Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/11/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kabinett hat sich natürlich auch mit dem Coronaausbruch in Deutschland und Europa beschäftigt. Das Coronavirus und seine Verbreitung ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Die medizinischen Folgen sind ein Teil davon; aber es beschränkt sich natürlich nicht nur – das spüren wir, denke ich, dieser Tage mehr denn je – auf medizinische Folgen. Stand heute Morgen haben wir in Deutschland 1 296 gemeldete Fälle. Den Schwerpunkt bildet weiterhin Nordrhein-Westfalen mit derzeit 484 Infektionen. Wir haben auch in Deutschland erste Todesfälle zu beklagen. Die Lage ist nach wie vor sehr dynamisch. Am Dienstag hat das Robert-Koch-Institut aufgrund der aktuellen Entwicklung Italien insgesamt zum Coronarisikogebiet erklärt. Deswegen haben wir als Bundesministerium für Gesundheit alle Italien-Rückkehrer – die Bürgerinnen und Bürger, die aus ganz Italien nach Deutschland zurückkommen –, dazu aufgerufen, in den zwei Wochen nach ihrer Rückkehr die Kontakte zu anderen auf das dringend Notwendige zu beschränken und dabei darauf zu achten, dass eine möglichst geringe Infektionsgefahr besteht, möglicherweise Heimarbeit zu machen und womöglich auch die Kinder nicht in die Schule oder den Kindergarten zu schicken. Nach jetzigem Wissensstand verläuft eine Infektion mit dem Coronavirus für 80 Prozent der Infizierten milde oder sogar symptomfrei. Alle bisher bekannten Symptome – Husten, Fieber, Atemnot – werden jeden Tag vielfach im deutschen Gesundheitssystem behandelt. Die Erkrankung verläuft aber – das ist eben der herausfordernde Teil –, in seltenen Fällen schwer, zum Teil mit sehr, sehr schweren Verläufen, insbesondere verbunden mit einer Lungenentzündung, die eine Behandlung auf der Intensivstation und mit Beatmungskapazitäten und ‑geräten erforderlich machen kann. Deutschland verfügt im internationalen Vergleich mit 28 000 Intensivbetten über vergleichsweise große Kapazitäten bezogen auf die Bevölkerungszahl. Viele davon sind, natürlich auch jetzt schon im Normalbetrieb, bereits beansprucht, auch durch die aktuelle Grippewelle, die aber nach den aktuellen Erkenntnissen des Robert-Koch-Instituts im Abflauen ist. Auch die Personalsituation in den Kliniken wird durch Corona zusätzlich belastet. Deshalb muss es unser oberstes Ziel sein, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen; denn je weniger Menschen sich gleichzeitig anstecken, desto weniger brauchen dann tatsächlich in der Folge wegen eines schweren oder schwersten Verlaufes entsprechende intensivmedizinische Betreuung, Begleitung, Behandlung und vor allem eben auch Beatmungskapazitäten. Je weniger sich anstecken, desto weniger werden natürlich dann auch insgesamt mit milderen oder mittelschweren Symptomen im Gesundheitssystem gleichzeitig behandelt werden müssen. Wir müssen also dem Virus alle Chancen nehmen, sich schnell auszubreiten. Deshalb habe ich dazu aufgerufen, Großveranstaltungen mit mehr als 1 000 Teilnehmern grundsätzlich abzusagen. Ich bin froh, dass viele Landesregierungen – im Übrigen auch gerade Berlin – dieser Empfehlung bereits folgen. Ich empfehle ganz klar ein einheitliches Vorgehen. Allen Verantwortlichen ist bewusst: Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger geht vor, auch vor wirtschaftlichen Interessen. Gleichwohl bin ich mir sehr bewusst – auch die Bundesregierung insgesamt; das war in der heutigen Kabinettssitzung ebenfalls Thema –, dass das für die betroffenen Handwerker, die die Messen beschicken, für Gastronomen, für die Tourismusbranche, für viele andere Bereiche natürlich sehr, sehr harte wirtschaftliche Folgen hat. Es geht jetzt darum, sie zielgerichtet abzufangen und sie in dieser schwierigen Phase zu unterstützen. Es geht darum, die Balance zu halten zwischen Einschränkungen und unserem Alltag, der weitergeht. Öffentlichkeit gehört zu Demokratie. Das soll so bleiben, und deswegen sollten wir angemessen und besonnen reagieren. Abschließend will ich mit Blick auf den Einzelnen, auf den Jüngeren noch etwas sagen. Die Jüngeren könnten ja sagen: Für die unter 50-Jährigen ist das Risiko sehr, sehr gering. Was habe ich damit zu tun? – Weil es aber eben so ist, dass wir viel Austausch miteinander haben – in der Familie, in der Gesellschaft, auf Arbeit, im Privaten, über alle Altersgruppen hinweg –, ist die Frage, ob ich als jemand, der auf den ersten Blick vielleicht nicht so gefährdet ist, mithelfe, für die Gesellschaft insgesamt und für die besonders gefährdeten Gruppen wie ältere, insbesondere hochbetagte, und auch chronisch kranke Menschen mit Vorerkrankungen das Risiko zu reduzieren. Wenn wir alle im Alltag ein Stück weit auf Liebgewonnenes verzichten – der Besuch eines Fußballspiels ist natürlich etwas Liebgewonnenes; das ist für die Fans erst mal eine schwierige Entscheidung, klar –, können wir insgesamt die Schwächeren in der Gesellschaft schützen und vor allem die Verbreitung des Virus eindämmen. Und das Virus wird sich verbreiten – keine Maßnahme übrigens, keine, wird das verhindern; das war auch immer klar –, die Frage ist, wie schnell. Die Frage, wie schnell es sich ausbreitet, die haben wir als Gesellschaft, die haben wir durch staatliche Entscheidungen wie bei Großveranstaltungen, die hat aber auch jeder durch sein persönliches Verhalten und Umgehen miteinander im Griff; das kann jeder mit beeinflussen. Am Ende sind das alles Verhaltensweisen, die wir kennen. Wenn mein Nachbar, mein Partner, mein Kind Grippe hätte – das ist ja auch eine Atemwegserkrankung, die sich leicht überträgt; der Übertragungsweg ist der Gleiche –, dann weiß jeder: Was muss ich im Alltag tun, um eine mögliche Übertragung zu vermeiden? Wenn wir das, was jeder aus dem Alltag kennt, um eine Übertragung zu vermeiden – wie verhalte ich mich, wenn zum Beispiel im eigenen Haushalt jemand Grippe hat? –, in den nächsten Wochen konsequent miteinander durchhalten und dabei insbesondere die Älteren und chronisch Kranken im Blick haben, die wir schützen wollen, dann, denke ich, wird es gemeinsam gelingen können, die weitere Ausbreitung zu verlangsamen, damit das Gesundheitssystem so funktionsfähig wie möglich zu halten und dann auch bestmöglich damit umgehen zu können. Wir sehen in Italien, unter welch großen Stress das Gesundheitssystem kommen kann, wenn das nicht gelingt. Deswegen möchte ich mein Eingangsstatement mit einem Dank abschließen, Herr Präsident. Ich war gestern in der Charité, habe mit Pflegekräften und Ärzten in der Notaufnahme gesprochen. Ich möchte den Pflegekräften, den Ärztinnen und Ärzten und allen anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen erneut danken. Ich denke, das kann man in diesen Tagen gar nicht oft genug tun, weil das natürlich auch für ihren Alltag am Ende eine große Veränderung bedeutet. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die erste Frage stellt der Kollege Detlev Spangenberg, AfD.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister, wir haben im Ausschuss schon sehr viel darüber gehört; deswegen möchte ich eine andere Frage stellen, und zwar geht es um das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Strafgesetzbuch, das am 26. Februar als verfassungswidrig festgestellt worden ist: Aus Ihrem Haus kommt die Aussage – um die geht es –, dass sich aus Ihrer Sicht aus dem Urteil nicht ableitet, dass die Mittel für die Selbsttötung zur Verfügung gestellt werden müssen. Ist das nicht ein Widerspruch zu dem Urteil, das ich gerade genannt habe? – Danke.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Vielen Dank, Herr Kollege. – Auch das ist eine Entscheidung aus den letzten Tagen, mit der wir natürlich umgehen wollen und müssen. Dieses Haus hat mit Mehrheit ein Gesetz beschlossen, und jetzt haben wir eine andere Rechtslage dadurch, dass dieses Gesetz im Grunde nicht mehr anwendbar ist. Damit müssen wir als Gesellschaft, aber auch wir als Bundestag und als Bundesregierung umgehen. Die Gespräche laufen ja auch schon, soweit ich das wahrnehme. Sie fragen, wie wir mit Blick auf unsere nachgeordnete Behörde mit der Entscheidung umgehen, wenn Anträge auf Medikamente zur Selbsttötung gestellt werden. Wir werten das Urteil aktuell noch aus. Es enthält auch eine sehr klare Ansage, dass es keinen Anspruch gegenüber Dritten darauf geben kann, entsprechende Beihilfe zur Selbsttötung zu bekommen. Jetzt ist die Frage, was aus dieser Formulierung „Es gibt keinen Anspruch darauf“ für behördliches Handeln folgt. Darüber sind wir im Gespräch und in der Auswertung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Martina Stamm-Fibich, SPD.

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich muss noch mal auf das zurückkommen, was Sie am Anfang gesagt haben. Die Produktionsausfälle in China und Indien aufgrund der Coronapandemie könnten auch bei uns in naher Zukunft zu Arzneimittelengpässen führen. Wir wissen ja – insbesondere im Bereich der Antibiotika –, dass es zu Lieferschwierigkeiten kommen kann. Die derzeitige Situation demonstriert uns die seit Langem bestehende Abhängigkeit Deutschlands von Arzneimittelimporten aus China und Indien eindrücklich. In diesem Zusammenhang wird von vielen Akteuren eine Rückholung bestimmter Bereiche nach Europa gefordert. Ich möchte in dem Zusammenhang wissen, ob Sie vielleicht, das BMG, sich aktuell mit dem BMWi und dem BMBF über die notwendigen Voraussetzungen verständigen, vor allem im Hinblick auf die deutsche Ratspräsidentschaft, inwieweit wir dort Vorkehrungen treffen können.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ja, Frau Kollegin, das ist ein Thema, das uns schon vor der aktuellen Coronasituation intensiv beschäftigt hat. Ich persönlich habe es schon mehrfach, auch im Gesundheitsministerrat, auf die Tagesordnung gehoben. Es war sowieso unser Plan, es auch zu einem der Themen unserer EU-Ratspräsidentschaft im Bereich von Gesundheit zu machen. Aber ich denke, wir spüren alle gemeinsam: Es wird gerade noch grundsätzlicher. Das eine ist das Thema Masken – auch das ist übrigens ein Thema, Stichwort „Schutzausrüstung“, mit Blick auf Corona –, das andere ist das Thema Arzneimittel. Aber wir sehen ja auch, was es für den Maschinenbau und die Automobilindustrie bedeutet, wenn in China die Produktion stillsteht oder Märkte nicht mehr so da sind. Im Moment spüren wir alle, dass diese Abhängigkeit – ökonomisch und in den Lieferketten – von einem einzigen Land auf der Welt für Europa und für Deutschland kein guter Zustand ist und dass wir uns im Nachgang, auch was die Außen-, Handels- und Wirtschaftspolitik angeht, mit diesen Themen noch beschäftigen werden müssen. Das Gleiche gilt für Lieferketten und Produktionskapazitäten in Europa. Ich glaube, es gibt keine deutsche Lösung an der Stelle, sondern eine europäische. Genau darüber sind wir in intensivem Austausch mit den Kollegen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Minister, ich habe eine Frage bezüglich der Dynamik der Coronavirusinfektion. Es sind ja verschiedene Dynamiken, die wir gerade in Europa sehen, in Deutschland wie auch in Italien, verschiedene Sterblichkeitsraten; auch die Morbiditätszahlen sind sehr unterschiedlich. Meine Frage ist: Welche Lehren ziehen Sie jetzt als Regierung daraus, die wir jetzt akut umsetzen können, damit es auch in Deutschland weiter besser laufen kann?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Meinen Sie jetzt für nach der Krise, oder meinen Sie jetzt akut?

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jetzt akut, ab morgen.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Was erst mal wichtig war aus meiner Sicht und was gelungen ist: Wir haben auch schon im Vorhinein viel darauf hingewiesen und viele Gespräche geführt, etwa mit Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenhäuser und anderen mehr, aber spätestens seit Aschermittwoch, seit dem Ausbruchsgeschehen in und um Heinsberg, wo wir erstmalig Infektionsketten in Deutschland hatten, die nicht mit dem Ausland verbunden sind – das Hauptausbruchsgeschehen ist im Moment inländisch –, ist es so, dass wir jetzt eine neue Phase haben und eine neue Dynamik brauchen. Was ich wahrnehme, ist, dass im Moment alle – in den Krankenhäusern, in den Arztpraxen, in den Landkreisen, auch die, die noch gar nicht betroffen sind; wir haben immer noch Landkreise, in denen es keinen positiv getesteten Fall gibt – ihre Krisenstäbe aktiviert haben, alle Kapazitäten danach ausrichten, und wir planen jetzt schon dafür – dass ist das, was wir aktuell tun –, dass wir deutlich mehr an intensiv- und beatmungspflichtigen Patienten haben werden. Das heißt zum Beispiel, dass wir jetzt zügig dazu kommen müssen, planbare Operationen und Eingriffe zu verschieben. Es ist für mich wichtig – aus der Pandemieplanung heraus, aber auch aus den Erfahrungen in anderen Ländern –, dass wir sozusagen vor der Welle, vor der Entwicklung sein müssen, gerade auch mit Blick auf die Krankenhauskapazitäten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich würde gerne eine Nachfrage stellen. – Gerade, als wir die Sitzung heute begonnen haben, kam eine Meldung über den Ticker, dass es offensichtlich eng werden würde auf den Intensivstationen in Deutschland, dass wir doch nicht genug Beatmungsplätze haben. Wie reagiert die Bundesregierung auf so eine Meldung? Stimmt das? Sie haben gerade gesagt, eigentlich hätten wir ja genug. Oder ist das eine Falschmeldung?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Kollege Ullmann, ich habe nicht gesagt, eigentlich hätten wir ja genug. Was ich gesagt habe, ist, dass wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bezogen auf die Bevölkerung vergleichsweise gut oder sogar sehr gut ausgestattet sind; wir sind da auf den vorderen drei Plätzen. Das heißt nicht, dass ich sage: Wir haben für alles, was sich entwickelt, per se genug. – Es wäre vermessen, das zu sagen – um das deutlich zu formulieren –, angesichts der Entwicklung, die sich ergeben kann, wenn wir die Ausbreitung nicht ausreichend verlangsamen. Wir haben eine bessere Ausgangslage, aber das reicht noch nicht. Deswegen geht es jetzt darum, Intensivkapazitäten freizubekommen, indem planbare Operationen und Eingriffe verschoben werden, weil daraus in der Folge natürlich auch Intensivbedarf entsteht. Damit muss man rechtzeitig beginnen. Zum Zweiten hat der Krisenstab die Dringlichkeit für die Beschaffung auch von intensivmedizinischem Material festgestellt. Der Haushaltsausschuss wird sich heute auch mit dieser Frage beschäftigen. Wir möchten natürlich auch dort, soweit es geht, Vorsorge treffen. Ich sage Ihnen aber auch dazu: Das ist wie bei den Masken. Im Moment sind natürlich alle Länder auf der Welt dabei, sich mit der Stärkung genau dieses Teils ihres Gesundheitssystems zu beschäftigen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Roy Kühne, CDU/CSU, hat als Nächster das Fragerecht.

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Es geht um das Thema Pflegekräfte. In der letzten Woche wurde berichtet, dass sich die Zahl der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen von Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und ‑pflegern in den letzten zwei Jahren nahezu verdoppelt hat. Welche weiteren Maßnahmen werden Sie ergreifen, um weiter Pflegepersonal zu gewinnen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Wir haben bei aller guten Ausgangslage, von der ich gerade gesprochen habe – im Übrigen auch mit Blick auf Fachkräfte, Ärzte und Pflegekräfte –, in Deutschland natürlich auch einen Bedarf an mehr Pflegekräften in der Alten- und in der Krankenpflege. Das ist ja eine Debatte, die wir seit mindestens zwei Jahren – eher länger – intensiv führen. Ein Baustein neben mehr Ausbildung in Deutschland, möglichen Umschulungen und anderem mehr ist die verstärkte Überzeugung von Fachkräften aus dem Ausland, nach Deutschland zu kommen, um hier mit anzupacken. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Verfahren jetzt schon zu beschleunigen, aber es muss noch schneller gehen. Wir sind gerade in Kooperation mit einigen Bundesländern dabei, sowohl die Visaverfahren – das geschieht dann mit dem Auswärtigen Amt – als auch die Anerkennungsverfahren idealerweise auf maximal sechs Monate zu reduzieren. Die ersten Pilotprojekte laufen jetzt. Wenn das gelänge, wäre das auch ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich entscheiden wollen, ob sie als Fachkräfte zu uns nach Deutschland kommen. Wir sind übrigens im Wettbewerb. Auch Saudi-Arabien, China und viele andere Länder suchen mittlerweile etwa in Südostasien oder in anderen Bereichen nach Pflegefachkräften. Deswegen geht es natürlich darum, dort im Wettbewerb ein gutes Angebot zu machen. Übrigens: Im Vergleich zu anderen Ländern können wir dabei auch mit Arbeitsschutz- und Arbeitsrechtsstandards werben, die es vielleicht nicht in jedem Land auf der Welt gibt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Achim Kessler, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, uns erreichen sehr, sehr viele Nachfragen von Menschen, die sich sehr große Sorgen um ihre Angehörigen machen, die entweder zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen gepflegt werden. Sie selbst, aber auch das Robert-Koch-Institut und viele Expertinnen und Experten betonen immer wieder, dass ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen besonderen Gefährdungen unterliegen, und mindestens zwei der drei Todesfälle, die wir in Deutschland bisher haben, kommen ja aus diesem Personenkreis. Sie haben das heute Morgen auch im Gesundheitsausschuss noch mal bekräftigt, und gestern hat das Robert-Koch-Institut entsprechende Informationen an Pflegeeinrichtungen herausgegeben. Ich möchte gerne noch mal konkret nachfragen, welche konkreten Maßnahmen das Bundesministerium für Gesundheit oder auch der Krisenstab ergriffen haben, um die Ausrüstung mit Schutzmaterial in den Pflegeheimen zu sichern. Haben Sie dafür konkrete Abfragen gemacht, welchen Bedarf es gibt? Welche konkreten Festlegungen wurden getroffen, um ambulante Pflegedienste auszustatten? Denn es reicht in der zugespitzten Situation sicher nicht aus, allgemeine Appelle an die Familien zu richten, sich um ihre Angehörigen zu sorgen, oder Extrainformationen an Pflegeeinrichtungen zu schicken.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Zunächst einmal, Herr Kessler, würde ich den Effekt von individuellem Verhalten – das bekräftige ich, und da setze ich auch ein Stück weit auf das, was die Bürgerinnen und Bürger und Familienmitglieder untereinander tun – nicht unterschätzen. Das sind nicht nur Appelle, sondern ich meine das sehr, sehr ernst. Es geht um die Frage, wie wir miteinander umgehen: in der Familie, im Freundeskreis, im Verein, im Klub. Das macht einen Unterschied; das ist mir schon wichtig. Das läuft nicht nach dem Motto: Das können der Minister und die Regierung alles alleine. – Das können wir nur zusammen, wenn alle mitmachen. Zweiter Punkt. Wir haben schon sehr frühzeitig auch mit den Verbänden der Pflegeeinrichtungen und ‑institutionen das Gespräch gesucht. Es gibt Pandemiepläne auch für Pflegeeinrichtungen. Wir haben sehr dafür geworben, dass sie aktualisiert und frühzeitig angepasst werden. Natürlich ist bei den Beschaffungsvorhaben des Bundes für Masken zum Beispiel bei Schutzmasken auch der Pflegebereich mit im Blick. Ich glaube auch, dass wir – noch mal – die Kommunikation gegenüber Älteren insgesamt verstärken und sie gezielt ansprechen und erreichen müssen – über das hinaus, was wir aktuell schon machen –, um die Dinge einzuordnen und eben auch aktives Selbsthandeln möglich zu machen. Über die Hamsterkäufe, die wir teilweise sehen, sagen ja einige: „Das ist einfach eine ganz normale Handlung“, weil man sagt: Man muss doch was tun. – Wenn wir diesen Willen, was zu tun, in die richtigen Bahnen lenken, etwa auch im Umgang mit Älteren, dann kann das eben tatsächlich einen Unterschied machen. Das gilt für professionelle Pflege. Das gilt aber auch grundsätzlich im Umgang mit Älteren, Hochbetagten oder denjenigen, die Unterstützung brauchen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, wenn ich darf, hätte ich noch eine Nachfrage.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, gern.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Können Sie mir sagen, welche konkreten Planungen Sie haben, um erkranktes Personal in Pflegeeinrichtungen zu ersetzen? Man kann Pflegeeinrichtungen ja nicht einfach schließen, wenn das Personal erkrankt ist. Es muss ja Vorbereitungen oder Planungen geben, wie damit dann umzugehen ist.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts sehen natürlich ausdrücklich Ausnahmen gerade für das Aufrechterhalten des Betriebs in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vor. Wichtig ist, dass dann alle Maßnahmen ergriffen werden, um die Pflegekräfte, aber vor allem auch die pflegebedürftigen Patienten zu schützen. Das hieße – jetzt nicht bei jemandem, der positiv getestet worden ist, sondern da, wo es einen Verdacht gibt oder ein Kontakt bestanden hat –, mit Schutzmasken zu arbeiten, dort möglicherweise eine tägliche Testung zu machen. Solange diese Tests negativ ausfallen, kann dort weitergearbeitet werden. Die ersten Krankenhäuser machen das genau so oder mit ähnlichen Maßnahmen und können damit die Arbeitsfähigkeit erhalten. Am Ende muss man in der konkreten Situation vor Ort immer abwägen: Welche gesundheitlichen Folgen hätte und hat es, wenn die Pflegekräfte auch bei einem möglichen Verdacht auf eine Infektion arbeiten würden, in Relation dazu, dass sonst keine Pflegekräfte da wären, um pflegebedürftige oder kranke Menschen zu versorgen? Das ist am Ende natürlich in der jeweiligen und möglicherweise zugespitzten Situation regional, wie es auch in Heinsberg der Fall war und ist, anders abzuwägen als da, wo bisher nur relativ wenige Fälle – solche Regionen gibt es auch noch in Deutschland – aufgetreten sind.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, zunächst: Ich finde, dass Sie gemeinsam mit dem RKI in der ganzen Coronasituation wirklich sehr gut und besonnen vorgehen. ({0}) Meine Frage bezieht sich auf die Situation in der Geburtshilfe, wo es dringend Verbesserungen bedarf. Sie haben vor einem Jahr ein Eckpunktepapier zur Verbesserung in der Geburtshilfe vorgelegt. Das ist jetzt ein Jahr alt. Die Hebammenakademisierung ist endlich auf dem Weg. Aus unserer Sicht müssen da aber noch sehr viel mehr Maßnahmen getroffen werden, um die strukturellen Missstände in der Geburtshilfe, die ja hinreichend belegt und lange bekannt sind, anzugehen. Was planen Sie da ganz konkret?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin, erst mal danke schön. Das Dankeschön möchte ich an das ganze Haus und an die Kolleginnen und Kollegen, insbesondere auch aus dem Gesundheitsausschuss, zurückgeben. Natürlich gibt es immer was zu kritisieren und zu hinterfragen; das gehört zum normalen Geschäft dazu. Aber dass wir das insgesamt in einer Art und Weise miteinander machen, die, denke ich, den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung gibt und nicht für noch mehr Verwirrung sorgt, ist in einer solchen Lage sehr, sehr wichtig. Zur Frage Hebammenversorgung und Geburtshilfe haben wir ja ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das liegt nun vor. Wir haben mittlerweile – auch Herr Staatssekretär Gebhart – Gespräche mit den Verbänden geführt, um konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich bin bei Ihnen, dass jetzt nicht alles Weitere im Gesundheitswesen wegen dieser besonderen Coronaherausforderung stillstehen darf. Ich sage Ihnen ehrlicherweise aber auch, dass die Ressourcen des Hauses, und zwar auf allen Ebenen, und auch meine Ressourcen im Moment sehr stark auf die akute Lage fokussiert sind. Deswegen stehen andere Themen im Moment leicht zurück, was aber deren Wichtigkeit – dazu gehört auch dieses Thema – überhaupt keinen Abbruch tun soll. Wir werden, sobald wir die Kapazitäten haben, den Fokus wieder voll auf die anderen Dinge richten. Wir haben gerade Eckpunkte zu den Gesundheitsberufen beschlossen, Bund und Länder. Es gibt ganz viele Bereiche, in denen wir zusammenarbeiten wollen und müssen. Aber sehen Sie es mir nach, dass wir jetzt in dieser akuten Lage nicht alles gleichzeitig machen können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Antwort. – Erst mal finde ich es selbstverständlich, dass die Coronasituation und der Umgang damit natürlich höchste Priorität hat. Konkrete Nachfrage: Ganz zentral für die Verbesserung in der Geburtshilfe ist ja die Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen in den wesentlichen Phasen der Geburt, die den Müttern die Sicherheit gibt, dass sie gut unterstützt werden, so wie sie das benötigen. Was planen Sie in der Richtung, um diese Eins-zu-eins-Betreuung wirklich sicherzustellen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ob jetzt eins zu eins oder in einem ersten Schritt zwei zu eins, darüber kann man fachlich streiten. Aber ich wäre sehr gerne bereit, zügig zu Personalvorgaben in dem Bereich zu kommen. Wir haben nur, wenn ich das so formulieren darf, ein Henne-Ei-Problem, wenn mir die Hebammen und Hebammenverbände – wir haben ja ausgebildete Hebammen in Deutschland – sagen: „Wir würden in die Geburtshilfe zurückgehen, wenn ihr einen Betreuungsschlüssel von zwei zu eins oder eins zu eins habt“, ich ihn aber eigentlich erst dann festlegen kann, wenn sie zurückgekommen sind. Denn wenn wir für den nächsten Ersten des Monats eins zu eins oder zwei zu eins als Betreuungsschlüssel festschreiben würden, müssten in Deutschland flächendeckend Geburtshilfeeinrichtungen werdende Mütter abweisen, weil sie das Personal so schnell ja gar nicht hätten. Deswegen braucht es einen Plan, sozusagen einen Weg dahin, damit wir Personalvorgaben und tatsächlichen Personalbestand langsam nachziehen; denn wenn Sie Personalvorgaben einführen, ohne dass das Personal da ist, führt das erst mal zu einem Abbruch in der Versorgung. Das ist ja das, was wir an anderen Stellen auch erlebt haben. Genau über den Pfad, den Weg dahin, führen wir ja die Gespräche eben auch mit den Verbänden. Im Ziel sind wir uns also einig. Ich beschreibe Ihnen nur die Schwierigkeit auf dem Weg dahin. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Paul Podolay, AfD.

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Bundesminister, Sie haben uns bereits im Januar gesagt, dass Deutschland sehr gut auf das Coronavirus vorbereitet ist. Stimmt es, dass Ihr Kabinettskollege Herr Außenminister Maas im Februar Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und Sprühgeräte an China verschenkt hat? Laut einer Pressemitteilung in der „Zeit“ handelt es sich um zwei Hilfslieferungen von insgesamt 14 Tonnen Material im Wert von mehr als 150 000 Euro. Diese Materialien fehlen jetzt in Deutschland zur Bekämpfung der Epidemie. ({0}) Das nennen Sie gut vorbereitet, wenn wir jetzt keine Vorräte haben und nicht einmal Teststäbchen vorhanden sind? ({1})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Das sind ja zwei Facetten. Die eine ist: Wenn ich gesagt habe: „Das Gesundheitssystem insgesamt ist gut vorbereitet“ geht es zum Beispiel um die Infrastruktur, die wir haben. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass trotz aller Probleme, die wir haben und die wir täglich diskutieren, und auch trotz aller Unzulänglichkeiten, die im Alltag in einer solchen Phase entstehen, es wenige Länder auf der Welt gibt – bei dieser Einschätzung bleibe ich –, die überhaupt eine solche Infrastruktur, so viele Intensivbetten, so viele Fachkräfte, so viele Ärzte und Pflegekräfte haben wie wir. Sie können immer sagen, es sollte mehr sein; da bin ich dabei. Aber in Relation zu anderen, im Vergleich zu anderen Ländern halte ich uns weiterhin für durchaus gut vorbereitet. Was die Frage der Hilfe für China angeht, erleben wir übrigens gerade die Hilfsbereitschaft andersherum. Wir bekommen nämlich Angebote aus China an Deutschland und an andere europäische Länder, vor allem an die am meisten betroffenen, gerade auch an Italien, tatsächlich andersherum auszuhelfen und Masken und Gerät zur Verfügung zu stellen. Wir haben in einer schwierigen Lage China geholfen, insbesondere in der Provinz Hubei. Wir erleben gerade aber auch Angebote seitens Chinas, übrigens bis hin zu Beatmungsgeräten, die man zur Verfügung stellen will, um andersherum eben auch in einer schwierigen Lage zu helfen. Ich denke, das ist das, was internationale Kooperation auszeichnet, dass sie nicht einseitig ist, sondern dass man sich in schwieriger Lage aufeinander verlassen kann.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zusatzfrage? – Bitte.

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich habe noch eine Zusatzfrage. – Herr Minister, ich muss Ihnen sagen: Das Vorgehen der Bundesregierung ist weder konsequent noch kohärent. ({0}) Sie haben jetzt ein Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung beschlossen, während unsere Partner vor allem in der EU unsere Hilfe brauchen. Sie kritisieren das schon. ({1}) Wie rechtfertigen Sie solche Maßnahmen im Hinblick auf die Fehleinschätzung des Kollegen Maas? Offensichtlich ist die Bundeskanzlerin nicht mehr in der Lage, die Arbeit der Bundesregierung zu koordinieren. Keiner weiß, was der andere macht. ({2})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Erstens finde ich, wenn ich das sagen darf, dass Sie eine berechtigte Frage ansprechen, zweitens aber, dass sich die beiden Fragen, die Sie gestellt haben, eigentlich widersprechen, ({0}) weil Sie einerseits sagen, wir sollen China nicht helfen, und Sie andererseits sagen: Es muss doch möglich sein, in andere Länder zu exportieren. Ich finde die Frage sehr nachvollziehbar, was es mit der Exportbeschränkung – es ist kein Verbot – auf sich hat. Diese Frage kriegen wir ja auch von unseren europäischen Partnerländern gestellt. Ich bin auch da im täglichen Kontakt. Wir wollten unterbinden, dass Händler – das haben wir nämlich gesehen – mit Bargeldkoffern in Deutschland angefangen haben, die Maskenbestände aufzukaufen. Es ging nicht mehr danach, wo Bedarf besteht, sondern es ging danach, wer die meiste Kohle bar im Koffer dabei hat, um es einmal etwas salopp zu formulieren. Das ist aus meiner Sicht in dieser Lage kein gutes Prinzip. Deswegen haben wir durch Exportbeschränkungen das beendet. Das ist – das schreiben mir auch alle – vorbei, das passiert nicht mehr. Jetzt müssen wir zügig – diese Woche beginnen wir noch damit – in Einzelfallentscheidungen feststellen, an welche EU-Partner bestellte Masken tatsächlich auch ausgeliefert werden. Was Rumänien, die Schweiz und andere Partner angeht, wird es Lieferungen aus Deutschland für den jeweiligen Bedarf dieser Länder natürlich geben. Aber wir wissen eben, was passiert, und es entscheiden nicht die Geldkoffer darüber, was passiert. Ich halte das in dieser Lage für ein sehr verantwortungsvolles Vorgehen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Heike Baehrens, SPD, stellt die nächste Frage.

