, dass er überhaupt durchgesetzt werden konnte, liegt daran, dass er mit Bedacht und Vorsicht auf Grundlage der Tarifentwicklung und der Abwägung konjunktureller Faktoren eingeführt wurde. ({2}) So bestimmen die sechs Mitglieder der paritätisch besetzten und dafür zuständigen unabhängigen Mindestlohnkommission seine Höhe auf Basis von Gutachten, Forschungsaufträgen, Stellungnahmen und Workshops. Insgesamt sind seit Gründung der Kommission circa 30 Gutachten in Auftrag gegeben und erstellt worden. Der Mindestlohn ist eines der am besten kontrollierten Instrumente des Arbeitsmarktes. Bei ihm haben wir ein gutes wissenschaftliches Fundament, auf dem wir weitere Verbesserungen vorschlagen und wagen können, ohne dass es wieder zu Wellen der Empörung kommt. Natürlich wollen wir in Zukunft einen armutsfesten Mindestlohn, ({3}) der sich am besten am Medianlohn orientiert. Das muss unser nächster Schritt sein. Meine Damen und Herren, um dieses Ziel zu erreichen, sind einige Verbesserungen notwendig. Lassen Sie mich hier nur drei nennen. Eine ist die Erweiterung der Prüfparamenter für die Festsetzung des Mindestlohns. Hier wollen wir mehr Spielräume öffnen und die Armutsgefährdung als weitere Prüfvorgabe festlegen. Darüber hinaus gehören – das hat Bernd Rützel schon gesagt – Feiertags-, Sonntagszuschläge, die Schmutzzulage und andere Erschwerniszulagen ausgezahlt und nicht mehr auf den Mindestlohn angerechnet. Warum dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die den Mindestlohn erhalten, nicht von diesen Zulagen profitieren? Das kann doch, bitte schön, nicht wahr sein. ({4}) Schließlich wollen wir den Mindestlohn besser durchsetzen. Immer noch gibt es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht ausreichend über die Höhe informiert sind. Hier wollen wir nachsteuern und die aktuell geltenden Mindestlöhne verpflichtend in den Arbeitsvertrag schreiben lassen. Selbstverständlich müssen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber darüber hinaus ihre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über jede weitere Erhöhung des Mindestlohnes schriftlich informieren. Aber auch das sage ich hier: Mir wäre es am liebsten, wir müssten gar nicht über Mindestlöhne reden. Ich möchte tariflich geschützte, gute Arbeitsplätze. Daran lassen Sie uns gemeinsam arbeiten, ({5}) übrigens getreu dem Motto des DGB: Würde hat ihren Preis – Arbeit hat ihren Preis. Herzlichen Dank und Glück auf! ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gerdes. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier zwei Anträge der Linken und einen Antrag der Grünen, in denen gefordert wird, dass die Höhe des Mindestlohnes politisch festgesetzt wird. ({0}) Wir glauben, das ist der falsche Weg. Überhaupt niemand hat etwas gegen höhere Löhne; das ist überhaupt gar keine Frage. Aber wir glauben, dass die Höhe des Mindestlohns mitberücksichtigen muss, ob der Arbeitsplatz nach der Erhöhung noch zur Verfügung steht oder ob er dann nicht vielleicht verloren gegangen ist. Denn was hilft der beste Lohn, wenn man gar keinen Arbeitsplatz hat, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({1}) Uns geht es um nachhaltige Armutsbekämpfung. Die gelingt nicht mit politisch festgesetzten Löhnen. Die zentrale Aufgabe im Sozialstaat muss ja sein, dass Menschen den Einstieg in Arbeit schaffen, aber dass sie dann, wenn die Arbeit gering entlohnt ist, möglichst schnell auch den Aufstieg in besser entlohnte Tätigkeiten finden. Dass der Aufstieg gelingt, dass soziale Durchlässigkeit in unserem Land besser wird, ({2}) ist die sozialpolitische Aufgabe. Darüber sollten wir in diesem Land diskutieren. ({3}) Da ist es schon bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass alle anderen Fraktionen hier gestern einem Antrag der FDP die Zustimmung verweigert haben. Worum ging es? Es ging darum, den Kindern aus sozial benachteiligten Familien mit einem Sonderprogramm unter die Arme zu greifen, damit sie dem digitalen Unterricht beim Homeschooling besser folgen können. Alle anderen Fraktionen haben das abgelehnt oder sich enthalten. Das ist der falsche Weg. 68 Prozent der Eltern aus sozial benachteiligten Familien sagen, sie machten sich Sorgen um die Bildungszukunft ihrer Kinder. Diesen Hilferuf haben Sie einfach überhört, und das ist nicht in Ordnung. Wir brauchen eine Stärkung der Kinder als ersten Einstieg in ein System der nachhaltigen Armutsbekämpfung. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sozialpolitische Verständnis in diesem Haus darf doch nicht ewig sein, dass man hier einen Euro mehr gibt oder da einen Euro mehr gibt. Es geht darum, dass wir die Menschen stärken, dass wir sie befähigen, ihren Weg durch ihr Berufsleben zu gehen, dass sie aufsteigen können in besser entlohnte Tätigkeiten. Das fängt bei der Schule an, aber das geht dann natürlich weiter, lieber Herr Bundesminister, bei der Förderung durch die Jobcenter und die Bundesagentur für Arbeit. Wenn aktuell nicht einmal 1,5 Prozent der im Jobcenter betreuten Langzeitarbeitslosen von einer beruflichen Qualifizierung profitieren können, dann ist etwas falsch in diesem Land. Hier müssten Sie ansetzen. Das wäre der richtige Weg. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, unterstützen Sie da die Ambitionen und die Motivation Ihres Arbeitsministers! Das wäre wirklich Politik für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Das ist jedenfalls der Weg, den wir als Freie Demokraten gehen: die Menschen stark machen, die Durchlässigkeit in unserer Gesellschaft verbessern, dass die Menschen aufsteigen können. Das ist es, was wir hier in diesem Land brauchen, und das ist es, wofür wir als Freie Demokraten stehen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zurzeit arbeiten in Deutschland rund 1,5 Millionen Beschäftigte zum Mindestlohn. Das sind im Monat 1 647 Euro brutto. Netto sind das bei einem Alleinstehenden rund 1 200 Euro, und wenn man in Teilzeit arbeitet, ist es noch weniger. Was kann sich ein arbeitender Mensch für diesen Mindestlohn leisten? Ein Dach über den Kopf? Schwierig, zumal in Großstädten oft 40 bis 50 Prozent des Einkommens für die Miete draufgehen. Ein Auto, weil man auf dem Land wohnt und vielleicht zur Arbeit fahren muss? Hier kommen dann noch Sprit, Reparaturen und auch Versicherungen obendrauf. Essen, Kleidung, eine neue Waschmaschine? Und schon ist man wieder im Dispo. In Deutschland arbeiten insgesamt 8 Millionen Menschen im Niedriglohnbereich; sie müssen den Groschen dreimal umdrehen. Meine Damen und Herren, wir brauchen einfach höhere Löhne in Deutschland! ({0}) Auch Ihr Mindestlohn ist auf der einen Seite nicht niedrig genug, um die Hartz-IV-Leistungen zu bekommen, und auf der anderen Seite nicht hoch genug, um von harter Arbeit leben zu können. Deshalb brauchen wir eine stärkere Tarifbindung in Deutschland und eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. ({1}) Und es reicht nicht, wenn die Grünen fordern, der Mindestlohn solle in Schritten auf 12 Euro erhöht werden. Wenn der letzte Schritt getan ist, dann sind die 12 Euro schon wieder viel zu niedrig. Deshalb fordert Die Linke: Den Mindestlohn sofort rauf auf 12 Euro! Nur so kann es gehen, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich kommt von der Union, der FDP, der AfD und auch von Arbeitgeberverbänden immer wieder – auch heute – dasselbe Lied: Die Arbeitgeber können die höheren Löhne nicht zahlen, ({3}) und es werden Arbeitsplätze wegfallen. – Was für ein Unsinn! Schon bei der Einführung des Mindestlohns sind keine Arbeitsplätze in nennenswerter Größenordnung weggefallen. Auch das Geld ist nachweislich da; die Produktivität wächst. Doch dieser Zuwachs, den die Beschäftigten erarbeiten, kommt nicht in Form von Lohnerhöhungen an, und das ist ungerecht. ({4}) Die Summe aus Arbeitsproduktivität und Inflationsrate ist in den letzten fünf Jahren um 13 Prozent gestiegen, der gesetzliche Mindestlohn allerdings nur um 10 Prozent, und das von einem Niveau von 8,50 Euro aus. Meine Damen und Herren, das ist Lohndumping made in Germany. In dieser traurigen Disziplin sind wir leider Spitzenklasse. Ich würde lieber sehen, wenn wir in Deutschland Europameister beim Mindestlohn wären. ({5}) Gerade jetzt, in der Wirtschaftskrise, ist der richtige Zeitpunkt für einen höheren Mindestlohn. Die Menschen brauchen einfach mehr Geld in der Tasche. Dann können sie mehr kaufen, und wenn sie mehr kaufen, dann wird die Konjunktur angeschoben, und das schafft auch Arbeitsplätze. Nur so kann es gehen. All das kostet keinen Cent, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– ein wirksames Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, greifen Sie zu! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wir brauchen einen höheren Mindestlohn. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Lieber Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Matthias Zimmer hat recht, wenn er sagt – das war auch genau richtig argumentiert –, dass der Mindestlohn in erster Linie ein ordnungspolitisches Instrument ist, um auf der einen Seite Dumpinglöhne zu verhindern und auf der anderen Seite faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Insofern ist es ein Mittel der sozialen Marktwirtschaft; sehr richtig beschrieben. Aber wenn es in Deutschland Menschen gibt, die alleinstehend sind, Vollzeit erwerbstätig sind und Anspruch auf Arbeitslosengeld II, Hartz IV, haben, die zum Jobcenter müssen und ihr Einkommen aufstocken müssen, dann zeigt das, dass der Mindestlohn in Deutschland zu niedrig ist und angehoben werden muss. ({0}) Ich will, gerade als Arbeitsökonom, noch mal was zu den ökonomischen Effekten sagen, die ein Mindestlohn hat. Ein Mindestlohn erhöht das Arbeitsangebot. Ein Mindestlohn erhöht die Bereitschaft, effektiver zu sein; „Effizienzlöhne“ heißt das in der ökonomischen Theorie. Ein Mindestlohn erhöht die Produktivität – früher nannte man so was mal „Produktivitätspeitsche“ –, kann also die produktiven Prozesse im Unternehmen verstärken. Und er erhöht – die Kollegin Zimmermann hat darauf hingewiesen – die Nachfrage. Das kann, insbesondere wenn man in einer konjunkturell schwierigen Zeit ist wie jetzt und die Konjunktur dann anspringt, einen zusätzlichen Schub geben. Auch das ist ein positiver Effekt eines steigenden Mindestlohns. ({1}) Dem steht natürlich gegenüber, dass ein Mindestlohn auch Kosten im Unternehmen verursacht, und das muss abgewogen werden. Deswegen sagen wir Grüne – das haben wir von Anfang an gesagt –: Die Mindestlohnkommission muss über die Höhe des Mindestlohns entscheiden. – Deswegen sind wir nach wie vor auch für die Mindestlohnkommission. Das ist völlig richtig, weil es schwierige Prozesse sind und wir auch die Wissenschaft noch stärken wollen; denn es geht dabei nicht nur um die Interessen von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, sondern dieser Abwägungsprozess muss auch wissenschaftlich begleitet werden. Deswegen wollen wir in dieser Kommission auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Stimmrecht haben, die mitentscheiden können, wie hoch der Mindestlohn am Ende sein wird. Aber wir sagen, dass die Politik an einer Stelle auch Vorgaben machen können muss, und das betrifft die Frage der Armut. Deswegen wollen wir das Ziel des Schutzes vor Armut als zusätzliches – nicht als alleiniges, aber als zusätzliches – Kriterium ins Mindestlohngesetz schreiben. Wir finden, dass die Politik da durchaus Vorgaben machen kann; denn wenn Menschen Vollzeit erwerbstätig, alleinstehend sind und dann noch aufstocken müssen, dann müssen wir doch dafür sorgen, dass der Mindestlohn vor Armut schützt. Das ist wirklich das Mindeste. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. ({0}) – Darf ich das noch kurz sagen? Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte mich da oben aufgerufen gesehen; aber Sie sind der Chef im Hause.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Aber Sie wissen, dass der sitzungsleitende Präsident oder die sitzungsleitende Präsidentin aufruft und nicht die Tafel.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Bernd Rützel! Zunächst einmal: Ja, es war in der Tat Papst Leo XIII., der 1891 in „Rerum novarum“, dem ersten sozialen Weltrundschreiben, sinngemäß forderte, dass ein Teil der Familie so viel verdienen müsse, dass davon die gesamte Familie, unabhängig von der Zahl der Köpfe, ernährt werden kann und ein Sparpfennig überbleibt – allerdings nicht nur als ein Auftrag an die tarifliche Politik, sondern auch als ein gesellschaftlicher Auftrag, dass mit diesem familiengerechten Lohn die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand geleistet werden kann. Von daher ist der Grundsatz „Faire Arbeit und gute Löhne“ auch in der DNA der Christdemokraten und der Christlich-Sozialen enthalten. Wir haben aber auch die Tarifautonomie. „Autonomie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „nach eigenen Gesetzen leben“. Aus guten Gründen haben wir die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften beauftragt, diese eigenen Gesetze der Arbeitskonditionen miteinander zu verhandeln; der Staat hält sich hier weitgehend raus. Jetzt fordern Sie vonseiten der Grünen und der Linken, dass wir zum zweiten Mal, aber nur einmalig den Mindestlohn gesetzlich festlegen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir das zum zweiten Mal einmalig machen, dann kommt auch das dritte, das vierte und das fünfte Mal. ({0}) Dann gibt es eben keine Tarifautonomie. Die Frage ist ja auch: Warum eine politisch festgelegte Grenze von 12 Euro oder auch von 15 oder 20 Euro? Es ist so, dass beispielsweise der tarifliche Mindestlohn in der Bauwirtschaft 15 Euro beträgt. Selbst in Dänemark, wo es die Tarifautonomie gibt, zahlt man für die Schlachtung bei Tönnies 19 bis 20 Euro. Das heißt, unser Ziel ist doch, dass wir über das subsidiäre Instrument der Mindestlohnkommission mit Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, begleitet von der Wissenschaft und mit einem neutralen Vorsitzenden Tarifautonomie nachbilden, dass wir sie im Grunde beauftragen, sich wieder abzuschaffen, indem wir eine Tarifbindung von weit über 90 Prozent erreichen, so wie das in Österreich und in Dänemark der Fall ist. Lassen Sie uns gerne miteinander darüber diskutieren, den Auftrag der Mindestlohnkommission dahin gehend zu erweitern, dass wir sagen: Neben der Lohnhöhe – der Deckel ist in der Geschäftsordnung ja schon weg –, die in der Mindestlohnkommission miteinander vereinbart werden kann, macht die Mindestlohnkommission auch Vorschläge, wie die Tarifbindung in den Branchen, beispielsweise im Pflegebereich, gestärkt werden kann. – Das ist die Zielsetzung; denn letztendlich ist die Mindestlohnkommission Hilfe zur Selbsthilfe zur Erreichung der Tarifautonomie. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie uns das gerne im Anschluss machen. Ich denke, wir werden das Thema noch öfter miteinander diskutieren. Uns ist wichtig, dass die Tarifautonomie gestärkt wird. Da ist ein Ansatz die Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Da, wo es Betriebsräte gibt, beträgt die Tarifbindung 78 Prozent. Da, wo es keine Betriebsräte gibt, liegt die tarifliche Bindung nur noch bei 25 Prozent. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt ein Betriebsrätemodernisierungsgesetz entwickeln; ({0}) denn damit können wir in der Nahrungskette betriebliche Mitbestimmung, Tarifautonomie und tarifliche Löhne insgesamt stärken. Ich denke, die Antwort auf die soziale Frage und die Frage der besten Löhne sollte sein – wie in Österreich oder in Dänemark –, nicht einen gesetzlichen Mindestlohn immer wieder neu politisch anzupassen, sondern die Tarifbindung massiv zu stärken, sie wieder über 90 Prozent zu bringen. Das könnte gut eine Aufgabe der Mindestlohnkommission sein. Es ist auch eine Aufgabe, die wir gemeinsam haben. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schummer. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister! Herr Cronenberg, ich habe mich sehr über Ihre Rede gefreut; denn Sie haben in Ihrer Rede den Mindestlohn als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet. Das hat die FDP ja nicht immer so gesehen. Ich erinnere Zeiten, als die FDP den Mindestlohn als einen Jobkiller bezeichnet hat. Sie hätten schon damals auf uns hören sollen. Ich finde, Sie sollten sowieso grundsätzlich mehr auf uns hören. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pascal Kober?

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen. ({0}) Am vergangenen 1. Januar feierte der Mindestlohn seinen sechsten Geburtstag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit sechs Jahren kommt man in die Schule. Und wer in die Schule geht, will wachsen und sich weiterentwickeln. Das zeigt uns die Mindestlohnevaluierung. ({1}) Der Mindestlohn muss sich weiterentwickeln, damit er einmal das wird, was er sein soll: ein Zeichen des Respekts für Arbeit in unserem Land. ({2}) Olaf Scholz und Minister Heil haben nun den Lehrplan für das erste Schuljahr des Mindestlohns vorgelegt: Erste Aufgabe für das nächste Schuljahr: Der Mindestlohn muss armutssicher werden. – Aktuell beträgt er 9,50 Euro. Jeder Vierte in unserem Land arbeitet zu einem Lohn von unter 12 Euro. Die Evaluation zeigt, dass der Mindestlohn hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurückbleibt. Um den Anschluss zur Mitte zu halten, muss er schneller steigen. Die SPD ist daher davon überzeugt: Wer Vollzeit arbeitet, muss davon leben können. Der Lohn muss armutsfest sein. ({3}) Ich habe von Uwe Schummer und Bernd Rützel gelernt: Das hat auch schon Papst Pius so gesehen. Nein, Papst Leo XIII. war es – Entschuldigung; man merkt, ich bin nicht ganz bibelfest. ({4}) Das bedeutet zwei Dinge: Der Lohn muss bei Vollzeitkräften nicht mehr durch zusätzliche Sozialtransfers aufgestockt werden, und er ist hoch genug, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu gewährleisten. – Berücksichtigt man dies, landen wir bei einem Mindestlohn von 12 Euro. Wir planen daher, ein neues Kriterium ins Mindestlohngesetz aufzunehmen, das die Mindestlohnkommission bei der Findung beachten muss: Sie soll sich stärker an der Armutsgefährdung orientierten. ({5}) Und das, lieber Matthias Zimmer, ist keine politische Festsetzung. Zweite Aufgabe für das nächste Schuljahr: Lücken müssen geschlossen werden. – Viel zu vielen Beschäftigten wird ihr verdienter Lohn vorenthalten. Wenn Arbeitgeber Kost und Logis auf den Mindestlohn ungerechtfertigt anrechnen oder Arbeitsstunden mit Gutscheinen oder Sachleistungen abgelten, dann geht das gar nicht. Das größte Einfallstor für die Umgehung des Mindestlohns ist aber die fehlende Erfassung der Arbeitszeit. Da werden die Rüstzeiten oder die Nacharbeiten nicht korrekt aufgeschrieben, da gelten die Fahrtzeiten bei Leerfahrten ohne Fahrgäste nicht als Arbeitszeit und, und, und. Im Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Fleischbranche haben wir es eindeutig geregelt: Die Arbeitszeit ist tagesaktuell elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen. – Was jetzt schon in Schlachthöfen gilt, muss möglichst schnell auch in anderen Betrieben durchgesetzt werden. Jede Arbeitsstunde zählt. ({6}) Der Plan von Hubertus Heil und Olaf Scholz für die Weiterentwicklung des Mindestlohns erstreckt sich aber nicht nur auf die Regelungen zum Mindestlohn selbst. Wir denken Mindestlohn und Sozialpartnerschaft immer zusammen. Sie sind ein Team mit einem Ziel: Respekt für gute Arbeit. ({7}) Dritte Aufgabe für das erste Schuljahr des Mindestlohns: die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes. – Aufträge, die aus Steuermitteln gezahlt werden, müssen gute Arbeit garantieren. Öffentliche Aufträge des Bundes, der Länder und der Kommunen dürfen nur noch an Auftragnehmer vergeben werden, die ihren Beschäftigten tarifvertragliche Entlohnungsbedingungen gewähren. Alle Arbeitnehmer/-innen, die bei dem öffentlichen Auftrag eingesetzt werden, sollen einen Anspruch auf diese Entlohnungsbedingungen bekommen, einen einklagbaren Anspruch auf gute Löhne. ({8}) Mit einem Vergabemindestlohn von 12 Euro wollen wir zunächst einmal dafür sorgen, dass diejenigen angemessen entlohnt werden, deren Aufträge aus Steuermitteln gezahlt werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem Bundestariftreuegesetz wollen wir endlich für faire Verhältnisse sorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Lehrplan für die weitere Entwicklung des Mindestlohns hat noch viele weitere Aspekte. Ich freue mich auf die Beratungen im Klassenzimmer – Entschuldigung: im Ausschusssaal. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartke. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise wundere ich mich über Reden der Linken eigentlich immer. Über die Rede, die Sie, Frau Ferschl, gehalten haben, habe ich mich geärgert, vor allem über einen Satz. Dass Sie der CDU/CSU-Fraktion einen verkommenen Wertekompass vorwerfen, finde ich echt unterirdisch. ({0}) Was würde man über die Linken sagen, wenn man Verfehlungen Einzelner über das Große und Ganze stellt? Liebe Frau Ferschl, das zeigt, glaube ich, auch, wie Sie denken und wie Sie ticken. Dies einer Fraktion vorzuwerfen, die über 70 Jahre dieses Land geprägt hat und es mit einem klaren Kurs und einem klaren Wertekompass gestaltet hat, das kann man, glaube ich, so nicht tun. ({1}) – Können wir lassen. ({2}) Zum Thema, meine sehr geehrten Damen und Herren. Erneut sind Anträge der Linken und Grünen zum Thema „gesetzlicher Mindestlohn“ auf der Tagesordnung. Ich habe das Gefühl: Je näher der Bundestagswahlkampf kommt, umso intensiver wird die Antragsdichte zu diesen Themen. – Das bietet aber auch uns die Chance, einmal aufzuzeigen, was in den letzten Jahren in diesem Land alles passiert ist. Ich möchte den Blick ein bisschen weiten, weg vom Mindestlohn hin zum grundsätzlichen Thema, über das wir reden, nämlich die Lohnentwicklung in diesem Land. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind ein Land, das einen der höchsten Bruttostundenlöhne im ganzen Euro-Raum hat. Wir sind ein Hochlohnland. ({3}) Der durchschnittliche Stundenlohn in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren, liegt zurzeit bei 24,78 Euro, ({4}) angestiegen seit 2007 um 29,5 Prozent. Die Zahlen, sehr geehrter Herr Birkwald, sind aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der aktuell erarbeitet wird. Wenn Sie den Textentwurf gelesen haben, dann kennen Sie die Zahlen. ({5}) Mit Ihrer klugscheißerischen Art – Entschuldigung – kommen Sie auch nicht immer weiter. Sie können die Zahlen schwarz auf weiß lesen; ({6}) ich habe mir die nämlich aus dem Bericht so aufgeschrieben. ({7}) Zur Wahrheit, meine sehr geehrten Damen und Herren, gehört auch – darüber sollten wir im Moment vielleicht mehr reden als über alles anderes –, dass durch Kurzarbeit erstmals seit 2007 der Nominallohn zurückgegangen ist. Das ist ein Thema, über das wir uns mal intensiver austauschen sollten. Denn es betrifft viele Menschen in diesem Land, gerade in den Bereichen, die durch die Coronaschließungen betroffen sind: im Beherbergungsbereich, im Luftfahrtbereich, bei den Reisebüros, bei den Gastronomen und im Einzelhandel. ({8}) Frau Ferschl, auch diese Leute verdienen Geld, und darüber müssen wir auch einmal reden. Jetzt zu Ihren Anträgen. Es ist Aufgabe der Opposition, alles schlechtzureden. Kann vielleicht sein, muss aber nicht sein. Seit Einführung des Mindestlohns, meine sehr geehrten Damen und Herren, steigen die Reallöhne im Niedriglohnbereich. 2019 profitierten knapp 2 Millionen Menschen vom Anstieg des Mindestlohns. Die Anzahl der Jobs im Mindestlohnbereich ist seit 2015 gestiegen. Peter Weiß hat gesagt: Es ist Ziel unserer Politik, dass die Menschen nicht im Mindestlohnbereich bleiben, sondern dass sie rauskommen und gute Löhne erhalten. ({9}) Zum gesetzlichen Mindestlohn, meine sehr geehrten Damen und Herren, allgemein: Das war – wir haben es heute schon öfter gehört – die richtige Entscheidung, fast von allen Fraktionen so mitgetragen. Klar ist, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben müssen, und zwar über dem Existenzminimum. Der Mechanismus, der festgelegt worden ist, mit der Mindestlohnkommission Entscheidungen zu treffen, ist auch der richtige Weg. Wir müssen uns nur die Anträge noch ein bisschen intensiver anschauen. Von den Linken und auch von den Grünen hat keiner angesprochen, was eigentlich das Ziel ist.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pascal Kober?

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das verlängert auch Ihre Redezeit.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Aumer, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. Sie sind jetzt in Ihrer zweiten Legislaturperiode hier. Insofern waren Sie während der 17. Wahlperiode noch nicht Mitglied dieses Hauses. Ich frage Sie: Haben die Kollegen Peter Weiß, Dr. Matthias Zimmer, Paul Lehrieder und andere, die damals schon dabei waren, Ihnen eigentlich berichtet, dass zum Beispiel der FDP-Landesverband Schleswig-Holstein oder der FDP-Landesverband Baden-Württemberg ein Mindestlohnmodell beschlossen hatten, noch vor der Union? Und haben Sie Ihnen berichtet, dass das Wahlprogramm der FDP 2013 auch ein Modell für einen Mindestlohn enthalten hat? ({0}) Das wollte ich im Hinblick auf zukünftige Debatten nur mal fragen, ({1}) damit zumindest dann das Protokoll über die Geschehnisse und den Ablauf der Ereignisse korrekt ist. ({2})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kober, ich war in besagter Wahlperiode auch im Deutschen Bundestag. Ich denke mal, es ist gut, wenn auch Sie das sozialpolitische Gewissen entdeckt haben. ({0}) Ja, und wenn Sie der Zeit voraus gewesen wären, dann hätten wir auch entsprechende Gesetze beschlossen; denn es gab damals eine schwarz-gelbe Regierung, die sich mit solchen Themen hätte auseinandersetzen können. Ich glaube, dass man die Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht kleinreden darf. Unsere Aufgabe muss sein, dafür zu sorgen, dass den Menschen ein Lohn zukommt, von dem sie gut leben können, aber auch die Mechanismen unserer sozialen Marktwirtschaft nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich komme zurück auf meine Einschätzung zu den Anträgen von Linken und Grünen. Das Kernziel von den Linken und den Grünen ist – Sie haben es nur nicht so formuliert; der Herr Birkwald hat es ein kleines bisschen angedeutet –: Ja, eigentlich wollen wir ja nur 12 Euro, aber 13 Euro wäre der richtige Mindestlohn. ({1}) Genau das ist der Punkt. Wir können nicht einfach sagen: Wir fangen jetzt wieder von vorne an, zwar wurde der Mindestlohn auf 12 Euro festgesetzt, aber wir machen dann 13 Euro. Denn das wäre tatsächlich die politische Einflussnahme, die wir nicht wollen. ({2}) Das andere große Ziel, das Sie in Ihren Anträgen durch die Blume aufzeigen, ist, dass man den Mindestlohn in Zukunft an das Medianeinkommen koppeln soll. Wenn Sie den Mut hätten, dann hätten wir auch darüber reden können. Das hat eigentlich keiner in den Reden wirklich angesprochen. Aus unserer Sicht ist diese Forderung nicht akzeptabel, weil wir uns genau dann von dem Ordnungsprinzip entfernen, das vorhin von den Kollegen angesprochen worden ist, also weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zu einem sozialpolitischen Prinzip. ({3}) Eine solche Lohnfindung ist in unserer sozialen Marktwirtschaft nicht die Aufgabe. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wir wollen das System beibehalten. Wir wollen eine starke Mindestlohnkommission, die frei arbeitet. Wir wollen keine Belastung des Arbeitsmarktes mit zusätzlichen Mechanismen zur Findung des Mindestlohns, wir wollen keine Aufhebung der Tarifautonomie – das ist vorhin angesprochen worden –, wir wollen, dass auch die Gewerkschaften eine Rolle spielen. Zum Schluss, meine sehr geehrten Damen und Herren: Ich bitte Sie, immer das Große und Ganze zu sehen. Wir sind in diesem Land in einer sehr schwierigen Phase. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Wir brauchen eine starke soziale Marktwirtschaft, eine starke Wirtschaft. Nur eine starke Wirtschaft kann auch gute Löhne und feste Arbeitsplätze sichern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die AfD-Fraktion wird sich bei dieser Abstimmung enthalten. Unter dem Schutz der Coronakrise versucht die Eurokratie, die EU in eine Haftungs- und Schuldenunion umzuwandeln. Dazu bricht sie EU-Recht und versucht, dies listenreich zu verbergen. Es geht um viel Geld und damit um viel Macht. Der Plan wurde bereits im Frühjahr 2020 ausgeheckt, als noch niemand den Verlauf der Coronakrise vorhersehen konnte. Am 24. März hat der Bundestag nach einer verkürzten Debatte mit großer Mehrheit dem sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss zugestimmt. Damit wird der Kommission erlaubt, „erstmals“ in der Geschichte der EU erhebliche Mittel „am Kapitalmarkt aufzunehmen“ – über 800 Milliarden Euro –, so schreibt es der Bundesrechnungshof, und großteils schenkweise an die Mitgliedstaaten zu verteilen. Und es geht um Zugriffsrechte der EU auf 4 Billionen Euro Haushaltsmittel der Mitgliedstaaten. ({0}) Dies sei nur „vorübergehend“ – gemeint sind damit die nächsten 38 Jahre. Der Bundesrat hat eilig durch Umstellung seiner Tagesordnung am 25. März die Entscheidung des Bundestages bestätigt. Man darf annehmen, dass der Herr Bundespräsident noch am darauffolgenden Wochenende die Entscheidung ausgefertigt hätte, wenn ihm nicht das Bundesverfassungsgericht auf Antrag von mehr als 2 000 Angehörigen der echten Zivilgesellschaft dies untersagt hätte. Der Kredit der EU soll für Zwecke verwendet werden, die nahezu nichts mit der Coronakrise zu tun haben. Es ist nach Aussage der EU-Kommission „das größte Konjunkturpaket aller Zeiten“ – Zitat –; man kann diesen Begriff auch abkürzen. Die Tilgung des Kredits soll ab 2028 erfolgen. Der amtierende Finanzminister hat damit also nichts mehr zu tun. Sofern andere EU-Mitgliedstaaten ihre Tilgungsleistungen nicht erbringen oder erklären, dass sie hierzu nicht imstande seien, kann die Kommission andere Staaten ersatzweise zur Leistungserbringung heranziehen – für Deutschland ein maximales Haftungsrisiko von 770 Milliarden Euro. ({1}) Wir stehen … vor der größten Weichenstellung in der Geschichte der Europäischen Union seit Einführung des Euro. Es ist … die teuerste Veränderung und … auch der größte Bruch vertraglicher Verpflichtungen. So schreibt es der angesehene Europarechtler Professor Herdegen. Er schreibt auch: Noch vor einem Jahr herrschte nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in den meisten europäischen Hauptstädten die Ansicht vor, dass die europäischen Verträge die beanspruchte Kompetenz zur Schuldenfinanzierung der EU nicht hergeben. Das Kreditaufnahmeverbot der EU wird durchbrochen. Die Budgethoheit des Bundestages wird über Jahrzehnte hinaus in unvorhersehbarer Weise eingeschränkt, Artikel 79 III. Ein Eckpfeiler der EU, das Verbot der Haftung der EU-Mitgliedstaaten untereinander, wird eingerissen, Artikel 125 AEUV. – Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Die gesamte Struktur des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU wird zum Einsturz gebracht. Dies alles sind auch Ultra-vires-Akte, welche unsere Verfassung verletzen. Aus diesem Grund hat die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag am Karsamstag eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Glaser.

Josephine Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004844, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Von der ersten Idee bis zum tatsächlichen Gesetz vergeht in der Regel viel Zeit. Eine politikwissenschaftliche Theorie verortet diese Zeitspanne bei ganzen 30 Jahren. Schneckentempo statt Turbo – davon ist insbesondere die Gleichstellung in Deutschland leider bis heute geprägt. Dabei verursacht die Ungleichbehandlung der Geschlechter immer noch extreme Diskriminierung in unserer Gesellschaft. Das nehmen meine Fraktion und ich nicht länger hin. ({0}) Mit der Errichtung der Bundesstiftung Gleichstellung werden wir Gleichstellung beschleunigen und für sie einen echten Turbo einschalten. Ich bin froh, dass wir für die Gründung der Stiftung keine 30 Jahre gebraucht haben, sondern es an dieser Stelle deutlich schneller ging. Am Anfang des Prozesses stand eine gemeinsame Idee: die Errichtung einer starken Institution, die der strukturellen Benachteiligung von Frauen eine strukturelle Antwort entgegensetzt. So haben schon früh Verbände, Initiativen, Stiftungen, Gewerkschaften und kommunale Gleichstellungsbeauftragte ihre Anforderungen und Erwartungen an unsere Stiftung formuliert und an uns herangetragen. Als Koalitionsfraktionen haben wir uns schon vor über einem Jahr auf den Weg gemacht, viel diskutiert, viel politisch verhandelt und diese Idee nach und nach mit Leben gefüllt. Vielen Dank an das Ministerium und die Ministerin – sie kommt gerade – und insbesondere an Caren Marks, Daniela Behrens und ihr Team, die diesen Weg begleitet und unterstützt haben. ({1}) Wir haben es am Ende geschafft, eine tragbare Stiftung auf die Beine zu stellen, die eine starke innere Verfasstheit hat und die durch den Haushalt für die nächsten Jahre abgesichert ist. Für uns ist klar: Das ist ein Anfang. Die Stiftung muss dann aber auch weiter anwachsen. Unsere Idee wird heute zu einem tatsächlichen Gesetz. Sie wird Wirklichkeit, und sie wird wirklich einen Mehrwert für die Gleichstellung in Deutschland bringen. Dieser Einschätzung sind auch die Sachverständigen am Montag in der Anhörung gefolgt. Diesen Mehrwert bringt uns die Stiftung durch verschiedene Ansätze. Sie wird Wissen bereitstellen und beraten, unterstützen und vernetzen, sie wird neue Impulse setzen und Gleichstellung mehr Sichtbarkeit verleihen. Dieser Vernetzungscharakter und das Bereitstellen und Bündeln von Wissen ist insbesondere für die kleinen Verbände und die Kommunen in der Fläche extrem wichtig. Das haben wir auch am Montag gehört. Wir verstehen die Stiftung auch als Bindeglied zwischen all denen, die wir für eine echte tatsächliche Gleichstellung brauchen. Das sind die politischen Entscheidungsträger/-innen, die vielen gleichstellungspolitischen Verbände, die Wissenschaft, aber auch die Wirtschaft, die letztendlich auch in hohem Maße von vollständiger Gleichstellung profitieren wird. ({2}) Ob beim jährlich stattfindenden Gleichstellungstag oder bei der Zusammenarbeit innerhalb der Stiftung: Die Stiftung wird all diese Akteure und Akteurinnen mit ihrem unterschiedlichen Wissen und Blickwinkeln zusammenbringen und den Dialog untereinander fördern. Nach diesem Prinzip haben wir auch den Aufbau und das Profil der Stiftung angelegt: Der Stiftungsrat und der ‑beirat sind zum Beispiel bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Stiftungsarbeit eng miteinander verwoben. Der Stiftungsbeirat wird eine unüberhörbare Stimme bei der inhaltlichen Ausrichtung der Stiftung sein. Das heißt zum Beispiel, es wird kein Arbeitsprogramm ohne die Einbeziehung der Expertise des Stiftungsbeirates geben. Die Stiftung wird auch eine Beratungsfunktion haben. Dabei wird sie eine Strahlkraft in die Politik entfalten. Da sind wir uns sicher. ({3}) Sie wird zentral da wirken, wo die ganzheitliche, ressortübergreifende Betrachtung und Umsetzung der Gleichstellungspolitik des Bundes stattfindet; denn sie soll unter anderem die Geschäftsstelle für die Gleichstellungsberichte und die Erarbeitung der Gleichstellungsstrategie der Bundesregierung – und die erste behandeln wir heute hier mit – übernehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Stiftung hat das Potenzial und die Kraft, langfristig den Kulturwandel für eine geschlechtergerechte Gesellschaft herbeizuführen. Ich bitte hier nochmals um breite Zustimmung, um diese wirklich sehr gute Idee gemeinsam Wirklichkeit werden zu lassen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Thomas Ehrhorn von der AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei aufeinanderfolgende Plenarwochen, zweimal dasselbe Debattenthema: Bundesstiftung Gleichstellung – heute erweitert um rot-grüne Quotenträume. Falls jemand daran denken sollte, es hätte sich seit dem letzten Mal irgendetwas geändert: Nein, ich muss Sie enttäuschen, wir sind noch immer dagegen. Für mich stellt sich allerdings eine andere Frage: Soll ich wirklich noch einmal darauf hinweisen, ({0}) dass gerade Hunderttausende von Gewerbetreibenden in unserem Land im Begriff sind, ({1}) ihre Existenzen zu verlieren, während dieser Bundesregierung offenkundig nichts Besseres einfällt, als zweistellige Millionenbeträge für feministische Ideologieprojekte aus dem Fenster zu werfen? ({2}) Soll ich wirklich noch einmal erklären, dass die im Grundgesetz garantierte Chancengleichheit nicht überall und immer automatisch zur 50-prozentigen Parität führen kann? Die Stellen bei der Müllabfuhr sind ja auch nicht mit 50-prozentiger Parität mit Frauen besetzt. ({3}) Aber ich glaube, diese Debatte führt uns hier nicht weiter. Lohnender ist es, einmal darüber zu sprechen, welches die versteckte Agenda linker Politik ist, um die es hier wirklich geht. Und auch wenn sich die heutige CDU diesen Realitäten verweigert, tatsächlich geht es um Dekonstruktion der Gesellschaft. ({4}) Es geht um gesellschaftlichen Umbau, es geht roten Ideologen und grünen Rattenfängern darum, die Bevölkerung zu täuschen, ({5}) Vertuschung der eigentlichen Absichten durch geschicktes Framing. ({6}) Meine Damen und Herren, auch ohne allzu große politische Vorbildung ({7}) sollte für jeden erkennbar sein, wie linke Politik funktioniert: Man sucht sich irgendeine gesellschaftliche Gruppe, gerne auch Minderheiten, denen man einreden kann, die böse Gesellschaft, vertreten durch den alten weißen Mann, würde ihnen ihre gottgegebenen Rechte vorenthalten. – Warum tut man das? Weil man längst erkannt hat, dass die Arbeiterklasse für marxistischen Klassenkampf nicht zu gewinnen und für Sozialismus nicht zu begeistern ist. ({8}) Deshalb sollen es nun andere sein, die den Weg in die neue Gesellschaft bahnen. Ob schwul, divers oder queer, man fordert für sie eine Ehe für alle, man fordert Inklusion für Sonderschüler, fabuliert von angeblichen strukturellen Benachteiligungen von Frauen, die man natürlich für sie abschaffen wird. Man überlegt, ob man nicht auch Leistungsverweigerern ein bedingungsloses Grundeinkommen zahlen könnte. Und wenn in den Vereinigten Staaten ein Schwarzer erschossen wird, entdeckt man über Nacht auch in der deutschen Polizei strukturellen Rassismus. Ja, und diejenigen, die nach so viel verständnisvollem Einsatz für ihre ureigenen Interessen noch immer nicht bereit sind, mitzusingen im roten Chor der Blöden, denen kann man ja immer noch einreden, dass wir übermorgen alle sterben werden, wenn nicht grüne Heilsbringer und die kleine Greta höchstselbst dafür sorgen, dass wir notfalls auch im nationalen Alleingang mit dem Autofahren aufhören und über Nacht alle unsere Kraftwerke abstellen. ({9}) Nein, meine Damen und Herren, es wird Zeit, zu begreifen, dass es nicht um Umweltschutz geht, nicht um Minderheiten, nicht um Frauenrechte, und bei der gewünschten Masseneinwanderung geht es auch nicht um Humanismus – es geht um kulturmarxistische Dekonstruktion und Spaltung der Gesellschaft, um Zerschlagung von funktionierenden Strukturen ({10}) und konservativen Werten, um auf den Trümmern die neue sozialistische Utopie aufzubauen. ({11}) Wir wünschen uns für unser Land etwas anderes. Unser Motto ist: „Deutschland. Aber normal.“ Denn wir sind die Partei der arbeitenden Menschen. Vielen Dank. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Kollege Ehrhorn von der AfD, wovor haben Sie Angst? ({0}) Wovor haben Sie Angst, wenn Sie tatsächlich die Einführung einer Gleichstellungsstiftung für mehr Gleichberechtigung von Frauen und Männern hinstellen als den Versuch der Dekonstruktion der Gesellschaft? ({1}) Also da muss wirklich viel Angst mitschwingen. Ich sage Ihnen aber: Sie brauchen keine Angst zu haben! Uns geht es mit dieser Stiftung um eines: um die Verwirklichung unseres Verfassungsauftrages. ({2}) Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Und – immer weiterlesen; lernt man schon im Jurastudium –: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Und genau darum geht es auch bei dieser Stiftung. ({3}) So steht es in unserem Grundgesetz, und das ist der Verfassungsauftrag, den wir auch als Politikerinnen und Politiker haben. ({4}) – Tatsächlich, da steht „Gleichberechtigung“. Und jetzt sagen Sie: Es ist doch alles gut, Frauen können doch Astronautinnen werden und Bundeskanzlerin, Frauen dürfen auch Vorständin werden. – Aber auf einen weiblichen Vorstand in einem börsennotierten Unternehmen kommen neun Männer, auf eine Bürgermeisterin neun männliche Bürgermeister. ({5}) Wir haben eine Rentenlücke von 45 Prozent. „Pech gehabt“, sagen Sie, „Pech gehabt; dann haben die Frauen halt nur halb so viel Rente im Alter wie die Männer – sie hätten doch die Möglichkeit, mehr zu verdienen.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, Sie haben diesen Gleichberechtigungsauftrag aus unserer Verfassung völlig falsch verstanden. Unser Auftrag ist, Strukturen zu schaffen, damit das, was im Grundgesetz auf Papier steht, auch Wirklichkeit wird; das ist unser Auftrag, und da können Sie sich gerne noch eine Lehrstunde abholen. ({6}) Und diesen Auftrag können wir auf vielerlei Art und Weise verwirklichen, zum einen durch Gesetze. Ja, das machen wir. Wir schaffen Rahmenbedingungen, damit das gelingt, etwa beim Thema „Mehr Frauen in Führungspositionen“, was wir gerade beraten, oder auch durch das Elterngeld oder beim Ausbau der Kitabetreuung. All das machen wir, um Rahmenbedingungen zu schaffen, manchmal aber auch, wie beim Führungspositionen-Gesetz, durch ganz konkrete Vorgaben.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Münz?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Volker Münz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004835, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau Kollegin Schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Kollegin Schön, ist Ihnen bekannt, dass es einen Unterschied gibt zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit? Wir leben doch in einem Land, in dem Frauen Bundeskanzlerin werden können, Verteidigungsministerin werden können. Wer hindert Frauen daran, sich zu bewerben? Wer hindert sie daran? Ich kann das nicht erkennen. Wir haben nicht in allen Fällen Ergebnisgleichheit, aber das ist auch nicht erforderlich. Im Grundgesetz steht „Gleichberechtigung“ und nicht „Gleichstellung“. Bitte nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis, dass es ein Unterschied ist und dass es auf die Chancengleichheit ankommt und nicht auf die Ergebnisgleichheit.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, da gebe ich Ihnen sogar recht. Auch wir wollen und fordern keine Ergebnisgleichheit. Aber wir fordern, dass das, was auf dem Papier steht, nämlich eine Gleichberechtigung, auch in der Realität Wirklichkeit werden kann. ({0}) Und wenn es so ist, dass tatsächlich weiterhin 90 Prozent der Führungspositionen von Männern besetzt sind, wenn es so ist, dass Frauen halb so viel Rente bekommen wie Männer, ({1}) dann haben wir offensichtlich ein Problem beim Thema Gleichberechtigung, dann müssen wir die Strukturen so ändern, dass das, was auf dem Papier steht, auch in der Wirklichkeit als Ziel erreicht wird. Deshalb brauchen wir nicht über Begrifflichkeiten zu streiten. Unser Ziel ist, dass Frauen gleiche Rechte haben und die auch durchsetzen können. ({2}) Wir können das über Gesetze machen. Aber als Union sagen wir auch: Wir wollen das nicht alles über Gesetze machen; wir glauben nicht, dass es gut ist, jedes gesellschaftliche Problem durch ein Gesetz zu lösen; wir glauben nicht, dass man alles vorschreiben, regeln und regulieren kann. Wir sind der Meinung, dass es besser ist, Vorbilder zu schaffen, voneinander zu lernen, dass es besser ist, die Probleme zu verstehen, zu schauen: Wo sind denn genau die Hindernisse, die dazu führen, dass Frauen eben nicht in die Vorstandsetagen kommen? Woran liegt es, dass die Rente so ungleich verteilt ist? Woran liegt es, dass die Bezahlungen so unterschiedlich sind? Wenn wir verstanden haben, wo die tiefer gehenden Probleme liegen, können wir auch verschiedene Lösungswege suchen. Es gibt tolle Modelle, wo man sieht, dass Kinder nicht mit Stereotypen groß werden müssen. Es gibt tolle Netzwerke, denen es gelingt, Strukturen zu ändern und aufzubrechen. Es gibt Studien, die sehr genau belegen, warum es gläserne Decken in Unternehmen gibt, und Modelle, wie man sie überwindet. Als Mutter von zwei Jungen sage ich auch: Lasst uns nicht nur von den Mädchen und Frauen reden, es geht auch um die Jungen und Männer. Auch diese leiden unter Stereotypen. Wir brauchen mehr Männer in Kitas. Und wir brauchen mehr Männer, die Kind und Karriere vereinbaren können; denn das wünschen sich Männer genauso wie Frauen. ({3}) Und mit dieser Stiftung wollen wir genau das transparent machen. Wir schaffen damit zum ersten Mal auf der Bundesebene eine Struktur, die sich wissenschaftlich fundiert Fragen der gerechten Partizipation von Frauen und Männern widmet, die sich vorhandene Konzepte anschaut und sie weiterträgt, die Kompetenzen in der Gleichstellungspolitik bündelt und es schafft, dass man voneinander lernt. Nicht alles mit Gesetzen lösen, nicht alles regulieren und regeln, sondern Vorbilder schaffen, voneinander lernen, die Kreativität unseres Landes nutzen, um die gesellschaftlichen Probleme anzugehen, das ist unsere Herangehensweise an das Thema. Wir unterstützen die Bundesstiftung Gleichstellung sehr, weil sie genau das schaffen soll. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur die bekannten Themen wie „Frauen in Führungspositionen“ und „gleiche Bezahlung“ angehen, sondern uns in dieser Stiftung auch mit den Fragen beschäftigen, welche neuen Herausforderungen auf uns zukommen, wie wir es schaffen, dass Frauen die digitale Welt von morgen mitgestalten. Das ist ein moderner Auftrag, der an diese Stiftung geht. Deshalb bin ich froh, dass wir sie heute auf den Weg bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass wir heute diese Stiftung in zweiter und dritter Lesung hoffentlich mit einer großen Mehrheit in diesem Haus beschließen werden. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Nicole Bauer von der FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute einmal wieder darüber sprechen, wie wir in Zukunft mehr Chancenverwirklichung von Frauen und Männern erreichen können. Ich freue mich auch über die Idee, auf Bundesebene eine Stelle dafür einzurichten. Allerdings möchte ich ausdrücklich sagen, dass ich diesen Meilenstein gerne viel ausführlicher mit Ihnen diskutiert hätte. Dann hätten wir die Chance gehabt, tatsächlich einen neuen Impuls für dieses Land, für unsere Gesellschaft zu setzen und einen echten Kulturwandel einzuleiten. Wir als FDP hätten uns gewünscht: mehr Kreativität und weniger Schema F; mehr Innovationskraft und weniger Selbstzweck; mehr Zukunftsvisionen und klarere Ziele statt einfach nur blind drauflos. Für uns als Freie Demokraten ist nämlich ganz klar: Wir starten bei der Grundüberzeugung. Eine geschlechtergerechte Gesellschaft ist effizienter, agiler und zukunftsfähiger. ({0}) Wir Liberale setzen auf die Vielfalt in unserer Gesellschaft, auf verschiedene Perspektiven und Talente. Wie zum Beispiel Seeyda. Sie ist gut ausgebildet, will und kann als Mutter weiterhin als Ärztin arbeiten und in der Klinik aufsteigen; denn sie teilt sich die Aufgaben mit ihrem Mann, und das ganz selbstverständlich. Oder Lena. Sie programmiert Apps, weil sie in der Schule neben den Fremdsprachen auch Coding gelernt hat. Wir haben also ein breites Wissen über erfolgreiche Frauen und darüber, dass wir gelebte Gleichberechtigung nur miteinander gestalten können. Dieses Wissen gilt es stärker zu kommunizieren und hinauszutragen in unsere Gesellschaft mit ganz neuen Narrativen. Denn wussten Sie schon, dass eine Frau die Solarenergie maßgeblich nutzbar gemacht hat? Ja, es war die Biophysikerin Maria Telkes. Oder wussten Sie, dass viele Väter gerne mehr Elternzeit nehmen würden? Ich finde das wunderbar! Deshalb machen wir es möglich, machen wir es selbstverständlich. Anerkennung statt Ausgrenzung für mehr Zeit für die Familie. Solche Vorbilder braucht unser Land! ({1}) Deutschland verschläft hier einmal mehr den Fortschritt, wenn wir nicht endlich begreifen, worauf es tatsächlich ankommt: Echte Verwicklungschancen gelingen nur mit innovativen Ansätzen. Denken wir also neu! Denken wir um! Denken wir daran, dass auch das Design einer Bundesstiftung ganz anders sein kann; denn wir leben im 21. Jahrhundert. Die Lust auf Veränderung muss sichtbar werden, meine Damen und Herren. Wie Sie schon wissen: Dazu bedarf es eines echten Innovationsinkubators für mehr Experimentierräume und Pilotprojekte, für Vernetzung und voneinander Lernen, für Signale der Transformation. Diesen Spirit, diesen Geist hätte auch der Gesetzentwurf atmen können. Dann hätten wir hier und heute auch zustimmen können. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort hat Doris Achelwilm von der Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich – auch wir als Linke sind dafür, dass Gleichstellungspolitik hier ausgebaut wird. Der vor Kurzem veröffentlichte weltweite Gender Gap Report 2021 über die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen fiel ja wieder nicht so ruhmreich aus. Deutschland hat besonders mit geschlechtergerechten Einkommen und Renten ein dickes Problem. Wenn die Bundesstiftung künftig dazu beiträgt, dass der Rückstau im Gleichstellungsbereich erfolgreich weniger wird, dann ist das gut und nötig. Aber der Weisheit letzter Schluss ist das Stiftungskonzept noch nicht. ({0}) Jahrzehntelang haben organisierte Frauen und Verbände so eine Vernetzungsstelle bei der Regierung gefordert. In anderen Ländern Europas arbeiten vergleichbare Einrichtungen teils seit den 80er-Jahren. Dass hierzulande derweil wenig passierte, damit mag die jetzige GroKo nur bedingt zu tun haben, aber sie holt Versäumtes auch kein Stück weit ein. Und dass der Beschluss zur Gleichstellungsstiftung dafür auf den letzten Metern dieser Wahlperiode besonders zackig über die Bühne gehen musste, das macht die Sache nicht besser. ({1}) Nach langem Stillstand so kurzfristig dieses Gesetz durchzuziehen, das zeitlich kaum bearbeitet werden konnte, aber eigentlich noch verbessert werden muss – das passt nur für die GroKo super zusammen. Was alles inhaltlich halbgar bleibt, dazu drei Punkte: Erstens. Die Handlungskompetenzen der Stiftung sind zu weich formuliert. Institutionen haben machtpolitische Bedeutung. Es gibt dauerhafte Ressourcen, und diese sollten nicht nur dem Frauenministerium dienstleistend zuarbeiten, sondern Einfluss nehmen, indem Gesetzesfolgen gleichstellungspolitisch bewertet und gesteuert werden. Leider sind solche Ziele nicht definiert. Zweitens sollten die Organe der Stiftung, der Rat und der Beirat, unabhängiger aufgestellt sein. Es wäre ein wichtiges Signal, dass der Stiftungsrat nicht nur aus Ministerin und Abgeordneten besteht, sondern Sachverstand aus der Praxis und Wissenschaft in seine Mitte aufnimmt. Das muss spätestens in der nächsten Legislatur nachgeholt werden. ({2}) Drittens. Das interessante Direktorium. In der Anhörung gab es scharfe Kritik, weil der Gesetzentwurf für die Stiftungsleitung eine Doppelspitze Frau-Mann vorsieht. 50:50-Parität ist hier nämlich nichts besonders Fortschrittliches, sondern eine Männerquote in einer Domäne, in der nicht zufällig viele Frauen arbeiten, sondern aus Frauenkämpfen heraus. Auf den richtigen Hinweis von Sachverständigen, dass die vorgesehene Pro-Männer-Parität nicht nur politisch falsch, sondern wohl auch verfassungswidrig ist, wurde jetzt mit einem Änderungsantrag der GroKo so reagiert, dass die Doppelspitze aus – ich zitiere – „zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts“ bestehen soll, „darunter eine Frau“. Neues aus dem Lehrbuch, wie man Frauen deckelt und eine Männerquote versteckt! Das Gleichstellungsverständnis hinter diesem Dreh lässt tief blicken. Wir hoffen, dass diese neue Stiftung besser läuft als der Weg dahin, und werden uns weiter dafür starkmachen. Vielen Dank! ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort hat Ulle Schauws von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wird, was lange währt, nun endlich gut? Nein, leider gilt dieses Sprichwort für unser heutiges Thema nicht. Jetzt, wo die so lange erwartete Bundesstiftung Gleichstellung endlich kommt, auf den letzten Koalitionsdrücker, werden Sie hektisch und beratungsresistent. Sie peitschen das Verfahren in drei Tagen durch, anstatt einer guten Idee die bestmögliche fachliche Überarbeitung zu gönnen. Bei der Anhörung am Montag haben Sie Hausaufgaben aufbekommen, und die haben Sie nicht gemacht. Die vielen Verbände sind enttäuscht; wir sind enttäuscht. Wir hätten dieser Stiftung gerne aus voller Überzeugung zugestimmt, aber, Kolleginnen und Kollegen, nach der gestrigen Ausschusssitzung sind eklatante Schwachstellen im Gesetz geblieben. Das können wir Grüne so leider wirklich nicht mittragen. ({0}) Wir wollen nicht, dass die Stiftung zum verlängerten Arm des Frauenministeriums wird, und wir wollen keine verfassungswidrige Vorgabe. Aber genau das ist trotz Ihres Änderungsantrages zur Besetzung des Direktoriums immer noch der Fall. Der Deutsche Juristinnenbund hat in der Anhörung darauf hingewiesen, dass eine Männerquote für das Direktorium verfassungswidrig ist. Quoten kann es nur für strukturell benachteiligte Gruppen geben. Das sollte das BMFSFJ eigentlich wissen. ({1}) Jetzt haben Sie die binäre Besetzung für das Direktorium aufgehoben – richtig so –, aber die faktische Männerquote bleibt immer noch eine Option. Für die Besetzung der anderen Gremien bleibt die Diskriminierung für „divers“. Ich verstehe nicht, wieso Sie das nicht besser machen. ({2}) Und das ginge wirklich leicht: Sie müssten erstens für das Direktorium vorgeben, dass dieses mindestens mit einer Frau besetzt werden muss. Das wäre nicht nur verfassungsgemäß, das wäre auch geboten. Sie müssten zweitens die Erfahrung und Expertise der Zivilgesellschaft in die Stiftung holen, und zwar in den Stiftungsrat. Die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und von Verbänden ehrenamtlich geleistete Arbeit muss entsprechend entschädigt werden. Drittens. Die Stiftung muss unabhängig, intersektional und finanziell gut ausgestattet arbeiten können. ({3}) Im europäischen Vergleich sind die meisten Gleichstellungsinstitute in Europa deutlich besser ausgestattet. Das ist mit dieser Vorgabe tatsächlich ein Armutszeugnis. Die Vorschläge sind wichtig. Sie sind vor allen Dingen auch machbar. Sie wären ein guter Start für dieses so wichtige Projekt, auf das so viele Verbände seit drei Jahren warten. Dieses Gesetz ist leider kein guter Start. Wir Grüne bedauern das außerordentlich. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Leni Breymaier von der SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Ja, mitten in der dritten Welle der Pandemie ist für die Frauen in Deutschland heute ein Tag der Freude. Wir beschließen heute die Bundesstiftung Gleichstellung. Dieses künftige Haus der Gleichstellung kann und wird unter seinem Dach Heimat der gleichstellungspolitischen Kompetenzen in Deutschland sein. In einem Zimmer soll die Gleichstellungsstrategie des Bundes einziehen. Künftige Gleichstellungsberichte können aus dem Werkraum des Hauses kommen. Das geballte Wissen zur Gleichstellungspolitik kann vom Wohnzimmer dieses Hauses aus transferiert werden, ist der Öffentlichkeit, der Politik, Gleichstellungsbeauftragten, Verbänden, Gewerkschaften und allen, die am Thema arbeiten, zugänglich. Wie hätte ich mir als Frauensekretärin meiner Gewerkschaft ein solches Haus gewünscht. ({0}) Wie hätten wir uns in den örtlichen Frauenvereinen, im Kreisfrauenrat, in Landesfrauenräten – in all den Zusammenhängen, in denen frauenpolitisch gearbeitet wird – gefreut, wenn wir ein solches Haus gehabt hätten, wo die Kompetenz gebündelt wird. ({1}) Ja, das Ziel ist die Gleichberechtigung – das hat Ihnen Frau Professorin Pfarr am Montag in der Anhörung ja fein erklärt –; Gleichstellung ist der Weg. Bei Gleichstellung geht es immer um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, und zwar ganz konkret. Es geht um das Verhältnis der Macht: Schauen wir uns die Zusammensetzung der Parlamente und Führungspositionen an. Es geht um das Verhältnis des Geldes: Schauen wir uns die Vermögensverteilung, die ungleichen Einkommen und Renten an. Es geht um das Verhältnis der Arbeit: Wen findet man in welchen Branchen, und wie werden Belastungen und Können anerkannt und bewertet? Es geht auch um das Verhältnis der Zeit: Wer arbeitet eigentlich Teilzeit, und warum sind dort die Stundenentgelte niedriger? Wer arbeitet in unbezahlter Sorgearbeit und wie viel? Macht, Geld, Arbeit und Zeit: Es geht darum, das alles – und noch viel mehr – künftig qualifiziert in einem Haus zu erfassen, Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Das ist tatsächlich, wie es der Deutsche Frauenrat formuliert, fundamental. Darum bringen wir den Gesetzentwurf heute auf den Weg. ({2}) Die Zimmer des Hauses werden von Zeit zu Zeit renoviert werden, wenn neue, andere Fragestellungen aufkommen. Die Pandemie werden wir überwinden, und wenn wir sie überwunden haben und uns umschauen, werden wir sehen, dass die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern immer noch nicht hergestellt ist. Und dann werden alle, die willig sind, denen das Thema am Herzen liegt, sich freuen, dass es diese Stiftung gibt. Mit diesem Haus, mit dieser Stiftung stärken wir alle, die sich für Gleichstellung starkmachen. Ich danke allen, die aktiv daran gearbeitet und das verhandelt haben. Ich nenne unsere Kollegin Josephine Ortleb, die Ministerin, die Staatssekretärin und Silvia Breher. Es ist einfach großartig, wie ihr das zustande gebracht habt. Vielen Dank dafür. Ich freue mich und wünsche all denen, die in der Stiftung arbeiten werden, ganz gutes Gelingen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte spricht Silvia Breher von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Bedenken, die von Ihnen geäußert wurden: Heute ist ein guter Tag; denn wir bringen, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, mit diesem Gesetz die Bundesstiftung Gleichstellung auf den Weg. Ich möchte mich bei meinen Kollegen Nadine Schön und Marcus Weinberg für die gemeinsame Arbeit bedanken, beim Ministerium und der Ministerin und natürlich auch bei den Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Danke, dass wir das so gut und einvernehmlich auf den Weg bekommen haben; dass alles so gut gelingt wie in diesem Fall, können wir weiß Gott nicht immer von uns behaupten. ({0}) Über den Gesetzentwurf haben wir in der vergangenen Sitzungswoche schon gesprochen. Deswegen, glaube ich, müssen wir heute nicht mehr über alle Inhalte sprechen. Allerdings möchte ich doch noch mal auf eines eingehen: Gleichstellung ist nicht Gleichmacherei. Gleichstellung heißt für mich und für uns nicht, dass es eine Ergebnisgleichheit gibt; das heißt es auch per Definition nicht. Die Professorin Pfarr vom Deutschen Juristinnenbund hat es in der Anhörung ausführlich erklärt: Gleichstellungspolitik ist der Weg zur Erfüllung unseres Auftrages in Artikel 3 Grundgesetz. ({1}) Sie ist der Weg zur Gleichberechtigung. Das haben wirklich alle verstanden, nur die Kollegen von der AfD nicht. ({2}) Das ist schon komisch; denn Ihr Kollege Herr Ehrhorn hat zehn Minuten lang die Professorin befragt – zehn Minuten nur zu diesem Thema –, und sie hat es Ihnen erklärt, immer wieder. Aber anscheinend verstehen Sie es nicht. Ich darf Sie kurz erinnern: Wir haben seit 2015 ein Bundesgleichstellungsgesetz. Wir haben eine gemeinsame Gleichstellungsstrategie der Bundesregierung, und wir haben deutschlandweit Gleichstellungsbeauftragte; das wissen Sie. Ein Antrag von Ihnen in der Vergangenheit bestand darin, die Position der Gleichstellungsbeauftragten auch mit einem Mann zu besetzen. Das ist dann aber auch schon alles, was Ihrer Fraktion zu diesem Thema einfällt. ({3}) Das ist schon bemerkenswert, aber eigentlich auch nicht, wenn man in Ihre Reihen guckt. Wenn ich Ihre Zwischenrufe so höre, dann denke ich manchmal: Wenn alle Menschen nur dann reden würden, wenn sie wirklich was zu sagen haben, dann würde mancher die Sprache verlieren. ({4}) Jeder in Deutschland muss die gleichen Chancen im Leben haben, gleiche Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, gleiche Chancen, sich zu verwirklichen. Aber das haben wir in Deutschland noch nicht erreicht. Männer und Frauen haben eben nicht immer die gleichen Verwirklichungschancen; das haben uns die Sachverständigen einvernehmlich alle noch einmal bestätigt. Was wünschen die Engagierten sich in diesem Bereich? Sie wünschen sich Informationen, Beratung, Vernetzung ihrer Organisationen, weil es oft ehrenamtliche Arbeit ist und sie einfach keinen Zugriff auf diese Informationen haben. Deswegen wird ein wesentlicher Baustein unserer Stiftung die Information, die Beratung und die Vernetzung der Kommunen, die Vernetzung von Bund und Ländern, aber auch von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft sein. Mir persönlich war es auch wichtig, einen besonderen Blick auf den ländlichen Raum zu richten und dort die gleichstellungspolitischen Unterschiede zwischen Stadt und Land noch mal genauer zu betrachten. Uns als Fraktion war es auch wichtig, dass wir eine schlanke, eine effiziente Stiftung bekommen und wir als Fraktionen dieses Hauses eng mit dem Stiftungsrat zusammenarbeiten werden. Die Zivilgesellschaft ist auch eingebunden, und zwar durch den Stiftungsbeirat. Dort ist genau die Schnittstelle – vom Stiftungsbeirat in den Stiftungsrat –, um die inhaltliche Arbeit mit der Zivilgesellschaft zu vernetzen. Dafür haben wir uns eingesetzt und das entsprechend aufgebaut. Dazu gibt es eben die Möglichkeit, die entsprechenden Fachbeiräte zu berufen. Auch da haben wir in der Anhörung bereits wesentliche interessante Ideen entwickelt, die zeigen, was wichtig ist, was erste Arbeitsschwerpunkte sind. Diese werden wir entsprechend auf den Weg bringen. Die Anhörung hat auch ergeben: Wir haben bereits eine gut aufgestellte Gleichstellungs- und Genderforschung in Deutschland. Es war also richtig, im Rahmen dieser Stiftung nicht einen Forschungsschwerpunkt zu setzen. Die Entwicklung der Ideen aus der Forschung heraus, die Zurverfügungstellung der Forschungsergebnisse sollen Schwerpunkte dieser Stiftung sein. Was uns – letzter Punkt – noch wichtig war: dass wir die Hoheit über die Bundesmittel hier im Parlament behalten, dass dieses Parlament über die Bundesmittel für die Stiftung immer wieder neu entscheiden wird. Am Ende darf ich noch einmal sagen: Dies ist ein guter Tag für die Gleichstellungspolitik in Deutschland – für die Frauen, aber auch für die Männer in Deutschland. Trotz aller Kritik bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Schritt und unserem wirklich guten Projekt in dieser Legislatur. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor: Ein Güterzug mit 30 000 Waggons, rund 375 Kilometer lang, rollt an Ihnen vorbei. Oder mit anderen Worten: 1,6 Millionen Tonnen. So viel versenkte Munition liegt Schätzungen zufolge auf dem Grund der Nord- und der Ostsee. Die Lage auf dem Boden unserer Meere ist alarmierend. Seit Jahren verschließen wir die Augen vor dem, was sich tief in unserer Nord- und unserer Ostsee abspielt. Wir müssen jetzt handeln, die Munition rostet vor sich hin und vergiftet bereits heute die Umwelt. Auch für Menschen bestehen Gefahren, zum Beispiel durch angeschwemmte Schadstoffe. Es gibt auch die Sorge, dass zukünftig Giftstoffe durch Fisch in unsere Nahrungskette gelangen können. Wir müssen diese ökologische Katastrophe endlich ernst nehmen. Wir haben es im wahrsten Sinne des Wortes mit einer tickenden Zeitbombe zu tun. Mit der Gefahr lässt der Bund die Länder bislang weitestgehend allein. Man hat fast den Eindruck, in Berlin gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Kampfmittelbeseitigung ist ja Ländersache. – Daher brauchen wir endlich Bewegung. Wir fordern die Regierung heute dazu auf, endlich das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. ({0}) Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, Politik ist dafür da, Probleme frühzeitig zu lösen und nicht mit viel größerem Aufwand zu reagieren, wenn es bereits zu spät ist. ({1}) Unsere Meere sind wichtige Ökosysteme, die es zu schützen gilt. Wir reden hier von einer der größten, wenn nicht sogar der größten Herausforderung, die uns in unseren Meeren in den nächsten Jahren bevorsteht. Die Aufgabe und der Aufwand sind gewaltig. Deshalb müssen wir jetzt massiv in Forschung und Organisation von Bergung und Vernichtung der Munitionsaltlasten investieren. Das sind wir nicht nur unserer Bevölkerung, nein, das sind wir auch unserer Umwelt schuldig. ({2}) Gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordern wir, eine nachhaltige Strategie zu entwickeln. Für die gute Zusammenarbeit möchte ich mich in aller Form hier herzlich bedanken. ({3}) Wir müssen jetzt alle zuständigen Ministerien mit den Ländern an einen Tisch bringen. In Kooperation mit den bestehenden Forschungseinrichtungen muss ein gemeinsamer Plan entwickelt werden. Und vor allen Dingen muss der Bund seiner finanziellen Verantwortung gerecht werden. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird uns das Problem über den Kopf wachsen. Das würde noch viel mehr Geld, aber auch die Gesundheit von Menschen kosten und das ökologische Gleichgewicht unserer Meere ins Wanken bringen. Wir verfügen jetzt schon über starke Forschungseinrichtungen an verschiedenen Standorten in ganz Norddeutschland. Mehrmals konnte ich mir ein Bild vor Ort machen. Ich bin beeindruckt von dem Einsatz unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Lassen Sie uns in einem gemeinsamen, vom Bund koordinierten Kraftakt diese Expertise verstärken. Wir müssen die Basis schaffen, um unsere Meere Stück für Stück von diesen tickenden Zeitbomben zu befreien. ({4}) Auch weltweit wird diese Expertise gefragt sein; denn Munitionsbelastung in Meeren ist kein deutsches Problem, sondern ein weltweites Phänomen. So können auch andere Staaten und vor allen Dingen die Weltmeere von deutscher Expertise profitieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einen großen Schritt für unsere Meere tun und dieses wichtige Projekt endlich gemeinsam angehen. Lassen Sie uns über alle Fraktionen hinweg ein Zeichen setzen. Es liegt an uns allen, jetzt den entscheidenden Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Nicht nur die Menschen in den Küstenregionen unseres Landes, nein, auch die Bewohner des Meeres und die Umwelt werden es uns danken. Wir freuen uns auf die zielführenden Debatten im Ausschuss. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Astrid Damerow von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 1,6 Millionen Tonnen Altmunition alleine in deutscher Nord- und Ostsee, ausgesetzt der fortschreitenden Korrosion und vor allem in der Nordsee natürlich den Gezeiten, ob als Beifang in der Fischerei, als Schadstoff aus Abbauprodukten in Fischen und Muscheln, als explosives Hindernis für den Ausbau und die Entwicklung von Häfen, Schifffahrtsrouten, Pipelines, Kabeltrassen oder Offshorewindparks oder als fälschlicherweise wie Bernstein anmutender Strandfund – Altmunitionsreste sind ein erhebliches Umweltproblem und ein leider durchaus auch schwer einzugrenzendes Sicherheitsrisiko für Mensch und nicht zuletzt auch für die Natur in unseren Meeren. Dazu kommt: Bergung und Vernichtung sind aufwendig und sehr kompliziert. Verehrte Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, die Intention und die Zielrichtung Ihres Antrages teilen wir ja durchaus; es hat ja dazu im Vorfeld schon Gespräche gegeben. Auch uns ist die Größe der Munitionsmengen vollkommen klar. Wir alle, wie Sie auch, wissen, dass die Problemlösung ein Marathon ist. Im Gegensatz zu Ihnen will ich aber darauf hinweisen, dass wir und die Bundesregierung sich schon sehr lange in diesem Marathon befinden, und das auch sehr aktiv. Die Komplexität, das immense Gefahrenpotenzial, die unabsehbaren Kosten, aber auch die Fülle an betroffenen und zuständigen Institutionen und Ressorts verlangen auch in Zukunft einen verantwortungsvollen sachlichen Umgang mit der gesamten Thematik. In Deutschland als föderalem Staat liegt die Hauptzuständigkeit im Rahmen der Gefahrenabwehr in wesentlichen Teilen bei unseren Bundesländern. Hierbei erfahren sie aber – im Gegensatz zu dem, was der Kollege der FDP gesagt hat – durchaus die Unterstützung des Bundes mit Übernahme – Stand heute – von bis zu 50 Prozent der Kosten. Aber natürlich kommt auch die Bundesregierung ihrer Verantwortung nach. Das tut sie vor allem in der Zusammenarbeit mit den Ländern: ob in der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee oder auch regelmäßig in den Konferenzen unserer Umweltminister. Die Bundesregierung fördert und unterstützt seit Jahren Forschung sowie technische und organisatorische Entwicklungen zur Erfassung und Bergung von Munitionsresten in unseren Meeren. Wir sind dabei weltweit führend. Ob im UDEMM-Projekt oder auf internationaler Ebene bei DAIMON und DAIMON 2: Der Bund trägt hierzu eine Menge bei, auch finanziell. Im Einzelfall übernimmt der Bund auch Kosten bei der Gefahrenabschätzung und bei der Kampfmittelbeseitigung, soweit der Schiffsverkehr gefährdet ist oder eigene Baumaßnahmen durchgeführt werden müssen. Zudem werden Aktivitäten der Kampfmittelräumdienste der Länder durch unsere Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung unterstützt. Man kann nun wirklich nicht sagen, dass sich der Bund bei diesem Thema vollkommen heraushält. Ebenfalls zu kurz kommt in Ihrem Antrag unserer Ansicht nach die internationale Dimension dieses Problems. Auf diplomatischem Wege war Deutschland bisher Vorreiter und wird es auch in Zukunft sein, um auch das Problembewusstsein bei den Anrainern am Leben zu erhalten, vor allem im Ostseeraum, aber durchaus auch im Nordseeraum. Ein gemeinsames Problembewusstsein wird immer die Grundlage für einen länderübergreifenden Lösungsansatz sein. Ganz aktuell hat Deutschland den Vorsitz der HELCOM, und die Munitionslast im Meer ist hier zu einem Schwerpunktthema erklärt worden. Ich möchte auch darauf hinweisen – Sie wissen das –, dass meine Fraktion und unser Koalitionspartner aktuell in der Abstimmung eines Antrages zu genau diesem Thema sind. Es gab dazu auch Gespräche mit Ihnen. Hier war der Kollege Peter Stein maßgeblicher Initiator, der hierzu nachher noch sprechen wird. Sie sehen also: Das Problem ist bei uns durchaus erkannt. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren dieses Thema ständig auf ihrer Agenda gehabt. ({0}) Diese Darstellung, das wäre nicht so, möchte ich nun wirklich zurückweisen. Aber selbstverständlich müssen wir noch mehr wissen. Die Wissenschaft schreitet voran, die technologische Entwicklung schreitet voran. Wir müssen all dies zusammenbringen. Deshalb möchte ich hier auch noch mal appellieren: Ich glaube, wir sind alle nicht so weit voneinander entfernt, was die Inhalte unserer Anträge anbelangt, ({1}) Da die Länder hier auch eine wesentliche Zuständigkeit haben und wir sehr unterschiedliche Länderregierungen haben, bin ich sehr gespannt auf die Diskussionen in unseren Ausschüssen und freue mich darauf, wenn wir Ihren Antrag und, wenn wir es hinbekommen, dann auch unseren Antrag gemeinsam in den Ausschüssen diskutieren können und damit für das Thema und im Sinne der Menschen und auch der Umwelt einen Schritt weiterkommen. Ganz herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Karsten Hilse von der AfD-Fraktion. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Es gibt keine Stunde null in der Geschichte, noch dazu in einer Geschichte, die besonders unsere vergangenen 150 Jahre europäischer Geschichte betreffen. Aus Ihrem Antrag allerdings ist ersichtlich, dass Ihnen der „Qualitätsleitfaden Offshore-Kampfmittel: Studien zu Infrastruktur und Ressourcenmanagement“ völlig unbekannt ist und ähnliche fundierte Hinweise zur Beseitigung von Kampfmittelaltlasten von Ihnen nicht gelesen und/oder fachlich nicht erfasst worden sind. Russland, wie die USA ein Spezialist für die Produktion und Beseitigung von einfachen und speziellen Kampfmitteln und Partner sowie Akteur in Europa, wird durch eine politisch gewollt hochgezüchtete Russlandphobie ins Abseits gestellt. Anstatt eigene nationale Kompetenzzentren aufzubauen, sollten Sie die Zusammenarbeit mit amerikanischen und vor allem russischen Fachleuten suchen, wenigstens bei der Munition mit chemischen Kampfstoffen, von denen zumindest für die Umwelt wahrscheinlich die größten Gefahren ausgehen. ({0}) Im Rahmen des 1997 in Kraft getretenen internationalen Chemiewaffenübereinkommens hat Russland im Gegensatz zu den Amerikanern die Vernichtung seiner eigenen Kampfgase im Jahr 2017 abgeschlossen und hat somit einen großen Erfahrungsschatz. Sie betonen selbst, dass die Zeit drängt. Deshalb sollte keine Zeit vergeudet werden, um, wie man so schön sagt, das Fahrrad nicht zweimal zu erfinden. Hier geht es vor allem um die von den Russen in den Gebieten Gotland und Bornholm versenkten deutschen Beutekampfstoffe wie Adamsit, arsenhaltige Kampfstoffe und Chlora- – Chloracetophenon in einem Umfang von circa 9 000 Tonnen. ({1}) – Ja, ist ja gut. – Im Zeitraum von 2004 bis 2012 wurden 19 Unfälle – keine Toten – mit chemischen Kampfstoffen, die Bezug auf alle Versenkungsgebiete der heute verbotenen Kampfmittel haben, gemeldet. Das ist nicht viel, aber es ist nicht nichts. Dazu kommen die Einflüsse auf Flora und Fauna, die noch nicht vollständig aufgeklärt sind. Im Übrigen hätten die Antragsteller, wenn ihnen das Thema wirklich am Herzen läge, dem Haushaltsantrag der Linken zur Finanzierung der Beseitigung von Kampfmitteln aus den Anrainermeeren zustimmen können. Aber im Gegensatz zur AfD, die grundsätzlich nach fachlicher Analyse entscheidet ({2}) und diesem Antrag im Ausschuss zustimmte, geht es bei den Magenta-Sozialisten und den grünen Kommunisten nur um Ideologie. ({3}) Bevor ich zur abschließenden Bewertung dieses Antrags komme, noch eine kurze Zwischenbemerkung für Sie. Liebe Landsleute und alle, für die Freiheit und Demokratie nicht nur hohle Phrasen sind: Mit dem Infektionsschutzgesetz vom 18. November wurde die andauernde Freiheitsberaubung und der permanente Ausnahmezustand in Gesetzesform gegossen und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung in großen Teilen ausgehebelt. ({4}) Am nächsten Mittwoch soll hier an diesem geschichtsträchtigen Ort der nächste Schlag gegen die wichtigsten Säulen unserer Demokratie erfolgen: die Gewaltenteilung und das Föderalismusprinzip. ({5}) Wenn die neuerliche Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes durchgeht, geht alle Macht nicht mehr vom Volke und seinen Vertretern aus, sondern von der Kanzlerin und ihren Helfershelfern. ({6}) Machen Sie, liebe Landsleute, Ihren Abgeordneten unmissverständlich klar, was Sie von der Quasiabschaffung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung halten. ({7}) Sie, werte Kollegen, gehen Sie in sich! Verhindern wir diesen Staatsstreich! ({8}) Nehmen wir dieses Gesetz gemäß § 20 Absatz 3 der Geschäftsordnung wieder von der Tagesordnung und werfen es dorthin, wo es hingehört, sonst werden Sie bald so wie die, über deren Altlasten wir heute sprechen, auf Selbigem landen: auf dem Müllhaufen der Geschichte. Wir freuen uns natürlich auf die Beratung zum hier eingebrachten Antrag im Ausschuss und vor allem auf das vereinbarte öffentliche Fachgespräch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich möchte es heute für den Verlauf der restlichen Sitzung nur einmal sagen müssen: dass wir nach der Geschäftsordnung, auf die Sie sich gerade bezogen haben, möglichst in der Sache zum Thema reden und zu den Themen, die Sie ansprechen wollen, dann zu dem Zeitpunkt, wo es angezeigt ist. – Vielen Dank. ({0}) Frank Schwabe von der SPD-Fraktion hat das Wort. ({1})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! 5. August 2019, 14.57 Uhr, „Ostsee-Zeitung“: „Akute Brandgefahr: Badegast findet Phosphor – Strand von Graal-Müritz geräumt“. Das liegt daran, dass das nach oben kommt, was mittlerweile seit über 70 Jahren dort in den Meeren, in der Nordsee und in der Ostsee, versenkt war. Versenkt waren auch das Wissen über das, was dort verklappt wurde, und die Debatte darüber. Ich finde, es ist das Verdienst der Umweltverbände, der Zivilgesellschaft, aber auch von Abgeordneten dieses Deutschen Bundestages, bei uns vor allen Dingen von Johann Saathoff, der gleich noch spricht, Susanne Mittag und vielen anderen, aber auch – das will ich ausdrücklich sagen – von Abgeordneten fast aller Fraktionen, die sich konstruktiv an solchen Debatten beteiligen, dass sie dieses Thema aufgeworfen haben ({0}) und nach gemeinsamen Lösungen für Deutschland suchen – für das, was uns direkt betrifft –, aber eben auch, weil nun mal Meere nicht an Landesgrenzen haltmachen, Impulse für die internationale Debatte im Rahmen der HELCOM – das betrifft die Ostseeanrainerstaaten – und der OSPAR – das betrifft die Nordseeanrainerstaaten – gesetzt und die Debatte konstruktiv vorangebracht haben. Es waren die Kollegen Peter Stein und Johannes Schraps, die im Rahmen von OSPAR insbesondere darauf Wert gelegt haben, dass wir diese Debatte wirklich übergreifend führen. Wir haben ja auch entsprechende Veranstaltungen gehabt und Diskussionen dazu länderübergreifend geführt. Wir reden in der Tat über 1,6 Millionen Tonnen Munitionsaltlasten. Es ist gerade schon ein Vergleich genannt worden; man könnte es, um mal eine Vorstellung davon zu haben, auch mit dem Gewicht des Eiffelturms vergleichen: Das wären 158 Eiffeltürme. Es geht um Altlasten, die insbesondere von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in der Nord- und Ostsee verklappt worden sind, vermeintlich auf Nimmerwiedersehen. Aber es war nicht auf Nimmerwiedersehen, sondern wir sehen das Ganze wieder, und zwar nicht nur wegen der Gefahr von Verbrennungen am Strand, sondern auch wegen der Explosionsgefahr und dadurch, dass TNT-Sprengstoff freigesetzt wird, der giftig ist, der krebserregend ist, der erbgutverändernd ist. Wir reden über chemische Stoffe, die freigesetzt werden können und als Klumpen zum Beispiel in Fischernetzen hängen bleiben können. Das sind chemische Kampfstoffe, Hautkampfstoffe, Nervenkampfstoffe, Lungenkampfstoffe und arsenhaltige Verbindungen. Das macht schon so ein bisschen die Dramatik deutlich. Deswegen werden diese Kampfmittel nicht weitere 70 Jahre da unten in Nord- und Ostsee bleiben, jedenfalls nicht, ohne dass wir uns diesem Thema umfassend widmen. Wir haben heute schon eine ganze Reihe von toxikologischen Studien. Wir sehen, welche Auswirkungen das Ganze auf die Meeresumwelt hat. Wir beobachten in manchen Bereichen eine gesteigerte Zahl von Fischtumoren. Es besteht eben die große Gefahr, dass das Ganze in die Nahrungskette gelangt und damit am Ende auch auf den Tisch von Menschen, von Konsumentinnen und Konsumenten. Das Ganze ist ein kompliziertes Thema. Es ist nicht trivial, das Ganze zu heben, gerade auch in dieser Größenordnung; aber es ist möglich, dieses Problem anzugehen. Das ist auch bei einer gemeinsamen Veranstaltung und in vielen gemeinsamen Diskussionen, die wir dazu hatten, deutlich geworden. Wir haben Kapazitäten, wir haben deutsche Unternehmen, die in dem Bereich unterwegs sind, die am Ende helfen können, die Munition zu heben. In der Tat ist es dann auch eine gute Gelegenheit, mit gutem Beispiel voranzugehen und am Ende die Unternehmen in die Situation zu versetzen, dass sie in anderen Teilen der Welt helfen können. ({1}) Wir können es also heben, wir können sprengen, und wir können das Ganze entsorgen. Wir alle fordern gemeinsam – es wäre auch gut, wenn wir das hier fraktionsübergreifend durch Beschlüsse deutlich machen könnten –, dass wir weiterhin aufklären, dass wir forschen, dass wir – ganz wichtig – am Ende auch Übereinkünfte zwischen dem Bund und den Ländern hinsichtlich der Kosten des Hebens und des Entsorgens erzielen und dass wir die internationale Kooperation weiter vorantreiben. Es ist ein ernstes Thema; aber es ist ein Thema, bei dem wir Umwelt, Wirtschaft und Unternehmen zusammendenken und zusammenbringen können, und es ist etwas, was wir fraktionsübergreifend auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, das kann uns auch gemeinsam ein bisschen stolz machen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort hat Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In den deutschen Nord- und Ostseegebieten liegen, wie schon gehört, 1,6 Millionen Tonnen Minen, Sprengstoffe und auch Giftgase. Durch Korrosion gelangen Spreng-, Brand- und Giftstoffe in die Meere, in Hering, Dorsch, Miesmuschel oder Krabben. Mit jedem Jahr wird die Bergung schwerer. Es wachsen die Gefahren für Umwelt, Wirtschaft, Tourismus und Fischerei. Bei Peenemünde auf Usedom liegen in der Ostsee noch 10 000 Spreng-, Brand- und Phosphorbomben, die bei den Bombardierungen 1943 ihr Ziel verfehlten. An den Usedomer Stränden gab es durch weißen Phosphor – sieht aus wie Bernstein – allein in den letzten zehn Jahren sieben Schwerverletzte mit Phosphorverbrennungen. Nach Kriegsende ließen die Alliierten Bomben, Munition und Giftgasgranaten im Meer versenken. Verlegte Seeminen außerhalb von Schifffahrtslinien blieben oft intakt. Notwendig wäre, die gefährlichen Kriegsüberreste schnell zu bergen und zu beseitigen. ({0}) Aber dies scheitert oft an der Frage: Wer soll bezahlen? Der Bund zahlt bei ehemals deutschen Bomben und Waffen. Sind es alliierte, also britische, amerikanische oder sowjetische, Kriegsüberreste, müssen die betroffenen Bundesländer ran. Deutschland hat die verbrecherischen Kriege verursacht. Für Die Linke muss die Bundesrepublik Deutschland deshalb für alle Folgen haften. ({1}) Die Linke fordert seit Jahren einen Entsorgungsfonds für alle Kriegsaltlasten, den der Bund jährlich mit mindestens 50 Millionen Euro ausstatten soll. Jetzt fordert auch die FDP zusammen mit den Grünen, dieses Problem anzugehen. Aber beim Lesen des Antrages beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Der FDP geht es in vielen Punkten um ein attraktives neues Geschäftsfeld für die Wirtschaft. ({2}) Mit Fördermitteln sollen Forschung und Bereitstellung von Technik und Technologien zur Beseitigung dieser militärischen Altlasten unterstützt werden, ({3}) als zukünftiger Exportschlager für die deutsche Industrie. Kolleginnen und Kollegen, da Sie aber ein Verbot von Waffenexporten ablehnen, entstände ein makabrer Wirtschaftskreislauf: ({4}) Deutschland verkauft Waffen und Munition in alle Welt und liefert später die Technik und das Know-how für die Beseitigung. ({5}) Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher: So weit haben Sie nicht gedacht. – Die Lösung des Altlastenproblems ist uns wichtiger als Ihre Motivation. Auch Die Linke will diese Altlasten schleunigst beseitigen. ({6}) Treten wir also gemeinsam dafür ein, dass der Bund entsprechende Forschung finanziert und sich an Bergung und Vernichtung der Altmunition beteiligt, egal ob die Granaten, Minen oder Bomben aus alliierten oder deutschen Beständen stammen. ({7}) Und als Vorsorge gegen noch mehr Waffenentsorgung im Meer schlagen wir vor: Abrüstung und den Stopp aller Waffenexporte. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Steffi Lemke von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1,6 Millionen Tonnen Munitionsaltlasten – die Zahl ist mehrfach genannt worden – plus 5 000 Tonnen chemische Substanzen, die noch hinzuzurechnen sind – das ist eine für die wenigsten von uns wirklich plastisch vorstellbare Menge. Das ist auch der Hauptgrund, warum die Bundesländer, die Anrainerstaaten dieses Problem definitiv nicht alleine bewältigen können. Die schiere Menge ist so groß – wenn wir das aufgrund ihrer formalen Zuständigkeit allein bei den Bundesländern belassen, wird es in der erforderlichen Zeit keine Problemlösung geben. Und die Zeit ist eben nicht unendlich; denn durch die Zersetzung der Kampfmittel – die Gezeiten sind genannt worden, Korrosion ist genannt worden – existiert eine sehr bedrohliche Situation für die Ostsee, für die Nordsee, und wir reden hier im Moment nur über die deutschen Gewässer. Deshalb muss schnell gehandelt werden, es muss unideologisch gehandelt werden, es muss an einer praktischen Lösung orientiert gehandelt werden, und die Länder brauchen die Unterstützung des Bundes. Wir hatten im letzten Jahr dazu ein parlamentarisches Frühstück; die Kollegen, die dabei gewesen sind, werden sich noch erinnern. Einer der anwesenden Unternehmer, der sich mit der Räumung dieser Kampfmittel beschäftigte, sagte: Tolle Sache, dass ihr Abgeordneten das hier gemacht habt, aber es wird wieder nichts passieren; so geht das schon seit 20 Jahren. – Das will ich nicht als Endpunkt in dieser Legislaturperiode für dieses Thema stehen lassen. Deshalb bin ich dem Kollegen in der Beek sehr dankbar, dass wir – FDP und Grüne arbeiten ja jetzt nicht jeden Tag zusammen – diesen gemeinsamen Antrag machen konnten. Wir hatten uns um einen interfraktionellen bemüht, gemeinsam mit der Koalition. Das ist an der Union gescheitert. Aber deshalb, Frau Damerow, habe ich in der Tat die Erwartungshaltung, dass es, wenn Sie jetzt als Koalition einen eigenen Antrag vorlegen, zu substanziellen Weichenstellungen kommt, damit endlich mehr als bisher praktisch gehandelt wird. Es wird zu wenig geborgen, und es ist nach wie vor zu wenig kartiert. Aber das Hauptproblem ist, dass im Moment nicht praktisch herausgeholt wird und sich das Zeitfenster dafür schließt. Deshalb haben wir einen Antrag mit einem umfassenden Forderungskatalog vorgelegt; ich kann ihn hier aufgrund der knappen Redezeit nicht vortragen. Aber das Wichtigste ist, zwischen Bund und Ländern eine gemeinsame Strategie zur praktischen Räumung zu entwickeln, dafür auch das Prozessmanagement der Länder zu unterstützen und in die finanzielle Mitverantwortung zu gehen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Christoph Hoffmann?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank für die Ausführungen. Sie haben ja gerade eben kritisiert, dass bisher nichts passiert.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu wenig!

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Würden Sie mir zustimmen, dass vielleicht die bisherige Beteiligung des Bundes in finanzieller und organisatorischer Hinsicht viel zu gering war, um das Problem wirklich zu lösen? Denn für die Bundesländer, wie Sie sagen, wäre es ja ein Riesenbrocken. Und es ist völlig klar, dass ich mich mit Blick auf meinen Landeshaushalt nicht freiwillig in eine solche Sache hineinstürze. Also, da müsste doch eigentlich ein bisschen mehr vom Bund kommen als die bisherigen 50 Prozent, oder?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da gebe ich Ihnen recht, lieber Kollege, und stimme Ihnen voll und ganz zu. Ich will nicht sagen, dass nichts passiert ist. Damit würden wir ja die Anstrengungen der Bundesländer und auch die zu geringen Anstrengungen des Bundes negieren, und das will ich nicht tun. Aber angesichts der schieren Menge und des sich schließenden Zeitfensters ist es definitiv zu wenig. Wir können nicht sagen: Für Kampfmittelbeseitigung sind halt nun mal die Länder zuständig. – Wir reden über 1,6 Millionen Tonnen, und wir reden hier auch nicht über da mal einen Blindgänger, dort eine nicht hochgegangene Granate oder Bombe, sondern wir reden über die Versenkungsgebiete in den deutschen Meeren, wo, um damals die Truppen schnell zu entwaffnen, diese Substanzen, diese Granaten und Bomben, in rauen Mengen, in enormer Vielfalt versenkt worden sind. Niemand weiß genau, wo was liegt, außer in einzelnen Gebieten, die unter anderem GEOMAR inzwischen kartiert hat, sodass wir diese Kenntnisse haben. Aber das ist nicht das, was normalerweise ein Landeskampfmittelbeseitigungsdienst macht. Deshalb erwarte ich gemeinsam mit Ihrer Fraktion, dass der Bund stärker in die Mitverantwortung geht. Das wird definitiv eine Aufgabe für die nächste Bundesregierung sein, wer auch immer diese dann stellen wird. Aber wir dürfen Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen damit nicht länger alleine lassen. ({0}) – Und Niedersachsen. – Das dürfen wir in der Tat nicht weiter zulassen; deshalb unser gemeinsamer Antrag. ({1}) Ich will auch nicht, dass das, was im Sommer 2019 geschehen ist, als der Bund ja gehandelt hat – ich muss das jetzt zynischerweise als Handeln beschreiben –, als die Bundeswehr im Rahmen eines NATO-Manövers Munition unter dem vorgeschobenen Argument der Sicherung von Schifffahrtsrouten gesprengt hat, unter dem Bruch von Naturschutzrecht und mit der Folge einer Vielzahl von toten Schweinswalen, wieder geschieht. Das sagt sich so dahin; aber für den Schweinswal hat Deutschland eine besondere Schutzverantwortung. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die Bundesregierung, dass die Bundeswehr, dass die Marine einen besseren Beitrag zur Bergung dieser Munitionsaltlasten leisten kann, als dort wider das Naturschutzrecht zu sprengen, mit katastrophalen Folgen für den Naturschutz. Deshalb lassen Sie uns das gerne fraktionsübergreifend gemeinsam weiter konstruktiv anpacken und die nächste Bundesregierung – wie gesagt, wer auch immer sie stellen wird – bei diesem Thema weitertreiben, damit etwas passiert. Danke. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Peter Stein von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin auch Mitglied der Ostseeparlamentarierkonferenz und dort seit November 2019 Berichterstatter für Munitionsaltlasten. Ich danke an dieser Stelle meinem SPD-Kollegen Johannes Schraps ganz herzlich für die kollegiale und, so möchte ich sagen, freundschaftliche Unterstützung meiner Arbeit. Es ist mir gelungen, im August 2020 einen national und international beachteten Zwischenbericht der Ostseeparlamentarierkonferenz vorzulegen. Damit ist eine neue politische Dynamik ausgelöst worden, worüber wir, glaube ich, sehr froh sein können. Wir befinden uns aktuell kurz vor der Einbringung eines umfassenden Koalitionsantrages, an dem intensiv gearbeitet wurde. Wir haben eine thematische Besetzung während der Nationalen Maritimen Konferenz geplant. Das Europaparlament befasst sich aktiv mit dem Thema, und letztlich werde ich im August meinen Abschlussbericht der Ostseeparlamentarierkonferenz vorlegen. Ich freue mich darüber, liebe Kollegen von den Grünen und der FDP, dass ich sehr viele meiner Gedanken und Positionen aus dem Zwischenbericht in Ihrem Antrag wiederfinde. Offenbar hat Sie das motiviert – spät, aber nicht zu spät –, mit in diese Thematik einzusteigen; ({0}) denn jahrelang steckte man fest. Insbesondere die Verteilung der Zuständigkeiten und der Finanzierung der nationalen Maßnahmen zwischen Bund und Ländern führte bisher nicht zu einer der bedrohlichen Situation angemessenen Abarbeitung des Problems. Zwar haben die Bund-Länder-Arbeitsgruppen immer wieder Beschlüsse gefasst und Vorschläge unterbreitet, aber umgesetzt oder politisch weitergetragen wurde zu wenig. ({1}) Richtig ist dabei: Der Bund hat nicht alles an sich zu ziehen, aber er hat stärker als bisher zu organisieren. ({2}) Denn angesichts der gewaltigen Mengen an Munitionsaltlasten ist das Problem in unseren nordeuropäischen Meeren nicht nur national oder regional zu lösen, nein, es hat eine internationale, eine europäische Dimension. Und es ist auch bei Weitem nicht nur ein umweltpolitisches Thema. Es betrifft auch die Bereiche der militärischen Zuständigkeiten, der maritimen Wirtschaft wie beispielsweise der Fischerei, des Tourismus oder die Offshore-Wirtschaft und die Schifffahrt. Es ist ein Thema der Innen- und der Außenpolitik, und es braucht den kompletten Baukasten von Forschung und Entwicklung. Wir haben gerade in den letzten drei Jahren einen erheblichen Wissensschub erfahren. Wir wissen um die Gefahren, die von Giftstoffen wie Senfgas oder TNT ausgehen. Wir kennen die Dimension der notwendigen Finanzierungen, und das geht natürlich über die Möglichkeiten einzelner Bundesländer hinaus. Da brauchen wir ein Finanzierungspaket, das eine faire Aufteilung beinhaltet, und es sollte auch die Europäische Union mit ins Boot. Und spätestens hier stoßen wir an Grenzen des national Machbaren; denn beispielsweise das, was im Bornholmer Becken liegt, haben nicht die Dänen da hineingeschmissen. Baltische Staaten leiden unter erheblichen Belastungen, die auch auf sowjetische Hinterlassenschaften zurückzuführen sind. Auch nach dem Weltkrieg wurde belastendes Material entsorgt: von Alliierten, von der NVA, der Roten Armee und anderen. Dazu kommen versenkte Schiffe und die Vermüllungen der Neuzeit. Das Wissen, das heute vorhanden ist, resultiert nicht zuletzt aus Auswertungen militärischer Daten. Ich wiederhole daher hier und heute das, was ich bereits bei der Vorstellung des Zwischenberichts in der Ostseeparlamentarierkonferenz gefordert habe: Ich bitte die russischen Freunde dringend um Auswertung ihrer Kriegs- und Nachkriegsdokumentationen und um das Zur-Verfügung-Stellen der Ergebnisse im Dienste der Wissenschaft und der gemeinsamen Sache, insbesondere in der Ostsee. Das Problem kann nur international gelöst werden. Aber wir müssen eigene Schritte einleiten und an der Spitze der internationalen Lösungen stehen. (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: So viele Berichte! Ich schlage daher seit Längerem neben der Startfinanzierung über einen freiwilligen Geberfonds in Höhe von 500 Millionen Euro unter dem Dach der HELCOM die Initiierung eines Pilotprojektes vor, mit dem Munition auf hoher See geborgen und unschädlich gemacht werden kann. Die maritimen Technologien gibt es bereits; wir müssen sie zur Anwendung bringen. Dadurch wird sich für die maritime Wirtschaft und unsere Forscher und Entwickler ein neuer Geschäftsbereich ergeben; denn weltweit gibt es zahlreiche Munitionsversenkungsgebiete. Fürs Erste haben wir vor unserer eigenen Haustür, vor unserer eigenen Küste, jedoch genug zu tun. Wir wissen, dass wir jetzt endlich in größerem Maßstab anfangen müssen, wir wissen, dass das viel Geld kosten wird. Daher macht es sehr viel Sinn, die damit verbundene Wertschöpfung nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist selbstverständlich in der kurzen, direkten Betrachtung ein Umweltthema. Aber gelöst kriegen wir es nur, indem wir die Entsorgung des Mülls in einem maritim-industriellen Maßstab hochskalieren und damit schneller, sicherer, nachhaltiger und kostengünstiger machen. Und ich wundere mich sehr, dass dies nicht viel deutlicher zur Zielrichtung der FDP geworden ist und dieser Antrag jetzt im Umweltausschuss beraten wird. ({3}) Aber wir können uns sowohl im Umweltausschuss als auch nach der Einbringung unseres Antrages in anderen Ausschüssen auf eine interessante Befassung freuen. Und ich freue mich über die gemeinsame Zielstellung, die wir ja eigentlich haben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir auch bei einer gemeinsamen Zeitschiene landen können. Das sehen wir, wenn wir die abschließenden Beratungen der Anträge hier in diesem Parlament hinter uns gebracht haben. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Johann Saathoff von der SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, ich bin froh, dass wir heute über dieses wichtige Thema sprechen und wir aller Voraussicht nach nicht nur heute, sondern wahrscheinlich in kurzer Zeit erneut eine Debatte dazu haben werden, hoffentlich wieder zu prominenter Zeit und nicht irgendwann in der Nacht, wie wir es schon mal gemacht haben. ({0}) Wir wollen alle miteinander keine giftigen Stoffe im Meer haben, keine giftigen Stoffe in der Nordsee und in der Ostsee. Und es gibt Handlungsbedarf; das dürfen wir feststellen. Dieser ist definitiv vorhanden. Und wir tragen eine gewisse Verantwortung, eine Verantwortung, die vielleicht in den letzten Dekaden in Deutschland auch nicht wahrgenommen worden ist. Wir sind in einer Situation – das will ich ganz deutlich sagen –, in der dieses Zuständigkeitskleinklein zwischen Bund und Land von den Bürgerinnen und Bürgern einfach nicht mehr nachvollzogen werden kann. Dagegen müssen wir arbeiten. ({1}) Es ist auch so, dass man das Handeln nach dem Motto „Liegen lassen ist billiger oder besser“ einfach niemandem erklären kann. Wir müssen uns mit dieser Sache auseinandersetzen. ({2}) Meine Heimat ist Ostfriesland. Ostfriesland ist geprägt von Küste, Inseln, Wattenmeer, von einem hohen Schutzstatus, also Nationalparkstatus. Es ist – zumindest teilweise – Biosphärenreservat. Dazu kommen noch viele andere Schutzstatus. Aber gleichzeitig liegen über 1 Million Tonnen Munitionsaltlasten im Wattenmeer herum; mein Kollege Frank Schwabe hat eindrücklich darauf hingewiesen. Es ist aus meiner Sicht schon interessant, zuzusehen, wenn Munitionsaltlasten gesprengt werden. Ich habe selber in Borkum gesehen, was für ein riesiger Explosionspilz dabei entsteht. Aber das sollten wir vermeiden. So darf man Munitionsaltlasten nicht beseitigen. ({3}) Wir müssen einen anderen Weg finden, zum Beispiel über schwimmende Entsorgungsplattformen. Es gibt eine starke Verunsicherung der Menschen an der Küste, und zwar nicht nur der Gäste, sondern auch der Einheimischen. Wenn man sich etwa freut, ein Stück Bernstein gefunden zu haben, dann ist man gut beraten, das erst mal auf den trockenen Strand zu werfen. Denn wenn Phosphor trocken wird, fängt es an zu brennen. Das sollte besser nicht in der eigenen Tasche passieren, sondern am besten auf dem Strand. Natürlich ist auch die Fischerei davon betroffen, die ein wichtiger Wirtschaftszweig für uns ist. Der Antrag der Grünen und der FDP enthält wirklich gute Ansätze. Was mir besonders gefällt, ist der Ansatz, eine umfassende Strategie für die vollständige Beseitigung zu entwickeln und nicht nur die Beseitigung an Stellen, wo gerade eine Kabeltrasse oder Schifffahrtswege betroffen sind. ({4}) Eventuell muss man bei der Finanzierung darüber nachdenken, ob die Beseitigung von Munitionsaltlasten nicht auch ein Teil der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ ist. Dabei ist allerdings wichtig, dass wir den Mittelansatz für den eigentlichen Küstenschutz dann erhöhen. Vordringlich könnte man meinen, es geht um Meeresschutz. Aber es geht auch um Industriepolitik; ganz klar. Es gibt erste Konzepte von Industrie und Wissenschaft. Global ist ja leider die Beseitigung von Munition in Meeren tatsächlich auch ein Markt. Der Bund sollte aus meiner Sicht helfen und Industriepolitik und Naturschutz miteinander verbinden, zum Beispiel über eine Bund-Länder-Stiftung, zum Beispiel über eine Bundesanstalt. In Ostfriesland würde man sagen: „Keen Schiet un Strunt up Meeresgrund“, oder – wie ich anfangs schon sagte –: Wir wollen keine giftigen Stoffe im Meer haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, auch für die Übersetzung. – Ich schließe die Aussprache.