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, mit Respekt schauen wir auf das Krisenmanagement der Bundesregierung und auch darauf, dass Sie uns als Parlament so umfassend und immer unmittelbar über die Entwicklung in Sachen Coronavirus informieren. Ich möchte mit meiner Frage Ihre Aufmerksamkeit aber bewusst auf einen anderen Themenkreis lenken, bei dem wir auch dauerhaft vor großen Herausforderungen stehen, und das ist das Thema Pflege. Zunehmend fühlen sich die Pflegebedürftigen durch die Eigenanteile überlastet. Wir als SPD-Fraktion haben uns da positioniert: Wir möchten gerne, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen begrenzt werden, und plädieren auch dafür, den von Professor Rothgang vorgeschlagenen Sockel-Spitze-Tausch vorzunehmen. Mich interessiert nun: Wann wird das Gesundheitsministerium dazu einen Vorschlag auf den Tisch legen? Und geht er in die Richtung, wirklich die Pflegebedürftigen von den hohen Kosten zu entlasten? ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin Baehrens, vielen Dank. Das ist natürlich ein Thema, das uns in der Gesundheits- und Pflegepolitik in den letzten Monaten intensiv beschäftigt hat. Es soll mehr und nach unserem Willen grundsätzlich besser bezahlte Pflegekräfte geben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir in der Altenpflege in wenigen Schritten zu einem Mindestlohn von 2 600 Euro im Monat kommen. Viele liegen darüber, aber für viele Zigtausende, wenn nicht Hunderttausende Pflegekräfte in Deutschland ist das eine deutliche Verbesserung in jedem Monat. Wir alle wissen aber, dass das natürlich die Kosten erhöht und damit auch die Eigenanteile für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen und dass diese Erhöhung – wir haben immer gesagt, wir wollen einen fairen Ausgleich finden – nicht nur von denen zu schultern ist. Ich habe ja angekündigt – das ist auch weiterhin mein Ziel, vorausgesetzt, die weitere Entwicklung bindet nicht zu viele Ressourcen; das sage ich dazu –, zur Mitte des Jahres Ihnen, dem Parlament, und der Bundesregierung einen Vorschlag zu machen, wie wir zu einem faireren, besseren, planbaren Rahmenwerk bzw. Ausgleich zwischen dem kommen, was Pflegebedürftige und ihre Familien selbst zu tragen haben, und dem, was die Pflegeversicherung und damit die Solidargemeinschaft an Zuschuss und Unterstützung gibt. Ziel ist: Mitte des Jahres.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin?

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Spahn, Sie haben eben das Thema Mindestlohn im Zusammenhang mit Pflege erwähnt. Wir stehen ja im Bereich der Pflege vor großen Herausforderungen, um ausreichend Pflegepersonal zu gewinnen und insbesondere auch junge Menschen zu motivieren, den Pflegeberuf zu ergreifen. Wäre es da nicht wirklich viel sachgerechter, die Tarifbindung im Bereich der Pflege zu stärken und vor allem auch – das wird ja jetzt gerade geplant – einen Branchentarifvertrag in der Pflege vorzubereiten? Wenn wir diesen Weg beschreiten, können wir den jungen Menschen ein klares Signal geben, dass sie auch dauerhaft auf eine gute und verlässliche Entlohnung in der Pflege zählen können. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Zum Ersten, Frau Kollegin, halte ich gemeinsam mit Ihnen es für ein wichtiges Signal gerade an Auszubildende, dass wir seit dem 1. Januar nirgendwo in Deutschland mehr eine Schulgeldpflicht in der Pflege und regelhafte Ausbildungsvergütungen im ersten Jahr von über 1 000 Euro haben. Das kann sich, glaube ich, im Vergleich mit anderen Ausbildungsberufen durchaus sehen lassen. Ich bin bei Ihnen: In der Krankenpflege haben wir in aller Regel auch Tarifverträge, in den allermeisten Bereichen jedenfalls. In der Altenpflege ist das nicht so umfänglich gegeben. Deswegen ist der Mindestlohn erst mal die erste wichtige Maßnahme. Ich sage noch mal: Er bringt eine enorme Erhöhung mit sich, und zum ersten Mal gibt es einen Mindestlohn für Pflegefachkräfte. Das ist qualitativ ein wichtiger Schritt nach vorne. Das gilt auch für die Debatte über einen möglicherweise allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Entscheidend ist aber schon – und ich hoffe, da sind wir uns auch einig –, dass ein solcher möglicherweise für allgemeinverbindlich zu erklärender Tarifvertrag auch hinreichend große Bereiche in der Pflege abdeckt, um ihn anschließend für allgemeinverbindlich erklären zu können. Ich will das mal so formulieren: Ich bin mir bei der Zahl der Partner, die gerade über den Tarifvertrag verhandeln, nicht sicher, ob dadurch schon sichergestellt werden kann, dass der Tarifvertrag eine hinreichend große Breite und Verankerung hat und genug Pflegekräfte überhaupt umfasst, um ihn anschließend für allgemeinverbindlich erklären zu können. Stand heute bin ich mir da noch nicht sicher. Aber wir warten jetzt mal ab, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer dort zu einem Ergebnis kommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Katrin Helling-Plahr, FDP, stellt die nächste Frage.

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Minister, meine Frage bezieht sich auf die Thematik Sterbehilfe; denn auch die bewegt derzeit die Menschen. Sie haben das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte infolge eines Urteils aus dem Jahre 2017 angewiesen, Anträge auf Erlaubnis zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital abzulehnen und sich damit über diese höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun vor zwei Wochen das Recht auf selbstbestimmtes Sterben noch deutlicher betont als das Bundesverwaltungsgericht 2017. Wie halten Sie Ihre Anweisung noch für haltbar oder überhaupt für haltbar? Zum nichtbestehenden Anspruch gegenüber Dritten, den Sie an dieser Stelle immer wieder ins Feld führen, möchte ich sagen, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Bundesoberbehörde und damit kein Dritter ist, sondern mit diesen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts niedergelassene Ärzte bzw. Ärzte im Allgemeinen gemeint waren.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin Helling-Plahr, zum Ersten war das Bundesverwaltungsgerichtsurteil ein Urteil im Einzelfall, und das festzuhalten finde ich für die rechtliche Bewertung und die Frage, welches Handeln und welche Verpflichtung daraus folgt, sehr, sehr wichtig. Zweiter Teil. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist im Lichte eines Verbotes getroffen worden, und die Logik war: Weil es organisiert und geschäftsmäßig verboten ist, muss dann doch zumindest der Staat Abhilfe schaffen. – Das ist mehr oder weniger die Logik des Urteils. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist aber „organisiert“ und „geschäftsmäßig“ gar nicht mehr verboten. Das heißt, über die Frage, welche Notwendigkeit zur Abhilfeschaffung – weil man sonst überhaupt keinen Zugang zur Sterbehilfe hätte – überhaupt noch gegeben ist, nachdem das nach momentaner Rechtslage jetzt mehr oder weniger völlig ungeregelt ist, muss man auch reden. Die Geschäftsgrundlage des Bundesverwaltungsgerichtsurteils in seiner Logik ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seiner Logik eigentlich so gar nicht mehr gegeben, weil es ja jenseits des staatlichen Angebots Zugang gibt. Deswegen muss man das, finde ich, schon in Ruhe bewerten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin?

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beschäftigt sich mit der Auslegung einer Norm im Betäubungsmittelgesetz, und das Urteil sagt, dass diese Norm verfassungskonform auszulegen ist. Wieso sich daran jetzt etwas geändert haben soll durch das neuerliche Bundesverfassungsgerichtsurteil, erschließt sich mir so nicht. Was sich mir aber auch im Hinblick auf Ihr Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips nicht erschließt, ist: Ja, es ist eine Einzelfallrechtsprechung. Aber in gleichgelagerten Fällen – und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte prüft ja die einzelnen Fälle – und sehr ähnlich gelagerten Fällen müsste es meines Erachtens nach schon entsprechend verfahren. Das heißt: Wie ist Ihr Vorgehen mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz vereinbar?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Erster Teil. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil auch hergeleitet, dass wegen des Verbots der organisierten und/oder geschäftsmäßigen Sterbehilfe für jemanden, der für sich diese Entscheidung treffen und dabei Unterstützung haben will, das Angebot wegen des Verbots nicht da sei und es deswegen zumindest doch eine staatliche Behörde in begründeten Fällen möglich machen müsse. Wenn aber dieser Teil der Herleitung nicht mehr da ist, weil das Verbot seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von Aschermittwoch nicht mehr da ist, dann ist die Ausgangslage eine andere. Deswegen stellt sich schon die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht heute an der Stelle bei einer weiteren Einzelfallprüfung noch immer zu dem gleichen Ergebnis kommen würde. Das Zweite ist: Wenn Sie richtigerweise auf die Gewaltenteilung verweisen, ist zu sagen, dass generell das Bundesverfassungsgericht für die Frage zuständig ist, wie mit den gesetzlichen Grundlagen umzugehen ist, und für die Frage des Einzelfalles an dieser Stelle eben das Bundesverwaltungsgericht. Ich tue mich weiterhin mit der Tatsache schwer – um auch das zu sagen –, dass Beamte – wahrscheinlich nach politischer Anweisung des Ministers – darüber entscheiden, nach welchen Kriterien der Staat Medikamente zur Selbsttötung ausgeben darf oder nicht. So. Ich beziehe die Einzelfallentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts natürlich in meine Überlegung mit ein. Aber das ist was anderes als ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darauf lege ich schon wert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke, CDU/CSU.

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister Spahn, Sie haben eben zu Recht all die vielen Menschen in der Krankenversorgung, die im Moment großen Einsatz zeigen, erwähnt und ihnen gedankt. Dem möchte ich mich wirklich von Herzen anschließen. Diesen Dank möchte ich aber noch erweitern; denn auch Sie und Ihr Team im Ministerium, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im RKI und viele, viele mehr sind im Moment wirklich im Dauereinsatz. Auch dafür herzlichen Dank! ({0}) Am Wochenende haben Sie empfohlen – und Sie haben es jetzt noch mal gesagt –, Veranstaltungen mit mehr als 1 000 Teilnehmern abzusagen. Da würde ich ganz gerne wissen: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Die fachliche Einschätzung, Großveranstaltungen abzusagen, resultiert aus der Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland und in Europa. Es geht eben vor allem darum, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und dem Virus – um es mal so zu formulieren – möglichst wenig Chance auf Verbreitung zu geben. Und die Chance für das Virus, sich zu verbreiten, ist nun mal leichter, wenn viele Menschen eng beieinander sind oder überhaupt beieinander sind: wenn sie miteinander feiern, wenn sie sich in die Arme fallen, weil sie sich über etwas freuen, etwa über ein Tor, wenn sie auf dem Weg zu einer Großveranstaltung sind und anderes mehr. Deswegen ist die Frage, ob es in der jetzigen Phase, wo es darum geht, die Ausbreitung zu verlangsam und Ausbreitungsrisiken zu minimieren, dann nicht tatsächlich richtig ist, auf bestimmte Dinge zu verzichten – für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Daher kommt diese Empfehlung. Ich bin sehr dankbar, dass nahezu alle Bundesländer sie schon – in Teilen sogar polizeirechtlich – umgesetzt haben und sie damit auch Wirkung entfaltet. Ich will dazusagen: Für Veranstaltungen mit unter 1 000 Teilnehmern heißt das übrigens nicht, dass sie per se stattfinden sollten. Es macht schon einen Unterschied, ob das eine Tanzveranstaltung ist, wo man untereinander eng umschlungen ist, oder ob das eine Juraprüfung ist, wo die Teilnehmer während der Prüfungssituation einen Meter auseinander sitzen. Also: Es kommt schon auf die Gegebenheiten an, auch bei Veranstaltungen mit unter 1 000 Teilnehmern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Spahn, Sie haben ja vernünftigerweise empfohlen – darüber wurde gerade gesprochen –, Großveranstaltungen abzusagen. Nun gibt es ja eine Großveranstaltung, die gerade quer durch Europa zieht, und zwar die Militärübung Defender 2020. 37 000 Soldatinnen und Soldaten aus 19 Ländern ziehen quer durch Europa. Heute wurde in den Medien bekannt, dass der oberste General der US-Armee in Deutschland mit dem Coronavirus auf einer NATO-Konferenz in Kontakt gekommen ist. Finden Sie nicht, dass das Anlass sein sollte, diese Übung jetzt zu stoppen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin, die NATO-Übung Defender 2020 war durchaus Thema in den Gesprächen rund um die Kabinettssitzung, ebenso wie die Tatsache, dass alle NATO-Partner, und damit auch die Bundesrepublik Deutschland, natürlich mit einem großen Verantwortungsbewusstsein und Bewusstsein dafür, welche Infektionsrisiken damit verbunden sind, genau diese Übung in den Blick nehmen und sich die Frage stellen, welche Vorkehrungen zu treffen sind, um Infektionsrisiken zu minimieren.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Haben Sie eine Nachfrage?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich habe eine Nachfrage. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, gibt es denn eine direkte Informationskette zwischen dem US-Hauptquartier in Wiesbaden und dem Gesundheitsministerium?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Meinen Sie jetzt mit dem deutschen Gesundheitsministerium?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem deutschen Gesundheitsministerium, also zwischen Ihnen und der US-Armee.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Es gibt, wie Sie wahrscheinlich auch schon vor Ihrer Frage erwarteten, natürlich keine direkte tägliche Informationskette zwischen einer militärischen Institution der US-Streitkräfte und dem deutschen Bundesgesundheitsministerium.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich finde, dass man nicht oft genug betonen kann, dass die Art und Weise, wie wir mit dem Coronavirus in dieser Gesellschaft umgehen, eine Frage gesellschaftlicher Solidarität ist und gesellschaftlichen Zusammenhalt erfordert. Ich finde, dass uns das in ganz guter Weise gelingt. Das Robert-Koch-Institut und Sie als Ministerium informieren ja jeden Tag über die neueren Erkenntnisse, und es ist eben ganz bedeutsam, dass alle Menschen Zugang zu diesen Informationen finden können, um sich entsprechend zu informieren. Wir stellen einfach fest, dass es hier ein Defizit gibt. Die Informationen, die auf den Homepages zu finden sind, aber auch Pressekonferenzen wie die heute Morgen mit Ihnen und der Bundeskanzlerin werden nicht in Gebärdensprache übersetzt, sind also für gehörlose Menschen nicht zu verstehen und werden auch nicht untertitelt. Auch in leichter Sprache wären diese Informationen dringend notwendig. Was gedenken Sie zu tun, um dort die dringend nötige Abhilfe zu schaffen? ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir arbeiten daran, das auch in Gebärdensprache zu übersetzen bzw. gehörlosen Menschen Zugang möglich zu machen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich hätte mir auch eine etwas schnellere Umsetzung gewünscht. Aber Sie können mir glauben: Ich werde dem nicht nur wegen dieser Fragen jetzt, sondern ganz generell auch noch mal persönlich mit etwas mehr Nachdruck nachgehen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Frau Kollegin.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch mal vielen Dank, Herr Präsident. Und vielen Dank für die Antwort, Herr Minister. – Ich möchte dem noch mal ein bisschen Nachdruck verleihen. Angesichts der jetzigen Situation haben wir uns mal ein bisschen näher angeschaut, wie es um die Homepage des Bundesgesundheitsministeriums bestellt ist in Bezug auf Übersetzungen in Gebärdensprache. Es gibt genau ein Video, das so ein bisschen die Struktur des Ministeriums beschreibt, und zwei Texte in leichter Sprache, die sich sehr an der Oberfläche befinden. Das macht, glaube ich, deutlich, wie dringend hier der Handlungsbedarf ist. Es betrifft nämlich nicht nur eine kleine Personengruppe, sondern in Gänze sehr viele Menschen in diesem Land, die ein Recht darauf haben, an diese Informationen zu gelangen. Deswegen mit Nachdruck die Bitte, dass da schnell was passiert, und ich bitte um Ihre Antwort, ob Sie absehen können, wann das so weit sein wird.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich nehme das mit dem Nachdruck, mit dem Sie es hier richtigerweise angesprochen haben, mit und bemühe mich darum, dass wir das schnellstmöglich verbessern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Frau Kollegin Künast möchte dazu eine Nachfrage stellen. Das muss man übrigens, Frau Pantel, anzeigen, bevor die nächste Frage aufgerufen ist – für die nächste Regierungsbefragung.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Genau, ich habe es geschafft. – Kurze Nachfrage dazu: Wäre es nicht richtig – vielleicht überlegen Sie es in dem Kontext ja auch längst –, dass bei Ihren oder bei den täglichen Pressekonferenzen des RKI immer Gebärdendolmetscher danebenstehen, sodass sie im Bild erkennbar sind?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Auch diesen Hinweis nehme ich gerne mit.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dann stellt die nächste Frage der Kollege Uwe Witt, AfD.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister, vielen Dank für den hohen Informationsgrad, den Sie uns und den Bürgern hier im Lande zuteilwerden lassen. Meine Frage: Neueste Studien aus den USA deuten darauf hin, dass das Virus eben nicht, so wie Ihre Experten berechnet haben, in den Frühjahrs- und Sommermonaten regressiv – das heißt rückläufig – ist, sondern im Gegenteil: Es sieht so aus, als wenn es sich weiter kontinuierlich verbreitet. Inwieweit haben Sie diesbezüglich Ihre Strategie schon anpassen können?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Kollege Witt, Sie weisen zu Recht darauf hin, dass es seit einigen Tagen Erkenntnisse gibt, die gegen die bisherige, offenkundig ja auch nicht per se wissenschaftlich abschließend validierte Annahme sprechen, dass es im Frühjahr/Sommer zumindest Entlastung gibt, wie es bei anderen Erkältungsviren erwartbar gewesen wäre, weil dann möglicherweise das Verbreitungsgeschehen reduziert ist. Es gibt Hinweise darauf, und zwar wissenschaftlich hergeleitete, dass das nicht der Fall sein wird in dem Umfang; vielleicht leicht, aber nicht so, wie man es erwartet hätte. Das heißt natürlich, dass die Frage der Verlangsamung der Verbreitung noch mal eine viel größere Bedeutung bekommt. Danach richten wir auch unsere Maßnahmen aus. Wir können nicht davon ausgehen – Stand heute –, dass sich die Verbreitung abschwächt, was übrigens das Risiko gehabt hätte, dass die Verbreitungszahl im Herbst/Winter dafür umso stärker wieder steigt. Wir müssen vielmehr damit rechnen, dass die Verbreitung auch über die Sommermonate kontinuierlich weitergeht. Das erfordert natürlich eine Anpassung der Strategie, und daran arbeiten wir.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Ich hatte fast mit der Antwort gerechnet, daher eine weitere Frage. Die Auswirkung auf die Tourismusbranche in Deutschland wird natürlich katastrophal sein. Ich selber wohne in der Lübecker Bucht; da lebt jeder dritte Bewohner vom Tourismus. Der Umsatz, der normalerweise im Sommer entsteht, reicht eigentlich, um über die Wintermonate zu kommen. Der zu erwartende Umsatzausfall wird natürlich eine Katastrophe sein. Die bis jetzt verabschiedeten Mittel wie Kurzarbeitergeld greifen nicht, weil da ganz andere Beschäftigungsmodelle zum Tragen kommen. Wie wollen Sie verhindern, dass ganze Regionen, zumindest temporär, verarmen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich nehme, wie die Bundesregierung insgesamt, diesen Punkt sehr, sehr ernst. Wir sagen zu Recht aus meiner Sicht: Gesundheit geht vor, auch vor wirtschaftlichen Interessen. Das heißt aber nicht, dass wir die wirtschaftlichen Folgen der Entscheidung, die wir zum Gesundheitsschutz treffen, nicht in den Blick nehmen sollten oder müssen. Denn Gastronomie und Tourismus – Sie haben es angesprochen –, aber auch bestimmte Handwerksbetriebe, etwa Messebau und andere mehr, sind davon besonders betroffen. Wenn das länger als ein paar Wochen geht – und davon ist auszugehen; wir reden hier über Monate, möglicherweise bis zum Jahreswechsel –, dann braucht es natürlich zusätzliche Hilfe und andere Hilfsinstrumente als die, die wir im Moment haben, seien es Liquiditätshilfen seitens der KfW oder anderer Programme. Über genau diese Fragen befinden sich das Finanz- und das Wirtschaftsministerium wie auch die Bundesregierung insgesamt in Gesprächen. Am Freitagabend wird es noch mal ein Treffen mit der Bundeskanzlerin und Teilen der Bundesregierung mit Arbeitgebern und Gewerkschaften geben. Da wird das sicherlich auch ein großes Thema sein, wie auch morgen bei der Ministerpräsidentenkonferenz.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dazu möchte der Kollege Hoffmann, FDP, eine Zusatzfrage stellen.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, noch mal zum Thema Tourismus. Er lebt ja bei uns in der Region auch davon, dass in Sommersaison, aber auch schon in der Frühjahrssaison, Saisonarbeiter kommen; im Markgräflerland wird es zuerst warm, da beginnt die Frühjahrssaison zeitig. Die Betriebe müssen jetzt wissen: Können Saisonarbeiter aus anderen Staaten – da geht es hauptsächlich um Staaten in Südosteuropa – überhaupt noch einreisen? Die reisen ja auch oft durch Italien. Wie schätzen Sie die Lage ein? Wir müssen diesen Betrieben ja auch irgendwie ein bisschen Sicherheit geben. Daran anschließend: In der Landwirtschaft wird es ähnlich sein; auch da gibt es viele Saisonarbeitskräfte, die aus dem Ausland kommen. Die Betriebe sind nicht existenzfähig ohne diese Saisonarbeitskräfte. Können Sie sich vorstellen, dass in solchen Fällen Gesundheitszeugnisse vorgesehen werden, die an der deutschen Grenze akzeptiert werden?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Also, zum Ersten: Ich kann heute niemandem Sicherheit oder abschließende Prognosen darüber geben, wie sich das entwickelt. Zum Zweiten halte ich nichts von pauschalen Grenzschließungen – ich sage es noch einmal; ich weiß nicht, ob ich es hier oder vorhin im Ausschuss gesagt habe –; denn das Virus geht davon nicht weg. Sie müssen ja vor allem jede Maßnahme irgendwann beenden. In dem Moment – das wird man in China jetzt sehen –, wo sie eine Maßnahme beenden, kommt das Virus wieder. Es geht vielmehr darum, seine Ausbreitung zu verlangsamen. Deswegen würde ich empfehlen, dass Arbeitgeber, die jetzt schon diese Situation auf sich zukommen sehen, sich Gedanken darüber machen, wie sie mit Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen sicherstellen können, dass das saisonale Geschäft stattfinden kann und damit auch entsprechende Beschäftigungen und gleichzeitig alle Beteiligten bestmöglich geschützt sind. Das würde ich – Stand heute – empfehlen in Vorbereitung auf das, was kommen kann.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Claudia Moll, SPD, stellt die nächste Frage.

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Ich bin seit Beginn des Jahres in verschiedenen Pflegeeinrichtungen unterwegs gewesen, um mich über die Maßnahmen aus dem Pflegesofortprogramm zu informieren. Von fast allen Einrichtungen wurde mir gespiegelt, dass das Antragsverfahren zu aufwendig, zu kompliziert ist und häufig auch am Personalschlüssel scheitert. Sehen Sie hier noch gesetzgeberischen Handlungsbedarf, die Maßnahmen deutlich zu vereinfachen und zu entbürokratisieren?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin Moll, auch ich nehme diese Berichte wahr. Ich weiß natürlich, dass mit der politischen Aussage, die wir gemeinsam in der Koalition getätigt haben und insbesondere ich als Bundesminister, dass 13 000 zusätzliche Pflegekräftestellen geschaffen werden sollen, eine berechtigte Erwartungshaltung verbunden ist, dass sie auch zügig da sein werden – solange der Arbeitsmarkt es möglich macht; dieses Detail gehört natürlich auch dazu: Bei einem leergefegten Arbeitsmarkt war es erwartbar, dass es länger dauert als drei Monate, bis sie alle besetzt sind. Wir haben vor einigen Monaten schon einmal mit den Kassen und den Pflegeeinrichtungen die Antragsverfahren deutlich entbürokratisiert und vor allem vereinheitlicht; es gab nämlich ziemlich viele verschiedene in Deutschland. Wenn Sie sagen, es funktioniere immer noch nicht so gut – zumindest mal in der Handhabung, nicht in Bezug auf die Situation am Arbeitsmarkt –, dann nehme ich das auch gerne noch mal mit. Wenn es Verbesserungsbedarf rechtlicher Art gibt, dann freue ich mich sehr über die Unterstützung Ihrer Fraktion im Hinblick auf die Vereinfachung der Voraussetzungen, um Stellen zu besetzen.

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. – Ich habe noch eine Nachfrage. Von verschiedenen Seiten wird empfohlen, den Personalschlüssel in der stationären Altenpflege zu reformieren. Wie stehen Sie Modellprojekten gegenüber, die nicht nur auf die Pflegegrade, sondern auch auf den tatsächlichen Aufwand abzielen, und welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, diese schnellstmöglich umzusetzen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Wir haben ja, Frau Kollegin Moll, mit dem Gutachten, das wir gerade von Herrn Professor Rothgang und seinem Team bekommen haben, zum ersten Mal eine richtige Grundlage für Personalbemessung in der stationären Altenpflege. Sie sind dort über Monate und Jahre vor Ort wirklich hinterhergegangen und haben im Alltag geschaut, welche Pflegebedarfe, übrigens auch welche nicht erfüllten Pflegebedarfe es möglicherweise gibt, um daraus eine Personalbemessung für die stationäre Altenpflege zu entwickeln. Dabei ist das Ergebnis, dass man nicht starre Vorgaben haben sollte, wie die meisten Bundesländer sie im Moment mit einer etwa 50-prozentigen Fachkraftquote haben, sondern dass es sinnvoll ist, keine starre Vorgabe – je nachdem wie die Pflegebedürftigkeit ist – zu machen, sondern verstärkt einen Pflegekräftemix zu haben. Ein Vorschlag ist ja, dass wir zusätzliche Pflegeassistenzkräfte einsetzen, um die Personalsituation in der Pflege zu verbessern. Das heißt aber formal: niedrigerer Pflegekraftschlüssel, dafür aber deutlich mehr Personal in den Einrichtungen. Das wird jetzt weiter umgesetzt und in der Praxis erprobt. Wir haben in der Bundesregierung in der Konzertierten Aktion Pflege mit den Verbänden einen Weg vereinbart. Mein Ziel wäre es, tatsächlich Schritt für Schritt zu genau dieser Personalbemessung zu kommen. Das ist das gleiche Thema wie bei den Hebammen: Es gelingt halt nur dann gut, wenn das Personal parallel am Arbeitsmarkt überhaupt verfügbar ist. Personalbemessung bringt dann nichts, wenn das, was an zusätzlichen Stellen entsteht und sogar finanziert ist, nicht besetzt werden kann. Deswegen müssen wir die anderen Anstrengungen parallel machen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Nicole Westig, FDP.

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Minister, der weitaus größte Teil der Menschen mit Pflegebedarf, nämlich 75 Prozent, wird von Angehörigen in häuslicher Umgebung betreut. Diese pflegenden Angehörigen brauchen dringend mehr Unterstützung. Bei allem Verständnis dafür, dass jetzt die Coronakrise Ressourcen bindet: Aber diese große Gruppe der Bevölkerung ist physisch und psychisch enormen Belastungen ausgesetzt. Wie wollen Sie das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel von mehr Unterstützung pflegender Angehöriger erreichen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Zum Ersten, Frau Kollegin Westig, haben wir, der Deutsche Bundestag, in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren schon eine Reihe von Maßnahmen und Verbesserungen beschlossen, um gerade die pflegenden Angehörigen und die Pflegebedürftigen in der ambulanten Pflege – das betrifft die Tagespflege, Nachtpflege, Verhinderungspflege und die Möglichkeit, Haushaltshilfen zu finanzieren – zu unterstützen. Nicht nur die Pflege – „nur“ in Anführungszeichen –, sondern eben auch andere unterstützende Maßnahmen sind zur Entlastung ganz wichtig gewesen. Aber, klar haben Sie recht: Mit der herausfordernden Situation im Alltag sind Familien weiterhin jeden Tag konfrontiert. Die sozialrechtliche Absicherung ist im Übrigen auch verbessert worden. Mein Ziel ist es, zu schauen, wie wir das alles einfacher gestalten können. Das gilt im Übrigen auch für die Frage, wie man mehr Flexibilität und Übersichtlichkeit bekommt. Es gibt ja wahnsinnig viel Unterstützung. Viele sagen aber: „Ich blicke bei diesen ganzen Bausteinen nicht mehr durch“; denn es ist mittlerweile sehr kompliziert geworden, das alles abzurufen bzw. in Anspruch zu nehmen. Ich würde das gerne zu dem Teil des Reformwerkes zur Pflegefinanzierung werden lassen, das ich vorhin auf eine Frage hin schon angekündigt habe. Ich möchte, dass es ein Paket gibt zur Pflegefinanzierung, zu Eigenanteilen und anderem mehr und gleichzeitig zu der Frage, wie wir zu Verbesserungen und Erleichterungen bei der Inanspruchnahme von Unterstützung, gerade auch zu Hause, kommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Nachfrage, Frau Kollegin?

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, noch eine Nachfrage. – Wir haben ja dieses Thema hier im Parlament vor Weihnachten diskutiert. Da liegen die Vorschläge auf dem Tisch, gerade für eine Entbürokratisierung beispielsweise beim Entlastungsbudget. Könnte man das nicht doch jetzt ganz schnell umsetzen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin, ich lege großen Wert darauf, dass wir das im Zusammenspiel mit den finanziellen Möglichkeiten, die wir haben, machen. Bis jetzt habe ich die FDP-Fraktion noch nicht als größte Unterstützerin einer Beitragssatzerhöhung wahrgenommen. ({0}) – Ja, das muss man ja auch mal erwähnen. – Wenn wir sagen: „Wir wollen Leistungen verbessern oder leichter abrufbar machen“, dann müssen wir auch sagen, dass das Geld kostet. Das Geld muss im Zweifel entweder durch Steuermittel oder durch Beitragsmittel, also durch die Beitragszahler, aufgebracht werden. Deswegen freue ich mich, wenn Sie mich darin unterstützen, zu einer weiteren Verbesserung zu kommen. Wenn es dann darum geht, das zu finanzieren, würde ich mich auch über die Unterstützung Ihrer Fraktion freuen. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege Rudolf Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, für die Durchführung der Coronavirusdiagnostik braucht man Entnahmeröhrchen, man braucht Laborkapazitäten, man braucht Reagenzien. Jetzt hören wir aus Nachbarländern, dass dort zu wenige Materialien und zu geringe Laborkapazitäten zur Verfügung stehen, um alle notwendigen Tests durchzuführen. Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland ein, und wie sollen wir mit den Wünschen europäischer Nachbarn, auch in der EU, zur Beseitigung von Engpässen umgehen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Kollege Henke, das ist die Gelegenheit, noch mal darauf hinzuweisen, wo das deutsche Gesundheitssystem tatsächlich sehr stark ist, nämlich unter anderem bei den Laborkapazitäten. Es gibt angesichts dessen, was wir bisher weltweit an Ausbruchsgeschehen sehen, außer Südkorea im Grunde kein anderes Land, das so frühzeitig so umfassend hat testen können. Viele andere Länder – selbst G-7-Partnerländer – haben weiterhin nur ein oder zwei Institutionen im Land, die überhaupt Tests durchführen. Wir haben flächendeckend Tests verfügbar, auch durch die Laborkapazitäten der vertragsärztlichen ambulanten Versorgung. Das heißt eben auch, dass wir viel früher erkennen konnten, was sich in Deutschland entwickelt. Wenn ich manchmal lese, wir wären irgendwie eine Woche hinter Italien, dann muss ich sagen: Wir müssen davon ausgehen – das sagen uns die Experten –, dass es in Italien durchaus viel Ausbruchsgeschehen gegeben hat, bevor es erkannt wurde. Wir haben durch unsere Labor- und Testkapazitäten und die Tatsache, dass die Tests sehr frühzeitig von den Kassen bezahlt wurden, sehr frühzeitig erkennen können, wie das Infektionsgeschehen in Deutschland ist, und deswegen eine etwas andere Ausgangslage. Das ist eine Stärke unseres Systems. Wir haben auch viele Testkits, und da, wo Länder in Europa Hilfebedarf haben, unterstützen wir sie auch – auch über Europa hinaus.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Dazu wollen Sie direkt eine Nachfrage stellen? – Bitte sehr, Frau Pantel.

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Meine Nachfrage gilt folgendem Punkt: Wie sieht das System in Europa überhaupt aus? Wir wissen, dass Norditalien jetzt erhebliche Schwierigkeiten hat, was den Bereich Narkose und andere Bereiche der Intensivmedizin und die entsprechenden Geräte angeht. Gibt es eine Art Taskforce in Europa, gerade für Corona, nach dem Motto: „Mit dem, was wir im Moment selber nicht brauchen, und dort, wo wir nicht so sehr betroffen sind, helfen wir anderen“?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich habe gleich im Anschluss an die Befragung um 15 Uhr wieder eine Videokonferenz mit europäischen Kollegen, unter anderem auch dem italienischen. Wir tauschen uns oft täglich sehr intensiv bilateral, multilateral über die jeweiligen Entwicklungen und Lagen aus, weil wir wissen, dass jede Entscheidung von einem von uns oder einer Regierung auch Folgen für die anderen hat, und weil wir natürlich auch helfen wollen, wo wir können. Ich sage Ihnen eines: Es ist natürlich unendlich viel leichter, da zu helfen, wo wir selbst deutliche Überkapazitäten haben, etwa bei Testkits. Es ist schwerer – das gilt ja für alle Länder in der EU –, dort zu helfen, wo wir wahrscheinlich alle gleichzeitig einem großen Bedarf entgegensehen. Das betrifft zum Beispiel die intensivmedizinische Kapazität. Ich möchte gerne helfen. Aber wir müssen das in einem Rahmen machen, in dem sichergestellt ist, dass wir dann, wenn wir – es ist ja absehbar, dass das zumindest passieren kann – einen großen Bedarf haben, tatsächlich auch bestmöglich versorgen können. Es ist ein schwerer Spagat. Ich kann Ihnen sagen: Die Italiener haben vor allem unsere Sympathie und unser Mitgefühl verdient. Die Situation, vor der die Kollegen dort gerade stehen, ist eine sehr herausfordernde. Ich will das nur mal sagen. Sie finden mittlerweile Situationen in bestimmten Bereichen in der Intensivmedizin vor, wo sie nach Vorerkrankung und Alter darüber entscheiden müssen: Wer bekommt jetzt Beatmung und wer nicht? Das sind sehr konkrete, sehr schwierige Entscheidungen. Erst mal möchte ich, dass wir da helfen, wo wir helfen können, und gleichzeitig möchte ich alles tun, gemeinsam mit Ihnen, dass wir selbst nicht in diese Lage kommen. ({0}) Und da bin ich wieder bei dem, was ich eingangs gesagt habe: Da kann jeder mithelfen durch eigenes, persönliches Verhalten, indem wir es diesem Virus so schwer wie möglich machen, sich zu verbreiten. Darum geht es. Wenn wir das gut schaffen, dann vermeiden wir solche Lagen. Aber ich sage auch dazu: Garantieren kann ich es Ihnen nicht.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Herr Minister. – Dr. Schinnenburg.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist gut, dass wir genügend Laborkapazitäten haben, aber ich bekomme immer wieder Meldungen von Bürgern, dass sie gerne einen Test machen würden, aber das sehr restriktiv gehandhabt wird. Deshalb meine Frage: Wie werden Sie sicherstellen, dass jeder, der möchte, sich kostenlos und unbürokratisch testen lassen kann? ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Dr. Schinnenburg, „jeder, der will“ ist aus meiner Sicht nicht die richtige Formulierung. Wenn jemand sagt: „Ich möchte jeden Tag, nur damit ich mich besser fühle, getestet werden“, dann muss ich sagen: So sollten wir nicht mit dieser Ressource umgehen. Vielmehr muss da, wo ein guter Grund besteht und wo ein Arzt oder ein Öffentlicher Gesundheitsdienst sagt: „Hier macht ein Test Sinn“, der Test bezahlt werden und schnell verfügbar sein. Das ist er seit einigen Wochen. Ja, ich kenne auch die Situationsbeschreibung, dass mancher ein, zwei Tage auf die Testung wartet, weil sie nicht sofort verfügbar ist. Wenn man symptomfrei zu Hause ist und zwei Tage auf einen Test warten muss, dann ist das zwar nicht schön, aber es ist keine Gefährdung oder sonst irgendetwas. Deswegen müssen wir alle diese Stresssituationen, die entstehen, richtig einordnen und einander unter Stress vertrauen lernen. Es gibt in einer solchen Lage, in der gleichzeitig viel passiert, oft Situationen, in denen es nicht so läuft, wie es soll. Die entscheidende Frage dabei ist aber: Kommt deswegen jemand in Gefahr? Wenn jemand Symptome aufweist, Probleme hat, Lebensgefahr besteht, dann wird natürlich sofort geholfen. Wenn aber jemand symptomfrei und ansonsten putzmunter zu Hause ist und unter Quarantäne bleibt, weil er zum Beispiel aus Italien zurückkommt und, was ich verstehen kann, gerne einen Test hätte und dieser Test erst drei Tage später durchgeführt wird, dann ist das nicht die bestmögliche Situation, aber es ist auch nichts Schlimmes. Ich finde, wir müssen bei allem Verständnis für die Sorgen und die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, versuchen, die Ressourcen auf die richtigen Bedarfe zu lenken. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Die nächste Frage stellt die Kollegin Sylvia Gabelmann, Fraktion Die Linke.

Sylvia Gabelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004723, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich habe eine Frage zur Situation der Vor-Ort-Apotheken. Deren wichtige Rolle in der Arzneimittelversorgung wird auch in Zeiten von Corona besonders deutlich. Meine Frage ist: Inwieweit kann die Bundesregierung Medienberichte bestätigen, denen zufolge sie plant, das mit dem Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken geplante Boniverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel in der GKV-Versorgung auch ohne abschließende Beurteilung durch die EU-Kommission in den Bundestag einzubringen? Wie beurteilt die Bundesregierung vorläufige oder inoffizielle Rückmeldungen aus EU-Kreisen zur Vereinbarkeit dieser Regelung mit EU-Recht?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich bin mir ziemlich sicher – ich hätte sie ja selbst getätigt –, dass es derartige Aussagen seitens der Bundesregierung nicht gibt. Zum Zweiten bewerte ich informelle Gespräche mit der EU-Kommission nicht. Mir geht es darum, Ihnen am Ende ein Ergebnis präsentieren zu können.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Die letzte Frage stellt die Kollegin Kordula Schulz-Asche von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ich fand es sehr wichtig, dass Sie in Ihren einleitenden Worten auch die besondere Bedeutung des Pflegepersonals in dieser Situation, die wir gerade haben, betont haben. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass uns der akute Personalmangel in diesem Bereich auch vorher schon bekannt war. Deswegen haben Sie auch ein Gutachten bei der Universität Bremen in Auftrag gegeben, damit wir ein Personalbemessungsinstrument für stationäre Pflegeeinrichtungen haben. Daher möchte ich Sie fragen: Welche Einführungsschritte sehen Sie vor? Welche gesetzlichen Grundlagen müssen geschaffen werden, um diese Personalbemessungsinstrumente möglichst schnell in die Praxis zu bringen?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

In Ergänzung zu dem, was ich gerade Frau Kollegin Moll geantwortet habe, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass es unser Herangehen ist, dass die neue Personalbemessung in der Praxis, wie vereinbart, in ausgewählten Einrichtungen getestet wird. Professor Rothgang und andere begleiten den Einsatz dieses Instrumentes weiter, um es auf Basis des entsprechenden Gutachtens praxistauglicher zu machen. Parallel dazu reden wir in der Konzertierten Aktion Pflege mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und allen anderen Beteiligten darüber, was gesetzgeberisch, aber auch praktisch oder im Rahmen der Selbstverwaltung zu tun ist. Wir reden übrigens auch mit den Ländern, weil Personalbemessung in der stationären Altenpflege zuvörderst auch eine Aufgabe der Landesgesetzgebung ist. Hier sind wir im intensiven Austausch. Ich sage noch einmal: Sie können Personalbemessungsinstrumente in der momentanen Arbeitsmarktlage im Gesundheitswesen nur schrittweise einführen. Die schönste Personalbemessung bringt nichts, wenn die Stellen nicht besetzt werden können, nicht weil Geld fehlt, sondern weil es kein Personal auf dem Arbeitsmarkt gibt. Deswegen müssen wir das Schritt für Schritt machen. Das ist das Ziel.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Eine Nachfrage?