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrte Damen! Meine Herren! Heute beraten wir abschließend den Entwurf eines Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir vor allem Vorschriften im Medizinprodukte- EU-Anpassungsgesetz vom 28. April 2020 an die Verschiebung des Geltungsbeginns der EU-Medizinprodukte-Verordnung vom 26. Mai 2020 nachvollziehen. Das ist zugegebenermaßen eine sehr spröde Materie. Meine Damen und Herren, aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde der Geltungsbeginn dieser Verordnung kurzfristig um ein Jahr auf den 26. Mai 2021 verschoben. Die damalige Initiative fand ausdrückliche Zustimmung und Unterstützung in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Darüber hinaus haben wir spezielle Regelungen zur Marktüberwachung von Medizinprodukten im Fernabsatz sowie zur Risikobewertung von Medizinprodukten, die im Eigentum von Patientinnen und Patienten stehen, in diesen Gesetzentwurf mit aufgenommen. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz gleichen wir die Regelungen aus dem Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetz für die beiden EU-Verordnungen zur Zulassung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika an nationales Recht an. Damit werden hohe Standards für die Qualität und Sicherheit von Medizinprodukten und ein hohes Maß an Sicherheit und Gesundheitsschutz für Patientinnen und Patienten in allen Mitgliedstaaten erreicht. Medizinprodukte sollen die Gesundheit der Patientinnen und Patienten verbessern. Wer in Deutschland beispielsweise eine Insulinpumpe oder einen Herzschrittmacher erhält, muss sich darauf verlassen können, dass das Risiko ihres Einsatzes so gering wie nur möglich ist. Meine Damen und Herren, insgesamt müssen mehr als 500 000 Produkte nach der sogenannten MDR-Richtlinie neu zertifiziert werden. Wer sich mit diesem komplexen Markt beschäftigt, musste und muss erkennen, dass sich die Umsetzung nach wie vor als ausgesprochen holprig erweist. Nicht nur müssen mehr Medizinprodukte aus allen Risikoklassen ein bestimmtes, strengeres Zulassungsverfahren durchlaufen; auch die Benannten Stellen benötigen eine neue Akkreditierung. Stand heute stehen für diese wichtigen Zulassungsverfahren nur 20 Benannte Stellen zur Verfügung. Es sollen einmal 40 werden. Diese Situation wird nahezu zwangsläufig dazu führen, auch andere Wege zu beschreiten. Daher wird es im Interesse der Patientengesundheit zukünftig notwendig, dass die zuständigen Bundesoberbehörden wesentlich häufiger als bisher Sonderzulassungen erteilen. Es ist insbesondere bei Medizinprodukten für seltene Erkrankungen mit einer erhöhten Anzahl von Anträgen auf Sonderzulassungen zu rechnen. Sonderzulassungen zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung können und sollen auch genutzt werden. Meine Damen und Herren, auch die deutsche Gesundheitswirtschaft im Bereich der Medizinprodukte steht vor einer nicht zu unterschätzenden Herausforderung. Die gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung des BMWi zeigt, dass im Jahr 2019 mit circa 370 Milliarden Euro rund 12 Prozent der Bruttowertschöpfung durch die Gesundheitswirtschaft generiert wurden. 2019 betrug die Summe deutscher Exporte allein im Bereich der Medizintechnik circa 131 Milliarden Euro. 93 Prozent – das sind Zahlen aus dem Jahr 2017 – der deutschen Hersteller sind kleine oder mittelständische Unternehmen. Auf diese Situation werden die beiden EU-Verordnungen zur Zulassung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika direkte, nachhaltige Auswirkungen haben. Dass wir mit diesem Gesetz und dem gesetzten Rechtsrahmen die Rechtssicherheit für alle Betroffenen wie auch für die Hersteller schaffen, halte ich für eine entscheidende Zielrichtung, die insbesondere und nachhaltig Arbeitsplätze sichert. Meine Damen und Herren, den Benannten Stellen fällt nach der derzeitigen Regelung unter anderem die Aufgabe zu, die technische Dokumentation sowie das Produkt selbst zu prüfen und das Qualitätsmanagementsystem zu überwachen. Bisher nicht in den Aufgabenbereich der Benannten Stellen fällt die Aufgabe, bestimmte Gesundheitseinrichtungen sowie externe Aufbereiter zu zertifizieren und zu überwachen, und zwar die Einrichtungen, die die Aufbereitungen von Medizinprodukten und Einmalprodukten durchführen. Über einen umgesetzten Änderungsantrag stellen wir nunmehr klar, dass künftig diese Benannten Stellen auch für solche Zertifizierungen zuständig sind. Meine Damen und Herren, besonders hervorheben möchte ich die Änderung des § 72 dieses Gesetzes. Insbesondere bei implantierbaren Produkten sind die für eine Risikobewertung notwendigen Untersuchungen in der Regel nicht zerstörungsfrei möglich. Produkte, die im Eigentum von Patientinnen und Patienten stehen, können deshalb zukünftig nur mit vorheriger Einwilligung an den Hersteller oder die zuständige Bundesoberbehörde für derartige zerstörende Untersuchungen übergeben werden. Vorher ist über die möglichen rechtlichen Folgen einer zerstörenden Untersuchung des Medizinproduktes aufzuklären. Die Aufklärung und Einholung der Einwilligung obliegen dem Hersteller oder der zuständigen Bundesoberbehörde, die auf das Eigentum zugreifen wollen. Für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen sind vor zerstörenden Untersuchungen entsprechende Fotodokumentationen im Sinne einer Beweissicherung zu erstellen. Diese müssen den Patientinnen und Patienten im Anschluss zur Verfügung gestellt werden. Das ist ein großer Schritt hin zu mehr Patientensicherheit in diesem Bereich. ({0}) Meine Damen und Herren, die Änderung des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes wird mehr Sicherheit für Patientinnen und Patienten bringen, hohe Standards der Qualität sichern, Rechtssicherheit für kleine und mittelständische Unternehmen und einen fairen Wettbewerb mit den Krankenkassen für die Leistungserbringer für Hilfsmittel ermöglichen. Ich werbe um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Die Anträge von FDP und Grünen lehnen wir ab. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Robby Schlund von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Der Schutz der Risikogruppen steht für uns – das haben wir hier schon mehrfach deutlich gemacht – an allererster Stelle. Das ist das Alpha und Omega und natürlich die Mutter aller Fragen im Pandemiemanagement. Aber nicht nur dort, sondern auch im Medizinprodukterecht geht es vor allem auch um die älteren Menschen unter uns, die geschützt sein müssen. Deshalb müsste man dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition sogar zustimmen, da viele kluge Regelungen eingearbeitet wurden, ebenso zusätzliche Änderungen, die zu einer weiteren Verbesserung der Versorgung und Anwendungssicherheit beitragen werden. Dennoch gibt es Defizite, die bei der öffentlichen Anhörung im März dieses Jahres deutlich benannt, aber leider nicht korrigiert wurden. So lässt der Entwurf bei der Umsetzbarkeit und leider auch der Patientensicherheit Fragen offen, wo es um die Einwilligung beim direkten Patientenkontakt geht oder um Fälle, wo es wegen der Zuständigkeit verschiedener Landesbehörden zu unterschiedlichen Auffassungen kommen könnte. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Kommen wir nun zum Antrag der FDP. Hier wird in der Tat ein wirkungsvoller Schutz der Risikogruppen gefordert, um aus den Einschränkungen der Grundrechte herauszukommen. Ein wichtiger Ansatz ist auch der geforderte Bürokratieabbau unter Nutzung der heutigen technischen Möglichkeiten. In der geforderten Präventions- und Teststrategie erkennen wir letztendlich die Forderung unserer Fraktion aus dem Februar 2020 wieder. Reichlich spät, liebe FDP, aber dennoch besser als gar nicht. ({0}) Doch dann, meine Damen und Herren, wird es holprig. Die FDP-Teststrategie der Selbst- und Schnelltests sowie der besonderen Schulung wird nicht klar herausgearbeitet und ist daher auch, ehrlich gesagt, nicht richtig erkennbar. Deshalb enthalten wir uns auch hier. Zum Antrag der Grünen ist insgesamt eigentlich nicht mehr viel zu sagen, da er sich – ein Erguss der grenzenlosen Begeisterung für Schnell- und Selbsttests – nach der öffentlichen Anhörung von Experten de facto selbst erledigt hatte. Zum Beispiel äußern sich die Deutsche Gesellschaft für Public Health, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und auch die Virologin Professor Protzer eher sehr kritisch zu diesem Antrag. Neben einem Mangel an Effekten für die Pandemiekontrolle und Problemen durch konzeptionelle Datenverzerrung insbesondere bei Tests von symptomlosen Personen können diese Tests aufgrund von schlechter Sensitivität und Spezifität nicht an die PCR-Testungen heranreichen. ({1}) Nach all dem ist es eher verwunderlich und erstaunlich, dass Sie diesen Antrag nicht zurückgezogen haben. Nichtsdestotrotz vertrauen wir, die AfD, eher den Meinungen der Experten als Ihnen und lehnen demzufolge diesen überflüssigen Antrag ab. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Martina Stamm-Fibich von der SPD-Fraktion. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es noch mal – der Kollege Monstadt hat es schon erwähnt –: Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes – ein wunderbarer Titel, den man sich noch mal auf der Zunge zergehen lassen kann. Damit nehmen wir die Anpassungen vor, die durch die Verschiebung des Anwendungsstarts der Medical Device Regulation notwendig geworden ist. Durch den Gesetzentwurf werden einige wichtige Übergangsvorschriften der jetzigen Situation angepasst. Darüber hinaus schärfen wir die Regelungen zu Meldeverpflichtungen von Prüfern gegenüber den Sponsoren von klinischen Prüfungen und konkretisieren die Verfahrensregelung für die Risikobewertung von Medizinprodukten, die sich im Eigentum der Patientinnen und Patienten befinden. So dürfen explantierte Medizinprodukte nur noch dann von den Herstellen analysiert werden, wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten dazu ihr Einverständnis geben. Vor der Einholung der Einwilligung müssen die Patientinnen und Patienten zudem über die möglichen rechtlichen Folgen einer zerstörenden Untersuchung des Medizinprodukts aufgeklärt werden. Bisher kam es immer wieder vor, dass potenziell fehlerhafte Medizinprodukte ohne Einverständniserklärung der Patientinnen und Patienten nach der Entfernung im Rahmen einer Risikobewertung zerstörend untersucht oder verworfen worden sind. Damit war es den Betroffenen praktisch unmöglich, potenzielle Fehler am Produkt nachzuweisen. Dieser Nachweis ist aber wichtig, wenn die Betroffenen ihre Ansprüche etwa vor Gericht durchsetzen wollen. Durch die Neuregelung geben wir den Betroffenen also endlich die tatsächliche Hoheit über die Medizinprodukte, die sich in ihrem Eigentum befinden. Die Sicherung der Eigentumsrechte stellt einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Patientenrechte in Deutschland dar. ({0}) Weiterhin regeln wir mit dem Gesetz die Zuständigkeiten für die Marktüberwachung von im Internet angebotenen Medizinprodukten aus Drittstaaten. Die neue Zuständigkeitsregelung soll eine Lücke schließen für diejenigen Fälle, in denen kein Hersteller oder Bevollmächtigter in der Europäischen Union vorhanden ist, sondern vielmehr ein Produkt aus Drittstaaten im Fernabsatz angeboten wird. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein wichtiger Beitrag zur Risikoabwehr und zum Schutz der Patientinnen und Patienten in Deutschland. ({1}) Insgesamt zielt der Gesetzentwurf darauf ab, einen reibungslosen, funktionierenden Binnenmarkt für Medizinprodukte zu schaffen und die Etablierung von hohen Standards für die Qualität und Sicherheit von Medizinprodukten zu gewährleisten. Ich denke, es ist unstrittig, dass wir diesem Ziel heute einen großen Schritt näher kommen. Neben dem Gesetzentwurf beraten wir heute auch noch zwei Oppositionsanträge zum Thema Coronateststrategie. Seit der Veröffentlichung dieser beiden Anträge im Januar hat sich bereits vieles getan. In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Koalition Maßnahmen ergriffen, um das Potenzial der Antigenschnelltests für die Bekämpfung der Pandemie nutzbar zu machen. So hat das BfArM bereits 31 Antigenschnelltests zur Selbstanwendung zugelassen. Seit dem 8. März übernehmen wir zudem beispielsweise die Kosten für die regelmäßigen Testungen von Bürgerinnen und Bürgern mit dem sogenannten Point-of-Care-Antigentest. ({2}) Dieser Bürgertest ist eine wichtige Maßnahme zur Eindämmung der pandemischen Lage. Darüber hinaus finanziert die GKV Antigenschnelltests für Mitarbeiter sowie für die Besucher in stationären und ambulanten medizinischen Einrichtungen sowie in der Pflege. Um das Infektionsrisiko in den Schulen zu senken, fordert die SPD in den laufenden Beratungen zum Vierten Bevölkerungsschutzgesetz die Einführung einer allgemeinen Testpflicht für Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig wollen wir alle Unternehmen zu einem regulären Coronatestangebot für ihre Beschäftigten verpflichten. ({3}) Was die Beschaffung der Schnelltests angeht, sehen wir aktuell keine Probleme. Die Bundesregierung hat sich für das Jahr 2021 knapp über 1,1 Milliarden Testkits gesichert. Daneben können Schnelltests auch unmittelbar auf dem Markt bestellt werden, um den Bedarf zu decken. – Aus den genannten Gründen werden wir beide Anträge ablehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der schwierigen Situation, in der wir alle sind, sollten wir alle dafür werben, dass wir aus dieser schwierigen Lage kommen. Ich glaube, an den Tests liegt es nicht mehr. Ich glaube, dass das Impfen wirklich gut Fahrt aufnimmt. Ich wünsche uns, dass wir diese schwierige Zeit, die wir vor uns haben, alle miteinander gut überstehen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Wieland Schinnenburg von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht unter diesem Tagesordnungspunkt um zwei Dinge – das wurde hier schon gesagt –: zum einen um einen Gesetzentwurf zum Medizinprodukterecht und zum anderen um die Schnelltests. Zum Gesetzentwurf ist zu sagen: Es geht in der Tat in erster Linie um eine Anpassung deutscher Gesetzesvorschriften infolge der Verschiebung des Inkrafttretens der Medizinprodukte-Verordnung. Das ist im Grunde genommen richtig. Die Verschiebung war richtig, und die Anpassung ist ebenfalls richtig. Allerdings ist es so – das muss ich den Kollegen von der Koalition deutlich ins Stammbuch schreiben –, dass die Anhörung ergeben hat, dass bei Ihren Vorschlägen an zwei Punkten Nachbesserungsbedarf besteht, den Sie leider nicht erfüllt haben: Der erste Punkt betrifft die Verfahrensordnung bei Medizinprodukten, die auf mögliche Risiken geprüft werden sollen und im Eigentum des Patienten stehen. Die Vorschriften, die Sie dazu vorgesehen haben, wurden in der Anhörung sehr stark kritisiert. Der zweite Punkt, der ebenfalls kritisiert wurde, betraf die Frage, welche Behörde für die Überwachung des Marktangebots von Medizinprodukten aus Drittstaaten im Internet zuständig ist. Hier sehen Sie eine Überwachung durch die Länder vor. Wir und auch viele Experten hätten es vorgezogen, wenn es eine bundeseinheitliche Regelung gegeben hätte. Diese beiden Punkte haben Sie leider nicht aufgenommen; deshalb können wir uns zu dem Gesetzentwurf, obwohl er an sich in die richtige Richtung geht, leider nur enthalten. Nun zum Antrag der FDP-Fraktion. Hier wurde gesagt: Na ja, der ist von Januar, also schon ein bisschen her. – Leider ist es so, dass unser Antrag immer noch hochaktuell ist. Es gibt nach wie vor dringenden Handlungsbedarf bei der Teststrategie. Darum ist der allergrößte Teil der Forderungen in unserem Antrag weiter dringend erforderlich. Lassen Sie mich vier Punkte erwähnen: Da sind zunächst einmal die Gesundheitsämter. Es kann doch nicht sein, dass nach einem Jahr Pandemie immer noch gesagt wird: Für das Wochenende und für Feiertage haben wir nicht so sichere Daten; das geht irgendwie nicht. – Meine Damen und Herren, das ist unerträglich. Wir als FDP-Fraktion fordern 24/7-Dienst der Gesundheitsämter und der Labore sowie die bundesweit flächendeckende Einführung und Nutzung der Systeme DEMIS und SORMAS; sonst geht hier gar nichts, meine Damen und Herren. ({0}) Der zweite Punkt: die Sequenzierung. Ja, die wird bei über 10 Prozent der Proben durchgeführt; es wird aber nur auf die bereits bekannten Mutationen getestet. Mindestens genauso wichtig ist, auch danach zu suchen, ob es neue Mutationen gibt, die vielleicht künftig Handlungsbedarf herbeiführen. Darum fordern wir, dass auch danach gesucht wird und dass Proben von Geimpften und bereits Genesenen ebenfalls wenigstens ab und zu einer sequenzierenden Untersuchung unterzogen werden. Auch da besteht weiter dringender Handlungsbedarf. Der dritte Punkt betrifft – schöner Begriff – die Taskforce Testlogistik. Das ist ein hochtrabender Begriff für ein teures und ineffizientes Kaffeekränzchen von zwei Ministern. Wir haben die Bundesregierung gefragt: Die Bundesregierung weiß nicht einmal, welcher Bedarf bei den Bundesbehörden besteht. Wer nicht einmal das weiß, hat noch einiges zu tun. Auch da besteht Nachbesserungsbedarf. Der vierte Punkt. Herr Minister Spahn – wir hatten das Thema gestern hier in der Fragestunde; da waren Sie nicht dabei –, es wurde wieder zugegeben, dass eben nicht gesichert ist, dass 1 Milliarde Tests zur Verfügung stehen. Sie haben nur ein Memorandum ohne jede Verbindlichkeit beschlossen. Es ist nicht gesichert, dass wir 1 Milliarde Schnelltests bekommen. Auch hier besteht dringender Nachbesserungsbedarf. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Antrag der FDP-Fraktion ist nach wie vor hochaktuell. Ich bitte um Zustimmung. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Harald Weinberg von der Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Medizinprodukte begleitet uns – mich – schon seit einer ganzen Weile und ist ein weites Feld: Es reicht von einfachen Verbandsmitteln über Schutzausrüstungen und Schutzmasken, die ja auch hier im Haus schon für einige Aufregung gesorgt haben, ({0}) bis hin zu komplizierten und invasiven Medizinprodukten wie Herzschrittmachern, Implantaten oder künstlichen Gelenken usw. usf. Weil es eine solche breite Palette gibt, sind Medizinprodukte in entsprechende Risikoklassen eingeteilt. Die Zulassung dieser Produkte muss genauen Regeln folgen, und die Überwachung der Anwendung hat hohe Priorität. Für Die Linke steht in dieser Diskussion immer die Sicherheit der Patientinnen und Patienten an erste Stelle. ({1}) Der vorliegende Gesetzentwurf – wir haben es jetzt schon ein paarmal gehört – dient vor allem dazu, die Übergangsvorschriften des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes an die Verschiebung des Geltungsbeginns der neuen Medizinprodukte-Verordnung anzupassen und die Fristen entsprechend um ein Jahr zu verschieben. Die Regelungen vollziehen europäische Entwicklungen nach und führen an einigen Stellen sinnvolle Präzisierungen ein. So weit, so technisch; so weit, so gut. Es hätte an dieser Stelle aber die Gelegenheit gegeben, das Gesetz zu nutzen, um die vielen Baustellen, die es im Medizinprodukterecht noch gibt, anzupacken. Da haben wir aber in der gesamten Diskussion um die Nutzen-Risiko-Bewertung vor allen Dingen von Medizinprodukten höherer Risikoklassen in der EU erlebt, dass die Bundesregierung eher auf der Bremse als auf dem Gas steht. Eine Zulassung durch eine Behörde vergleichbar der FDA in den Vereinigten Staaten gibt es nicht, nicht einmal für Hochrisikoprodukte. Stattdessen werden benannte Stellen – das ist auch schon angesprochen worden – mit der Überwachung beauftragt. In Deutschland sind das nach wie vor überwiegend Privatunternehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte müssen Risikoereignisse bei Medizinprodukten gemeldet werden. Und da zeigt sich, über was für eine wachsende Dimension wir eigentlich reden: In 2008 gab es rund 4 800 solcher Meldungen, in 2017 waren es über 14 000 solcher Meldungen. Die Zahl hat sich mehr als verdreifacht. Das unterstreicht deutlich, wie dringend mehr Sorgfalt bei der Zulassung und eine Überprüfung der Anwendungen geboten sind. ({2}) Vielen ist noch der Skandal um die Brustimplantate in Erinnerung, die mit Industriesilikon befüllt waren und auch nicht dicht hielten. Das war ein bewusst krimineller Akt eines Herstellers, der allerdings auch das unzureichende Zulassungs- und Überwachungssystem ausnutzen konnte. Das hat damals den Anstoß gegeben für eine Neufassung der Medizinprodukte-Verordnung auf EU-Ebene. Mit der besonders herstellerfreundlichen Haltung der Bundesregierung blieb diese Verordnung allerdings hinter dem Notwendigen zurück. Vor zehn Jahren kommentierte der damalige Leiter der Device Section der FDA, Dr. Shuren, die niedrigen Marktzugangsvoraussetzungen für Hochrisikomedizinprodukte in der EU ziemlich zynisch: Wir benutzen US-Bürger nicht als Versuchskaninchen. – Inzwischen hat sich da etwas verbessert, aber aus unserer Sicht bei Weitem nicht genug, um der Sicherheit der Patientinnen und Patienten den Rang zu geben, der ihr gebührt. Hier hätte es die Chance gegeben, mehr als eine einfache Anpassung vorzunehmen. Sie wurde jedoch nicht genutzt oder konnte nicht genutzt werden; das weiß ich nicht. Es kann ja auch sein, dass die Koalitionäre da im Streit waren; keine Ahnung. Deshalb können wir uns an dieser Stelle allerdings nur enthalten. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort hat Kordula Schulz-Asche von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf mit dem etwas sperrigen Namen „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes und weiterer Gesetze“ wird endlich – wie auch europaweit – die Patientensicherheit verbessert. Es ist eine überfällige Reaktion auf die sogenannten Brustimplantatskandale und andere Skandale. Unter den Folgen dieser Brustimplantatskandale leiden immer noch sehr viele Frauen, auch hier in Deutschland. Dieser Gesetzentwurf ist ein gutes Beispiel dafür, wie notwendig die Europäische Union gerade für die Patientensicherheit ist. ({0}) Auch wenn wir noch Verbesserungsbedarf sehen, insbesondere eine verpflichtende Haftpflicht für Anwender, Betreiber und Hersteller von Medizinprodukten, und auch bei den zertifizierten Benannten Stellen noch viel Luft nach oben ist, werden wir Grüne diesem Gesetzentwurf heute zustimmen. In der aktuellen Coronapandemie mit den eskalierenden Infektionszahlen, mit den vollen Intensivbetten, mit den ewigen Lockdown-Schleifen ist es dringend notwendig, Antigenschnelltests natürlich nicht als einziges, aber als wichtiges strategisches Werkzeug in die Pandemiebekämpfung zu integrieren. Es geht derzeit – derzeit! – nicht um das Motto „Teste dich frei!“, sondern um mehr Sicherheit für alle. Antigenschnelltests sind kein Allheilmittel, aber regelmäßig – mehrfach wöchentlich – und flächendeckend eingesetzt ermöglichen sie, Infektionsherde frühzeitig aufzuspüren und Infektionsketten rechtzeitig zu unterbrechen. Für eine erfolgreiche Teststrategie braucht es unter anderem eine Testpflicht für Arbeitnehmer/-innen und Unternehmer bei Präsenzarbeit, eine Testpflicht in Schulen und Kitas, eine Senkung der Preise für die frei verkäuflichen Tests und fortlaufende Informations- und Mobilisierungskampagnen; denn wir müssen die Menschen beim Testen mitnehmen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sind in einer sehr ernsten Situation; dessen müssen wir uns wirklich bewusst sein. Wir werden alle Mittel nutzen müssen: vom Testen über das Impfen, über verbesserte Aufklärungskampagnen bis hin zur Unterstützung der vielen Menschen, die seit einem Jahr unter dieser Pandemie leiden, wie wir übrigens auch. Wir wissen, worüber wir reden; aber wir wissen auch, dass es Menschen in diesem Land gibt, denen es noch bei Weitem schlechter geht als uns. Wir als Bundestag haben die Aufgabe und die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass wir alle wieder zu einem guten, gemeinsamen Leben zurückkommen können. Dazu trägt die Testpflicht bei. Dazu tragen aber auch wir alle hier durch die weitere Einhaltung der AHA-Regeln und vor allem auch durch gute Gesetze bei, die den Rahmen dafür schaffen, wieder mehr Freiheiten und eine bessere Pandemiebekämpfung zu ermöglichen. ({2}) Wir müssen jetzt handeln – das ist das Entscheidende –, und wir müssen alle zusammen handeln. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Stephan Pilsinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre von den Kolleginnen und Kollegen der FDP immer wieder, man könne jetzt mit Hygiene- und Testkonzepten öffnen und Lockerungen ermöglichen. In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen heute ganz ehrlich sagen: Was Sie in dieser Woche mit Ihrer Blockade des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes abliefern, ({0}) ist wirklich ein Armutszeugnis und verzögert mutwillig die dringend notwendige und sogar von Ihnen geforderte Kontrolle des Bundestags über die Coronaschutzmaßnahmen. ({1}) Meine Damen und Herren, diese Verzögerung – da machen wir uns nichts vor – wird Menschenleben kosten! ({2}) Aber zurück zu den Anträgen. Ja, gezielte Schnelltests sind ein gutes und wichtiges Instrument in der Pandemiebekämpfung, aber sie sind auch ungenau, erst recht bei asymptomatischen Patienten. Bei entsprechend niedrigen Inzidenzzahlen können wir gerne noch mal über das Testen sprechen. Aber in dieser Phase der Pandemie ständig darüber zu diskutieren, verunsichert die Menschen. ({3}) Was wir jetzt brauchen, sind einzig und allein absolut konsequente Kontaktbeschränkungen. Ich betone noch einmal: Die neue Virusvariante ist weitaus ansteckender als der bisherige Wildtyp. Das haben auch neue Studien im „Lancet“ bestätigt. Aktuell infizieren sich jede Woche knapp 122 000 Menschen mit dem Coronavirus, über 90 Prozent davon mit der ansteckenderen Variante. Selbst mit einer konservativ gerechneten Hospitalisierungsrate von 11 Prozent sind das über 13 000 Schwerstkranke wöchentlich. Ich kann an dieser Stelle nur ausdrücklich davor warnen, die aktuelle Situation zu unterschätzen. Wir haben es mit einer ganz neuen Pandemie zu tun, einer Pandemie mit einem deutlich ansteckenderen und damit deutlich gefährlicheren Virus. Die Auswirkungen spüren vor allem die Kliniken. Viele Intensivstationen arbeiten am absoluten Kapazitätslimit. Die Patienten werden jünger. Die durchschnittliche Liegedauer hat sich im Gegensatz zum Frühjahr und Winter noch einmal deutlich verlängert, und zwar nicht nur weil, die neue Virusvariante gefährlicher ist als die bisherige, sondern schlicht und einfach, weil die jüngeren Menschen den Kampf gegen das Virus vielleicht erst nach zwei statt schon nach einer Woche verlieren. Die Situation ist dramatisch. Da machen wir uns nichts vor. Manche Parteien im Deutschen Bundestag machen immer noch konsequent Stimmung gegen den Lockdown. Ich halte ihn für unausweichlich. Und nein, meine Damen und Herren, Schnelltests helfen den Menschen, die jetzt erkranken, aktuell nichts. Einzig und allein mithilfe von strikten Kontaktbeschränkungen und einem massiven Herunterfahren der Mobilität können wir die Lage jetzt noch einigermaßen unter Kontrolle bekommen. Schauen Sie doch einfach mal zu unseren Nachbarn nach Österreich; das Land haben Sie in den vergangenen Debatten doch immer wieder als Musterbeispiel in Sachen Schnelltests und Öffnungen herangezogen. Die 7-Tage-Inzidenz lag hier Ende März bereits bei über 250 und hat die Regierung angesichts überfüllter Intensivstationen zum Handeln gezwungen. Das sollte uns ein mahnendes Beispiel sein! Öffnungen sind aktuell völlig fehl am Platz, auch mit regelmäßigen Schnelltestungen. ({4}) Zum Abschluss möchte ich noch mal allen Beteiligten danken, die an den Beratungen zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung mitgewirkt haben. Aus meiner Sicht war die Verschiebung des Inkrafttretens der MDR vom Mai 2020 auf Mai 2021 absolut notwendig. Das waren wir den Medizinprodukteherstellern schuldig, die uns in dieser Pandemie stets zur Seite gestanden haben. Mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf werden die noch ausstehenden Anpassungen in allen betroffenen Gesetzen vorgenommen. Aus diesem Grund bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute kann man wirklich mit einem Lächeln unter der Mund-Nase-Bedeckung hier vorne ans Rednerpult gehen; denn wir werden heute das Gesetz zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten und die Umsetzung der europäischen Covered-Bonds-Richtlinie in nationales Recht beschließen. Das ist, glaube ich, ein Lächeln wert. Damit mir am Ende meiner Rede dafür nicht wieder die Zeit davonläuft, der Dank dieses Mal gleich zu Beginn: Er gilt den zahlreichen Sachverständigen, die in den beiden Anhörungen wichtige Aspekte angesprochen haben; zum Teil konnten wir die in den Beratungen für die Gesetze noch mitberücksichtigen. Und ich möchte mich sehr herzlich für die wirklich gute und ausgesprochen faire und sehr zielgerichtete Zusammenarbeit im parlamentarischen Prozess bedanken: beim BMF mit Frau Staatssekretärin Ryglewski und dem gesamten Mitarbeiterinnenstab, insbesondere bei meinem Berichterstatterkollegen Sepp Müller aus der Unionsfraktion, aber auch bei den Berichterstattern der Opposition für das konstruktive Miteinander und natürlich auch bei den zuständigen Fraktionsreferenten; denn nur so war es möglich, beide Gesetze in wirklich sehr kurzer Zeit in den Berichterstattergesprächen zum Abschluss zu bringen. Dafür ganz herzlichen Dank! ({0}) Kommen wir nun zu den eigentlichen Gesetzen. Bei beiden setzen wir europäische Richtlinien in nationales Recht um. Beim ersten Gesetz geht es um die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten; die war bei uns bisher im Kreditwesengesetz geregelt. Die Regelungen des KWG wurden jedoch insbesondere den Geschäftsmodellen kleiner und mittlerer Wertpapierinstitute nicht gerecht, und sie waren vor allen Dingen auch nicht speziell auf die unterschiedlichen Risikoprofile der Wertpapierinstitute ausgelegt. Die Risiken von Wertpapierinstituten unterscheiden sich deutlich von denen, die beispielsweise Kreditinstitute eingehen; denn anders als Kreditinstitute nehmen sie keine Einlagen entgegen und haben auch kein Portfolio an Privatkunden- oder Unternehmenskrediten. Dieser Unterschied soll daher im Aufsichtsrahmen klarer zum Ausdruck kommen, und dafür schaffen wir mit dem Gesetz nun ein spezifisches Aufsichtssystem. ({1}) Damit bewahren wir nicht nur die allgemeine Finanzstabilität, sondern wir gewährleisten vor allem eine passende Beaufsichtigung, insbesondere für die etwa 720 kleinen und mittleren Wertpapierinstitute in Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Das zweite Gesetz ist das CBD-Umsetzungsgesetz, die Umsetzung der Covered Bonds Directive in deutsches Recht. Bislang existierten in den EU-Mitgliedstaaten zahlreiche unterschiedlich ausgestaltete Regelungen über sogenannte Covered Bonds, also über gedeckte Schuldverschreibungen, die durch Deckungswerte wie zum Beispiel Grundpfandrechte oder auch durch öffentliche Anleihen besichert sind. Viele dieser Produkte, wie zum Beispiel der deutsche Pfandbrief, verfügen mindestens über eine jahrzehntelange, manche sprechen sogar von einer Jahrhunderte alten Tradition, in jedem Fall eine lange und stabile Tradition. Bei aller Stabilität und Tradition in diesem Instrument hat die Unterschiedlichkeit der Regeln bisher eine grenzüberschreitende Vermarktung von gedeckten Schuldverschreibungen stark verhindert. Durch die Richtlinie und ihre nationale Umsetzung werden die Anforderungen an Pfandbriefe jetzt in zentralen Punkten europäisch harmonisiert, und das erleichtert dann natürlich auch den grenzüberschreitenden Vertrieb von Pfandbriefen. Zusätzlich wird mit dem Gesetz nun auch in Deutschland die Möglichkeit einer gesetzlichen Fälligkeitsverschiebung bei der Abwicklung von Deckungswerten eingeführt. Das heißt, im Falle einer Insolvenz einer Pfandbriefbank können Fälligkeiten von Verbindlichkeiten in Zukunft um maximal zwölf Monate nach hinten geschoben werden. Dadurch kann die Liquidität bei der Verwertung des Deckungsvermögens, das hinter den Pfandbriefen steht, deutlich leichter gewährleistet werden. ({2}) Um auch der digitalen Entwicklung Rechnung zu tragen, heben wir mit dem Gesetz auch das bisherige Schriftformerfordernis für elektronisch geführte Deckungsregister auf. Wir ermöglichen stattdessen eine elektronische Zustimmung des Treuhänders – zahlreiche Fortschritte also, die eine Zustimmung zum Gesetz leicht machen sollten, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Die Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht klingt immer nach einer kleinen Stellschraube, weil durch die europäischen Richtlinien natürlich schon ein Rahmen vorgegeben ist. Das sollten wir an dieser Stelle aber nicht unterschätzen; denn neben diesen beschriebenen praktischen Umsetzungsvorteilen, die ich eben schon aufgeführt habe, wird mit den Richtlinien zugleich die Kapitalmarktunion weiter vertieft. Das zeigt aus unserer Sicht genau in die richtige Richtung. ({3}) Neben der Kapitalmarktunion, der Vollendung der Bankenunion, stehen wir als SPD zusätzlich auch für eine mutige Planung einer echten europäischen Fiskalunion, ({4}) die wir in den kommenden Jahren auch weiter vorantreiben wollen. ({5}) Eine krisenfeste EU muss fiskalpolitisch handlungsfähig sein. Nur dann kommen wir in Europa zu mehr Resilienz in Krisenzeiten und somit letztlich auch zu mehr europäischer Einheit. Ich werbe um Zustimmung für die Gesetze und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Stefan Keuter von der AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Der Deutsche Bundestag darf wie so häufig EU-Richtlinien in nationales Recht einarbeiten. Ich halte diese Art der Gesetzgebung für problematisch, und ich sage Ihnen auch gerne, warum. Die EU-Bürokraten diktieren uns generell in ihren Richtlinien und Verordnungen, was wir hier mit relativ wenig Ermessensspielraum umzusetzen haben. Eine offene Debatte über die richtigen Lösungen, die richtigen Formulierungen findet auf nationaler Ebene gar nicht mehr statt. Dabei ist es doch im Sinne der Väter unseres Grundgesetzes, dass gerade auch in Deutschland Entscheidungsfindungen demokratisch mit entsprechender Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden sollen. ({0}) Zum ersten Thema. Die EU möchte die Wertpapierinstitute, also Maklerfirmen und andere Wertpapierdienstleister, nach EU-einheitlichen Kriterien beaufsichtigen und kontrollieren. Brauchen wir das? Ich sage Ihnen: Nein, das brauchen wir nicht! Die EU macht Vorgaben zur Geschäftsorganisation und zu Anzeigepflichten; die EU macht Vorschriften zu internen Unternehmensführungen; die EU macht Vorschriften zur Vergütungspolitik, mischt sich also in die Gehaltsstrukturen der Wertpapierfirmen ein. Brauchen wir das? Ich sage Ihnen: Nein, das brauchen wir nicht! Nach der öffentlichen Anhörung hier im Bundestag waren die Beamten des Bundesfinanzministeriums sehr fleißig und haben ihre teils erheblichen Erkenntnisgewinne noch in sieben sogenannte Umdrucke eingearbeitet. Auch wenn hier der Versuch unternommen wird, den Grund der bürokratischen Gängelung etwas zu differenzieren, nach Größe und Geschäftsmodell, so sehen wir doch erheblichen bürokratischen Mehraufwand auf die Institute zukommen. Einen größeren Mehrwert für die Kunden können wir im Gegenzug nicht erkennen. Das zweite Thema betrifft unsere deutschen Pfandbriefe mit ihrer inzwischen 252-jährigen Geschichte: ein absolutes deutsches Qualitätsprodukt am Kapitalmarkt, insbesondere international und bei institutionellen Anlegern geschätzt. Viele Länder Europas haben versucht, die Pfandbriefe zu kopieren; oft versucht, nie erreicht, könnte man sagen. Das Standing und der Nimbus des deutschen Pfandbriefs sind unerreichbar. Das erkennt man insbesondere, wenn man sich die Refinanzierungskonditionen anschaut. Der Vorteil am Kapitalmarkt, insbesondere bei Liquiditätseinständen bei der Immobilienfinanzierung in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit, ist unerreicht. Der Verband deutscher Pfandbriefbanken zeigte sich in der Anhörung stolz, dass man deutsche Standards auf europäische Wettbewerber übertragen konnte. ({1}) Das mag ja vielleicht im Sinne, Herr de Maizière, dieses Verbandes liegen, seinen Einfluss auf Europa auszuweiten – am deutschen Wesen soll die Welt genesen –; aber ich sage Ihnen: Ich sehe vielmehr die Gefahr, dass dieser deutsche Wettbewerbsvorteil zugunsten der europäischen, ausländischen Anbieter zunichtegemacht wird. Alles, was Deutschland stark macht, wird von der EU geschliffen, so auch hier. Der Pfandbrief wird zu einer europäisch gedeckten Schuldverschreibung. Das deutsche Premiumprodukt darf sich wenigstens noch mit dem Zusatz „Premium“ schmücken. Jetzt soll in den Anlagebedingungen festgeschrieben werden, dass Pfandbriefe im Insolvenzfall der Pfandbriefbank erst verspätet zurückgezahlt werden sollen. Dies mag zunächst logisch erscheinen, führt aber im Kern dazu, dass eine verspätete Rückzahlung immer noch als fristgerecht gilt; das wird in den Emissionsbedingungen so festgeschrieben. Ich fürchte, dass das dem Grundvertrauen in den Pfandbrief schadet. Die strittigen Themen der Gebäudeversicherungen und der Erleichterung der elektronischen Deckungsregisterführung wurden nachgebessert. Vor dem Hintergrund der Verpflichtung der Umsetzung der EU-Richtlinie führt eine Ablehnung zu größerem Schaden. Deshalb werden wir uns zu beiden Gesetzentwürfen enthalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Sepp Müller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Es ist ein kleiner Schritt hin zu den beiden jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen, und es ist ein großer Schritt für die Kapitalmarktunion. Warum brauchen wir die Kapitalmarktunion? Die Kapitalmarktunion – das unterscheidet uns von der Union vom Vorredner von Rechtsaußen – vollendet das, was mit dem Schengenraum auf den Weg gebracht wurde: weg von den Grenzen innerhalb der Europäischen Union beim freien Warenwirtschaftsverkehr, weg von den Grenzen im Finanzverkehr! Es müssen gleiche Spielregeln innerhalb Europas gelten, nicht nur im Wirtschaftsraum, sondern auch im Finanzraum, und dafür legen wir heute den Grundstein. ({0}) Wenn der Vorredner kritisiert, dass wir deutsche Premiumprodukte demnächst auf europäischer Ebene auch „Premium“ nennen, dann läuft etwas schief. Der Fraktionsvorsitzende von Rechtsaußen bezieht sich immer wieder auf Friedrich den Großen. Dieser war es, der den deutschen Pfandbrief auf den Weg gebracht hat. ({1}) Wenn wir den deutschen Pfandbrief jetzt europäisieren und den Premium-Zusatz dazugeben, dann ist das nicht nur gut für Deutschland, nein, das ist gut für die Europäische Union. Und was gut für die Europäische Union ist, das ist gut für unseren Wirtschaftsraum und für die Menschen, die hier leben. ({2}) Nun kann man sich dieses Spezialgesetz noch einmal ganz genau anschauen. Dann sieht man, dass wir bei den Regelungen zu den Wertpapierunternehmen noch sieben Änderungen vorgenommen haben, was kritisiert wurde. Ich halte nichts davon, Nachhilfe zu geben. Aber man sollte schon wissen, was der Unterschied zwischen einer europäischen Richtlinie und einer europäischen Verordnung ist. Bei der europäischen Richtlinie haben wir als deutscher Gesetzgeber bei der Umsetzung in nationales Recht immer noch die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen. Es waren nicht die Beamten des Finanzministeriums, sondern es waren die fleißigen Koalitionäre, die sieben Umdrucke anhand der Expertenmeinungen vorgenommen haben, um bei den Regelungen zu Wertpapierunternehmen proportional richtige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Das ist Demokratie: die Menschen zu hören, die Hinweise aufzunehmen und diese dann im parlamentarischen Verfahren umzusetzen. Das, was Sie wollen, ist keine Demokratie. ({3}) Für die Kapitalmarktunion, den Schengenraum für Finanzunternehmen, ist wichtig, dass in Spanien die gleichen Regeln gelten wie in Tschechien. Es wird aber noch wichtiger werden, dass wir da auch europäisch mehr Tempo hinkriegen. Dann können wir im Detail streiten, ob Richtlinien, bei denen wir noch Spielraum haben, um national Einfluss zu nehmen, wirklich der richtige Weg sind oder ob Verordnungen der richtige Weg wären, um gleiche Standards innerhalb der Europäischen Union zu setzen. Für uns ist eines wichtig – das gilt für uns alle, und da sollten wir selbstkritisch in den Spiegel schauen –: Wenn Richtlinien durch das Europäische Parlament auf den Weg gebracht werden, liebe Frau Staatssekretärin, dann erwarten wir als Unionsfraktion, dass diese Richtlinien hier auch zeitnah umgesetzt werden und wir ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren auf den Weg bringen. Wir brauchen die Kapitalmarktunion; diese stärkt unsere Wirtschaft in Europa. ({4}) Abschließend: Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gesetzentwürfe, die von der Bundesregierung eingebracht wurden, sind gut. Wir haben beide Gesetzentwürfe noch besser gemacht. Wir werden im Bereich der Pfandbriefe, im Derivatebereich – das ist auch dem Ausschussbericht zu entnehmen – den Spielraum, den unsere Finanzaufsicht hat, klar und deutlich regeln. Das soll auf den Weg gebracht werden. Wir haben uns auch – ein Dank geht an den Kollegen Johannes Schraps – im Bereich der Digitalisierung noch einmal bewegt. Es reicht nämlich nicht aus, alles wie bei Friedrich dem Großen mit Papier zu hinterlegen, sondern es ist wichtig, dass wir hier digitalisiert unterwegs sind. Das konnten wir erreichen. Sie sehen also: Das Herz der Demokratie in Deutschland schlägt im deutschen Parlament. Das ist Demokratie. Wir haben etwas Gutes auf den Weg gebracht. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sepp Müller. – Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Frank Schäffler. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die beiden zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfe greifen das wichtige Ziel auf, die Kapitalmarktunion in Europa voranzubringen; mein Vorredner hat das schon gesagt. Das begrüßen wir als Freie Demokraten ausdrücklich. Eine Vertiefung der Kapitalmarktunion führt zu günstigeren Finanzierungen für europäische Unternehmen und grenzüberschreitende Risikoteilungen. Der Grundgedanke der Proportionalität im Gesetz zur Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten ist an sich ebenfalls begrüßenswert. Die Regelungen sind so angelegt, dass die Intensität der Beaufsichtigung durch die BaFin proportional zur Größe der Wertpapierinstitute ausfällt. Die regulatorischen Anforderungen im Finanzmarkt sind in den letzten Jahren massiv gestiegen. Insbesondere kleinere Finanzdienstleister, von welchen nur geringe Risiken ausgehen und für die die Komplexität der Finanzmarktregulierung eine enorme Kostenbelastung darstellt, können so ein wenig entlastet werden. Zwar wird mit den vorliegenden Regelungen die überwiegende Mehrheit dieser Unternehmen künftig als „Kleine Wertpapierinstitute“ eingestuft und deren Pflichtenumfang bleibt weiterhin gering; dennoch müssen sich alle Wertpapierinstitute und damit eben auch die Kleinen mit diesen neuen komplexen Regelwerken auseinandersetzen und entsprechende Umsetzungsprozesse einleiten. Der erhebliche Aufwand, den dies verursachen wird, ist gerade in einer Zeit, in der viele Unternehmen ohnehin um ihre Existenz kämpfen, unangemessen. Deshalb werden wir uns zu diesem Gesetzentwurf enthalten. Dem zweiten Gesetzentwurf, der Covered-Bonds-Harmonisierung, werden wir am Ende zustimmen, weil wir glauben – das ist schon vielfach gesagt worden; auch der Verweis auf Friedrich den Großen vor 252 Jahren ist richtig und notwendig und muss hier noch mal betont werden –, dass das ein Premiumprodukt ist, mit dem wir eine hohe Sicherheit schaffen für diejenigen, die dort investieren. Gleichzeitig ist es eine wichtige Quelle für den Wohnungsbau, für die Finanzierung von Projekten. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. Wir halten den Gesetzentwurf auch durch die Verbesserungen, die im Verfahren noch erreicht wurden, indem wichtige Anregungen der Branche mit aufgenommen wurden, für zustimmungsfähig. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schäffler. – Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben es schon gehört: Wir beraten zwei Gesetzentwürfe, mit denen europäisches Recht in deutsches Recht umgesetzt wird. Es geht um gedeckte Schuldverschreibungen, den deutschen Pfandbrief, und die Aufsicht über Finanzinstitute, die keine Bankgeschäfte anbieten, sondern mit Wertpapieren handeln. Dabei werden gemeinsame Qualitätsstandards geschaffen und einige vernünftige Regelungen, zum Beispiel zur Offenlegung von Klimarisiken, eingeführt. So weit, so unspektakulär. Wir werden uns enthalten. Worüber ich reden möchte, ist aber: Was steckt denn hinter dieser Strategie zur Vereinheitlichung von Finanzprodukten? Es geht eben erklärtermaßen nicht darum, sicherere Finanzinstrumente zu schaffen. Es geht nicht darum, weniger spekulative, besser durchschaubare Finanzprodukte zu erreichen. Das Ziel ist ein anderes: Die einheitlichen Standards sollen die Konkurrenz zwischen den Anbietern verschärfen, den Markt vergrößern und dadurch weitere und angeblich bessere und billigere Finanzinstrumente schaffen. Die Europäische Union nennt das „Kapitalmarktunion“. So weit zur Theorie. Ganz praktisch versprechen sich aber Bundesregierung und die deutschen Banken, dass sich mit den neuen Gesetzen deutsche Pfandbriefe künftig in Luxemburg, Dublin, Rom und dem Rest der EU besser verkaufen lassen. Geht diese Rechnung auf, dann werden dadurch die Refinanzierungsbedingungen zum Beispiel für Immobilienfinanzierungen in Deutschland günstiger, während gedeckte Schuldverschreibungen anderer Länder möglicherweise schwerer absetzbar, also teurer werden. Was also in der Theorie als Verbesserung für alle angekündigt wird, ergibt am Ende einen Nutzen, der ungleich verteilt ist und ökonomisch nicht wünschenswerte Folgen hat. Das halten wir für falsch. ({0}) Bei den derzeit steigenden Immobilienpreisen in Deutschland zum Beispiel brauchen wir keine billigeren Immobilienkredite für große Wohnungskonzerne. Denen würde es damit noch leichter gemacht, noch mehr Wohnungen aufzukaufen. Das würde die Häuserpreise in Deutschland eher noch antreiben – eigentlich kein anstrebenswertes Ziel, oder? ({1}) Und für die Länder der europäischen Peripherie würde die Finanzierung eher schwerer und teurer, weil die Konkurrenz aus Deutschland weiter wächst – auch kein anstrebenswertes Ziel. ({2}) Die ganze Konkurrenzlogik des EU-Binnenmarktes führt eben nicht und schon gar nicht automatisch zu sozialem und ökonomischem Ausgleich zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Mitgliedstaaten. Sie treibt unter Umständen sogar Ungleichheit und Konflikte voran. Statt weiterer Kapitalmarktuniongesetze sollten wir lieber die Finanzmärkte begrenzen und entschleunigen, zum Beispiel mit einer Finanztransaktionsteuer, die schon lange überfällig ist. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute über Gesetzentwürfe zur nationalen Umsetzung zweier europäischer Richtlinien ab; das wurde schon erwähnt. Wir begrüßen das Zustandekommen ganz außerordentlich. Mit der sogenannten Covered-Bonds-Richtlinie werden erstmals eine einheitliche Definition und gemeinsame europäische Mindeststandards für gedeckte Schuldverschreibungen – auf Deutsch: den guten alten Pfandbrief – geschaffen. Das sichert zum einen das hohe Schutzniveau des deutschen Pfandbriefes, der vor allem im Immobilienmarkt eine wichtige Finanzierungsfunktion erfüllt, jetzt auch europaweit und verhilft zum anderen der gesamten EU zu einem homogeneren und transparenteren Covered-Bonds-Markt. Und das ist besser, Herr Cezanne. ({0}) Auch mit der Richtlinie über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten wird ein neues europäisches Regelwerk geschaffen, das den bisherigen Flickenteppich aus nationalen Einzelvorschriften überwindet. Man kann das auch so pathetisch formulieren wie Herr Müller; wir machen das aber einmal ein bisschen kleiner. Ich glaube nämlich, dass es noch mehr Schritte gibt, die man unternehmen muss. Besonders erfreulich aber ist, dass Wertpapierfirmen künftig – auch auf Druck der Grünen im Europäischen Parlament – ihre Anlagestrategie transparenter machen müssen. Beispielsweise müssen Wertpapierfirmen zukünftig ihr Abstimmungsverhalten auf Hauptversammlungen offenlegen. ({1}) Vor allem aber müssen Wertpapierfirmen von nun an darüber berichten, wie sie mit Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsrisiken umgehen. Das hilft, potenzielle Portfoliobedrohungen zu erkennen, beispielsweise wenn die Kohlenstoffblase platzt. Die Berichtspflicht ist aber auch ein wichtiges Instrument, um neue Geschäftschancen zu identifizieren. Von dem besseren Rendite-Risiko-Verhältnis werden am Ende vor allem auch Anlegerinnen und Anleger profitieren. ({2}) Damit diese europäischen Vorgaben in Deutschland verlässlich, ohne übermäßige Kosten zu verursachen, umgesetzt werden können, muss sich hier aber noch einiges tun. Das haben auch die Sachverständigen in der Anhörung deutlich gemacht. Bislang sind die Finanzakteure bei Nachhaltigkeitsdaten vor allem auf die sehr wenigen Ratingagenturen angewiesen, die derzeit den Markt unter sich aufteilen. Oft besteht nur ein geringer Zusammenhang zwischen den Ratings verschiedener Agenturen. Um dieses Datenproblem anzugehen, braucht es dringend eine Ausweitung und Standardisierung der nichtfinanziellen Berichterstattung, wie es übrigens auch vom Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung vorgeschlagen wird. Wir unterstützen das, meine Damen und Herren. ({3}) Besonders eklatant ist die Nachhaltigkeitsdatenlücke im Gebäudebereich. So sind in der Immobilienwertermittlungsverordnung zwar die energetischen Eigenschaften eines Gebäudes als ein Faktor zur Berechnung seines Wertes aufgezählt. In der Praxis scheitert die Berücksichtigung aber oft schlichtweg daran, dass es vor allem bei Bestandsgebäuden an Information über deren energetische Qualität fehlt. Hier kann und muss die Einführung eines elektronischen Gebäudeenergieausweiskatasters Abhilfe schaffen. Von daher gilt: Nach der Reform ist vor der Reform. Weiteres liegt vor uns. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss sagen: Das ist ja eine einigermaßen harmonische Diskussion. Bis auf ein paar Ausnahmen ähneln sich die Reden sehr stark. Ich will das mit einer einleitenden Frage garnieren: Brauchen wir eigentlich Investitionen in Frankreich? Brauchen wir Investitionen in Spanien? Gibt es eigentlich einen Export nach Europa? Sind unsere Konzerne eigentlich in der Welt und in Europa oder nur in Deutschland unterwegs? – Soweit ich weiß, gehen 60 Prozent unseres gesamten Exports nach Europa. Sogar der kleinere Mittelstand ist in Europa unterwegs. Alle engagieren sich in vielen Mitgliedstaaten. Jetzt stellen wir uns mal einen Moment vor, wir hätten nur unseren Nationalstaat, nur den nationalen Bankenplatz, nur den nationalen Finanzplatz, nur nationale Fiskalpolitik! Was würde dann passieren? Es ist völlig klar: Das wäre die nationale Erstickung von Deutschland. Wer will das? ({0}) Das Ziel sind – ich sage das mit Blick auf Jörg Cezanne – einheitliche Standards, und ich meine, das ist gut. Wenn die Standards einheitlich sind, gelten sie überall, auch in den ärmeren Ländern. Wenn die einheitlichen Standards die nationalen ablösen, könnte das allen helfen, wenn es halbwegs fair zugeht. Und diese Sicherheit – und um dieses Produkt geht es – hilft auch der sozialen Sicherheit. Ich glaube, das, was wir heute machen, ist kein Export des Pfandbriefs nach Europa, sondern ein europäischer Import des deutschen Pfandbriefs, weil man gemerkt hat, dass er überall fehlt. Er ist die sicherste Möglichkeit zur Finanzierung von Produkten und Projekten. Jeder, der wissen will, ob das funktioniert, schaut nach Deutschland und sagt: Da funktioniert er schon sehr lange gut. – Die besonderen Regeln, die wir haben, helfen ganz Europa. Johannes Schraps hat erklärt, warum das Verständnis „Europa importiert den deutschen Pfandbrief“ so gut ist für die gesamte Situation. Das Schöne ist: Wir sind wirklich auf dem Weg zur Bankenunion. Wir sind wirklich auf dem Weg zur Kapitalmarktunion. Das bedeutet: Gleiches soll gleich behandelt werden. Die Aufsicht, die Produkte, der Sicherheitsbegriff, die Geldbeschaffung für Investitionen, all das spielt dabei eine wichtige Rolle. Wenn wir hier von Covered Bonds sprechen, weiß keiner, was das ist. Jedenfalls fragen viele, mit denen ich gesprochen habe: Geht das auch auf Deutsch? – Wenn ich dann antworte: „Schuldverschreibungen“, sagen sie: Oh, sehr interessant. – Manche reden auch von Anleihen, Rentenpapieren, Obligationen. Das ist alles das Gleiche. Du schreibst einen Betrag auf ein Papier und bekommst dafür Geld. Derjenige, der das Geld nimmt, hat jetzt natürlich einen Kredit und muss sich verpflichten, ihn zurückzuzahlen. Ist das jetzt sicher oder unsicher? Gebe ich mein Geld einem Schluri, bekomme ich es vielleicht nie zurück und bin dann traurig. Also ist es gut, etwas anderes zu machen. Ich gehe dann zu einer Pfandbriefbank und kaufe einen Pfandbrief. Der ist so gut besichert, dass die Bank einen Pool bilden muss, der sogar im Insolvenzfall der Bank nicht angegriffen werden kann, der also die Insolvenz dieser Bank überdauert und diese schuldrechtliche Beziehung besichert. ({1}) Wenn diese Sicherheit exportiert wird, haben wir etwas sehr Gutes für Europa gemacht. Ich bin froh, dass es diese Richtlinie gibt und wir sie in dieser Weise umsetzen. Schönen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lothar Binding. – Der letzte Redner in dieser sehr lehrreichen und zeitlich sehr punktgenauen Debatte – das will ich einmal sagen; alle halten sich an die Redezeit – ist Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon eine sehr inhaltliche Debatte über die beiden Gesetzentwürfe zur Umsetzung der EU-Richtlinien geführt, die heute beschlossen werden. Es geht zum einen um die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Emission gedeckter Schuldverschreibungen. Es reicht also nicht nur ein Papier mit einer Zahl drauf, sondern es muss selbstverständlich noch etwas dahinterstehen, damit es Pfandbriefe sind, sogenannte Covered Bonds. ({0}) Die Richtlinie sieht eine prinzipienbasierte Mindestharmonisierung vor. Vielleicht ist die Debatte deswegen heute auch so harmonisch. Prinzipienbasiert heißt, dass wesentliche Strukturmerkmale der Produkte und Mindestanforderungen an den Anlegerschutz vorgegeben werden, aber die Mitgliedstaaten trotzdem noch Spielraum für nationale Spezifika haben. Das deutsche Pfandbriefgesetz steht schon überwiegend im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie. Insofern sind nur punktuell kleinere Änderungen vorzunehmen. Dadurch werden der Export, der Verkauf und der Vertrieb von deutschen Pfandbriefen im Ausland erleichtert. Das ist sehr erfreulich; denn – das ist heute mehrmals erwähnt worden – der deutsche Pfandbrief ist ein Exportschlager seit der preußischen Hypotheken- und Konkursordnung 1722. ({1}) Es ist also etwas Grundsolides und Bewährtes, das wir nach Europa geben. Dass die AfD kritisiert, dass wir deutsche Standards in Europa umsetzen, zeigt, dass sie den Gesetzentwurf offenbar nicht gelesen hat; denn es ist etwas Positives, wenn wir unsere grundsoliden Standards in Europa umsetzen. ({2}) Wie immer gilt auch hier – das ist nichts Außergewöhnliches –: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Es wurden ja fleißig Umdrucke erstellt und einzelne wichtige Punkte geändert, zur Digitalisierung, zur Rückwirkung; so soll es keine Rückwirkung von Offenlegungspflichten geben, keinen unverhältnismäßig hohen Aufwand für die Pfandbriefbanken. Herr Kollege Keuter, Sie hätten da durchaus mitarbeiten können. Aber es ist immer das Gleiche: Man stellt sich hin und motzt, macht dann aber keine Arbeit. – Das ist ganz normale parlamentarische Arbeit. Man kann Sie nur dazu ermuntern, sich in den entsprechenden Ausschüssen zu Wort zu melden, was Sie bislang nicht tun. ({3}) Mit dem zweiten Gesetzentwurf, den wir heute ebenfalls beschließen, wird die Aufsicht für die Wertpapierinstitute neu geregelt. Bislang war es so, dass die Institute vom Bankenaufsichtsrecht, also vom Kreditwesengesetz, umfasst wurden. Die Wertpapierinstitute haben aber ganz spezifische und ganz anders gelagerte Risiken. Dieses Format ist für die Aufsicht nicht ausreichend. Deswegen wird es jetzt ein neues Wertpapierinstitutsgesetz geben, mit dem genau diese Trennung vom Bankenaufsichtsrecht vollzogen wird. Damit wollen wir die Finanzstabilität stärken, absolut richtig, und die Finanzaufsicht für diese Unternehmen noch zielgenauer ausrichten. Deswegen betreffen die neuen Regelungen die Aufsicht über Wertpapierinstitute, die keine Banken sind, sondern ausschließlich Wertpapierdienstleistungen vornehmen. Hierdurch wird für 750 kleinere und mittlere Wertpapierinstitute eine einfache Systematik geschaffen. Es könnte übrigens Vorbild für viele andere Aufsichten sein, dass wir hier proportional vorgehen, nach der Risikoanfälligkeit der einzelnen Geschäftsmodelle und nach der Größe der jeweiligen Institute. Je nachdem, wie groß und wie risikoanfällig ein Institut ist, wird geprüft, ob die Anforderungen an das Anfangskapital, an die Geschäftsorganisation und bestimmte Anzeigepflichten, ob die Aufsichtsbefugnisse im Hinblick auf die Solvenz der Wertpapierinstitute sowie die Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen, ob die Regelungen zur Vergütung von Vorständen und bestimmten Mitarbeitern erfüllt sind. Ich glaube, das wäre auch Vorbild für die Bankenaufsicht, dass man also große Banken nicht wie eine kleine Raiffeisenbank oder eine Sparkasse prüft, sondern auch da Proportionalität ansetzt. Das sind zwei gute Gesetzentwürfe, und ich hoffe, dass es breite Zustimmung dafür geben wird. Ich denke, man kann diese beiden Gesetzentwürfe heute guten Gewissens verabschieden. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dorothee Mantel (Gast)

Politiker ID: 11003586

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf einen Mann kommen 27 Frauen, die von digitaler Gewalt betroffen sind, zumindest laut einer Studie aus dem Jahr 2015 der Breitbandkommission für digitale Entwicklung der Vereinten Nationen. Ich bin mir sicher, dass wir davon ausgehen können und müssen, dass das Bild im Jahr 2021 noch bedrückender ist. Warum können wir davon ausgehen? Weil ich mir sicher bin, dass wir alle hier, die wir als Frauen im Parlament sind, das fast täglich erleben. Ich habe das erst heute wieder den ganzen Tag erlebt. Ich war gestern in zwei Talkshows. Danach bekommt man viele Rückmeldungen. Man bekommt viel Lob, aber natürlich auch viel Kritik. Die Kritik, gerade wenn sie von Männern kommt, ist selten neutral, dass man also sagt, man habe eine andere Meinung, man stimme eben nicht überein. Bei fast jeder E-Mail ist irgendetwas Sexualisiertes dabei: was das Aussehen betrifft, was das Auftreten betrifft, was die Kleidung betrifft, manchmal sogar die Sprache; selten geht es um die Inhalte. Das sind jetzt natürlich nicht die Zahlen der Vereinten Nationen. Aber man kann das schon vergleichen, im persönlichen Gespräch mit Kollegen. Die bekommen auch Zuschriften. Aber wenn man sie fragt: „Ging es da irgendwo einmal um dich persönlich, um dein Aussehen?“, oder: „Wurdest du im Netz auch sexuell belästigt?“, dann antworten sie meistens: „Nein, das ist nicht der Fall“. Das ist etwas, was uns allen so geht. Vielleicht sind wir als Politikerinnen – leider – an der einen oder anderen Stelle abgehärtet. Aber es kann nicht sein, dass wir das einfach hinnehmen. Deswegen müssen wir tätig werden. Straftaten aus Frauenhass stehen häufig auch im Zusammenhang mit ideologischen Phänomenen. Wir beobachten ganz oft, dass der Hass auf Feminismus durch antisemitische, durch rassistische Ideologeme flankiert wird. Dafür gibt es verschiedene Beispiele, wie die frauenfeindliche Incel-Bewegung. Wir sehen: Frauenhass ist Menschenhass. Er geht uns alle an, und bricht der Damm, bricht er für uns alle. Es gibt ihn in vielen Ausprägungen: Es ist die Androhung von Straftaten in sozialen Netzwerken, es ist Cyberstalking, das sogenannte Doxing. Das heißt, Frauen werden viel zu häufig Opfer von Missachtung, von Hass und Gewalt. Unser Leben ist digital. Virtuelle Gewalt ist Gewalt im Hier und Jetzt. Das ist unerträglich. Es ist wahnsinnig viel Leid unterwegs. Deswegen wird das von uns als Bundesregierung mit aller Macht bekämpft. Wir haben in den vergangenen Monaten viel auf den Weg gebracht: das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Wir haben eine neu geschaffene Zentralstelle beim Bundeskriminalamt. Wir haben den Gesetzentwurf zur Änderung des § 238. Das bereits erwähnte Doxing wird dazu führen, dass das Verbreiten personenbezogener Daten mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der Verbreitung von Feindeslisten unter Strafe gestellt wird. Zu einem ganz wichtigen Punkt komme ich beim Thema Kriminalstatistik. Mir ist es persönlich sehr wichtig, dass wir Gewalt gegen Frauen, frauenfeindliche Straftaten in den polizeilichen Statistiken künftig besser erfassen, besser auswerten. Ich bin sehr froh, dass wir uns dazu ganz klar bekannt haben. Der Bundesinnenminister – dafür bin ich sehr dankbar – hat bereits seine Zustimmung angekündigt und auch schon Gespräche mit den für die Datenerhebung zuständigen Ländern geführt. Ich setze sehr stark auf die Innenministerkonferenz vom 16. bis 18. Juni dieses Jahres und darauf, dass das Ganze da endlich angegangen und umgesetzt wird, weil nur wer Frauenfeindlichkeit als eigene Rubrik in der Kriminalstatistik führt, schafft es, frauenfeindliche Straftaten zu benennen und zu zeigen, dass das eben kein verdecktes Phänomen mehr ist. ({0}) Wenn wir Frauenfeindlichkeit in der Kriminalstatistik erfassen, dann erhalten wir hinsichtlich dieser Straftaten auch genauere Informationen zu Opfern, Tätern, aber auch ganz bestimmten Merkmalen. Das heißt, wenn wir genau hinschauen, können wir etwas ändern. Abschließend, Frau Präsidentin: Natürlich wäre es bei fast allen Gesetzen am besten, wir bräuchten sie gar nicht. Das entspricht aber leider nicht der Lebensrealität. Solange das weiterhin der Fall ist, werden wir alles dafür tun, damit dieser Hass nicht weiter in die Gesellschaft wirkt, und ich bin mir sicher, dass wir fraktionsübergreifend einen hoffentlich relativ großen Konsens hinbekommen, wenn auch das Belästigen von Frauen, das falsche Hinterherschreien und die Pöbeleien von einigen als Kavaliersdelikte bezeichnet werden. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dorothee Bär. – Nächste Rednerin für die AfD-Fraktion: Beatrix von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Antrag der Grünen zur Hasskriminalität lehnen wir trotz einiger richtiger Ansätze ab. Es geht Ihnen ersichtlich allein darum, Ihre radikalfeministische, familienfeindliche, antiwestliche Ideologie durch die Hintertür durchzusetzen. ({0}) In dieser Ideologie sind alle Männer potenzielle Täter. Die Familie ist ein Hort der Gewalt und unsere christlich geprägte europäische Kultur eine Herrschaft des Patriarchats. Nichts könnte falscher sein. ({1}) Die Auswertung der WHO über häusliche Gewalt in 48 Staaten kam zu dem Ergebnis, dass die Gewalt in nicht westlichen Ländern zehnmal höher ist als in unseren westlichen Staaten, und der Psychologe Steven Pinker stellt einen massiven Rückgang der Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahrzehnten in Europa und Nordamerika fest. Der grüne Hass auf unsere Kultur und auf die Familien macht Sie blind für diesen Erfolg. ({2}) Der Antragstext bezeichnet stattdessen die Lage in Deutschland als „Femizid“. Der Begriff kommt aus Lateinamerika. In der mexikanischen Grenzregion wurden in den 90er-Jahren Hunderte Frauen ({3}) entführt, gefoltert und enthauptet. Dass die Grünen diese grauenhaften Verbrechen mit der Lage in Deutschland vergleichen, ({4}) ist ungeheuerlich. Allein dadurch ist der Antrag schon vollkommen disqualifiziert. ({5}) Die Grünen sprechen von der – Zitat – „Gefährdung von Frauen durch das … familiäre Umfeld“. Familie ist für Sie nicht ein Ort von Nähe und Identität, sondern ein Hort der Gewalt. ({6}) So rechtfertigen Sie dann auch, dass das familiäre Umfeld – Zitat – „in den Blick genommen werden“ muss. Sie wollen Familien überwachen, kontrollieren und bevormunden. ({7}) Und da Sie grundsätzlich keine Kritik vertragen, wollen Sie die legitime Kritik an Ihrer radikalfeministischen Agenda kriminalisieren. ({8}) Deswegen stellen Sie in Ihrem Antrag Antifeminismus auf eine Stufe mit Antisemitismus. Deutschland anno 2021! So wollen Sie den Feminismus unangreifbar machen. Ihnen geht es nicht um den Schutz der Frauen vor Gewalt, ({9}) Ihnen geht es um den Schutz Ihrer Ideologie vor anderen Meinungen. Ebenso läuft es bei der Hasskriminalität. Andere Werte diffamieren Sie als Hass. Wer die kulturelle Identität bewahren will, ist ein Rassist, wer sich gegen die Ehe für alle ausspricht, ist homophob, und wer die Gleichstellungspolitik ablehnt, ist ein Frauenfeind. ({10}) Unter Gewalt verstehen Sie nicht nur Gewalt, sondern digitale Gewalt: Tweets, Kommentare und Meinungsäußerungen. – Da landen wir dann direkt bei der Istanbul-Konvention. Darin wird Gewalt gegen Frauen unter anderem als eine – Zitat – „Form der Diskriminierung … verstanden …, die zu … wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können …“. Eine Frau nicht in den Vorstand zu wählen, ist nach dieser geltenden Definition bereits Gewaltanwendung. Der Antragstext stellt die Verbindung von rechtsextremem Gedankengut zu Frauenhass her. ({11}) Die Verbindung von Islam und Frauenhass existiert für Sie natürlich nicht. Sie malen die Gefahr frauenfeindlicher Internetfreaks, der Incels, an die Wand, aber schweigen über muslimische Ehrenmorde. Gewalt gegen Frauen, die nicht zu Ihrer radikalfeministischen Ideologie passt, ist Ihnen vollkommen egal. ({12}) – Genau, das ist schäbig; Sie sagen es selbst. ({13}) Dieser Hassantrag ist Teil des grünen Kulturkampfes. Die Grünen wollen Deutschland mit Radikalfeminismus und Gender kaputtmachen. Wir wollen Deutschland, aber normal. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau von Storch. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Susanne Mittag. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir kommen mal wieder zur Versachlichung; das hilft ja immer. ({0}) Herzlichen Dank erst mal für die Anträge. Wir haben damit die Möglichkeit, über ein in der Öffentlichkeit oftmals unterschätztes Thema zu sprechen, um festzustellen, was sich schon verbessert hat, aber auch was noch fehlt – und das nicht nur am 8. März, dem Internationalen Frauentag, oder am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sondern auch mal, wie heute, zwischendurch. Gewalt gegen Frauen war ein Anlass, warum ich vor Jahren überhaupt in die Politik gegangen bin. Als Polizeibeamtin nicht zu wissen, wohin mit Frauen und Kindern, die nachts von Männern durchgeprügelt werden, war der Anlass, sich mit vielen anderen zusammen um ein Frauenhaus zu kümmern, das es auch heute noch gibt – wie im ganzen Land – und leider immer noch notwendig ist. ({1}) Seither hat sich aber einiges verbessert: in der Gesetzgebung – dazu wird meine Kollegin gleich was sagen –, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung – Gewalt gegenüber Frauen und Kindern ist richtigerweise strafbar, sie ist nicht mehr akzeptabel, wie früher; wer die Augen zumacht, macht sich mitschuldig, und das ist unentschuldbar, aber leider noch nicht bei allen angekommen –, ({2}) und im Bereich der Unterstützung, Hilfe, von Schutz und Information – sei es mit finanzieller Hilfe, mit Beratung, mit Begleitung oder mit Organisationsunterstützung. Den Eindruck zu erwecken, dass der tatsächliche Umfang der Gewalt weitgehend unbekannt ist, schadet den laufenden Projekten, ignoriert die Erfolge und geringschätzt die Arbeit der vielen Menschen, die die Betroffenen begleiten und stützen – manchmal über Jahre, im Stillen und im Hintergrund. Man muss sich da vielleicht auch mal vor Ort informieren. Bei Beratungsstellen, Gruppierungen und auch bei der Polizei passiert allerhand. 120 Millionen Euro sind von unserer Familienministerin Franziska Giffey für Frauenhäuser und Projekte zur Verfügung gestellt worden. Das ist ja wohl keine Kleinigkeit. Dazu kommen Hilfen, wie zum Beispiel durch die Initiative „Stärker als Gewalt“, die Opferschutzplattform „hilfe-info.de“ oder die Aktion „Zuhause nicht sicher?“. Trotzdem ist es richtig, sich immer wieder ändernde Erkenntnisse zu gewinnen und entsprechend darauf zu reagieren – sei es hier im Bund, aber auch in den Ländern und in den Kommunen vor Ort. Kennen Sie Incels? Das ist ja eben schon mal angesprochen worden. ({3}) – Nicht nur. – Das sind sich radikalisierende Frauenhasser im Netz. ({4}) Stellen Sie sich vor, was das für ein Gewaltpotenzial ist, was unter Umständen noch freigesetzt wird! Erschreckend. ({5}) Aber auch in der realen Welt hat sich die Bandbreite verändert – von Stalking, Misshandlungen, psychischer Gewalt bis zu Folter und Mord. Auch das gibt es noch. Die Zeiten der Pandemie verschärfen die Lage noch, und die tatsächlichen Ausmaße werden erst nach und nach deutlich. Es gab allein 20 Prozent mehr Anrufe im April letzten Jahres, zu Anfang der Pandemie. Was das für Beratung und Begleitung bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Das ist in diesen Zeiten fast gar nicht möglich. Es ist schon erwähnt worden: Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist schon angepasst und soll auch noch weiter angepasst werden. Das allerdings, Herr Mayer vom Innenministerium, könnte noch ein bisschen befeuert werden. ({6}) Es läuft eine Hell- und Dunkelfeldbefragung im Rahmen des periodischen Sicherheitsberichtes, ({7}) und auch dieser Bericht muss vom Innenministerium noch vor der Sommerpause vorgestellt werden. ({8}) Da bin ich ganz optimistisch. Ein Zwischenbericht hinsichtlich dieser Hell- und Dunkelfeldforschung, Herr Mayer – Herr Seehofer ist ja gerade nicht da –, wird hoffentlich dabei sein. Auch die Bundesländer sind nach dem Beschluss der IMK, der Innenministerkonferenz – im Antrag erwähnt –, an dem Thema dran, und ein Ergebnis steht noch aus. Sie sagen schon jetzt, es wird nicht reichen. Wir finden, wir sollten erst mal die Ergebnisse der fachlich und wissenschaftlich erstellten Expertise abwarten und dann bewerten, ob das ausreicht oder ob noch mehr dazukommen muss. Zu der in Ihrem weiteren Antrag aufgeführten von der Bundesregierung vernachlässigten Behebung von Missständen: Sie sagen selbst, zuständig seien die Länder. Dann sollen sich die Länder auch darum kümmern. Sie haben einen Ministerpräsidenten; die Grünen sind auch über die Landesregierungen mit ihrer Beteiligung dabei. Ich finde, in der nächsten IMK wäre das mal zu organisieren. Trotzdem können wir auf Bundesebene hier noch allerhand tun, das sei überhaupt nicht hintenangestellt. Eines ist klar: Das ist kein Nischenthema. Frauen und Kinder insgesamt sind die Mehrheit der Bevölkerung. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst mal möchte ich bemerken, dass sich drei Fraktionen – darunter keine von der Regierungskoalition – tatsächlich mit dem Thema „Gewalt und Hasskriminalität gegen Frauen“ in den Anträgen, die uns heute vorliegen, intensiv beschäftigt haben. Ob im digitalen oder im analogen Raum, gerade im vergangenen Jahr haben wir gesehen – das hat die Pandemie uns noch mal als Stresstest und unter dem Brennglas vor Augen geführt und offengelegt –, wo die Schwächen beim Schutz von Frauen vor Gewalt vor allen Dingen liegen. Meine Kolleginnen Nicole Bauer und Katja Suding haben dazu bereits im November letzten Jahres einen Antrag eingebracht, in dem sie fordern, ein bundesweites Onlineregister für freie Frauenhausplätze auf den Weg zu bringen, niedrigschwellige Beratungsangebote endlich umzusetzen und Anzeigeverfahren zu schaffen. ({0}) Ein offensichtliches Problem zu lösen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat für uns Freie Demokraten höhere Priorität als nur darüber zu sprechen, wie wir noch weitere Daten über dieses offensichtlich bestehende Problem sammeln. Damit komme ich zum ersten Antrag der Grünen. Ihr gewählter Ansatz ist aus unserer Sicht nicht zielführend. In unseren Augen ist die Polizeiliche Kriminalstatistik nämlich nicht der Ort für eine bessere Erfassung von Daten über Gewalt gegen Frauen. Wir brauchen dringend einen regelmäßigen, mindestens einmal in der Legislatur stattfindenden, periodischen Sicherheitsbericht mit einer echten Dunkelfeldforschung, um dieses Deliktfeld überhaupt besser verstehen zu können. ({1}) Denn die PKS – das wissen Sie – erfasst eben nur Straftaten, die bereits aktenkundig sind. Wir haben ja gerade auch von der Staatsministerin gehört, dass es um weit mehr geht, nämlich um Opfer von Gewalt, die sich vielleicht nicht trauen, eine Anzeige zu stellen. Das heißt, für die Politik hat die PKS keine maßgebliche weitere Aussagekraft für ein Handeln. Deswegen brauchen wir eine Dunkelfeldstudie, die dann auch gesetzgeberisch wirkungsvoll reagieren lässt. ({2}) Zu Ihrem zweiten Antrag, liebe Grüne, zur besseren Dunkelfeldforschung. Wir teilen Ihr Anliegen. Allerdings wird der bundesweite Viktimisierungssurvey bereits in großen Teilen in der Form, wie Sie es ja auch in Ihrem Antrag fordern, geschrieben. Deswegen verweise ich noch mal auf den dringend benötigten Periodischen Sicherheitsbericht, wie er übrigens auch im Koalitionsvertrag 2017 vereinbart wurde. Seitdem ist aber nichts passiert. Wir sagen Ihnen ganz ehrlich: Wenn hier kurz vor knapp, vor Ende der Legislaturperiode, noch ein Dokument auf den Tisch kommt, das vielleicht diese Überschrift hat, dann ist das doch ein bisschen dürftig. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Freien Demokraten sehen den blinden Fleck bei der Bundesregierung beim Thema geschlechterbezogene Straftaten vor allem im digitalen Bereich. Wir müssen Frauen endlich in die Lage versetzen, sich gegen Angriffe und Persönlichkeitsverletzungen im Netz besser und effektiver verteidigen zu können. Deswegen fordern wir schon seit Langem einen zivilrechtlichen Anspruch gegen Plattformbetreiber, wie ihn schon die Kollegen Benjamin Strasser und Konstantin Kuhle in unserem Antrag gegen Rechtsextremismus gefordert haben. Betroffene müssen in die Lage versetzt werden, eine richterliche Anordnung gegenüber einer Plattform erwirken zu können, mit der sie die Speicherung und die Herausgabe von Daten, die dann zu der Identifikation des Schädigers notwendig sind, durch den Provider verlangen können. ({4}) Ein zweiter wichtiger Punkt – dann komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin –: Der Bund sollte in Zusammenarbeit mit den Ländern darauf hinwirken, dass sogenannte Cyberambulanzen flächendeckend auf den Weg gebracht werden. Dort können Betroffene unterstützt werden, schon bevor sie eine Anzeige stellen. Genau das – die Sicherung von möglichst gerichtsfesten digitalen Beweisen – ist, glaube ich, wichtig, um der Sache tatsächlich auf den Grund zu gehen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, jetzt sind Sie deutlich drüber.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wir freuen uns, wenn die Bundesregierung vielleicht den Modus Operandi übernimmt, diese Punkte in ihr Gesetz mit aufnimmt und dann ihren Namen drüberschreibt; denn am Ende geht es um die Betroffenen. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, ich danke Ihnen für Ihre Rede. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Anke Domscheit-Berg. ({0}) Herr Amthor, das ist übrigens eine spannende Debatte, die wir gerade haben. Vielleicht interessiert Sie das auch. – Er hört nicht zu, sehen Sie. – Ich rede mit Ihnen, Herr Amthor. Wir sind gerade in einer spannenden Debatte, möglicherweise interessieren Sie sich dafür. Das wäre gar nicht schlecht, wenn Sie sich jetzt mal aufs Zuhören konzentrieren würden. ({1})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Amthor! ({0}) Heute debattieren wir über drei Anträge von drei demokratischen Oppositionsfraktionen zum Thema „Digitale Gewalt gegen Frauen und Mädchen“, Herr Amthor. Das zeigt: Das Thema hat deutlich höhere Relevanz in diesem Hause bekommen – außer bei Herrn Amthor. Die Bundesregierung allerdings ignoriert seit Jahren viele Formen digitaler Gewalt, die Frauen und Mädchen in Deutschland auszuhalten haben. 2018 hat die Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage zu digitaler Gewalt noch geantwortet, dass ihr das Ausmaß völlig unbekannt sei, da es ja keine Kriminalstatistiken gibt, die das erfassen, obwohl die Istanbul-Konvention das vorschreibt. Sie schrieb mir auch, dass digitale Gewalt gegen Frauen ja kein Cybercrime sei, weil es keine Angriffe gegen informationstechnische Systeme oder Daten gibt. Das ist aber falsch. Digitale Gewalt ist auch, wenn Männer auf den Smartphones ihrer Ex eine Spyware, Spionagesoftware, installieren, um ihre Bewegungen zu verfolgen oder ihre Nachrichten zu lesen. Immerhin hat der anhaltende Druck der Opposition – auch meiner Fraktion – dazu geführt, dass die Bundesregierung nun endlich eine Gesetzesänderung zum Thema Stalking vorgelegt hat – genau an dem Tag übrigens, an dem hier endlich eine Anhörung zu digitaler Gewalt stattfand. Anderthalb Jahre habe ich mich mit meiner Fraktion dafür eingesetzt. ({1}) Es gibt nun – hoffentlich bald – eine effektivere Strafverfolgung bei widerrechtlicher Verbreitung intimer Bilder und bei digitalem Stalking. Aber es fehlt noch sehr viel, um Frauen und Mädchen wirksamer zu schützen. Meine Fraktion fordert daher in ihrem Antrag mehr Informationen, eine Erweiterung der Polizeilichen Kriminalstatistik, um die Formen digitaler Gewalt zu erfassen, aber auch mehr Forschung, vor allem im Dunkelfeld. Es braucht mehr Unterstützung für Betroffene durch besser ausgestattete, aber auch besser qualifizierte Beratungsstellen. Und natürlich braucht es Spezialistinnen und Spezialisten bei Polizei und Justiz. ({2}) Es darf nie wieder vorkommen, wie hier in Berlin leider öfter, dass Opfer an die Sittenpolizei verwiesen werden, weil der Mann die intimen Fotos seiner Ex ins Netz gestellt hat und man bei der Polizei meinte, es gehe ja irgendwie um Sex. Auch das Strafrecht muss wirksamer werden. Aktuell werden nicht einmal 2 Prozent der angezeigten Stalker verurteilt. Und last, but not least braucht es auch eine Änderung der Impressumspflicht, der Pflicht, eine Privatadresse, zum Beispiel auf Blogs, zu veröffentlichen, die insbesondere Aktivistinnen und Aktivisten und Journalistinnen und Journalisten gefährdet. Da erwarte ich einen Einsatz der Bundesregierung auf europäischer Ebene, wo die Grundlage für die Impressumspflicht gerade jetzt neu verhandelt wird. Das forderte im Übrigen auch der Sachverständige der CDU/CSU bei der Anhörung. Allerdings haben Sie, laut Ihrer Antwort auf meine schriftliche Frage, nicht vor, das zu tun, und das ist inakzeptabel. ({3}) Die Linksfraktion fordert: Lassen Sie die Opfer nicht länger im Stich! Schützen Sie Frauen und Mädchen besser vor digitaler Gewalt! Was zu tun ist, steht umfassend in unserem Antrag der Linksfraktion. Im Übrigen haben Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren. § 219a gehört abgeschafft, immer noch. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anke Domscheit-Berg. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Jeden dritten Tag bringt ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Nach dem, was Frau von Storch gerade gesagt hat, findet die AfD das wohl normal. Dass aber das eigene Zuhause für Frauen damit zum gefährlichsten Ort auf der Welt wird, darf niemals Normalität werden, meine Damen und Herren. ({0}) Gewalt gegen Frauen ist eine massive Gefahr für die innere Sicherheit, und dagegen müssen wir dringend etwas tun. Da ist es völlig unverständlich, dass Hassstraftaten gegen Frauen in der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität noch nicht einmal gesondert erfasst werden, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Da hilft es nicht, zu sagen: Das müsste man mal irgendwie ändern. – Sie stellen die Regierung, Sie können einen solchen Missstand einfach beseitigen und zeigen, dass Ihnen die betroffenen Frauen in diesem Zusammenhang nicht egal sind. ({1}) Wenn der Bundesinnenminister, wie er heute öffentlich gesagt hat, dazu mit den Ländern schon im Gespräch ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie unseren Antrag, der genau dieses Anliegen unterstützt, im Innenausschuss mit der Begründung abgelehnt haben, dass eine Verbesserung der Datenlage angeblich gar nicht nötig sei. Frau Bär, da war leider nicht viel mit parteiübergreifendem Konsens, ganz im Gegenteil. ({2}) Meine Damen und Herren, wir müssen endlich damit aufhören, Gewalt gegen Frauen als tragische Beziehungstaten und Familientragödien zu verharmlosen, wenn es eigentlich Hassverbrechen und Femizide sind. ({3}) Es geht um Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Und wenn dieses Kriminalitätsphänomen im Dunkeln bleibt, dann werden wir es auch nicht angemessen bekämpfen können. Mit Blick auf Partnerschaftsgewalt fordern wir deshalb die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Innenministerkonferenz dafür einzusetzen, auch die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik zu verbessern. Wir müssen erfassen, zu welchem Zeitpunkt partnerschaftliche Gewalt stattfindet: während der Partnerschaft, im Trennungsprozess oder nach einer Trennung. Das ist ganz entscheidend, auch mit Blick auf mögliche Präventionsstrategien. ({4}) Und wir brauchen endlich eine echte Opferstatistik, die Alter, Geschlecht und Tatmittel genau aufschlüsselt, genauso wie regelmäßige unabhängige Berichte über die objektive und subjektive kriminalitätsbezogene Sicherheit von Frauen in Deutschland; denn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen uns, dass sich über 30 Prozent der Frauen in Deutschland nachts auf der Straße nicht sicher fühlen. Ich finde, das kann uns nicht ruhig schlafen lassen. Wir müssen endlich mehr für die objektive und subjektive Sicherheit von Frauen tun, statt uns in tatenloser Betroffenheit zu ergehen, meine Damen und Herren. ({5}) Mit einer Verbesserung der Datenlage allein ist es selbstverständlich noch nicht getan. Die Gewalt gegen Frauen bricht sich längst auch in der digitalen Welt Bahn; darüber haben wir eben viel gehört. Stalking, Hassbotschaften, das Verbreiten privater Fotos und auch die Veröffentlichung privater Adressen spielen nicht nur bei Partnerschaftsgewalt eine Rolle. Frauen werden immer wieder Opfer rechter Hasskampagnen, die massive Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Ich möchte hier als Beispiel den Fall von Jasmina Kuhnke nennen, gegen die von Rechtsextremisten und Rassisten ein wahres Feuer aus Hass, Hetze und Gewaltandrohungen eröffnet wurde, sodass sie sich jetzt sogar gezwungen sah, mit ihren Kindern aus der eigenen Wohnung zu fliehen. Solche Szenarien muss der Rechtsstaat sehr viel früher erkennen und mit angemessenen Maßnahmen eingreifen, meine Damen und Herren. ({6}) Hier hinken wir in der Analyse, in der Gefahrenabwehr und in der Strafverfolgung noch meilenweit den Erfordernissen hinterher. Wir müssen den Kampf gerade auch gegen digitale Gewalt an Frauen endlich konsequent aufnehmen. Außerdem müssen wir gemeinsam mit den Ländern Sonderdezernate für Hasskriminalität bei den örtlichen Staatsanwaltschaften schaffen, Frauenhäuser und Frauennotrufe ausbauen und die Mitarbeiterinnen gezielt zum Thema „digitale Gewalt“ schulen. Die Bedrohungslagen von Frauen sind komplex wie die Maßnahmen dagegen; aber man muss auch mal anfangen, etwas dagegen zu tun. Anfangen können wir, indem wir endlich Licht in das Dunkelfeld der Hass- und Gewaltkriminalität gegen Frauen bringen. Ganz herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Axel Müller. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt bin ich der erste Mann in dieser Redeschlacht. Es ist nicht einfach. ({0}) Ich möchte mit einem Zitat anfangen: „Ich habe mich benutzt und beschmutzt gefühlt.“ Das hat eine junge Frau im vergangenen Jahr in der Lokalzeitung meiner Heimat erwähnt. Sie wurde von anderen darauf hingewiesen, dass von ihrer Facebook-Seite ein Bild zweckentfremdet und auf einer Pornoseite eingestellt wurde. In kürzester Zeit waren es 2 500 Nutzer, die dieses Bild angeklickt hatten. Gewalt gegen Frauen geschieht körperlich, sexuell, psychisch durch Drohungen, Ankündigungen, Unterdrucksetzungen oder, wie wir gehört haben, digital. Digitale Erscheinungsformen der Gewalt sind beispielsweise, wie wir es auch schon gehört haben, das herabwürdigende Bloßstellen im Internet oder das Ausspähen von Frauen in ihrem Bewegungsradius oder in ihren sozialen Kontakten. Alle vier vorgelegten Anträge – zwei von Bündnis 90/Die Grünen, einer von der FDP und einer von der Linken – stellen Forderungen auf oder beklagen Defizite im legislativen, exekutiven oder judikativen Bereich. Viele Forderungen davon haben wir schon erfüllt. Nicht alle machen aus meiner Sicht Sinn. Drei kurze Anmerkungen: Erstens. In dieser Legislaturperiode – das haben wir auch schon gehört – wurde unter Federführung des zuständigen Bundesfamilienministeriums das Bundesprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ auf den Weg gebracht, das erhebliche Bezuschussungen von Frauenhäusern oder Fachberatungsstellen mit sich bringt. Zusätzlich gibt es das Projekt „Schutz vor digitaler Gewalt“ in Kooperation von Bund und Ländern. Und es wurde im Familienministerium ein runder Tisch gebildet unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände; denn das Phänomen spielt sich vor Ort ab. Hier muss es die entsprechend tragfähigen Strukturen geben. In vielen unserer Wahlkreise gibt es solche Strukturen. Bei mir im Wahlkreis ist das seit mehreren Jahrzehnten der Verein Brennessel e. V. Zweitens. Die Koalition hat in dieser Legislaturperiode deutlich Flagge gezeigt und das scharfe Schwert des Strafrechts genutzt: Unbefugte Eingriffe in den privaten Bereich oder intimen Bereich – § 201a und § 184k StGB – werden mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Gerne hätten wir beim Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität die Unterstützung der heutigen Antragsteller gehabt. Sie haben aber bei der für eine effektivere Verfolgung erforderlichen Bestandsdatenauskunft Ihre Zustimmung leider verweigert. (Zuruf von der FDP: Sie haben eine verfassungswidrige Version vorgelegt! Drittens haben wir mit den genannten Regelungen im Strafrecht auch die Grundlage für die von Ihnen geforderten statistischen Erfassungen in künftigen Kriminalstatistiken geschaffen; denn diese Delikte werden leider – „leider“, weil es sie immer noch gibt – darin auftauchen. Schon heute werden die Opfer nach dem Geschlecht erfasst. Die von Ihnen geforderten immer weiter gehenden Verfeinerungen der Kriminalstatistik sorgen aus meiner persönlichen Sicht nicht für mehr Klarheit. Das ist eine Statistik, nicht mehr und nicht weniger. Es ist kein kriminologisches Werk. Diese Verfeinerungen würden für einen Verlust des Überblicks sorgen. ({1}) Schlussendlich hat das Bundesinnenministerium eine Prüfung zugesagt – das haben wir mehrfach gehört –, um gemeinsam mit den Bundesländern frauenfeindliche Straftaten noch sichtbarer zu machen. Diese gilt es aus meiner Sicht abzuwarten. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller, Sie sind deutlich über der Zeit.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine kurze Anmerkung zu den Spezialzuständigkeiten, die Sie gefordert haben: Mit mehr Personal geht es besser als mit der Verlagerung. Ungeachtet – das möchte ich zum Schluss sagen – der Ernsthaftigkeit des Problems, dem wir gemeinsam fortwährend hier den Kampf ansagen müssen, erscheinen mir Ihre Lösungsansätze dafür nicht geeignet. Deshalb lehnen wir sie ab. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Müller. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Mechthild Rawert. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Normal. Normal ist doch: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Normal ist: Frauenrechte sind Menschenrechte. Normal ist, sich gegen Gewalt auszusprechen, ({0}) gegen die Tatsache, dass Menschen vergewaltigt, sexuell missbraucht oder auch im digitalen Netz verunglimpft werden. Das ist Normalität! Abnormalität ist genau das andere, nämlich das Produkt einer Scham-Partei; damit das verstanden wird: S – C – H – A – M-Partei. ({1}) Ich möchte aber auch sagen: Wir haben jetzt häufiger gehört, dass die Oppositionsparteien sich diesem Thema zuwenden, so als ob wir als SPD, als Regierungspartei in der Form noch nichts getan hätten. ({2}) Dem ist nicht so. ({3}) Zum Beispiel – ich wollte es eigentlich nicht aufzählen, aber Sie haben es zu häufig gesagt, sodass ich darauf unbedingt eingehen muss –: Wir können mittlerweile längst online Strafanzeigen stellen. Es geht darum, dass Betroffene von Straftaten unter Wir haben auch das Bundesförderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ durchgesetzt. Wir haben uns mit dem Thema Datenerfassung – ich will jetzt gar nicht näher auf die Kriminalstatistik eingehen – längst befasst. Wir sehen natürlich auch, dass es hier eine weitere Differenzierung und vor allen Dingen eine Sichtbarkeit geben muss. Wir haben das Verbot von Upskirting durchgesetzt. Es gibt die Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Cybercrime. Vor allen Dingen ist es ja nicht nur mit einzelnen Projekten getan, sondern tatsächlich brauchen wir neue gesetzliche Strukturen. Deswegen möchte ich im Hinblick auf die Onlineplattformen auf den Gesetzentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes und auf andere aktuelle Verordnungen verweisen. Ich sage Ihnen eins: Es freut mich, dass es normal ist, dass sich Opposition, die SPD und selbstverständlich auch die Union dagegen wenden und wir gemeinsam etwas tun wollen. Das ist eine gute Normalität. ({4}) Denn ist es doch verwerflich, dass mittlerweile zunehmend mehr Frauen – häufig sind es ja junge Frauen –, etwa Politikerinnen oder Aktivistinnen, digital verfolgt werden. Oder es ist so, dass Expartner bzw. Expartnerinnen in privaten Beziehungen Cyberstalking machen. Die Täter verstecken sich hinter Anonymität. Das ist nicht zulässig. Und eines ist klar: Wir werden laut bleiben und gegen ihre Form von Abnormalität vorgehen. ({5}) Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mechthild Rawert. – Der letzte Redner, der jetzt schnell reden muss: für die CDU/CSU-Fraktion Maik Beermann. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Frauen und Mädchen sich aus dem digitalen Raum zurückziehen, weil sie beleidigt, bedroht, diskriminiert werden und die Strafverfolgung zu oft im Sande verläuft, dann läuft bei uns im Staat so richtig was schief, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen unsere Strafverfolgungsbehörden besser ausstatten. Das ist personell wichtig, das ist aber auch technisch wichtig. Täter lassen sich meist nur ermitteln, wenn man eben die IP-Adresse kennt. Aber auch generell: Ein Vergewaltigungstäter, der manchmal mit einer Bewährungsstrafe davonkommt, stärkt nicht gerade die Rechte von Frauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich habe auch mehrfach mit dem BKA gesprochen und kann unserem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Herrn Rörig, wirklich nur vollkommen zustimmen: Wir brauchen ein gut ausbalanciertes Verhältnis von Kinder- und Datenschutz. Das halte ich bei dieser Thematik für dringend angeraten. Wir brauchen hier auch eine europakonforme Speicherung von Verbindungsdaten. Das ist ganz, ganz wichtig. ({1}) Wenn man diesen Rufen aus den Ermittlungsbehörden nicht nachkommt, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir hier im politischen Raum Fehler. Ich möchte noch auf ein anderes Thema eingehen, weil ich selbst drei kleine Töchter habe: Das Thema sexueller Kindesmissbrauch ist etwas so Widerwärtiges. Ich glaube, es ist das Widerwärtigste, was es überhaupt gibt. Auch das ist Gewalt gegen junge Körper. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage das ganz deutlich: Es gibt im Internet, im Darknet, ein Pädophilenhandbuch. Solange wir es nicht schaffen, unsere Ermittlungsbehörden erstens so auszustatten, dass sie diejenigen, die eine solche widerwärtige Anleitung im Internet hochladen, dingfest machen können, aber zweitens auch diejenigen, die es runterladen, nachverfolgen können, so lange haben wir ein Problem. Frau Präsidentin, bitte noch einen Halbsatz zu diesem Thema, weil es mir wirklich wichtig ist. Wir haben gerade das Gesetz gegen sexuellen Kindesmissbrauch verschärft. Das ist nun kein Vergehen mehr; das ist ein Verbrechen. Das war ein wichtiger Schritt. Wir haben Kindersexpuppen verboten. Aber solange, wie gesagt, ein Pädophilenhandbuch im Internet immer noch vorhanden ist und runtergeladen werden kann, haben wir ein großes Problem. Denn das ist der Beginn von sexueller Gewalt gegen die Jüngsten in unserer Gesellschaft. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Maik Beermann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es heute? Es geht um 2,4 Tonnen Gold, 26 Tonnen Silber, 382 Tonnen Kobalt, 876 Tonnen Kupfer. Die liegen in deutschen Schubladen in Form von 100 Millionen nicht genutzten Handys. Und wir reden heute nicht nur über die Ressourcen und Rohstoffe, die in den nicht genutzten Handys liegen, sondern wir reden über alle Elektrogeräte, die zu Hause friedlich schlummern, nicht mehr genutzt werden und auch nicht dazu benutzt werden, um Ressourcen zu sparen, zu schonen und sinnvoll mit den Grenzen unseres Planeten und den darauf vorhandenen Ressourcen umzugehen. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Beitrag dazu leisten, dass wir das Stück für Stück besser machen. Und wie soll das passieren? Die EU hat eine Vorgabe, wie hoch die Sammelquote bei Altelektrogeräten sein soll. Die verfehlen wir. Das muss sich ändern. Ein Baustein dafür ist, dass wir die Sammelstrukturen deutlich verdichten. Das bedeutet, dass wir ergänzend zu den Regelungen, die wir schon getroffen haben, zusätzliche Möglichkeiten schaffen, was die Möglichkeiten zur Rückgabe von Elektroaltgeräten angeht. Das betrifft zum Beispiel die großen Lebensmitteleinzelhändler, die auch sehr viele Elektrogeräte anbieten. Hier wird nun klargestellt, dass sie sie entsprechend auch zurücknehmen müssen. Wichtig ist aber, dass sich das nicht nur auf Einzelhändler bezieht, sondern dass es sich auch auf den Onlinehandel bezieht. Das ist eine ganz entscheidende Frage. Wer zukünftig einen Elektrorasenmäher bestellt, kann gleichzeitig seinen alten zurückgeben, das heißt, er muss mit abgeholt werden. Das, glaube ich, ist vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht bewusst. ({0}) Wir haben auch beim Onlinehandel festgestellt, dass es durchaus nicht ganz so einfach zu finden ist, wie man diese Rückgabe organisieren kann. Da haben wir schon gesetzlich nachgesteuert, und das machen wir auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. ({1}) Wichtig ist auch noch, sehr geehrte Damen und Herren, dass wir zusätzlich für Drittanbieter aus dem Ausland und Plattformen mit Standorten außerhalb der Europäischen Union eine Verpflichtung einführen, eine Rücknahme von Elektrogeräten hier im Inland durch Beauftragte zu organisieren, sodass nicht auf einmal zwar eine Rückgabeverpflichtung besteht, aber sie nicht erfüllt werden kann, weil man denjenigen nicht erreicht, der es ursprünglich in Verkehr gebracht hat. Ganz wichtig in dem ganzen Kontext ist natürlich, dass wir auch die Lebensdauer verlängern: Viele Elektrogeräte könnten weiter genutzt werden; aber es ist aus ökonomischen Gründen heute oft viel einfacher, sie wegzuwerfen. Es kommt auch vor, dass die Wiederverwertung nicht ordentlich vorbereitet wird. Viele Kommunen machen das in Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Einrichtungen. Und Reparieren ist besser als Recyceln. Auch diesen Grundsatz wollen wir mit dem vorliegenden Entwurf stärken. Der Dreh- und Angelpunkt für die Zukunft wird aber nicht nur das sein, was wir in diesem Gesetz regeln, sondern auch das, worauf wir uns auf europäischer Ebene konzentrieren: dass wir das Produktdesign verbessern, dass Reparierbarkeit, Wiederverwertung einfacher wird, dass Nachhaltigkeit, die wir auch im Bereich der Elektroaltgeräte brauchen, zu einem entscheidenden Kriterium beim Produktdesign der Zukunft wird. Es ist kein Abfall, es sind im wahrsten Sinne des Wortes Gold- und Silberschätze, die dort gelagert werden, und wir alle müssen sie heben. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Andreas Bleck. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Novelle zum Elektro- und Elektronikgerätegesetz möchte die Bundesregierung die Sammelquote von 65 Prozent erreichen. In der Politik und Wirtschaft gibt es einen breiten Konsens, dass dieses Ziel richtig ist. Keinen breiten Konsens gibt es darüber, welcher Weg zu diesem Ziel richtig ist. Die AfD möchte jedenfalls die Abfallwirtschaft in eine echte Kreislaufwirtschaft überführen. Dazu gehört es auch, Ressourcen so lange wie möglich im Umlauf zu halten. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass die Ressourcen der Erde endlich sind. Eine Kreislaufwirtschaft trägt damit sowohl zu einer modernen Umweltpolitik als auch zu einer entspannenden Außenpolitik bei. Denn geostrategische Konflikte sind häufig auch Verteilungskämpfe um Ressourcen. Doch kommen wir auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu sprechen. Dieser hat wenige Stärken und viele Schwächen. Wir befürworten die Einführung eines einheitlichen Logos für Sammelstellen, damit die Verbraucher diese besser identifizieren können. Wir befürworten, dass auch der Onlinehandel stärker in die Pflicht genommen wird, und wir befürworten die Erhöhung der Zahl der Sammelstellen. Allerdings möchte die Bundesregierung die Zahl der Sammelstellen dadurch erhöhen, dass neben Elektro- und Elektronikgerätehändlern auch Lebensmittelhändler zu Sammelstellen umfunktioniert werden. Letzteres halten wir jedoch durchaus für problematisch. ({0}) Lebensmittelhändler sollen bei einem Kauf eines neuen Geräts nicht nur das alte Gerät – das wäre noch in Ordnung –, sondern auch grundsätzlich von jedem Gerätetyp mit einer maximalen äußeren Abmessung von 25 Zentimetern bis zu drei Geräte zurücknehmen müssen. Lebensmittelhändler haben jedoch eine andere Lagerlogistik als Elektro- und Elektronikgerätehändler. Diese Regelung stellt die Lebensmittelhändler also vor eine große Herausforderung. Zudem schwächt die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger. Zertifizierte Erstbehandlungsanlagen können Elektro- und Elektronikaltgeräte freiwillig zurücknehmen. Sie treten damit in direkte Konkurrenz zu den kommunalen Wertstoffhöfen. Das Problem dabei: Gewerbliche Sammler können sich entscheiden, welche Altgeräte sie zurücknehmen. Sie sind also nicht verpflichtet, alle Gerätetypen zurückzunehmen, sie sind nicht verpflichtet, die freiwillige Rücknahme über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Die kommunalen Wertstoffhöfe haben hingegen ein ganz anderes Selbstverständnis. Sie sind in der Abfallwirtschaft der Fels in der Brandung. Diese Regelung führt also zur Rosinenpickerei. Gewerbliche Sammler werden sich die Gerätetypen aussuchen, mit denen sich bei der Verwertung Gewinne erzielen lassen. Die Gerätetypen, deren Entsorgung kaum bzw. keine Gewinne erzielt, verbleiben hingegen bei den kommunalen Wertstoffhöfen. Da die Kommunen jedoch auf die Gewinne durch die Verwertung angewiesen sind, um die Abfallgebühren ihrer Bürger ausgeglichen zu gestalten, werden – wieder einmal – Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Das lehnen wir entschieden ab. ({1}) Die Parallelstruktur von kommunalen Wertstoffhöfen auf der einen Seite und gewerblichen Sammlern auf der anderen Seite erschwert zudem die Überwachung der Abfallströme und begünstigt die illegale Entsorgung. Wir haben bereits bei der Novelle zum Batteriegesetz hier im Deutschen Bundestag kritisiert, dass bei der Erhöhung der Sammelquote vor allem die Hersteller und Verkäufer, nicht jedoch die Verbraucher in die Pflicht genommen werden. Um die Sammelquote sowohl bei Altbatterien als auch bei Elektro- und Elektronikaltgeräten zu erhöhen, sollte auch ein Pfand in Erwägung gezogen werden. Dies wäre die beste Möglichkeit, die Sammelquote von 65 Prozent auch tatsächlich zu erreichen. Ob dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingt, bezweifeln wir. Wir lehnen ihn daher ab. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andreas Bleck. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Björn Simon. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ausgediente Elektrogeräte enthalten neben wertvollen Rohstoffen ebenso gefährliche Schadstoffe und haben deswegen in der Restmülltonne und in der Umwelt nichts verloren. Eigentlich ist das ja auch jedem bewusst. Die Frage lautet daher: Wieso funktioniert die fachgerechte Entsorgung von Elektroaltgeräten in vielen Fällen nicht? Klar ist: Am Ende des Lebenszyklus eines Elektrogerätes stehen, zumindest geplant, die Wiederverwendung oder das Recycling. Das ist notwendig, um Rohstoffe für neue Produkte zu gewinnen, ohne sie unter zumeist menschenrechtswidrigen oder auch umweltfeindlichen Bedingungen als Primärrohstoffe erneut gewinnen zu müssen. Allein im Jahr 2019 sind weltweit 53,6 Millionen Tonnen Elektroschrott angefallen. Das hat der „Global E-waste Monitor 2020“ festgestellt: eine Zunahme von Elektroschrott um ein Fünftel der Gesamtmenge in nur fünf Jahren. Zwar liegt die Recyclingquote von Metallen im Elektroschrottbereich in Deutschland bei über 95 Prozent – das klingt erst mal beachtlich –; dem Erfolg steht allerdings eine traurige Wahrheit gegenüber: stagnierende, verhältnismäßig niedrige Sammelmengen. Um diese negative Entwicklung in Deutschland umzukehren, trat 2015 das Elektro- und Elektronikgerätegesetz in Kraft. Damit hat die Bundesregierung bereits damals eine gute Grundlage für die erfolgreiche Sammlung und Verwertung von Elektroaltgeräten geschaffen. Mit der heute zu beschließenden Novelle werden wir das ElektroG ganz im Sinne der Kreislaufwirtschaft weiterentwickeln und an die heute vorherrschenden Gegebenheiten anpassen. Kern der Novelle ist die Steigerung der Sammelmengen sowie die Stärkung und Vorbereitung zur Wiederverwendung von Elektroaltgeräten in Deutschland. Für uns als Union ist klar: Um die Sammelmengen signifikant zu steigern, ist es unabdingbar, die Endverbraucher, also die Bürgerinnen und Bürger, besser über die Möglichkeiten zur Entsorgung zu informieren und die Praxistauglichkeit zu verbessern. Daher sehen wir auch die Einrichtung neuer Rücknahmestellen als notwendig an. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Ausweitung von Annahmestellen, die sowieso schon regelmäßig zur Deckung des täglichen Bedarfs aufgesucht werden, zu höheren Sammelmengen führen wird. Das betrifft jetzt natürlich nicht den kleinen Schreibwarenladen um die Ecke oder den sogenannten Tante-Emma-Laden. Es kommt jedoch zu einer erweiterten Rücknahmepflicht des Handels; das ist klar. Das birgt auch gewisse Herausforderungen, wie es jetzt schon gesagt wurde. Aus diesem Grund haben wir uns ganz bewusst auf eine Ladengröße von mindestens 400 Quadratmeter Verkaufsfläche bei Elektronikfachmärkten und mindestens 800 Quadratmeter Gesamtverkaufsfläche im Lebensmitteleinzelhandel verständigt und die verpflichtende Rücknahme auch ohne Neukauf eines Gerätes auf eine Kantenlänge zurückzunehmender Geräte von maximal 25 Zentimetern und maximal drei Altgeräte pro Geräteart beschränkt. Damit wollen wir verhindern, dass der stationäre Handel zukünftig alleine das gesamte Aufkommen von Elektroaltgeräten, die heutzutage auch immer mehr im Onlinehandel erworben werden, stemmen muss. Viele elektronische Produkte, die wir online bestellen, kommen mittlerweile aus Asien, besonders aus China, und nehmen den Weg über den europäischen Binnenmarkt. Der Kunde merkt in der Regel gar nichts davon: Online bestellt, an die Haustür geliefert und zur Verfügung gestellt, ganz einfach. Alle Hersteller von Elektrogeräten, ob in Deutschland, Europa oder international, die ihre Waren in Deutschland vertreiben, sind dabei bereits heute zur Registrierung ihrer Elektrogeräte bei der Stiftung Elektro-Altgeräte Register, EAR, verpflichtet. Ein Blick in die Praxis macht aber auch deutlich, dass vor allem ausländische Anbieter dieser Pflicht bis heute oft nicht nachkommen und ihre Waren über elektronische Marktplätze und Vorführplattformen auf dem deutschen Markt anbieten. Mit der Novelle nehmen wir daher diese elektronischen Marktplätze verstärkt in die Pflicht, mit klaren Regeln das Anbieten von nicht registrierten Waren zu unterbinden. Eine weitere Veränderung, die mit der Novelle einhergehen wird, ist, dass neben den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern sowie den bereits angesprochenen Vertreibern und Herstellern zukünftig auch zertifizierten Erstbehandlungsanlagen die Möglichkeit eingeräumt wird, Elektroaltgeräte direkt vom Endnutzer annehmen zu können. Auch durch diese Ausweitung des Angebotes für Verbraucherinnen und Verbraucher zur kostenlosen Rückgabe versprechen wir uns eine Steigerung der Sammelmengen. Dass diese Neuregelung vor allem bei den öffentlichen Entsorgungsträgern zu Vorbehalten führt, können wir durchaus nachvollziehen. ({0}) Daher ist es uns ein Anliegen, die Bundesregierung in diesem Zusammenhang aufzufordern, die Wirkung der Einbeziehung von zertifizierten Erstbehandlungsanlagen auf die Rücknahmestrukturen für Elektro- und Elektronikaltgeräte nach zwei Jahren genau zu evaluieren und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Auswirkungen bei Sammelmengen der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu legen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal betonen: Kern der Novelle des ElektroG ist es, ein noch engeres Sammelnetz für Elektrogeräte aufzubauen. Wenn wir die Sammelmengen steigern wollen – das ist das große Ziel –, müssen wir die Verbraucherinnen und Verbraucher mitnehmen. Wir müssen sie sensibilisieren, ihre alten Fernseher, ausgediente Kaffeemaschinen, das defekte Handy dem richtigen Entsorgungsweg und dem anschließenden Recycling zuzuführen. So schaffen wir es, wertvolle Rohstoffe in unserem Wirtschaftskreislauf zu erhalten und die Kreislaufwirtschaft in Deutschland weiter zu stärken. Der Parlamentarische Staatssekretär hat es noch mal gesagt: Reparieren ist besser als Recycling; aber Recycling ist doch besser als die Entsorgung im Restmüll. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Björn Simon. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf soll das Recycling von Elektrogeräten und vor allem auch Verbraucherinnen und Verbraucher stärken. Beide Ziele sind notwendig und richtig. Wir haben ja gesehen: In den letzten Jahren haben wir die von der EU vorgegebenen Sammelquoten, die wir uns auch vorgenommenen hatten, jedes Jahr nicht erreicht. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir heute und hier einen funktionierenden Gesetzentwurf vorgelegt bekommen. Vorneweg möchte ich bemerken, dass es auch künftig schwierig sein wird, die gesetzten Sammelziele zu erreichen. Das liegt aber schlicht und ergreifend daran, dass wir in der Gesellschaft immer mehr elektrische Geräte benutzen, von der Zahnbürste über Geräte für das Lesen bis hin zu jeglichem Gartengerät; aber auch in Homeschooling und Homeoffice werden immer mehr Elektrogeräte verwandt. Die Sammelquote bezieht sich immer auf die drei vorangehenden Jahre. 65 Prozent der in dieser Zeit herausgegebenen Geräte sollen wieder eingesammelt werden. Blöderweise ist sogar die EU der Meinung, dass die Mindestprodukthaltbarkeit fünf Jahre beträgt. Mindestens solange müssen nämlich auch Ersatzteile vorgehalten werden. Insofern passen die gesetzlichen Regelungen der unterschiedlichen EU-Richtlinien nicht ganz zusammen. Auch künftig wird es schwierig sein, die Sammelquoten zu erreichen. Gerade deswegen sollten wir alles das, was möglich ist, tun. Allerdings glauben wir nicht, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der im Ziel richtig ist, dabei den richtigen Weg geht. Da möchte ich vorneweg eins sagen: Da geht es beispielsweise um die vielfach angesprochene Reparierbarkeit. Natürlich ist es wichtig, dass wir Dinge lange nutzen und auch reparieren können. Die EU gibt aber vor, dass die Hersteller die Wiederverwendung von Elektro- und Elektronikaltgeräten nicht durch Konstruktions- und Herstellungsprozesse verhindern. Die deutsche Bundesregierung und Sie als CDU/CSU- und SPD-Fraktion, als Regierungsfraktionen, geben aber vor, dass mit verbrauchsüblichen Werkzeugen die Reparierbarkeit hergestellt wird. Da klammern Sie jegliche Neuerung aus. Innovationen, die auf Klebstoff basieren, beispielsweise bei den elektrischen Zahnbürsten, die die Sicherheit im Bad gewährleisten, die durch Wasserdichtigkeit und Staubfestigkeit Mobilfunkhandys funktionsfähig machen und die deren Lebensdauer um 24 Prozent verlängert haben, all dies können deutsche Hersteller nach diesem Gesetzentwurf gar nicht mehr realisieren, und das in einem EU-Binnenmarkt, wo jegliche Importe von anders hergestellten Waren problemlos möglich sind. Hier hätten wir es richtig gefunden, Sie hätten sich auf die EU verlassen, sich an die EU-Regelungen gehalten, sie eins zu eins umgesetzt und keinen nationalen Alleingang versucht. ({0}) Ein weiterer Punkt, den ich schwierig finde, ist tatsächlich das Thema Lebensmitteleinzelhandel. Hier haben Sie ein kleines Steinchen draufgelegt. Sie haben gesagt, der Lebensmitteleinzelhandel solle künftig für das Einsammeln von Elektroaltgeräten zuständig sein. Es mag sein, dass dies nur ein kleiner Punkt ist. Aber wir sehen, dass tatsächlich hier noch weitere Punkte im Verpackungsgesetz als weitere Erschwernisse vorhanden sind. Wenn wir wollen, dass die wohnortnahe Nahversorgung funktioniert, dann dürfen wir es den kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht immer schwerer machen. ({1}) Hier müssen wir dafür sorgen, dass Gerechtigkeit herrscht, auch im Onlinehandel, und zwar deutlich weniger bürokratisch, als Sie es gemacht haben. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist im Ziel richtig, in der Umsetzung schlecht, und deswegen können wir leider nur Ihren Zielen, aber nicht diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Judith Skudelny. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Kurz vor Toresschluss überarbeitet die Koalition das Elektro- und Elektronikgerätegesetz. Das ist überfällig, damit die Bilder aus Afrika mit illegal entsorgtem deutschen Elektronikschrott verschwinden und die Erfassungsquote endlich von 41 auf mindestens 65 Prozent steigt. Es ist notwendig, dass Onlinehändler wie Amazon oder Alibaba endlich die Kosten für die Entsorgung ihrer Produkte übernehmen und der unlautere Wettbewerb zum Nachteil des örtlichen Handels endet. Es ist unabdingbar, die Haltbarkeit, Reparier- und Upgradebarkeit von Handys, Kaffeemaschinen oder allen anderen Elektro- und Elektronikgeräten zu verbessern – ({0}) zum Ressourcen- und Klimaschutz und für unsere Geldbeutel. ({1}) Unverzichtbar sind auch Vorgaben, damit beschädigte Lithium-Ionen-Akkus nicht mehr Müllfahrzeuge oder Lager in Brand setzen. Liebe Bürgerinnen und Bürger, wer glaubt, dass dieser Gesetzentwurf die aufgezählten Probleme löst, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Die Koalition erlaubt Händlern und Herstellern, eigene Rücknahmesysteme aufzubauen, oder sie benennen einen Beauftragten, der gegen eine Ablassgebühr die Verwertung und Entsorgung der Altgeräte organisieren soll bzw. sollte, oder Verwertungsbetriebe können Geräte selbst zurücknehmen. Wenn all diese Wege nicht klappen, dann müssen kommunale Wertstoffhöfe einspringen. Das ist doch nicht Ihr Ernst! ({2}) Schon heute können Behörden nicht wirksam kontrollieren. Die neuen Entsorgungswege machen Kontrollen fast unmöglich und öffnen illegaler Entsorgung Tür und Tor. ({3}) Die Onlinegiganten werden sich weiterhin drücken können, und die Quoten werden so nicht erfüllt. Mit diesem Gesetz schädigen Sie auch noch die Kommunen. Denn die privaten Verwerter sammeln nur Altgeräte, mit denen Geld zu verdienen ist. Macht man mit einer Entsorgung Verlust, dann müssen die Kommunen ran, und die Müllgebühren steigen. Das lehnt die Linke ab. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, seit Jahren schlägt meine Linksfraktion wirksame Schritte für bessere Erfassung, Wiederverwendung und Verwertung von Elektro- und Elektronikgeräten vor. Zur Erinnerung noch mal unsere Vorschläge: Die Verantwortung für Erfassung und Verwertung von allen Altgeräten haben prinzipiell kommunale Entsorger. Die Hersteller werden gesetzlich zu längeren garantierten Nutzungszeiten, zu Reparier – und Upgradebarkeit verpflichtet. ({5}) Hersteller und Händler müssen fürs Sammeln und Entsorgen der Altgeräte eine Entsorgungsabgabe zahlen, auch Amazon und Alibaba. ({6}) Wir fordern eine Pfandpflicht für alle Elektrogeräte, für Batterien und Akkus. ({7}) Die Einnahmen aus Wiederverwendung und Recycling müssen an die Kommunen zur Senkung der Müllgebühren gehen. ({8}) Das ist der wirksamste Weg gegen illegale Müllentsorgung und zur Reduzierung des Ressourcenverbrauches. So erfüllt man Quoten und schont die Geldbeutel der Menschen. So funktioniert linke soziale Umweltpolitik. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Bettina Hoffmann. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der Waschmaschine bis zum Smartphone – der Berg an Elektroschrott wächst und wächst. Das ist an sich schon ein Problem. Aber noch schlimmer ist: Mehr als jedes zweite Altgerät in Deutschland wird falsch entsorgt, landet im Hausmüll oder wird illegal exportiert. Bei der Sammlung hängt Deutschland weit zurück. Statt der EU-Vorgabe von 65 Prozent sind es deutschlandweit nur 43 Prozent. Es gibt drei zentrale Handlungsfelder – in keinem kommt die Bundesregierung nennenswert voran –: Erstens. Am besten ist der Elektroschrott, der gar nicht erst entsteht. Doch Anreize für langlebiges Produktdesign und Reparierbarkeit im Entwurf: Fehlanzeige! Warum nicht an der Stellschraube Gewährleistungspflicht drehen? Es wäre ein Segen für die Verbraucherinnen und Verbraucher und für die Umwelt, wenn Geräte erst nach minimal vier Jahren kaputtgehen oder bis dahin kostenlos repariert werden könnten. ({0}) Das EU-Recht sieht diesen Spielraum explizit vor, und Länder wie Schweden nutzen ihn auch. Nichts hindert uns daran, das in Deutschland auch zu tun. Aber die GroKo bleibt hier völlig ambitionslos. Zweitens. Die Rückgabe muss einfach sein. Die Rückgabe eines alten Elektrogerätes muss genauso einfach sein wie der Kauf eines neuen Gerätes. Dazu braucht es ein flächendeckendes und verbraucherfreundliches Rückgabenetz. Richtig: Auch Supermärkte und Discounter müssen Altgeräte jetzt zurücknehmen. Diese Regelung ist längst überfällig. Doch warum gilt die Rücknahmepflicht nur für große Supermärkte? Was ist mit den Drogerien? Warum greift die dauerhafte Rücknahmepflicht nur für kleine Geräte? ({1}) Die Große Koalition schafft hier mal wieder ein Wirrwarr, das kein Mensch versteht, und das macht es nicht leichter. ({2}) Die Schweiz macht uns vor, wie es geht. Dort gilt: Wer Elektrogeräte verkauft, muss den Schrott auch zurücknehmen. – Das ist eine einfache, klare Regelung. Drittens. Wertvolle Rohstoffe – Gold, Silber, Kupfer und Lithium – müssen ihren Weg zurück in den Kreislauf finden. Dazu brauchen wir mehr und hochwertiges Recycling. Doch die Realität sieht anders aus. Wir haben es gehört: Rund 200 Millionen Handys voller Ressourcen verstauben in deutschen Schubladen. Diesen Schatz müssen wir heben. Deshalb fordern wir Grüne für Smartphones und Tablets ein Pfand in Höhe von 25 Euro. Das wäre ein guter Anreiz für die Rückgabe. ({3}) Mein Fazit heute: Neuerdings sind ja alle begeistert für die Kreislaufwirtschaft. Mit dem neuen Gesetz hätte die GroKo dann auch einen echten Sprung in diese Richtung machen können. Das hat sie verpasst. So verliert Deutschland den Anschluss an seine Nachbarn. Der Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht unzureichend. Daher werden wir in der nächsten Legislaturperiode dieses Thema noch mal engagiert angehen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Thews. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! 850 000 Tonnen Elektroaltgeräte sammeln wir jedes Jahr – eine Riesenmenge, aber noch nicht genug, wie wir gerade gehört haben, weil wir die Sammelziele auf EU-Ebene nicht erreichen. Warum tun wir das überhaupt? In einer Tonne Elektroschrott können bis zu 250 Gramm Gold enthalten sein. Das klingt nicht nach viel. Aber wenn man weiß, dass in einer Tonne Golderz nur 5 Gramm Gold enthalten sind, dann weiß man, dass man beim Recycling von Elektroschrott zum einen sehr viel für die Ökologie tut, die Umwelt schont, aber zum anderen auch sehr viel Energie spart. Das heißt, der ökologische Fußabdruck des Recyclingmaterials ist viel besser als der des Primärmaterials. Daher wollen wir hin zu einem hochwertigen Recycling. ({0}) Was machen wir mit diesem Gesetz? Wir stärken die Sammlung. Wir schaffen mehr Sammelstellen. Das ist gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher, weil es einfach ist, die Elektrogeräte zurückzugeben. Wir nehmen auch den Onlinehandel, der sich teilweise aus der ganzen Sache so ein bisschen rausgezogen hat, stärker in die Pflicht. Aber – und ich bin sehr froh, dass Herr Simon das gerade gesagt hat – wir haben auch von vornherein darauf hingewiesen, dass es durchaus Probleme geben kann bei der ganzen Geschichte. Wenn jetzt also zum Beispiel Erstbehandlungsanlagen miteinbezogen werden, dann müssen wir schauen, ob es zu Rosinenpickerei kommt, wir müssen schauen, ob die Wertstoffhöfe wirklich noch planen können; denn es ist wichtig für die Kommunen, dass sie planen können. Die Wertstoffhöfe – das haben wir heute schon mehrfach gehört – sind ein ganz wichtiger Teil bei der Entsorgung von Elektroaltgeräten. Deswegen war es wichtig, dass Sie das gerade eben gesagt und unsere Anregung aufgenommen haben, dass nach zwei Jahren das Ganze evaluiert werden muss und wir eben hinschauen, was wirklich passiert, um gegebenenfalls gegenzusteuern, wenn es eben nicht funktioniert. ({1}) Ich persönlich – das ist eine Forderung, die ich hier schön öfter gestellt habe – wäre auch für Pfandsysteme gewesen, ({2}) sowohl bei den Elektrogeräten als auch bei den Batterien. Ich glaube, um ein hochwertiges Recycling sicherzustellen, ist es wichtig, dass die Geräte wirklich zurückkommen und nicht irgendwo landen. Da spielt das Pfand natürlich eine große Rolle. ({3}) Der beste Abfall ist der, der gar nicht entsteht. Deswegen stärken wir mit dieser Änderung des ElektroG die Wiederverwendung – Frau Hoffmann, das kam gerade nicht ganz so deutlich rüber; deswegen sage ich das noch mal – an vielen Stellen, und das ist auch gut so. Allerdings muss man sagen: Es gibt auch Entwicklungen auf europäischer Ebene, die ich ganz hervorragend finde; deswegen nenne ich sie einfach mal: Die Ökodesign-Richtlinie sieht zum Beispiel vor, dass jetzt für bestimmte Gerätegruppen sieben Jahre Ersatzteile verfügbar sein müssen, dass es nur 15 Tage dauern darf, bis die Ersatzteile vor Ort sind, und dass Reparaturanleitungen im Internet veröffentlicht werden müssen. ({4}) Ich finde das eine tolle Entwicklung. Genau diesen Weg müssen wir weitergehen, auch für weitere Gerätegruppen. Das würde ich mir wünschen. ({5}) Es gibt natürlich auch andere Dinge – die kamen auch bei der Anhörung zur Sprache –, die uns helfen, die Reparierbarkeit, die Langlebigkeit von Geräten zu verbessern. Das ist einmal die Entnehmbarkeit von Akkus. Wir haben ein großes Gejammer gehört, warum das bei bestimmten Gerätegruppen nicht geht. Ich sage mal von meiner Seite – ich bin ja Ingenieur –: Wenn man da ein bisschen Fantasie und ein bisschen Innovation reinsteckt, dann können die Akkus entnehmbar sein. ({6}) Das würde ja auch, sage ich mal, für die Langlebigkeit eine große Rolle spielen; das wissen wir alle. Wir wissen, dass oft der Akku der Knackpunkt bei der Nutzung der Geräte ist. Eine modulare Bauweise könnte man machen. Oft ist es ja so, dass das nächste Handy nur eine bessere Kamera hat; den Rest könnte man durchaus noch weiter benutzen. Auch modulare Bauweisen wären also sinnvoll. Ganz wichtig finde ich auch, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher über die Geräte, die sie kaufen, informiert werden: Wie langlebig sind die eigentlich? Gegebenenfalls muss es dann eine längere Gewährleistung geben. Nur so können wir Elektroschrott in Zukunft stärker vermeiden, können auch eine echte Kreislaufwirtschaft installieren, und das ist ja unser gemeinsames Ziel. Vielen Dank für Ihr Interesse. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Thews. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Die Verkaufszahlen von Elektro- und Elektronikgeräten sind stark gestiegen und steigen weiterhin. 2 Millionen Tonnen wurden im Jahr 2018 in Verkehr gebracht. Wir haben es vorher gehört: Nur knapp 43 Prozent gehen zurück, werden in die Sammelstellen gegeben und können dem Recycling zugeführt werden. Jeder von uns weiß, wie schnelllebig Elektrogeräte sind. Schauen wir zum Beispiel Mobilfunkverträge an, nach denen man alle zwei Jahre ein neues Handy bekommt! Diese Schnelllebigkeit sorgt dafür, dass Ressourcen verbraucht werden. Wichtig für uns ist natürlich, dass die Ressourcen wieder zurückgewonnen werden können, weil gerade diese Altgeräte Kunststoffe, Edelmetalle und Metalle enthalten, die wir dringend für unsere heimische Industrie brauchen, weil wir selber diese Rohstoffe bei uns in Deutschland nicht haben. Wir wissen teilweise, wie die Gewinnung in anderen Ländern funktioniert. Deswegen ist es wichtig, einmal aus ökologischer Sicht, aber auch aus der Sicht des Ressourcensparens, dass wir diese Stoffe wiedergewinnen. Wir haben zwei Themen. Einmal müssen wir die Stoffe recyceln, sodass wir sie dem Kreislauf wieder zuführen können. Das andere ist, dass wir die Schwermetalle usw., die in diesen Geräten vorhanden sind, entsprechend entsorgen können müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine sachgerechte Entsorgung haben und eine verbesserte Sammel- und Recyclingstruktur aufbauen; denn je leichter es ist, Elektrogeräte zurückzugeben, umso mehr kommt auch zurück. Daher ist es auch wichtig – mein Kollege von der SPD hat es angesprochen –, dass man in zwei Jahren nachsieht, wie es sich entwickelt, um bei Fehlentwicklungen noch nachbessern zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wird es nicht überraschen, aber wir haben es auch gemerkt, dass die Sammelquote nicht stimmt, und deswegen haben wir bei diesem Gesetz nachgebessert. Ihr Antrag ist in dem Fall so überflüssig wie fünf Runden im Kreisverkehr, ({0}) weil, wie gesagt, wir es selber gemerkt haben und nachbessern. Was die Reparierbarkeit betrifft: Das ist ein anderes Thema, das wir vielleicht anderweitig lösen müssen. ({1}) Was aber uns wichtig ist: dass wir das Thema Nachhaltigkeit ernst nehmen, nicht nur die Ökologie. Nachhaltigkeit heißt ja letztendlich, dass wir drei Säulen in Einklang bringen müssen: Das sind die Ökologie, die Ökonomie, aber auch die soziale Gerechtigkeit oder der soziale Ausgleich. Das ist, glaube ich, wichtig. Darum kann man Klimaschutz nicht nur über Ökologie denken, sondern wir müssen die Leute mitnehmen und abholen. In diesem Fall hilft es natürlich auch, wenn wir ihnen ein entsprechendes Angebot machen, dass die Leute ihre Geräte zurückbringen können. Unterm Strich heißt das: Erstens. Wir handeln und ermöglichen, dass mehr Elektrogeräte einen nachhaltigen Weg finden und dass die Ressourcen zurückgebracht werden, damit sie wiederverwendet werden. Zweitens. Wir wollen die Umwelt schonen, indem wir die Schadstoffe nicht über den Hausmüll entsorgen, sondern wir wollen sie wirklich zielgerichtet über die Produkte zurückbekommen und sie auch zielgerichtet entsorgen. Nachhaltigkeit, meine Damen und Herren, gehört für uns zum Selbstverständnis. Daran werden wir uns auch weiterhin messen lassen. Nur so können wir gemeinsam die Zukunft gestalten: wenn wir die Leute mitnehmen bei dem technologischen, aber natürlich auch bei dem ökologischen Ansatz und indem wir entsprechende Möglichkeiten schaffen, Materialien und die Kreislaufwirtschaft weiter zu verbessern. Wir arbeiten daran. Ich bin gespannt, wie in der nächsten Legislaturperiode die Konstellationen sind. Aber für uns, CDU und CSU, gehört es zum Selbstverständnis, dass wir im Bereich der Nachhaltigkeit weiterkommen wollen. Ich bedanke mich und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Kießling. – Damit schließe ich die Aussprache.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gestrigen Anhörung des Sportausschusses zum Kinder- und Jugendsportbericht ist wieder einmal klar geworden, wie stark gerade Kinder und Jugendliche unter den Einschränkungen leiden. Deswegen setzen wir uns bei den gerade laufenden Beratungen um das neue Infektionsschutzgesetz für differenzierte Ausnahmen im Sport von Kindern und Jugendlichen ein. Denn die lange fehlenden Bewegungsangebote in Vereinen und Schulen verstärken die bekannten Probleme wie Übergewicht, schlechte Kondition, schlechte Koordination; von den psychologischen, pädagogischen und sozialen Wirkungen des Sports will ich gar nicht reden. Deshalb braucht es eine starke Initiative für einen schnellen Neustart im Sportverein wie auch im Schulsport. Es ist an der Zeit, dass wir bald die tägliche Sportstunde einführen, und zwar, wie ich finde, so schnell wie möglich. Sobald das Infektionsgeschehen nachlässt und mehr Menschen geimpft sind, müssen wir buchstäblich wieder in Bewegung kommen. Schule, Verein und Breitensportler brauchen dazu natürlich auch attraktive und gute Sportstätten. Viele der hier verantwortlichen Bundesländer und Kommunen haben über Jahre deutlich zu wenig investiert. Das hat vielerorts zu maroden Turnhallen, veralteten Sportanlagen und nicht zuletzt auch zur Schließung von Schwimmbädern geführt. Obwohl die Bundesländer hier in der Verantwortung stehen, hat die Bundesregierung diverse Förderprograme aufgelegt, um dem Sanierungsstau entgegenzuwirken, so zum Beispiel den Investitionspakt Sport mit 150 Millionen Euro, das BMI-Sanierungsprogramm Sport mit 600 Millionen Euro für drei Jahre, das Kommunalinvestitionsförderungsgesetz mit 3,5 Milliarden Euro in den Jahren 2015 bis 2020 und die Bundeshilfen für die Städtebauförderung in Höhe von 790 Millionen Euro aus dem Jahre 2018. Um in Zukunft zielgerichtet, nachhaltig und bedarfsorientiert investieren zu können, brauchen wir zudem einen digitalen Sportstättenatlas. Es braucht ein genaues Lagebild, um auf sich wandelnde Sportnachfragen und neue Trends reagieren zu können. Neben den Hilfen des Bundes braucht es aber vor allem auch ein deutlich stärkeres Engagement der zuständigen Länder und Kommunen. So war ich doch einigermaßen überrascht, als in der Anhörung des Sportausschusses zum Thema Sportstätten der zuständige Minister Holter aus Thüringen auf die Nachfrage, wie er sich denn die Verteilung der Mittel zwischen Bund und Ländern vorstelle, gesagt hat: 90 Prozent Finanzierung durch den Bund. ({0}) Das ist Wunschdenken und meines Erachtens nicht ernst gemeint, zumal die Länder bei den Coronahilfen für Vereine und Verbände gut geholfen haben. Wir werden jedenfalls verlässlich an der Seite des deutschen Sports stehen, und zwar mit unserem Programm „Coronahilfen Profisport“, mit dem wir für die Jahre 2020 und 2021 jeweils 200 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um die schwierige Zeit der Bundesligavereine in unterschiedlichen Sportarten zu überbrücken. ({1}) Neben dem Bundesinnenministerium sind aber auch viele andere Ressorts mit involviert. Sie haben dafür gesorgt, dass die Vereine und Verbände Zugang zu den Wirtschaftshilfen oder auch zu Kurzarbeitergeld erhalten. Das Familienministerium hat zum Beispiel kurzfristig 100 Millionen Euro für das „Sonderprogramm Kinder- und Jugendbildung“ bereitgestellt. Meine Damen und Herren, in den kommenden Wochen und Monaten werden wir aber vor allem unseren Blick in die Zukunft richten. Nach der vorherigen Kampagne der Bundesregierung #WirBleibenZuhause würde mir jetzt eine Kampagne gefallen, die Benny Folkmann, der zweite Vorsitzende der Deutschen Sportjugend, gestern im Sportausschuss mit einem Arbeitstitel, würde ich mal sagen, formuliert hat. ({2}) Er hat gesagt: Gestalten wir zusammen ein bewegungsfreundliches Land! – Daran sollten wir uns orientieren. Ich danke Ihnen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Eberhard Gienger. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörn König. ({0})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, ({0}) dessen Kerninhalt ist, zehn Jahre lang je 1 Milliarde Euro in Sportstätten zu investieren. Das ist eine gute Idee. Eine drastische Erhöhung des Sportetats auf 1 Milliarde Euro fordern wir, seitdem wir in den Deutschen Bundestag eingezogen sind. ({1}) Werte Kollegen, machen Sie bitte ein Kreuz in den Kalender; denn es geschehen noch Zeichen und Wunder: Die Linke kann ideologiefreie Sachpolitik, und die AfD stimmt zu. ({2}) Es musste sozusagen der Notfallmodus aktiviert werden, um die Versäumnisse der letzten 30 Jahre zu korrigieren – ein Versagen, welches die folgenden vier Fraktionen zu verantworten haben: SPD, CDU/CSU, FDP und die Grünen. ({3}) Jeder von Ihnen hat in den letzten 30 Jahren mal im Bund regiert. Das Ergebnis: Bis 2017 sanken die Bundesausgaben für den Sport auf unter 0,05 Prozent des Gesamtetats. Wir reden hier von 50 Cent bei 1 000 Euro Gesamtausgaben. Sie, die Sportpolitiker aller regierenden Parteien, haben geschlafen und damit versagt. ({4}) Die Kulturpolitiker haben in derselben Zeit einen Staatsminister auf Bundesebene mit inzwischen 370 Mitarbeitern erhalten. Der Bundesetat für Kultur ist fünfmal so hoch wie der für den Sport. Die Bundesländer aber haben genauso versagt. Im Jahr 2005 haben die Kommunen 72,6 Prozent der Gesamtausgaben für den Sport getragen; im Jahr 2015 waren es schon 83,2 Prozent aller Sportausgaben. Was haben Bund und Länder also gemacht? Sie haben die Kommunen alleingelassen und den Sport vernachlässigt. Sie, verehrte Damen, Herren und Diverse von den regierenden und ehemals regierenden Parteien, haben heute eine einmalige Chance und auch Pflicht: Sie können Ihr Versagen reparieren, indem Sie diesem Anliegen zustimmen. Es ist leider eine notwendige Sonderreparaturaktion – so lange, bis die Kommunen wieder so entlastet werden, dass sie ihre Sportstätten gemäß dem föderalen Prinzip wieder selbst bauen und instand halten können. Werte SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne, zeigen Sie bitte den Bürgern da draußen, dass dieses Parlament noch in der Lage ist, konstruktive Sachpolitik zu machen! Korrigieren Sie Ihre Fehler in der Vergangenheit, und investieren Sie endlich in Sportstätten! ({5}) Es geht hier um Sport; da ist auch der nicht vorhandene Fraktionszwang einfach überflüssig. Für alle, die meinen, die 10 Milliarden Euro seien viel Geld: Der DOSB und der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben den Investitionsstau sogar auf 31 Milliarden Euro beziffert. Außerdem: Viel Geld ist in Zeiten der EZB-Gelddruckerei relativ. Die Gesamtausgaben des Bundes werden in diesen zehn Jahren bei über 4 Billionen Euro liegen. Die Kosten für die Sportstätten entsprechen also mickrigen 0,25 Prozent der Gesamtausgaben. Das ist ein Vierhundertstel. Werte Kollegen, ein reiches Land schultert solche Peanuts doch mit links. ({6}) Den FDP-Antrag unterstützt die AfD im Wesentlichen, zumal wir bereits vor einem Jahr den Antrag „Corona ins Abseits stellen“ mit ähnlichen Inhalten gestellt haben. Wir haben die Anliegen auch in Briefen an die Sportminister der Länder adressiert. Unsere eigenen AfD-Anträge zum Themenbereich „Öffnen der Fitnessstudios und des Vereinssports“ sind in Coronazeiten notwendiger denn je. Sport ist Teil der Lösung und stärkt das Immunsystem, dazu weitere Prophylaxe wie Vitamin D im Winterhalbjahr, und wir können gestärkt die Covid-Krankheit besiegen. ({7}) Auch hier bitten wir um Zustimmung. In diesem Sinne: Liegestütze statt Lockdown! Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege König. ({0}) – Sie können mich auch mit Frau Präsidentin anreden, wenn Ihnen das gefällt. Ich bin da völlig schmerzfrei. ({1}) Aber die Anreden „Herr Präsident“ und „Frau Präsidentin“ sollte die AfD beherzigen. Nächster Redner ist der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion. ({2})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob der nachfolgende Ausspruch eines Kabarettisten ausgerechnet für den Kollegen König gemacht worden ist, aber die schwierigste Turnübung ist immer noch, sich selbst auf den Arm zu nehmen. ({0}) Die Opposition schafft das tatsächlich mit einigen Anträgen, die wir heute hier vorliegen haben. Wir schauen auf Luftschlösser. Die Linken fordern in Ihrem Antrag einen Goldenen Plan Nummer drei, weil ihnen selber nichts anderes dazu einfällt, als einfach zehnmal 1 Milliarde Euro zu fordern. Ich werde Ihnen gleich zeigen, wie man das richtig macht. ({1}) Die FDP will den Erhalt der Breitensportlandschaft haben, ({2}) und die Grünen reden von Transparenz – klingt auch immer gut. Letztendlich: Geld, Erhalt, Transparenzportale allein sind nicht das, was unser Sportdeutschland braucht. Es braucht Zuverlässigkeit, es braucht Disziplin, und es braucht vor allen Dingen eines: Respekt vor den Sportlerinnen und Sportlern. Ich erkläre Ihnen das. ({3}) Zehnmal 1 Milliarde Euro bei einem Investitionsstau in Höhe von, wie Sie selber sagen, 31 Milliarden Euro, klingt, finde ich, gut gebrüllt, ist aber viel heiße Luft. Zuverlässigkeit geht folgendermaßen: Aus Programmen zur Sanierung kommunaler Einrichtungen 200 Millionen Euro für 105 Projekte in 2020, weitere Gelder im Rahmen eines Nachtragshaushaltes in Höhe von 600 Millionen Euro für 2021 und das folgende Jahr. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Deshalb reden wir hier auch von einem Investitionspakt Sportstätten 2020/2021 in Höhe von 325 Millionen Euro. Wenn man die ganzen Verpflichtungsermächtigungen für diese Programme zusammenzieht, dann kommen wir schon auf eine Summe von 1 Milliarde Euro, die Sie im Übrigen fordern und die wir, wenn wir weiter regieren, natürlich auch weiter verstetigen würden. Beim Städtebau haben wir 790 Millionen Euro für die Anlagen verbucht, damit wir Sportstätten sportartenunabhängig auch in die Quartiere, in die Stadtteile integrieren können, ({4}) damit sie nah bei den Menschen, nah bei den Kindern und Jugendlichen sind, damit sie fußläufig erreichbar sind. Dafür haben wir als Sozialdemokraten in der Regierung dieses Städtebauförderungsprogramm mit aufgelegt und mit unterstützt. Darauf kann man stolz sein. ({5}) Die Anhörung im Sportausschuss vergangene Woche zur Förderung des Bundes von kommunalen Sportstätten hat sehr deutlich gezeigt, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in diesem Land auch im Hinblick auf den Sport nicht gewährleistet ist. Sie reden über 31 Milliarden Euro Investitionsstau und wollen das mit 10 Milliarden Euro auflösen, ({6}) sehen aber nicht, dass die kommunalen Kassenkredite – 51 Milliarden Euro alleine in Nordrhein-Westfalen, 13 Milliarden Euro in Bayern – in der Summe bundesweit über 100 Milliarden Euro betragen. Ich frage mich, wie das eigentlich alles gehen soll, wenn wir nicht die kommunalen Investitionseinheiten wieder ertüchtigen, wenn wir nicht die Kommunen in die Lage versetzen, das zu tun, wofür sie eigentlich da sind: kommunale Daseinsvorsorge zu betreiben für Jugend, für Sport, für Kultur. Da muss man auch sehen: Ein Altschuldenfonds, der so, wie Olaf Scholz ihn vorschlägt, allerdings von Nordrhein-Westfalen ablehnt wird, ist genau das richtige Mittel. Ein Altschuldenfonds, der unsere kommunalen Investitionseinheiten wieder auf die Schiene setzt, um in Sport, Jugend und Kultur zu investieren, ist der richtige Weg. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Özdemir, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hahn?