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, eine ganz kurze Nachfrage: Glauben Sie denn, dass die ersten Schritte der Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode möglich sein werden?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Das wäre jedenfalls mein Ziel.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Die allerletzte Zusatzfrage stellt jetzt der Kollege Frömming, AfD.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Minister, zur Situation an unseren Kliniken: Uns erreichen ja dramatische Berichte aus Italien; dort erzählen Ärzte, wie es bei ihnen an den Kliniken zugeht. Bei uns ist die Situation derzeit zum Glück noch nicht so dramatisch; aber wir sollten sicherlich Vorsorge treffen. Sie haben eben ausgeführt, dass es sinnvoll ist, Großveranstaltungen abzusagen. Ich möchte Sie fragen: Wäre es nicht auch richtig, über flächendeckende Schulschließungen in Deutschland nachzudenken? Denn auch Schulen sind ja tägliche Großveranstaltungen, wo es zu zahlreichen Körperkontakten kommt. Wir hätten dadurch Zeit gewonnen und könnten die möglicherweise bald fehlenden Kapazitäten an den Kliniken aufbauen.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich verstehe, dass es diese Frage und die Debatte darüber gibt. Ich bin da nur zurückhaltend. Warum? Weil sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft der Verzicht auf Großveranstaltungen unendlich viel leichter zu verkraften ist als der Verzicht auf Kindergarten und Schule. Für die Pflegekräfte, Ärzte, Polizisten, Busfahrer, für viele, die das öffentliche Leben aufrechterhalten, sind es wahnsinnig tiefe Einschnitte, wenn die Schulen geschlossen werden und die Kinder somit keine Betreuung haben, und die Frage ist, ob sie dann überhaupt noch arbeiten gehen können. Das ist sozusagen das, was das fürs praktische Leben bedeutet. Aber auch aus Infektionsminimierungssicht ist zu sagen: Wenn die Eltern dann für die Betreuung auf die Großeltern ausweichen – und das sind ja die praktischen Lösungen, die man dann sucht; denn die Frage ist, wo man die Kinder unterbringt, wenn sie auf einmal nicht mehr in die Kita gehen können –, dann ist das gerade mit Blick auf die Frage, wo wir das größte Risiko haben, glaube ich, nicht die beste Variante. Das gilt auch für die Lösung, in der Nachbarschaft eine Kleingruppe zu bilden, zu zehnt irgendwo zu Hause, weil man sich irgendwie organisieren muss. Ich nehme das ernst. Ich bin auch dafür, dass man regional – wie in Heinsberg, also dort, wo wir Ausbruchsgeschehen sehen –, sobald sich etwas entwickelt, Einrichtungen schließt. So ist es ja auch geschehen, nachdem Schüler aus Südtirol und anderen Regionen Italiens zurückgekehrt sind. Dort hat man gesagt: Im Zweifel sollen diese Schüler nicht am Unterricht teilnehmen. – Aber flächendeckend Schulen zu schließen, hat deutlich weiter gehende Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche, öffentliche Leben in Deutschland als die Absage von Großveranstaltungen. Das gilt auch mit Blick auf die medizinische Versorgung. Denn man kann darüber streiten, ob es die Infektionsrisiken an anderer Stelle nicht sogar noch erhöht.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Herr Minister. – Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regierungskoalition wünscht sich einen noch größeren Bundestag. ({0}) Dies gilt auch für die kleine Koalition zwischen Liberalen, Grünen und Zetkin-Kommunisten. Die einen wollen dieses Ziel durch Nichtstun erreichen, die anderen, indem sie Alibianträge stellen, die nun nicht mehr umgesetzt werden können. ({1}) Bei der gegebenen demoskopischen Lage wird der Bundestag 2021 etwa 800 Abgeordnete haben, obwohl er nach geltendem Wahlrecht nur 598 haben soll. Viele Parteien können also die nächste Wahl verlieren, ohne Abgeordnetensitze einzubüßen. Dass sich die Parteien aufgrund von Unfähigkeit und Unwilligkeit in diese komfortable Lage bringen, wird von den Stimmbürgern als Provokation empfunden. Meine Damen und Herren, Sie schüren also die Parteien- und die Demokratieverdrossenheit, gegen die zu kämpfen Sie vorgeben. ({2}) Wir haben in der Schäuble-Kommission anderthalb Jahre über eine Wahlrechtsreform diskutiert. Das Problem war diagnostiziert. Ein markanter Wissenschaftler nannte es den adipösen Bundestag. Eine Lösung war nicht zu erzielen, weil die Sorge um das eigene Hemd den handelnden Personen wichtiger war als der Rock des gemeinen Wohls. Auf diese Gefahr wiesen die 100 Staatsrechtslehrer hin, die in einem offenen Brief im September 2019 formuliert haben – ich zitiere –: In Sorge um das Ansehen der Demokratie appellieren wir deshalb an den Deutschen Bundestag, die Reform des Bundeswahlgesetzes alsbald in Angriff zu nehmen. Das derzeitige Wahlrecht, so schreiben sie, „als wichtigste demokratische Äußerungsform“ habe „paradoxerweise einen geradezu entdemokratisierenden Effekt“. Die Staatsrechtslehrer sind klug und haben recht. ({3}) Wir führen uns vor Augen: Die CSU, die mit 6,2 Prozent kleinste, jedoch enorm direktmandatsfähige Partei, hat mit ihren sieben Überhangmandaten 2017 über 100 Ausgleichsmandate ausgelöst. Das ist eine Hebelwirkung von bis zu 20 Ausgleichsmandaten pro errungenem Überhangmandat. Die 36 Überhangmandate der CDU waren also für das Gesamtergebnis bedeutungslos. Dies beweist, was jedem Experten klar ist: dass die vom Bundesverfassungsgericht erzwungene Ausgleichsmandatsregelung für die Wahlen ab 2013 den relativen Mandatsvorteil von Überhangmandaten beseitigt und lediglich eine Vergrößerung des Bundestages herbeigeführt hat. Auch das ist in der Literatur einhellige Meinung. Wenn man zudem bedenkt, dass viele dieser Überhangmandate mit circa einem Drittel der Wahlkreisstimmen oder noch weniger errungen werden, dann erkennt man, dass das keine demokratische Weihestunde ist; denn rund zwei Drittel der Wähler haben den Kandidaten abgelehnt. ({4}) In Kenntnis dieser Zusammenhänge hatte der AfD-Vertreter in der Reformkommission vor Weihnachten 2018 ein Reformkonzept eingebracht, das die Zahl der Direktmandate je Bundesland und Partei auf die Zahl beschränkt, welche dem jeweiligen Wahlvorschlag nach Zweitstimmen maximal zusteht. Dies hat nichts mit der Aberkennung von errungenen Direktmandaten zu tun, wie eilfertig eingewendet wurde, sondern mit der Errichtung einer zusätzlichen Bedingung für den Gewinn eines Direktmandates. Das ist eine Frage der einfachen Logik. Herr Kollege, da brauchen Sie gar nicht mit dem Kopf zu schütteln; ({5}) das ist so. Zwei und zwei ist vier, ziemlich genau. Im Oktober 2019 haben wir dieses Konzept förmlich als Antrag im Bundestag eingebracht, und zwar mit dem Hinweis, dass die Zeit für eine Reform mit Wirkung für 2021 knapp zu werden droht. Im November hat dann die kleine Koalition ihren unausgegorenen Vorschlag der Erhöhung der gesetzlichen Mandatszahl auf 630 bei gleichzeitiger Verringerung der Wahlkreise auf 250 eingebracht – eine sehr skurrile Veranstaltung. Dem haben wir einen Gesetzentwurf zur Verkürzung der Frist zur Kandidatenaufstellung beigefügt, um bis September 2020 Zeit zu gewinnen für eine Reformgesetzgebung. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz einfaches und kleines Spiel, das für uns alle Möglichkeiten zum Handeln lässt. ({6}) Die Entscheidung über den Antrag wurde im Innenausschuss mehrfach verschoben, um ihn schließlich am 4. März abzulehnen. Da am 25. März, also in 14 Tagen, die Möglichkeit zur Kandidatenaufstellung nach geltendem Wahlrecht beginnt, ({7}) ist der Plan aller anderen Parteien klar, und er ist aufgegangen: Sie wollen den Bundestag mit 800 Abgeordneten. Dieses erneute politische Versagen in einer bedeutenden Frage dieser Demokratie wird im Protokoll der Geschichte vermerkt sein. ({8}) Das amerikanische Abgeordnetenhaus hat 435 Volksvertreter, und die USA haben ziemlich genau viermal so viele Einwohner wie Deutschland. Im letzten Jahr haben die Kosten des Bundestages die Milliardengrenze überschritten – eine Rekordmarke. Jedes Mandat bringt nach den jetzigen Regelungen 750 000 Euro direkte Kosten pro Jahr mit sich. Bei 200 Mandaten über die im Gesetz angestrebte Zahl hinaus handelt es sich um 150 Millionen Euro pro Jahr. Für die nächste Legislaturperiode geht es also um mehr als eine halbe Milliarde Euro. Wir wünschen Ihnen ein gutes Gewissen bei Ihrer Haltung in dieser Frage. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Ansgar Heveling. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise gilt: Repetitio est mater studiorum. – Aber ob die ständige Wiederholung von Aktuellen Stunden zum Wahlrecht wirklich hilft, eine Lösung zu finden, das möchte ich doch bezweifeln. ({0}) Ja, das Thema Wahlrechtsreform ist aktuell; es bedarf einer Lösung. Dessen sind sich hier im Haus allerdings auch alle bewusst. ({1}) Ob es dann aber sinnvoll ist, sich in dieser Situation gegenseitig in einer Aktuellen Stunde vorzuführen, ({2}) zumal wenn sich die Fraktionen doch miteinander im Gespräch befinden, ist für mich allerdings fraglich. Der Gewinn für die Sache, nämlich zu einer Lösung zu kommen, erscheint mir durch eine Debatte in der Aktuellen Stunde doch nur minimal. Aber das kennen wir hier im Parlament von der AfD ja zur Genüge: Auf die Lösung kommt es im Zweifel gar nicht an. ({3}) Hauptsache, man hat mal wieder gezündelt und versucht, unsere parlamentarische Demokratie insgesamt zu diskreditieren. ({4}) Und ja, allen ist klar: Die Zeit drängt. ({5}) Dass allerdings überhaupt gar keine Zeit mehr für eine Lösung sei, wie wir heute in der „Rheinischen Post“ lesen durften, dem möchte ich an dieser Stelle doch energisch widersprechen. Das Zeitfenster mag sich schließen, zu ist es allerdings noch nicht. ({6}) Aber warum beschließt der Bundestag nicht einfach eine Obergrenze? Das klingt einfach, und alle müssten zufrieden sein. Aber so verlockend Obergrenzenmodelle klingen, so klar ist, dass sie ohne Weiteres nicht funktionieren können, weil ihnen die Gefahr der Verfassungswidrigkeit innewohnt. Es bleibt das Risiko, dass viel zu viele unausgeglichene Mandate im Überhang stehen bleiben. ({7}) Also funktionieren solche Modelle nur in Verbindung mit weiteren Maßnahmen. Ein Vorschlag ist hierbei das Kappen von Direktmandaten. Aber auch hier ist fraglich, ob eine solche Lösung überhaupt verfassungskonform ist. Mir macht sie aber auch aus grundlegenden demokratischen Überlegungen Bauchschmerzen. Was denke ich als Wähler, wenn derjenige, dem ich meine Stimme im Wahlkreis gegeben habe und dem ich zum Sieg verholfen habe, am Ende aufgrund von Faktoren außerhalb des Wahlkreises leer ausgeht? ({8}) Dann ist also meine Stimme nichts wert. Wenn man unbedingt Wahlverdrossenheit schaffen will, wird das mit einer solchen Lösung gewiss gelingen. ({9}) Denn es kann doch nicht sein, dass der Sieger vom Wahlabend am nächsten Morgen zum Verlierer wird. ({10}) Und es wäre ein klarer Bruch mit einem festen Grundsatz der personalisierten Verhältniswahl: Wer einen Wahlkreis gewonnen hat, hat einen Sitz im Parlament. Eine solche Lösung wäre damit der Einstieg aus dem Ausstieg aus dem personalisierten Verhältniswahlrecht. Wenn man den Bekundungen nicht nur einzelner, sondern fast aller Fraktionen hier im Hause glauben darf, will eine große Mehrheit aus diesem System aber auch nicht aussteigen. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir eine Lösung im System finden müssen. Es geht darum, die Ursachen der Vergrößerung des Bundestages anzugehen und, wie es der Kollege Ruppert zutreffend formuliert hat, nicht nur eine Sicherung der Unfallstelle zu betreiben. Ich will nicht verhehlen, dass der Gesetzentwurf der Oppositionsfraktionen hierzu im Ansatz die richtigen Stellschrauben aufzeigt: ({11}) die Zahl der Wahlkreise und das mathematische Verfahren der Zuteilung der Mandate auf die Bundesländer. Das sind doch zwei der drei Stellschrauben, mit denen man auch das personalisierte Verhältniswahlrecht fit für die Zukunft machen kann. Und ich füge hinzu: Auch eine verfassungsrechtlich zulässige Zahl von nicht ausgeglichenen Überhangmandaten gehört zu den Überlegungen dazu. Eine Verknüpfung dieser drei Elemente dann aber in maßvoller Weise in jeder Hinsicht, also eine maßvolle Reduzierung bei den Wahlkreisen, eine Anpassung des Zuteilungsverfahrens auf die Bundesländer – nicht seine Abschaffung – und eine vertretbare Zahl von ausgleichslosen Überhangmandaten, das könnte der Schlüssel sein, das personalisierte Verhältniswahlrecht zu erhalten. Und die Zeit dafür haben wir noch. Diejenigen, die ernsthaft darüber sprechen, werden diese Zeit auch zu nutzen wissen. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Benjamin Strasser für die Fraktion der FDP. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute leider ein Thema, das gar nicht so aktuell ist, wie es scheinen mag, weil wir uns über das Thema „Reform des Wahlrechts und Verkleinerung des Bundestages“ ja nicht erst seit ein paar Wochen unterhalten, sondern seit Jahren. Wir hatten als Fraktion der Freien Demokraten bereits im Januar eine entsprechende Aktuelle Stunde beantragt, und ich finde es für dieses Hohe Haus schon traurig und peinlich, dass man seit dieser Aktuellen Stunde keinen Millimeter bei der Reform des Bundestagswahlrechts vorangekommen ist. Das ist Sache dieser Großen Koalition. ({0}) Und wir stellen fest: Bis heute liegt nur eine einzige Drucksache mit einem Gesetzentwurf vor. Das ist ein Gesetzentwurf der Fraktionen der FDP, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen. Die Vorschläge von Union und SPD beschränken sich auf Gastbeiträge und Interviews in verschiedensten Zeitungen, in denen alle möglichen Modelle aufgewärmt werden. Aber Sie sind bis heute nicht in der Lage, einen konkreten Vorschlag in den Deutschen Bundestag einzubringen, über den wir hier reden können. ({1}) Herr Kollege Heveling, ich bin es auch leid, wenn Sie sagen: Uns fehlt die Zeit, und jetzt ist alles ganz mühsam und schnell. ({2}) Die Wahrheit ist: ({3}) Es ist Ihre Fraktion, die seit Jahren das Thema verbummelt, ausbremst und blockiert. ({4}) Sie spielen eine besondere Rolle, weil Sie jedem Reformvorhaben eine Absage erteilen, bei dem auch Sie Mandate verlieren würden. Die Vorschläge, die Sie vorgelegt haben, führen dazu, dass alle verlieren, außer der CDU/CSU-Fraktion. Sie können sich doch nicht ernsthaft wundern, dass wir solchen Vorschlägen nicht zustimmen können. ({5}) Herr Heveling, zum Thema Direktmandate. Ich war mit der Kollegin Haßelmann und Ihnen letztes Jahr bei einer Podiumsdiskussion mit Staatsrechtsprofessoren. Wenn Sie das Hohelied auf die personalisierte Verhältniswahl singen, dann sind Sie auch so ehrlich, hier mal zu attestieren, dass ohne eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise eine Verkleinerung des Bundestages mit diesem Wahlrecht nicht möglich ist. Das sollten Sie mal Ihren eigenen Leuten erzählen. ({6}) Kollege Brinkhaus und Kollege Grosse-Brömer sind heute gar nicht erschienen. Ich kann es verstehen. Sie können einem auch leidtun, weil das Problem der Unionsfraktion, das einer Lösung im Weg steht, drei Buchstaben hat, und zwar: CSU. Diese regionale Kleinpartei aus Bayern blockiert störrisch jeden Kompromissvorschlag. ({7}) Sie legen verfassungswidrige Vorschläge auf den Tisch. Es kann nicht sein, dass Sie uns hier als Parlament so vorführen. Wir haben am 23. März im Deutschen Bundestag eine Sachverständigenanhörung zu unserem Gesetzentwurf. Diese wird auch glasklar herausarbeiten: Es geht nicht, dass man durch eine Reform des Wahlrechts versucht, Mandate wiederzubekommen, die man zuvor bei Wahlen verloren hat. Wir werden eine Verkleinerung nur dann hinkriegen, wenn alle Fraktionen bereit sind, bei der nächsten Bundestagswahl auf Mandate zu verzichten. Auch hier spielen Sie eine unrühmliche Rolle. ({8}) Es ist ein Armutszeugnis, dass seit Jahren kein gemeinsamer Vorschlag der Großen Koalition da ist. Sie laufen sehenden Auges in eine Situation, wo wir bei der nächsten Bundestagswahl hier mit über 800 Kolleginnen und Kollegen sitzen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Containern arbeiten müssen. Das ist alles andere als verantwortlich. Das werden Ihnen die Menschen in den Wahlkreisen auch sagen. Was wir von Ihnen, der CDU/CSU, in den letzten Monaten erlebt haben, waren peinliche Diskussionen: Welcher Abgeordnete ist der bessere: der direkt gewählte oder der Listenabgeordnete? ({9}) Ich war am letzten Sonntag auf einer Veranstaltung mit 150 Bürgerinnen und Bürgern. Hier war der direkt gewählte Abgeordnete nicht anwesend, sondern nur der Listenabgeordnete. Was ist denn das für ein Verständnis von uns? ({10}) Zum Schluss. Der SPD muss man fast dankbar sein. Erst hatten Sie keine Meinung, jetzt kommen Sie auf den letzten Metern und schlagen ein Brückenmodell vor. Aber auch Ihr Brückenmodell hat Defizite. Der Oberwitz: Sie wollen nach der nächsten Bundestagswahl eine Kommission einrichten, um die Reform des Wahlrechts zu diskutieren. Haben Sie eigentlich mitbekommen, was in den letzten Jahren hier passiert ist? Wir hatten eine Kommission, die unter anderem an der Union gescheitert ist. Das, was Sie uns hier präsentieren, ist doch keine Lösung. Unser Vorschlag von FDP, Linken und Grünen liegt auf dem Tisch. Wir wollen den Bundestag kleiner machen. Wir wollen die Vertretung auch durch Direktmandate sicherstellen. Und wir wollen, dass der Wählerwille weiterhin über die Zweitstimme abgebildet wird. Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der all dies beinhaltet, der dazu führt, dass dieser Bundestag deutlich kleiner wird. Wir hoffen auf eine Einigung. Aber seien Sie versichert: Wenn diese Einigung scheitert, dann werden wir bis zur Bundestagswahl jeder Wählerin und jedem Wähler erzählen, wer für diese Misere verantwortlich ist: Und das ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Heveling, ich mache Ihnen gleich einen Vorschlag, wie wir das lösen können, einen Vorschlag, der, glaube ich, auch gegen Ihre eben erwähnten Bauchschmerzen helfen wird. Aber ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen eines schon sagen, und zwar, dass ich schon ein Stück weit irritiert bin. Herr Glaser, Sie bleiben sich ein Stück weit treu. Das war auch schon in der Arbeitsgruppe beim Bundestagspräsidenten Herrn Schäuble so, dass außer pseudointellektuellem Schwadronieren nichts von Ihrer Seite kam. ({0}) Diese Arbeitsgruppe, die wirklich sehr konstruktiv gearbeitet hatte, brachte eine Situation hervor, die ich mein ganzes politisches Leben lang nicht vergessen werde – das, glaube ich, darf man an dieser Stelle jetzt ja mal so erzählen –: Wir haben alle unsere Vorschläge auf den Tisch gelegt und begründet. Als Sie Ihren Vorschlag auf den Tisch gelegt haben, konnten Sie ihn nicht mal erklären und mussten sagen: Wie das jetzt funktionieren soll, kann ich auch nicht erklären. ({1}) Diejenigen, die dabei waren, erinnern sich an diese Situation. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie unsere Anträge als Alibianträge bezeichnen, ist Ihr Vorschlag ein Phantomvorschlag, weil ihn keiner je gesehen hat. ({2}) Aber sei’s drum. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte heute schon die Chance nutzen und für unseren Vorschlag werben. Wir haben die letzten Wochen und Monate im Gegensatz zu Ihnen sinnvoll genutzt. Grundsätzlich wollen wir am personalisierten Verhältniswahlrecht – Erststimme für eine Kandidatin oder einen Kandidaten und Zweitstimme für eine Partei – festhalten; denn es hat sich bewährt und spiegelt den Wählerwillen wider. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns so weit auch alle einig. Allerdings kann das natürlich wie zum Beispiel in dieser Wahlperiode dazu führen, dass wir bei einem starken Erststimmen- und schwachen Zweitstimmenergebnis einer Partei viele Überhangmandate und damit automatisch auch viele Ausgleichsmandate haben. Die Grünen, die FDP und die Linken schlagen deshalb vor, die Anzahl der Wahlkreise auf 250 zu verringern. ({3}) Aber um tatsächlich die gesetzliche Regelgröße von 598 Mandaten nicht zu überschreiten, müssten wir die Anzahl der Wahlkreise viel drastischer reduzieren, nämlich auf bis zu 200. Das haben wir von der SPD anhand der derzeitigen Umfragewerte von Wahlrechtsexperten mal durchrechnen lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich das mal vor: Nur 200 Wahlkreise! Das würde bedeuten, dass die Wahlkreise viel größer werden. Ich komme aus der nördlichen Oberpfalz, auch einem Flächenwahlkreis. Ich möchte nicht an die Kolleginnen und Kollegen in Wahlkreisen wie der Mecklenburgischen Seenplatte oder anderswo denken. Die würden ihr politisches Leben wahrscheinlich zu großen Teilen nur noch im Auto verbringen, und das kann ja niemand wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Überhangmandate nicht auszugleichen, wie von den Unionsparteien vorgeschlagen, ist nach unserer Auffassung nicht der richtige Weg. Der Wählerwille wäre damit nicht mehr richtig abgebildet, und das würde nicht nur zu Unverständnis bei den Menschen in Deutschland führen, sondern im schlimmsten Fall auch dazu, dass hier im Parlament ein Regierungsbündnis sitzen würde, das so am Ende gar nicht gewählt wurde. Wir schlagen deshalb in einem ersten Schritt vor, die Regelgröße des Bundestages bei 598 Abgeordneten mit 299 Wahlkreisen unverändert zu belassen. Das ist unser konkreter Vorschlag. Aber wir brauchen eine Obergrenze von 690 Abgeordneten für die nächste Bundestagswahl; die Gründe wurden hier von einigen Vorrednerinnen und Vorrednern schon genannt. Darüber hinausgehende Überhangmandate werden nicht mehr zugeteilt. Verfassungsrechtlich ist das zulässig, liebe Kolleginnen und Kollegen; das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. ({5}) Ohne eine Begrenzung der Anzahl von Mandaten wird es nicht gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen; darüber müssen wir uns alle klar sein, und auch darüber, dass wir alle einen Preis zu zahlen haben als Fraktionen des Deutschen Bundestages. Wenn das alles klappen soll, müssen wir auch alle bereit und willens sein, unseren Beitrag zu leisten, damit wir die Situation geklärt bekommen. Aber: In einem zweiten Schritt wollen wir eine Reformkommission, ja, aus Abgeordneten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Bürgerinnen und Bürgern – ein ganz wichtiger Punkt – einsetzen, die sich mit allen Reformoptionen auseinandersetzt und eine Empfehlung für eine Wahlrechtsreform abgibt, die danach langfristig Bestand hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag ist fair, einfach umsetzbar, verfassungskonform und eröffnet die Möglichkeit für eine langfristige Wahlrechtsreform. In diesem Sinne: Schließen Sie sich uns an, und lösen Sie die Situation gemeinsam mit uns auf! Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist eigentlich überflüssig, weil wir – wir haben es eben gehört – schon eine Aktuelle Stunde zum Thema Wahlrecht hatten. Außerdem ist das ein Thema, das jeden Tag aktuell ist und das wir in dieser Wahlrechtskommission unter der Leitung von Herrn Schäuble schon anderthalb Jahre bearbeitet haben. ({0}) Es ist noch mal festzustellen: Ein einziger konkreter Gesetzentwurf zum Wahlrecht liegt vor, und er ist in einer Zusammenarbeit von Linken, Grünen und FDP entstanden und ist zugleich Ausdruck davon, dass wir am Sachthema interessiert sind und uns dafür einsetzen, den Bundestag zu verkleinern. ({1}) Wir haben den konkreten Vorschlag am 11. Oktober 2019 öffentlich gemacht. Wir sind jetzt, ein halbes Jahr später, in dieser Angelegenheit nicht sehr viel weitergekommen, und das ist enttäuschend. ({2}) Es ist nicht nur enttäuschend, es ist schlimm. Denn es ist im Grunde genommen eine Blockadehaltung bei der Union festzustellen, die jedes Gespräch über unseren gemeinsamen Vorschlag verweigert. Wir haben immer deutlich gemacht, dass es ein Gesprächsangebot ist, und ein Gesprächsangebot – das habe ich von diesem Pult aus schon einmal gesagt – muss man auch ergreifen und auf uns zugehen. Aber Sie weigern sich ja komplett – und es liegt wahrscheinlich an der Union, dass Sie da nichts tun –, mit uns zu reden. Zielführend ist das nicht. ({3}) Ich will etwas zum Vorschlag der SPD sagen. Das ist ein Vorschlag – er hat zumindest ein ganz großes Plus; wir als Politiker der Linken teilen das – zur paritätischen Besetzung von Wahllisten zum Deutschen Bundestag. ({4}) Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn uns dieser Schritt nicht weit genug geht. Wir werden sicherlich hart verhandeln müssen und hart verhandeln wollen, um hier zu einem Ergebnis zu kommen, das meiner Fraktion, der Linken, sehr wichtig ist, nämlich zur paritätischen Besetzung aller Parlamente in unserem Land. ({5}) Was mir am SPD-Vorschlag nicht sehr gut gefällt – darüber muss man in der Tat mal reden –, ist die Kappung der Zahl von Mandaten, wenn eine bestimmte Zahl von Mandaten erreicht ist. Ich halte das allenfalls für diskutabel unter dem Aspekt einer Übergangsregelung. Aber das könnte zumindest eine Gesprächsgrundlage sein, um über eine Begrenzung der Mandatszahlen zu reden. Die Fraktionen in diesem Haus – das ist, ich glaube, in allen Reden klar geworden – liegen in ihrer Positionierung sehr weit auseinander. Und wieder ist – ich muss wiederum feststellen: das hat die Union zu vertreten – Zeit verstrichen, ohne dass wir zu einer Lösung gekommen sind. Das bedeutet: Im Hinblick auf die nächste Bundestagswahl wird es sicherlich wichtig sein, zuerst eine Übergangsregelung zu schaffen, bevor man ein verfassungsgemäßes Wahlrecht mit Perspektive der Dauerhaftigkeit installieren kann. Wir halten es also für notwendig, dass man über eine solch wenig elegante, aber zielführende Lösung zumindest mal ins Gespräch kommt. ({6}) Wir sollten uns zu einem Wahlrecht entschließen können – darüber sollten wir verhandeln –, das allen Parteien etwas abverlangt. Damit komme ich zu den Ideen, die aufseiten der Union vorherrschen. Was meine Fraktion, Die Linke, niemals unterstützen wird – das werde ich hier sehr deutlich vortragen –, ist die Idee, die von der Union mehrfach andiskutiert wurde, nämlich eine gewisse Anzahl von Überhangmandaten nicht auszugleichen; mein Vorredner, Herr Heveling, ist schon darauf eingegangen. Es handelt sich bei diesem Vorschlag um einen Bonus, der alleine Ihnen, also CDU und CSU, nutzt, und das werden wir hier nicht akzeptieren. ({7}) Das ist eine undemokratische Vorgehensweise. Es ist auch falsch, rechtlich falsch, wenn hier wiederholt behauptet wird, das Bundesverfassungsgericht habe diese Möglichkeit aufgezeigt. Nein, die Formulierung war etwas anders; das möchte ich noch mal feststellen. ({8}) Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich lediglich festgestellt, dass eine kleine Zahl nicht ausgeglichener Überhangmandate als ungewolltes Ergebnis einer Regelung unter Umständen hingenommen werden müsse. Sie merken es: „ungewolltes Ergebnis“. ({9}) Sie wollen aber ein gewolltes Ergebnis. Das würde ein unfaires Wahlrecht bedeuten, und das machen wir nicht mit. Eine absichtliche Bonusregelung hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen nicht in Aussicht gestellt; das wäre ja auch noch schöner. Schade, dass wir in dieser Sache nicht weiter sind. Es gilt wieder einmal das, was ich hier schon öfter gesagt habe: Meine Fraktion ist gesprächsbereit. Ich glaube, auch die FDP und die Grünen sind gesprächsbereit. Kommen Sie endlich auf uns zu, und legen Sie ein konkretes Angebot auf den Tisch. ({10}) Zur AfD kann ich nur eins sagen: Sie haben sich an der Diskussion über diese Frage nicht besonders zielführend beteiligt. Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Britta Haßelmann. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit drängt, und das wissen wir alle. Eigentlich läuft uns die Zeit auch schon davon. Meine Damen und Herren, wenn man sich die Reden gerade angehört hat, auch die aus der Koalition, dann könnte man verzweifeln, weil einfach nichts mehr passiert. Der eine sagt „Du musst“, und der andere sagt: Du musst. – Wir haben ein Wahlrecht, und dessen Grundlage ist das personalisierte Verhältniswahlrecht. Wir haben über ein Jahr in einer Wahlrechtskommission bei Herrn Schäuble, dem Bundestagspräsidenten, darum gerungen, ob auf dieser Grundlage das Ergebnis, den Bundestag zu verkleinern, zu erzielen ist. Man muss an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Bis heute ist es vor allen Dingen die CSU, die jede Lösung blockiert, ({0}) und das ist – das sage ich sowohl an Dobrindt als auch an Söder gerichtet – unverantwortlich, meine Damen und Herren. Es ist absolut unverantwortlich, was die CSU hier für ein Spiel treibt. Auch der letzte Versuch, den gerade Alexander Dobrindt an Journalistinnen und Journalisten streut, ist nicht verfassungsgemäß. ({1}) Er zielt nur – raten Sie mal – auf die Stimmenmaximierung und die Stimmensicherung der CSU ab. Und es ist schändlich, dass Sie das tun und dass Sie hier keine Einsicht haben, sodass kein Gesamtkonzept und keine Lösung bei der Union besteht, keine Lösung zwischen den Koalitionsfraktionen und deshalb bis heute keine Lösung zwischen den demokratischen Fraktionen hier im Parlament. Das ist fahrlässig. Die Zeche werden am Ende alle demokratischen Parteien zahlen müssen, wenn Sie nicht bald zur Vernunft kommen, und dazu rufe ich Sie auf. ({2}) Meine Damen und Herren, wer die letzte Umfrage von Infratest dimap gesehen hat und ein bisschen was vom Wahlrecht versteht, hat vielleicht mal nachgerechnet, was ein entsprechendes Wahlergebnis beim jetzt geltenden Wahlrecht umgerechnet bedeuten würde: 871 Abgeordnete. Zumindest diese Zahl müsste Ihnen von der CDU/CSU und der SPD jetzt mal sagen: Es muss was passieren, und wir müssen das bis Ostern hinkriegen, verdammt noch mal. ({3}) Es gibt dafür nur zwei Möglichkeiten. Wenn ich die Schlauberger da vorne in der zweiten und dritten Reihe höre, die mir erklären, das sei doch alles ganz einfach, man müsse nur bei den Listenabgeordneten kürzen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie haben leider keine Ahnung vom geltenden Wahlrecht. Das geltende Wahlrecht ist eindeutig: personalisiertes Verhältniswahlrecht. Das, wovon Sie träumen, meine Herren, ist die Einführung des Mehrheitswahlrechtes, und dafür wird es in diesem Parlament keine Mehrheit geben. Das garantiere ich Ihnen. ({4}) Wo kommen wir denn da hin? Parteien wie die CDU und die CSU kriegen am Ende im Bundestag 24 Prozent – 24 Prozent! –, und sie glauben, damit eine absolute Mehrheit sichern zu können. Für wie blöd halten Sie eigentlich die Bürgerinnen und Bürger? ({5}) Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir reduzieren die Anzahl der Wahlkreise, oder/und Sie verabschieden sich von dem sogenannten Sitzkontingentverfahren, den Länderproporzen, die nämlich auch noch Überhänge produzieren. Oder man geht hin, wie die SPD gerade vorgeschlagen hat, und sagt: Das Zweitstimmenergebnis muss sich im Bundestag eins zu eins widerspiegeln – das sagen wir auch –, und dann kappt man bei den Direktmandaten alles über dem Zweitstimmenergebnis. Das ist auch eine Möglichkeit. Dann mal her mit der Idee, als Drucksachennummer auf den Tisch! Wenn unser guter Gesetzentwurf sich nicht durchsetzt, dann – so habe ich das Gefühl – könnte Ihrer eine Mehrheit kriegen; aber dann brauchen wir den jetzt hier mal als Drucksachennummer ({6}) und nicht nur als „Spiegel“-Artikel. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch was sagen, Stichwort „Parité“: Nachdem die Kanzlerin, nachdem die Vorsitzende der CDU, nachdem auch viele Frauen aus der CDU/CSU-Fraktion, nachdem die Frauen der SPD-Fraktion und wir, Bündnis 90/Die Grünen und die Linken, längst erklärt haben: „Wir wollen jetzt endlich mal was zur Parité machen; wir wollen uns nicht länger damit abfinden, dass der Frauenanteil im Deutschen Bundestag so niedrig ist“, erwarte ich aber auch, dass bei diesem Thema die Lippen nicht nur sonntags gespitzt werden, sondern dass wir auch wirklich daran arbeiten, wenn die Fraktionsvorsitzenden nächste Woche zusammenkommen, und dass Sie meine Fraktionsvorsitzende dann unterstützen, wenn sie vorschlägt, das Thema Parité bei der Wahlrechtsreform tatsächlich vor die Klammer zu ziehen und nicht nur darüber zu reden. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Michael Frieser für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts des Vortrags von Herrn Glaser und trotz seines jugendlichen Erscheinungsbildes muss ich zu dem Ergebnis kommen: Die von ihm abgespielte Schallplatte ist wahrscheinlich eher aus Schellack als aus anderem Material. Es hilft halt nichts, immer dasselbe zu behaupten, weil es dadurch am Ende des Tages nicht wahrer wird. ({0}) Deshalb bitte ich, zwei Dinge festhalten zu dürfen: Erstens. Die bisherigen Änderungen des Wahlrechts, denen wir das aktuell gültige Wahlrecht zu verdanken haben, sind mit den Stimmen aller Fraktionen dieses Hauses und auch im Bundesrat mit den Stimmen Ihrer Parteikollegen beschlossen worden. ({1}) Ich darf zweitens darauf hinweisen, dass die Opposition die Wahlrechtsreformkommission des Präsidenten verlassen hat mit dem Hinweis, sein Vorschlag sei eine Provokation; ({2}) dieser Vorschlag beinhaltete tatsächlich auch die Streichung von Wahlkreisen. Um einigen Kollegen einen Gefallen zu tun, weise ich gerne darauf hin: Dieses Haus besteht im Augenblick schon nur zu 40 Prozent aus direkt gewählten und zu 60 Prozent aus Listenabgeordneten. ({3}) Dass man jetzt auf den Gedanken kommt, dass man das nur durch das Streichen von Wahlkreisen machen kann, ({4}) wird, glaube ich, dem Anspruch, der mit der Erststimmenabgabe verbunden ist, nämlich einen direkt gewählten Abgeordneten zu haben, nicht ganz gerecht. ({5}) – Dadurch, dass man laut schreit, wird es nicht wahrer. Klar ist: Es braucht in der Tat eine Höchstgrenze. Der deutsche Wähler sollte genau wissen, ({6}) wie groß der Bundestag am Ende des Tages tatsächlich werden kann. ({7}) Insofern ist die entscheidende Frage, wie wir das bewerkstelligen. ({8}) – Zuhören kann den Effekt haben, dass man weiß, worüber man redet. ({9}) So einfach, wie es so leicht dahingesagt wird – wir lassen den ersten Zuteilungsschritt weg, die sogenannte Zuteilung von Sitzkontingenten auf die Landeslisten –, ist es nicht. Es ist nicht ganz unwesentlich, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung umfangreiche Ausführungen dazu gemacht hat, warum dieser zugegebenermaßen sehr medizinische Begriff „negatives Stimmgewicht“ so verhängnisvoll ist: Weil es ein Irrweg ist, wenn ein Wähler mit seiner Stimmabgabe am Ende des Tages das Gegenteil dessen verursachen könnte, was er erreichen wollte. Deshalb ist die Frage der Sitzkontingentbildung so wesentlich. Verständigen können wir uns in der Tat bei der Mindestsitzfrage: Welchen Anspruch auf Beteiligung an diesem Deutschen Bundestag haben die einzelnen Landeslisten der Parteien? Der nächste Punkt. Man muss auch einmal aufräumen mit dem Argument, es gäbe keine Gespräche. Wöchentlich treffen sich die Fraktionsvorsitzenden dieses Hauses. ({10}) – Wie oft haben Sie jetzt schon zusammengesessen? ({11}) – Wie oft haben Sie schon zusammengesessen? ({12}) Okay, dreimal gefragt, immer noch keine Antwort. ({13}) Typisch grüne Lösung! Darauf will ich mich nicht einlassen. ({14}) Der entscheidende Punkt ist: Es gibt regelmäßige Kontakte. ({15}) – Durch Schreien wird es nicht besser. Ich glaube, es ist wesentlich, auf Folgendes hinzuweisen: Es hat weder etwas mit Provokation zu tun, noch damit, man verweigere sich hier irgendwelchen Lösungen. ({16}) Die Berechnungen des Bundeswahlleiters haben gezeigt: Das Streichen von Wahlkreisen ohne eine wirklich effektive Kombination anderer Maßnahmen bringt überhaupt nichts; ({17}) es reduziert noch nicht mal die Wahrscheinlichkeit der Vergrößerung des Deutschen Bundestages; das wird nicht wahrer, je öfter Sie es behaupten. ({18}) Der letzte Punkt ist das Thema Kappung, das heißt Nichtzuteilung. Jemand geht in die Wahlkabine, wählt direkt einen Abgeordneten, der gewinnt seinen Wahlkreis, und am nächsten Tag erfährt er: Nein, dieser Wahlkreis wird nicht zugeteilt, ({19}) er ist die nächsten vier Jahre im Bundestag nicht vertreten. – Das machen Sie mit dem deutschen Wähler ein einziges Mal! Das führt dieses System ad absurdum, ist ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit, weil der Wähler mit der Stimme nicht mehr das erreicht, was er angeblich erreichen kann. ({20}) Wer das vorschlägt, will am Ende des Tages keine direkte Demokratie mehr und keine Direktwahlkreise mehr, sondern ein reines Verhältniswahlrecht; ein anderer Schluss ist leider nicht zu ziehen. Vielen Dank. ({21})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth für die Fraktion der AfD. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist fünf vor zwölf. Genauer gesagt: Es ist 11.25 Uhr. Heute ist der 11. März, und am 25. März explodiert für den Wähler wahrscheinlich eine tickende Zeitbombe. Das ist der Tag, ab dem Listen und Kandidatenaufstellungen für den Deutschen Bundestag bzw. die Wahl der Delegierten dafür möglich sind. Trotzdem blockieren Sie alle den vernünftigen Vorschlag der AfD, ({0}) der dem Innenausschuss seit November 2019 vorliegt, diese Frist um drei Monate nach hinten zu verschieben, wie mein Kollege Glaser bereits ausgeführt hat. Wir schlagen Ihnen vor: Beenden Sie heute die Blockade; dann können wir diese Reform noch schaffen. ({1}) Seit wenigen Stunden haben wir es offiziell: Der Vizepräsident des Bundestages Herr Oppermann erklärt den Medien, eine umfassende Wahlrechtsreform sei nicht mehr möglich; ich zitiere. Das peinliche Schweigen der Koalitionsfraktionen ist bezeichnend hierzu. Seit zwei Legislaturperioden wissen Sie, dass sich am Wahlrecht grundlegend was ändern muss. Seit dieser Legislaturperiode sollte das Thema ganz oben auf der Agenda stehen. Seit Ende letzten Jahres hoffen Sie, trotz unserer Vorschläge, dass sich dieses Thema wieder verschleppen und totschweigen lässt, bis es zu spät ist. Allein die Vorbereitungen, Bürocontainer für den nächsten Bundestag aufzustellen, statt eine immer noch mögliche Wahlrechtsreform vorzunehmen, sprechen Bände. ({2}) Seien Sie doch mal ehrlich, bekennen Sie sich: Was wollen Sie eigentlich? Sie können nicht ernsthaft erwarten, dass es nicht so schlimm wird und dieser Kelch an Ihnen vorübergeht. Der Bürger hat doch verstanden. Sofern ich keine neue Initiative der einzig wahren Demokraten, wie Sie sich ja unisono gerne bezeichnen, in diesem Haus verpasst habe, ist die nächste Bundestagswahl noch nicht abgesagt. Bekennen Sie sich! An die Koalitionsfraktionen: Wo sind Ihre Vorschläge? Ich weiß, getroffene Hunde bellen, Herr Grötsch. Dass Sie Herrn Glaser intellektuell nicht verstehen, ist das eine; aber sich hierhinzustellen und die Unwahrheit zu verbreiten, etwas anderes. ({3}) Wir erwarten ja keine Qualität. Aber machen Sie wenigstens den Mund auf, bekennen Sie sich offen dazu: Ja, Sie wollen den 800-plus-Bundestag, ja, Sie wollen den 1-Million-Euro-plus-Bundestag. ({4}) Seien Sie wenigstens ehrlich – so viele Wähler haben Sie doch alle nicht mehr zu verlieren –, bekennen Sie sich! ({5}) An die sogenannte Opposition gerichtet: Sie wollen mehr Mandate und weniger Landkreise. ({6}) Selbst wenn dieser Vorschlag mal etwas getaugt hätte, er ist selbst in der von uns vorgeschlagenen verlängerten Frist nicht umsetzbar. Die Wahlkreise können nicht mehr neu gezogen werden. Selbst wenn wir dies schon am ersten Tag der Legislaturperiode begonnen hätten: Die Schlammschlacht um Hochburgen und angestammte Mandate wäre heute noch nicht geschlagen; das zeigt ja die Debatte um die Reform. Bekennen auch Sie sich klar und deutlich: Sie wollen mindestens bei der nächsten Bundestagswahl, aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch bei der danach, einen aufgeblähten, teuren Riesenbundestag haben. Es käme mir nicht in den Sinn, den zuständigen Politikern fehlende Begabung oder fehlende Erkenntnis vorzuwerfen. Leichter erklärt sich Ihre Unfähigkeit und Untätigkeit ganz einfach mit dem guten alten Eigennutz: Die Union profitiert, wie bereits mehrfach gehört, von jeder Zweitstimme, die sie verliert, wenn sie bloß noch den halben Prozentpunkt vor ihrem Gegenkandidaten im Wahlkreis landet. Die SPD profitiert von ihrem vernichtenden Absturz in den Wahlkreisen durch Ausgleichsmandate. Ihre Regierungsmehrheit ist eine – für Sie komfortable – Blockademehrheit geworden. Sie ruhen sich aus auf dem Geld und dem Recht der wählenden Bevölkerung. ({7}) Eine größere Geringschätzung für die Wähler kann es kaum geben. Aber was soll man von einer Regierung in Sachen Respekt vor dem Wähler noch erwarten, deren Kanzlerin die Korrektur der freien Wahlen eines Bundeslandes verlangt! Und was will man von solchen demokratischen Parteien erwarten, die dieser Aufforderung Folge leisten! ({8}) Sie haben das Wahlrecht genug pervertiert und damit der Demokratie geschadet. Deswegen an dieser Stelle kein Dankeschön an die blockierenden Parteien. Das wäre eine weitere Verhöhnung des deutschen Wählers und Bürgers. Glück auf! ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Leni Breymaier. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist schade, dass wir es in dieser Legislaturperiode offenbar nicht mehr schaffen werden, eine grundlegende Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen, ({0}) die bereits 2021 greift. In wenigen Wochen beginnen die ersten Nominierungskonferenzen, und wenn sie angefangen haben, ist es nicht mehr möglich, die Wahlkreiszuschnitte zu verändern. ({1}) Darum schlägt die SPD-Fraktion das sogenannte Brückenmodell vor: Wir lassen es bei 299 Wahlkreisen, die Regelgröße des Bundestags bleibt bei 598 Abgeordneten, und die Zahl der Mandate nach dem Urnengang 2021 wird 690 nicht übersteigen. ({2}) Das soll gegebenenfalls, wenn es gar nicht anders geht, durch eine Kappung der Überhangmandate ermöglicht werden. Beispiel: Die CDU in Baden-Württemberg holte bei der Bundestagswahl 2017  38 Direktmandate. Bei den Zweitstimmen erreichte sie jedoch gerade einmal ein Drittel aller Stimmen. Das macht 25 Mandate mehr – Überhangmandate –, als das Zweitstimmenergebnis hergab. Diese werden ausgeglichen usw. usf. Dass am Wahlabend bei den Schwarzen im Ländle nur drei Frauen gewählt wurden, also nicht einmal 8 Prozent, ist mehr als eine Petitesse am Rand. Wenn es nicht anders möglich ist, soll einmalig – in der nächsten Legislaturperiode – auf das eine oder andere Überhangmandat verzichtet werden, sofern sonst die Gesamtzahl von 690 Abgeordneten überschritten würde. Das beträfe dann auch die Ausgleichsmandate. Außerdem wollen wir in diesem ersten Schritt auch nur Listen zulassen, die paritätisch im Reißverschlussprinzip aufgestellt worden sind. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich möglich, das ist auch verfassungsrechtlich geboten. ({3}) Oder wozu wurde Artikel 3 des Grundgesetzes 1994 eigentlich ergänzt? Der Staat verpflichtet sich seitdem, aktiv etwas gegen die Benachteiligung von Frauen und Männern zu unternehmen. Und wo, wenn nicht hier, wollen wir das eigentlich umsetzen? ({4}) Es geht um die Repräsentanz der Bevölkerung. Es ist ein wenig langweilig, das immer wieder zu erklären, aber alle – wirklich alle – Studien belegen: Firmen mit mehr Vielfalt schreiben höhere Gewinne, sind produktiver und innovativer. Das gilt erst recht für dieses Hohe Haus. Oder eben: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. ({5}) Nach der Bundestagswahl 2021 setzen wir eine Reformkommission – so unser Vorschlag – aus Wissenschaftlern, Abgeordneten und Bürgerinnen und Bürgern ein. Dann kommt alles auf den Tisch: die Wahlkreise, die tatsächlich gleiche Repräsentanz von Frauen und Männern, hoffentlich die Pluralität überhaupt, die Modernisierung der Parlaments- und Wahlkreisarbeit. Dann ist Zeit da, und das Ergebnis kann 2025 greifen. Also, Mandatsobergrenze bei 690, paritätische Listen, Reformkommission: Diese Brücke, die die SPD-Fraktion vorschlägt, ist nicht schmaler als der Fluss, über den sie führen muss. Sie überspannt den ganzen Fluss, und das Geländer der Brücke sichert die Bundestagswahl 2021 und verhindert einen womöglich größeren Bundestag als heute. ({6}) „Blähbundestag“, Herr Wirth, würde ich das nicht nennen. Die Blähungen des Hohen Hauses sitzen seit 2017 einzig ganz rechts hier im Haus. ({7}) Insgesamt müssen wir uns bewusst machen: Wir brauchen neue Gedanken in der Politik. Da gilt dasselbe wie in der freien Wirtschaft. Man sucht sich gerne Nachfolger, die einem ähnlich sind. Wir brauchen Quoten; denn sonst bleibt es weiter so, dass der 80-jährige Jurist mit grüner Hundekrawatte sich als Nachfolger einen 60-jährigen Juristen mit brauner Hundekrawatte aussucht. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Marc Henrichmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, ein Ziel eint uns alle: dass dieser Bundestag nicht ins Unermessliche wachsen darf. Ich darf das als Vorsitzender eines Kreisverbandes sagen, der schon vor Jahren gesagt hat, 630 wäre eine Zahl – das kann auch ein Deckel sein –, mit der man arbeiten könne. Wir merken es alle, wenn wir hier zur Abstimmung schreiten, dass es schon enorm eng wird. Aber wenn hier propagiert wird, die Reduzierung oder die deutliche Kappung der Zahl der Wahlkreise sei die einzige Lösung, dann ist heute auch noch einmal deutlich geworden: Das ist sie nicht. Wir müssen sicherstellen, dass ein Deckel greift. Das geht auch und insbesondere über Überhang- und Ausgleichsmandate. Es laufen hinter den Kulissen ernste Gespräche. Es muss eine Lösung gefunden werden. Wer dem Kollegen Heveling zugehört hat, der konnte, wenn er nicht nur krakeelt hat, zwischen den Zeilen heraushören, dass durchaus intensive Gespräche geführt werden und es hier und da auch Zugeständnisse zumindest geben kann. Mit Blick auf diese Aktuelle Stunde bin ich mir nicht sicher, ob es Sinn macht, dieses Thema hier regelmäßig wieder hochzuziehen, oder ob es nicht besser wäre, diese intensiven Gespräche miteinander zu führen. Es bringt beispielsweise auch nichts, zu sagen: „Wir verlängern die Frist um drei Monate“, wie es die AfD tut. Ein konstruktiver Vorschlag auf dem Weg zur Reduzierung der Zahl der Sitze dieses Bundestages ist das auch nicht wirklich. ({0}) Wir haben im Jahr 2002 schon einmal eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise erlebt, damals von 328 auf 299. Ich durfte vor einiger Zeit in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs sein, wo sich Wahlkreise über drei Kreise erstrecken, also riesengroß sind. Seit 2002 ist die Zahl der Wahlkreise konstant. Was ist gewachsen? Das ist die Zahl der Listenmandate. Die Zahl von 410 Listenmandaten ist genannt worden, ebenso auch das Verhältnis der Mandate von 60 zu 40. ({1}) Das macht uns zugegebenermaßen natürlich die Zustimmung schwer, mit dem Rasenmäher über die Zahl der Wahlkreise zu fahren. Es braucht eine Entscheidung, die die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt, aber auch Direkt- und Listenmandate wieder in ein vernünftiges Verhältnis bringt. ({2}) Es geht mir ausdrücklich nicht – das möchte ich betonen – um die Frage von Abgeordneten erster oder zweiter Klasse, sondern es geht um Bürgernähe und die zu bewältigende Distanz in den Wahlkreisen. Ich darf das einmal für mich sagen: Ich bin 2017 von etwas über der Hälfte der Wählerinnen und Wähler, die zur Wahl gegangen sind, gewählt worden. Diese Menschen aus 14 Städten und Gemeinden mit vielen Ortsteilen, Bauernschaften, Bahnhöfen, Fußgängerzonen haben mich hierhergeschickt. Ich habe wie viele andere Mitbewerber damals um diese Stimmen gekämpft. Ich fahre von Nordwalde im Norden meines Wahlkreises bis Olfen im Süden ungefähr eine Stunde, 55 Kilometer. ({3}) Ich habe den Menschen versprochen, dass ich mich kümmere, dass ich da bin, dass ich zuhöre. Das nehme ich ernst – wie viele Kolleginnen und Kollegen auch. ({4}) Im letzten Jahr hieß das für mich ungefähr 230 Wahlkreistermine, 6 800 Kilometer. Es ist der hohe Einsatz und die hohe Präsenz aller Kandidatinnen und Kandidaten, die sich zur Wahl gestellt haben, die uns damals eine Wahlbeteiligung von 81,3 Prozent und damit über dem Durchschnitt beschert haben. Ein Erststimmenergebnis von über 8 Prozentpunkten über meinem Zweitstimmenergebnis, dem meiner Partei, zeigt, dass Personeneinsatz und Präsenz hoffentlich auch honoriert werden. ({5}) Wer die Axt an die Zahl der Wahlkreise legt, der trifft nicht nur die Wahlkreisabgeordneten, sondern auch die Listenbewerber. Ich weiß, dass ganz viele auf ihren Briefköpfen „Wahlkreisbewerber“ oder „Wahlkreisabgeordneter“ stehen haben. Sie bezeichnen sich ja zu Recht als Vertreter eines Wahlkreises. Auch die fahren demnächst nicht nur eine Stunde von Nord nach Süd oder vielleicht noch etwas länger, sondern anderthalb Stunden; Zeit, die eben durch weniger Präsenz aufgewogen wird, weniger Kümmern, weniger Bürgernähe, die wir so dringend brauchen. Ich ziehe eine Parallele zur politischen Bildung. Wir sind uns alle einig, dass wir in diesen Zeiten über aufsuchende politische Bildung reden müssen, nämlich Bildung, die zu den Menschen kommt, die es nötig haben, statt einzufordern, dass die Menschen zur politischen Bildung kommen. ({6}) Genau das ist, ehrlich gesagt, eine Anforderung an die Menschen, die sich politisch engagieren, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich: dass sie die Bürgernähe suchen. ({7}) Denken wir bei diesen Schritten bei aller Kompromissbereitschaft auch an die Perspektive der Menschen. ({8}) Ich bin mir nämlich sicher, dass das, was hier drohend gesagt wird – nach dem Motto: wir sagen allen Leuten, wer hier blockiert –, nach einer Wahl umschlägt, wenn die Menschen merken, dass die Wahlkreise so riesengroß geworden sind, dass sie ihre Abgeordneten kaum mehr sehen. ({9}) Deswegen denken wir aus der Perspektive der Menschen: Nähe und Zuhören, das Vertrauen in Menschen wird gewählt und nicht das Vertrauen in Parteibuchstaben oder Listen. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Josephine Ortleb für die SPD-Fraktion. ({0})