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne noch im Zusammenhang vortragen, bitte. Breitensport – wichtiges Thema. Wir haben für den Breitensport Programme aufgelegt. Kollege Gienger hat das gerade in vielfältiger Hinsicht dargelegt, und ich bin froh, dass sich die Union in vielen Punkten, zu denen sie bislang beim Thema Sport in der Öffentlichkeit stumm war – zum Beispiel im Hinblick auf Kinder und Jugendliche, Sport draußen und bei den sportartunabhängigen Überbrückungshilfen –, geäußert hat. Jetzt komme ich zu meinem Schlagwort „Disziplin“: Wir haben nicht nur Programme aufgelegt, wir hatten auch den Mut und die Traute, Programme, die nicht richtig laufen, weiter anzustoßen. Die Umsetzung beim Projektträger Jülich ist zum Beispiel immer wieder mal in der Kritik gewesen. Da haben wir nachgearbeitet, da sind wir dran. Diese Disziplin würde ich mir, ehrlich gesagt, auch vom Bundeswirtschaftsministerium wünschen, ({0}) das im April immer noch von Novemberhilfen redet. Während das Bundesfinanzministerium Hilfen in Milliardenhöhe auflegt, verhält sich das Bundeswirtschaftsministerium immer noch wie eine Sparkasse, die einen Kredit für ein undurchsichtiges Start-up gewähren soll, obwohl die Hilfen auf der Straße liegen. Ich würde mir wünschen, dass wir die Ausgabereste von Coronahilfen dafür verwenden, dass wir miteinander die Sportallianz Deutschland schmieden. Das Bundesinnenministerium als Sportministerium ist da schon auf einem guten Weg. Ich würde mir wünschen, dass sich das Bundesministerium für Gesundheit dazugesellt, damit wir diese Sportallianz Deutschland miteinander schmieden können, um fit aus der Krise zu kommen, um wieder rausgehen zu können, wir also Sport und Gesundheit verzahnen. Dafür müsste sich ein Gesundheitsminister auch mal die Reden hier im Parlament anhören und einsehen, dass Sport und Gesundheit eine Einheit sind ({1}) und eben keine Widersprüche. Diese Ansicht lag beispielsweise dem zugrunde, was er bei der Krankenkassen-Werbemaßnahmen-Verordnung gerne gehabt hätte, wodurch dann Milliarden Euro aus dem deutschen Sport herausgezogen worden wären. Das geht so nicht, Herr Spahn! ({2}) Die Realität ist: Unsere Kinder haben einen Bewegungsmangel. Aber es sind nicht nur die Kinder, es sind auch die Seniorinnen und Senioren, die auf ihren Rehasport warten, der möglicherweise mit guten Lüftungskonzepten tatsächlich möglich wäre. Wir als SPD-Bundestagsfraktion setzen uns dafür ein und wollen erreichen, dass der Sport draußen wieder möglich ist, dass Individualsport und Breitensport nicht irgendwelchen Regelungen untergepflügt werden. Wir wollen vielmehr, dass Kinder und Jugendliche inzidenzunabhängig draußen kontaktlos wieder Sport treiben können. Das ist keine Altersfrage, das ist eine pädagogische Frage. Man kann dem Kind in der Kita, dem Schulkind, aber auch dem Jugendlichen erzählen, dass er im Freien Sport machen soll, dabei aber Abstand halten soll. Wir müssen die Kinder wieder rausholen aus den Wohnungen, wo sie mit drei Geschwistern zusammensitzen, fünf, sechs Stunden lang Homeschooling machen und am Ende des Tages auf ihre Inlineskates, ihr Skateboard gucken und Mutter und Vater ihnen sagen müssen: Das geht jetzt gerade nicht. Du darfst einmal um den Block spazieren gehen, aber du darfst keinen Sport treiben. – Das geht so nicht. ({3}) Schließlich – um auf die Grünen noch mal zu sprechen zu kommen – zum Transparenzportal. Das ist eine gute Sache; es klingt auch gut. Aber richtig geht es folgendermaßen: Athleten Deutschland ist eine Institution, auf die man sehr stolz sein kann, wie ich finde. Wir haben mit einer Förderung dieser Athletenvertretung dafür gesorgt, dass wir mehr Transparenz in die Sportfachverbände und auch ein Stück weit in den DOSB bekommen. Wir sehen so, wie die Verteilung ist, und sorgen mit Sportlern, mit Sportlerinnen dafür, dass die Mittel auch an die richtigen Stellen kommen. Dies gelingt nur, wenn wir die Werte des Grundgesetzes am Ende des Tages auch leben und mündige Athletinnen und Athleten haben, die ihre Meinung nicht hinterm Berg halten, sondern damit rausgehen. Deshalb muss man – jetzt neigt sich meine Redezeit überraschend dem Ende zu – eine solche Organisation weiter in die Lage versetzen, diese Transparenz zu unterstützen und auf den Weg zu bringen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Anträge der Opposition lehnen wir natürlich ab. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir, auch für die Beachtung der roten Ampel. Es ist nicht üblich in diesem Haus, aber immerhin. ({0}) – Ich kann Ihnen immer wieder sagen: Wenn die Ampel auf Gelb springt, dann fahre ich los. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Dassler, FDP-Fraktion. ({2})

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es viel zu spät, erst heute über Sport, Sportstätten, Breitensport in der Pandemie zu sprechen. Es zeigt sich hier genau wie in der Bildung, dass die Länder und die Bundesregierung die Bedeutung des Sports für Körper und für Geist für uns alle komplett falsch eingeschätzt haben. Es muss doch alles getan werden, um die Breitensportlandschaft gerade jetzt in der Pandemie tatkräftig zu unterstützen und um den Breitensport auch für die Zeit nach der Pandemie zu erhalten. ({0}) Die größeren Sportvereine in der Fläche sind doch längst ins Straucheln geraten und kommen wegen Mitgliederschwund und nicht bezahlbarer Fixkosten längst an ihre Grenzen. Teilweise habe ich den Eindruck, dass der Breitensport, aber manchmal auch der Spitzensport, ein bisschen ein Nischendasein in unserer Politik einnimmt. Pokale, meine Damen und Herren, werden von Ihnen allen, von allen Politikern im Wahlkreis immer ganz gerne überreicht; aber Investitionen in Sportinfrastrukturen wie Hallenbäder, Schulsporthallen, die ja auch von unseren Vereinen genutzt werden, bleiben in dem notwendigen Umfang aus. ({1}) Ich erinnere an die Petition der DLRG, die sich für die verfallenen Hallenbäder starkgemacht hat. Hunderte von Kindern, meine Damen und Herren, können heute nicht mehr schwimmen. Das ist eine Katastrophe! Ich erinnere auch – Ebse Gienger, du weißt es – an die in Vergessenheit geratenen vereinseigenen Sportstätten. Diese Vereine haben sich im Freiburger Kreis organisiert, und sie erfahren keinerlei öffentliche Unterstützung bei Instandhaltung und Modernisierung, und seien es auch nur günstige Kredite. Breitensport, meine Damen und Herren, so habe ich manchmal den Eindruck, wird auf Sparflamme betrieben, anstatt die starke Bedeutung für die geistige und auch körperliche Gesundheit zu erkennen und den Sport entsprechend umfangreich zu unterstützen. Umso enttäuschender ist es, dass die bisher angebotenen Hilfen für den Sport in der Pandemie bei Weitem nicht ausreichend waren. Wir Freie Demokraten haben bereits im Dezember 2020 – das wissen auch die Damen und Herren von der GroKo im Sportausschuss – vier Handlungsbereiche aufgezeigt, die jetzt im Verlauf der Pandemie endlich kontinuierlich verfolgt werden müssten. ({2}) Wir benötigen – das wissen Sie alle – ein kurzfristiges Handeln des Bundes zusammen mit Ländern und Kommunen, um den Breitensport finanziell nicht im Regen stehen zu lassen. Wir brauchen die Förderung der Vereine bei Schaffung und Ausbau von digitalen Angeboten; hierzu gehört auch E-Sport. Im Moment sind ja auch kontaktlose Sportarten möglich. Dann muss der Goldene Plan der Sportstättensanierung mehr Geld erhalten und an die neuen Herausforderungen angepasst werden. ({3}) Wir benötigen auch ganz klar umrissene Forschungsaufträge zur Identifikation von Covid-19-Infektionsketten. Kinder und Jugendliche, meine Damen und Herren, sind doch die Verlierer der Pandemie; Eberhard, du hast es gesagt. Es braucht verstärkte Anstrengungen, um Bewegungsangebote zu machen, dort, wo Kinder und Jugendliche sind: Kitas, Schulen, Sportvereine und kommunale Jugendpflege. Dazu haben wir diese Woche auch wieder einen Antrag eingebracht. Meine Damen und Herren, wir müssen den Sport differenziert betrachten: – ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– keine automatischen Verbote, sondern wir müssen prüfen, wie wir Sport an der frischen Luft ermöglichen können, auch in Kleinstgruppen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte.

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Moment, ich habe es gleich. – Zu den anderen Anträgen. Antrag der Linken: wichtig, richtig, wünschenswert, haushaltspolitisch unseriös – keine Unterstützung. Antrag der Grünen: volle Unterstützung. Meine Damen und Herren, zum Schluss: Unsere Wirtschaft strauchelt angesichts der großen Pandemiebelastungen. Lassen Sie die Menschen nicht auch noch im Sport allein!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Jetzt haben Sie noch einen Satz.

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie sie nicht straucheln, sondern geistig und körperlich fit den Langstreckenlauf der Pandemiebewältigung absolvieren! Unterstützen Sie deshalb bitte unseren Antrag. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Dassler, ich weiß zwar nicht, was es bedeutet, dass Sie dauernd ihren Finger heben; aber mein Finger zeigt auf die Uhr. ({0}) – Dafür kann ich ja nichts; das müssen Sie Ihrer Fraktion erklären. Mein Gott! Für die Anwendung der Redezeit bin ich nicht verantwortlich. Ich bin nur für die Einhaltung der Redezeiten verantwortlich. Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 7. Dezember 2019 versprach Innenminister Seehofer auf der Mitgliederversammlung des DOSB einen dritten Goldenen Plan Sportstätten; das ist also keine Erfindung der Linken. Hoffnungen keimten auf bei Ländern und Kommunen sowie vor allem bei den vielen Sportverbänden und Vereinen. Alle warteten darauf, dass Seehofer liefert. Als ein halbes Jahr lang nichts geschah, hat Die Linke im Juni 2020 mit dem vorliegenden Antrag einen eigenen Vorschlag unterbreitet. Der über die Jahre aufgelaufene Sanierungsbedarf bei Sportstätten und Schwimmbädern wird auf rund 31 Milliarden Euro geschätzt. Die Zahl wurde schon genannt; sie kommt übrigens nicht von uns, sondern vom DOSB und von den Kommunalverbänden, also auch keine Erfindung, sondern leider Realität. Aufgrund von Finanznöten sind immer weniger Städte und Gemeinden in der Lage, ihre Bäder zu sanieren und zu betreiben. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 100 Bäder geschlossen. Das alles hat natürlich auch Folgen, für den Schwimmunterricht, der an vielen Schulen gar nicht mehr angeboten werden kann. Rund 60 Prozent der zehnjährigen Kinder können nicht sicher oder gar nicht schwimmen. Das ist aus meiner Sicht ein erschreckender Befund. Auch bei Sporthallen und Sportplätzen sieht es nicht besser aus. Sie sind teilweise nur noch unter unzumutbaren Bedingungen nutzbar, manche müssten eigentlich baupolizeilich gesperrt werden. ({0}) Fehlende energetische Sanierungen treiben die Betriebskosten nach oben, und die fehlende Barrierefreiheit im überwiegenden Teil aller Sportstätten sorgt dafür, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht gleichberechtigt Sport treiben können wie Menschen ohne Behinderungen. Die gestrige Anhörung im Sportausschuss zum Vierten Kinder- und Jugendsportbericht wie auch die Anhörung zur Situation der Sportstätten in den Kommunen – beide fanden im Übrigen auf Antrag der Linken statt – haben sehr deutlich gemacht, dass das Schwarze-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern, Frau Freitag, bei dem die Verantwortung immer wieder auf Kommunen und Länder abgeschoben wird, uns alle nicht weiterbringt. Wir haben gemeinsam einfach die Verpflichtung, die Sportstätten in Deutschland zu verbessern; und das hat leider auch der Bund sträflich vernachlässigt. ({1}) Zudem, meine Damen und Herren, gibt es eine erhebliche soziale Schieflage; denn Einkommensschwächere und deren Kinder sind laut Statistik deutlich weniger schwimmfähig, sie sind seltener Mitglied in einem Sportverein und weisen deutlich größere Bewegungsdefizite und gesundheitliche Probleme auf als im Bundesdurchschnitt. Hier müssen wir kurzfristig gegensteuern, und der Verweis auf die 15 Euro monatlich aus dem Bildungs- und Teilhabepaket reicht nicht. ({2}) Deshalb, meine Damen und Herren, auch der Vorschlag im Antrag der Linken, das Zehnmal-1-Milliarde-Programm zu verknüpfen mit der kostenfreien Zurverfügungstellung der Sportstätten für Sportvereine, wie es bereits in Thüringen mit dem neuen Sportfördergesetz umgesetzt wurde. In der öffentlichen Anhörung des Sportausschusses zum Thema „Förderung von Sportstätten in Kommunen“ am 24. März machten alle zehn Sachverständigen deutlich, dass der derzeitige Beitrag des Bundes angesichts des tatsächlichen Sanierungsbedarfs völlig unzureichend ist, und sie, wenn sie mit abstimmen dürften, dem vorliegenden Antrag der Linken zustimmen würden. Die AfD braucht dafür also überhaupt niemand. ({3}) Ja, meine Damen und Herren, es gab die Aufstockung beim Programm „Sanierung kommunaler Einrichtungen in den Bereichen Sport, Jugend und Kultur“ sowie beim „Investitionsplan Sportstätten“ – Kollege Gienger hat darauf hingewiesen –; aber diese Bundesprogramme ersetzen keineswegs den erforderlichen mehrjährigen Goldenen Plan Sport, den Herr Seehofer versprochen hat. Die Coronapandemie hat auch spürbare Auswirkungen auf den Sport. Am stärksten leiden darunter die Kinder und Jugendlichen. Das fast durchgängige Verbot von Schul- und Vereinssport, gerade im Freien, halten wir für völlig unangemessen und kontraproduktiv. Hier muss das Infektionsschutzgesetz dringend korrigiert werden. ({4}) Herr Kollege Gienger und Herr Özdemir, wir werden in der nächsten Woche sehen, was aus Ihren Versprechungen geworden ist. Worte allein nützen nichts, wir brauchen Taten. ({5}) Zum Schluss, Herr Präsident.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, jetzt wirklich zum Schluss kommen!

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Antrag der Grünen hätte eine eigenständige Debatte zur Transparenz der Spitzensportförderung verdient. Wir werden hier zustimmen, das weiter im Blick behalten, und wir werden auch sehen, ob die Grünen, sollten sie denn in der nächsten Regierung sein, ihre eigenen Vorschläge in der kommenden Wahlperiode umsetzen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum Schluss kommen.

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Antrag der FDP – ja, Herr Präsident; ich rede ja vom Antrag der FDP, letzter Satz –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das ist nicht mein Problem.

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– alles klar –, der auch in der Coronapandemie mehr für den Breitensport tun will, ist nicht schlecht, es fehlt aber die soziale Dimension auf die Betroffenen. Deshalb können wir uns da nur der Stimme enthalten. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gienger, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht: Die sogenannte Coronanotbremse muss natürlich der positiven Bedeutung des Sports im Außenbereich Rechnung tragen. Ich hoffe, das wird auch von Ihrer Fraktion insgesamt so gesehen. Aber nicht nur Corona bedroht den Breitensport. Es sind auch die maroden Sportstätten landauf, landab. Ja, wir haben einen Sanierungsstau aufgetürmt, der unsere Breitensportinfrastruktur in erheblichem Maße bedroht. Das darf uns nicht ruhen lassen. Das Ziel, das die Linke hier verfolgt, ist richtig, aber es greift zu kurz. Um unsere Sportstätteninfrastruktur wirklich fit machen zu können, braucht es detaillierte und belastbare Erhebungen, die uns nicht vorliegen. Es braucht etwa die Wiedereinführung der länderübergreifenden Sportstättenstatistik. Wir müssen wissen, wo der Bedarf am größten ist. Ein Goldener Plan muss Antworten geben, wie die Kommunen ihre Sportstätten erhalten können und welche sozialen Kriterien wir verfolgen. Die Sportstätten der Zukunft müssen natürlich umweltverträglich und multifunktional sein. Und die zunehmende Begeisterung für Joggen, Wandern und Radfahren zeigt: Auch der Bedarf an nicht normierten Sportstätten nimmt zu. ({0}) All dem muss unsere Sportstättenförderung in Zukunft Rechnung tragen. Wir müssen den Paradigmenwechsel angehen. ({1}) All das kann ich in Ihrem Antrag leider nicht erkennen. Warum es das Bundesinnenministerium auch in dieser Wahlperiode nicht geschafft hat, einen digitalen Sportstättenatlas auf den Weg zu bringen, bleibt sein eigenes goldenes Geheimnis. ({2}) Die Vergabe der Bundesmittel für die Förderung der Sportstätten läuft vielerorts doch so ab, dass der Abgeordnete der Regierungsfraktion den Förderbescheid wie eine Monstranz durch den Wahlkreis trägt, aber dieses alte Kahrs-Prinzip „Wenn jeder ganz fest an sich selber denkt, dann ist am Ende auch an alle gedacht“ hat bundesweit zu diesem unglaublichen Sanierungsstau von 31 Milliarden Euro geführt. ({3}) Diese Kirchturmpolitik hat sich selbst überlebt und ist untauglich, den Vereinssport in der Breite zu sichern und die Herausforderungen anzugehen. Und das müssen wir ändern. ({4}) Transparenz ist entscheidend – gerade da, wo es um die Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger geht; denn es kann nicht sein, dass wir im olympischen Zyklus mehr als 1 Milliarde Euro ausgeben und weder die Bevölkerung noch der Deutsche Bundestag die derzeitige Vergabepraxis in der Spitzensportförderung wirklich kontrollieren und nachvollziehen können. Aktuell gibt es lediglich Pauschalangaben. Es gibt keine Aufschlüsselung von Ausgaben für Personal, Lehrgänge und Olympiavorbereitung. Auch der Sportbericht der Bundesregierung, der alle vier Jahre veröffentlicht wird, enthält keine Einzelauflistungen. CDU, CSU und SPD bleiben damit immer noch hinter den Vorgaben des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2014 zurück. Das ist nicht hinnehmbar. ({5}) Es geht darum, die Spitzensportförderung des Bundes transparent zu machen. Folgen Sie unserem Antrag! Schaffen Sie ein Transparenzportal! Legen Sie einen jährlichen Sportförderbericht vor! Richten Sie die seit 2001 nicht mehr erhobene Sportstättenstatistik von Bund und Ländern wieder ein! Eine moderne Sportförderung braucht eine transparente Darstellung. Nur so gewinnen wir auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Strukturen des Spitzensports. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Grundl. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten 14 Monaten haben wir während der Coronapandemie insbesondere am Brandenburger Tor immer wieder verschiedene Gruppen gesehen, die auf ihre spezifische Situation aufmerksam gemacht haben. Es waren die Schausteller, es war die Veranstaltungswirtschaft, es war die Gastronomie. Wir haben diese Themen auch hier im Plenum des Deutschen Bundestags immer wieder aufgenommen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Die Themen des Sports kamen mir in den letzten 14 Monaten etwas zu kurz, auch hier in der politischen Debatte. Natürlich haben wir auch im Sport hohe Schäden, sowohl finanzielle Schäden – da können wir mit Entschädigungen viel tun – als auch – und das darf man nicht unterschätzen – Schäden im ideellen Bereich: Ehrenamtliche, die derzeit in ihren Vereinen nicht arbeiten können, Kinder und Jugendliche, über die wir heute schon viel gesprochen haben, die ihrem Sport nicht nachgehen können. Ich glaube, die Bekämpfung dieser ideellen Schäden wird sehr viel schwieriger sein als die der finanziellen. ({0}) Deswegen bin ich der festen Auffassung, dass wir die Zahlen in der Coronapandemie jetzt schnell runterbringen müssen, damit wir dann nachhaltig für alle auch wieder Sport ermöglichen können. Dabei spielen natürlich Sportstätten eine ganz große Rolle; dazu liegt hier ein Antrag der Linksfraktion vor. Wir haben 231 000 Sportanlagen insgesamt in Deutschland. Aber wenn man sich diesen Antrag anschaut, muss man schon sagen: Wir müssen auseinanderhalten, wer in Deutschland für was zuständig ist. Wenn ich hier Stichworte lese wie „Breitensport“, „kommunale Sportstätten“, „Schwimmbäder“, „Sportunterricht“, dann ist nun mal klar, dass dafür nicht der Deutsche Bundestag und der Bund, sondern die Länder und Kommunen zuständig sind. ({1}) Darauf müssen wir auch immer wieder hinweisen. ({2}) Wenn wir in eine Debatte kommen, dass die Allzuständigkeit des Bundes immer wieder betont wird, werden am Schluss immer weniger Mittel für die Dinge zur Verfügung stehen, für die wir wirklich zuständig sind. Frau Dassler hat sich gemeldet.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja, aber ich habe die Frage nicht zugelassen, wie Sie gerade gemerkt haben.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ach, schade! Sie wollte mich bestimmt darauf hinweisen, dass wir natürlich trotzdem eine gewisse Verantwortung haben. Aber, Frau Dassler, die FDP hat eine tragende Rolle in der Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz, wo ich herkomme. Wenn man mal das, was Rheinland-Pfalz für die Vereine in der Coronakrise tut, mit dem vergleicht, was beispielsweise in Nordrhein-Westfalen passiert, das, CDU-geführt, ein 300-Millionen-Euro-Sportstättenförderprogramm aufgelegt hat, dann muss man einfach sagen: Rheinland-Pfalz unter Dreyer und auch unter Volker Wissing versagt an dieser Stelle einfach völlig. ({0}) Deswegen: Herzlichen Dank, dass Sie mir sozusagen durch Ihre Meldung die Gelegenheit gegeben haben, an dieser Stelle darauf hinzuweisen. Unsere Aufgabe – ich war gerade bei der Arbeitsaufteilung – ({1}) ist eben der Spitzen- und Leistungssport. Wenn man sich mal die Haushalte der letzten drei, vier Jahre anschaut, lieber Staatssekretär Stephan Mayer, dann muss man sagen: Es ist doch beeindruckend, was das Innen- und Sportministerium gemeinsam mit dieser Großen Koalition für den Spitzen- und Leistungssport in Deutschland in den letzten Jahren erreicht hat. Das muss man an der Stelle auch sagen. ({2}) Wenn man sich aber anschaut – Eberhard Gienger hat darauf hingewiesen –, was wir an Förderung und auch an Entschädigungen für Vereine im semi- und professionellen Bereich gemacht haben, dann kann man, auch wenn man ein bisschen über die November- und Dezemberhilfe schimpft, feststellen: Die Hilfen, die für die Vereine geleistet wurden, waren unbürokratisch, sie waren schnell und kamen direkt bei den Vereinen an. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir haben hier viele Vereine davor bewahrt, dass es sie in Zukunft nicht mehr gibt. Zum Thema Sportstätten. Natürlich müssen wir hier auch etwas tun. Der Bund übernimmt ja auch Verantwortung. Die verschiedenen Redner haben ja auf die Programme hingewiesen. Herr Grundl, dann müssen Sie halt mal ein bisschen in Ihrem Wahlkreis unterwegs sein, mit den Vereinen sprechen und die Sportstätten besuchen. Wir sind das als direkt gewählte Abgeordnete der Großen Koalition. ({3}) Wir sind sehr intensiv im Gespräch und setzen dann auch durch, dass die Förderung bei uns in der Region entsprechend ankommt. ({4}) In diesem Sinne kann man sagen: Wir müssen gucken, dass wir jetzt gut durch die Coronakrise kommen, dass wir die Zahlen jetzt schnell senken, dass wir es durch Impfen und Testen schaffen, zu mehr Freiheiten zu kommen. Aber es bringt, glaube ich, nichts, wenn wir in eine Jo-Jo-Situation geraten, in der die Zahlen immer wieder runter- und hochgehen; denn das würde dazu führen, dass wir noch relativ lange Zeit keinen oder nur sehr, sehr eingeschränkt Sport machen können; und das möchte ich nicht. Deswegen dieser Appell an uns in dieser wichtigen Woche. By the way, die Anträge lehnen wir natürlich ab. Und die letzten zehn Sekunden schenke ich uns herzlich gern. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steiniger. – Damit schließe ich die Aussprache.