Josephine Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004844, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Über die Reform des Wahlrechts wird hier im Hohen Hause intensiv und auch hochemotional diskutiert. Die bisherige Debatte zeigt, dass eine Änderung des Wahlrechts einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Manchmal hilft es ja, sich zunächst auf Grundsätze zu verständigen: Die Anzahl der Sitze einer Partei muss proportional zu ihrem Stimmanteil bei der Wahl sein, die Anzahl der Abgeordneten muss begrenzt werden, damit die Arbeitsfähigkeit des Parlaments erhalten bleibt, und die Anzahl von Frauen und Männern im Parlament muss gleich sein. ({0}) Diese Grundsätze liegen dem Vorschlag meiner Fraktion zugrunde. Wir stellen sicher, dass eine Partei entsprechend ihrem Anteil an Zweitstimmen im Bundestag vertreten ist. Eine Mehrheit an Abgeordneten, die nicht durch eine Mehrheit an Stimmen legitimiert ist, wäre eine Abkehr vom bisherigen Verhältniswahlrecht. ({1}) Das ist für uns nicht akzeptabel. Leider hält sogar die CSU daran fest. Für uns ist aber auch klar: Ein Wahlrecht wird erst dann nachhaltig und gerecht, wenn es die ganze Bevölkerung mit in den Blick nimmt, und dazu zählt über 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts, dass Frauen und Männer im Deutschen Bundestag paritätisch vertreten sind. ({2}) Aber auch hier wollen die Privilegierten ihren Vorteil behalten. Dies gilt insbesondere für die Union, die FDP und die AfD. ({3}) Friedrich Merz hat wenige Tage vor dem Internationalen Frauentag gesagt, paritätische Wahllisten wären eine Bevorzugung der Frauen und eine Benachteiligung der Männer. ({4}) Liebe Kolleginnen von der Union, Sie wissen doch selber: Das Gegenteil von dem, was Herr Merz sagt, ist richtig. Das derzeitige Wahlrecht und die Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen benachteiligen Frauen. ({5}) Nur 25 Prozent der Direktkandidaten waren Frauen, und nur 21 Prozent sind als direkt gewählte Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Auf den Landeslisten kandidierten 31 Prozent, und immerhin sind 37 Prozent der Abgeordneten, die über Liste gewählt wurden, Frauen. Insgesamt liegt der Frauenanteil im Bundestag mit weniger als 32 Prozent auf dem Niveau von 1998, und das ist beschämend. Das darf so nicht bleiben! ({6}) Wir müssen verhindern, dass es noch schlechter wird. Zu meinem Verständnis von Demokratie, Gerechtigkeit und Partizipation gehört mehr als das, was wir hier vorfinden. ({7}) Ich könnte die Aufregung noch verstehen, wenn in Zukunft der Männer- und Frauenanteil einfach umgedreht werden sollte. Wer aber im Jahr 2020 gegen eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern im Deutschen Bundestag argumentiert, ist wirklich nicht auf der Höhe der Zeit. ({8}) Wir als SPD-Bundestagsfraktion machen dazu einen Vorschlag für einen konkreten ersten Schritt: alternierend besetzte Wahllisten schon für die nächste Wahl. Bei der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments würde dies einen Frauenanteil von nahezu 40 Prozent bedeuten, und ab da ist es nicht mehr weit bis zur Parität. Denn für uns ist Parität kein Anhängsel, kein Nice-to-have, sondern eine Selbstverständlichkeit. ({9}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat ihre Hausaufgaben gemacht und zeigt den politischen Willen, zu einer zügigen Lösung in Sachen Wahlrechtsreform zu kommen. Dabei ist für uns klar: Die Wahlrechtsreform geht nur Hand in Hand mit Parität. Alternierende Listen sind ein erster wichtiger Schritt für die gleiche Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament. Aber wir wissen auch, dass dieser alleine nicht ausreichen wird. Deswegen soll eine Reformkommission auch Maßnahmen erarbeiten, wie Parität insgesamt sichergestellt werden kann. Der Deutsche Frauenrat hat dazu bereits Vorschläge gemacht. Weil es keine wirklich guten politischen Argumente gibt, kommen die Gegner einer Paritätsregelung mit rechtlichen Bedenken um die Ecke. Es geht hier aber um eine politische und nicht um eine juristische Diskussion. Unsere Demokratie bleibt unvollständig, solange Frauen und Männer nicht zu gleichen Teilen an den politischen Entscheidungen beteiligt werden. ({10}) Deshalb appelliere ich an die Union und auch an die FDP: Machen Sie den Weg frei für eine Wahlrechtsreform mit Parität! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 15 Minuten wechselte der Vorsitz. In dieser Zeit gab es eine hochemotionale Auseinandersetzung mit Zwischenrufen und Formulierungen hier vorn. Es war mir nicht möglich, diesen Auseinandersetzungen so zu folgen, dass ich entscheiden konnte, ob dabei irgendetwas rügenswert ist. Ich habe mir also das Vorabprotokoll bestellt und behalte mir vor, sowohl Zwischenrufe als auch gegebenenfalls unparlamentarische Ausdrucksweisen nachträglich entsprechend zu sanktionieren. Ich wollte Sie darüber nur informieren. Wir kommen nun zur voraussichtlich letzten Rednerin in dieser Aktuellen Stunde: zur Kollegin Petra Nicolaisen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Petra Nicolaisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD beantragte für heute eine Aktuelle Stunde. Wir haben gerade gehört: Mit der von ihr vorgeschlagenen Fristverlängerung würden wir noch eine Wahlrechtsreform schaffen. Wo sind Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({0}) Ja, eine Reform ist dringend notwendig. ({1}) Wir als CDU/CSU-Fraktion sind auch gewillt, ({2}) diese Reform umzusetzen. Es hat Vorschläge in der letzten Legislatur vom ehemaligen Bundestagspräsidenten Lammert und auch in dieser Legislaturperiode unter der Federführung des Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble gegeben. Es beteiligten sich Vertreter aller Fraktionen in vielen Gesprächen mit Vorschlägen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten schon längst eine Änderung herbeiführen können, wenn alle Fraktionen sich auf einen mehrheitsfähigen gemeinsamen Kompromissvorschlag geeinigt hätten. ({3}) Heute lese ich in der „Rheinischen Post“, dass Herr Oppermann kritisiert, die Union habe keine geschlossene Position. ({4}) Das lässt sich aber sehr einfach behaupten, nachdem man auch alle Vorschläge, die wir vorgelegt haben, in den Kommissionen abgelehnt hat. Grundsätzlich stimmt: Wir werden eine große Wahlrechtsreform benötigen. Das heißt aber nicht, dass wir mit den derzeit diskutierten Ansätzen das Prinzip des personalisierten Verhältniswahlrechts über Bord werfen dürfen. ({5}) Trotz aller Schwächen des bisherigen Systems dürfen wir eines nicht vergessen: Hinter jeder Stimme steht ein Mensch, der uns sein Vertrauen ausgesprochen hat; und hinter jeder Stimme steckt auch ein Wahlkreis. Wir wissen um die Sorgen und die Hoffnungen der Menschen. Wir kennen die kleinen und großen Baustellen in unseren Wahlkreisen, bei denen es einmal hakt oder auch einfach gut läuft. Natürlich betrifft es uns, wenn beispielsweise darüber gesprochen wird, dass Wahlkreise auf einmal wegfallen oder merklich größer werden sollen, weil dadurch die Verbindung zu den Bürgerinnen und Bürgern verloren geht, zumal dann nach wie vor Überhangmandate möglich sein werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber auch die Überhangmandate müssen wir als eine mögliche Stellschraube bei der Änderung des Wahlrechtes in Betracht ziehen. ({6}) Lassen Sie uns über die Vorschläge in Bezug auf die Direktmandate sprechen. Für die Menschen vor Ort sind wir die Ansprechpartner. ({7}) Ich höre die Leute sagen: Das ist unsere Bundestagsabgeordnete. – Bürgernähe ist das Fundament der repräsentativen Demokratie. ({8}) Deshalb darf es nicht sein, dass sich dieses Gefühl mit einer kommenden und, liebe Kolleginnen und Kollegen – dies steht völlig außer Frage –, aus meiner Sicht erforderlichen Wahlkreisreform ändert. ({9}) Die Lösung darf nicht allein darin liegen, dass wir die Zahl der Direktmandate reduzieren. ({10}) Es droht uns ein Vertrauensverlust, wenn wir sagen: Vielen Dank für Ihre Erststimmen, liebe Wählerinnen und Wähler. Diese finden jedoch leider keine Berücksichtigung, weil wir ein kompliziertes Berechnungsverfahren mit einer künstlichen Beschränkung der Direktmandate eingeführt haben. ({11}) Ungeachtet dessen: Nur wenn wir über alle drei Stellschrauben – dazu gehören für mich der Wahlkreis, die Anpassung des Zuteilungsverfahrens und auch die 15 ausgleichslosen Überhangmandate – sprechen, dann haben wir vielleicht eine reelle Chance, eine mehrheitsfähige Regelung zu finden, ({12}) die die Vergrößerung dieses Bundestages eindämmt. ({13}) Lassen Sie uns deshalb im Sinne unserer Demokratie an einer gemeinsamen Lösung arbeiten, ({14}) die wir dann für die nächste Bundestagswahl auch umsetzen können. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich erteile dem Abgeordneten Albrecht Glaser das Wort zu einer Erklärung nach § 32 unserer Geschäftsordnung.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Vizepräsidentin, herzlichen Dank, dass Sie mir die Chance geben, das Wort zu ergreifen. Ich muss es ergreifen, weil der Kollege Grötsch, der, wenn ich das recht sehe, nicht mehr da ist – – ({0}) – Ich will das akzeptieren. Ich darf ansonsten feststellen: Auch Herr Kollege Frieser ist, glaube ich, nicht mehr da; vielleicht werden die Stilfragen doch nicht so ernst genommen. Aber diese Erklärung nehme ich natürlich gerne an. Trotzdem darf ich festhalten: Der Kollege Grötsch hat vorhin hier behauptet, in der Schäuble-Kommission, bei der es um die Wahlrechtsreform ging, hätte ich in befriedigender Art keine Erklärungen über das Modell abgeben können, das die AfD im Dezember 2018 vorgestellt hat. ({1}) Er hat das mit einer, sagen wir einmal, missbilligenden Bemerkung gemacht, so nach dem Motto: Der Glaser hat selber nicht verstanden, was er da gesagt hat. – Das ist schon der Ungeheuerlichkeit zu viel. Ich habe mir deshalb also erlaubt, den Begriff „Lügner“ zu nehmen; den will ich nicht noch einmal verwerten. Aber ich stelle fest: Es ist die Unwahrheit; es ist die absolute und totale Unwahrheit. Ich stelle zu Protokoll fest: Ich habe allen, die an diesem Nachmittag am Tisch waren, auch Herrn Grötsch, einen mehrseitigen Prospekt mit Tabellen und Erklärungen übergeben, der das Modell beschreibt, das wir haben – was natürlich hier und anderwärts immer beschwiegen wird, so nach dem Motto: Die haben keins. – Das musste also jeder verstehen, der diesen Prospekt gelesen hat. Es wird dann immer hinzugefügt, dieser Vorschlag sei nicht paraphiert. – Ja, das stimmt; die Diskussion hatten wir schon einmal. Wenn ich, wie das die kleine Koalition macht, das jetzige Wahlrecht nehme und zwei Zahlen ändere, nämlich 598 durch 550 ersetze – – 298 durch 250 ({2}) und die Zahl der Abgeordneten von 598 durch 630: Das kann ich, das kann die Fraktion bei uns auch, und das kann auch ein Mitarbeiter der unteren Gehaltsstufe in zehn Minuten; aber dieses ist nicht einfach. Ich habe einen Vertrag mit einem Staatsrechtslehrer, der an dem Thema arbeitet, und das dauert ein paar Tage. Ich will noch einmal feststellen – weil auch das wahrheitswidrig behauptet worden ist –: Es gibt einen großen Aufsatz eines ehemaligen Ministerialdirigenten, der heute Professor in Halle ist und der in dem Aufsatz der damaligen Behauptung zuwider darstellt, wie viel Novellen des Bundeswahlgesetzes in dieser Republik gemacht worden sind, dass die weit überwiegende Zahl aus dem Innenministerium kam und dass diejenigen, die zu Schröders Zeit angeblich aus dem Parlament kamen, immer über die kalte Küche im Innenministerium gemacht und eingebracht worden sind unter dem Etikett „Haben wir als Fraktion gemacht“. So, um das richtigzustellen. – Deshalb noch einmal: Dieser Vorschlag existiert. Ich will ein Zweites sagen, meine Damen und Herren – und das bitte ich ernst zu nehmen –: ({3}) Ich will feststellen, dass, wenn Sie wirklich in die Literatur gehen, was offenbar Herr Frieser und – wer war das noch? – der Kollege Ebeling, der mir das Lesen empfohlen hat – – ({4}) – Heveling, gut. – Also kann ich auch noch sagen: Lesen bildet. Das würde ich gerne dem Kollegen mitgeben: Er möge bitte den Staatsrechtler Meyer, Humboldt-Universität, lesen; der war hier Rektor.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter Glaser, Sie müssen zum Schluss kommen.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bin sofort fertig. Diesen Satz bitte noch zu Ende. – Er hat sich über Wahlrecht habilitiert, und er hat in der Fachzeitschrift – die Juristen kennen sie – „Archiv des öffentlichen Rechts“ im November 2018 einen 35-seitigen Aufsatz veröffentlicht. Ich darf Ihnen mitteilen: Er mündet in einer Schlussfolgerung, die genau das wesentliche Ergebnis unseres Vorschlages beinhaltet. – Ich bitte deshalb, mit der Legende aufzuräumen, der Vorschlag sei nicht hoch gesegnet und hoch verfassungsgemäß. Wahrscheinlich würde er uns allen helfen, wenn man denn nur wollte. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das war die Erklärung nach § 32 der Geschäftsordnung nach Abschluss der Aktuellen Stunde.

Kerstin Griese (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003440

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 1. Januar 2020 sind wir nicht nur in ein neues Jahrzehnt gestartet. An diesem Tag ist auch eine große sozialpolitische Reform in der Praxis angekommen. Das Herzstück des Bundesteilhabegesetzes ist in Kraft getreten: die reformierte Eingliederungshilfe. Die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes – viele waren dabei in der letzten Wahlperiode – war ein zentraler Meilenstein der Politik für Menschen mit Behinderungen; denn mit dem Bundesteilhabegesetz, mit dem BTHG, ist es uns gelungen, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Eingliederungsleistungen wie zum Beispiel Integrationshelfer in Schulen, Assistenzen oder das Budget für Arbeit oder für Ausbildung werden nun konsequent am individuellen Bedarf der Berechtigten ausgerichtet. Die Bedürftigkeit als Zugangsvoraussetzung entfällt. Gerade diese Reformstufe des BTHG war besonders umstritten, und es gab viele Bedenken und Sorgen von allen Seiten. Deshalb wurden Unterstützungs- und Untersuchungsaufträge in das Gesetz aufgenommen und gestaffelte Berichtspflichten festgelegt, die weit über das übliche Maß hinausgehen. Den zweiten dieser Umsetzungsberichte zum BTHG hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Ende 2019 vorgelegt. Er befasst sich mit vier laufenden Begleitprojekten. Zum Ersten mit der Umsetzungsbegleitung. Damit greifen wir allen Beteiligten bei den komplexen Neuerungen der Eingliederungshilfe unter die Arme: den Trägern, den Leistungserbringern und natürlich auch den betroffenen Menschen mit Behinderungen und ihren Betreuerinnen und Betreuern. Zum Zweiten befasst sich der Bericht mit der Finanzuntersuchung. Hier untersuchen wir wissenschaftlich die Auswirkungen des BTHG auf die Einnahmen und Ausgaben in der Eingliederungshilfe. Drittens. Ein weiteres Modellprojekt ist die modellhafte Erprobung wesentlicher Änderungen bei bundesweit 29 Trägern. Viertens. Schließlich befasst sich der Bericht mit der Wirkungsprognose. Hier erforschen wir, wie sich die Neuregelungen individuell auf die Berechtigten auswirken; denn entscheidend ist doch, ob es uns mit dem BTHG gelungen ist – das ist unser Ziel –, die Teilhabe und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen zu verbessern. ({0}) Meine Damen und Herren, nebenher laufen zahlreiche weitere Beteiligungsprozesse, mit denen die Bundesregierung die Einführung der reformierten Eingliederungshilfe begleitet. Dadurch war es uns möglich, Bedarfe für wichtige Klarstellungen und Korrekturen zu identifizieren, die bereits in zwei abgeschlossene Gesetzgebungsverfahren eingeflossen sind. Und dennoch: Die mit dem BTHG einhergehende Umstellung war eine große Anstrengung für die Verwaltung, die Leistungserbringer und nicht zuletzt für die Betroffenen selbst. Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, allen Beteiligten meinen Respekt und Dank auszudrücken, dass diese herausfordernde Umstellung zum 1. Januar vergleichsweise reibungslos verlaufen ist, wenn auch noch viel zu tun ist. ({1}) Eines darf dabei nicht aus dem Blick geraten: Es stimmt, die Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen der Eingliederungshilfe im bisherigen stationären Bereich ist mühsam. Sie ist aber Voraussetzung für die zentralen Verbesserungen, die wir mit dem BTHG erreichen: mehr Selbstbestimmung für Menschen, die in den bisherigen stationären Einrichtungen leben, und eine verbesserte Einkommens- und Vermögensanrechnung für alle Berechtigten. Beides ist nur zu haben, wenn wir zwischen den Fachleistungen der Eingliederungshilfe und den existenzsichernden Leistungen der Grundsicherung differenzieren. Also, ja, das macht Mühe, das kostet Nerven, das bereitet nicht immer Freude, und es klappt auch noch nicht überall. Aber der bestehende Begleitprozess trägt zum Gelingen dieser großen und wichtigen sozialpolitischen Reform bei. Bei aller Kritik: Die Ziele, die damit erreicht werden, sind es wirklich wert. Das spüren viele Menschen mit Behinderung in diesem Jahr deutlich durch die neue Einkommens- und Vermögensanrechnung, ganz konkret zum Beispiel durch die Abschaffung der Einkommensanrechnung bei Ehegattinnen und Ehegatten. Das hat viele gefreut, und das war ein wichtiger Schritt. ({2}) Das zeigt: Wir sind ein gutes Stück weiter auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Wir werden weiter intensiv daran arbeiten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Die Regierung legt heute einen Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes vor, einen Bericht von zwei Bundestagdrucksachen mit insgesamt über 500 Seiten, 500 Seiten, die den Steuerzahler 48 Millionen Euro kosten und das Ergebnis von Seilschaften und Vorteilsnahmen zugunsten SPD-naher Institute veranschaulichen. ({0}) Minister Heil, das Bundesteilhabegesetz soll die Lebenssituation von Millionen Mitbürgern mit einer anerkannten Schwerbehinderung verbessern und Teilhabe im sozialen und beruflichen Kontext ermöglichen. Doch statt diesen Menschen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation zu ermöglichen, ({1}) haben Sie das Gesetzespaket ihrer ehemaligen SPD-Vorsitzenden und damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles eins zu eins übernommen und einen Bürokratiemoloch geschaffen, der leider nicht zugunsten der Betroffenen agiert. ({2}) Dieser Moloch scheint jedoch ein anderes Ziel zu verfolgen: Umgehung des Parlaments und Übertragung von Entscheidungsbefugnissen zugunsten des SPD-Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. ({3}) In Artikel 25 übertragen Sie die Zuständigkeit für die Organisation und Implementierung des Bundesteilhabegesetzes allein und ausschließlich dem Bundesministerium für Arbeit. Bereits bei anderen Gesetzen wie zum Beispiel bei der Qualitätssicherung und Zulassung von Maßnahmenträgern – § 184 SGB III – sind dem Bundestag gewisse Kompetenzen entzogen worden, indem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Zulassung von Trägern und Maßnahmen eigenverantwortlich ist und ohne Zustimmung des Bundestages agieren darf. Somit sind der parlamentarische Zugriff und die Kontrolle der Volksvertreter nicht mehr gegeben, um Fehlanreizen und Missbrauch entgegenzuwirken. ({4}) Dieses Konstrukt der Eigenverantwortlichkeit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes knüpft an diese Umgehung des Parlamentes an. Kein verantwortungsvoll denkender Mensch würde sonst in 31 Projekten einen Beirat mit Vertretern aus Ländern, dem Städtetag, dem Landkreistag, Sozialhilfeträgern, freien Wohlfahrtsträgern und vielen anderen ins Leben rufen, um die Novellierung des Bundesteilhabegesetzes zu begleiten und auf den Weg zu bringen. Von den 31 Pilotprojekten haben sich zwischenzeitlich bereits zwei Landkreise aufgrund von Personalmangel verabschiedet; das spricht Bände. ({5}) Dieser Moloch verschlingt auch Unmengen an Steuergeldern, und zwar 48 Millionen Euro, indem er Evaluierungsaufträge an Träger und Institute vergibt, Institute wie infas, das Institut für angewandte Sozialwissenschaft, 1959 gegründet mit SPD-Geldern, ({6}) oder das ISG, das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, gegründet von Otto Blume, ({7}) einem Genossen der Willy-Brandt-Ära. Millionen Menschen, die sich vom neuen Bundesteilhabegesetz ({8}) eine reale Verbesserung im Alltag erhofft haben, werden enttäuscht, wohingegen SPD-nahe Organisationen daraus Profit schlagen. ({9}) Diese Vorgehensweise reiht sich in Ihre Vorgehensweise zugunsten der DDVG ein. ({10}) Wir erinnern uns: Ausgliederung der Zeitungszusteller aus dem Mindestlohn, Befreiung der Zeitungszusteller von der Rentenpflicht. Auch von der Zwangseinführung der Bonpflicht ({11}) profitiert die DDVG als Teilhaber vom Kassenbon-Start-up LocaFox. ({12}) Liebe Bürgerinnen und Bürger, falls es Sie interessiert, was das Fazit ({13}) der beauftragten Institute zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes ist – ({14}) es lässt sich mit wenigen Worten erklären –: Es gibt kein Ergebnis. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Wir behandeln heute den ersten Bericht zum Bundesteilhabegesetz nach Artikel 25 des Bundesteilhabegesetzes. Wir haben seinerzeit sehr bewusst im Gesetz aufgenommen, dass wir das Gesetz regelmäßig evaluieren wollen. Sehr geehrter Herr Witt, das ist keine Verschwendung von Steuergeldern; dem will ich ganz deutlich widersprechen. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, ein Gesetz, dessen Entstehungsprozess in der letzten Legislaturperiode über mehrere Jahre andauerte – das war kein Gesetz, das wir in einem Jahr beschlossen haben –, dem ein umfangreicher Teilhabeprozess, in dem alle Verbände berücksichtigt worden sind, vorgeschaltet war, zu evaluieren. Wir haben in diesem Prozess den Gesetzentwurf der Ministerin nicht eins zu eins übernommen, sondern haben aus dem Parlament heraus etwa 100 Änderungsanträge hineingearbeitet. Sie können das natürlich nicht wissen, weil Sie in der letzten Legislaturperiode noch nicht dabei waren. ({0}) Man hätte sich das aber vielleicht mal anlesen können. Wenn Sie aber davon sprechen, dass das hier eine Verschwendung von Steuergeldern sei, muss ich ganz deutlich widersprechen. ({1}) Warum? Ich widerspreche, weil das ein so komplexes Gesetzgebungsverfahren war. Wir merken auch jetzt in der Umsetzung, dass das nicht alles reibungslos verläuft. Es gibt Dinge, die nicht gut laufen, bei denen wir noch besser werden müssen; das alles will ich nicht beschönigen. Aber die Evaluation soll uns ja vor Augen führen, wo wir noch ansetzen müssen. – Herr Beeck, ich weiß, worauf Sie gleich hinauswollen. Ich sehe Sie schon schmunzeln. Es ist ja trotzdem wichtig, dass wir uns als Gesetzgeber der Sache nicht verschließen. Wir haben damals deutlich gesagt: Das ist ein erster großer Schritt, den wir gehen; es müssen weitere folgen. – Diese weiteren Schritte sind gefolgt; ich gehe darauf gleich ein. Die Komplexität des Gesetzes und der föderalen Struktur, die Einbindung der Länder und der Kommunen, gebietet es, regelmäßig darauf zu schauen. An dem Bericht, für den ich mich sehr herzlich bedanke beim BMAS, Herr Minister und Frau Staatssekretärin, ist das, finde ich, gut zu sehen. Ja, es ist ein erster Zwischenbericht. Ja, bei einigen Themen müssen wir abwarten, wie sie sich jeweils weiterentwickeln. Aber wir wissen zum Beispiel, dass den Wünschen, die im Zusammenhang mit dem Wunsch- und Wahlrecht, das ja auch in dem ganzen Gesetzgebungsverfahren damals ein großes Thema war, geäußert werden, laut dem Bericht nahezu vollständig entsprochen wird und dass wir den Rahmen von existenzsichernden Leistungen wie bei den Kosten der Unterkunft die 125-Prozent-Grenze in einem sehr überschaubaren Maß überschreiten oder dass wir gerade auch bei dem Stichwort „Neuregelung der Einkommens- und Vermögensanrechnung“ wirklich finanzielle Verbesserungen für die Menschen mit einer Beeinträchtigung erzielen konnten. Das sind doch Erfolge, die dieser Bericht zunächst einmal belegt, und das sollte man an dieser Stelle positiv herausheben. Es gibt bei der jetzt eingeführten Trennung von Fachleistungen und Eingliederungshilfen – ich weiß, dass Sie, Herr Beeck und Frau Rüffer, darauf gleich eingehen werden – ({2}) natürlich noch Umsetzungsschwierigkeiten. Das müssen wir uns ganz genau anschauen. Ein großes Problem, das wir uns wirklich zeitnah anschauen müssen, ist, dass die Vertreterinnen und Vertreter im Betreuungswesen natürlich gerade vor ganz besondere Herausforderungen gestellt werden, und es darf letztlich nicht sein, dass uns diese wegbrechen. Darüber hinaus ist es natürlich auch wichtig, dass wir alle weiteren Dinge berücksichtigen, die wir in dieser Legislaturperiode im Rahmen von Weiterentwicklungsgesetzen schon auf den Weg gebracht haben. Ich nenne hier als Beispiel die besondere Situation der Jugendlichen in den Wohngruppen, wo wir statt der starren 18-Jahres-Grenze ein System geschaffen haben, das wir fließend gestalten können. Ich nenne als weiteres Beispiel – das nur als Ankündigung –, dass wir uns die Definition der leistungsberechtigten Personenkreise in § 99 SGB IX noch mal anschauen wollen, aber auch den Punkt, dass wir über das Budget für Arbeit hinaus das Budget für Ausbildung eingeführt haben. Das sind doch Dinge, von denen ich sagen muss: Man sieht, dass wir da als Gesetzgeber und als Regierungskoalition an dem Thema dran sind und weiterhin am Ball bleiben. Ziel muss es im Ergebnis sein, dass das Bundesteilhabegesetz mehr Teilhabe und Selbstbestimmung für die Menschen mit einer Behinderung ermöglicht, und in diesem Prozess werden wir Schritt für Schritt weitergehen. Es gibt sicherlich noch viele Themen, die wir anpacken müssen, noch viele Themen, die wir genauer beobachten müssen. Aber hier davon zu sprechen, dass das jetzt verschwendetes Steuerpotenzial und Steuergeld ist, das weise ich ausdrücklich zurück. ({3}) Und ich muss auch ganz ehrlich sagen, Herr Witt: Das sollten Sie an dieser Stelle deutlich zurücknehmen, weil es zeigt, dass Sie von der Thematik und von dem, was im Gesetz angelegt ist, im Ergebnis keine Ahnung haben. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens Beeck das Wort. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Griese! Herr Minister! Uns liegen 500 Seiten des Teilhabeverfahrensberichts mit Stand vom Januar 2020 vor. Insgesamt sind wir uns aber, Herr Kollege Oellers, vermutlich einig, dass der Großteil der Aussagen weder repräsentativ ist noch zu den eigentlichen Schnittstellen hinführt, die wir im Bundesteilhabegesetz derzeit haben. Das kann man vielleicht auch nach der kurzen Umsetzungszeit nicht erwarten. Aber tatsächlich führt es uns nicht weiter. Frau Staatssekretärin Griese, dass das ein relativ reibungsloser Start in der Umstellung zum 1. Januar 2020 war, erklären Sie mal beispielsweise den Menschen in Baden-Württemberg, die im Rahmen der Sozialhilfe noch einen Barbetrag zur Verfügung hatten und von denen viele heute nicht mehr frei über Bargeld verfügen können, weil diese Umstellung eben nicht funktioniert hat. Das kann man nicht schönreden. ({0}) – Natürlich ist das die Landesregierung. Wir reden doch hier darüber, Herr Kollege Rosemann. ({1}) – Das ist jetzt ein Trick. Sie wollen meine Redezeit verkürzen. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, dann antworte ich Ihnen gerne. Wir reden doch über die Frage: Was schreiben wir hier eigentlich in Gesetze, und was kommt bei den Menschen an? Da bestätigt das, was an Berichten vorliegt, leider die Aussage, dass sich die Lebenswirklichkeit trotz der hehren Ziele des Bundesteilhabegesetzes, die wir alle teilen, nicht verbessert, sondern sich sogar verschlechtert. Wir adressieren nach wie vor nicht, dass wir eine extrem komplexe Rechtslage haben, wo Leistungserbringer gar nicht wissen, wie sie die neuen Verträge aufstellen sollen, und Betroffene gar nicht wissen, wie sie solche Verträge verstehen und guten Gewissens unterzeichnen sollen. Wir haben neue Meldepflichten beim Sozialamt: Wie oft bin ich in der Einrichtung? Wann bin ich dort eigentlich nicht? Früher gab es die Taschengeldproblematik. Diese habe ich angesprochen. All das wird nicht angefasst von dieser Bundesregierung. Das ist ein großer Fehler, weil es darum geht, Menschen zu helfen, und nicht, tolle Gesetze zu schreiben. ({2}) Es ist notwendig, lange vor weiteren 500 Seiten starken Berichten die wesentlichen Dinge anzufassen, die Selbstständigkeit der Menschen zu stärken und sich nicht auf das zu verlassen, was man in Gesetze geschrieben hat. Wenn auf der einen Seite im Personenbeförderungsgesetz seit 2012 unter Schwarz-Gelb Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr kodifiziert ist und auf der anderen Seite die Deutsche Bahn heute Züge, die in drei, vier Jahren geliefert werden und die nicht barrierefrei sind, weil sie Rampen mit einer 15-prozentigen Steigung haben, die man mit dem Rollstuhl nicht befahren kann, bestellt, dann ist das nicht zufriedenstellend. Wenn bis heute die dringend notwendigen Assistenzleistungen, beispielsweise durch Assistenztiere, Assistenzhunde, überhaupt nicht abgebildet sind – dazu gibt es ein schönes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Februar 2020 –, dann ist das nicht zufriedenstellend. Wenn man Taschengeld, das man früher hatte, heute nicht mehr bekommt, dann ist das nicht zufriedenstellend. Wenn die Assistenzleistungen nicht wirklich gewährt werden, obwohl sie im Gesetz kodifiziert werden, ist auch das im Grunde ein Armutszeugnis für das, was Bund und Länder gemeinsam leisten. ({3}) Aber wir sollten die Missstände hier offen ansprechen und gemeinsam für Verbesserungen für die Menschen sorgen, statt immer nur neues Papier zu produzieren. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Griese, ich hätte schon erwartet, dass Sie in Ihrem Bericht einmal die Probleme ansprechen, die es bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes gibt und die man auch nicht schönreden kann. Deswegen möchte ich den Fokus auf eine aktuelle Debatte legen, welche von großer Bedeutung ist, nämlich über den leistungsberechtigten Personenkreis, der in Ihrem Hause auch eine wesentliche Rolle spielt. 2016 stießen die Vorschläge der Bundesregierung zur Neufassung der Regelungen zum leistungsberechtigten Personenkreis auf heftige Kritik. Die Folge war: Sie mussten diese zurücknehmen. Damals wollten Sie im Referentenentwurf des Bundesteilhabegesetzes vorschreiben, dass Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen möchten, beispielsweis in mindestens fünf von neun Lebensbereichen ohne personelle oder technische Unterstützung nicht teilhaben können, um einen Leistungsanspruch zu haben. Dies ging an den realen Lebensbedingungen der Menschen vorbei und hätte einen wesentlichen Teil der bisher Leistungsberechtigten ausgeschlossen. Das wäre ein echter Skandal gewesen. ({0}) Alle Expertinnen und Experten hatten das 2016 auch so gesehen. Die Bundesregierung benötigte dafür aber wieder einmal deutlich länger Zeit und sogar eine Studie. Diese kam dann zu dem Ergebnis, was wir alle wissen: Der Personenkreis wird eingeschränkt. – Zum Glück sind wir nun einen Schritt weiter. In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales einberufenen Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“ wurde dieses sehr kritikwürdige Modell schnell verworfen und ein neues entwickelt. Das ist gut so, meine Damen und Herren. ({1}) Wir begrüßen sehr, dass in dieser Arbeitsgruppe alle betroffenen Akteure, auch die Organisationen und Verbände der Menschen mit Behinderungen, beteiligt wurden. Das ist richtig so. Auch in Rückkopplung mit Vertreterinnen und Vertretern dieser Organisationen und Verbände begrüßen wir die geplanten neuen Regelungen zur Ausgestaltung des leistungsberechtigten Personenkreises. Aber wir bedauern, dass ein bereits in der Arbeitsgruppe getroffener Kompromiss bezüglich der zugehörigen Verordnung am Ende doch wieder teils strittig gestellt wurde, also ein Schritt vor und zwei wieder zurück. Das ist nicht hinnehmbar. ({2}) Das Minimum muss doch sein, dass keine bisher leistungsberechtigten Personen den Anspruch verlieren. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Gesetzentwurf noch in diesem Jahr zügig einzubringen und abzuschließen. Grundsätzlich ist aber aus unserer Sicht immer noch eine deutliche Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises und der Teilhabeleistungen notwendig. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Zu einer inklusiven Gesellschaft gehört umfassende Teilhabe in allen Lebensbereichen. Das ist unsere Forderung; das muss die Überschrift dieses Gesetzes sein. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Corinna Rüffer das Wort. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt sage ich auch mal: Hochverehrte Frau Präsidentin! Und: Liebe Demokratinnen und Demokraten hier im Raum! Dieses Parlament ist unter anderem dafür da, die UN-Behindertenrechtskonvention in diesem Land voranzutreiben, umzusetzen. Und das Bundesteilhabegesetz, über das wir heute reden, sollte ein Beitrag zur Umsetzung sein. Aber ich sage Ihnen – das wird Sie nicht verwundern –: Es war eben nicht genug. Ich bekomme ständig Mails von Werkstattmitarbeiterinnen und Werkstattmitarbeitern, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten wollen und dabei nicht unterstützt werden. ({0}) Noch immer berichten Menschen davon, wie sie – Frau Tack, das wissen Sie auch – um jedes bisschen Unterstützung kämpfen müssen. Die Klagen und Beschwerden über die Bürokratie in diesem Bereich nehmen schier kein Ende. Jeder, der in dem Bereich tätig ist, weiß das auch. Und jeder weiß auch, dass das Bundesteilhabegesetz diese Probleme eben nicht löst. Es pflastert und flickt, es macht hier und da etwas, aber es löst diese Probleme nicht, und es stellt immer noch nicht den Menschen mit seinem Recht auf Selbstbestimmung in den Mittelpunkt der Politik, die wir betreiben müssen. ({1}) Und Sie wissen: Ich bin nicht alleine mit dieser Kritik. Schon als die ersten Informationen über dieses Gesetz bekannt geworden sind, standen alle Seiten auf den Barrikaden: auf der einen Seite die Kommunen und Länder, die gesagt haben: „Das wird alles zu teuer“, auf der anderen Seite die Menschen, die von diesem Gesetz betroffen sind und vom ersten Moment an davor gewarnt haben, dass das Gesetz nicht weit genug geht, und die vor solchen Sachen wie beispielsweise der „5 aus 9“-Regelung gewarnt haben. Sie waren es auch, die das abgeräumt haben, die es verhindert haben. Das ist nicht selbsttätig hier im Parlament entstanden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Rüffer, ich habe die Uhr angehalten. – Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. ({0}) – Kannst du nächstes Mal anfordern.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Rüffer, ich schätze ja wirklich Ihr Engagement. Aber wenn Sie hier das Thema „Zugang von Menschen aus Werkstätten zum ersten Arbeitsmarkt“ ansprechen, dann frage ich Sie vor dem Hintergrund, dass wir das Budget für Arbeit eingeführt haben: Warum nutzt denn in Baden-Württemberg – ich komme aus Baden-Württemberg; ({0}) Sie wissen das wahrscheinlich; man hört es auch – der grüne Sozialminister nicht die Chance, über die bundesweiten Standards hinauszugehen und im Umsetzungsgesetz für Baden-Württemberg ein richtig gutes, innovatives Budget für Arbeit zu schaffen? Warum macht denn das Ihr grüner Sozialminister in Baden-Württemberg nicht? Warum nutzt er die Chancen des Bundesteilhabegesetzes nicht? ({1}) Ich frage Sie weiter, Frau Rüffer. Sie sagen, wir würden keine Individualisierung von Leistungen einführen. Genau das ist zum 1. Januar 2020 in Kraft getreten: dass das Geld den Menschen folgt, dass die Teilhabeleistungen individuell bestimmt werden. Ich frage Sie: Warum funktioniert genau das in Baden-Württemberg nicht? ({2}) Warum gibt es in Baden-Württemberg ein Umsetzungsgesetz mit einer Übergangsregelung bis Ende 2021, wodurch quasi der jetzige Leistungstatbestand fortgeschrieben wird und weswegen sich die Leute fragen, warum es zu keiner Leistungsverbesserung, sondern zu einer Verkomplizierung kommt. Das liegt nicht in der Verantwortung des Bundes, sondern in der Verantwortung des grünen Sozialministers Manne Lucha in Baden-Württemberg. ({3}) Warum wird in Baden-Württemberg das Gesetz nicht so umgesetzt, wie wir es als Bundesgesetzgeber gewollt haben? ({4}) Die Grünen hätten es doch in der Hand. Warum passiert das nicht? ({5}) – Ja, Sie von den Grünen schreien. Sie wissen auch, dass wir Föderalismus haben und dass wir eine gemeinsame Verantwortung bei der Umsetzung haben. Warum funktioniert es gerade dort, wo die Grünen die Verantwortung haben, in Baden-Württemberg, nicht?