Steffen Bilger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004011

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über ein Gesetz, das auch Kommunenentlastungs- und Radverkehrsförderungsgesetz heißen könnte; denn genau dafür sorgt dieses Gesetz. Zudem sorgt es für Rechtssicherheit. Ziel der Novellierung ist es, durch die Entlastung der Kommunen von Finanzierungsbeiträgen nach dem Bundesfernstraßengesetz und dem Eisenbahnkreuzungsgesetz Investitionen in die Infrastruktur für den Radverkehr sowie in das Schienennetz zu beschleunigen. Einmal mehr tun wir also etwas, um bei Planung und Bau von Infrastruktur in diesem Land schneller voranzukommen. Es ist gut, dass sich die Koalition dieses Ziel gesetzt hat und im Laufe der Legislaturperiode schon viel dafür erreicht hat. ({0}) Worum geht es aber heute konkret? Oft schon gab es vor Ort gute Ideen, etwas für die Mobilität zu tun, wenn ohnehin eine Baumaßnahme auf einer Bundesfernstraße anstand, die mit einer kommunalen Straße kreuzt. Aber wenn die Kommune die Finanzierung nicht stemmen konnte oder wollte, wurden die guten Ideen nie umgesetzt. Da setzen wir an. Um Kommunen zu entlasten, wird im Bundesfernstraßengesetz ein sogenannter Vorteilsausgleich vorgesehen. Dadurch erhalten Kommunen zukünftig die Möglichkeit, im Rahmen von Ersatzinvestitionen oder Ausbauplanung des Bundes eigene Ausbauplanungen zu realisieren. Bei Maßnahmen an Bahnübergängen im Zuge nichtbundeseigener Eisenbahnen übernehmen nun die Länder zur Beschleunigung von Investitionen in das Schienennetz die Kostenanteile der Kommunen, also einmal mehr eine Entlastung der Kommunen. Da die Kommunen von den Kosten entlastet werden, können auch mehr Bahnübergänge schneller beseitigt werden. Ein weiterer Vorteil der ganzen Änderungen: Wir leisten damit auch einen wichtigen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Dazu kommt, dass Verwaltungsabläufe bei der Abwicklung von Baumaßnahmen an Eisenbahnkreuzungen vereinfacht werden, um Investitionen in das Schienennetz zu beschleunigen. Zudem ist eine Rechtsverordnung vorgesehen, deren Regelung dazu dient, Verwaltungsaufwand zu reduzieren und den Aufwand der Kreuzungsbeteiligten für Planung und Baudurchführung angemessener zu vergüten. Das klingt sicherlich alles etwas abstrakt, es wird aber den Kommunen ihren Einsatz für eine verbesserte Verkehrsinfrastruktur vor Ort erleichtern. Sehr konkret wird es bei der Radverkehrsförderung im Eisenbahnkreuzungsgesetz. Werden Bahnstrecken stillgelegt oder Straßen eingezogen, werden künftig Rückbauverpflichtungen des Eigentümers vertraglich an die Kommune übertragen. Diese Möglichkeit wird geschaffen, um Nachnutzungen zum Beispiel zur Stärkung des Radverkehrs zu vereinfachen. Dadurch können schneller attraktive Fahrradwege entstehen. Wenn Kommunen beim Neubau von Eisenbahnkreuzungen Radwege anlegen, können diese in Zukunft vom Bund gefördert werden. Also einmal mehr: Rückenwind für den Radverkehr, meine Damen und Herren. ({1}) Aber der Gesetzentwurf umfasst noch einen weiteren bedeutsamen Bereich. Ich gebe zu, jetzt wird es noch einmal etwas kompliziert, aber es geht um die rechtssichere Fortführung und Beendigung von Genehmigungsverfahren für die Bundesfernstraßenprojekte. Damit bin ich also nach der Kommunenentlastung, nach der Radverkehrsförderung schon beim Thema Rechtssicherheit angelangt. Konkret geht es um die Planfeststellungs- oder Plangenehmigungsverfahren, die die Länder vor dem 1. Januar 2021, also dem Stichtag für die Reform der Bundesfernstraßenverwaltung, eingeleitet haben. Hier ist gesetzlich vorgesehen, dass diese Verfahren von den Ländern fortgeführt werden, und dabei soll es auch bleiben. Das im Oktober 2018 neu errichtete Fernstraßen-Bundesamt ist somit in diesen Fällen nicht die zuständige Anhörungs- und Planfeststellungsbehörde, sondern es ist ausschließlich für die Verfahren, die nach dem 1. Januar 2021 eingeleitet wurden bzw. werden, zuständig. Vielleicht zur Erläuterung für alle, die sich nicht jeden Tag mit der Verkehrspolitik beschäftigen: Seit dem 1. Januar dieses Jahres hat der Bund mit seiner Autobahn GmbH die komplette Verantwortung für die Autobahn übernommen. Zuvor waren die Länder für Planung und Bau zuständig. Aber nun zur konkreten Problematik. Vor Fertigstellung eines Vorhabens kann ein Planergänzungsverfahren notwendig werden, das sich auf ein Planfeststellungsverfahren bezieht, das vor dem 1. Januar 2021 durch ein Land eingeleitet wurde. Dann soll das Land und nicht das ansonsten bei den neuen Projekten zuständige Fernstraßen-Bundesamt für das Planergänzungsverfahren zuständig sein, auch wenn dieses Verfahren erst nach dem 1. Januar 2021 eingeleitet wird. Mit der Gesetzesänderung wird somit die bestehende Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern nicht neu verteilt, sie wird lediglich rechtssicherer als bisher ausgestaltet. Auch der Klageweg und der Rechtsschutz bleiben unangetastet. Eine ähnliche Regelung sehen wir für einen anderen Fall vor. Auch hier will ich zunächst etwas dazu erläutern. Bereits nach dem geltenden Fernstraßen-Bundesamt-Errichtungsgesetz können die Länder entscheiden, dass auch nach dem 1. Januar 2021 die nach Landesrecht zuständige Behörde Anhörungs- und Planfeststellungsbehörde für den Bau oder die Änderung von Bundesautobahnen bleibt. Vier Bundesländer haben davon bisher Gebrauch gemacht: Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Hamburg. Diese Option bezieht sich aber nach der geltenden Gesetzeslage ausschließlich auf die Bundesautobahnen in den Ländern, in denen aufgrund eines entsprechenden Antrags nach dem Grundgesetz die Bundesstraßen in der Baulast des Bundes in Bundesverwaltung geführt werden. Auch das muss ich, glaube ich, erläutern: Neben den Autobahnen gibt es auch die Möglichkeit, die Verantwortung für die Bundesstraßen an den Bund zu übertragen. Auch von dieser Möglichkeit haben mehrere Bundesländer Gebrauch gemacht. Also für diese Länder soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass auch für die Bundesstraßen weiter die nach Landesrecht zuständige Behörde Anhörungs- und Planfeststellungsbehörde bleibt. Das setzt nach der Verfassung eine einfachgesetzliche Regelung voraus. Diese wird nun geschaffen, soweit es die Bundesstraßen in Bundesverwaltung betrifft. Für die Bundesautobahn gibt es sie bereits. Also: Wir schaffen mit dem Gesetzentwurf einerseits Rechtsklarheit, andererseits aber auch einen weiteren Baustein zur finanziellen Entlastung der Kommunen und für eine bessere Fahrradinfrastruktur. Ich danke herzlich für die bisherige konstruktive Beratung im Bundestag und Bundesrat und bitte Sie, diesen wichtigen Gesetzentwurf zu unterstützen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir verhandeln heute Abend ein Paket von Gesetzesänderungen zur Verkehrspolitik, die in einem Mantelgesetz zusammengefasst sind. Eine davon ist sehr kurzfristig unter diesen Mantel geschlüpft, und darüber wird noch zu sprechen sein. Im Mittelpunkt stehen Kreuzungen kommunaler Straßen mit Eisenbahnlinien und Bundesfernstraßen. Kommt es zu einer Baumaßnahme durch den Bund, kann die betroffene Stadt oder Gemeinde die Situation nutzen, um ihre kreuzende Straße beispielsweise um einen Radweg zu erweitern. In so einem Fall hat bislang die Kommune einen finanziellen Nachteil durch ihr eigenes Umbauinteresse. Dass dadurch manche sinnvollen Projekte unterbleiben, kann man sich vorstellen. Wenn das jetzt durch eine Neuregelung geändert wird, findet das auch die Zustimmung der AfD-Fraktion. ({0}) Dass bei der Teilung der Kosten künftig auf Fiktiventwürfe verzichtet wird, also auf Pläne, die nur zur Kostenberechnung gemacht werden, begrüßen wir sehr. Eine solche Vereinfachung für die Verwaltung sollte Schule machen und vom Ansatz her auch auf andere Bereiche übertragen werden. Dem Bürger wird hierbei wahrscheinlich als Allererstes das deutsche Steuerrecht einfallen. ({1}) Seit Dienstagabend, also gerade einmal seit 48 Stunden, liegt ein Änderungsantrag der Koalition vor, der mit Straßenkreuzungen null und nichts zu tun hat, vielmehr dient er der Änderung des Fernstraßen-Bundesamt-Errichtungsgesetzes. Seit Anfang des Jahres verwaltet der Bund seine Fernstraßen nun weitgehend selbst. Herr Staatssekretär hat es schon gesagt. Dafür gibt es die Autobahn GmbH, über die der Bundesrechnungshof jüngst einen sehr kritischen Bericht verfasst hat: Schlechte Planung, überzogene Gehälter, hohe Mietkosten sind wesentliche Stichworte. Und immense Ausgaben sind angefallen für Berater, die das Verkehrsministerium für dieses Verfahren angeheuert hat. ({2}) Auch diese teuren Berater entdeckten nicht, dass aus rechtlichen Gründen viele Fernstraßenprojekte bei einer anderen Gesellschaft bleiben müssen, nämlich bei der DEGES, die eigentlich rasch Teil der Autobahn GmbH werden sollte. Und jetzt bekommen wir eine Gesetzesänderung auf den Tisch, die in ähnlicher Weise Korrekturen vornimmt – der Zusammenhang ist offensichtlich –, ({3}) nämlich bei der Abgrenzung zwischen der Bundesverwaltung durch das Fernstraßen-Bundesamt und Projekten, die in der Verwaltung der Länder bleiben. Jetzt frage ich Sie – und damit meine ich vor allem das Verkehrsministerium und die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen –, wie man denn als Parlamentarier oder Fraktion binnen 48 Stunden prüfen soll, ob diese komplexe seitenlange Änderung – die rechtliche Komplexität hat der Herr Staatssekretär dargelegt – ihre Richtigkeit hat? ({4}) Auf meine Frage, ob das, was wir vorgelegt bekommen haben, denn nun die endgültige Fassung ist, hat mir das Ministerium in der Ausschusssitzung gestern jedenfalls keine Antwort gegeben. ({5}) So sollen alle Fraktionen blind darauf vertrauen, dass diese Ausarbeitung – vielleicht wieder aus der Feder der Ministeriumsberater? – korrekt ist. Die Zielsetzung, hier Fehler zu bereinigen, stelle ich überhaupt nicht infrage, sondern begrüße ich sehr. Aber so, meine Damen und Herren, kann man mit dem Parlament doch nicht umgehen! ({6}) Eine Zustimmung der AfD-Fraktion können Sie unter diesen Umständen nicht wirklich erwarten. ({7}) Wenn wir uns jetzt nur enthalten, begreifen Sie das bitte als Anerkennung für die Erleichterungen bei Kreuzungen mit kommunalen Straßen. Ich fordere aber alle Kollegen aus diesem Hause auf, solche Hauruckaktionen wie den Änderungsantrag vom Dienstag künftig zurückzuweisen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wiehle. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Mathias Stein, SPD-Fraktion. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend behandeln wir ein etwas sperriges Thema. Der Staatssekretär hat ja versucht, uns – als Dozent sozusagen – deutlich zu machen, um welche Komplexität es geht: Es geht um Kreuzungsrecht in der Verkehrspolitik. Das hört sich natürlich erst einmal nicht besonders sexy an, aber es ist, glaube ich, ein Element, das Maßnahmen zum Umbau und zur Sanierung unserer Infrastruktur tatsächlich bis jetzt da behindert, wo kommunale Straßen auf Bundesstraßen oder auf Schienenwege treffen. Wer ein bisschen Praxis hat, gewinnt immer wieder einmal den Eindruck – Herr Präsident, entschuldigen Sie; Sie sind ja Jurist –, dass bei manchen Baumaßnahmen mehr Juristen als Techniker und Handwerker tätig sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss sich ändern! Wir haben mit diesem Gesetz einen kleinen Baustein dazu geleistet. Wir packen das an. Gerade im Bereich des Radverkehrs ist das, glaube ich, besonders wichtig; denn an vielen Stellen ist es tatsächlich so gewesen, dass kommunaler Straßenbau bei Fahrradwegen unterblieben ist, weil Kommunen nicht in der Lage waren, diesen Anteil tatsächlich zu leisten. Es ist gut, dass wir an dieser Stelle etwas tun. ({0}) Pro Baumaßnahme – wir haben das einmal durchgerechnet – sind das 200 000 Euro Entlastung; 10 Millionen Euro stellen wir dafür bereit. Ich bin froh, dass wir in dieser Wahlperiode mit der Koalition aus CDU/CSU und SPD und mit unserem Parlamentskreis Fahrrad es geschafft haben, das Fahrrad aus der Nische der Verkehrspolitik herauszuholen. Das Fahrrad ist nicht nur, tatsächlich, ein Element von Kultur oder Freizeitbewegung, sondern es ist ein selbstbewusstes Verkehrsmittel geworden. Wir haben dazu beigetragen, dass wir dort ganz, ganz viel investieren. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes honorieren das auch. 2020 sind über 5 Millionen Fahrräder verkauft worden; das ist deutlich mehr, als die Automobilindustrie an Neufahrzeugen tatsächlich auch umsetzen konnte. Dafür brauchen wir eine gute Infrastruktur. Dafür brauchen wir auch klare Zuständigkeiten. Wir packen das an. Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen wir da natürlich auch noch mehr: Wir wollen in der neuen Wahlperiode das modernste Mobilitätssystem Europas haben. Dazu gehören natürlich auch moderne Verkehrswege, auf denen viele moderne Fahrräder tatsächlich unterwegs sind. ({1}) Uns als SPD ist es besonders wichtig, zu unterstreichen: Es kann nicht sein, dass insbesondere in Kommunen, wo ganz viele Millionäre wohnen, die Straßen, die Gehwege, die Fahrradwege glänzen. Wir brauchen in allen Kommunen ein hervorragendes Mobilitätssystem aus Fahrradwegen, Gehwegen, Straßen und natürlich auch Schienen. ({2}) Natürlich müssen wir die Verkehrsträger im Auge haben. Im Vordergrund der Verkehrspolitik muss aber der Mensch sein, der sein Mobilitätsbedürfnis abbildet. Dafür müssen wir alle – vom Kleinkind bis zum Ü80-Senior, der mit dem Rollator unterwegs ist – im Blick haben; alle brauchen ein modernes Verkehrssystem, ob das die Bahn ist, ob das der Bus ist oder ein anderes Verkehrsmittel. Dafür packen wir an. Die Gesetzesänderung, die wir jetzt vorgelegt haben, ist ein Baustein dafür, und es müssen noch viele andere Bausteine folgen. Das werden wir, glaube ich, in der nächsten Wahlperiode noch einmal kräftiger machen – mit einem Bundeskanzler Olaf Scholz. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Ich gebe zu, dass ich mich als Jurist mit Kreuzungen bisher nur im Rahmen von Unfällen beschäftigt habe. Ich habe gesehen, dass Sie im Wasserbau sind. Wenn ich darüber nachdenke, was beim Kanaltunnel in Rendsburg gerade passiert, dann ist nicht der Eindruck bei mir entstanden, dass, wenn man nur Techniker und Ingenieure ranlässt, es trotzdem zu einem guten Ende kommt. ({0}) – Ja, aber nicht beim Bauen. ({1}) – Okay. ({2}) Nächster Redner ist der Kollege Torsten Herbst, FDP-Fraktion. ({3})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, der Kanzlerwunsch von Herrn Stein, vielleicht sollten Sie ein bisschen entspannter da reingehen; denn wenn man überzogene Erwartungen hat, wird man fürchterlich enttäuscht, und diese Enttäuschung wollen wir Ihnen ersparen. ({0}) Wir beraten heute wieder einmal über ein Gesetz aus der Kategorie Planungsbeschleunigung; es ist mittlerweile das fünfte Gesetz dieser Art. Man könnte auch sagen, der Nachholbedarf ist offenbar riesig. Wir begrüßen aber als Freie Demokraten diese Verbesserungen, und wir werden auch diesem Gesetz wie den anderen Planungsbeschleunigungsgesetzen zustimmen. ({1}) Wir halten es insbesondere für sinnvoll, dass wir die Kommunen finanziell entlasten, damit diese eher ihre eigenen Baumaßnahmen realisieren können. Es ist auch durchaus positiv, dass es deutlich einfachere Verfahren gibt, um die Kosten aufzuteilen. Das erleichtert hoffentlich das Bauen, schafft mehr Tempo für die Verkehrsinfrastruktur. Und wenn auch die Radwege profitieren, dann ist das keine schlechte Maßnahme, sondern ein positives Signal. Es gibt alle Gründe, das so zu versuchen und das heute auch so zu beschließen. ({2}) Mit jedem neuen Gesetz bekommt man allerdings auch den Eindruck, dass sich die Koalition oft sehr schwer tut und sich oft nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Denn, wenn wir ehrlich sind, die meisten dieser Regelungen hätten wir auch schon vor zwei Jahren beschließen können; dann wären sie schon in Kraft getreten und wir hätten eine deutlichere Beschleunigungswirkung erreicht. Schade, dass das manchmal so lange dauert! Ich sage Ihnen auch, warum wir uns nicht zurücklehnen sollten. Wenn wir uns beim Verkehrswegebau in Deutschland umschauen, dann müssen wir feststellen: Wir sind immer noch viel, viel zu langsam. Ich möchte hier nur einmal ein Beispiel – aus meinem Bundesland, aus Sachsen – schildern: Die Bahnstrecke Dresden–Leipzig war die erste deutsche Fernbahnverbindung. Gebaut wurde, vom ersten Spatenstich bis zur Eröffnung, ungefähr drei Jahre lang, von 1836 bis 1839. Raten Sie einmal, wie lange derzeit der Ausbau der gleichen Strecke auf eine Maximalgeschwindigkeit von 200 Stundenkilometer dauert; ich nehme Tipps entgegen. – 22 Jahre sind es bisher, und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange, es werden weitere zehn Jahre folgen, mindestens. Das, meine Damen und Herren, kann uns als viertgrößte Industrienation der Welt wirklich nicht zufriedenstellen. ({3}) Das ist ein Tempo, das peinlich ist, das unseren Standards längst nicht mehr entspricht und wo wir uns Gedanken machen müssen, wie wir es erreichen, dass wir nicht immer weiter zurückfallen im Vergleich zu den Schnellsten in der Welt, aber auch im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn. Wir werden als Fraktion der Freien Demokraten auch in der nächsten Legislaturperiode für eine Beschleunigung von Planung und Bau von Verkehrswegen kämpfen, und ich sage mal: Egal wer dann Minister ist, wir werden auf alle Fälle Druck machen. – Wir freuen uns auf die weiteren Debatten zu diesem Thema. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herbst. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie, dass ich mich dem Thema von der kommunalpolitischen Seite etwas nähere. 960 000 Kilometer umfasst das Straßennetz in Deutschland. Davon sind zwei Drittel in kommunaler Hand. Daran sieht man schon, wie groß die Aufgabe und die Last für die Kommunen sind. Das Gesetz über Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen hat den Kommunen lange Zeit tief in die Tasche gegriffen und – die Vorredner haben das schon gesagt – auch manches wichtige Vorhaben aufgrund der Haushaltslage einfach unmöglich gemacht. Deshalb ist es gut, dass wir heute hier darüber reden, wie das zukünftig anders sein soll. Wir haben schon seit vergangenem Jahr die Regelung, dass Maßnahmen an Bahntrassen und den sich daran befindlichen Eisenbahnkreuzungen von den Kommunen nicht mehr mit 30 Prozent bezuschusst werden müssen. Das ist gut so. Heute kommen die nichtbundeseigenen Bahnen dazu. Man wird die Kommunen jetzt also grundsätzlich von dieser Last befreien. Ich sage aber auch, das ist eigentlich viel zu spät. Diese Forderung haben wir und andere hier im Hohen Haus schon in vielen Legislaturperioden gestellt. Wir haben das das letzte Mal in der vergangenen Legislaturperiode gemacht – Drucksache 18/3051. Wir hätten den Kommunen viele Gelder ersparen können. Immer, wenn der Bundestag die entsprechende Stelle im Haushalt mit etwa 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr bewertet hat, war das auch ein Signal an die Kommunen, ebenfalls so viel Geld aufbringen zu müssen. Das ist jetzt nicht mehr der Fall, und das ist gut so. ({0}) Ein weiterer Punkt, der uns freut, ist die Tatsache, dass auf diese Art und Weise mehr für die Radwege getan wird. Das Thema Radwege ist tatsächlich wichtig. Viele Menschen haben für sich das Rad als Verkehrsmittel ihrer Wahl entdeckt. Das ist ja auch gut für die Gesundheit, die Umwelt und – ich bin auch Tourismuspolitikern – natürlich auch für den Tourismus. Deshalb freuen wir uns darüber, dass die Kommunen hier auf diese Art und Weise entlastet werden. Dass die Länder vergessen wurden, hat die Koalition in ihrem Änderungsantrag Gott sei Dank geheilt. Darauf hätte die Regierung vielleicht aber auch selber kommen können. ({1}) Der dritte Punkt betrifft die Finanzen für die Straßen- und Eisenbahnbrücken. Wenn man von oben draufsieht, denkt man, dass der Anteil gleich bleibt. Wenn man sich das aber genauer anguckt, dann sieht man, dass die betroffene Kommune, die für eine Straßenbrücke aufkommen muss, eben doch viel Geld aufzubringen hat. Hier würden wir uns Regelungen vorstellen können, wonach die Kommunen auch an dieser Stelle dauerhaft entlastet werden. Das fordern wir von der Regierung. Hier muss man noch etwas nachbessern. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kassner. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Matthias Gastel, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eisenbahnkreuzungsgesetz: Das klingt jetzt nicht furchtbar spannend. Wir hätten uns für eine Debatte hier noch spannendere und noch wichtigere Themen mit zentraler Bedeutung vorstellen können, bei denen viel zu wenig vorangeht und sich deswegen eine Debatte gelohnt hätte. Beispiel 1. Die Infrastrukturmisere. Nach wie vor geht es einseitig um Straße vor Schiene. Seit 2011 wurden sechsmal mehr Straßen als Schienenwege gebaut. Dabei ist Deutschland doch ausreichend mit Straßen versorgt, während wir über 100 Mittelzentren in Deutschland mit Millionen von Einwohnerinnen und Einwohnern haben, die keinen Bahnanschluss besitzen. Beispiel 2. Schrumpfender Verkehrsanteil des Güterverkehrs auf der Schiene. 2017 lag der Anteil noch bei 19,6 Prozent, 2020 lag er bei 17,5 Prozent. Das ist ein Minus von 2,1 Prozentpunkten und ein erheblicher Schrumpfungsprozess, der noch stärker gewesen wäre, hätte es nicht die Senkung der Trassenpreise gegeben. Hier – bei der Infrastruktur und bei der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene – haben wir erheblichen Handlungsbedarf. Das wären auch Themen, die hier diskutiert werden müssten. ({0}) Wir reden jetzt aber über das Eisenbahnkreuzungsgesetz. Die Kommunen sollen vollständig von den Kosten für die Sanierung, den Umbau und auch die Beseitigung von Bahnübergängen befreit werden. Das ist gut so; das ist richtig so. Wir stimmen da gerne zu. ({1}) Bundesweit über 11 000 höhengleiche Bahnübergänge stellen natürlich ein Unfallrisiko dar, und es gibt auch Situationen, in denen die Bahnen ausgebremst werden, weil sie einfach langsam fahren müssen, da die Sicherung nicht so hoch ist, als wenn ein Bahnübergang eben gar nicht vorhanden oder zumindest voll beschrankt ist. Die Bundesregierung erwartet sich von dieser Gesetzesänderung deutlich schnellere Umsetzungen von Baumaßnahmen. Wir werden sehen, ob das zutrifft. Wir hoffen, dass es zutrifft, wissen tun wir es nicht. Wir sind uns da nicht ganz so sicher, wie Sie sich das offenbar sind. Mit der neuen Förderregelung soll die Stärkung des Radverkehrs erreicht werden. Wir werden sehen, was auch dies in der Praxis tatsächlich bewirken wird. Für den Radverkehr mahnen wir allerdings entscheidendere und wichtigere Fördermaßnahmen bzw. Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit an, beispielsweise mehr Mittel für die Radverkehrsinfrastruktur und eine Beschleunigung des Mittelabflusses, ({2}) mehr Tempo-30-Zonen für die Erhöhung der Verkehrssicherheit – nur wo man sich sicher fühlt, fährt man auch mit dem Fahrrad – und Verkehrssicherheitszonen, in die Lkws nur mit einem Assistenzsystem einfahren können. Trotz allem Handlungsbedarf in Bezug auf die Infrastruktur und die Verlagerung von Gütern auf die Schiene stimmen wir dem Eisenbahnkreuzungsgesetz zu. Abfeiern kann sich die Koalition damit nicht. Es bleibt immer noch viel zu viel liegen – sowohl für die Bahn als auch fürs Fahrrad. Packen Sie bitte diese Dinge an! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gastel. – Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg, Herr Gastel – wir hatten ja heute Morgen schon die Diskussion über die Eisenbahninfrastruktur –: Die Fehmarnbeltquerung kommt – das wird einen richtigen Pusch geben, was die Kilometerzahl des Schienenverkehrs angeht –, und die Fehmarnsundbrücke wird für den Radverkehr freigeschaltet werden. Das sind tolle Nachrichten aus Schleswig-Holstein. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! ({0}) Wir verabschieden heute die Änderung des Bundesfernstraßengesetzes sowie die Änderung des Gesetzes über Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen. Hier ist schon sehr richtig ausgeführt worden, dass das heute ein guter Tag für den Radverkehr ist, und deswegen sprechen wir Radverkehrspolitiker heute auch alle – bis auf Herrn Gelbhaar. Wir freuen uns, dass hier wichtige Dinge auf den Weg gebracht worden sind. Es ist schwer zu bemessen, was es bedeutet, wenn der Bund Kreuzungen, Überquerungen und Unterführungen baut und die Kommunen in dem Zuge auch gefordert werden, und inwieweit dort Planungen und Umsetzungen verhindert werden, weil zum Beispiel eine Kommune in diesem Fall überfordert wäre, einen Radweg zu bauen, obwohl es vernünftig wäre. Diesen Bremsklotz wollen wir heute mit dieser Gesetzesänderung wegschlagen, und das wird auch richtig Nachhall geben. Das ist nicht sofort messbar, das ist auch nicht unbedingt sofort in Euro zu messen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kommunen: Überlegt euch, rechtzeitig in die Planungen einzusteigen; denn es lohnt sich für den Radverkehr. ({1}) Also: Müssen Kreuzungsbauwerke im Zuge von Bundesfernstraßen erhaltungsbedingt erneuert werden, sind die Aufwendungen bisher vollständig vom Baulastträger der nachgeordneten Straße zu tragen. Das kann der Kreis sein, das kann die Kommune sein. Die sind häufig überrascht, dass plötzlich gebaut werden soll, und sind sich meistens auch nicht einig, ob sie so viel Geld in die Hand nehmen sollen. Deswegen werden Radwege zuweilen bei Querungen von Autobahnen, von Bundesstraßen nicht errichtet, und das macht durchaus Sinn. Unsere D-Routen in Deutschland brauchen manches Mal einen Lückenschluss über solche großen Hindernisse wie Autobahnen. Hier haben wir die Möglichkeit, einen Radweg dort anzuflanschen, wo schon landwirtschaftliche Fahrwege sind – eine wunderbare Sache. Ich freue mich, dass das auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben ja Erfahrung: bei den Wasserstraßen und mit dem Eisenbahnkreuzungsgesetz. Dort haben wir nämlich die Änderung zugunsten der kommunalen Baulastträger bereits vorgenommen. Aufgrund dieser guten Erfahrung machen wir das jetzt auch bei den Bundesfernstraßen. Es ist so, dass wir eine attraktive Infrastruktur für den Radverkehr errichten müssen; denn nur so können wir das Gesamtverkehrsaufkommen dort steigern und so einen Beitrag zu mehr Klimaschutz leisten. Ein flächendeckendes Radverkehrsnetz aufzubauen, wird durch kreuzende Bundesfernstraßen und Eisenbahnstrecken immer wieder vor große Herausforderungen gestellt. Radverkehrstechnisch wurden die Kommunen deshalb immer vor die Frage gestellt, ob sie dabei mitmachen oder nicht. Wir haben dem eigentlichen Gesetzentwurf weitere Änderungen angefügt. Als Vorsitzender des Eisenbahninfrastrukturbeirates bei der Bundesnetzagentur möchte ich auch auf die Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes eingehen. Wir haben eine neue gesetzliche Zweckbestimmung in der Förderbestimmung im Eisenbahnkreuzungsgesetz vorgesehen, nämlich den Bau und Ausbau kommunaler Radwege; damit ist eine wesentliche Ergänzung des Förderzwecks, der bisher ausschließlich auf die Erhöhung der Verkehrssicherheit abzielte, erfolgt. Für gemeinsame Ausbauprojekte unter Beteiligung einer Eisenbahn des Bundes und einer Bundesfernstraße sind zur Verwaltungsvereinfachung die Herstellungskosten von nun an hälftig zwischen Bund und Land zu teilen, wenn die Änderungen beider Beteiligter die Erneuerung des Bauwerks zur Folge haben. Bei Maßnahmen an Bahnübergängen bei nichtbundeseigenen Eisenbahnen übernehmen die Länder die bisherigen Kostenanteile der Kommunen. Dass wir die Länder mit eingebunden haben, ist neu. Es ist nicht allein eine Bundesgesetzgebung, der die Länder nur zustimmen, sondern die Länder sind jetzt auch in die Pflicht genommen worden – ein weiterer wichtiger Meilenstein –, und ich kann mir auch vorstellen, dass so etwas dann auch länger dauert. ({2}) Es ist hier auch darauf hingewiesen worden, dass bei Stilllegung und Einziehung von Verkehrswegen Radwege geschaffen werden können und dass zweckmäßige Nachnutzungen ermöglicht werden müssen. Alles das ist jetzt erfolgt, und deshalb lässt sich insgesamt sagen: Diese Änderung löst einen Bremsklotz bei der Radwegplanung und gibt einen kräftigen Schub für einen wichtigen Mobilitätssektor. Ich bitte aus vollem Herzen um Zustimmung. An alle Fraktionen, die noch Bedenken haben: Machen Sie mit beim Radverkehr! Das ist ein gutes Signal an alle. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Storjohann. – Als letzter Redner erhält das Wort der Kollege Detlef Müller, SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wiehle, wissen Sie eigentlich, wie oft wir am Dienstag in den Fraktionen sitzen und über auf der Tagesordnung stehende AfD-Anträge beraten sollen, die bis dato noch gar nicht eingereicht worden sind? Sie können sich also Ihre Krokodilstränen wegen der Kurzfristigkeit des Änderungsantrags wirklich verkneifen. ({0}) Meine Damen und Herren, gerade in einer Woche, in der über große und durchaus auch kontroverse Themen zu diskutieren ist, ist es doch auch mal schön, dass wir in Sachthemen wie in diesen komplizierten von heute weitgehende Einigkeit über Fraktions- und Koalitionsgrenzen hinweg erzielen können. Bereits in den Ausschussberatungen hat sich das für die Novelle des Bundesfernstraßen- und Eisenbahnkreuzungsgesetzes gezeigt. Es ist natürlich absolut zu begrüßen, dass wir an dieser Stelle vor allem die Kommunen entlasten und sie, wenn es um die Errichtung von Kreuzungsbauwerken geht, auch finanziell wirklich besserstellen; denn viel zu oft ist in diesem Bermudadreieck der Zuständigkeiten – von Bund, Ländern und Kommunen, von bundeseigenen Eisenbahnen, nichtbundeseigenen Eisenbahnen und den verschiedenen Baulastträgern – eben nicht klar, wie sich die einzelnen Finanzierungsströme bei Investitionsmaßnahmen ausgestalten: Wer bezahlt was? Hier schafft der vorliegende Gesetzentwurf Abhilfe. Damit trägt er auch dazu bei, dass wir Investitionsmaßnahmen in die Infrastruktur vereinfachen und entbürokratisieren können. ({1}) Es besteht ja weitgehend Einigkeit, es ist auch alles gesagt. Herr Präsident, wir haben 15 Minuten Verspätung. Als Lokomotivführer bin ich immer daran interessiert, Verspätungen wieder reinzuholen. Deswegen bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege. Das ist ja ausgesprochen vorbildlich. – Damit schließe ich die Aussprache.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr, kurz vor Corona, habe ich die Arbeit eines kenianischen Friedensmediators in Mombasa aus nächster Nähe kennenlernen können. Ich habe ihn, dank eines Programms im zivilen Friedensdienst, für ein paar Tage auf seine Stationen in seiner Region begleitet. Ich habe sehen können, mit welch einer hohen Professionalität er zahlreiche und vor allem höchst unterschiedliche Themen als Mediator angegangen ist. Es ging um Konflikte auf kommunaler Ebene, manche von ihnen von höchster Brisanz, weil Todesdrohungen gegen Menschen im Hintergrund stets eine Rolle gespielt haben. Er bringt regelmäßig kommunale und religiöse Entscheidungsträger und andere lokale Interessengruppen an den Tisch, um Probleme zu klären, bevor sie unlösbar werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konflikte, die ich in Kenia gesehen habe, sind dafür geeignet, durch überregionale Interessengruppen – politische Parteien oder auch Terrororganisationen oder andere Gruppen – instrumentalisiert zu werden. Wenn man sie nicht vorher im Keim erstickt hat, gewaltfrei gelöst hat, können sie sich schnell zu einem Flächenbrand ausweiten. Dann entsteht Gewalt in einem Ausmaß, dass sie nicht wieder eingefangen werden kann. Wir müssen an solche Konflikte ran, bevor es zu Auseinandersetzungen kommt, ({0}) wie wir sie beispielsweise leider jetzt in Kamerun oder schon seit Jahren in Südsudan sehen. Friedensmediation ist viel mehr als eine Afghanistan-Konferenz in Doha oder eine Libyen-Konferenz in Berlin. Die sind auch wichtig, gar keine Frage. Dass die Bundesrepublik bei diesen Initiativen als Organisatorin oder Hauptakteurin wahrgenommen wurde, war richtig, geschieht aber viel zu selten. Wir brauchen mehr davon. ({1}) Doch im Sinne der zivilen Krisenprävention spielt die Musik auf den gesellschaftlichen Ebenen unterhalb der verantwortlichen Regierung, also auf den sogenannten Track-2- und Track-3-Ebenen. Das Potenzial zum Ausbau einer solchen Friedensmediation ist in Deutschland riesig. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir diese ausbauen, finanziell, personell und strukturell im Amt und in den Botschaften, dann können wir noch viel mehr von diesem Potenzial profitieren. ({2}) Es ist immer wieder die Rede von einer neuen Verantwortung, die Deutschland in der Welt übernehmen müsse. Viele auch hier im Haus denken dann als Erstes an Militärausgaben. Dabei könnte Deutschland im Bereich der Friedensmediation eine Vorreiterrolle einnehmen und damit einen unverzichtbaren Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Welt leisten. Bevor Sie, Kollege von Marschall, oder vielleicht auch Sie, Frau Dr. De Ridder, sich gleich hierhinstellen und sagen: „Machen wir doch schon“, sage ich: Natürlich, das erkennen wir auch an. Im Bereich Friedensmediation passiert viel, und es wird auch viel Geld zur Verfügung gestellt. Aber stellen Sie mal das Geld, das wir für Einsätze der Bundeswehr und für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr zur Verfügung stellen, dem Geld, das wir für Friedensmediation zur Verfügung stellen, gegenüber. Dann werden Sie wissen, wovon ich rede. ({3}) Es wird Zeit, dass auch die Öffentlichkeit jenseits der Fachcommunity mitbekommt, was Deutschland hier leisten kann, dass sie akzeptiert, dass gewaltfreie Konfliktbearbeitung Geld kostet. In unserem Antrag zeigen wir viele, sogar einfache Schritte auf, wie wir die deutsche Friedensmediation auf den Stand bringen können, der ihrem Potenzial entspricht. Wir müssen noch vieles tun. Wir müssen endlich über das Zuwendungsrecht und die Haushaltspraxis reden, die im Moment nicht den Friedensprojekten gerecht werden kann, über die Anerkennung der Rolle von Frauen in Friedensprozessen, über Kapazitätsausbau und Wissensmanagement im Auswärtigen Amt, in den Botschaften und in den Ländern vor Ort, über Öffentlichkeitsarbeit für die Friedensarbeit und vieles mehr. Der Antrag liegt Ihnen ja vor. Er ist im Netz zu finden. Den muss und kann ich, auch aus Zeitgründen, hier gar nicht vorlesen. Ich freue mich auf die Debatte heute und auf die Beratung im Ausschuss. Danke. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Holtz. – Nächster Redner ist der Kollege Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege von Holtz, danke für Ihre Ausführungen, die sich zum Teil auf den Antrag bezogen haben, aber nicht ausschließlich. Wenn ich den Antrag lese, dann entdecke ich vor allen Dingen eine schier endlose Fülle von Forderungen nach Schaffung neuer Stellen. Ob das der Kreativität letzter Schluss ist, wage ich ein bisschen zu bezweifeln. Warum sage ich das? Wir haben einen Europäischen Auswärtigen Dienst mit 3 500 Mitarbeitern. Meine Auffassung ist, dass sehr wohl diese von Ihnen skizzierten Bemühungen um eine Stärkung von Friedenmediationen von Bedeutung sind, dass wir aber in der Europäischen Union arbeitsteilig vorgehen müssen und unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten durch Berücksichtigung der speziellen Kenntnisse und der gewachsenen Traditionen einzelner Mitgliedstaaten besser und koordinierter zum Einsatz bringen können. Das wäre jedenfalls mein Anliegen zur besseren Effizienz des Einsatzes unserer gemeinsamen Fähigkeiten. Zum Zweiten beklagen Sie in diesem Antrag wiederum bzw. erneut die 2-Prozent-Zielmarke, die wir gemeinsam in der NATO verabredet haben. Das ist keine unbekannte Kritik. Ich will Ihnen dazu vielleicht nur sagen: In der Mediation gibt es ja sehr unterschiedliche Ansätze, auch solche, die man leider Gottes, will ich mal sagen, als machtbasiert bezeichnet. Wenn ich mir vor Augen führe, wie die Situation der Trilateralen Kontaktgruppe sich heute darstellt, die sich Vermittlungsbemühungen im Konflikt in der Ostukraine als Aufgabe gestellt hat, kann ich nur sagen: Ohne eine glaubwürdige militärische Stärke auch von unserer Seite – das kann man ja auch an den Truppenbewegungen und den Aggressionen Russlands an der Ostgrenze der Ukraine sehen – haben wir überhaupt keine Chance, hier eine glaubwürdige und auf Augenhöhe befindliche Friedensmediation in diesem Sinne auf den Weg zu bringen. – Insofern gehört schon beides zusammen. ({0}) Ich will aber noch auf etwas anderes eingehen, was aus meiner Sicht in Ihrem Antrag zu kurz kommt, aber nach meiner Erfahrung eine große Rolle spielt. Sie haben ja auch ziviles Engagement angesprochen, Kollege von Holtz. Schauen Sie mal: Das sind langfristige Prozesse, in denen auch zivile Einrichtungen tiefe Erfahrungen sammeln. Die sollten wir stützen. Ich denke zum Beispiel an SantʼEgidio in Rom, die, wie manchen erinnerlich ist, ja den Friedensprozess in Mosambik auf den Weg gebracht haben mit dem Friedensvertrag von 1992. Trotzdem flammen dort immer wieder auch lange schon erloschen geglaubte oder erloschen gehoffte Konflikte von Neuem auf. Da müssen wir Unterstützung reinbringen, dass solche jahrzehntelang gewachsene Expertise in diesen Einrichtungen gestärkt wird. Ich denke auch zurück an die erfolgreichen Bemühungen des Heiligen Stuhls im Friedensprozess mit der FARC in Kolumbien. Auch hier sehen wir einen sehr, sehr erfolgreichen Einsatz, der aber natürlich auch nur auf lange Sicht wirkt. Was ich sagen will: Europäisch besser koordinieren hilft vielleicht, dass wir nicht allzu sehr unseren eigenen Beamtenapparat, wie Ihre Vorschläge das vorsehen, noch weiter aufblähen, sondern dass wir gemeinsam die europäische Effizienz stärken und auch die der Außenvertretung der Europäischen Kommission. Das ist der erste Punkt gewesen. Der zweite Punkt ist, dass wir auch auf militärische Stärke setzen müssen, wenn wir gegenüber schwierigen Partnern glaubwürdig sein wollen. Und der dritte Punkt ist: Lassen Sie uns zivilgesellschaftliche, auch kirchliche Einrichtungen, die langfristiges Engagement zeigen, auch in Zukunft stützen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Marschall. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Paul Viktor Podolay, AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben uns einen Antrag vorgelegt, dessen Inhalte aus den Fingern gesaugt sind. Das Thema lautet Friedensmeditation, ({0}) ein Konzept, das aus grün-linken akademischen Kreisen stammt. Das sind ebenjene Kreise, die häufig an der politischen Realität vorbeitheoretisieren, mit der Wirklichkeit aber nichts zu tun haben. Frieden ist selbstverständlich das gewünschte Ziel jeglicher staatlicher Außenpolitik. Deutschland als ein Land mitten in Europa hat ein starkes Interesse an einer nachhaltigen Friedenssicherung auf dem Kontinent und der gesamten Welt. Meine Damen und Herren, um den Frieden zu sichern, sind die dafür notwendigen Mechanismen bereits im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vorhanden. Die OSZE erwähnen Sie in Ihrem Antrag jedoch nur ein einziges Mal. Damit lassen Sie eine bereits real existierende Sicherheitsarchitektur außer Acht. Der OSZE-Sicherheitsansatz baut auf einem umfassenden Satz an vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen auf. Dieser Satz betrifft vor allem und gerade Bereiche wie Rüstungskontrolle und zivile Krisenprävention. Und, meine Damen und Herren der Grünen, dafür existiert bereits ein bewährtes Instrument: diplomatische Vermittlung. Es macht deshalb keinen Sinn, das Fahrrad neu erfinden zu wollen, nur im Gewande des Begriffs der Friedensmeditation, ({1}) der nur dazu dient, Ihre links-grüne Ideologie zu bedienen und zahlreiche Einmischungen in Angelegenheiten anderer Staaten zu rechtfertigen. ({2}) Die Antragsteller nutzen diese Initiative außerdem dazu, zum x-ten Mal ihren grünen Sexismus zur Schau zu stellen. ({3}) Sie geben kund, Männer seien von Natur aus scheinbar kriegerisch und gewaltaffin, ({4}) indem Sie sich auf die Prävention und Lösung von Konflikten besonders durch Frauen konzentrieren. Nur so lässt sich die sogenannte Schlüsselrolle von Frauen in Ihrem Antrag verstehen. ({5}) Ist das der gendertransformative Ansatz der grünen neuen Welt? ({6}) Die AfD tritt für eine echte Gleichberechtigung von Mann und Frau ein. ({7}) Es zählen in der Friedenspolitik wie auch in anderen Bereichen unseres Lebens das Leistungsprinzip und eine berechtigte Arbeitsteilung aufgrund der Fähigkeiten des einzelnen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht. ({8}) Wenn man sich die Forderungen in diesem Antrag anschaut, versteht man, wozu dieses grüne Gelaber in Wirklichkeit gedacht ist. Es belastet den Steuerzahler mit noch höheren Ausgaben, stockt noch mehr Personal im Auswärtigen Amt auf und bezweckt die Eröffnung von neuen Vertretungen in Krisen- und Konfliktländern. Wollen Sie damit Jobs für Ihre Parteianhänger in der möglichen künftigen Regierung beschaffen? Das lehnt die AfD kategorisch ab. ({9}) Was wir brauchen, ist eine Professionalisierung des Auswärtigen Amtes, das in der Lage ist, ({10}) durch unseren Staat bestimmte und gemeinsam mit unseren internationalen Partnern abgestimmte Vermittlungsaktionen in Konfliktgebieten aufzunehmen und durchzuführen. Wir lehnen den Antrag ab. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Podolay. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Daniela De Ridder, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern Abend wurden wir von Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer informiert, dass der Abzug der deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan bereits bis Mitte August abgeschlossen sein könnte. Kein einfaches Unterfangen! Die Islamische Republik Afghanistan wird beherrscht vom Terror der Taliban und von Korruption. Wir alle sind jedoch in größter Sorge, wie die erreichten Fortschritte für die Zivilbevölkerung, allen voran die Lage von Frauen und Mädchen, erhalten und stabilisiert werden können. Mein Beispiel Afghanistan soll zeigen: Frieden geht nicht ohne Friedensmediation, Herr Podolay. ({0}) Da geht es nicht um Meditation, wie Sie fälschlicherweise gesagt haben – da sagt auch keiner „Om“ –, sondern es geht um intensive Verhandlungen und Gespräche. Mein Beispiel soll zeigen: Es kann alles nicht gelingen, wenn man nicht auf Friedensmediation setzt – nicht in Afghanistan und auch nicht anderswo, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Der vielleicht wichtigste Bestandteil der Friedensmediation ist es, verlorengegangenes Vertrauen zwischen Kontrahentinnen und Kontrahenten, die durch tiefgehende ökonomische, soziale, kulturelle, ethnische oder religiöse Gräben getrennt werden, wiederherzustellen. Das geht nur Schritt für Schritt, mit großer Empathie und noch größerer Kultursensibilität, liebe Kolleginnen und Kollegen. Mediation Support ist seit vielen Jahren ein zentraler Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik. Die Bundesregierung engagiert sich nicht nur, lieber Ottmar von Holtz, in Afghanistan, sondern, ja, beispielsweise auch in Libyen. In der Tat, ich erinnere an die Berlin-Konferenz. Aber die Bundesregierung ist auch im Jemen engagiert, hier etwa, indem sie die Berghof Foundation unterstützt, oder auch in Uganda mit finanzieller Flankierung der Exposure-Projekte. Wie gut! Allein im Jahr 2020 finanzierte das Auswärtige Amt mehr als 30 Projekte im Bereich Mediation und Dialog, und es investierte dabei rund 10 Millionen Euro. Hinzu kommt im Übrigen die Unterstützung der VN-Friedenspolitik mit weiteren 10 Millionen Euro. Längst gibt es auch – das wird im Antrag erwähnt – ein Aus- und Fortbildungsprogramm für Diplomatinnen und Diplomaten und ein eigenes Personalkonzept. Die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ sind dabei im Übrigen der Kompass. Zivile Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung haben vor allem aber dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie multilateral und multidimensional angelegt sind und wenn gesellschaftliche Akteure und vor allem konfliktvermittelnde Kräfte aus den Konfliktregionen zusammenwirken. Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktvorsorge: Dazu gehören neben der Mediation auch der nationale Dialog und die Vergangenheitsbewältigung, die die Versöhnungsarbeit erst möglich machen. So betrachtet ist Friedensmediation immer der erste wirkungsvolle Angang in einem langwierigen und häufig schmerzlichen Prozess der Friedenssicherung und der Stabilisierung. Sie kann aber ohne die Stärkung, lieber Ottmar von Holtz, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen nicht nachhaltig genug wirken. Deshalb muss Friedensmediation immer auch in Rechtsstaatsförderung und justizielle Zusammenarbeit eingebettet sein – umso mehr, je fragiler die Staatlichkeits- und Governance-Strukturen der jeweiligen Postkonfliktländer sind. Dazu zählen die Beratung –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– von Verfassungsorganen und Verfassungsreformen und – nicht zu vergessen – Entwaffnung und Reintegration, Extremismusprävention und Deradikalisierung sowie Migrationsmanagement. Schade, lieber Ottmar von Holtz, dass dies im vorliegenden Antrag nur peripher Erwähnung findet. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin De Ridder. Das Präsidium ist heute gnädig und zieht der SPD keine Minute ab. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Renata Alt, FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vergangenen Jahr hat die Zahl der Kriege weltweit einen traurigen Höhepunkt erreicht; ein Grund mehr, die Kapazitäten der Bundesregierung für die Friedensmediation auszubauen. Herr von Holtz, in Ihrem Antrag finden sich viele wichtige Vorschläge, aber uns sind sie zu technisch. Für uns Freie Demokraten ist klar: Die Friedensmediation muss auf höchster politischer Ebene unterstützt werden. In der Ukraine tobt seit sieben Jahren ein gewaltsamer Krieg. Dieser droht gerade jetzt sogar zu eskalieren. Gerade hier, in unserer direkten europäischen Nachbarschaft, brauchen wir jetzt eine Friedensmediation. ({0}) Wo war bisher die Mediationsoffensive der Bundesregierung, Herr Staatsminister Roth? Ist die Gründung einer Fake-Umweltstiftung ein Bestandteil Ihrer Friedensmediation? Die Bundesregierung muss ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen. Sie muss zwischen den Konfliktparteien unermüdlich vermitteln. Nur so kommen wir einer dauerhaften Friedenslösung näher. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Sie fordern mehr Frauenbeteiligung in Friedensprozessen. Sie selbst haben aber keine einzige Frau in den dafür relevanten Ausschüssen. ({1}) Das macht Ihre Forderung schon ziemlich unglaubwürdig. ({2}) 2021 werden Frauen noch immer an den Rand gedrängt, bei internationalen Gesprächen auf Sofas gesetzt und als Staffage behandelt. Statt Stärke und Einheit zu demonstrieren, offenbart die Europäische Union leider nur ihre Schwächen. Ja, Frauen müssen stärker in Mediationsprozesse eingebunden werden: Nur 6 Prozent der Mediatoren waren laut UNO weiblich. Entscheidend für uns ist aber nicht, wie viele Frauen am Verhandlungstisch sitzen. Entscheidend ist, welchen Einfluss Frauen auf Friedensprozesse haben. Dieser Ansatz fehlt in Ihrem Antrag komplett. ({3}) Sie fordern, den Beitrag für Frieden und Sicherheit zu erhöhen, aber auf die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu verzichten. Dadurch würde Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen nicht nachkommen. Damit wäre Deutschland kein verlässlicher Bündnispartner mehr. Meine Damen und Herren, Deutschland braucht eine außenpolitische Gesamtstrategie. Friedensmediation muss ein Teil davon sein. ({4}) Staatsminister Roth, das Image Deutschlands als Mediator in Friedensprozessen muss deutlich besser werden. Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Alt. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Herren! Die Grünen haben uns mit diesem Antrag ja einen ganzen Strauß von Vorschlägen vorgelegt, mit Überlegungen, wie Deutschland im Bereich der Friedensmediation mehr tun und besser werden kann. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich. Mediation, also die unparteiische Streitschlichtung, ist ein anerkanntes und äußerst wirksames Instrument in der Konfliktbearbeitung. Deswegen ist sie geeignet, gewaltsamen Auseinandersetzungen vorzubeugen oder sie eben mit einer für alle Seiten akzeptablen Lösung zu beenden. Wichtig dabei ist, dass Mediatorinnen und Mediatoren wirklich unabhängig und unparteiisch sind. Sie sollen vor allem den Raum schaffen, in dem Kriegsparteien selbst tragfähige Lösungen und tragfähige Vereinbarungen für ihr weiteres Zusammenleben aushandeln können. Das ist die Voraussetzung für nachhaltige Friedensprozesse. Deswegen unterstützt Die Linke alle Bemühungen, die Friedensmediation auszubauen, zu qualifizieren und zu einem zentralen Bestandteil deutscher Außenpolitik weiterzuentwickeln. ({0}) Mich treibt allerdings die Frage um, ob Personen aus Deutschland und der EU wirklich in jedem Fall die geeignetsten Akteure in der Friedensmediation sind, ({1}) weil Deutschland und die EU ja in vielen Konflikten auf der Welt Partei sind. Eine EU-Mediationsmission in Venezuela wäre beispielsweise nach der einseitigen Parteinahme für den Putschpräsidenten Guaidó meiner Ansicht nach überhaupt nicht glaubwürdig. ({2}) Auch in vielen afrikanischen Ländern, wo die EU-Staaten die Militärs korrupter und gewalttätiger Regierungen unterstützen, dürfte es schwer sein, eine unparteiische Rolle einzunehmen. ({3}) Deswegen erscheint es mir am geeignetsten, auf einen Ausbau der Kapazitäten in der UNO und in der OSZE hinzuwirken. Dafür braucht es aber auch Geld. Der Kollege von der CDU/CSU hat ja deutlich gemacht, dass Sie eher kein Geld zur Verfügung stellen wollen. Wir müssen zum Beispiel die UN Mediation Support Unit finanziell handlungsfähig machen. Es ist doch beschämend, dass sie keine eigenen finanziellen Mittel aus Pflichtbeiträgen erhält, sondern für jede halbe Stelle bei den Mitgliedsländern betteln gehen muss. Das geht doch überhaupt nicht. ({4}) Sehr wichtig finde ich auch die Forderung unter Punkt 4, den besseren Austausch mit Expertinnen und Experten aus den Ländern des Globalen Südens zu suchen. Das Ziel muss doch sein, einen globalen, internationalen Pool an Expertinnen und Experten aufzubauen, die aus den unterschiedlichsten Weltregionen kommen. Bedanken möchte ich mich auch für Punkt 12, wo die Grünen einen Vorschlag aufgreifen, den ich mal gemacht habe, nämlich Politikerinnen und Politiker gezielt für Friedensmediationen zu schulen. Das hätte einen doppelt positiven Effekt: Erstens streiten wir uns hier die ganze Zeit über extrem unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Interessen und bringen gewisse Erfahrungen mit. Zweitens würde es den Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen ermöglichen, mal die Erfahrung zu machen, dass Frieden nicht das Ziel ist, sondern der Weg.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Den Kollegen von ganz rechts spendieren wir mal einen Kurs in Meditation. Dann lernen Sie was über den Unterschied. ({0}) Ich bedanke mich. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch wenn Sie es nicht hören wollen –, tragen Sie Eulen nach Athen; denn bereits seit zwei Jahrzehnten befasst sich Deutschland mit diesem überaus wichtigen Thema, und in dieser Zeit ist das Konzept der Friedensmediation zu einem unersetzbaren Bestandteil unserer Außenpolitik geworden. ({0}) Deutschland genießt heute weltweites Ansehen als ehrlicher Vermittler und Makler und nutzt dies effektiv, um sich für tragfähige politische Lösungen und Transformationsansätze in Krisenländern einzusetzen. Dies tut Deutschland zum Beispiel auch in Afghanistan – um ein brandaktuelles Beispiel zu nennen. Dort wirkt ein Expertenteam der deutschen Berghof-Stiftung in enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt an den überaus schwierigen Friedensverhandlungen mit. Besonders in diesem Fall wird klar, dass mit der aktuell getroffenen Entscheidung der USA zum Truppenabzug das Thema der humanitären Hilfe und der Friedensmediation in Afghanistan zukünftig noch immense Bedeutung haben wird. Unbestritten muss Mediation in einer Welt, in der komplexe Gegenwartskonflikte stetig zunehmen, immer das Mittel der ersten Wahl sein; denn nur sie vermag es, die Interaktion von Konfliktparteien menschlicher zu machen und Wege zu finden, Konflikte zu bearbeiten oder sie vielleicht sogar zu verhindern. Dass Sie im Gegenzug wieder einmal den Verteidigungshaushalt kürzen möchten, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie es im Vorwort Ihres Antrags anmerken, dürfte keine Überraschung für uns sein. Dennoch ist dieser Vorstoß unangemessen; denn es kann nicht die Frage sein, ob Deutschland das eine auf Kosten des anderen tun sollte. Wir als wichtiges und wirtschaftsstarkes Land in der Mitte Europas müssen vielmehr beides tun. Indem wir vermehrte Anstrengungen im Bereich der Friedensmediation mit einem erhöhten Engagement in der Verteidigung verbinden, werden wir unserer großen Verantwortung gerecht. Worauf will ich hinaus, meine Damen und Herren? ({1}) Der Instrumentenkasten in der Außenpolitik muss vielseitig bestückt sein, mit allen Mitteln, die einem Staat zur Verfügung stehen. Gerade weil Mediation die Bereitschaft aller Konfliktparteien zum Dialog voraussetzt, müssen in diesem Instrumentenkasten ebenfalls Werkzeuge enthalten sein, die auch dann für Frieden sorgen können, wenn diese Bereitschaft eben nicht vorhanden ist. ({2}) Fakt ist: Die Bundesregierung ist in fast allen Bereichen, in denen dieser Antrag Aktivitäten fordert, bereits aktiv und auf dem richtigen Weg. Deshalb ist dieser Antrag abzulehnen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Manderla. – Vorletzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josip Juratovic, SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir uns darin einig, dass das wirtschaftliche und geopolitische Gewicht der Bundesrepublik heute eine globale Verantwortung mit sich bringt. Wir müssen uns für mehr einsetzen als nur für unser eigenes nationales Vorankommen. Willy Brandt hat es einmal als seinen wesentlichen Erfolg bezeichnet, dass – ich zitiere – „der Name unseres Landes, Deutschland also, und der Begriff des Friedens wieder in einem Atemzug genannt werden können.“ ({0}) Auf dieses Erbe gilt es zu bauen – als ein Land, das aktiv sein Gewicht und hart erarbeitetes Vertrauen zur friedlichen Konfliktlösung in der Welt einsetzt. Das ist deutsche Staatsräson. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus diesem Grund hat die Bundesregierung 2017 auf sozialdemokratische Initiative die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ verabschiedet. Damit haben wir systematisch die weit verstreuten Erfahrungen der Ministerien und Zivilgesellschaft in den Themenfeldern Rechtsstaatsförderung, Sicherheitssektorreform, Vergangenheitsarbeit und auch Mediation zusammengebracht und daraus klare Strategien und außenpolitische Instrumente entwickelt. Beispielhaft zu nennen ist hier das ressortübergreifende Konzept zur gemeinsamen Analyse und abgestimmten Planung sowie die Arbeitsgruppe Krisenfrüherkennung. Auch auf der europäischen Ebene und im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat haben wir unser Engagement intensiviert, Netzwerke geknüpft und den Austausch von Expertise vorangetrieben. Einen großen Erfolg stellt hierbei das jüngst in Berlin gegründete Europäische Kompetenzzentrum für Ziviles Krisenmanagement dar. Natürlich gibt es noch viel zu tun. So wird die Klimakrise immer mehr zum Konflikttreiber, und die Pandemie hat dem Thema globale Gesundheit eine neue Relevanz auch in diesem Bereich verliehen. Ende März hat das Auswärtige Amt deshalb nun einen ersten Umsetzungsbericht zu den Leitlinien veröffentlicht. Am kommenden Montag werden wir diesen im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“ diskutieren. Dazu werden wir auch die Expertise des zivilgesellschaftlichen Beirats einbeziehen. Das ist natürlich kein Selbstzweck. Stattdessen sollte der Umsetzungsbericht Ausgangspunkt für einen umfassenden Prozess sein, in dem wir Nachbesserungsbedarf und Potenzial zur Weiterentwicklung unseres Engagements festlegen. ({1}) Daraus werden wir konkrete Schritte für die nächsten vier Jahre ableiten. Der vorliegende Antrag stellt dazu sicherlich einen konstruktiven Beitrag dar, in dem auch viel Richtiges steckt. Ich halte es aber für wenig weise, diesem umfassenden Dialog- und Debattenprozess zum jetzigen Zeitpunkt vorzugreifen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den letzten Redner in dieser Debatte aufrufe: Ich sehe mit großem Wohlwollen das Bemühen der Geschäftsführer, das Sitzungsende noch vor Mitternacht herbeizuführen. Lassen Sie nicht nach in Ihren Bemühungen! ({0}) Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar, dass wir heute ein Thema besprechen können, das in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so präsent ist, und zwar die Frage, wie wir weltweit mehr Frieden durch Dialog fördern können; denn Friedensmediation, also die Vermittlung zwischen Konfliktparteien, ist natürlich ein wichtiges Instrument unserer Außenpolitik. Kriegsparteien zusammenführen, Konflikte befrieden, Stabilität durch Gespräche fördern – das sind wichtige und erstrebenswerte Ziele, und als Deutschland genießen wir weltweit hohes Ansehen und Vertrauen, eine solche Rolle übernehmen zu können. Anders als die Grünen aber suggerieren, haben wir das Feld der Friedensmediation in den vergangenen Jahren schon gut bestellt. Wir fördern nicht nur Initiativen wie die der Vereinten Nationen, sondern haben mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze ein eigenes wichtiges Instrument. Dazu bilden wir auch junge Diplomatinnen und Diplomaten im Bereich Mediation aus. Das sind sehr gute Ansätze, die jetzt natürlich weiterentwickelt werden sollten. Wir müssen dabei aber vor allem strategisch an die Sache herangehen und Felder identifizieren, auf denen unser Mediationseinsatz auch für unsere Interessen von zentraler Bedeutung ist. ({0}) Afghanistan ist dafür ein herausragendes Beispiel. Wir wollen und wir brauchen ein Abkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, einen Zukunftsrahmen für dieses Land. Und da ist es gut, dass wir den Prozess nicht nur von Regierungsseite diplomatisch stark unterstützen, sondern dass zum Beispiel auch die Berghof Foundation die Verhandlungen eng begleitet. Es ist fundamental wichtig, dass wir solche unabhängigen Organisationen mit großer Sachkenntnis haben, die das Vertrauen der Konfliktparteien genießen. Solche Initiativen müssen wir weiter kräftig unterstützen und in Zukunft sicher auch institutionell mehr fördern. In einem zentralen Punkt muss ich den Antrag der Grünen aber entschieden zurückweisen: ({1}) Friedensmediation und Verteidigungsausgaben gegeneinander aufwiegen, das wollen wir nicht. ({2}) Sie schreiben, dass Deutschland statt der Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf das 2-Prozent-Ziel der NATO eine Vorreiterrolle im Zivilen einnehmen soll. Frieden entsteht aber nicht durch Reden alleine, sondern eben auch durch militärische Stärke. Wir brauchen beides. ({3}) Deshalb ist der Antrag abzulehnen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Damit schließe ich die Aussprache.

Kerstin Griese (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003440

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät und beschließt heute das Gesetz zu dem Übereinkommen Nummer 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 27. Juni 1989 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Staaten. Mit diesem Gesetz zur Ratifikation des ILO-Übereinkommens Nummer 169 setzen wir nicht nur einen Auftrag aus dem Koalitionsvertrag um. Das Übereinkommen zu ratifizieren, ist zugleich eine Forderung aus einer breit verankerten gesellschaftlichen Debatte. Und was mir besonders wichtig ist: Wir werden dieses Gesetz hoffentlich und endlich in einem großen Konsens aller demokratischen Fraktionen im Deutschen Bundestag beschließen. ({0}) Deshalb danke ich den Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD, aber auch den Oppositionsfraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Nach langjährigen Diskussionen, immerhin über einige Legislaturperioden hinweg, wird es heute Abend gelingen, mit der Ratifikation des ILO-Übereinkommens Nummer 169 ein einhelliges und deutliches Signal an die internationale Staatengemeinschaft zu senden: Richtet eure Augen auf die indigenen Völker, respektiert und schützt ihre Rechte! ({1}) Ich möchte aber auch ausdrücklich den herausragenden Beitrag der Zivilgesellschaft würdigen. Ein sehr breiter Kreis von zivilgesellschaftlichen Gruppen hat sich in dem Bündnis „Koordinationskreis ILO 169“ zusammengeschlossen. Deshalb hier auch mein herzlicher Dank an die engagierte Zivilgesellschaft, die ohne Frage entscheidend zu dem heutigen Erfolg beigetragen hat. ({2}) Die Ratifikation ist ein bedeutender Beitrag. Auch Deutschland als ein Land, in dem keine indigenen Bevölkerungsgruppen leben, kann zum Schutz indigener Menschen weltweit etwas leisten. Denn internationale Normen, allen voran internationale Menschenrechtsübereinkommen, sind nichts weniger als die Grundfesten einer menschenwürdigen Welt und einer menschenwürdigen Globalisierung. Und es wird immer wichtiger, diese Grundpfeiler zu verteidigen; das sehen wir täglich. Deshalb ist für uns klar: Internationale Menschenrechtsnormen stehen nicht zur Disposition. Wir solidarisieren uns und stellen uns hinter das Übereinkommen 169 als die einzige internationale Norm, die Rechte indigener Völker umfassend und vor allem rechtsverbindlich schützt. Was heißt das konkret? Das betrifft die Gleichberechtigung, den Schutz vor Diskriminierung und grundlegende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Darüber hinaus garantiert es – das ist die Grundlage für die Geltendmachung jeglicher Rechte – das Selbstbestimmungsrecht und umfassende partizipative Rechte zur Stärkung der lokalen Selbstbestimmung indigener Völker. Das Übereinkommen betrifft rund 5 000 indigene Völker in etwa 90 Staaten. Wir sprechen hier von weltweit mehr als 370 Millionen Menschen. Sie stellen rund 5 Prozent der Weltbevölkerung, gleichzeitig aber 15 Prozent der in Armut lebenden Menschen; denn indigene Völker sind häufig weitgehend vom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ihres Landes ausgeschlossen. Eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der Agenda 2030 der Vereinten Nationen kann jedoch nur gelingen, wenn indigene Völker selbstbestimmt an allen sie betreffenden Entscheidungen partizipieren können, vor allem bei Entscheidungen, die Landrechte, natürliche Ressourcen und Umwelt, rechtliche Gleichstellung, politische Teilhabe und Selbstverwaltung betreffen. ({3}) Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, sich mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf dem Aufruf zum weltweiten Schutz indigener Völker anzuschließen; denn diese Völker verdienen unsere Solidarität. Sie haben ein Recht darauf. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Nächster Redner ist der Kollege René Springer, AfD-Fraktion. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren hier und heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung und einen Antrag der Grünen, mit denen das Ziel verfolgt wird, ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation aus dem Jahr 1989 zum Schutz der Rechte von eingeborenen Stämmen und Völkern zu ratifizieren. Mit der Ratifikation würde sich Deutschland verpflichten, hier lebende eingeborene Völker und Stämme hinsichtlich Lebensweise, wirtschaftlicher Entwicklung, Werten, Gepflogenheiten, Identität, Sprache und Religion zu schützen. Was fällt auf? Wenn wir das fürs deutsche Volke fordern, dann kommt die Nazikeule. ({0}) Was fällt noch auf? Die Staatssekretärin hat es ja gerade gesagt: Es gibt in Deutschland gar keine indigenen Völker. Das steht auch im Gesetzentwurf: „Auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland leben keine Bevölkerungsgruppen im Sinne des“ Übereinkommens. Und: „Die Kriterien … können auch in Zukunft von keiner Bevölkerungsgruppe in Deutschland erfüllt werden.“ Ein Gesetz, das vorgibt, etwas zu schützen, das es bei uns gar nicht gibt, brauchen wir nicht. Deswegen lehnen wir es als AfD-Fraktion auch ab. ({1}) Wir lehnen diesen Gesetzentwurf aber auch aus einem weiteren Grund ab. Denn wenn er durchkommt, können deutsche Unternehmen und sogar der deutsche Staat selbst vor ein internationales Gericht gezerrt und verklagt werden. Im Gesetzentwurf heißt es dazu: „Dieses ratifikationsinhärente Restrisiko ist völkerrechtlich nicht wirksam einhegbar.“ Dass nun ausgerechnet die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf mitträgt, verwundert ein wenig. Entweder haben Sie den Gesetzentwurf nicht richtig gelesen oder die Risiken einfach nicht erkannt. Sie hätten hellhörig werden müssen, wenn Sie feststellen, dass nach 31 Jahren nur 23 Staaten auf dieser Welt dieses Übereinkommen ratifiziert haben. Und Sie hätten alarmiert sein müssen, wenn Sie feststellen, dass die Grünen 2006, 2010, 2011, 2015 und heute die Ratifikation fordern. Da muss etwas faul sein. ({2}) „Globalistische Politik der Grünen“ und „Volk“, das passt nicht zusammen. ({3}) Damit komme ich zum Grünen-Antrag. Es verwundert schon, dass Sie sich jetzt für den Schutz indigener Völker in aller Welt einsetzen, aber fürs eigene Volk nur Verachtung empfinden. ({4}) Da möchte ich einmal an den Grünen-Politiker aus Hamburg erinnern, der die Deutschen als „Köterrasse“ bezeichnet hat, an den Grünen-Bundesvorsitzenden, der Vaterlandsliebe „stets zum Kotzen“ fand und mit Deutschland noch nie etwas anfangen konnte, und an die afghanisch-stämmige Grünen-Politikerin Miene Waziri, die bedauert, dass Deutschland im Zweiten Weltkrieg nicht völlig zerstört wurde. Meine Damen und Herren von den Grünen, das paschtunische Volk im Grenzgebiet Afghanistans und Pakistans entspricht den Kriterien dieses Übereinkommens. In diesem Volk haben Mädchen keinen Zugang zu Bildung, Homosexuelle werden ermordet und Frauen gesteinigt. Das ist für Sie gut und schützenswert. Auf der anderen Seite haben wir den deutschen Staat, der über das deutsche Staatsvolk konstituiert wird, wo es Bildung für alle gibt, wo die Sexualität frei ausgelebt werden kann und wo Frauen gleiche Rechte haben wie die Männer. Das ist für Sie schlecht und verachtenswert. Meine Damen und Herren, das ist nicht normal. Normal ist, sein Land zu lieben. ({5}) Wir als Alternative für Deutschland lieben unser Land. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf und den Antrag der Grünen ab. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Springer. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Springer, es ist so schade, dass Sie und Ihre Partei nicht begreifen, dass wir in einer Weltgemeinschaft leben, die immer mehr zusammenwächst, und dass wir nur dann in Glück und Frieden leben können, wenn wir diese Gemeinschaft tatsächlich hüten und pflegen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Präambel des ILO-Übereinkommens 169 wird eine traurige Bilanz gezogen: Die indigenen Völker der Erde seien nicht in der Lage, „ihre grundlegenden Menschenrechte im gleichen Umfang auszuüben wie die übrige Bevölkerung der Staaten, in denen sie leben, und dass ihre Gesetze, Werte, Bräuche und Perspektiven oft ausgehöhlt worden sind“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war 1989, und es ist eigentlich eine Schande für uns alle, dass sich seit dieser Zeit bis heute so wenig daran geändert hat. Die Indigenen machen 5 Prozent der Weltbevölkerung, aber 15 Prozent der in Armut lebenden Menschen aus. Das ILO-Übereinkommen 169 ist das einzige internationale Vertragswerk, das einen umfassenden und rechtsverbindlichen Schutz der Rechte indigener Völker statuiert. Deswegen ist die Entscheidung der Bundesregierung, das Abkommen zu ratifizieren, richtig, und wir werden es hoffentlich alle breit unterstützen. ({1}) Es stimmt: Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch Deutschland wird keine direkte Verbesserung der Lage der Indigenen bewirken. Aber die Ratifizierung ist mehr als nur ein Symbol für die Achtung und für die Einhaltung der Rechte dieser Menschen und Völker. Wir als Parlamentarier und die Bundesregierung müssen die Ratifizierung zum Anlass nehmen, auf unsere Partner in der ganzen Welt, vor allen Dingen aber in Europa Einfluss zu nehmen, um mehr Staaten zu einer Unterschrift unter dieses Abkommen zu bewegen. Die niedrige bisherige Beteiligung von 23 der insgesamt 187 Mitgliedstaaten der ILO verdeutlicht, wie wichtig die Ratifizierung und die Diskussion darüber ist. Die Bundesregierung und die EU-Kommission tun bereits viel, um die Lage indigener Bevölkerungsgruppen vor allem in Asien und Südamerika zu verbessern. Diese positive Rolle gilt es auszubauen. Dabei spielen das Sorgfaltspflichtengesetz und die Handelsverträge der EU eine wichtige Rolle. Schätzungen gehen davon aus, dass 60 Prozent der Ressourcen und Rohstoffe unserer Erde – 60 Prozent, liebe Kolleginnen und Kollegen – in den von den Indigenen bewohnten Gebieten liegen. Dabei geht es nicht um eine verklärende Naturromantik. Es geht auch nicht um Sonderrechte. Wofür wir eintreten, ist, dass auch die Indigenen Bildung, Arbeitsplätze und Infrastruktur bekommen. Aber sie sollen selbstbestimmt – und das ist das Kernelement des ILO-Übereinkommens – über ihr Leben entscheiden können. Indigene Bevölkerungsgruppen sind keine passiven Betreuungsobjekte der Menschenrechtspolitik. Indigene Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger kämpfen weltweit Tag für Tag für ihre Rechte, so auch die Menschenrechtsverteidigerin Renalyn Tejero auf den Philippinen, die seit drei Wochen von der Polizei festgehalten wird. Sie ist eine indigene Lumad-Manobo. Sie ist nur für ihre Rechte eingetreten, ohne Gewalt. Oder Bernardo Caal, ein Indigener der Q’eqchi-Gemeinschaften, der 2018 in Guatemala wegen Widerstandes gegen ein Wasserkraftprojekt auf indigenem Land zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Wir dürfen heute Abend auch die zahllosen Tibeter und Uiguren in chinesischer Haft nicht vergessen. Besonders erwähnen möchte noch ich den Jesuitenpater Stan Swamy in Indien, der jahrzehntelang für die Rechte der indigenen Adivasi eintrat. Dieser 83-jährige Mann leidet an Parkinson und ist aufgrund einer hanebüchenen Terrorismusanklage seit Oktober in Haft, und zwar in Indien. Das wäre ein passender Anlass, von Indien die Unterzeichnung des ILO-Übereinkommens und die Freilassung von Pater Swamy zu fordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, indigene Volksgruppen spielen auch eine bemerkenswerte Rolle im Kampf gegen Klimawandel und Abholzung. Laut einer Studie der Welternährungsorganisation werden deutlich weniger Flächen abgeholzt, wo indigene Bevölkerungsgruppen Landrechte innehaben. Mit einem breiten Konsens für die Ratifizierung können wir ein wichtiges Signal geben. Ausbildung, Gesundheit und Bildung sind kein Privileg, auch nicht für Indigene. Den Schutz der eigenen Sprache, Kultur und Religion muss man sich nicht verdienen. Und das Weltkulturerbe, das ist auch unser aller Erbe. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Patzelt. – Der nächste Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Carl-Julius Cronenberg. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um fundamentale Rechte für 350 Millionen indigene Menschen rund um den Globus. Vielleicht warten diese Menschen nicht unbedingt darauf, dass nach 30 Jahren noch der eine oder andere Staat die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Aber sie warten darauf, dass die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ihnen endlich mit Respekt und Toleranz begegnen. ({0}) Und sie erwarten, dass ihre Rechte auf Bewahrung von Identität und Kultur endlich geachtet und wirksam geschützt werden. Diese Anliegen unterstützen die Freien Demokraten. Deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf zu. ({1}) Leider haben indigene Völker bis heute allzu oft das Gegenteil von Respekt und Anerkennung erfahren, nämlich Assimilierung und Vertreibung. Bleiben wir realistisch: Auch in Staaten, die schon längst die Konvention ratifiziert haben, werden ILO-Rechte unvermindert mit Füßen getreten, so zum Beispiel im Amazonasbecken. Dabei ist klar: Indigene bewahren die Grundlagen ihres Lebensraums; sie holzen den Regenwald nicht ab. Deshalb ist es auch in unserem Interesse, sie als unverzichtbare Partner bei Umwelt- und Klimaschutz anzusehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Kollege Springer. Herr Kollege Springer, Sie haben gegen das Gesetz argumentiert, dass es in Deutschland keine betroffene Bevölkerungsgruppe gibt. Ja, dem ist so. Es ist auch gut, dass die Konvention den Grundgedanken der Subsidiarität achtet. Dennoch ist es wichtig, sie zu ratifizieren. Wie sonst könnte die Bundesregierung ihre Anliegen vor Ort adressieren? Herr Kollege Springer, die Ratifikation ist deshalb auch eine Frage der Glaubwürdigkeit deutscher Außen- und Menschenrechtspolitik. ({2}) Die Unterscheidung zwischen indigenen Völkern und ethnischen Minderheiten ist nicht immer trennscharf. Die Unterdrückung ethnischer Minderheiten ist von der Konvention nicht erfasst. Die Situation der Uiguren in Xinjiang zeigt, dass dort genau die Assimilation zwangsweise durchgeführt wird, die die Konvention bei Indigenen verhindern will. Daher muss gelten: Das richtige Prinzip der Nichteinmischung ist nicht zu verwechseln mit dem falschen Prinzip der stillschweigenden Billigung. ({3}) Noch eines sollte die Bundesregierung nicht verwechseln, bitte: die Verantwortung dafür, universelle Menschenrechte durchzusetzen, liegt in erster Linie beim Staat. Es ist die Aufgabe der Regierung, Missstände anzusprechen, Aktionspläne zu vereinbaren, notfalls Konditionalitäten zu verhandeln und dort, wo es passt, auch die Unternehmen mit einzubinden. Es kann nicht sein, dass die Regierung sich diese Woche für die Ratifikation des ILO-Übereinkommens feiert und schon nächste Woche die harte Kärrnerarbeit, vor Ort Menschenrechte durchzusetzen, an die Unternehmen wegdelegiert, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Ende.