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der hat ja mehr Redezeit als ich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, ich glaube, die Frage ist verstanden.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum braucht Baden-Württemberg bis eine Woche vor Weihnachten, um mit Kommunen die Finanzierungsvereinbarung hinzukriegen? Und warum hat es Baden-Württemberg bis heute nicht geschafft – – ({0}) – Ja, Sie wollen es nicht hören – das ist ja klar –, weil Sie die Verantwortung dafür tragen. ({1}) Warum hat es Baden-Württemberg, Ihr grüner Kollege, bis heute nicht geschafft, eine Rahmenvereinbarung, einen neuen Rahmenvertrag abzuschließen?

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt bin ich dran. – Sehr verehrter Herr Rosemann, ich glaube, Sie haben ein Baden-Württemberg-Trauma, aber das werden wir in dieser Debatte nicht lösen können. ({0}) Ich antworte Ihnen als, soweit ich weiß, einzige Abgeordnete im diesem Haus – das gilt auch für Bundesbehörden; dort wird das Gesetz in diesem Punkt bisher kaum angewendet –, die einen Menschen im Rahmen des Budgets für Arbeit beschäftigt. Ich komme nicht aus Baden-Württemberg, sondern aus Rheinland-Pfalz, wo dieses Budget entstanden ist, vor vielen Jahren. ({1}) Da hätte man lernen können. Von Rheinland-Pfalz lernen, heißt an dieser Stelle: ein Stück weit siegen lernen. ({2}) Wir haben in Rheinland-Pfalz seit Jahren vernünftige Standards für das Budget für Arbeit. ({3}) Wir haben Sie von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Ausstattung des Budgets dazu führt, dass bestimmte Personengruppen keinen Zugang haben bzw. dass die Einstellung von Menschen mit Behinderungen nicht attraktiv ist. Das betrifft vor allen Dingen Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen, die, bevor sie erkrankt sind, ein erfülltes Berufsleben hatten. Für sie reicht eine Orientierung am Mindestlohn überhaupt nicht aus. Nun mussten wir als Land Rheinland-Pfalz mit einer Tradition in diesem Bereich unsere Standards brechen, weil Sie so ein schlechtes Gesetz auf Bundesebene gemacht haben; immerhin haben Sie noch einen Zugang gelassen, den alten Standard weiterverfolgen zu können. ({4}) Warum haben Sie nicht aus den Erfahrungen über mindestens ein Jahrzehnt rund um das Budget für Arbeit gelernt? Warum haben Sie das Gesetz nicht so ausgestattet, dass wir über solche Fragen heute überhaupt nicht mehr diskutieren müssen? ({5}) Ich möchte Ihnen bezogen auf Baden-Württemberg noch etwas sagen: Die Vorgängerregierungen haben ein Erbe hinterlassen, mit dem die jetzige Regierung umgehen muss. Baden-Württemberg ist das Land – ich glaube, deswegen hat Jens Beeck über die besonderen Probleme bei der Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen gesprochen – mit den größten Komplexeinrichtungen in der gesamten Republik. Das ist ein Riesenproblem, und das strukturell aufzuarbeiten, muss für uns alle ein Thema sein. ({6}) Das ist auch ein Thema für den Minister in Baden-Württemberg, da bin ich mir ganz sicher. ({7}) Nun liegt ein Forschungsbericht vor, der in bestimmten Fragen Klarheit schaffen sollte. Zumindest in einem Bereich gibt es Klarheit, nämlich bei der Frage der Anrechnung von Einkommen und Vermögen; das ist an anderer Stelle schon angesprochen worden. Das Bundesteilhabegesetz ermöglicht zumindest, dass die Menschen nicht mehr nur 3 600 Euro, sondern 57 000 Euro Vermögen besitzen dürfen. Für uns andere Menschen in diesem Land ist es natürlich unvorstellbar, dass einem ab dieser Summe das Geld abgenommen wird. In dem Bericht wird festgestellt, dass es kaum Menschen gibt, die eine Behinderung haben und gleichzeitig so viel Vermögen besitzen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass der ganze Verwaltungsaufwand, den wir betreiben, total irrsinnig ist. Jetzt ist der Zeitpunkt, die Regelung so zu gestalten, dass die Menschen nicht mehr ans eigene Vermögen ran müssen. Das betrifft nicht viele, aber es ist symbolisch total wichtig. Warum ist das symbolisch wichtig? Weil die gesamte Gesellschaft dafür verantwortlich ist, dass Menschen mit Behinderungen genau wie jeder andere teilhaben können. Das darf keine Aufgabe sein, die am Portemonnaie des Einzelnen hängt. ({8}) Dann können wir uns auch endlich mit den schwierigen Problemen auseinandersetzen, und zwar konzentriert; denn wir alle wissen, wie schwer es die Betroffenen haben, an Leistungen zu kommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Rüffer, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Dann können wir uns in der Tat mit den wahren Problemen von Menschen mit Behinderungen in diesem Land auseinandersetzen und endlich eine inklusive Gesellschaft schaffen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will eines in Erinnerung rufen: Wir debattieren heute über die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Ziel dieses Gesetzes ist es, für Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und Teilhabe zu schaffen. Was heißt das konkret? Wohnen, wo und wie man will, sich mit Freunden und Bekannten treffen, durch Arbeit eigenes Geld verdienen, nicht zu Hause vereinsamen – auch nicht im Alter. Wir alle sind aufgerufen, daran mitzuwirken. Mit dem Bundesteilhabegesetz haben wir den gesetzlichen Rahmen geschaffen, um diesen Umdenkprozess anzustoßen, zu gestalten, aber eben auch, um ihn zu begleiten. Hier, Herr Beeck, will ich auch noch sagen: Begleiten heißt aber auch, dass wir uns auf das Bundesteilhabegesetz konzentrieren. „Assistenzhunde“ gehört in den Bereich des SGB V. Das ist ein Hilfsmittel aus der Gesundheitsversorgung. Sie haben alles vermischt und vermengt. ({0}) Das Gesetz sieht auch weitreichende Änderungen vor, etwa die Pflicht, ein eigenes Konto einzurichten, die Trennung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen, einen höheren Selbstbehalt bei Einkommen und Vermögen. Das ist ein Paradigmenwechsel. Dieser erfordert Umstellungen bei Leistungsträgern,-erbringern und ‑berechtigten. Naturgemäß befördert das Fragen und Vorbehalte. Es ist klar: Die Verbände befürchten, dass es teilweise schlechtere Leistungen gibt. Seitens der Länder und Kommunen wird befürchtet, dass es Kostensteigerungen gibt. Deswegen bin ich froh, dass wir heute die beiden Berichte der Bundesregierung beraten, die Antworten auf diese Fragen geben sollen. Ich will zu diesen Berichten etwas ausführen. Mehr vom Einkommen und Vermögen behalten zu können, so besagt der eine Bericht, führt absehbar zu einer deutlichen finanziellen Entlastung für die Menschen mit Behinderungen und damit zu mehr Handlungsspielraum, zu mehr Selbstbestimmung, genau so, wie wir das wollten. ({1}) Hinsichtlich der Eingliederungshilfe werden sogar Einspareffekte für die Kostenträger erwartet, bedingt durch bessere Steuerung und bessere Prävention. Ab 2020 wird mit ansteigenden Effizienzrenditen gerechnet, zunächst in Höhe von 100 Millionen Euro. Das sind mehr als die im Bericht prognostizierten Mehrausgaben in der Eingliederungshilfe in Höhe von 56 Millionen Euro. Kolleginnen und Kollegen, das ist eine wichtige Erkenntnis, vor allem für die besonders strukturschwachen und in der Regel hochverschuldeten Kommunen. Wünschen zur Wohnform wird fast immer stattgegeben. Auch das, finde ich, ist ein wichtiger Punkt. Ich könnte weitere Punkte ausführen. Es lohnt sich echt, diesen Bericht zu lesen. Er enthält wichtige Hinweise, zu denen man sagen kann: Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich danke an dieser Stelle dem BMAS, allen voran Hubertus Heil, unserem Arbeitsminister, für diesen sehr transparenten und umfassenden Bericht, der noch keine vollständigen Erkenntnisse, aber erste wichtige Eindrücke gibt. ({2}) Eines will ich abschließend noch sagen – das ist mir wichtig, Kolleginnen und Kollegen –: Die SPD-Fraktion will keinen Menschen mit Behinderung zurücklassen. Für uns sind alle Menschen gleich viel wert. ({3}) Diesem Anspruch kommen wir mit dem Bundesteilhabegesetz einen großen Schritt näher. Das zeigt sich schon in diesem Bericht. Ich bin gespannt auf die weiteren Beratungen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich kann mich an den Gesetzgebungsprozess zum Bundesteilhabegesetz sehr gut erinnern. Es war ein langer und sehr schwieriger Prozess, weil wir alle wussten, dass es um wirklich viel geht. Es geht um die Menschen in diesem Land, die ein Recht auf volle Teilhabe haben, die ein Recht darauf haben, dass wir ihnen Behinderungen aus dem Wege räumen. In diesem Prozess waren viele in diesem Hause davon getragen, etwas Gutes zu tun, und keiner hat ernsthaft gewollt, dass irgendwem irgendwas zugeschustert wird. Das möchte ich an dieser Stelle klarmachen. Wir mussten einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik einläuten, und das ist uns mit dem Bundesteilhabegesetz im Wesentlichen auch gelungen. ({0}) Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz die Eingliederungshilfe in Deutschland sozusagen auf den Kopf gestellt. Wir haben den Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Zuvor war von den Institutionen her gedacht worden; wir haben den Menschen ins Zentrum gerückt. Wir haben die Begriffe und Definitionen zeitgemäß angepasst. Wir haben die Leistungen deutlich ausgeweitet. Wir haben das Einkommen und das Vermögen der Betroffenen bessergestellt. Und wir haben neue Möglichkeiten der Beschäftigung für die Menschen mit Behinderung geschaffen. Das alles ist ein Paradigmenwechsel, der schwierig, aber notwendig war. Natürlich haben diese vielen Veränderungen bei den Betroffenen, den Leistungsträgern und den Leistungserbringern auch Unsicherheit ausgelöst. Dieser Unsicherheit wollten wir von Anfang an entgegentreten, indem wir die Umsetzung dieses Gesetzes beobachten und evaluieren. Insgesamt 500 Seiten Bericht liegen uns nun vor, und das, obwohl die größten Änderungen erst zum 1. Januar in Kraft getreten sind. Ich möchte auf einige Punkte eingehen, die schon damals für besonders viele Diskussionen gesorgt haben. Ein solcher Punkt ist der Einsatz von Einkommen und Vermögen. Viele Menschen haben damals zu Recht gefordert, dass sie sich nicht mehr selbst an ihren Teilhabeleistungen beteiligen müssen oder dass der Beitrag zumindest spürbar kleiner wird. Die Berechnungen der Modellprojekte zeigen jetzt, dass nach dem neuen Recht zumindest keiner schlechtergestellt wird. Im Gegenteil: In der Stichprobe mussten nach dem alten Recht 90 Prozent der Leistungsberechtigten Einkommen einsetzen, und nach dem neuen Recht werden das nur noch 4 Prozent sein. Das ist ein deutlicher Erfolg. Nach dem alten Recht lag der Mittelwert des einzusetzenden Einkommens bei knapp unter 400 Euro; nach dem neuen Recht werden das 97 Euro im Mittel sein, also nur noch ein Viertel. Das heißt, deutlich weniger Menschen als bisher müssen sich an den Kosten der Eingliederungshilfe beteiligen, und die Beiträge, die sie aufbringen müssen, sinken deutlich. Das heißt, wir haben in den Grundzügen dieses Ziel mit dem Bundesteilhabegesetz durchaus erreicht. Viele Betroffene und auch die Opposition hier im Haus hatten damals Angst, dass wir durch die Vorgaben im Gesetz das Wunsch- und Wahlrecht einschränken würden. Wir sehen jetzt, dass das nicht passiert ist. Schon nach der alten Rechtslage wurden die allermeisten Wünsche erfüllt. In den fiktiven Entscheidungen nach dem neuen Recht werden quasi alle Wünsche der Betroffenen wirklich umgesetzt. Das gilt insbesondere – das war uns auch damals wichtig – für das Wohnrecht. Wenn man sich diesen Bericht durchliest, kann man durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass all die Ziele, die wir im Wesentlichen verfolgt haben, mit dem Bundesteilhabegesetz wirklich umgesetzt werden können und dass die Befürchtungen der Betroffenen und der Leistungserbringer nicht eingetreten sind. Aber es ist richtig: Man muss in der Praxis weiter beobachten, wie sich das Bundesteilhabegesetz entwickelt. Wir wussten immer, dass man dieses Gesetz weiterentwickeln muss, dass man nachjustieren muss, bis es tatsächlich die volle Teilhabe von Menschen ermöglicht und das verwirklicht, was wir immer wollten: dass alle Menschen in unserem Land ohne Behinderungen leben können. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/16470 und 19/6929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen.