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Ratifikation ist nicht die Ziellinie im Kampf für die Rechte indigener Völker, sondern der Startblock. Wir gehen heute mit und freuen uns darauf, nach der nächsten Bundestagswahl das Ziel „Menschenrechte weltweit“ in Regierungspolitik umzusetzen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Abgeordnete Eva-Maria Schreiber. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! In Kolumbien werden Mitglieder des Volkes der Nutabe wegen eines gigantischen Wasserkraftwerks von ihrem Land vertrieben, ihre politischen Führer von Todesschwadronen verfolgt. In der Demokratischen Republik Kongo verlieren indigene Batwa durch die Gründung eines Nationalparks ihre Existenzgrundlage und werden von Parkwächtern geschlagen, vergewaltigt, ermordet. In Paraguay kämpfen die Sawhoyamaxa seit Jahrzehnten für ihr traditionelles Land, das sich ein deutscher Rinderzüchter angeeignet hat. Weltweit werden die Rechte indigener Gemeinschaften mit Füßen getreten; ihr Leben ist vielfach in Gefahr. Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung endlich die Konvention 169 der International Labour Organization ratifiziert. ({0}) Danach müssen Staaten die Rechte indigener Völker respektieren, wie das Recht auf ihr angestammtes Land und das Recht der Mitbestimmung in allen Angelegenheiten, die sie betreffen. Leider ignoriert Deutschland das viel zu oft. Das Wasserkraftwerk in Kolumbien wird von der IPEX-Bank finanziert, einer Tochtergesellschaft der staatlichen KfW. Die kongolesische Nationalparkbehörde und die Parkwächter beziehen einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen von der Bundesregierung. Das deutsch-paraguayische Investitionsschutzabkommen hat lange verhindert, dass indigene Gemeinden ihre legitimen Landrechte durchsetzen konnten. Wenn Deutschland ein Vorbild bei der Umsetzung indigener Rechte sein will, reicht die bloße Ratifizierung der ILO 169 nicht. Die Bundesregierung muss das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker wirklich ernst nehmen. ({1}) Eine Messlatte dafür ist der Naturschutz. Deutschland unterstützt das globale Ziel, die unter Naturschutz stehende Fläche in den kommenden zehn Jahren zu verdoppeln, und hat dazu einen eigenen Fonds gegründet, der mit 80 Millionen Euro ausgestattet ist. Zentrale Partner sind der WWF und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt, die Geld und Schutzgebiete verwalten sollen. Indigene kommen in der Initiative nicht vor. Dabei sind sie es, die ihre natürlichen Lebensräume besonders gut bewahren – Socio Bosque im Amazonas lebt es vor. Doch leider erleben Indigene in Afrika und Asien Schutzgebiete oft als Bedrohung. Unter Berufung auf ein höheres Gut, den Naturschutz, werden sie entrechtet, vertrieben und getötet. Das muss ein Ende haben. ({2}) Indigene Führer fürchten, dass die massive Ausweitung von Schutzgebieten für sie in eine Katastrophe, den größten Landraub der Geschichte, münden könnte. Greenpeace warnt eindringlich vor einer Ausweitung eines autoritären Festungsnaturschutzes. Die ILO 169 ernst nehmen heißt, diese Sorgen ernst zu nehmen. Die Bundesregierung muss Indigene zu ihren zentralen Partnern machen, und das nicht nur, wenn es um die Lösung der globalen Umweltkrise geht, sondern generell in der Entwicklungszusammenarbeit.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ansonsten bleibt die Ratifizierung der ILO 169 leere Symbolpolitik. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Margarete Bause. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erneut Alarm geschlagen. Es geht um Landraub und schwerste Umweltzerstörung in der Region des Tapajós-Flusses in Brasilien. Es geht um kriminelle Gewalt gegen die indigene Gemeinschaft der Munduruku. Es geht um die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen und den Angriff auf ihre verbrieften Rechte, auf ihre Gesundheit und ihre Sicherheit, und das alles mit Unterstützung und Billigung der brasilianischen Regierung. Die Rechte von Indigenen weltweit zu stärken, ist das Ziel der ILO-Konvention 169, deren Ratifizierung heute hier endlich ansteht. Endlich, weil dieses Übereinkommen schon vor 30 Jahren in Kraft getreten ist. Endlich, weil diese Koalition sich jahrelang nicht darauf verständigen konnte. Die Konvention zum Schutz der Rechte Indigener betrifft etwa 370 Millionen Menschen in gut 90 Staaten. Sie leben in Regionen, in denen rund zwei Drittel der weltweit stark nachgefragten Ressourcen vorkommen: Wasser, seltene Erden, aber auch Erdöl und Gas. Sie werden diskriminiert, ausgebeutet, unterdrückt. Viele von ihnen werden ermordet, weil sie nicht weichen wollen und weil sie für ihre Rechte kämpfen. Jahrelang wurde diese Konvention auch von Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag als reine Symbolpolitik abgetan, Tenor: Das betrifft uns hier ja eh nicht. – Doch, es betrifft uns! ({0}) Wenn Brasiliens rechtsextremer Präsident Bolsonaro Indigene mit Tieren gleichsetzt und sie zur Jagd freigibt, dann geht uns das was an. ({1}) Wenn in ihren Gebieten Regenwald zerstört wird für den Abbau von Soja, das auch zu uns geliefert wird, dann geht uns das was an. Wenn Ökosysteme vernichtet werden, von denen unser aller Klima- und Artenvielfalt abhängig ist, dann geht uns das was an. Wenn deutsche Großkonzerne Staudämme in Brasilien, Kolumbien oder anderswo zertifizieren oder versichern, die dann zu Umweltkatastrophen mit Tausenden von Opfern führen, dann geht uns das entschieden etwas an, und dann sind wir hier in der Verantwortung. ({2}) Die Konvention sieht vor, dass indigene Gemeinschaften, auf deren Boden Großprojekte durch Dritte entstehen sollen, konsultiert werden müssen. Das hat zum Beispiel auch Auswirkungen auf unsere Außenwirtschaftsförderung. Wenn die Bundesregierung künftig über die Vergabe von Hermesbürgschaften entscheidet, dann bietet ILO 169 dafür den Maßstab. ({3}) Auch im Lieferkettengesetz muss diese Konvention verankert werden; denn unternehmerische Sorgfaltspflichten gelten auch für den Schutz von Indigenen. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, bisher haben nur 23 Staaten dieses wichtige Übereinkommen ratifiziert, und deshalb ist es auch unsere Aufgabe, für mehr internationale Anerkennung zu werben. Auch damit stärken wir die Menschenrechte weltweit. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Frank Schwabe. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Zu recht später Stunde schreibt der Deutsche Bundestag heute Geschichte, weil nämlich die Bundesrepublik Deutschland 24. Vertragsstaat der ILO 169, des Übereinkommens zum Schutz der indigenen Bevölkerung, wird. ({0}) Wir setzen damit eine von drei zentralen Forderungen der SPD im Bereich der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte aus dem Koalitionsvertrag um. Das Lieferkettengesetz kommt in Kürze, und die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt ist auch verabredet; da blockiert noch der Bundesinnenminister. Ich finde – wir haben ja noch ein bisschen Zeit, ein paar Monate –, dass auch das umgesetzt werden muss. ({1}) Wir reden über 370 Millionen Menschen indigener Bevölkerungsgruppen, über etwa 5 000 Kulturen aus etwa 90 Staaten. Es geht eben nicht darum, irgendwelche Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren, sondern es geht darum, Lebensweisen vor Landraub, vor der Abholzung des Waldes, vor der Entziehung der Lebensgrundlagen, vor Umweltzerstörung – zum Beispiel durch Bergbau – und vor Vertreibungen zu schützen. Das ist das Ziel der ILO 169, und es ist absolut schützens- und unterstützenswert. ({2}) Es hat lange gedauert – es ist gesagt worden: seit 1989, also viel zu lange –, bis wir da mitmachen. Die Frage, ob es in unserem Land Indigene gibt oder nicht, ist gar nicht die zentrale Frage, sondern wir finden, dass Indigene geschützt werden müssen, egal wo sie sind; übrigens auch, wenn sie in Deutschland wären. Aber jetzt geht es darum, den Multilateralismus international aus Deutschland heraus zu stärken. Das ist etwas, was sich besonders der Bundesaußenminister zur Aufgabe gemacht hat. Es ist ein Stück weit ein Geschenk und eine Unterstützung derjenigen, die sich leidenschaftlich für den Schutz indigener Bevölkerungen einsetzen. Ich erinnere mich daran, dass vor zwei Jahren die damalige Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Vicky Tauli-Corpuz von den Philippinen hier im Deutschen Bundestag war und von uns eingefordert, uns darum gebeten hat, diese Ratifizierung vorzunehmen. Der jetzige Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen ist José Francisco Calí Tzay, der ehemalige Botschafter von Guatemala hier in Deutschland. Er entstammt dem Volk der Cakchiquel, und auch er ist jemand, der sich leidenschaftlich für den Schutz von Indigenen einsetzt. Deswegen sage ich: Das ist ein Stück weit ein Geschenk, eine Unterstützung und sollte entsprechend genutzt werden, um der ILO 169 neues Leben einzuhauchen. Leider – das ist gesagt worden – gibt es bisher nur 23 Vertragsstaaten. Das sind vor allen Dingen lateinamerikanische Staaten. Allerdings kommt jetzt mit Deutschland der sechste europäische Staat dazu; 2018 hat Luxemburg ratifiziert. Ich hoffe jedenfalls, dass daraus auch eine neue Dynamik entstehen kann, um dieses Abkommen entsprechend mit Leben zu füllen. Das ist fundamental wichtig, weil es die Antwort darauf ist, was an Menschenrechtsverletzungen weltweit begangen wird, zum Beispiel von Herrn Duterte an 15 Millionen Indigenen auf den Philippinen, aber eben – es ist gerade genannt worden – auch in Brasilien von Präsident Bolsonaro. Deutschland setzt einen Kontrapunkt zu dieser menschenrechtswidrigen Politik, die von Herrn Bolsonaro betrieben wird, der mit dem Umgang mit Covid-19, mit dem Abbrennen des Amazonas am Ende sein eigenes Land und die ganze Welt in Brand setzt. Von Covid-19 besonders betroffen sind 162 indigene Völker in Brasilien, und wir erleben eine besonders ausgeprägte Kindersterblichkeit bei den Yanomami; es ist wirklich schrecklich. Deswegen – noch einmal – ist heute ein historischer Tag. Deutschland stärkt die ILO 169. Wir stärken damit den Multilateralismus, und wir stärken das Leben von Millionen Menschen weltweit. Das schaffen wir hier im Deutschen Bundestag in großer Breite. Ich glaube, das ist auch etwas, was jedenfalls über die letzten Jahre gelungen ist, so schwierig es war. Ich sage jedenfalls herzlichen Dank dafür! ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schwabe. – Der letzte Redner zu TOP 25 ist der Abgeordnete Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich nahtlos der kleinen Gratulation an das Parlament anschließen, dass wir diese Ratifizierung heute so vornehmen dürfen. Frank Schwabe hat in seiner Rede davon gesprochen, dass es lange, lange, viel zu lange gedauert hat. Aber ich freue mich riesig, dass ich heute sprechen darf, weil ich beiden Ausschüssen angehöre, die in den letzten zehn Jahren fast jährlich über dieses Thema diskutiert haben: dem Ausschuss für Arbeit und Soziales auf der einen Seite – wir haben die Staatssekretärin gehört – und dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf der anderen Seite. In beiden hat es eine gravierende Bedeutung. Wir dürfen damit klar Stellung beziehen und international ein Zeichen setzen. Ich möchte kurz daran erinnern, dass wir uns die Ratifikation ja auch als Aufgabe im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Da können wir jetzt einen Haken dran machen. Auf den allgemeinen Stand der Dinge sind meine Vorredner immer wieder eingegangen; ich will nicht alles davon wiederholen. 1989 wurde das Übereinkommen beschlossen, 1991 ist es in Kraft getreten. Dennoch haben erst 23 der 187 ILO-Mitgliedstaaten das Übereinkommen ratifiziert, ganz überwiegend lateinamerikanische Staaten, auch weil ein beachtlicher Bevölkerungsteil dort indigener Herkunft ist. In Europa haben es – die Länder haben Sie jetzt mehrfach gehört – Norwegen und Dänemark, weil in ihrem Staatsgebiet Bevölkerungsgruppen im Sinne des Übereinkommens leben, sowie die Niederlande, Spanien und vor Kurzem Luxemburg ratifiziert. Wenn wir international in dieser Geschwindigkeit weitermachen würden, dann bräuchten wir noch 170 Jahre, bis alle Staaten das Übereinkommen unterzeichnet haben. Da sieht man, wie langwierig wir leider unterwegs waren. Warum hat es bei uns so lange gedauert? Es kam mehrfach zur Sprache: Bei uns leben keine Gruppen, die unter dieses Übereinkommen fallen. Bei der Anerkennung bestimmter Rechte, die in dem Übereinkommen verankert sind, bestand die Gefahr, dass sie deutschen Gesetzen widersprechen würden; das konnte glücklicherweise endlich ausgeräumt werden. Und es gab einige Bedenken von deutschen Unternehmen, dass sich ihnen daraus Nachteile ergeben würden. Da bin ich als Menschenrechtler umgekehrter Ansicht. Was erhoffen wir uns davon, das Übereinkommen zu ratifizieren? Die außenpolitische Position Deutschlands in Bezug auf die Rechte indigener Völker zu stärken, die allgemeinen menschenrechtlichen und klimapolitischen – und damit auch uns betreffenden – Ziele Deutschlands zu fördern – unsere Ziele –, eine positive Signalwirkung – das hat auch mein Vorredner schon gesagt – insbesondere an die Industrienationen zu senden, es ebenfalls zu ratifizieren, und damit den Schutz der indigenen Völker international zu stärken. ILO 169 und Klimaschutz mit Relevanz für uns alle: Wenn indigene Völker ihr Land verlieren, zerstört dies ihre Gesellschaften und macht ihre Angehörigen oft anfälliger für gravierende soziale Schwierigkeiten bis hin zu schweren Krankheiten. Das Übereinkommen hilft aber nicht nur indigenen Völkern; es hilft, wie mehrere Vorredner gesagt haben, tatsächlich uns allen. Es spielt eine Schlüsselrolle beim weltweiten Schutz der Wälder, indem es jenen Menschen die Kontrolle über ihr Land zurückgibt, die sich seit Generationen darum gekümmert haben. Ein hoher Anteil – mein Kollege Patzelt hat das vorhin erwähnt – der weltweit verbliebenen Regenwälder und Biodiversität entfällt auf Regionen, auf das Land dieser indigenen Völker. Und jetzt werden die Landrechte indigener Völker anerkannt und wertgeschätzt. Das ermöglicht ihnen eine Zukunft und schützt die Wälder, in denen sie leben. ({0}) Ein kleines Beispiel. Wir haben viel von den Wäldern gehört, die, wenn man an das Klima denkt, ja doch mit uns zu tun haben. Zitat: „Land ist unser Leben und unser Blut. Ohne den Wald können wir nicht überleben“, so ein Angehöriger der Penan, einer indigenen Volksgruppe von etwa 10 000 Mitgliedern auf der Insel Borneo. Inzwischen leben nur noch wenige Hundert dieser Penan auf ihre traditionelle nomadische Lebensweise im tropischen Regenwald. Die Wälder der Penan werden durch das immer tiefere Eindringen von Holzfirmen in den unberührten Regenwald bedroht. Gerade noch 10 Prozent der Urwälder Sarawaks – ein malaysischer Bundesstaat auf Borneo – gelten als einigermaßen intakt. Diese Restgebiete liegen vor allem im Territorium der Penan. Die nomadisch lebenden Penan sind vom Regenwald abhängig. Sie sind angewiesen auf die in ihm vorkommenden Wildtiere, Sagopalmen und anderen Pflanzen, die zur Herstellung für ihre Naturmedizin gebraucht werden. Eine Ausrottung des Regenwaldes bedeutet das Verschwinden dieser Volksgruppe. Bis heute kämpfen sie um die Anerkennung ihrer Landrechte und die Beendigung dieser Waldzerstörung, die wir mit verantworten. Es ist ein guter Tag für sie, für uns und von uns. Um ein Zitat von Staatssekretärin Griese vom Anfang der Debatte zu gebrauchen: „Richtet eure Augen auf die indigenen Völker … und ihre Rechte!“ – Für sie und für uns alle. Danke, dass wir die Debatte hier haben durften. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Heinrich. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das inhaltliche Thema des Gesetzentwurfs lautet: Wir wollen mit modernen polizeilichen Mitteln verhindern, dass Sportveranstaltungen in Deutschland und Europa von gewaltbereiten Hooligans und anderen Extremisten dazu missbraucht werden, ihre eigenen, teils sehr brutalen Spiele zu spielen. – Wir reden natürlich ganz überwiegend über den Fußball. Sie alle wissen, dass der Deutsche Fußball-Bund, die UEFA und andere gemeinsam mit den staatlichen Behörden der jeweiligen Länder und in europäischer Zusammenarbeit darum bemüht sind, dieses Gewaltpotenzial Schritt für Schritt zu reduzieren und in den Griff zu bekommen. Dazu gehören natürlich einheitliche Standards unter den Vertragsstaaten des Europarats, die dann auch für alle gelten, um sichere, angenehme und einladende Sportveranstaltungen zu ermöglichen. Das tun wir als Bundesrepublik Deutschland im Übrigen schon seit Langem. Es handelt sich hier also um die Umsetzung eines Übereinkommens, dessen Inhalt in Deutschland schon lange Praxis ist. Für die Akteure und auch die Agitatoren solcher Gewalt gibt es die digitale Speicherung, damit bei und auch vor künftigen Gelegenheiten, sprich: Sportveranstaltungen – wie etwa große Fußballspiele – Gefährder präventiv angesprochen und notfalls schon im Vorfeld aus dem Verkehr gezogen werden können. Das stoppt mögliche Gewalttaten und verhindert Gefährdungen der Gesundheit von ganz normalen, friedlichen Fußballfans und anderen Sportbegeisterten. Dabei gibt es aktuell ein Missverständnis, so möchte ich es nennen. Das Missverständnis besteht darin, dass man den Kurzschluss zieht, dass wegen der derzeitigen flächendeckenden Absagen von Großveranstaltungen – also Sportveranstaltungen –, und insbesondere des Austragens von Fußballspielen ohne Zuschauer im Stadion, das Problem der Hooligans und damit das Thema der Speicherung der Daten von gefährlichen Akteuren sozusagen entfallen müssten und überflüssig wären. Das ist nicht der Fall. Denn auch jetzt, in der Pandemie, kommen je nach Attraktivität, auch je nach Rivalität der Fangruppen durchaus Hunderte oder sogar mehr „Fans“ außerhalb des Stadions zusammen, in dem das Spiel dann stattfindet. Weil das so ist, gibt es natürlich auch die Fortschreibung der Datenbank mit solchen Personen, die entweder selbst Akteure waren oder eben im Zusammenhang mit rechtswidrigen Aktivitäten identifiziert und deren Personalien festgestellt wurden. Wichtig ist: Bei der Erfassung in der Datei gibt es mehrere Abstufungen, also auch Differenzierungen. Die datenschutzrechtlichen Bestimmungen werden bei uns und in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit genau beachtet. Insoweit bleibt Rechtsstaatlichkeit bei dieser Prävention gegen mögliche Gewalttäter natürlich abgesichert und gewahrt. In der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage zu Eintragungen in die Datei „Gewalttäter Sport“ zwischen März und Dezember 2020 hat sich dann auch gezeigt, dass die Aktivität gewalttätiger Akteure trotz Pandemie nicht gänzlich gestoppt hat. Die meisten Eintragungen in die Datei „Gewalttäter Sport“ erfolgten aufgrund von Landfriedensbruch. Das ist keine Bagatelle. Die 404 Fälle dieser Kategorie zeigen, dass es doch nötig ist, auch während der Pandemie solche Veranstaltungen abzusichern. Im Übrigen gibt es fast 100 Fälle von besonders schwerem Landfriedensbruch; das ist die zweitstärkste Kategorie. Insgesamt begrüßt die CDU/CSU, dass der Bundestag das entsprechende Übereinkommen des Europarates aus dem Jahr 2016 in das Gesamtgefüge dieser Präventionsarbeit einfügt und die entsprechenden gesetzlichen Regelungen für Deutschland beschließt. Ich bitte herzlich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Michael Brand. – Für die AfD-Fraktion macht sich bereit der Abgeordnete Jörn König. – Bitte schön, Sie haben das Wort. ({0})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Heute geht es um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der vor allem ein politisches Signal ist. Der Europarat aus 48 Staaten hat ein Übereinkommen verabschiedet, mit dem die Sicherheit von Sportveranstaltungen länderübergreifend gewährleistet werden kann und soll. Praktische Auswirkungen sind nicht vorhanden, da auf diesem Gebiet Deutschland bereits seit Langem im Sinne der Übereinkunft handelt. Wir werden daher hier natürlich zustimmen. Auch kritische Punkte wie eine eventuelle Weitergabe personenbezogener Daten deutscher Bürger an andere Staaten unterliegen der deutschen Gesetzgebung und hier auch der DSGVO. Dies hat Staatssekretär Mayer in der gestrigen Sportausschusssitzung ausdrücklich bestätigt. Es hat uns sehr erleichtert, dass zum Beispiel Aserbaidschan nicht an Daten deutscher Bürger herankommt, wo doch die CDU so herzliche und vor allem lukrative Beziehungen nach Aserbaidschan pflegt. Erschütternd bei der ganzen Sache ist aber das Verwaltungshandeln. Im Juli 2016 wurde das Übereinkommen unterschrieben, und nach nur vier Jahren wird das Abkommen kurz vor dem Ende der Fristen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das ist schon eine tolle Verbesserung; denn für das Vorgängerabkommen haben die Bundesregierungen insgesamt 20 Jahre gebraucht. Wolfgang Schäuble würde also sagen: Wir sind auf einem guten Weg. – Wir sagen, dass so etwas die teilweise Unfähigkeit der Verwaltung zeigt, politische Signale und Formalien zeitnah umzusetzen. ({0}) Die Zuarbeit, die das BMI machen musste, bestand in vier Seiten, also eine Seite pro Jahr. Das ist, wie gesagt, eine reife Leistung. Schön sind auch ein paar Details aus dem Briefwechsel. Nach vier Jahren Verzug ist der Gesetzentwurf bereits am 12. Februar 2021 dem Bundesrat als besonders eilbedürftig zugeleitet worden. Trotz dieser besonderen Eilbedürftigkeit hat es noch mal knapp vier Wochen gedauert, bis das Bundeskanzleramt am 9. März 2021 diesen Gesetzentwurf auch dem Bundestag zugeleitet hat. Werte Kollegen, kann man alles so machen, sollte man aber nicht. Selbst in solchen Kleinigkeiten zeigt sich die Unfähigkeit des BMI und des Bundeskanzleramtes – trotz eines Stellenaufwuchses von 280 Mitarbeitern im Kanzleramt und 739 Stellen im Innenministerium. Was bekommt der Bürger dafür? Impfchaos und Endlos-Lockdown. ({1}) Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Das Schlimmste an einem dreiwöchigen Lockdown sind die ersten sechs Monate. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege König. – Der nächste Redner ist der Kollege Mahmut Özdemir für die SPD-Fraktion. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu so später Stunde ist das die zweite sportpolitische Debatte an diesem Abend. Sportgroßveranstaltungen, Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen brauchen Sicherheit. Es ist gut, dass wir hier über ein Vertragsgesetz reden. Wir haben gerade gehört, die Bundesregierung habe so lange gebraucht, um ein solches Vertragsgesetz umzusetzen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir hier in Deutschland ein hohes Maß an Datenschutz, ein hohes Maß an Sicherheit und auch ein hohes Maß an Verkehrssicherheit unserer Veranstaltungen vom Sport über die Kultur bis zu Bürgerfesten haben, und das ist auch gut so. ({0}) Alle Handelnden wollen sportlichen Erfolg; sie wollen Vergnügen, Erlebnisse, berufliche und wirtschaftliche Vorteile. Sicherheit ist dabei ein Versprechen des Staates. Vorschriften, Kontrollen und auch Einsatzkräfte garantieren, dass jedes erlaubte Risiko nur so viele Auflagen erhält wie notwendig. So konnte mein Vater – vielleicht hört er jetzt zu auf der Arbeit oder hat gerade Pause – mit mir ins Wedaustadion zum MSV Duisburg gehen. ({1}) Wir sind gemeinsam hingefahren, mal mit Bus und Bahn, mal mit dem Auto; wir standen im Stadion dicht an dicht mit Ultras, mit Familien und haben gemeinsam den MSV Duisburg angefeuert und sind dann von Polizisten, von Ordnern durch die Menschenmenge auch wieder sicher nach Hause geleitet worden. Das einzig Risikobehaftete an einem besonderen Tag, an den ich mich erinnere, war die Beichte daheim, als der kleine Mahmut, der den Eckstoß aus nächster Nähe verfolgen wollte, seinem Vater abhandenkam und dann vom Stadionsprecher ausgerufen worden ist. Dass ein Vater nach dem Spiel sein Kind suchen muss, ist das einzige Risiko in einem deutschen Fußballstadion. ({2}) Mit diesem Abkommen verbessern wir die Zusammenarbeit und die polizeilichen Strategien, Einsatzkräfte zu schulen und die Vernetzung von Polizeikräften, Rettungskräften, aber auch privaten Kräften herzustellen. Eine präzise Einschätzung des Risikos ist hierbei wichtig und notwendig. Das erreichen wir, indem wir bestmögliche Informationsaustausche nach dem höchsten Sicherheitsstandard und dem höchsten Datenschutz gewährleisten. Ich habe gerade dargestellt, dass unsere Sportgroßveranstaltungen neben dem gesellschaftlichen Nebeneinander schon ein hohes Maß an Sicherheit genießen. Aber wir stehen auch hier vor Herausforderungen, und diese Herausforderungen möchte ich kurz aufzeigen. Im Zusammenhang mit Hochrisikospielen werden die Sicherheitskosten immer mal wieder diskutiert. Ein höheres Risiko, das vom Staat abgedeckt wird, während Gewinne und Umsätze privatisiert werden, lehnen wir als SPD allerdings ab. ({3}) Wir sehen, dass das Land Bremen hier einen besonderen Weg gegangen ist, nämlich Vereinen zusätzliche Sicherheitskosten über Gebühren in Rechnung zu stellen. Ich finde, das ist grundsätzlich ein gangbarer Weg, der derzeit auch richterlich geprüft wird. Vom Bundesverwaltungsgericht ist schon ein grundsätzlich positives Signal erfolgt; eine bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung hierzu steht allerdings noch aus. Ich komme zum Thema „Rechtsextremismus im Fanblock“. Ich finde, hier ist der Informationsaustausch besonders wichtig, gerade auch im Hinblick auf den Kampf gegen rechtsradikale Fans, zum Beispiel HooNaRa, Hooligans, Nazis und Rassisten. Menschen mit solch einer Gesinnung dürfen nicht ins Stadion – leider ist das vorgekommen; wir erinnern uns an die Trauerfeiern in den Fanblocks in Chemnitz und auch Cottbus, teilweise mit europäischer Solidarität bis nach Prag –; sie dürfen nicht im Fanblock stehen, und sie dürfen erst recht nicht einen Ordnungsdienst bei diesem Verein organisieren. Das müssen wir strategisch genau betrachten, unter Einbeziehung aller Sicherheitsbehörden, auch mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wir brauchen einen konsequenten Umgang mit Gewalttätern, eine Nulltoleranzpolitik. Wer einmal im Stadion gewalttätig gewesen ist, darf nie wieder ein Stadion von innen sehen. Das ist meine persönliche Überzeugung. Wir müssen auch unterbinden, dass sich Fangruppen „zufällig“ oder, besser gesagt, geplantermaßen an Bahnhöfen treffen, um wechselseitig Körperverletzungen auszutauschen, landläufig auch als Schlägereien unter Hooligans bekannt, während andere, Familien, Reisende, Studierende, Schülerinnen und Schüler oder auch Wochenendreisende, den Bahnhof in Frieden nutzen wollen. Das geht nicht. Auch da müssen wir mit unseren Polizeikräften entsprechend vor Ort sein. Unser Versprechen ist: Wir wollen staatliche Sicherheit auf Kosten der Allgemeinheit, soweit es der Allgemeinheit dient. Wir wollen aber Kostentragung dort, wo auf Kosten der Allgemeinheit Gewinne erzielt werden, damit von der Familie bis zu den Fans und den Ultras im Stadion alle gemeinsam ihren Verein anfeuern und das sportliche Großereignis sportartunabhängig genießen können. Ich bitte um Zustimmung zu dem Vertragsgesetz und wünsche noch einen schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Özdemir. – Die nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion die Kollegin Britta Dassler. ({0})

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit der Sport im Vordergrund stehen kann, muss die Sicherheit bei Sportveranstaltungen gewährleistet sein. Das bedeutet: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass Schutz und Hilfe für Zuschauer in den Stadien jederzeit und überall sichergestellt sind. Ich hatte als Kind, lieber Mahmut, mit meinem Papa eine Dauerkarte für Borussia Mönchengladbach. Damals war alles friedlich; ({0}) doch heute ist die Zeit anders. Denken wir an die Gewalt in Fußballstadien, so stellen wir fest: Im Rahmen internationaler Wettbewerbe gibt es neben gewaltbereiten Gruppen auch immer wieder Fälle von fragwürdigen Polizeieinsätzen gegen friedliche Fans. Internationale Sportgroßveranstaltungen benötigen deshalb dringend ein Sicherheitsupdate. Die Freien Demokraten begrüßen die im Gesetzentwurf vorgelegte und angestrebte Verbesserung in Bezug auf eine grenzübergreifende Vernetzung nationaler Sicherheitsbehörden sowie polizeiliche Einsatzstrategien, die nicht nur effektiv, sondern auch verhältnismäßig sein müssen. Der nun zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf, den wir als Mitgliedstaat der EU als Vertragsgesetz ratifizieren müssen, erhöht allerdings nicht nur die Regelungsdichte; er erhöht vor allen Dingen auch die Kontrolldichte. Besonders hervorzuheben ist hierbei Artikel 11, der vorsieht, nationale Fußballinformationsstellen der Polizei einzurichten, um personenbezogene Daten auszutauschen. Wir erinnern uns: Im Europarat sind aber auch Drittstaaten wie Russland, Türkei, Kasachstan und Aserbaidschan vertreten. Diese Länder haben oftmals ein anderes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Wenn ein Austausch personenbezogener Daten unter Vertragsstaaten stattfindet, müssen vorher klare Regelungen gelten, wie und in welchem Ausmaß Daten gesammelt und übermittelt werden. ({1}) Ich komme zum Schluss. Wir Freie Demokraten stimmen diesem Gesetzentwurf zu, weil laut Aussage von Ihnen, Herr Staatssekretär Mayer, im Innenausschuss – mir haben Sie es gestern im Sportausschuss auch noch einmal erklärt – sichergestellt ist, dass datenschutzrechtliche Grundprinzipien wie Transparenz, Datenminimierung und Speicherfristen eingehalten werden. Sie haben auch gesagt: Grundlage sind immer schon bestehende bilaterale und multilaterale Polizeiverträge. Wir entscheiden in Deutschland immer selber, an wen wir welche Daten weitergeben. Insofern gibt es Zustimmung von unserer Seite. Wir Freie Demokraten begleiten diesen Prozess konstruktiv. Die letzten sechs Sekunden schenke ich Ihnen. – Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank; darüber freuen sich alle. – Der nächste Redner ist der Abgeordnete Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist in mehrerlei Hinsicht merkwürdig, erstens hinsichtlich der Zeiträume von der Verabschiedung eines Übereinkommens im Europarat bis zur Inkraftsetzung dieses Übereinkommens in nationales Recht. Das erste Abkommen zu diesem Thema wurde 1985 im Europarat verabschiedet und satte 20 Jahre später in innerstaatliches Recht in Deutschland übertragen. So lange dauerte es bei keinem anderen Land in Europa. Auch das Folgeabkommen des Europarates über einen ganzheitlichen Ansatz für Sicherheit, Schutz und Dienstleistungen bei Fußballspielen und anderen Sportveranstaltungen vom Juli 2016 ist schon in 20 Staaten in Kraft getreten. Auf meine Frage im Sportausschuss, warum das in Deutschland so lange dauert, erwiderte das BMI, dass das Gesetz rechtlich und für die praktische Arbeit ohne Bedeutung sei, es ginge lediglich um ein politisches Signal gegenüber dem Europarat. Reden wir also heute über ein unnützes Gesetz? Die zweite Merkwürdigkeit besteht im Gesetzgebungsverfahren selbst. Die Bundesregierung übergibt den Gesetzentwurf an das Parlament und verweist auf die Eilbedürftigkeit, unter anderem mit der aus meiner Sicht kuriosen Begründung, dass die Fußball-Europameisterschaft bevorstehe. Diese Europameisterschaft sollte eigentlich 2020 stattfinden. Durch Corona erfolgte die Verschiebung auf Juni 2021. Warum kam der Gesetzentwurf also nicht ein Jahr früher, wenn es so dringlich gewesen ist? Wenn Die Linke nicht auf einer Debatte bestanden hätte, wäre dies alles lautlos durchgegangen. Die dritte Merkwürdigkeit betrifft den Artikel 11 des Übereinkommens, also die internationale Zusammenarbeit von staatlichen Sicherheitsbehörden und privaten Sicherheitsunternehmen einschließlich des Austausches von Daten, zum Beispiel über potenzielle Gewalttäter. Hier geht es dann auch um die zu Recht heftig umstrittene Datei „Gewalttäter Sport“ der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze. Wie problematisch diese polizeiliche Datenbank ist, wurde bereits in verschiedenen Kleinen Anfragen der Linken und der Grünen deutlich. Angeblich soll es ja keine Übermittlung von Daten zu Personen an ausländische Behörden gegeben haben. Laut dem Übereinkommen ist dies aber möglich. Mein Fazit: Gegen mehr Sicherheit, Service und Erlebnisqualität für die Besucherinnen und Besucher internationaler Sportveranstaltungen gibt es aus Sicht der Linken nichts einzuwenden, erst recht nicht, wenn auch die Belange der im Umfeld der Veranstaltungen lebenden Menschen angemessen berücksichtigt werden. Vieles in diesem Übereinkommen ist sinnvoll; aber es bleiben Fragen, die nicht hinreichend geklärt sind. Deshalb wird sich Die Linke bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf der Stimme enthalten. Gestatten Sie mir abschließend zwei Anmerkungen zu aktuellen Fragen, die durchaus auch etwas mit dem hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf zu tun haben. Zum einen halte ich das Vorhaben der UEFA hinsichtlich der geplanten Fußball-Europameisterschaft, in zwei Monaten Spiele in zwölf Staaten und mit Beteiligung von Zuschauern in den Stadien durchzuführen, angesichts der aktuellen Coronalage für abenteuerlich. Das Gesetz ist offenbar kein geeignetes Instrument, um diesen Wahnsinn zu stoppen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege.

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Herr Präsident. – Letztlich glaube ich, wir dürfen nicht länger kritiklos zusehen, wie aus Profitgier und ohne Rücksicht auf die bestehenden Fußballstrukturen und die Gesundheit der Sportler immer mehr europäische Wettbewerbe im Profifußball aufgebläht oder gar neu erfunden werden, für deren Sicherheit dann der Steuerzahler aufkommen soll. Hier muss endlich ein klares Stoppzeichen gesetzt werden. Auch deshalb können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen das Europaratsabkommen ausdrücklich. Es beinhaltet viele Verbesserungen. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf auch zustimmen. Warum das so viele Jahre gebraucht hat, fragen wir uns allerdings auch; es ist von verschiedenen Vorrednerinnen und Vorrednern schon angesprochen worden. Ich habe in den letzten Jahren mehrfach bei der Bundesregierung nachgefragt, wann er endlich in den Bundestag kommt. Im Juli letzten Jahres erhielt auch ich die Antwort: Das liegt an Corona. – Ich finde, das ist eine sehr seltsame Begründung, wenn man schon drei Jahre lang Zeit dafür hatte, in denen es noch kein Corona gab. Aber was soll’s! Die Inhalte stimmen. Mit dem Übereinkommen sollen Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen noch sicherer gemacht werden; das ist gut. Besonders herauszuheben ist der Service- und Dienstleistungsansatz, der mit dem neuen Übereinkommen gestärkt werden soll. Die Regierungen werden explizit in die Pflicht genommen, die lokale Bevölkerung und auch Fanvertreter/-innen in eine proaktive und regelmäßige Kommunikation einzubinden, wenn es um die Planung von Sportveranstaltungen geht. Man merkt dem Papier an, dass Fanvertretungen wie Football Supporters Europe angehört wurden und deren Anregungen auch teilweise eingeflossen sind. Das Übereinkommen, über das wir heute abstimmen, ist also deutlich progressiver als das Vorgängerübereinkommen; das begrüßen wir. ({0}) Einige der Leitgedanken werden in Deutschland teilweise schon umgesetzt. Mit den Fußballfanprojekten haben wir ja hierzulande schon vorbildliche Strukturen, die auf Dialog zwischen allen Beteiligten im Fußball setzen. Sie vermitteln zwischen Fans, Vereinen, Verbänden und Polizei. Diese Erfahrungen sollten auch auf europäischer Ebene verstärkt genutzt werden. In Baden-Württemberg zum Beispiel wurden die Stadionallianzen eingeführt und die am Fußball beteiligten Akteure auf lokaler Ebene mit einbezogen. Viele weitere Leitprinzipien des Übereinkommens sind in Deutschland allerdings noch nicht umgesetzt, auch wenn die Bundesregierung im Gesetzentwurf anderes behauptet. Eine umfassende Barrierefreiheit der Stadien ist bei Weitem noch nicht gegeben. Fans werden immer noch von der Polizei in ihrer Bewegungs- und Reisefreiheit bei An- und Abreise zu Fußballspielen eingeschränkt, und die Polizei sammelt weiterhin viel zu viele Daten von Fußballfans in der sogenannten Datei „Gewalttäter Sport“; das wurde schon angesprochen. Selbst während der Geisterspiele, bei denen keine Fans im Stadion sind, werden weiterhin Daten gesammelt, wie meine Anfragen dazu in den letzten Monaten gezeigt haben. Das ist wirklich absurd. ({1}) Wir sehen also: Es ist weiterhin viel zu tun. Das Übereinkommen bringt die Debatten aber hoffentlich weiter voran; denn Fußballfans sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Monika Lazar. – Die Kollegen Josef Oster und Artur Auernhammer geben ihre Reden zu Protokoll. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spät diskutieren wir über das Insektenschutzgesetz – zu später Stunde und reichlich spät in dieser Legislaturperiode. Immerhin hatten wir dieses Thema schon in den Koalitionsverhandlungen auf dem Tableau. Es war eine gute Entscheidung, ein kluger Beschluss dieser Koalition, dass sie dieses Thema adressieren will; denn es ist ein Thema von großer Tragweite. Manche sagen vielleicht: Insekten interessieren mich nicht. – Ich will Sie nur mit einer einzigen Zahl langweilen: 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Ein großer Teil davon sind eben Insekten. Was es heißt, wenn Insekten aussterben, können wir in asiatischen Ländern sehen, wo schon heute Bestäubungsleistungen per Hand und Pinsel durchgeführt werden müssen. Es entsteht also auch ein volkswirtschaftlicher Schaden, ein Schaden, den wir gemeinsam verhindern sollten. ({0}) Spät diskutieren wir. Aber ich bedanke mich ganz ausdrücklich beim Bundesumweltministerium und bei der Ministerin Svenja Schulze, die dieses Thema zu ihrem Thema gemacht hat und schon lange Gas gibt bei diesem Thema. Leider mussten wir noch ein bisschen auf das Landwirtschaftsministerium warten; denn es ist vereinbart, dass wir das Thema Insektenschutz in einem Insektenschutzpaket behandeln. Das eine ist eben das Insektenschutzgesetz; die Hausaufgaben wurden beizeiten gemacht, hier liegt die Zuständigkeit beim Umweltministerium. Das andere ist die sogenannte Pflanzenschutzmittelanwendungsverordnung. Hier hat es ein bisschen länger gedauert. Aber wir freuen uns, dass auch das jetzt erledigt ist. Die Anwendungsverordnung wird das Parlament übrigens nicht erreichen. Darüber entscheidet die Ministerin im Kabinett mehr oder weniger allein, und das wird dann noch mit dem Bundesrat abgestimmt werden. Deswegen, liebe Landwirte, wenn es das nächste Mal zu einer Demo geht, dann lenken Sie Ihre Traktoren doch bitte zum zuständigen Landwirtschaftsministerium und protestieren da. Da ist die Kritik gut adressiert. Ich halte es auch für richtig, dass sich das zuständige Ministerium um die Belange der Landwirtschaft kümmert; denn dort sitzen der Sachverstand und die Expertise. Mit seinem Fachverständnis und mit seiner Weisheit wird es diese Republik erfreuen. Was macht das Umweltministerium? Was macht das Insektenschutzgesetz? Darin werden die Aspekte behandelt, die nicht mit der Landwirtschaft zu tun haben. Insektensterben ist kein Problem, bei dem die Verantwortung allein bei der Landwirtschaft zu suchen ist. Nein, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Hier gibt es eine ganze Reihe von Aspekten, um die wir uns kümmern müssen. Ein Aspekt – das ist der Kern des Insektenschutzgesetzes – ist das Thema Lichtverschmutzung. Lächeln Sie nicht! Mehr als die Hälfte der Insekten sind nachtaktiv. Für sie ist es von großer Bedeutung, in einem Land zu leben, das im Dunkeln leuchtet. Fliegen Sie einmal bei Dunkelheit über die Republik. Dann werden Sie sehen: Dieses Land strahlt. Es gibt einige Flecken, zum Beispiel in Thüringen, dem grünen Herz der Republik, wo es nachts noch ein bisschen dunkler ist; aber wir kümmern uns ja um das ganze Land. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir die Maßnahmen ergreifen. Es geht auch noch um andere Themen wie die Biotopausweitung, das Verbot von Bioziden in streng geschützten Naturschutzgebieten und, was mich besonders freut, um Natur auf Zeit. Ich bin froh, dass dieses Thema in diesem Moment ganz offiziell das Parlament erreicht hat. Ich lade Sie alle herzlich ein: Lassen Sie uns dieses Thema anpacken. Lassen Sie es uns schnell behandeln und auch noch durch den Bundesrat bringen. Dann kommt es vielleicht spät, aber nicht zu spät. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion ist der nächste Redner der Abgeordnete Stephan Protschka. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Habe die Ehre, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gott zum Gruße, liebe Gäste im Hohen Hause und zu Hause am Fernseher! Zunächst einmal Dank an die Landwirte, die gestern gegen dieses verfehlte Insektenschutzgesetz und für ihre Existenz demonstriert haben. Haltet durch, liebe Bauern. Denkt dran: Bald sind Wahlen. Ich möchte mich zuerst auf die von Ihnen beabsichtigte Ausweitung des gesetzlichen Biotopschutzes konzentrieren. Sie wollen mit Ihrem Gesetz die landwirtschaftliche Nutzung von extensiv bis mittelintensiv bewirtschaftetem Grünland und von Streuobstwiesen gesetzlich stark einschränken. ({0}) Dabei waren es die Bauern, die über die Jahrhunderte diese Elemente unserer schönen Kulturlandschaft geschaffen, erhalten und gepflegt haben. ({1}) Diesen unverhältnismäßigen Eingriff in die Eigentumsrechte der Bauern lehnen wir ab und sagen deutlich in Richtung der schwarz-roten Koalition: Finger weg vom Eigentum der deutschen Bauern! Staatliche Eigentumseingriffe sind hier völlig fehl am Platz. ({2}) Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Alternative für Deutschland räumt dem Artenschutz einen sehr, sehr großen Stellenwert ein, aber Artenschutz ist nur gemeinsam mit der Landwirtschaft möglich und nicht gegen sie, ({3}) wie es die schwarz-rote Koalition macht. Wir setzen deshalb bewusst auf Anreize anstatt auf Verbote. ({4}) Ja, sehr geehrte Damen und Herren, es gibt einige wenige wissenschaftliche Studien, die Indizien für einen allgemeinen Insektenrückgang aufzeigen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kein Aufruhr. Das Wort hat der Kollege Protschka. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das Datenmaterial ist jedoch sehr dünn und nicht ohne Widersprüche. So hat das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung beispielsweise erst kürzlich in einer Studie festgestellt, dass der Bestand bei Landinsekten zwar tendenziell rückläufig sei, beim Bestand an Süßwasserinsekten dafür Zuwächse zu verzeichnen sind.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Protschka, der Kollege von der FDP möchte eine Zwischenfrage stellen.

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Protschka, da Sie gerade das Loblied auf die deutsche Landwirtschaft gesungen haben, würde ich gerne wissen, warum Ihre Partei beim Thema Glyphosatverbot der Vorreiter war. Ihre Fraktionsvorsitzende hat dazu Facebook-Posts gemacht. Sie waren derjenige, der sich im Ausschuss dafür ausgesprochen hat. Inwiefern stehen Sie für die deutschen Landwirte, Herr Kollege Protschka? Wenn Sie so etwas im Ausschuss sagen, so etwas posten und dann eine solche Rede halten, dann passt das nicht zusammen, Herr Kollege. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Herr Kollege, ich würde Ihnen gerne zuerst einmal beibringen, lesen zu lernen. ({0}) – Ja, lassen Sie mich bitte schön ausreden. Dann erkläre ich es Ihnen ganz freundlich. Man muss nicht unbedingt schreien. Es geht auch in einer vernünftigen Sprache. Aber anscheinend ist das bei der FDP nicht mehr möglich. Die Frau Kollegin hat geschimpft, dass der ehemalige Landwirtschaftsminister Christian – jetzt habe ich den Namen vergessen – ({1}) – Schmidt – danke – das ohne Zustimmung der SPD gemacht hat. Er hätte sich eigentlich enthalten müssen. Das hat die Kollegin Weidel kritisiert. Auch ich habe kritisiert, dass er das gemacht hat. ({2}) Sie können das gerne googeln. Das ist heute kein Problem. ({3}) Das hat sie gepostet; das können Sie gerne googeln. Dann ist das auch entsprechend getan worden. – Danke schön. Wie Sie alle wissen, gibt es bislang auch überhaupt keine wissenschaftliche Forschung zu den Ursachen des Insektenrückgangs. Es ist noch völlig unbekannt, welchen Einfluss die Landwirtschaft auf den vermeintlichen Insektenrückgang wirklich hat. Niemand der hier Anwesenden kann wissen, ob die von Ihnen beabsichtigten Verbote überhaupt einen positiven Einfluss auf die Insektenpopulationen haben werden. Das ist Fakt, meine Damen und Herren. Was wir jedoch ganz genau wissen, ist, dass die beabsichtigten Auflagen und Verbote die deutschen Bauern finanziell massiv belasten werden und zu erheblichen Ertragsverlusten führen. Ihre geplanten Maßnahmen werden viele kleine und mittlere bäuerliche Familienbetriebe zum Aufgeben zwingen. Außerdem werden wir künftig noch mehr Lebensmittel als bisher aus Ländern importieren müssen, in denen Umweltschutz und Artenschutz in der Regel keine Rolle spielen. Wollen Sie das? Wir definitiv nicht. ({4}) Wir fordern deshalb, dass vor allen von Ihnen beabsichtigten Verboten eine solide wissenschaftliche Ursachenforschung zum Insektenrückgang in Deutschland erfolgt, die auch nicht landwirtschaftliche Ursachen berücksichtigt. Für uns ist klar, dass effektiver Artenschutz nur gemeinsam mit wirtschaftlich starken bäuerlichen Familienbetrieben funktioniert. In diesem Sinne können wir Ihren Gesetzentwurf nur ablehnen; denn wir wollen Deutschland, aber normal. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU ist der nächste Redner der Abgeordnete Dr. Klaus-Peter Schulze. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt sind sie endlich angekommen, die Schaben, Flöhe, Läuse, Silberfischchen, Motten. Sie alle sind im Deutschen Bundestag angekommen, aber Sie müssen jetzt nicht den Kammerjäger bestellen; denn ich meine das im übertragenen Sinne. Ich wollte mit diesem Einstieg klarmachen, dass es nicht nur um Schmetterlinge, Käfer, Wildbienen und Hummeln geht, sondern um viel, viel mehr – der Kollege Träger ist ja darauf eingegangen –: Es gibt 30 Insektenordnungen – oder 32; darüber streiten die Taxonomen – und mehr als 1 Million Arten, 30 000 davon in Deutschland. Aber es ist in der Tat so, dass wir global gesehen und auch hier in Europa einen deutlichen Rückgang haben. Es ist falsch, lieber Kollege Protschka, dass wir die Ursachen für diesen Rückgang nicht kennen; die sind bekannt. Schauen Sie in der Literatur nach! Da kann ich Ihnen viele Stellen zeigen. Was wir aus meiner Sicht in der Diskussion falsch machen, ist, dass wir uns auf zu wenige Ursachen konzentrieren. Es ist in der Tat so, dass die Landwirtschaft und der Pestizideinsatz eine Ursache sind, aber es gibt noch eine ganze Reihe andere. Ich möchte mal auf zwei, drei Punkte eingehen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, verehrter Herr Kollege Schulze, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. Nachdem es einen Kabinettsbeschluss zwischen Umweltministerium und Landwirtschaftsministerium gegeben hat, gab es einen Brief von der Kollegin Connemann und dem geschätzten Kollegen Stegemann an die Kollegen der Fraktion; darin haben sie formuliert, dass dieser Kompromiss, der jetzt im Kabinett gefunden wurde, ja noch im Deutschen Bundestag diskutiert werden müsse und zentrale Punkte so nicht mitgetragen werden könnten. Dieser Brief ist nun schon über zehn Wochen alt. Deswegen möchte ich von Ihnen heute gerne wissen, welche konkreten Vorschläge ({0}) aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den letzten zehn Wochen formuliert worden sind und welche dieser Punkte, die existenziell für die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland sind, Eingang in den Gesetzentwurf finden werden. ({1})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schönen Dank für die Frage. – Bei uns werden die Abläufe so sein wie bisher immer: Wir werden eine Anhörung haben – dazu hat auch Ihre Fraktion einen Fachgutachter eingeladen –, und im Ergebnis dieser Anhörung, die am kommenden Montag stattfindet, werden wir uns mit dem Koalitionspartner zusammensetzen und überlegen, wie wir mit dem Entwurf, den die Regierung eingebracht hat, weiter verfahren. Und ich glaube, auch hier gilt das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetzentwurf verlässt den Bundestag so, wie ihn die Regierung eingebracht hat. Lassen Sie sich überraschen! ({0}) Ein Thema ist also die Veränderung der Landschaftsstruktur. Da will ich Ihnen mal ein Beispiel nennen: In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Rinder mit Weidezugang um 1 Million gesunken. Das entspricht umgerechnet etwa einer Insektenbiomasse von 100 Millionen Kilogramm, die damit verloren gegangen sind. Ein weiteres Beispiel haben wir im Fachgespräch zur Auswirkung regenerativer Energien auf die Biodiversität im vergangenen Monat im Umweltausschuss diskutiert. Frau von Haaren hat uns vorgerechnet, dass man mit 100 Hektar Biogaspflanzen die gleiche Energiemenge schaffe wie mit 2 Hektar Photovoltaik. ({1}) Es war sicherlich richtig, in den 2000er-Jahren – als Rot-Grün an der Regierung war –, um das in die Gänge zu bringen, diesen Weg zu gehen. Aber wir müssen jetzt langsam – und das werden wir in dieser Legislatur natürlich nicht schaffen – aus diesem Bereich herauskommen, um den Flächenentzug zu minimieren und zukünftig mehr Fläche zur Verfügung zu haben. Damit nimmt auch der Druck auf die Intensivierung der Landwirtschaft weiter ab; damit könnten wir einen Beitrag leisten. Einen dritten Punkt will ich noch ansprechen – das wird in der Diskussion völlig verkannt, obwohl die Worte „Klimawandel“ und „Wetterveränderung“ ja ständig eine Rolle spielen –: Es ist bekannt, dass, in Mitteleuropa zumindest, also auch in Deutschland, die Winter einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie sich die Insektenpopulation im darauffolgenden Jahr entwickelt. Insekten, die in verschiedenen Stadien über den Winter kommen, werden von Ektoparasiten belegt. Wenn wir milde Winter haben, wie das in den letzten Jahren sehr häufig war, werden diese Ektoparasiten nicht ausgemerzt. Die Folge ist, dass die Insektenpopulation im nächsten Jahr deutlich geringer ist. Das hat Herr Reichholf in einer sehr guten, sehr umfangreichen Arbeit in Niederbayern von 2010 bis 2020 sehr gut analysiert. Da kann man auch noch zu anderen Fragen des Artenrückgangs bei den Insekten nachlesen. Es gibt also nicht nur die Studie in Krefeld, es gibt auch andere Studien. Mit diesen Studien, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir eine gute Basis, auf der wir weitermachen können. Ich freue ich mich auf die Debatte im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Schulze. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion ist die Kollegin Carina Konrad. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Täglich gehen 56 Hektar Flächen verloren; das entspricht 76 Fußballfeldern. Das sind Flächen, die dann weder für den Naturschutz noch für die Landwirtschaft zur Verfügung stehen. Das sind fehlende Flächen, die die Spannung zwischen Ökologie und Ökonomie verschärfen. Und das sind fehlende Flächen für die Biodiversität, für die Artenvielfalt und natürlich auch für die Insekten. Doch all das adressiert der vorliegende Gesetzentwurf nicht, und das ist falsch. ({0}) Was wir sehen, was wir heute diskutieren, ist ein Gesetzentwurf, der sich wissenschaftlich auf ganz, ganz dünnem Eis bewegt. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Was wissen wir über den Rückgang von Insekten? Wir wissen, dass die Entwicklung bei den Arten unterschiedlich ist. Es gibt Arten, die haben positive Trends, es gibt Arten, die haben negative Trends, und es gibt auch Arten, bei deren Entwicklung keine Veränderungen festzustellen sind. Es gibt Entwicklungen bei der Insektenbiomasse – und das ist das, worauf der Gesetzentwurf fußt –, die nachdenklich machen, die dramatisch sind. Bei der Zahl der Schwebfliegen und der Zahl der Schlupfwespen wird von Rückgängen bis zu 90 Prozent, zum Teil 95 Prozent, gesprochen. Das ist dramatisch. Da muss man sich doch mal fragen, woran das liegt. Und wenn man sich anguckt, woran das liegen kann, dann sieht man, dass diese Arten eines gemeinsam haben: Sie brauchen nämlich als Nistfläche, als Brutfläche Kot, Dung und Stallmist. In den Regionen, wo das untersucht wurde, ist die Tierhaltung signifikant zurückgegangen, sie existiert dort quasi nicht mehr. Aber auch diesen Befund adressiert der Gesetzentwurf nicht. ({1}) Dieser Gesetzentwurf adressiert eine Ideologie und möchte den Pflanzenschutzmitteleinsatz, den integrierten Ackerbau, der heute in der Landwirtschaft Standard ist, unmöglich machen. Dass heute keine der beiden Ministerinnen dieser Debatte beiwohnt, ist ein ganz schwaches Bild ({2}) bei so weitreichenden Einschränkungen, wie sie hier vorgesehen sind. Statt die Befunde zu adressieren und hier Maßnahmen vorzunehmen, um die Tierhaltung noch mal zu stärken, macht das Umweltministerium seit Jahren nichts anderes, als der Tierhaltung Steine in den Weg zu legen, sei es bei der TA Luft für die Stallhaltung, sei es beim Wolfsmanagement für die Weidehaltung. Man könnte noch viele andere Dinge aufzählen, die zu tun wären. Stattdessen werden in Zukunft auch noch die Regelungen für den integrierten Ackerbau verschärft. Das wird Existenzen in der Landwirtschaft ruinieren. Das wird die Nahrungsmittelversorgung mit gesunden, regionalen Nahrungsmitteln gefährden. Das machen wir Freien Demokraten nicht mit. ({3}) Es ist bemerkenswert – das will ich hier ausdrücklich sagen –, dass zu dem Kabinettsbeschluss, dem Gesetzentwurf, den wir hier heute diskutieren, von der Bundeslandwirtschaftsministerin eine Protokollerklärung abgegeben wurde, in der sie quasi die Unfähigkeit der CDU/CSU dokumentiert, in dem Gesetz wesentliche Veränderungen herbeizuführen, die für einen Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Naturschutz sorgen. Das ist fatal. ({4}) Das zerstört Vertrauen, das zerstört Vertrauen in die Politik, das zerstört übrigens auch, einen Ausgleich zwischen diesen wichtigen Schutzgütern zu finden. Es wird dramatische Folgen für die Landwirtschaft haben, wenn dieser Gesetzentwurf von der CDU/CSU so mitgetragen wird. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der Abgeordnete Ralph Lenkert hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren wird das Insektenschutzgesetz angekündigt. Jetzt wird fünf Sitzungswochen vor Ende der Wahlperiode eine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes in den Bundestag eingebracht. Auf umfassenderen Insektenschutz konnten sich Union und SPD jedoch nicht einigen, wegen der Union. ({0}) Insektenpopulationen schwanken stark; aber der Rückgang in den letzten Jahren ist unübersehbar. ({1}) Die Linke will wirksamen Insektenschutz, der die möglichen Ursachen berücksichtigt und sie mit entsprechenden Maßnahmen angeht. ({2}) Ein einseitiges Schwarzer-Peter-Spiel zulasten der Landwirtschaft lehnt Die Linke ab. ({3}) Seit 1964 ist bekannt, dass viele Insekten wie Bienen, Wespen, Termiten, Heuschrecken sich auch am Erdmagnetfeld orientieren. Ob und wie schädlich künftige Magnetfelder, verursacht von Hochspannungsleitungen, induktiven Ladestationen und Funkmasten, für Insekten sind, wurde bisher nicht wissenschaftlich untersucht. Die Linke fordert entsprechende Forschung. Zur Vorsorge sollten elektromagnetische Felder so weit wie möglich reduziert werden. ({4}) Die Redensart „wird angezogen wie die Motten vom Licht“ kennt fast jeder. Trotzdem wurde zunehmende Lichtverschmutzung – also immer mehr künstliche Beleuchtung der Umwelt – lange ignoriert. Inzwischen ist die schädliche Wirkung von Licht – wie von Straßenlampen oder Leuchtreklamen, insbesondere mit Blautönen – auf Insekten unumstritten. Leider verweist der Entwurf nur auf mögliche Verordnungen des Umweltministeriums. Die Linke fordert konkrete Emissionsgrenzwerte und eine Beteiligung des Bundestages an Verordnungen gegen Lichtverschmutzung. ({5}) Zunehmender Fahrzeugverkehr, die Zersiedelung der Landschaft, auch wachsende Betonflächen in den Städten und die Schottergärten: All dies trägt zum Rückgang der Insekten bei. Wir fordern mehr öffentlichen Personennahverkehr, Grünflächen statt Beton und ein Verbot dieser Schottergärten. ({6}) Aber auch die Landwirtschaft muss ihren Anteil leisten. Riesige Felder mit Monokulturen, zu viel Pestizideinsatz und geringe Fruchtvielfalt sind Probleme, die zum Insektenschutz gelöst werden müssen. Damit Landwirtinnen und Landwirte dies auch leisten können, fordert Die Linke erstens faire Erzeugerpreise für Landwirtschaftsprodukte, ({7}) zweitens die Kompensation von Einnahmeausfällen, die durch neue Umweltauflagen entstehen, ({8}) drittens eine neue GAP-Struktur, damit Betriebe keine Einnahmen verlieren, wenn sie dauerhaft Hecken und Grünstreifen auf Ackerland anlegen. ({9}) Viertens müssen Zahlungen für ehemals freiwillige Umweltleistungen erhalten bleiben. ({10}) Fünftens fordern wir Regelungen, die sicherstellen, dass importierte Landwirtschaftsprodukte dieselben Standards wie einheimische Produkte erfüllen. ({11}) Und nicht zu vergessen: Die von uns seit Jahren geforderte Weidetierprämie führt zu mehr Schafen, Ziegen und Rindern auf unseren Weiden, hilft Schäferinnen und Schäfern und Bäuerinnen und Bauern und den Insekten. Verschiedene Probleme zusammen zu lösen, das ist linke soziale ökologische Politik. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für Bündnis 90/Grüne ist die Kollegin Steffi Lemke. ({0})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seinen Ausgang nahm die heute zu diskutierende Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes im Koalitionsvertrag der Großen Koalition, in dem der Insektenschutz versprochen wurde. 2018 wurde ein Eckpunktepapier für ein Aktionsprogramm Insektenschutz verabschiedet. 2019 wurde das Aktionsprogramm Insektenschutz vom Kabinett verabschiedet. Ich habe das damals gelobt. Wir waren in einer Situation, die fast schon ein Stück weit Euphorie für Naturschützer gewesen ist: Wir hatten Volksbegehren für mehr Insektenschutz. Wir hatten eine Agrarministerin, die die Biene als systemrelevant erkannt hatte. Und wir hatten eine Umwelt- und eine Agrarministerin, die sich Arm in Arm ablichten ließen und eine neue Diskussionskultur zwischen diesen beiden Häusern implementieren wollten. ({0}) Das ist alles verdammt lange her. Wir hatten 2020 dann einen Referentenentwurf für einen Insektenschutz, dem die Agrarministerin nicht zugestimmt hat. Und wir haben jetzt eine Rumpfgesetzesänderung, eine Änderung des BNatSchG, in dem von den ursprünglichen Versprechungen für mehr Insektenschutz so gut wie nichts enthalten ist. Da muss ich Frau Klöckner vor Ihnen, Frau Konrad, wirklich in Schutz nehmen: In diesem Gesetzentwurf, den wir hier heute Abend diskutieren, ist nicht der Untergang der Landwirtschaft enthalten. Das wäre im Übrigen auch nicht mein Wunsch; ich vermute, von niemandem hier im Haus. Aber wir hatten als Opposition die Erwartung, dass die Bundesregierung das Versprechen einlöst, wirklich einen Ausgleich zu schaffen zwischen Insektenschutz, Naturschutz und der Landwirtschaft, sei es finanziell, sei es durch einen breit angelegten Dialog mit Wissenschaft, mit Landwirten, mit dem Naturschutz. Nada, von all diesen Sachen hat nichts stattgefunden. Sie haben diesen Prozess versenkt. Wir haben jetzt die Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung, die wahrscheinlich von der CDU/CSU noch weiter verändert wird. Wir haben das Rumpfgesetz beim BNatSchG. Nichts von dem reicht, um tatsächlich den Insektenschutz zu gewährleisten, den wir brauchen. Trotzdem haben wir Bauernproteste. Sie haben die Aussöhnung in diesem Prozess wirklich komplett versemmelt, und das mache ich Ihnen für den gesellschaftspolitischen Bereich massiv zum Vorwurf. ({1}) Was in diesem Gesetzentwurf fehlt, ist, dass er in irgendeiner Form Regelungen für die Normallandschaft trifft. Er beschäftigt sich mit Schutzgebieten und grenzt dort den Pestizideinsatz in geringem Umfang ein – es ist nicht mal viel –, aber für die Normallandschaft regelt dieser Gesetzentwurf überhaupt nichts. Auch das, was ursprünglich mal dringestanden hat, der Refugialflächenansatz, ist aus dem Gesetzentwurf verschwunden. Für die Nichtexperten: Das sind Rückzugsorte, Ausgleichsorte, wo sich Insekten vermehren können und nicht durch menschliche Eingriffe tangiert werden. Es wird von Ökologen massiv eingefordert, dass wir diese Flächen haben. Im Wasserhaushaltsgesetz regeln Sie die Gewässerrandstreifen in einem nicht hinreichenden Umfang. Selbst bei der Lichtverschmutzung – ich habe mich überzeugen lassen, dass es gut ist, das in diesem Gesetzentwurf zu regeln – springen Sie zu kurz, indem Sie den Betrieb von Himmelsstrahlern nicht über den gesamten Sommer untersagen, sondern einen Ausnahmemonat ermöglichen. Völlig unverständlich! ({2}) Wenn ich mehr Redezeit hätte, könnte ich diese Aufzählung fortsetzen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ja, aber nur dann.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber die habe ich leider nicht, Herr Präsident.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Allerdings.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb: Versuchen Sie wenigstens, jetzt noch zu retten, was für den gesellschaftlichen Bereich zu retten ist, und zerlegen Sie sich weder in der Koalition noch innerhalb der CDU/CSU weiter, wenn es um Naturschutz und Landwirtschaft geht! Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das ist das Problem, wenn man so viel Zwischenbeifall kriegt; das frisst Redezeit. ({0}) Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Rainer Spiering. ({1})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist an der Zeit, einiges richtigzustellen. Kollegin Lemke, ich kann das, was Sie hier vorgetragen haben, durchaus nachvollziehen. Zur Richtigstellung – das auch an die Kollegin Konrad, weil ich finde, eine partielle Vergewaltigung von Wissenschaft gehört sich nicht –: Wenn man „agrarheute“ vom August 2020 gelesen hat, dann hat man dort die deutsche Metastudie zum Insektensterben mitgeteilt bekommen, und zwar vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung. Die haben Daten aus 166 Studien ausgewertet – diese Daten kommen vornehmlich aus Europa und Nordamerika – und festgestellt, dass wir per anno eine Abnahme der Insektenzahl von 0,91 Prozent haben. Selbst für jemanden, der in der Addition oder Multiplikation schwach ist, ist relativ schnell auszurechnen, wie lange es dauert, bis das Insektensterben dazu geführt hat, dass dieser Planet nachhaltig geschädigt worden ist, und ich finde, das darf man auch mal in so einer Diskussion sagen und akzeptieren. ({0}) Immer die Fakten querreden hilft uns kein Stück weiter. Zum Kollegen Protschka, den ich ja gestern vor dem Brandenburger Tor erlebt habe – auch nicht gerade zu meiner sonderlichen Freude –: Es wäre schon angenehm, wenn er zwischen dem Insektenschutzgesetz, das wir hier heute Abend debattieren, und der Pflanzenschutzverordnung unterscheiden könnte, was ihm offensichtlich überhaupt nicht gelingt. – Selbst den Landwirten ist gestern Nachmittag aufgefallen, dass der Herr Protschka von einem Thema redet, das ihm offensichtlich überhaupt nicht zugänglich ist. Jetzt drehen wir mal die Runde: Beim Insektenschutzgesetz – und dann muss ich auch mal auf meine Landsmannschaft hinweisen – ging es uns in Niedersachsen auch darum, den Niedersächsischen Weg klarzumachen. Im Insektenschutzgesetz ist eine Länderöffnungsklausel geregelt und festgelegt. Das ist der Weg des Landes Niedersachsen, der Vertragsnaturschutz beinhaltet, unter der Regierung Weil ausgehandelt worden ist und sicherstellt, dass die Arbeit für den Vertragsnaturschutz entlohnt wird. Das ist der richtige Weg. Das Land Niedersachsen stellt dafür pro Jahr 120 Millionen Euro reine Landesmittel zur Verfügung. Im Insektenschutzgesetz ist nachhaltig festgelegt, dass wir genau das tun können. Jetzt komme ich mal zur Pflanzenschutzverordnung. Das ist – auch noch mal zur Erklärung für Herrn Protschka – nicht die Aufgabe des Gesetzgebers hier heute Abend, sondern das ist eine reinrassige Aufgabe des Ministeriums. Jetzt zum Ministerium. Irgendjemand hat hier eben rumgemault, dass weder die Staatssekretärin noch die Ministerin der SPD anwesend sind. Beide sind in Quarantäne. Ich hoffe, Frau Kollegin Konrad, dass Sie Verständnis dafür haben, dass die beiden Frauen ihrer Verantwortung gerecht werden. ({1}) Ich hoffe, Sie würden das im Vergleichsfall auch tun. Bei der Pflanzenschutzverordnung wird die Ministerin dafür sorgen müssen – da bin ich als Niedersachse übrigens auch im Wort –, dass der Niedersächsische Weg offenbleibt. Jetzt teile ich Ihnen mal einige Dinge mit, wo das auch sichergestellt ist, weil die Ministerin das tatsächlich auf Druck des Landes Niedersachsen mit reinverhandelt hat: Verbot der Anwendung in Gebieten mit Bedeutung für Naturschätze. Einschränkungen beziehen sich von vornherein nur auf bestimmte Pflanzenschutzmittel. Auf Ackerflächen gelten sie nur in Naturschutzgebieten. Der entscheidende Satz lautet: Auf Ackerflächen in FFH-Gebieten, die keine Naturschutzgebiete usw. sind, soll ein Verzicht auf Pflanzenschutzmittel mittels freiwilliger Vereinbarung und Maßnahmen erreicht werden. – Das heißt, der Weg des Landes Niedersachsen ist auch durch die Pflanzenschutzverordnung – also entlohnter Naturschutz – gesichert. ({2}) Wir haben uns in dem entsprechenden Ministerium mehrfach abgesichert, dass dieser Weg gesichert ist, und die Abgeordneten des Landes Niedersachsen werden ihren Teil dazu beitragen, dass die Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft ihr Wort gegenüber dem Land Niedersachsen und dem Rest der Republik einhält. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte immer schön die Maske wieder aufsetzen! ({0}) Die nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Silvia Breher. ({1})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das Bundesnaturschutzgesetz. ({0}) Ein Insektenschutzgesetz gibt es nicht. Es gibt ein Insektenschutzpaket, zu dem das Bundesnaturschutzgesetz gehört, was wir aber nicht alleine betrachten dürfen; denn dazu gehört auch die Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung. ({1}) Beides gehört zwingend zusammen. Alleine können wir das einfach nicht betrachten; denn Insektenschutz und Landwirtschaft gehören und passen zusammen, und das ist entgegen einiger Reden heute ganz und gar kein Widerspruch. ({2}) Insektenschutz und Landwirtschaft gehen nur zusammen. Unsere Bäuerinnen und Bauern wollen das, und unsere Bäuerinnen und Bauern können das, schon aus ganz eigenem Interesse. Das beweisen sie jeden Tag, und das ganz freiwillig: ({3}) durch Agrarumweltmaßnahmen auf jedem vierten Hektar in Deutschland, hinzu kommen Vertragsnaturschutz, Kompensation und Landschaftselemente. 2020 waren 1,4 Millionen Hektar im Greening. Alleine daraus ergeben sich Blühstreifen, die in einer Breite von 5 Metern zehnmal um unsere Erde gelegt werden könnten. Darüber hinaus gibt es Länderinitiativen in Baden-Württemberg, in Bayern und in Niedersachsen; dort gibt es den sogenannten Niedersächsischen Weg. ({4}) Gemeinsam, freiwillig und kooperativ: Das ist genau der richtige Ansatz. ({5}) Für mich und für uns als CDU/CSU ist eines ganz wichtig: dass diese Wege offenbleiben. Und Stand heute geht das nicht. ({6}) Minister Lies aus Niedersachsen, SPD, hat noch in der vergangenen Woche meine Kollegin Gitta Connemann angerufen und genau das gesagt. Beides haben wir aus Hannover – aus dem ML und aus dem MU – schriftlich. Deswegen brauchen wir Änderungen, und deswegen hat unsere Ministerin Julia Klöckner eine Protokollerklärung abgegeben. Wir brauchen die gesetzliche Verankerung der Länderöffnungsklauseln. ({7}) Wir brauchen die gesetzliche Verankerung und Priorisierung von kooperativen Lösungen. Wir brauchen die Sicherstellung des Ausgleichs und der Förderfähigkeit. Und auch in Schutzgebieten muss in Notfällen die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln möglich bleiben. Insektenschutz ist wichtig. Der Insektenschutz ist den Landwirten wichtig; er ist uns allen wichtig. Aber es geht nicht ums Ob, es geht ums Wie. Lassen Sie uns alle gemeinsam die Chance dieses Gesetzespaketes nutzen, um den Konflikt, diesen Widerspruch zwischen Landwirtschaft, Umwelt und Insektenschutz, endlich aufzulösen, damit wir zu einem Miteinander kommen, weg vom Gegeneinander und grundsätzlich hin zu einem kooperativen Ansatz von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Naturschutz. ({8}) Dazu haben wir für Montag die Anhörung im Ausschuss verabredet, und ich freue mich nach dem Ausschuss auf die parlamentarischen Verfahren. Denn auf eines können Sie sich verlassen, Frau Konrad: Wir werden das Gesetz entgegen Ihrer Behauptung nicht einfach durchwinken. Wir werden eine Anhörung durchführen, und auch im Bundesrat ist noch keine Entscheidung gefallen. ({9}) Das geschieht erst nach unseren Entscheidungen hier in diesem Haus in den kommenden Wochen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Silvia Breher. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer hat denn das größte Interesse am Arten- und Insektenschutz? Wer ist das? Das sind die Bäuerinnen und Bauern. ({0}) Kein Bauer ohne Biene, keine Biene ohne Bauern, um es einfach auszudrücken. ({1}) Jeder, der pflanzliche Produkte anbaut, braucht die Bestäubung seiner Pflanzen für die Fruchtausbildung. Ohne Fruchtausbildung gibt es keine Ernte, und ohne Ernte gibt es keine Lebensmittel. Also, Arten- und Insektenschutz sind auch für unsere Welternährung existenziell. Gerade weil den Bäuerinnen und Bauern der Insektenschutz so wichtig ist, engagieren sich sehr viele freiwillig für Arten- und Insektenschutz. Sie nehmen freiwillig an Programmen teil. Lieber Kollege Spiering, ich lobe ausnahmsweise Niedersachsen, wenn Sie hier 120 Millionen Euro bereitstellen, ({2}) aber Bayern kann es besser; Bayern kann 300 Millionen Euro bereitstellen. Das muss ich hier auch in aller Deutlichkeit sagen. ({3}) – Bitte keinen Neid! Es ist gut, wenn Bayern stärker wird in Berlin. Ich will noch mal auf die Freiwilligkeit der bayerischen Bäuerinnen und Bauern hinweisen. Die Hälfte der bayerischen Betriebe nimmt an solchen Programmen teil. Diese Programme sind mittlerweile Teil des Einkommens. Gerade kleinbäuerlich strukturierte Betriebe sind auf solche Programme angewiesen. Es darf auf keinen Fall passieren, dass mit einer gesetzlichen Vorgabe diese Freiwilligkeit, diese Kooperation, ausgehebelt wird und diese Zahlungen nicht mehr gewährleistet werden können. ({4}) Eins ist mir auch wichtig: Diese Programme müssen auch praktikabel sein, in der Praxis umsetzbar sein. Wir hatten in Bayern ja das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ – allseits bekannt. Auch andere Bundesländer haben entsprechende Initiativen gestartet: Baden-Württemberg und auch Niedersachsen. Was unsere Bäuerinnen und Bauern am meisten aufregt, ist das Walzverbot mit einer fixen Terminvorgabe. Es gab mal den Begriff „Schwachsinnstermine“. Wenn verboten wird, ab dem 1. April Grünland zu walzen, dann ist das zwar eine Vorgabe, aber wenn im April auf der Wiese noch Schnee liegt, dann hilft das auch nichts. Wir brauchen hier also mehr Praktikabilität bei der Umsetzung. Deshalb ist es mir besonders wichtig, dass in den anstehenden parlamentarischen Beratungen und in der Anhörung am Montag auch die Praxis zu Wort kommt, wir Lösungen finden, die diese Praktikabilität in der landwirtschaftlichen Produktion nach vorne stellen, und vor allem, dass die Freiwilligkeit, die Kooperationsfähigkeit unserer Bäuerinnen und Bauern gestärkt wird. ({5}) Die Vorgaben von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen sind hier gute Vorlagen für ganz Deutschland. Hoffen wir, dass wir in der parlamentarischen Beratung auch dazu kommen. Danke schön. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Artur Auernhammer. – Ich schließe die Aussprache.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich Ihnen heute den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vorstellen kann. Dieser Titel mutet ja auf den ersten Blick zugegebenermaßen etwas technisch an, aber da trügt der Schein sehr deutlich; denn die praktische Relevanz dieses Gesetzes ist enorm. ({0}) Die Flüchtlings- und Migrationskrise hat uns sehr schonungslos vor Augen geführt, dass die Aussagekraft des heutigen Ausländerzentralregisters, mal vorsichtig formuliert, sehr überschaubar und durchaus verbesserungsbedürftig ist. Das ist nicht die Schuld der über 550 Ausländerbehörden, die wir in Deutschland haben, sondern das liegt an der Struktur des jetzigen Ausländerzentralregisters. Oftmals waren Personen, auch aufgrund von Umzug, doppelt gemeldet, sprich: Die Angaben waren doppelt verfügbar. Es war oftmals nicht registriert, dass Personen Deutschland mittlerweile wieder verlassen haben. Dafür waren die Daten von Personen, die sich mittlerweile in Deutschland aufgehalten haben, im Ausländerzentralregister nicht gespeichert. Es gab Inkonsistenzen, es gab Redundanzen, es gab, wie gesagt, Dopplungen. Deshalb ist dieses Unterfangen, das Ausländerzentralregister aussagefähiger und aussagekräftiger zu machen, aus meiner Sicht ein sehr wichtiges Unterfangen. ({1}) Wir sind bei diesem Gesetzentwurf nach dem Motto vorgegangen: Erst der Inhalt, dann die Paragrafen. Sprich: Wir haben sehr frühzeitig die Praktiker der Kommunen und der Länder mit einbezogen – in Form von Arbeitsgruppen, in Form eines Gesetzgebungslabors – und diesen Gesetzentwurf, den ich Ihnen heute eben vorstellen darf, weiterentwickelt. Ich bin der festen Überzeugung, dass mit dieser Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters zu einem zentralen Ausländerdateisystem für alle über 550 Ausländerbehörden, für alle Behörden, die Zugriff auf das Ausländerzentralregister haben, ein enormer Mehrwert geschaffen wird. Ein erheblicher Fortschritt wird sein, dass in Zukunft die Dokumente, beispielsweise ein Asylbescheid, ein Urteil, aber auch der Scan eines Ausweises, zentral digital gespeichert werden. Heute ist es so, dass häufig in Papierform Kopien von einer Ausländerbehörde zur nächsten geschickt werden müssen. Mit dieser zentralen digitalen Speicherung von wichtigen Originaldokumenten wird der Zugang deutlich erleichtert, vor allem auch beschleunigt. Gerade beispielsweise auch am Wochenende oder außerhalb der normalen Öffnungszeiten ist damit ein schnellerer Zugriff der entsprechenden Behörden auf diesen zentralen Datenbestand möglich. Natürlich erfolgt dies unter hoher Achtung des Datenschutzes. Sprich: Es dürfen nur befugte Personen Zugriff nehmen auf das Ausländerzentralregister, und es wird eben entsprechend auch gespeichert, wer konkreten Zugriff auf diese Daten nimmt. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies, was die Steuerung von Migration und auch die Aussagekraft der Migrationsstatistiken anbelangt, ein sehr wichtiger Mehrwert ist. Wie gesagt, die Datenqualität insgesamt wird durch dieses Gesetz erheblich erhöht, die Aussagekraft des Ausländerzentralregisters wird deutlich erhöht. Deshalb darf ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Hohen Haus, bitten, diesen Gesetzentwurf natürlich sehr akribisch, sehr ernsthaft zu überprüfen; aber, wie gesagt, es kommt aus meiner Sicht wirklich darauf an, dass wir mit dieser Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters einen erheblichen Schritt nach vorne gehen, was den Anspruch anbelangt, eine professionelle und effektive Asyl- und Migrationspolitik betreiben zu können, weil es einfach so ist, dass die Inhalte des Ausländerzentralregisters von ganz entscheidender Bedeutung für asyl- und ausländerrechtliche Verfahren und in der Folge auch für entsprechende Entscheidungen sind. Ich sage abschließend auch ganz deutlich: Es ist nicht zuletzt im Interesse beispielsweise auch der Asylantragsteller, dass der Zugriff der entsprechenden Behörden schneller und sicherer vonstattengeht, um dann auch schnellere Entscheidungen zutage fördern zu können. Ich bitte um eine seriöse, intensive, aber auch zeitnahe Befassung mit diesem Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Staatssekretär Stephan Mayer. – Für die AfD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Abgeordnete Dr. Christian Wirth. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Ich bin ein optimistischer Mensch ({0}) und fange ganz gern auch mal mit ein bisschen Lob an – selbst für die Bundesregierung; ich freue mich, wenn die Bundesregierung auch mal dazulernt –: Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz mit Sicherheit nicht schlecht. Leider hat es mit dem Lernen viel zu lange gedauert. Die massiven Formen von Sozial- und Asylbetrug, die unsere öffentlichen Kassen und Einwanderungssysteme überlasten, waren schon länger bekannt, als im Jahre 2015 unsere Grenzen überrannt wurden. Jetzt erst sind Sie auf die innovative Idee gekommen, dass Behörde X und Behörde Y, die mit derselben Person zu tun haben, auf denselben Datenbestand zurückgreifen sollten. Es freut uns, dass auch Sie jetzt erkannt haben, dass hier nicht nur viel effizienter gearbeitet, sondern auch der massive Betrug mit Mehrfachidentitäten endlich bekämpft werden könnte. „Könnte“ aber nur; denn Ihr ganzer hochtrabender Plan der Datenzentralisierung hängt an einem Wort: „kann“. Ich zitiere § 8a: „Die Registerbehörde kann einen Abgleich in automatisierter Form … veranlassen“ – und das natürlich nur bei konkretem Verdacht. Ja, aber genau solch ein automatisierter Datenabgleich wäre ja geeignet, um überhaupt erst einmal einen Verdachtsfall zu finden. ({1}) Dabei ist es egal, ob jemand in betrügerischer Absicht in vier verschiedenen Bundesländern registriert ist oder ob jemand beim Übertragen eines Namens – vielleicht eines arabischen – einen Tippfehler gemacht hat. Ein regelmäßiger automatischer Datenabgleich auf rein maschineller Ebene, bei dem die verglichenen Daten sofort nach dem Vorgang wieder gelöscht werden, müsste hier eigentlich selbstverständlich sein und wäre auch datenschutzrechtlich vertretbar. Diese Kannbestimmung unterläuft einen ganz entscheidenden Zweck des Gesetzes. Gerade wenn § 8a so bleibt, wie Sie es wollen, spielen Sie allen NGOs, Schleuserbanden und noch Schlimmeren in die Hände, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, es Betrügern zu ermöglichen, viele Steuergelder zu erlangen. Beratungen bei der Angabe des Asylgrundes, zur Verzögerung von Verfahren und zur Verhinderung der Abschiebungen würden zumindest erschwert werden, wenn all diese Maßnahmen die oft entscheidende bestmögliche Aktenlage zur Grundlage hätten. Bei all dieser Vorsicht fragt man sich natürlich, warum Sie ausgerechnet etwas so Sensibles wie den Asylgrund innerhalb dieses Systems frei verfügbar machen. Bei einer Asylentscheidung interessiert die allermeisten Behörden lediglich, ob Asyl gewährt wurde oder nicht. Asyl aus einem Grund ist ja nicht weniger wert als aus einem anderen Grund. Dank der kurzsichtigen Politik, die den Abholservice im Mittelmeer und das Durchwinken an der Grenze ermöglicht, begegnen in unserem Land wahrhaft Schutzbedürftige regelmäßig ihren Folterern und Verfolgern. Hinzu kommt die Verfolgung auch in unserem Land aus religiösen oder persönlichen Gründen, die diese Betroffenen auch bei anderen Flüchtlingen aus demselben Land mindestens unbeliebt machen oder stark gefährden, zum Beispiel ein christlicher Glaube oder Homosexualität. Asylgründe sollten zentral gespeichert, aber mit einer gesonderten Hürde zum Datenabruf, die einen konkreten Verdacht voraussetzt, versehen werden. Das würde diesem Gesetz guttun und das Verfahren sicherer machen – für alle Beteiligten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Abgeordnete Sylvia Lehmann. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Das Ausländerzentralregister entstand in den 50er-Jahren. Es ist eine vom Bundesverwaltungsamt betriebene Datenbank, in der heute knapp 28 Millionen personenbezogene Datensätze von Ausländerinnen und Ausländern gespeichert werden. Parallel existieren über 600 weitere dezentral geführte, unterschiedlich strukturierte Ausländerdatenbanken. Um belastbare Auskünfte erhalten zu können, macht es durchaus Sinn, das Ausländerzentralregister zu einem zentralen Dateiensystem für alle Fachverfahren auszubauen, welches andere Register perspektivisch überflüssig macht. ({0}) Ziel ist es, dass Daten nach dem One-only-Prinzip nur einmal erhoben, im Ausländerzentralregister gespeichert und von dort von Behörden oder Verwaltungen abgerufen werden können. Das soll helfen, die Arbeitsabläufe für Verwaltungsbeamte zu verbessern, die Anliegen von Nichtdeutschen schneller zu klären und die Datenqualität zu verbessern. Von nun an sollen zusätzlich Daten, wie unter anderem das Geburtsland, die ausländische Personenidentitätsnummer, der Doktorgrad, die Anschriften im Bundesgebiet, die Visumsverlängerung, Angaben zur Arbeits- und Ausbildungsvermittlung und zu Integrationskursen, gespeichert werden. Neu ist zudem die Speicherung von Asylbescheiden und gerichtlichen Entscheidungen im Volltext. Zukünftig werden das BAMF als Registerbehörde und die zuständige Ausländerbehörde bei einem Eintrag ins Register über einen Fortzug, eine Ausweisung oder Abschiebung automatisch informiert. Bisherige Gesetzgebungsverfahren mit hochpersönlichen Daten sind schon immer sehr kritisch von Datenschützern begleitet worden. Wir alle erinnern uns sicherlich an die Diskussion zum Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetz im Jahr 2019 und die Ausführungen des Bundesdatenschutzbeauftragten, Herrn Professor Kelber. Auch die uns vorliegenden Stellungnahmen von Verbänden, wie Caritas, der Paritätische Wohlfahrtsverband, Ärzte der Welt oder auch netzpolitik.org, enthalten Bedenken zum Gesetz. Ihre Mahnung an uns lautet, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Grundsätze der Datensouveränität und Datensparsamkeit für alle hier lebenden Menschen gelten. Parallel zur Erweiterung der zentralen Daten- und Zugriffsrechte müssten daher die Schutzvorschriften für Betroffene beachtet und die Transparenz verbessert werden. Das sollten wir im weiteren parlamentarischen Verfahren unbedingt berücksichtigen. Ich bedanke mich und freue mich auf die weitere Diskussion. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wiederhole, was Herr Dr. Wirth gesagt hat – ich habe es richtig verstanden –: Er nannte Seenotrettung „Abholservice im Mittelmeer“. Das ist wieder mal ein Klassiker aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Sie müssen mir mal erklären, wie Sie das begründen können, wo Sie doch touristische Reisen nach Syrien unternehmen, sich gerne mit Diktatoren treffen und dann noch für Fluchtursachen sorgen und die bestärken. Deshalb seien Sie mal ganz ruhig, wenn Sie solche Wörter verwenden! Es ist beschämend, so was in unserem Parlament hören zu müssen. ({0}) - „Unmensch“ war eine perfekte deskriptive Schilderung Ihres Handelns und Sprechens. Jetzt kommen wir aber zum eigentlichen Sachverhalt des Tages. Das passt ganz gut, weil Die Linke ihre Rede zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben hat: Ich gehe das Ganze mal marxistisch an, ({1}) reduziert marxistisch, mit Überbau und Bewusstseinsformen einerseits und Basis andererseits. – Man kann auch das Ausländerzentralregister in diesem Sinne marxistisch betrachten. Ordnen wir es ein mit drei Prinzipien: Das erste Prinzip ist Humanität; denn wir müssen bei der Gesetzgebung darauf achten – bei aller Wertschätzung von Effizienz –, dass es um vulnerable Daten geht, und peinlichst berücksichtigen, dass nicht etwa bestimmte Daten in Herkunftsländer gehen können. Das ist unsere Pflicht – auch aus humanitärer Verantwortung gegenüber den Betroffenen. Das zweite Prinzip, das hierauf anzuwenden ist, ist Politisierung; denn wir werden sicher auch noch darüber streiten. Das ist auch völlig in Ordnung, solange wir das im demokratischen Rahmen und eben nicht, wie eben von der AfD vorgeführt, auf dem Rücken von Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten tun und solange wir eben nicht das Ausländerzentralregister als Abschieberegister begreifen. Das ist ein fundamentales Missverständnis, und das ist mit der SPD nicht zu machen. ({2}) Ein drittes Prinzip. Ich nenne es mal Pragmatisierung oder Versachlichung. Diese Dämonisierung, in der jeder Ausländer – und der Tatbestand ist einfach nur „ausländische Staatsangehörigkeit“, nicht mehr und nicht weniger – als Gefährder und Bedrohung begriffen wird, ist, glaube ich, keine gute Grundlage für eine Reform des Ausländerzentralregisters. Selbstverständlich ist auch Verklärung nicht sinnvoll; denn wir müssen in dem Fall auch Sicherheitsaspekte berücksichtigen, und das ist auch legitim. Wir können das tun und haben das Recht dazu. Vor allem aber geht es darum – und das ist mein Appell –, dieses Ausländerzentralregister als Ausdruck eines souveränen, unaufgeregten Staates, der selbstbewusst mit Migration umgeht, zu verstehen. Und da kommt jetzt abschließend die Basis ins Spiel. Wenn wir uns die Realität in Ausländerbehörden angucken, die Schwierigkeiten, dass AZR-Nummern mehrfach vergeben werden, dass oft ohne Schuld der ausländischen Staatsangehörigen Aliasnamen vorhanden sind, was Termine verlangsamt, was Familienzusammenführung de facto verhindert, dann sehen wir, dass es in der Praxis sehr, sehr viele ganz konkrete Gründe für ein zentrales Register gibt, und zwar im Sinne der Behörden, aber auch im Sinne der ausländischen Staatsangehörigen. Genau das, nichts anderes, sollte im Mittelpunkt unseres Gesetzgebungsverfahrens stehen. Dann werden wir das sein, was wir bisher nicht geschafft haben, nämlich ein selbstbewusstes, unaufgeregtes, souveränes Einwanderungsland, das Flucht und Asyl selbstverständlich akzeptiert und nicht dämonisiert, wie die AfD. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nach dieser marxistischen Betrachtung des Ausländerzentralregisters schließe ich die Aussprache, da die Reden der Abgeordneten Stephan Thomae, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, Alexander Throm, CDU/CSU, und Detlef Seif, CDU/CSU, zu Protokoll gehen.

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schlafen nicht, und wir, die wir diese freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen, tun es auch nicht. Deswegen ist es richtig, dass wir heute, auch zu einer etwas fortgeschritteneren Stunde, über die Änderung des Soldatengesetzes und des Reservistengesetzes hier debattieren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Änderungen sind Teil eines Paketes an Maßnahmen im Kampf gegen die Gegner unserer Verfasstheit und unserer Verfassung – und dies insbesondere in den Reihen der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist eine Organisation, deren Soldatinnen und Soldaten – das sehen wir gerade in diesen Tagen – bereit sind, sich im Zweifel auch unter Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens für ebendieses Grundgesetz einzusetzen, und genau für diese Kameradinnen und Kameraden ist es wichtig und denen sind wir es schuldig, dass wir all diejenigen, die das anders sehen, aus der Bundeswehr auch konsequent entfernen können bzw. verhindern, dass die den Weg in die Bundeswehr finden. ({0}) Worum geht es? Es geht darum, dass Soldaten und Soldatinnen in Verwendungen mit besonders hohen Sicherheitsanforderungen einer besonders strengen Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden. Dazu soll in Zukunft neben den bisherigen Überprüfungen eine zusätzliche eingeführt werden. Diese zusätzliche Überprüfung ermöglicht es, neben der Befragung von Referenzpersonen auch die entsprechende Recherche im Internet durchzuführen, weil wir eben durch die jüngsten Fälle sehen, dass wir viele Hinweise etwa nur durch Chatverläufe auch feststellen können. Deswegen ist dies ein wichtiger Punkt. Ist das ein Zeichen des Misstrauens? Nein! Soldatinnen und Soldaten in Verwendung mit besonders hohen Sicherheitsanforderungen sind in einem besonderen Maße darauf angewiesen, dass sie sich auf das Vertrauen des Dienstherrn verlassen können. Deswegen muss bei der Auswahl auch ein besonders strenger Maßstab angelegt werden. Diesem dient diese neue Regelung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Abgeordnete, zur Bundeswehr und zur Aufstellung für die Zukunft gehört spätestens mit der Strategie der Reserve die Reserve als ein aktiver Bestandteil mit dazu. Sie nimmt eine immer wichtigere Rolle ein, und deshalb muss auch sie in die Betrachtung mit einbezogen werden. Wir schaffen eine neue Rechtsgrundlage für eine Beorderungssicherheitsüberprüfung im Reservistengesetz, damit wir auch bei Reservedienstleistenden im Zweifel an der Verfassungstreue zügig handeln können – auch dies eine Erfahrung aus der Vergangenheit und eine Konsequenz, die wir ziehen. Zügig – ja, zügiger als bisher – wollen wir auch die erkannten Extremisten und – ich benenne das auch so deutlich – Verfassungsfeinde aus der Bundeswehr entfernen. Dazu dient ein weiteres Gesetz, das Gesetz zur Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften, das sich zurzeit zu Recht in einer sehr intensiven Beratung in diesem Hohen Haus befindet. Bei all dem, was man zu diesem Gesetzentwurf auch kritisch anmerken kann, will ich trotzdem noch einmal darauf hinweisen, dass wir dann, wenn wir die dort vorgeschlagenen Regelungen und Instrumente schon hätten, 30 Prozent der als rechtsradikal erkannten Soldaten und Soldatinnen heute – Stand jetzt – sofort aus dem Dienst entfernen könnten. Auch das ist etwas, über das man zumindest sehr ernsthaft nachdenken muss. Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit Gründung der Bundeswehr gilt: Der Soldat bzw. die Soldatin muss durch sein bzw. ihr gesamtes Verhalten für die Einhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eintreten. Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Teil des Maßnahmenpaketes, mit dem wir dafür sorgen wollen, dass dies unzweifelhaft der Fall ist und dass diejenigen gestärkt werden, die daran keinen Zweifel lassen, indem wir diejenigen aus der Truppe entfernen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Berengar Elsner von Gronow. ({0})

Berengar Elsner von Gronow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004708, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das neue Gesetz soll ermöglichen, Soldaten grundsätzlichen, aber auch noch schärferen Sicherheitsüberprüfungen zu unterziehen. Die Regierung geht von Tausenden aktiven Soldaten und Reservisten aus, die sofort und dann jährlich einer solchen Überprüfung zu Millionenkosten unterzogen werden müssten. Aber es ist hier sicherlich keine Frage des Geldes, sondern eher die Frage, wo denn die Heerscharen an neuen MAD-Mitarbeitern herkommen sollen, die das bearbeiten. Bereits jetzt dauert die Bearbeitung von Sicherheitsüberprüfungen zum Teil viele Monate, und der Stapel der unbearbeiteten Vorgänge wird immer höher. Jetzt werden auch noch die Sichtung des Internets und die der sozialen Netzwerke – immerhin, noch, keine Messengerdienste – zusätzlich neu aufgenommen. Man muss zukünftig angeben, wann man welche sozialen Netzwerke derzeit nutzt, und man muss den Namen, den man dort verwendet, angeben. Auch hier zeigt sich wieder einmal der Wunsch des Staates nach dem gläsernen Bürger, nach dem hemmungslosen Zugriff auf seine Privatsphäre. Ein Begehren, dem wir uns als Partei der Freiheit deutlich entgegenstemmen! ({0}) Welche Soldaten von der intensivierten erweiterten Sicherheitsüberprüfung betroffen sein sollen, wird hier bewusst vage gehalten. Dies soll erst zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer Rechtsverordnung festgelegt werden – ohne Bundestag. Wie praktisch! Die Methode schleift sich offenbar ein. Liest man aber, auf welche Soldaten mit welchen Fähigkeiten das Gesetz abzielt, wird offensichtlich: Zielgruppe ist wohl zuvörderst das KSK. Handelt es sich hier also nicht eher um das neue KSK-Gesetz? Und wie will man das umsetzen? Nach Wegfall der Wehrpflicht wurden die Mitarbeiterkapazitäten massiv zusammengestrichen und reduziert. Bereits heute fehlen zahlreiche Mitarbeiter, um nur die derzeitigen Sicherheitsüberprüfungen bearbeiten zu können. Wie schnell glauben Sie die bereits bestehende Lücke auffüllen zu können, um den durch dieses Gesetz entstehenden Mehraufwand leisten zu können, und wo führt solch eine Aufstockung hin? Stehen dann am Ende noch mehr staatliche Kapazitäten zur Ausspähung und Überwachung seiner Bürger? Denn auch Soldaten sind Bürger: Bürger in Uniform, nicht Bürger zweiter Klasse. ({1}) Eigentlich handelt es sich hier ja um eine neue Stufe einer Sicherheitsüberprüfung. SÜ4 oder besser SÜ KSK? Wie, glauben Sie, werden die betroffenen Soldaten auf diese neue Stufe der Sicherheitsüberprüfung reagieren? Denn Muslimen beispielsweise oder Linken wird seitens der Regierung ein Bekenntnis zu Demokratie nicht „zugemutet“, weil man sie mit solch einer Forderung ja unter Generalverdacht stellen würde. Gegenüber unseren Soldaten ist ein solcher Generalverdacht anscheinend aber zulässig. ({2}) Diese linke Doppelmoral lehnt die AfD-Fraktion entschieden ab. ({3}) Und was für Auswüchse Befragungen annehmen können, mussten wir beim KSK erleben: stundenlange, teils hochnotpeinliche Befragungen, die eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates unwürdig sind. Die MAD-Aktion nannte der ehemalige CDU-Verteidigungsminister und Staatsrechtler Rupert Scholz einen „Angriff auf die Menschenwürde der einzelnen Soldaten“. Angesichts des rechtlichen Vorgehens der Bundesregierung im Rahmen von Corona muss man bedenkliche Indizien dafür feststellen, dass sich unsere Regierung zunehmend vom Bürger und dem Ideal einer freiheitlichen Gesellschaft entfernt. Auch dieser Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht gemacht, seine Motive sind fragwürdig. Er ist Ausdruck des tiefen und zunehmenden Misstrauens des Staates gegenüber seinen Soldaten und seinen Bürgern, von denen er sich immer weiter entfernt. Aber nicht der Vertrauensverlust des Staates in seine Bürger ist in diesen Zeiten das Problem, sondern die Regierung: ein Staat, der auch gerade aktuell unter dem Deckmantel der Coronamaßnahmen mit Freiheitsentzug, Pfusch und Korruption dem Bürger immer weniger Anlass gibt, ihm zu vertrauen. Regierung und Politik müssten diese für unsere Demokratie schädliche Entwicklung dringend umkehren. Gesetze wie dieses sind dazu nicht geeignet. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Dr. Fritz Felgentreu. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin! Die Bundeswehr und die Soldatinnen und Soldaten, die in ihr dienen, schützen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland vor Bedrohungen durch auswärtige Feinde. Sie verfügen dazu über Waffen und Fähigkeiten, die für jede Art von Zerstörungswerk verwendet werden können, wenn sie in die falschen Hände geraten oder missbraucht werden. Die Bundeswehr ist seit bald 70 Jahren die Armee des demokratischen Rechtsstaats oder, wie man im 19. Jahrhundert mit schönem, damals revolutionärem Pathos sagte, der „freien Republik“. Sie verdient als Institution das Vertrauen dieses Parlaments, des Parlaments, dem sie dient. Auch die Menschen, aus denen sie besteht, haben einen berechtigten Anspruch auf unser Vertrauen. Dieser Vertrauensvorschuss, den wir gerne gewähren und den wir auch mit Stolz auf unsere Streitkräfte verbinden, darf uns aber nicht blind oder naiv machen. Was die Bundeswehr hat und was sie kann, macht sie auch zu einem attraktiven Ziel für die Feinde unseres Landes und seiner bürgerlichen Freiheiten und Rechte. Die Unterwanderung durch Spione und Extremisten gehört deshalb von jeher zu den Bedrohungen, vor denen die Bundeswehr sich schützen muss. Das ist – neben allgemeiner Wachsamkeit, die zu den Dienstpflichten aller, auch der zivilen, Bundeswehrangehörigen zählt – vor allem die Aufgabe des Militärischen Abschirmdienstes. Seine Handlungsfähigkeit zu stärken, ist ein permanentes politisches Ziel dieser Koalition, das wir nun schon in der zweiten Legislaturperiode beharrlich und konsequent verfolgen. Diesem Ziel dient auch der vorliegende Gesetzentwurf. Akuten Handlungsbedarf sehen wir auf zwei Feldern: Erstens geht es um Soldaten und Soldatinnen mit Fähigkeiten, die ihre Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in einem noch höheren Maße voraussetzen, als es für die Streitkräfte in ihrer ganzen Breite gilt. Wer zum Beispiel als sogenannter Hacker im Cyberraum große Wirkung erzielen kann, wer sich auf Infiltration und Sabotage mit Sprengmitteln versteht, wer über besondere Kampftechniken gebietet, dem bringt der Dienstherr ein besonderes Vertrauen entgegen. Umso wichtiger ist es, sicherzustellen, dass dieses Vertrauen in jedem Einzelfall auch gerechtfertigt ist. Dass es auch anders sein kann, hat uns der Fall eines Unteroffiziers des Kommandos Spezialkräfte gelehrt, der sich extremistisch radikalisiert und in seinem privaten Garten ein Waffen- und Munitionsdepot angelegt hatte. Um Fällen wie diesem in Zukunft bestmöglich vorzubeugen, schafft der vorliegende Entwurf eine Rechtsgrundlage. Soldaten und Soldatinnen in besonders sicherheitsrelevanten Verwendungen in Zukunft in regelmäßigen Abständen einer erweiterten Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, ist das erklärte Ziel. Dabei wird der MAD stets auch Dritte aus ihrem persönlichen Umfeld befragen und die Aktivitäten in sozialen Netzwerken nachvollziehen. Das ist fraglos eine empfindliche Verletzung der Privatsphäre. Zu den anderen Opfern, die Soldatinnen und Soldaten in so herausgehobener Verwendung bringen, kommt dieses noch dazu. Es erfordert eine große Identifikation mit der eigenen Aufgabe, sich auf solche Belastungen und solchen Verzicht einzulassen. Mir ist es deshalb doppelt wichtig, an dieser Stelle Ihnen allen für Ihren treuen Dienst zu danken. Ausdrücklich nehme ich an dieser Stelle die Soldaten und Soldatinnen des Kommandos Spezialkräfte in meinen Dank mit auf. ({0}) Seien Sie versichert: Was wir hier regeln wollen, ist kein Ausdruck unseres Misstrauens – es ist ein Gebot der Vorsicht, das zwingend an all das anknüpfen muss, was sich mit Ihren besonderen Fähigkeiten und Ihrem besonderen Auftrag verbindet. Das zweite Handlungsfeld betrifft die Reserve. Die vorgesehene Grundbeorderung für Zeit- und Berufssoldatinnen und ‑soldaten wird sich nachhaltig verändern. Es wird also beides geben: zahlreiche Reservistinnen und Reservisten, die direkt im Anschluss an ihr Wehrverhältnis in den Dienst zurückkehren, und solche, die das erst nach längerer Pause im Zivilen tun. Sie alle sind ein Teil unserer Gesellschaft. Gesellschaftliche Strömungen machen vor der Reserve nicht halt. In einer Zeit, in der wir uns zunehmend mit Polarisierung und Radikalisierung durch Verschwörungstheorien, durch Populismus, durch Islamismus und vor allem Rechtsextremismus auseinandersetzen müssen – nein, auch den Linksextremismus nehme ich nicht aus; aber er stellt nach Einschätzung so gut wie aller Experten das weitaus geringere Problem dar –, ({1}) in einer solchen Zeit also können wir nicht einfach davon ausgehen, dass eine 10 oder 20 Jahre alte einfache Sicherheitsüberprüfung noch Aussagekraft darüber hat, ob ein Reservist oder eine Reservistin weiterhin auf dem Boden ihres Diensteides und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Wir schaffen deswegen jetzt eine Rechtsgrundlage dafür, diese einfache Sicherheitsprüfung zu wiederholen, wenn Personen zu einer Wehrübung herangezogen werden sollen und ihre letzte Überprüfung länger als fünf Jahre zurückliegt. Beide Handlungsfelder sind richtig identifiziert. Die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Maßnahmen erscheinen sinnvoll und verhältnismäßig. Wir haben damit eine gute Grundlage für eine zügige, konstruktive Beratung im Verteidigungsausschuss. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Felgentreu. – Der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Grüne ist der Abgeordnete Dr. Tobias Lindner. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anlass für dieses Gesetz ist erst einmal ein beunruhigender: Wir haben feststellen müssen, dass wir im Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, der Einheit, in der die Soldaten mit den höchsten Fähigkeiten ausgestattet sind, eine überdurchschnittliche Anzahl rechtsextremer Vorfälle und rechtsextremer Verdachtsfälle haben. Wir haben das feststellen müssen, obwohl die Soldaten des Kommandos Spezialkräfte die bisher höchste Sicherheitsüberprüfung durchlaufen haben. Deswegen ist es richtig, Sicherheitsüberprüfungen häufiger durchzuführen und sie intensiver – ich will sagen: zeitgemäßer – zu gestalten. Deswegen will ich für meine Fraktion sagen: Auch wenn die Ausschussberatungen noch vor uns liegen, werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf an dieser Stelle sehr wohlwollend begleiten. ({0}) Eine Sicherheitsüberprüfung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist immer nur eine Punktaufnahme, eine Momentaufnahme; sie sagt etwas über die überprüfte Person aus zu dem Zeitpunkt, wo sie überprüft wird. Was zwischen zwei Überprüfungen geschieht, das entzieht sich in vielen Fällen oft der Kenntnis der Sicherheitsbehörden. Deswegen begrüßen wir grundsätzlich, dass in besonders sicherheitsrelevanten Bereichen nun dieses Intervall verkürzt wird. Wir halten das für einen geeigneten Schritt. ({1}) Ich will aber an dieser Stelle eines auch deutlich machen: Auch in einem kürzeren Intervall können Personen sich radikalisieren, können auf die schiefe Bahn geraten, können in falsche Gesellschaft geraten. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Das beste Sicherheitsnetz innerhalb der Bundeswehr sind all diejenigen Soldatinnen und Soldaten – und das ist der weitaus überwiegende Teil –, die tagtäglich ihren Dienst treu und auf dem Boden unserer Verfassung leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es liegt in der Verantwortung dieser Soldatinnen und Soldaten, keine falsch verstandene Kameradschaft zu pflegen, ({3}) sondern hinzuschauen, wenn ihnen etwas auffällt, eine Meldung an Vorgesetzte nicht irgendwie als Verrat oder Illoyalität zu empfinden, sondern als das, was notwendig ist, nämlich die Bundeswehr von dem Teil ihrer Angehörigen – und das ist ein kleiner Teil, aber ein gefährlicher Teil – zu reinigen, die ihren Diensteid gebrochen haben und in unseren Streitkräften nichts verloren haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Und zuletzt: Die vorgeschlagene einfache Sicherheitsüberprüfung für Reservistinnen und Reservisten begrüßen wir ausdrücklich; denn in dem Moment, wo eine Reservistin oder ein Reservist zur Wehrübung herangezogen wird, die Uniform wieder anzieht, Soldatin oder Soldat wie jeder andere dann auch in der soldatischen Gemeinschaft ist, darf für diese Person kein zweiter Standard, kein niedrigerer Standard gelten als für die diejenigen Soldaten, die beim Eintritt in die Bundeswehr bereits heute schon sicherheitsüberprüft werden. Deswegen ist auch das ein geeigneter Schritt. Wie gesagt: Wir werden den Gesetzentwurf sehr wohlwollend begleiten. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Tobias Lindner. – Der nächste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Abgeordnete Jens Lehmann. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur intensivierten erweiterten Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen von Soldaten und zur Sicherheitsüberprüfung von Reservisten ist aus meiner Sicht ein Gesetzentwurf, der den Soldaten, den Reservisten und der Bundeswehr als Dienstherr ein verlässliches gesetzliches Instrument an die Hand gibt, um Sicherheitsüberprüfungen in beiderseitigem Interesse durchzuführen. Eines möchte ich hier gleich klarstellen: Das ist kein Generalverdacht gegen Soldaten oder Reservisten, dahinter steckt kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber unseren Uniformträgern. Es dient vielmehr der Sicherheit für beide Parteien: für die Bundeswehr und für den Soldaten bzw. Reservisten. Ich möchte Ihnen hier auch erläutern, warum ich das so sehe. Meine Damen und Herren, die Sicherheitsüberprüfung dient dazu, herauszufinden, ob ein Bürger den hohen Sicherheitsanforderungen, die der Bund an gewisse Aufgaben stellt, gerecht wird. Das ist mittlerweile in vielen Bereichen nötig. Sicherheitsaufgaben werden immer komplexer. Modernste Technik und Digitalisierung tun ihr Übriges. Das heißt für mich, dass die uns anvertraute Technik – ob Groß- oder Kleingerät – viel häufiger ausgespäht oder missbraucht werden kann. Schon heute können Sie mit einem Smartphone Fotos oder Videos in Echtzeit überall in die Welt senden. Das kann zu unserem Nachteil ausgenutzt werden. Deshalb müssen wir unser Personal, konkret unsere Soldaten, für die Schutzbedürftigkeit des Bundeswehrmaterials und die bei der Bundeswehr vermittelten Inhalte besonders sensibilisieren – und überprüfen. In diesem Zusammenhang müssen wir genauer wissen, wen wir mit sensiblen Aufgaben beauftragen. Leider gibt es Fälle, in denen Menschen Gedanken entwickeln, die nicht mehr mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Das haben Fälle – Ausnahmen – in der jüngeren Vergangenheit leider gezeigt. Ich möchte es noch einmal betonen: Das betrifft nicht den überwiegenden Teil unserer Soldaten und Reservisten. Ich stelle mich schützend vor unsere Soldaten und Reservisten und halte meine Hand für ihre Verfassungstreue ins Feuer. ({0}) Es muss uns um die – wenigen – schwarzen Schafe gehen, die wir frühzeitig identifizieren müssen, um Schaden für die Bundeswehr abzuwenden. Das gilt für Soldaten und das gilt für Reservisten. Gerade bei Reservisten ist es doch so, dass sie einem zivilen Beruf nachgehen und zu Wehrübungen herangezogen werden. Hier müssen wir diejenigen überprüfen, denen wir Aufgaben mit besonders hohen Sicherheitsanforderungen anvertrauen. Denn anders als bei Zeit- oder Berufssoldaten unterstehen die Reservisten nicht permanent der Dienstaufsicht, die ein geeignetes Mittel ist, um sich über einen langen Zeitraum ein umfassendes Bild von einem Soldaten zu verschaffen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir dafür die Grundlage. Ich möchte Ihnen mit zwei praktischen Beispielen veranschaulichen, dass die Kritik daran mehr heiße Luft denn substanziell ist: Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten, speziell von denen aus dem Verteidigungsausschuss, müssen sich in der Regel ebenfalls einer Sicherheitsüberprüfung, meist der Ü2, unterziehen. Nur so können sie uns Abgeordneten bei der parlamentarischen Arbeit und dem Umgang mit schutzbedürftigen Unterlagen unterstützen. Hieran gibt es keinerlei Kritik. Das ist notwendig für die Arbeit; also ist eine Sicherheitsüberprüfung breiter Konsens. Dies sollte auch für den vorliegenden Entwurf gelten. Ein weiteres Beispiel: Einer meiner Mitarbeiter ist ebenfalls Reservist, der gelegentlich eine Reservedienstleistung absolviert. Daher kann die Bundeswehr mei‑nen Mitarbeiter mangels durchgängiger Dienstaufsicht schwerer beurteilen. Hier würde eine Sicherheitsüberprüfung, die im Übrigen ja stattgefunden hat – ich erwähnte es gerade –, dem Reservisten Sicherheit geben, weil er bei Bedarf sicherheitsempfindliche Aufgaben übernehmen kann, und sie gäbe der Bundeswehr Sicherheit, weil sie einem überprüften Reservisten sensible Aufgaben übertragen kann. Werte Kollegen, selbst der Verband der Reservisten unterstützt das Vorhaben. Mein geschätzter Kollege Sensburg hat bereits im vergangenen Jahr präzise gesagt – ich zitiere –: Wir … Reservisten haben kein Problem damit, wenn auch wir überprüft werden, wir unterstützen dies sogar. Meine Damen und Herren, daher bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Danke. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Lehmann. – Der nächste Redner: für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Christian Sauter. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir betrachten den heute vorliegenden Gesetzentwurf vor dem Hintergrund von wiederholten Fällen von Extremismus in der Bundeswehr. Ganz sicher ist es richtig, keine Form von Extremismus in der Truppe zu dulden, ganz gleich, ob es sich um Fälle von Rechtsextremismus, Islamismus, Linksextremismus oder weiteren Formen von Extremismus handelt. Der Jahresbericht 2020 der Wehrbeauftragten hat wie schon der MAD-Report für das Jahr 2019 die Zahl der Verdachtsfälle deutlich gemacht: Nach 477 Verdachtsfällen rechts werden immerhin auch 48 Verdachtsfälle im Bereich Islamismus genannt. Daneben befinden sich in kleineren Anteilen weitere Extremismusvorwürfe. Wege zur Vermeidung bzw. zur Entfernung von Extremisten aus der Bundeswehr unterstützen wir. Es ist selbstverständlich, dass es in nachgewiesenen Fällen keine weitere Verwendung in der Bundeswehr mehr geben darf. Umgekehrt bedeutet es aber auch, dass ein Verdachtsfall noch kein nachgewiesenes Delikt ist. Zudem zeigen die Zahlen, dass der ganz überwiegenden Mehrheit der Soldaten und Reservisten keinerlei Verfehlungen dieser Art vorzuwerfen sind – hier also kein Generalverdacht. ({0}) Wege zur Identifizierung ebendieser Personenkreise müssen gefunden werden. Die jüngsten Fälle haben gezeigt, dass die 2017 eingeführte einfache Sicherheitsüberprüfung nicht alle Fälle erfasst hat. Der vorliegende Gesetzentwurf soll nun Lücken schließen. Einerseits sollen intensivere Sicherheitsüberprüfungen für Soldaten in Verwendungen mit besonders hohen Sicherheitsanforderungen durchgeführt werden, andererseits sollen fortan auch Reservisten von einfachen Überprüfungen erfasst werden. Dieser Gesetzentwurf wirft jedoch auch Punkte auf, die bei den eben genannten Regelungen nicht berücksichtigt wurden, zum Beispiel: Erstens. Alle Sicherheitsüberprüfungen werden durch den Militärischen Abschirmdienst durchgeführt. Bereits 2017 hatte eine Ausweitung der Überprüfungen einen Mehraufwand zur Folge. Hier muss geprüft werden, ob der Personalaufwuchs aufseiten des BAMAD und der Bundeswehr auch ausreichend ist, um diese Forderungen abzudecken. Es ist auch, zweitens, nicht konkretisiert, welcher Kreis der Personen genau nun von dieser gesetzlichen Regelung betroffen sein wird. Auch hier ist noch eine Konkretisierung erforderlich. ({1}) Drittens. Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss auch gestellt werden. Die entstehenden Aufwendungen sind nicht unerheblich, nicht nur der finanzielle Aufwand in Höhe von jährlich über 6 Millionen Euro, sondern insbesondere auch der bürokratische Aufwand sowie der Zeitaufwand, welcher geleistet werden muss. Das wird aus dem Gesetzentwurf auch deutlich. Gerade im Bereich der Reservisten – hier besonders der unbeorderten – musste man sich in der Vergangenheit mit immer mehr bürokratischen Vorgängen auseinandersetzen. Das sieht man auch bei den Darstellungen im vorliegenden Entwurf: bis zu drei Stunden je Sicherheitsüberprüfung. Hier sehen wir noch Bedarf für Präzisierungen, Vereinfachungen. Wir werden das konstruktiv begleiten und stimmen der Überweisung in den Ausschuss zu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der Kollege Matthias Höhn gibt seine Rede zu Protokoll; vielen Dank dafür!