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! Das DRG-System ist das derzeit gültige Krankenhausabrechnungssystem in Deutschland, welches besagt, dass unabhängig von regionalen Anforderungen, globalen Krisen, Patientenliegezeiten und Behandlungsqualitäten über sogenannte Fallpauschalen abgerechnet wird. Dieses DRG-System besteht schon seit 2005. ({0}) Es hat unsere Erwartungen nicht erfüllt. ({1}) Im Gegenteil: So hat sich die Gesamtzahl der Operationen verdrei- bis vervierfacht. Die Versorgungsdichte der Krankenhäuser ging um 10 Prozent zurück; bei kommunalen Krankenhäusern sind es sage und schreibe 18 Prozent. Jetzt gerade aktuell in der Coronakrise arbeiten die Krankenhäuser personell, logistisch und finanziell am Limit. Das spricht vor allem für eins, nämlich mehr für ökonomieoptimierende als für medizinische Gründe. Bei gleichzeitiger Senkung des Personals, insbesondere der Pflegekräfte, und der Liegedauern hat das zu regelrechten Kostenexplosionen einerseits und andererseits zu Arbeitsüberlastung und Investitionsstau in Milliardenhöhe geführt. Deshalb schlägt die AfD-Fraktion die Abschaffung dieses äußerst ineffizienten Systems vor. ({2}) Wir empfehlen kein symptomorientiertes Herumdoktern, sondern die komplette Neustrukturierung der Vergütung nach einem vorausbezahlten, regionalorientierten Pro-Kopf-Vergütungssystem, dem sogenannten PRP-System. Das PRP-System basiert auf einer Vergütungsform, bei der die ökonomische Hauptverantwortung und ein Teil der Versicherungsrisiken auf die Leistungserbringer übergehen. Mit dem PRP-System besteht kein Anreiz mehr für überflüssige Mehrleistungen und Gewinnoptimierung durch Investoren. Nur durch qualitätsorientierte Behandlungen lassen sich neue Zuwächse erzielen. Gefördert werden dadurch Patientenfreundlichkeit und ‑zuwendung; vorangetrieben werden Forschung und Innovationen am Standort Deutschland. Und was in Anbetracht der aktuellen Coronakrise wohl alles andere in den Schatten stellt: Das PRP-System ermöglicht Flexibilität und eine schnelle Reaktion auf globale Krisen. ({3}) Bereits 2017 haben wir im Team um Professor Gehrke betont, dass das von uns geforderte neue System in der Lage sein muss, schnellstmöglich, innerhalb weniger Tage, über die Regionalkomponenten an die aktuellen Bedürfnisse, sogar taggenau, angepasst zu werden. Herr Spahn, wir fordern Sie auf, der Idee der AfD-Fraktion zu folgen und schnellstmöglich eine Gesetzesinitiative zu erarbeiten, die das DRG-System endlich abschafft und durch ein prospektives Regionalpauschalensystem ersetzt. ({4}) Denn auch wenn wir jetzt, ehrlich, noch alle mit einem blauen Auge davongekommen sind: Die nächste Corona-oder-wie-auch-immer-Krise wird bestimmt kommen, und darauf sollten wir vorbereitet sein. Dafür brauchen wir ein moderneres und flexibleres Krankenhausabrechnungssystem mit schnellen regionalen Schalthebeln, meine Damen und Herren. Deshalb fordern wir eindringlich erstens die Einführung eines modernen Systems mit im Voraus bezahlten Regionalbudgets durch Pro-Kopf-Pauschalen, zweitens die Beachtung regionaler Gesundheitsdaten, wie zum Beispiel ländliches Umfeld und/oder gehäufte Krankheitsbilder in der Region, drittens die taggenaue Anpassung der Regionalfaktoren – zum Beispiel bei globalen Gesundheitskrisen – und schnelle Liquiditätstransfers, und last, but not least die Abschaffung des völlig unnützen bürokratischen Aufwands. ({5}) Herr Spahn, Sie haben doch immer Mitarbeit und Ideen gefordert. Wir bieten Ihnen jetzt eine an: im Auftrag und Interesse der Patienten, des Personals und vor allem der schwer angeschlagenen kommunalen Krankenhäuser. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das DRG-System ist seit fast 15 Jahren in Kraft. Es hat noch nie eine so große Änderung erfahren – eine systematische Änderung –, wie zu Beginn dieses Jahres. Warum ist das so? Weil die Koalitionsfraktionen sich den 100-Prozent-Ansatz des DRG-Systems, der sämtliche Behandlungskosten in den Krankenhäusern über dieses System abbildet, in den Koalitionsverhandlungen vor zwei Jahren angeguckt haben und zu dem Ergebnis gekommen sind: Das geht so nicht weiter. Damit haben wir Fehlsteuerungen. Insbesondere haben wir Fehlsteuerungen hinsichtlich der Ausstattung der Kliniken mit Pflegepersonal und der Frage, wo die Krankenhäuser die notwendigen Mittel erwirtschaften, um Investitionskostenausfälle, die sie bei den Bundesländern erleben, zu decken. Deswegen haben wir uns entschieden, die Pflegepersonalkosten durch Gesetzgebung dieses Parlaments komplett aus den DRG-Vergütungen auszugliedern, und das gilt seit dem 1. Januar 2020. Ja, es gibt natürlich eine Debatte um die Frage, ob es gut ist, wenn man dieses von uns kritisch bewertete DRG-System nun für andere Personalgruppen aufrechterhält und für die übrigen Kosten weiterhin anwendet. Das ist eine Diskussion, die man sicherlich wird fortsetzen müssen. Man wird sie auch im Lichte der Erfahrungen fortsetzen müssen, die man jetzt mit der Ausgliederung der Pflegekosten aus dem System gewinnt. Aber mit allem Verlaub, wenn man jetzt sagt: Wir wollen den Abrechnungs- und Administrationsaufwand verringern und zu einer Lösung kommen, die die Risiken von den Krankenhäusern wegverlagert und wieder dort lokalisiert, wo sie richtigerweise bestehen, nämlich bei den Versicherungen, dann ist das, verehrter Kollege Schlund, was Sie heute hier vorschlagen, genau das Gegenteil von dem, was gebraucht wird; ({0}) denn Sie wünschen sich morbiditätsorientierte Regionalbudgets als Basis für prospektive Pauschalen. Wir haben am 13. Februar 2020 das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen und damit den Risikostrukturausgleich überarbeitet. Verbände loben die neuen Anreize für eine stärkere Präventionsorientierung, und jetzt frage ich mich: Wollen Sie nach diesem Beschluss, den wir gerade gefasst haben, jetzt ein Parallelsystem aufziehen? Wollen Sie einen Morbi-RSA auf Kreisebene etablieren? Das passt alles nicht zusammen. Deswegen muss ich Ihnen leider sagen: Ja, es ist gut, wenn Sie überhaupt konkrete Vorschläge machen – konkrete Vorschläge sind ja eine andere Qualität als das, was wir sonst aus Ihrer Fraktion gewohnt sind –, aber die müssten dann auch mehr Substanz in der Sache haben als das, was Sie jetzt hier vorgeschlagen haben. ({1}) Mit dem MDK-Reformgesetz vom November haben wir den Krankenhäusern 250 Millionen Euro für nicht refinanzierte Tarifsteigerungen zugestanden. Wir führen den Krankenhausstrukturfonds bis 2022 mit jährlich bis zu 500 Millionen Euro fort. Wir investieren stark in pflegeentlastende Maßnahmen und in die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ja, es ist richtig, auch zu der Frage, welche Rolle das DRG-System in Zukunft spielt, eine Debatte in Deutschland zu führen; aber das kann ja nicht so ablaufen, dass einer mittags um 11 Uhr – zwischen 11 Uhr und 12 Uhr war das für mein Büro herunterladbar – eine Lösung auf den Tisch legt, die er für klug hält, und dann erwartet, dass sich der Bundestag am Abend dazu verhält. Das muss dann auch in einer anderen Weise diskutiert werden. Deswegen glaube ich: Ja, politische Lösungen braucht man für komplexe Fragen, aber der Weg, auf dem man sie erarbeitet, ist der direkte Dialog mit allen Betroffenen. Dafür spreche ich mich aus. Wir werden der Überweisung in die Ausschüsse natürlich zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Andrew Ullmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte fast nahtlos an Herrn Henke anschließen; denn wir sind ein Arbeitsparlament, und wir wollen auch debattieren. Aber gestern Abend saß ich um 22 Uhr noch bei mir im Büro und habe auf eine E-Mail oder einen Upload von der AfD bezüglich ihres Antrages gewartet. Was ist passiert? Nichts! Erst heute Morgen, als wir in der Ausschusssitzung zu dem wichtigen Thema Coronapandemie waren, wurde das geschickt. Liebe AfD, nichts für ungut, aber so funktioniert Politik wirklich nicht. ({0}) Wenn wir über die Gesundheitsversorgung in Deutschland sprechen, möchte ich klarstellen, wie wir als FDP dazu stehen, und fünf Punkte aufzählen. Erstens. Wir setzen uns als FDP flächendeckend für mehr Qualität bei der Versorgung der Patienten ein. Wir wollen zweitens bedarfsgerechte und vor allem moderne Krankenhausstrukturen, die sich an Versorgungsqualität orientieren. Wir wollen – dritter Punkt – für Qualitätstransparenz sorgen. Wir wollen viertens Qualitätswettbewerb in der Versorgung sicherstellen. Zu guter Letzt – das ist der fünfte Punkt – wollen die Freien Demokraten die ambulante Versorgung zusammen mit der Rettungsdienststruktur stärken und besser verzahnen. ({1}) Selbstbestimmung und Gesundheitsschutz bilden für uns die Leitplanken eines unentbehrlichen, fairen Wettbewerbs um Versorgungsqualität. Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu einer modernen, qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung gewährleisten. Dabei geht es nicht nur um die Apparatemedizin, sondern auch um die Zuwendungsmedizin; denn wir dürfen nicht vergessen: Es geht um Menschen, um kranke Menschen in den Krankenhäusern. Dringend muss eine Strukturreform der Krankenhauslandschaft in Deutschland umgesetzt werden. Dazu gehören wichtige Spezialisierungen von Krankenhäusern. Aber ohne Strukturreform kann die Finanzierung der Krankenhäuser nicht umgesetzt werden. So ein Finanzierungssystem muss eine Art lernendes DRG-System sein. Natürlich muss das DRG-System weiterentwickelt werden, aber – auch darüber können wir durchaus diskutieren – mit Elementen der lokalen Sicherstellung. Doch allein eine Reform der Finanzierung der Krankenhäuser vorzunehmen, ist zu kurz gesprungen. So ist ein Scheitern schon vorprogrammiert. Hier wird das finanzielle System angesprochen. So monokausal ist das Gesundheitssystem natürlich nicht. Denn die Abschaffung des DRG-Systems alleine bringt keine Qualitätsverbesserung der Krankenhäuser, und da müssen wir eigentlich hin. Sie, meine Damen und Herren, zementieren nämlich mit Ihrem Antrag letztendlich nur den reformbedürften Status quo der Krankenhäuser. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen vielleicht Geige oder ein anderes Musikinstrument spielt; da ist es ähnlich. Sie können beim Geigespielen noch so sehr an Ihrer Technik feilen: Die Musik wird sich schief anhören, wenn die Saiten nicht gestimmt sind. Liebe AfD, statt den untauglichen Versuch zu unternehmen, die Symptome einer mangelhaften Krankenhausversorgungsstruktur mit planwirtschaftlichen Instrumenten wie der langsamen Aufweichung des Fallpauschalensystems zu bekämpfen, setzen die Freien Demokraten stattdessen auf grundlegende Reformen der Krankenhausversorgungsstruktur und der Krankenhausfinanzierung. Wir stimmen natürlich der Überweisung Ihres Antrags in den Ausschuss für Gesundheit zu, damit Sie dort mit Experten inhaltlich weiter darüber diskutieren können. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem der Krankenhäuser ist nicht das Fallpauschalensystem; da möchte ich der AfD ausdrücklich widersprechen. Das Problem ist vielmehr, dass das Geld aus den Fallpauschalen zweckentfremdet wird, vor allem für Investitionen, ({0}) und die sind eigentlich Aufgabe der Länder, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Zum Teil wird das Geld auch für unverhältnismäßige Renditen der Aktionäre eingesetzt. Auch dafür sind die Fallpauschalen nicht gedacht. Fallpauschalen sind eigentlich für die Betriebskosten da, für die laufenden Kosten, wie wir alle wissen, und nicht für die Investitionen. Die Länder haben hier die Aufgabe, mehr zu machen. Die Krankenhäuser – das wissen wir auch – haben ein Delta von mindestens 4 Milliarden Euro, vielleicht sogar 5 Milliarden oder 6 Milliarden Euro. Da müssen die Länder endlich mehr Geld in die Hände nehmen; das muss ich hier ausdrücklich sagen. ({2}) Die Gewerkschaft Verdi mahnt zu Recht an, dass viele Pflegekräfte mit enormer Arbeitsverdichtung zu kämpfen haben. Rudolf Henke hat schon gesagt: Wir haben als Politik gehandelt. – Was haben wir gemacht? Wir haben erstens die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgelöst. Wir werden zweitens in diesem Jahr die kompletten Tarifsteigerungen refinanzieren. Jede neue Planstelle wird zu 100 Prozent finanziert. Und wir haben in allen bettenführenden Abteilungen Personaluntergrenzen eingeführt. Es lohnt sich also für die Krankenhäuser nicht, am Personal zu sparen. All das hat die Große Koalition gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir haben viertens die bedarfsnotwendigen Kliniken in strukturschwachen Regionen besser ausgestattet. Sie bekommen pro Jahr 400 000 Euro. Diese Krankenhäuser brauchen diese Förderung dringend, weil sie weniger Diagnosen und weniger Patienten haben. Denn auch Menschen in strukturschwachen Regionen, in ländlichen Regionen – das sagen wir immer, und das ist für mich als Abgeordneter aus dem ländlichen Bereich ganz wichtig – haben ein Anrecht auf optimale gesundheitliche Versorgung. ({4}) Der Gemeinsame Bundesausschuss hat festgelegt, nach welchen Kriterien Kliniken bedarfsnotwendig sind. Bedarfsnotwendig sind die Kliniken, die im Einzugsbereich weniger als 100 Menschen pro Quadratkilometer haben und wo der Weg zum nächsten Krankenhaus, wenn sie wegfallen würden, mit dem Auto mehr als eine halbe Stunde dauern würde. So haben wir es geschafft, dass 120 bedarfsnotwendige Kliniken zusätzlich gefördert werden, gerade im ländlichen Bereich und – ja, das stimmt auch – gerade im Osten. Auch das ist ein großer Erfolg, finde ich jedenfalls. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen nicht – da sind wir uns auch einig –, dass man auf eine Hüfte mehr als ein halbes Jahr wartet. Das ist aber eigentlich Realität in vielen Ländern Europas. Wir haben mit dem Gesundheitsausschuss das eine oder andere Land besucht. In vielen Ländern ist das so. Deshalb haben wir im Übrigen vor 15 Jahren das Fallpauschalensystem in Deutschland eingeführt. Das war der Grund. Was sind die Stichworte dafür? Mehr Wettbewerb für Qualität, Verkürzung der Verweildauer, Effizienzsteigerung, Spezialisierung, mehr Transparenz der Leistungen, Geld soll der Leistung folgen. Natürlich hat das Fallpauschalensystem auch Mängel, wie jedes finanzielle Anreizsystem. Manche Diagnosen lohnen sich mehr als andere; auch das muss man ehrlich sagen. Deshalb werden auch bei uns häufig medizinisch nicht notwendige Eingriffe durchgeführt: Hüfte, Rücken und Knie stehen manchmal als Beispiel dafür. Dann wird immer von blutigen Entlassungen gesprochen. Wir wollen sie nicht, und wir haben von Anfang an die Möglichkeit geschaffen, dass Krankenhäusern die Fallpauschen gekürzt werden, wenn sie Patienten zu früh entlassen; das muss man auch sagen. Dieses Instrument gibt es. Wir brauchen aber sicherlich – das hat Herr Henke auch gesagt – eine Weiterentwicklung des Fallpauschalensystems. Es war immer als lernendes System angelegt. Zwar werden die Fallpauschalen jährlich, wie wir wissen, auf der Basis von Leistungs- und Kostendaten von 200 repräsentativen Krankenhäusern angepasst. Dennoch ist es ratsam – das will ich hier ausdrücklich betonen –, neben der Leistungsvergütung auch über eine Basisfinanzierung nachzudenken; denn viele kleinere Krankenhäuser haben Vorhaltekosten, die sie manchmal nicht decken können. Die Kinderheilkunde ist ein gutes Beispiel dafür. Auch darüber kann man sicherlich nachdenken. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man mit Pflegekräften, Chefärzten, wenn man mit Geschäftsführern redet, ist natürlich immer ein Thema das zunehmende ökonomische Denken – eine Ökonomisierung des Denkens – und der Druck, der in der Praxis auf vielen Entscheidungen ruht. Es ist sicherlich mit ethischen Prinzipien nicht zu vereinbaren, Druck auszuüben, zum Beispiel bestimmte Operationen vermehrt durchzuführen. Trotzdem ist – ich sage es ausdrücklich – wirtschaftliches Denken im Gesundheitsbereich grundsätzlich nichts Negatives, ist nichts Unethisches. Im Gegenteil: Wir können nur durch ökonomisches Handeln erreichen, finanzielle Ressourcen effizient einzusetzen; denn wir haben nur begrenzt Mittel und vor allen Dingen nur begrenzt Personal zur Verfügung. Nur mit effizientem Einsatz können wir gute und bezahlbare Gesundheit für alle gewährleisten, gerade auch für Menschen, die finanziell nicht so gut aufgestellt sind. Wir wollen nämlich die beste Gesundheit, unabhängig vom Einkommen, unabhängig vom Alter und unabhängig vom Wohnort allen Versicherten zukommen lassen. Sie wissen: Das ist der rote Faden nicht nur der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik, sondern es ist auch der rote Faden der Gesundheitspolitik der Großen Koalition. ({6}) Sie macht gute Arbeit, und sie ist wesentlich besser als ihr Ruf; denn durch die Gesundheitspolitik haben wir viel erreicht und viele Leistungen verbessert für die Versicherten. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Edgar, das war natürlich auch ein bisschen Pfeifen im Walde, was du da im Einzelnen gemacht hast. Aber ich will jetzt nicht darauf, sondern tatsächlich auf den vorliegenden Antrag eingehen. ({0}) Der Hintergrund des Antrags ist die Tatsache, dass die Krankenhausfinanzierung nach den diagnoseorientierten Fallpauschalen, also den DRGs, in eine schwere Krise geraten ist. Da ist es inzwischen auch so, dass nicht mehr das Geld der Leistung folgt, sondern die Leistung dem Geld folgt. Das ist ein Bestandteil dieser Krise. Die Linke hat seit ihrer Einführung auf die Fehlanreize und Nebenwirkungen der DRGs hingewiesen und ihre Abschaffung bzw. Ersetzung gefordert und tut dies bis heute. ({1}) Wie ist dieser Antrag der AfD jetzt einzuordnen? Angesichts dieser benannten und immer schlechter beherrschbaren Krise der DRG-Finanzierung treten nun die Ideologen und Protagonisten der privaten Krankenhausindustrie die Flucht nach vorne an. Dabei graben sie ein paar „Untote“ wieder aus, die zu den Zeiten der FDP-Minister Rösler und Bahr schon mal ihr Unwesen trieben: Statt diagnoseorientierter Fallpauschalen soll die Finanzierung über morbiditätsorientierte Kopfpauschalen erfolgen. ({2}) Und damit das keiner so schnell merkt, werden die jetzt neudeutsch „Capitations“ genannt. Wenn man sich die Riege der Protagonisten anschaut, wird schnell klar, woher der Wind weht: Da haben wir die Münch-Stiftung mit dem Rhön-Klinik-Konzern im Hintergrund, die die Studie „Prospektive regionale Gesundheitsbudgets. Internationale Erfahrungen und Implikationen“ herausgegeben hat. Das war die Blaupause für diesen Antrag, der uns von der AfD hier vorgelegt worden ist. Und wo Rhön ist, ist Asklepios nicht weit, der zweitgrößte Krankenhauskonzern in Deutschland, der aktuell dabei ist, Rhön zu übernehmen. Bernard große Broermann, die graue Eminenz von Asklepios, hat sich mehrfach in Interviews für Capitations starkgemacht. In diesen Zusammenhängen taucht dann immer wieder der Name Boris Augurzky auf, der nicht nur Leiter des Bereichs Gesundheit beim RWI, sondern – oh Wunder! – auch Vorsitzender der besagten Münch-Stiftung des Rhön-Klinik-Konzerns ist und fleißig die Trommel für Capitations rührt. Hat jetzt die AfD einfach von der Studie abgeschrieben und versucht sie, sich auf diesem Wege der privaten Krankenhausindustrie in Deutschland als politische Vertretung anzudienen, oder gibt es weitere Verbindungen? Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang immer wieder die Gesundheitsökonomie der Universität Bayreuth und die Unternehmensberatung für Krankenhäuser mit dem Namen Oberender & Partner auftauchen. Das ist in der Tat bemerkenswert; denn der Herr Oberender, der inzwischen verstorben ist, war Professor für Gesundheitsökonomie, war der Doktorvater von Alice Weidel, war Gründer der gleichnamigen Unternehmensberatung, war Begründer der Wahlalternative 2013, einer Vorgängerorganisation der AfD, war Mitglied in der AfD. ({3}) Das ist dann schon etwas merkwürdig, wenn man diese Zusammenhänge kennt. ({4}) Das kann man mal sacken lassen insgesamt. Zu dem Vorschlag der prospektiven Budgets ist zu sagen, dass dies ein kräftiger Anreiz zur Unterversorgung sein wird. Salopp könnte man sagen: Das läuft auf Folgendes hinaus: Wir sammeln in einer Region via Kopfpauschalen eine gewisse Geldsumme von den Versicherten ein, sagen wir 100 Millionen Euro, und übergeben sie dann dem zuständigen regionalen Krankenhaus mit den Worten: Macht mal Krankenhausversorgung für unsere Region, und wenn was überbleibt, könnt ihr den Rest behalten! ({5}) Es ist klar, dass die Klinikkonzerne von diesem Konzept extrem begeistert sind. Und es wird mal wieder klar, wo die AfD sich verortet: nicht auf der Seite des Patientenwohls und der Versicherten, sondern auf der Seite der Klinikkonzerne. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD springt zu kurz und noch dazu daneben. Er gibt eben keine Antwort auf das Problem der Krankenhausfinanzierung, aber auch nicht auf das der Sicherstellung von Krankenhausversorgung im gesamten Bundesgebiet. Nein, da wird auf der einen Seite populistische Kritik am DRG-System verbunden mit dem falschen Abschreiben eines Modells für Regionalbudgets, ({0}) wobei es noch nicht mal wirklich verstanden worden ist oder tatsächlich rein im Interesse privater Krankenhausanbieter steht. ({1}) So geht gute Versorgung im Bundesgebiet nicht! ({2}) Aber ganz klar ist: Wir haben Weiterentwicklungsbedarf beim DRG-System, nicht nur weil das Pflegesystem ausgegliedert worden ist, sondern auch weil wir das einzige Land sind, in dem das DRG-System so stark nur über die Menge steuert. Immerhin werden 77 Milliarden Euro von 226 Milliarden Euro im Gesundheitswesen nur über diese DRGs gesteuert, und das ohne Sicherstellungszuschläge und andere Strukturkomponenten für Vorhaltekosten, bei denen man sagen könnte: Das ist ernst zu nehmen. – Das, was wir heute an Sicherstellungszuschlägen haben, ist definitiv zu wenig. Da muss nachgesteuert werden, ({3}) gerade für die Kinderkrankenhäuser, gerade für aufwendige Geburtshilfe, für viele andere, gerade auch für die ländlichen Krankenhäuser. ({4}) Aber die Krankenhausfinanzierung krankt natürlich auch daran, dass wir auf der einen Seite massive Defizite bei der Krankenhausinvestitionsfinanzierung der Länder haben, die bestenfalls 50 Prozent dessen abdeckt, was wir eigentlich brauchen würden, und dass wir auf der anderen Seite keine vernünftige Krankenhausplanung und keine sektorübergreifende Planung haben. Auch das sind wichtige Elemente. ({5}) Wer Über-, Unter- und Fehlversorgung steuern will – und das müssen wir –, der muss endlich mal zu echten Strukturreformen kommen. ({6}) Das heißt, dass wir den Herausforderungen der Demografie nicht mit einem Weiter-so folgen können, sondern wir brauchen einen Neuaufbruch im Gesundheitswesen, hin zu mehr regionalen Versorgungskonzepten, und zwar als gemeinsames Dach von ambulanter und stationärer Versorgung, von sektor- und berufsgruppenübergreifender Versorgung. Das ist das, was wir brauchen. Wir haben damit zu rechnen, dass wir zunehmend hochbetagte Patientinnen und Patienten haben werden, chronisch kranke Patientinnen und Patienten, Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie alle brauchen nicht einen kleinen Ausschnitt von hochspezialisierter medizinischer Versorgung, sondern sie brauchen gesundheitliche, pflegerische, oft auch soziale Unterstützung; und das geht am besten vor Ort. ({7}) Dort müssen wir dafür sorgen, dass wir Sicherstellung haben, Qualität haben, Patientenbeteiligung haben, und dafür sorgen, dass kooperativ und gemeinschaftlich ganzheitliche Versorgungsansätze gefahren werden. All das geht mit Ihrem Antrag nicht; da werden wir andere Lösungen brauchen. Wir werden Ihnen zeigen, wie das zum Beispiel mit Gesundheitsregionen gehen könnte. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In unserer Krankenhauslandschaft läuft nicht alles rund. Aber die DRG-Fallpauschalen sind sicherlich nicht der Hauptgrund. Meine Vorredner Rudolf Henke und Edgar Franke haben ja deutlich gemacht, dass wir gerade in dieser Legislaturperiode die größte Reform der DRG-Fallpauschalen durchführen, indem wir für das Pflegepersonal die Anteile in ein Budget umwandeln. Man muss sich sicherlich auch die Frage stellen: Würden wir über Veränderungen bei den DRG-Fallpauschalen diskutieren, wenn die Länder ihren Verpflichtungen bei den Investitionskosten nachkommen würden? Hier ist mein Eindruck, dass das in keinster Weise vollumfänglich passiert. Nach Hochrechnungen schulden die Länder den Krankenhäusern einen zweistelligen Milliardenbetrag, und ich glaube, wenn die Krankenhäuser diese Gelder zur Verfügung hätten, dann würden wir auch nicht diskutieren, ob es Veränderungen bei den DRGs geben müsste. ({0}) Es gibt Länder, die sich sehr bemühen; aber die sind in der Minderheit. Wenn man die Diskussion über Veränderungen bei den Fallpauschalen eröffnet, dann, denke ich, muss man auch eine ordnungspolitische Diskussion führen, nämlich über die Frage, ob wir Steuermittel, die die Länder den Krankenhäusern schulden, durch Beitragsgelder ersetzen können. Ich denke, auch mit dieser Frage müssen wir uns auseinandersetzen. Wir müssen uns außerdem die Frage stellen, ob diese Unterfinanzierung nicht auch dadurch verstärkt wird, dass viele Länder keine stringente Krankenhausplanung machen. Ja, unsere Krankenhauslandschaft braucht eine Neujustierung. Ich denke, gerade bei Digitalisierung, Planung und Finanzierung müssen wir ansetzen. Nach meiner Meinung sollten Bund und Länder einen Pakt zur Digitalisierung schließen und für eine auskömmliche Finanzierung der Digitalisierung im Krankenhaus sorgen. ({1}) Ich könnte mir vorstellen, dass – ähnlich wie beim Strukturfonds – Bund und Länder jeweils zur Hälfte diesen Digitalisierungsfonds füllen. Ferner müssen wir von den Ländern zwingend einfordern, dass sie ihrer Krankenhausplanung nachkommen. Das ist Kernaufgabe der Länder. Aktuell haben wir das Problem der Überversorgung und Mengenausweitung; wir haben es zu tun mit Exzellenzlücken, mit komplexen Operationen, die teils in beängstigend geringer Fallzahl durchgeführt werden, und mit regionalen Doppel- und Mehrfachstrukturen. Wir benötigen deshalb eine sektorenübergreifende Planung, die zwei Dinge berücksichtigt: Zum einen brauchen wir eine flächendeckende Versorgung auch im ländlichen Raum und zum anderen eine geordnete Krankenhauslandschaft ohne Doppelstrukturen, Mengenausweitung und ruinösen Wettbewerb. Wenn die Länder hier weiterhin nicht liefern, stellt sich die Frage, ob wir die Krankenkassen, die ja diese Lücke faktisch bereits schließen, nicht gleich direkt an den Investitionen beteiligen und sie mit entsprechenden Mitteln ausstatten. Da die Länder es über Jahre versäumt haben, ihre Krankenhäuser mit angemessenen Finanzmitteln auszustatten, müssten sie nach diesem Modell allerdings in Kauf nehmen, ihre Planungskompetenzen künftig mit den Krankenkassen zu teilen. Das sind für mich Fragen, die wir diskutieren müssen, und nicht die Frage, ob wir die DRG-Fallpauschalen reformieren müssen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen, in unseren Kliniken jederzeit bestens versorgt zu werden. Dieses System haben wir stetig weiterentwickelt. Mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz wurde 2000 die Einführung der diagnosebezogenen Fallgruppen, kurz: DRGs oder Fallpauschalen, im deutschen Gesundheitswesen beschlossen. Seit 2003 bilden die Fallpauschalen die Grundlage für ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem zur Abrechnung stationärer Krankenhausaufenthalte. Die Besonderheit dieses Systems lag schon immer darin, dass es sich weiterentwickelt und sich den veränderten Gegebenheiten in unserem Gesundheitswesen anpasst. Zu diesen Weiterentwicklungen zählt auch, dass wir die Kosten der Pflege aus den DRGs herauslösen. Damit wird künftig jede zusätzliche und jede aufgestockte Pflegestelle am Bett vollständig von den Kostenträgern refinanziert. ({0}) Mit diesem Schritt schaffen wir konkrete und vor allem spürbare Verbesserungen im Alltag der Patienten und Pflegekräfte. In ihrem Antrag fordert die Fraktion der AfD nun die Abschaffung dieses erfolgreichen Systems zugunsten klinikindividueller Budgets. Wenn ich mir das Papier so anschaue, dann frage ich mich: Was passiert denn, wenn die Budgets aufgebraucht sind? Wollen Sie die Patienten dann wieder nach Hause schicken? Sorgen bereiten mir auch Ihre Pläne, die Patientenströme in die regionalen Kliniken zu lenken. Sicherlich benötigen wir auch vor Ort weiterhin eine qualitativ hochwertige stationäre Versorgung. Aber wie wollen Sie denn mit einer solchen Maßnahme die Versorgung hochkomplexer Fälle garantieren? Dafür brauchen wir auch weiterhin unser dichtes Netz von Spezialzentren, und dazu muss auch jeder Patient zu jedem Zeitpunkt ungehinderten Zugang haben. ({1}) Meine Damen und Herren, über die konkrete Ausgestaltung unseres stationären Vergütungssystems können wir gerne diskutieren. Aber das, was Sie hier als Reformvorschlag vorlegen, würde unser international hoch anerkanntes Krankenhauswesen finanziell austrocknen. Das ist gefährlich, aber das werden wir auch im Anhörungsverfahren noch einmal intensiv erörtern. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist Innovationsland, mehr als je zuvor. Ich glaube auch, trotz aller Diskussionen in diesen Tagen, dass wir allen Grund haben, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Das Rückgrat unserer Wirtschaft sind nämlich exzellente Fachkräfte. Und um diese Fachkräftebasis zu sichern, ist eine unserer zentralen Zukunftsaufgaben, uns damit auseinanderzusetzen, wie wir das durch Bildung und Ausbildung sicherstellen können. Wir wollen, dass die 20er-Jahre zum Jahrzehnt von Bildung, Forschung und Innovation werden, und dafür brauchen wir alle Talente, auch Talente aus aller Welt. Wir stehen im internationalen Wettbewerb. Wir wollen attraktiv sein für die besten Köpfe, und wir wollen attraktiv sein für Menschen, die etwas leisten wollen. Darum haben wir seit Anfang dieses Monats das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ({0}) und damit auch die Grundlage, um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Die berufliche Anerkennung ist dabei entscheidend; denn sie ist der Schlüssel, um internationale Fachkräfte erfolgreich in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn eines, glaube ich, ist doch klar: Wer sich bei uns einen Handwerker bestellt, der will auch sicher sein, dass er Qualitätsarbeit bekommt, dass am Ende auch das geliefert wird, was er sich vorstellt. Genau das stellen wir mit der Berufsanerkennung sicher: dass nämlich die internationalen Fachkräfte, die zu uns kommen, Qualifikationen mitbringen, die auch unseren Standards entsprechen. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass Anerkennung auch den Menschen etwas bringt, die zu uns kommen. Wir erkennen nämlich nicht nur ihre Abschlüsse und ihre Berufserfahrung an, sondern immer auch ihre individuelle Lebensleistung. Die Menschen, die zu uns kommen, bekommen bei uns eine faire Chance, eine glänzende Karriere zu machen, und sie erhalten die Chance, einen sicheren Arbeitsplatz mit einem guten Lohnniveau zu finden. An der Stelle will ich betonen: Wenn der Abschluss von Menschen, die zu uns kommen, voll anerkannt ist, dann erhöht sich ihr Gehalt durchschnittlich um 860 Euro. Das zeigt dann auch, dass sie selbstständig hier bei uns leben können, hier eine Familie gründen können und auch mal den Arbeitsplatz wechseln können. Diese Freiheit haben Menschen, wenn ihre Qualifikation anerkannt ist. ({1}) Der Anerkennungsbericht 2019 zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Berufsanerkennung ist längst das Qualitätsinstrument für die Fachkräfteeinwanderung und für mehr Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt. Um Ihnen auch ein paar Zahlen zuzumuten: Seit 2012 wurden bereits rund 280 000 Anträge für bundes- und landesrechtliche Berufe sowie für Zeugnisbewertungen zu akademischen Berufen eingereicht. Und natürlich stehen dabei ganz vorne Berufe in der Gesundheits- und Krankenpflege. Es hat sich mittlerweile überall herumgesprochen, was bei uns Mangelware ist. Hier sehen wir auch momentan besonders große Zuwächse: 11 500 Anträge – das sind ein Drittel mehr Anträge als in 2017. Aber – ich finde, auch das ist eine gute Botschaft – es melden sich natürlich auch Techniker, Ingenieure, IT-Spezialisten; denn auch das sind Menschen, die wir in Deutschland dringend und gut gebrauchen können. ({2}) Kontinuierlich haben wir in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen für das komplexe System der Anerkennung weiter verbessert. Das Monitoring, das wir parallel durchgeführt haben, hat immer wieder bestätigt: Ganz wichtig ist eine gute Beratung. – Deswegen haben wir über die Jahre die Beratungs- und Informationsangebote immer weiter ausgebaut. Im Februar dieses Jahres haben wir in Bonn die Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung eröffnet. Damit haben interessierte Fachkräfte aus dem Ausland einen überregionalen Ansprechpartner. Wichtig ist eben, dass wir eine Anlaufstelle haben. Denn woher sollen Menschen aus dem Ausland wissen, wohin sie sich wenden sollen, wenn bei uns 16 Bundesländer zuständig sind? ({3}) Auf der anderen Seite ist jetzt wichtig, dass die Anerkennungsstellen in den Ländern mit dieser Zentralen Servicestelle auch gut zusammenarbeiten. Das ist ein weiterer Punkt, und ich möchte an dieser Stelle auch mal darauf hinweisen, dass die Zusammenarbeit dort sehr gut funktioniert. ({4}) Denn am Ende verfolgen wir als Bund doch mit Ländern und Kommunen ein gemeinsames Ziel: Wir wollen, dass die Anerkennungsverfahren leichter, schneller, transparenter und auch ein Stück einheitlicher werden. Klar ist aber auch – es ist wichtig, dass wir das auch noch mal in Richtung Länder sagen –: Das wird nur gelingen, wenn wir auch genug Personal für diese Verfahren zur Verfügung stellen. Einige Länder sind im Moment bei den Stellen doch ein wenig am Limit; deswegen will ich an dieser Stelle noch mal ausdrücklich appellieren, dass in den Ländern und auch in den Kammern genügend Stellen zur Verfügung gestellt werden müssen, damit die Arbeit auch zügig gelingen kann. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen Punkt machen: Die berufliche Anerkennung ist das eine. Die gesellschaftliche Anerkennung ist das andere. Und Integration ist natürlich viel mehr als berufliche Anerkennung. Sie ist Aufgabe nicht nur des Staates, sondern der ganzen Gesellschaft. Es ist mir wichtig, das in diesen bewegten Tagen nach dem Terror von Halle und Hanau noch einmal zu sagen. Der Integrationsgipfel in der vergangenen Woche hat es sehr schön gezeigt: Es gibt kein „wir“ und „ihr“. Wir sind eine Gesellschaft. ({6}) Ganz im Ernst, wonach frage ich im Betrieb? Im Betrieb zählt, was ein Mensch kann und wie er sich in eine betriebliche Gemeinschaft einbringt. So schaffen wir als Bundesregierung die Bedingungen, dass wir ein modernes Innovationsland bleiben, dass wir viele gut ausgebildete Menschen begeistern können, in unserem Land zu arbeiten. Das Anerkennungsgesetz leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! ({0}) Die Einführung des Anerkennungsgesetzes war wichtig und notwendig; nicht nur viele Russlanddeutsche können hierzu leidvoll berichten. Die Bilanz bleibt zwar hinter den Erwartungen nach Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2012 zurück, dennoch kommt eine stattliche Anzahl an Anträgen auf Berufsanerkennung zusammen. In den Jahren 2012 bis 2018 gingen – die Ministerin hat es gesagt – 280 000 Anträge ein, darunter ungefähr 140 000 in Zuständigkeit des Bundes, 45 000 in Zuständigkeit der Länder und fast 95 000 Zeugnisbewertungen durch die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen. Schaut man sich die antragsstärksten Berufe im Jahr 2018 an, so ist insbesondere positiv, dass Gesundheits- und Krankenpfleger mit knapp 11 500 Anträgen mit großem Vorsprung auf Platz 1 liegen. Die Abmilderung des Fachkräftemangels in diesem Bereich ist ausdrücklich zu begrüßen. Allein in den Pflegeberufen herrscht aktuell ein Mangel von circa 375 000 ambulanten und stationären Pflegekräften. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln geht von einer Steigerung auf fast eine halbe Million fehlende Pflegekräfte im Jahr 2035 aus. Angesichts dieser Prognosen wirken die Antragszahlen auf Berufsanerkennung wie ein Tropfen auf den heißen Stein. ({1}) Die Alternative für Deutschland setzt sich für eine maßvolle legale Einwanderung nach qualitativen Kriterien ein, soweit ein unabweisbarer Bedarf weder durch einheimische Potenziale noch durch Zuwanderungen aus der EU gedeckt werden kann. ({2}) Im Vordergrund stehen dabei die Interessen Deutschlands als Sozialstaat, Wirtschafts- und Kulturnation. Genau das ist nach der Merkel’schen Grenzöffnung nicht mehr der Fall, ({3}) und die Lage droht sich aktuell noch zu verschlimmern, nachdem sich die Bundesregierung durch den Türkei-Deal von Erdogan hat erpressbar machen lassen. ({4}) Auf Platz 2 der antragsstärksten Berufe landen Ärzte. Und genau an diesem Berufsbild lassen sich wunderbar die Fehlentwicklungen in unserem Land am Beispiel von Rheinland-Pfalz darstellen. Dort stellt die Ampel-Landesregierung gerade mal 450 Studienplätze in Humanmedizin im ganzen Bundesland zur Verfügung. Und das, obwohl bis zum Jahr 2023 knapp 3 500 niedergelassene Ärzte in Rheinland-Pfalz ersetzt werden müssen. Gerade für den ländlichen Raum, zum Beispiel in meinem Wahlkreis, ist flächendeckende Versorgung mit Fachärzten essenziell. Umso erfreulicher, dass zum Wohle der Bürger und Bürgerinnen das Kirner Krankenhaus erhalten werden soll. Zurück zum Medizinstudium in Rheinland-Pfalz: absurd hoher Numerus clausus, lange Wartezeiten, vier Bewerber auf einen Studienplatz. ({5}) Und dann wandern jährlich über 1 000 Medizinstudiumsabsolventen ins attraktivere Ausland ab. Statt der eigenen Bevölkerung den Berufswunsch zu erfüllen und Ärzte durch attraktive Bedingungen hier im Land zu halten, wo sie gebraucht werden, wirbt man lieber Ärzte aus dem Ausland ab, die häufig in ihren Ländern fehlen. Was soll das? ({6}) Fast 800 Anträge auf Anerkennung des Berufes im Jahre 2018 stammen von syrischen Staatsangehörigen. Werden die denn nicht dringend in ihrem zum Großteil befriedeten Heimatland zur Versorgung der Zivilbevölkerung vor Ort gebraucht? ({7}) Fassen wir zusammen: Deutschland generiert seinen Fachkräftemangel durch falsche politische Weichenstellungen selbst, bedient sich an Ländern in Not, und die Regierung feiert sich für Anerkennungserfolge ausländischer Berufsqualifikationen in homöopathischen Dosen. Hurra, wir schaffen das. Über Qualität und Quantität von Einwanderung selbst zu bestimmen, ist herausragendes Merkmal staatlicher Souveränität; das muss uneingeschränkt auch für Deutschland gelten. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor elf Tagen ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten. Das ist eine der wichtigsten Entscheidungen dieser Wahlperiode, und das ist gut für den Arbeitsmarkt unseres Landes. ({0}) Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz verändern wir drei wesentliche Bereiche: Erstens. Es gibt endlich einen einheitlichen Fachkräftebegriff, der Hochschulabsolventen und Beschäftigte mit einer qualifizierten Berufsqualifikation auf eine Ebene stellt. Zweitens. Es gibt einen grundsätzlichen Verzicht auf die Vorrangprüfung. Und drittens. Das Anerkennungsverfahren wird vereinfacht und beschleunigt. ({1}) Das heißt, meine Damen und Herren, die Möglichkeit einer Einreise bzw. des Aufenthalts zum Zweck der Erreichung der vollen Gleichwertigkeit durch Qualifikationsmaßnahmen wurde ausgeweitet, und zwar auf 18 bzw. sogar auf 24 Monate. Im Rahmen von Vermittlungsabsprachen besteht sogar die Möglichkeit, das Anerkennungsverfahren auch nach der Einreise einzuleiten. Darüber hinaus wurde eine Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung eingerichtet. Diese Stelle soll internationale Fachkräfte vor ihrer Einreise nach Deutschland zu Fragen ihrer Berufsanerkennung beraten und durch die Verfahren begleiten. Das sind also gute Maßnahmen, ({2}) und wir müssen jetzt sicherstellen, dass diese auch angenommen werden. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren, die vorliegenden Berichte zeigen positive Tendenzen; die Frau Ministerin hat ja schon darauf hingewiesen. Im Berichtszeitraum meldeten zuständige Stellen insgesamt circa 190 000 Anträge auf Anerkennung zu bundesrechtlich und landesrechtlich geregelten Berufen. Hinzu kommen über 90 000 Anträge von Privatpersonen auf Zeugnisbewertung für eine im Ausland erworbene Hochschulqualifikation bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen. Es geht also um eine Gesamtzahl von sage und schreibe 280 000. Mit über 100 000 Antragstellern kommen die meisten aus Europa, unter anderem aus Polen und Rumänien, aus der Türkei und der Ukraine. Mit 11 000 Antragstellern bilden die Gesundheitsberufe die antragsstärksten Bereiche, darunter Krankenpfleger und Ärzte. Meine Damen und Herren, auch bei den Geflüchteten sehen wir klare positive Tendenzen. ({4}) Im Anerkennungsbericht 2019 steht dazu Folgendes: Seit 2016 nahm die Zahl der Anträge von Staatsangehörigen der Hauptasylherkunftsstaaten deutlich zu … Und weiter heißt es: Berechnungen … zeigen, dass die Erwerbstätigenquote der Geflüchteten 2017 mit 21 Prozent um 12 Prozentpunkte höher als im Vorjahr war und mit der Aufenthaltsdauer stetig ansteigt. Das stimmt vor allem, wenn wir uns auch die Quote aus dem Jahr 2018 angucken. Sie liegt bei 35 Prozent. Darüber hinaus zeigt bereits der Bericht 2017 die positive Wirkung der Berufsanerkennung im Allgemeinen. Meine Damen und Herren, vor vier Jahren waren bei der Antragsstellung lediglich 58 Prozent erwerbstätig. Nach der Anerkennung waren es schon 88 Prozent. Das ist also ein Erfolg, nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern auch ganz konkret für die Menschen, die bei uns ein neues Zuhause gefunden haben, und das ist gut für Deutschland. ({5}) Beide Anerkennungsberichte gehen außerdem auf die Problematik von Förderlücken ein. Diese Problematik muss auch in Zukunft stärker angegangen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor diesem Hintergrund froh darüber, dass wir am Ende des letzten Jahres die Förderung des Anerkennungszuschusses verlängern konnten. Diese gilt nämlich für Personen, die nicht ausreichend eigene finanzielle Mittel besitzen und bei denen die Kosten nicht durch die Agentur für Arbeit, das Jobcenter oder durch entsprechende Förderprogramme der Länder übernommen werden. Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, bewegen wir uns weiterhin in eine gute Richtung. Die Anerkennung von Abschlüssen ist eine Wertschätzung der Potenziale einzelner Menschen, und ich bin wirklich dankbar für alle, die jeden Tag ihre Mitmenschen beraten und ihren Weg in die Berufsanerkennung begleiten. Danke schön. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Anerkennungsgesetz hilft deutschen Unternehmen, im Ausland erworbene Qualifikationen ihrer Bewerber besser einzuschätzen und zu vergleichen. Wir haben es eben gehört: Seit 2012 wurden über 280 000 Anträge gestellt. Hinter diesen Zahlen stehen ja viele leistungsbereite Menschen, die in Deutschland leben und arbeiten wollen. Das hilft auch den vielen Tausenden Unternehmen, die händeringend Fachkräfte suchen, unzähligen Kunden und Patienten, die ohne diese Zuwanderer auf medizinische Betreuung und auch auf Handwerker verzichten müssten, den vielen Rentnern, deren Rente ohne diese Fachkräfte geringer ausfiele, und auch uns, dem Staat, der ohne die fleißigen Steuerzahler weniger Mittel in Bildung und Infrastruktur investieren könnte. Wer sich darüber nicht freuen kann, dem fehlt nicht nur Herz, sondern auch Verstand. ({0}) In der praktischen Umsetzung bleibt aber viel zu tun. Die Verfahren dauern viel zu lange, sind oft intransparent und ohne klare Zuständigkeiten. Je nach Bundesland und zuständiger Stelle gibt es unterschiedlichste Anforderungen an Sprachnachweise und weitere Dokumente. Die neue Zentrale Servicestelle – Frau Karliczek hat sie erwähnt – schafft eine bessere Beratung, löst aber nicht das Verwaltungschaos im Hintergrund. Als ein Beispiel: 317 verschiedene Stellen in Deutschland sind zuständig für die Anerkennung von Fahrlehrerabschlüssen. Da begegnet mancher Sachbearbeiter erst alle paar Jahre einem entsprechenden Antrag. Solche Kompetenzen sollten wir bündeln. Sorgen wir mit einer effizienteren Verwaltung für schnellere Verfahren, mehr Vergleichbarkeit und eine hohe Qualität der Entscheidungen: mit einer einzigen zuständigen Stelle für jeden Beruf bundesweit – mit der FOSA und auch mit den Leitkammern im Handwerk haben wir doch gute Erfahrungen gemacht –, mit online zugänglichen und transparenten, nachvollziehbaren Bewertungsparametern, mit dem Einsatz von Legal Tech, insbesondere auch zur Bewertung häufiger Berufsabschlüsse, und mit einer besseren Pflege der ANABIN-Datenbank. Die besten Fachkräfte gewinnen wir nicht mit dem Passierschein A38, sondern mit schnellen und guten Entscheidungen. ({1}) Wir brauchen ein Einwanderungsrecht aus einem Guss. Allzu oft scheitert und verzögert sich die Fachkräftezuwanderung durch unnötige Hürden. Statten wir zum Beispiel die Visastellen besser aus, damit Fachkräfte schneller einen erwerbsbezogenen Aufenthaltstitel bekommen können. Vereinfachen wir den Spurwechsel für gut integrierte Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge. ({2}) Setzen wir endlich Englisch als ergänzende Verkehrssprache in der öffentlichen Verwaltung fest. ({3}) Schaffen wir ein politisches und gesellschaftliches Klima, in dem wir Menschen unabhängig von ihrer Kultur und Herkunft willkommen heißen. Jeden Tag zerstören rassistische Tweets, Pegida-Parolen, Beschimpfungen, Übergriffe, die Verunsicherung nach Anschlägen, wie gerade erst in Hanau, und viel zu oft auch völkisches Gehabe hier im Parlament das Vertrauen in die Weltoffenheit unseres Landes. Dieses Vertrauen können wir mit noch so vielen Anerkennungsgesetzen nicht ersetzen. Lassen Sie uns deshalb die Anerkennungspraxis deutlich vereinfachen, ein liberales Einwanderungsrecht schaffen und auch diese große Aufgabe der gesellschaftlichen Offenheit nicht aus den Augen verlieren. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich will mit einer grundsätzlichen Bemerkung beginnen. Ich finde, jeder – und jede – sollte das Recht haben, seinen Lebensmittelpunkt dort zu wählen, wo es für ihn und seine Familie am besten ist. Das ist eine Frage der Menschlichkeit, das ist eine Frage der Sicherheit, und es ist nicht zuletzt eine Frage der eigenen Zukunftsperspektive, die man im Leben hat. ({0}) Ich finde weiter: Gute Arbeit mit gutem Einkommen zu finden, hat große Integrationskraft und kann auch für die Wahlheimat ein ganz großer Gewinn sein. Kompetenzen, Wissen, Problemlösungsstrategien aus anderen kulturellen Perspektiven zu erleben, davon können auch wir lernen. ({1}) Deshalb sprechen wir heute darüber, welche Chancen hierzulande den Fachkräften aus anderen Ländern eingeräumt werden, um ihre Qualifikation zu nutzen, und unter welchen Bedingungen das geschieht. Drei kritische Bemerkungen will ich machen. Problem Nummer eins – der Klassiker –: Diagnostiziert werden uns erhebliche Unterschiede in den Verfahren der einzelnen Bundesländer. Die Interessentinnen und Interessenten wissen nicht nur viel zu oft zu wenig über Hilfestellungen; offenbar gibt es viel zu wenig Personal in den zuständigen Stellen und – gelinde gesagt – überbordende gesetzliche Zeitrahmen. Die Betroffenen verlieren Monate über Monate Zeit. Die öffentliche Hand im Übrigen verliert Steuern und die Sozialversicherungen Beitragszahlungen. Ich denke, hier gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. ({2}) Problem Nummer zwei: Interessanterweise schneiden Industrie, Handel und Handwerk bei der Frage der Anerkennung der im Ausland erworbenen Kompetenzen vergleichsweise schlecht ab, trotz des erhöhten Fachkräftebedarfs. Meine Vermutung ist, da es in vielen anderen Ländern kein vergleichbares System der beruflichen Bildung gibt, dass die Feststellung der Gleichwertigkeit deutlich komplizierter ist. Das heißt für uns, dass wir der Forderung der Europäischen Union aus dem Jahr 2012 nachkommen müssen, eine Validierungspraxis von informellen und non-formellen Kompetenzen auf rechtlich verlässliche Füße zu stellen. ({3}) Problem Nummer drei: Das Anerkennungsverfahren ist für die Betroffenen nicht zuletzt auch eine Kostenfrage. Die Übersetzung der Qualifikationszeugnisse ist teuer. Ausgleichsmaßnahmen sind teuer. Ich denke, hier gehört noch eine gehörige Schippe Geld für die Förderung der Betroffenen drauf. ({4}) Was ist das Fazit? Erstens. Wir brauchen sehr viel mehr Verankerung der Anerkennungspraxis im Bereich der beruflichen Bildung. Zweitens. Die Interessentinnen und Interessenten müssen bei der Finanzierung deutlich mehr unterstützt werden. Drittens. Wir brauchen mehr Personal in den zuständigen Stellen. Dann könnten im Übrigen auch die gesetzlichen Fristen deutlich verkürzt werden. ({5}) Wir würden dabei alle gewinnen: Wissenschaft, Wirtschaft, öffentlicher Dienst; aber auch die Betroffenen hätten schneller eine gute berufliche Perspektive. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre gut so. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen und auch liebe Zuhörer und Zuhörerinnen auf den Tribünen! Deutschland braucht Fachkräfte – auch aus dem Ausland. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr. Wir heißen sie auch herzlich willkommen in unserem Land. ({0}) Der Mangel an Fachkräften darf nicht zu immer größeren Engpässen führen, und deshalb müssen wir hier klar gegensteuern. Wir müssen die Menschen, die hier leben, ordentlich ausbilden und ordentlich für den Arbeitsmarkt qualifizieren. Die Stichworte hier sind „Chancengerechtigkeit“ und „Teilhabe“; denn es kann nicht sein, dass Jahr für Jahr junge Menschen abgehängt werden und nicht am Berufsleben teilnehmen können. ({1}) Deswegen haben wir über eine Ausbildungsgarantie nachgedacht. Ich glaube, das ist der erste Schritt. ({2}) Die Arbeitskräfte hier im Land allein reichen aber nicht aus – wir haben es heute gehört –, um den Fachkräftebedarf zu decken. Wir brauchen also auch die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften aus anderen Ländern. Die jetzt vorliegenden Berichte aus den Jahren 2017 und 2019, Frau Karliczek, zeigen schon eine starke Akzentverschiebung hin zur Fachkräftesicherung durch Einwanderung. Wir sehen erste positive Entwicklungen. Mit dem Anerkennungsgesetz haben Fachkräfte aus anderen Ländern das Recht auf ein zügiges Anerkennungsverfahren. Damit wurde in meinen Augen ein überfälliger Schritt auf dem Weg in eine offene und moderne Einwanderungsgesellschaft vollzogen. Das begrüßen wir Grünen ganz klar. ({3}) Dabei sollte die Regierung aber natürlich nicht in Eigenlob verfallen; denn Deutschland hat noch einen weiten Weg vor sich. Die Anerkennungspraxis bei uns reicht bei Weitem nicht aus, um den Fachkräftebedarf zu decken, und das sollten wir schleunigst ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Schauen wir doch auf die Anerkennungsquote: Über die Hälfte der Anträge wurde abgelehnt. Das ist ein sehr hoher Prozentsatz; er ist einfach zu hoch. Es dauert auch viel zu lang; das haben wir heute schon gehört. Das Anerkennungsgesetz ist heute noch zu stark geprägt von prüfungs- und abschlussbezogenem Denken in Deutschland. Mit Blick auf alternative Bildungsmodelle muss endlich auch die Anerkennung non-formaler und informell erworbener Kompetenzen in Angriff genommen werden. Mit Blick auf das gerade in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist es jetzt an der Zeit, die richtigen Schlüsse aus den Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen. Verfahren müssen besser bekannt gemacht werden. Auch bei der Umsetzung des Gesetzes ist durchaus noch Luft nach oben. ({5}) Das zeigt sich zum Beispiel im Gesundheitsbereich. Die Gesundheitsberufe sind in den Bundesländern teilweise sehr unterschiedlich geregelt; auch das haben wir gerade gehört. Das ist für ausländische Fachkräfte kaum nachvollziehbar und stellt eine unnötige Hürde bei der Integration dar. Dazu kommt: Jedes Anerkennungsverfahren kostet Geld, das Nachholen erforderlicher Qualifizierungen kostet noch mehr Geld. Wir wollen die Menschen, die das betrifft, in Zukunft stärker fördern. Damit kein Talent verloren geht, wollen wir das Aufstiegs-BAföG auch für Anpassungs- und Nachqualifizierungen öffnen und die Unterstützung hinsichtlich der Kosten des Anerkennungsverfahrens verbessern. ({6}) Wege vereinfachen, Hürden abbauen, Qualität sichern, Anstrengung belohnen – das kann ein guter Weg sein für mehr Fachkräfte in unserem Land. Und ich glaube, wir alle sollten zusammen daran arbeiten, dass Menschen sich wieder in dieses Land trauen, wieder hierherkommen wollen und dass wir auf keiner Liste von Ländern mehr stehen, in denen man vorsichtig sein soll. Wir heißen diese Menschen willkommen, weil sie unserem Land guttun werden. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Norbert Maria Altenkamp für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Unternehmen suchen dringend nach Fachkräften, besonders in den technischen MINT-Berufen, im Handwerk und in der Pflege. Wenn wir bis 2025 die Forschungsausgaben auf 3,5 Prozent des BIP steigern wollen, brauchen wir allein dafür 220 000 zusätzliche MINT-Kräfte – das sagt das Institut der deutschen Wirtschaft. Ich freue mich deshalb, dass am 1. März das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten ist. Damit wird die Fachkräftezuwanderung aus aller Welt an Fahrt gewinnen und helfen, unseren Fachkräftemangel zu bekämpfen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Zuwanderung ist richtigerweise, dass die Bewerber ihre Qualifikation zuvor nach dem Anerkennungsgesetz von 2012 anerkennen lassen müssen. Nur dann, wenn ihre Ausbildung und Erfahrung gleichwertig mit einer deutschen Qualifikation sind, können sie ihre Aufgaben bei uns auch wirklich erfüllen und einen Beitrag für unsere Wirtschaft leisten. Seit 2012 wurden allein für die Bundesberufe fast 141 000 Anerkennungsanträge gestellt, davon 29 000 in 2018, die meisten in den Pflegeberufen, Tendenz steigend. Bei über der Hälfte der Fälle wurden die Berufe als gleichwertig anerkannt, in fast allen anderen Fällen als teilweise gleichwertig. Zum Teil gab es Auflagen zur Nachqualifizierung, vor allem in den Gesundheitsberufen. Der Bericht zum Anerkennungsgesetz 2019 und die große Evaluation 2017 zeigen eindeutig: Das Anerkennungsgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. ({0}) Alle profitieren von den Anerkennungsverfahren: erstens die ausländischen Fachkräfte, weil sie durch die Berufsanerkennung bessere Chancen auf unserem Arbeitsmarkt haben, häufiger ausbildungsadäquate Jobs finden, besser von ihren Kollegen akzeptiert und schneller integriert werden. Die Berufsanerkennung verbessert auch ihre Gehalts- und die Karrierechancen. Bei voller Gleichwertigkeit erhöht sich das Bruttogehalt um durchschnittlich 1 000 Euro monatlich. Zweitens. Auch Flüchtlinge mit Berufsabschluss – die meisten davon kommen aus Syrien – stellen seit 2015 immer häufiger Anerkennungsanträge. In fast allen bisher abgeschlossenen Fällen fiel die Prüfung positiv aus. Auch Qualifizierungsmaßnahmen sind bei Flüchtlingen sehr gefragt. Das erhöht erwiesenermaßen ihre Jobchancen und zeigt auch: Ihre Integration macht Fortschritte. Drittens profitieren die Arbeitgeber von den Anerkennungsverfahren, weil sie die Qualifikationen ausländischer Fachkräfte besser einschätzen und ihre Lücken gezielt füllen können. Fachkräfte mit Anerkennung, die ihren Platz im Betrieb gefunden haben, sind höchst motiviert, tragen zur Vielfalt und Kreativität im Unternehmen bei und steigern damit die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit. Weil die Antragszahlen ständig steigen, haben wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Angebote zu Information, Beratung und finanzieller Unterstützung im Anerkennungsverfahren immer weiter ausgebaut. Hier nur ein paar Beispiele: Der Anerkennungszuschuss entlastet seit 2016 finanzschwache Antragsteller von den Kosten für das Anerkennungsverfahren bis zur Höhe von 600 Euro. Seit Ende 2019 wird auch die Zeugnisbewertung der ZAB bei akademischen Berufen wie Lehrer und Ingenieur gefördert, und in ausgewählten Berufen wird zurzeit die Erstattung von Prüfungs- oder Kursgebühren erprobt. Die zentrale Informationsplattform „Anerkennung in Deutschland“ in elf verschiedenen Sprachen und mit 3,2 Millionen Besuchern in 2018 soll künftig noch nutzerfreundlicher werden. Das Programm IQ – Integration durch Qualifizierung – fördert Anerkennungsberatungen, Anpassungsqualifizierungen und seit 2019 auch regionale Fachkräftenetzwerke. Im Rahmen des Projekts „Unternehmen Berufsanerkennung“ informieren DIHK und ZDH seit drei Jahren gezielt über die Chancen der Berufsanerkennung in den Betrieben, um diese noch bekannter zu machen. Durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz werden die Anforderungen an die Anerkennungsverfahren weiter steigen, zumal diese in der Regel aus dem Ausland geführt werden müssen. Das erfordert weitere Anpassungen, die bereits in die Wege geleitet worden sind. Bestes Beispiel dafür ist die neue Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung bei der BA für Anträge aus dem Ausland. Sie wurde am 17. Februar 2020 in Bonn eröffnet und wird interessierte Fachkräfte schnell und sicher durch die komplexen Verfahren lotsen, bis sie in Deutschland einreisen. ({1}) Wichtig ist künftig besonders auch noch eine bessere Vernetzung zwischen allen Akteuren in Bund, Ländern, Drittstaaten und Wirtschaft, einschließlich der Migrantenverbände. Mein Fazit: Von der Berufsanerkennung profitieren unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft als Ganzes. Damit das Anerkennungsgesetz seine Erfolgsgeschichte weiterschreiben kann, müssen die Verfahren künftig noch schneller, effizienter und transparenter werden. Dazu wurden bereits viele richtige Maßnahmen in die Wege geleitet. Wir im Parlament stehen bereit, dafür weitere Unterstützung zu geben. Herzlichen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir hier und heute über die Notwendigkeit eines Nationalen Sicherheitsrates diskutieren, dann kommen wir nicht an dem aktuellen Kurs der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorbei. Ob Syrien, Libyen, Iran oder Türkei: Die Herausforderungen der Zeit sind nicht irgendwo auf der Welt, sondern sie sind unmittelbar vor der Haustür Europas. Wenn wir für diese Probleme keine Lösungen entwickeln, werden diese Probleme eines Tages zu uns kommen. Vor diesem Hintergrund muss jede Bundesregierung, egal von welcher Koalition sie getragen wird, in der Lage sein, präventiv, strategisch und abgestimmt in der Außenpolitik zu handeln. In einer Zeit, in der die außen- und sicherheitspolitische Lage weltweit so unsicher ist wie lange nicht mehr, in einer Zeit, in der beinahe täglich neue Herausforderungen und Krisen entstehen, ist eine effektive und abgestimmte Krisenbewältigung wichtiger denn je. Dabei hat die deutsche und die europäische Außenpolitik immer noch kein Konzept für den Nahen und Mittleren Osten, noch immer kein Konzept für Ostasien, für China, keine Antwort auf die Krisen Afrikas und auch keinen Fahrplan für die Beziehungen mit Russland. Deutschland braucht endlich eine verantwortungsbewusste und kohärente Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, ganz im Sinne des vernetzten Ansatzes, ({0}) ein Gremium, das gemeinsam und umfassend die Sachlage analysiert und letztendlich mit klaren strategischen Zielen verknüpft und koordiniert. Viel zu oft ist das Handeln in der Außen- und Sicherheitspolitik geprägt von Passivität und vor allem Orientierungslosigkeit. Viel zu oft scheitern vermeintlich sinnvolle Ideen, wie beispielsweise die Schaffung einer Sicherheits- und Schutzzone in Nordsyrien, an mangelnder Abstimmung innerhalb der Ministerien. Viel zu oft wird an dem sicherheitspolitischen Status quo festgehalten, ohne an die Veränderungen in der Welt zu denken. Vor diesem Hintergrund fordern wir den sofortigen Ausbau des Bundessicherheitsrates hin zu einem ständigen, ressortübergreifenden Nationalen Sicherheitsrat. Hier sollen präventive, nachhaltige Strategien und Lösungen für die komplexen Herausforderungen unserer Zeit entwickelt werden. Deutschland kann es sich nämlich nicht leisten, immer wieder von neuen Krisen überrascht zu werden. Da geht es nicht nur um uns; es geht hier auch um eine Politik für die künftigen Generationen. ({1}) Der Kern eines Nationalen Sicherheitsrates wäre es, gemeinsame Antworten und Initiativen im Hinblick auf die Krisen der Welt zu entwickeln. Deutschland und die EU haben es jahrelang versäumt, außenpolitische Strategien und Handlungsansätze zu entwickeln. Einer der Hauptgründe dafür ist ja, dass Europa nicht in der Lage ist, in der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme zu sprechen. Aber bevor man Europa dafür kritisiert, lohnt sich auch ein Blick nach Deutschland. Dieser Bundesregierung gelingt es ja nicht mal, eine gemeinsame Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland zu entwickeln. ({2}) Ich erwarte sowohl vom Verteidigungsministerium als auch vom Außenministerium, dass hier nicht nur kluge Reden gehalten werden oder kluge Gastbeiträge erscheinen, sondern dass auch konkrete Ideen umgesetzt werden. Dieses Jahr übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Da können wir uns nicht auf dieser passiven Rolle ausruhen. Wir müssen endlich eine proaktive Rolle in der Außenpolitik übernehmen, also nicht nur Ideen entwickeln, sondern auch Strategien der Umsetzung erarbeiten. Das gelingt nur durch ein vorausschauendes und abgestimmtes Vorgehen der Bundesregierung in allen Feldern der internationalen Politik. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Roderich Kiesewetter. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Schülerinnen und Schüler! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte zunächst der FDP dafür danken, dass sie diesen Antrag in den Bundestag einbringt; denn er ist ein Beitrag zu einer strategischen Debatte und strategischen Kultur, die wir im Bundestag brauchen. Ich warne aber vor Euphorie und vor Aktionismus. Zunächst einmal ist uns allen, glaube ich, klar, dass wir uns nicht nur mit Blick auf Corona, sondern mit Blick auf die Gleichzeitigkeit auch vieler außenpolitischer Krisen verstärkt um Krisenprävention, um strategische Vorausschau kümmern müssen. Allerdings hat die Bundesregierung sich dazu schon vor einigen Jahren einiges in ihr Hausaufgabenheft geschrieben. Das Zweite, was mich freut – ich gehe gleich darauf ein –, ist, dass die FDP einen Vorschlag unserer Verteidigungsministerin aufgreift, ({0}) einen Impuls, den sie in München gegeben hat, um die Debatte zu beleben. Ich spreche hier ganz gezielt das Hausaufgabenheft der Bundesregierung an. Im Jahr 2016 hat die Bundesregierung im Weißbuch Folgendes gefordert: den Bundessicherheitsrat zu einem strategischen Impulsgeber in Deutschland aufzubauen, indem er sich verstärkt mit strategischen Herausforderungen und Konfliktszenarien beschäftigt. – Das ist eine sehr wichtige und gute Aufgabe. Leider ist unser aktueller Koalitionsvertrag nicht so ambitioniert; es gibt keine Ambitionen, dies weiter auszubauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist nicht der Ort, um das, was die FDP vorgeschlagen hat, zu verurteilen, sondern wir sollten uns selbst Gedanken machen, wie wir die Bundesregierung ermutigen können, diese Hausaufgabe stärker wahrzunehmen. Es geht um Krisenfrüherkennung, um Prävention, es geht darum, Trendanalysen zu leisten, und vor allen Dingen darum, einen Beitrag zur Entscheidungsfähigkeit der Bundesregierung zu leisten. Um das hinzubekommen, müssen wir uns als Deutscher Bundestag eines vornehmen: Wir dürfen nicht hinter das Weißbuch von 2016 zurückfallen. – Das ist die feste Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({1}) Ich hoffe, dass der Koalitionspartner, der das seinerzeit mittrug, genauso dahintersteht; denn das, was wir uns 2016 aufgeschrieben haben, ist das Ergebnis von 2014, als der Bundespräsident, der Bundesaußenminister und die Bundesverteidigungsministerin ein internationales Versprechen abgegeben haben: dass die Bundesrepublik früher, entschiedener und substanzieller auf Krisen reagieren muss. Das haben wir in vielen Fällen auch gemacht. Bestes und aktuellstes Beispiel ist die Libyen-Konferenz. An dieser Stelle muss ich Herrn Djir-Sarai widersprechen, der gesagt hat, wir seien hier untätig geblieben. Ich glaube, wir haben eine Reihe guter Beispiele. ({2}) Lassen Sie uns mit dem Antrag, der im Auswärtigen Ausschuss behandelt werden wird, etwas anders umgehen als sonst mit solchen Anträgen. Lassen Sie uns einen zweigleisigen Ansatz fahren: Wir sollten uns erstens selber ermutigen, die Bundesregierung darin zu stärken, das Weißbuch umzusetzen, und zweitens den Mut haben, als Bundestag verstärkt der Ort strategischer Debatten zu sein. Wir sollten uns Berichte vorlegen lassen über die Ergebnisse und Erfolge unseres außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Engagements. Wir sollten Evaluierungsberichte erhalten und über diese hier diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ferner sollten Fragen der strategischen Vorausschau und Trendanalysen stärker übergreifend im Auswärtigen Ausschuss, im Verteidigungsausschuss – ich bin froh, dass auch unser verteidigungspolitischer Sprecher gleich etwas dazu sagen wird – und im Entwicklungsausschuss beraten. Und dann sollten wir den Bundessicherheitsrat in seiner Flexibilität nutzen. Gerade jetzt sollten wir das Thema Gesundheit mit aufgreifen. Wir werden die Themen Digitalisierung, Cyberkriminalität und vieles andere beraten müssen. Ich glaube, am Bundestag sollte es nicht liegen. Wir sollten uns verstärkt zum Ort der strategischen Debatte machen und einen mutigen Beitrag dazu leisten, dass Sicherheitspolitik auch in unserer Bevölkerung ganzheitlicher wahrgenommen wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Armin-Paulus Hampel. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Wir freuen uns mit der FDP darüber – in der Tat –, dass sie jetzt das einfordert, worüber wir schon seit zwei Jahren reden. Beharrlich fordern wir eine ressortübergreifende, nationale Gesamtstrategie, Realpolitik im deutschen Interesse; ich habe es oft genug in diesem Hause erwähnt. Ich stelle fest: Man denkt inzwischen auch über das Wort „Nationaler Sicherheitsrat“ nach. Ich hatte immer gedacht, der Rest der Belegschaft hier bekommt Schnappatmung, ({0}) wenn er das Wort hört – aber nein. Einem Nationalen Sicherheitsrat können wir in der Tat nur zustimmen, weil: Wir handeln – und wollen handeln – ausschließlich im deutschen Interesse. ({1}) Die derzeitige Krise, die Coronakrise, zeigt uns ja, dass ein solches Instrument dringend notwendig ist. Wenn Sie sich einmal anschauen: 2016 hat es im Innenministerium eine Krisenanalyse gegeben, was man alles machen müsste in den verschiedenen Bereichen, wenn es zu einer solchen Krise kommt. Auf dem Papier sieht das sogar extrem gut aus; da ist alles aufgelistet, was Sie brauchen. Das Dumme ist: Wer setzt es um, wer koordiniert es, und wer spricht mit wem? Herr Djir-Sarai, da haben Sie völlig recht, Herr Kollege: Wir brauchen ein Instrument – und das ist der Nationale Sicherheitsrat –, in dem nicht nur die verschiedenen Ministerien vertreten sind, sondern wo wir auch den Unterbau schaffen, eine Organisationsstruktur, eine Arbeitsstruktur, die in der Lage ist, im Falle einer solchen Krise wie jetzt Corona sehr schnell einzugreifen und die Koordinierung so anzufahren, dass sie möglichst rasch und erfolgreich greift. Was in der Innenpolitik erforderlich ist, muss nach außen natürlich genauso möglich sein. Die Erfahrungen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren haben uns doch gezeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Wir haben nach 20 Jahren heute eine Bankrotterklärung der deutschen Afghanistan-Politik, ({2}) weil man immer nur ein paar Meter vorausgedacht und das Ende nicht bedacht hat. – Kollege Otte, Sie schütteln den Kopf. ({3}) Wenn ich heute höre, dass wir mit Terroristen verhandeln, um in Afghanistan Frieden zu schaffen, 5 000 Terroristen aus den Gefängnissen in Afghanistan freilassen, dann kann ich nur sagen: Wie bekloppt kann dieses Haus eigentlich sein, eine solche Politik zu unterstützen? ({4}) – Frau Kollegin, ich war länger in Afghanistan als Sie. Kommen Sie erst mal dahin und gucken sich den Hindukusch vom Boden aus an! Wir müssen vor allen Dingen etwas schaffen, was im nationalen Interesse ist, nämlich keine Strategien entwickeln – und da stimme ich dem FDP-Antrag zu –, die nur kurzfristig – von jetzt bis zum Jahresende, bis zur nächsten Mandatsverlängerung – greifen, sondern wir müssen eine langfristige Strategie definieren und dann auch umsetzen, wie wir für Afghanistan, wie wir für den Nahen und Mittleren Osten unsere politischen Ziele formulieren und durchsetzen wollen, ({5}) und zwar anders als das, was die Grünen immer wollen. Sie wollen mit Ihren Gutmenschen, Ihren NGOs – mit Milliarden aus dem Auswärtigen Amt finanziert –, losmarschieren. 3 Milliarden Euro liegen da auf Halde, weil sie nicht ausgegeben werden können. Warum? Weil wir nicht nur nicht in der Lage sind, unsere Ziele nach den SMART-Kriterien – spezifisch, messbar, angemessen, realistisch und terminiert – zu definieren, sondern auch nicht, die Zeiträume festzulegen, in denen wir das Ziel erreichen wollen, und sie dann auch umzusetzen. Das alles würde ein Nationaler Sicherheitsrat zu schaffen in der Lage sein. Deswegen brauchen wir dieses Instrument. Es ist notwendig. Aber es muss eben auch mit einem entsprechenden Unterbau so gut organisiert werden, dass es auch greift. Und dann muss es vor allen Dingen auch Ziele definieren, die im Zweifelsfalle über eine Legislaturperiode hinausgehen. Denn nach 20 Jahren Afghanistan-Einsatz wissen wir, dass es Ziele gibt – politische Ziele, außenpolitische Ziele und auch militärische Ziele –, die wir vorher definieren müssen, unter anderem die Frage, wann wir da wieder rauswollen. Noch einmal: Afghanistan ist das beste Beispiel dafür, dass wir diese Definition bis dato nicht geschafft haben. Wir unterstützen den Vorschlag der FDP. Wir sind allerdings der Meinung: Da besteht überhaupt kein Problem bei der Zuständigkeit, sondern da ist die Kanzlerin gefordert; sie muss das Heft des Handelns in der Hand haben. Wir würden uns freuen, wenn man das auch so implementiert. Wir sehen dort keine Verfassungsprobleme, wie die SPD sie sieht. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Fritz Felgentreu. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Skizze, die Sie eben gezeichnet haben, Herr Kollege Hampel, gibt es ein Problem. Wenn Sie sagen, wir müssten unsere Ziele definieren, auch über längere Zeiträume hinweg, kann ich nur feststellen: Meine Ziele sind nicht Ihre Ziele. ({0}) Wie sollen wir dann gemeinsame Ziele definieren, die für uns alle entsprechende Verbindlichkeit haben? Das ist ja die Autosuggestion, auf der die immer wieder wiederholte Idee von einem Nationalen Sicherheitsrat beruht: dass es so etwas wie ein objektives Gremium geben könnte, das als Berater der Bundesregierung über einzelne Legislaturperioden hinaus das allgemein Verbindliche definieren könnte, auf das wir gemeinsam hinarbeiten. Das funktioniert so aber nicht; denn unser politisches System funktioniert so nicht. Ich glaube, das muss man sich immer wieder klarmachen. Wir brauchen kein neues Gremium. Einen Bundessicherheitsrat haben wir schon; Kollege Kiesewetter hat vorhin darauf hingewiesen. Den kann man auch anders nutzen, als es die Bundesregierung im Moment tut. In der Vergangenheit ist das zum Teil auch schon geschehen, und das, was im Weißbuch dazu formuliert worden ist, ist ein Grundgedanke, den auch die SPD teilt. Aber auf die Umsetzung kommt es an. Wovor wir uns hier hüten sollten, ist, den Eindruck zu erzeugen, dass das, was in anderen Ländern gemacht wird – was insbesondere auf das Vorbild der USA zurückgeht –, bei uns einfach so funktionieren könnte. Ja, der amerikanische Präsident hat einen Nationalen Sicherheitsrat und einen Nationalen Sicherheitsberater als Sprecher dieses Sicherheitsrats, der auch einen großen Einfluss auf die praktische Politik der amerikanischen Regierung hat. Das politische System dort funktioniert aber komplett anders als unseres. Wenn ein amerikanischer Präsident gewählt wird, dann wird mit diesem Präsidenten auch die gesamte Regierung – die gesamte Exekutive in all ihren Stufen und Facetten – gewählt. Das heißt, es gibt dort eine Politik aus einem Guss, die vom Präsidenten bestimmt wird und die sich dann natürlich auch auf die Richtlinien auswirkt, nach denen ein solcher Sicherheitsrat arbeiten kann. ({1}) Das kann bei uns nicht passieren; ({2}) denn unsere Regierungen sind immer und zu jedem Zeitpunkt Koalitionsregierungen, die auf einer Verbindung unterschiedlicher Ideen und Gedanken und zum Teil auch unterschiedlicher Ziele beruhen. Diese unterschiedlichen Ziele unter einen Hut zu bringen, und zwar im Sinne einer politischen Verantwortung, ist etwas, was ein Sicherheitsrat einer Regierung niemals abnehmen kann. ({3}) Deswegen haben wir schon klare Zuständigkeiten. Wir haben einen Bundessicherheitsrat, der bei dem, was er an Kompetenzen wahrnehmen kann, möglicherweise einen Spielraum hat. Aber auch er ist ein Gremium, in dem ausgehandelt wird, was als gemeinsames Verhalten der Regierung am Ende in die Öffentlichkeit kommt. Wir haben daneben ein Kanzleramt, wo immer dann koordiniert werden muss, wenn ad hoc wichtige Entscheidungen zu treffen sind. Dieser Aufbau ist für unser politisches System der richtige. Dass wir qualitativ immer noch besser werden können, ist da vollkommen unbenommen, und dafür kann auch dieses Parlament der richtige Ort sein. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Verteidigungsministerin hat im letzten Herbst auf der Suche nach außenpolitischem Profil einen Nationalen Sicherheitsrat gefordert. Dieser Vorschlag reiht sich dort ein, wo schon der deutsch-französische Flugzeugträger, die NATO-Sicherheitszone in Syrien und Bundeswehreinsätze im Indopazifik stehen, nämlich in eine umfassende Strategie der Militarisierung der Außenpolitik. ({0}) Um diese Militarisierung zu erleichtern, wünscht sie sich einen Nationalen Sicherheitsrat und die Aufweichung der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. ({1}) Die SPD hat das damals völlig zu Recht abgelehnt, und die FDP versucht jetzt, einen Keil in die Koalition zu treiben, indem sie diesen völlig absurden Plan aufgreift. ({2}) Zu Ihrer Idee, aus Marketinggründen auch noch die Coronapandemie mit diesem Antrag zu verknüpfen, sage ich jetzt mal lieber gar nichts. Warum lehnt Die Linke einen Nationalen Sicherheitsrat ab? Zunächst einmal klingt die ganze Sache ja schon mal fürchterlich nach dem letzten Jahrhundert und nicht unbedingt nach den besten Zeiten davon. Deswegen ist es auch gar nicht erstaunlich, dass Sie da Beifall von ganz rechts bekommen. ({3}) Aber auch inhaltlich gibt es an diesem Vorschlag nichts wirklich Gutes. ({4}) Der Nationale Sicherheitsrat soll aus dem Bundessicherheitsrat entstehen. Das ist das Gremium der Bundesregierung – das muss man ja noch mal sagen –, das hinter verschlossenen Türen die Rüstungsexporte in die Kriegsgebiete der Welt durchwinkt. Dieser Geheimklub soll jetzt aufgewertet werden und noch mehr Kompetenzen bekommen, ({5}) und es ist kein Zufall, dass dieser Vorschlag von der Verteidigungsministerin kam. Ihr geht es darum, dem Militär in einem neuen Mauschelgremium noch mehr Einfluss auf die Außenpolitik zu verleihen, und das lehnt Die Linke selbstverständlich ab. ({6}) Wenn sich die Bundesregierung gemäß dem Grundgesetz auf eine friedliche Außenpolitik konzentrieren würde, dann hätte sie übrigens auch weniger Schwierigkeiten, diese Außenpolitik mit nachhaltiger Entwicklung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Einklang zu bringen. ({7}) Solange die Bundesregierung aber weiter an der Stationierung von Atomwaffen in unserem Land festhält und nichts gegen die ausufernden Rüstungsexporte unternimmt – wieder Platz vier in der Welt –, kann sie sich nicht glaubwürdig für globale Abrüstung einsetzen. ({8}) Wenn die Bundesregierung mit den verheerenden Kriegseinsätzen der Bundeswehr in Mali, in Syrien und in Afghanistan an den Krisenherden dieser Welt mitzündelt oder jetzt mit der Bundeswehrbeteiligung am US-Manöver Defender Europe 2020 die Konflikte mit Russland weiter eskalieren, dann passt das eben nicht zu einer vorausschauenden Friedenspolitik. ({9}) Meine Damen und Herren, für eine friedliche Außenpolitik brauchen wir keinen Nationalen Sicherheitsrat, sondern Abrüstung, Entspannung und zivile Konfliktbearbeitung. ({10}) Dafür steht nun leider nicht die FDP, aber Die Linke. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder kommt der Vorschlag, einen Nationalen Sicherheitsrat zu gründen. Das scheint ja sehr viele Begehrlichkeiten zu wecken, ohne dass man ganz genau weiß, was man darunter zu verstehen hat. Die AfD hat gerade gesagt: Wir brauchen diesen Rat, um nationale Sicherheitsinteressen zu formulieren. – Das macht aber das Weißbuch. Die Union hat gerade davon gesprochen, dass es auch darum geht, Kohärenzen im Sicherheitsbereich herzustellen. Die FDP schreibt in ihrem Antrag aber etwas anderes. Da geht es um Folgendes – ich darf vorlesen –: Ihnen geht es um ein „ressortübergreifendes Gremium, das frühzeitig aufkommende Krisen und Risiken erkennt, analysiert und strategische Handlungsempfehlungen entwickelt“. Diese Wirrheit in der Auseinandersetzung, in der Wahrnehmung dieses Begriffes zeigt, dass es hier eigentlich um eine Schimäre geht. Das Spannendste ist ja: Das, was die FDP in ihrem Antrag schreibt, gibt es ja schon. Es gibt einen Beschluss zur Verabschiedung der Leitlinien zur Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung. In diesem Rahmen treffen sich die Staatssekretäre aus verschiedenen Häusern zur strategischen Lagebesprechung unter Führung des Auswärtigen Amtes. Das ist so ziemlich genau das, was Sie wollen. Ich gebe zu: Der Name, den ich gerade vorgelesen habe, ist nicht ganz so dynamisch wie die Gehirnwellen, die diesen Antrag tragen. Aber das gibt es alles schon. Also, worum geht es eigentlich? Geht es eigentlich darum, dass es ein berechtigtes Anliegen gibt, hier für Kohärenz zu werben? Der Grund dafür ist nicht, dass es an Institutionen fehlt. Der Grund dafür ist, dass es am Willen fehlt. ({0}) Wenn die Verteidigungsministerin und der Außenminister per SMS miteinander kommunizieren, die Verteidigungsministerin dann mit einem Vorschlag an die Presse geht, den der Außenminister in Ankara auf einer Pressekonferenz wieder einholt, dann führt das zu einem großen Schaden für die Außen- und Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik. Aber das ist eine Frage des Willens und der einfachen Kommunikation miteinander am Kabinettstisch. Dieses Problem kriegen Sie durch kein Gremium bewältigt. Deshalb ist das, was hier genannt wird, tatsächlich eine Schimäre. ({1}) Im Übrigen: Ich bin nicht erst seit gestern im Deutschen Bundestag. Es gab auch Zeiten, in denen die Kohärenz ähnlich schlecht war. Das war, als der Minister für Entwicklungszusammenarbeit und der Außenminister von derselben Partei waren, nämlich von der FDP. Das heißt, es geht hier um den Willen. Es geht darum, dass man miteinander spricht. Und es geht um eines nicht: Es geht nicht um Versicherheitlichung. Denn das, was Sie da beschreiben, ist nicht in erster Linie eine Frage eines Nationalen Sicherheitsrates, sondern eine Frage des Ressortkreises Zivile Krisenprävention. ({2}) Das heißt, das, was Sie da vorschlagen, hat zwei Nebeneffekte, die wir jenseits der Redundanz dieses ganzen Vorschlages falsch finden. Erstens. Es ist eine Versicherheitlichung dessen, was nicht versicherheitlicht gehört. Wenn wir einen gesamten, ressortübergreifenden Ansatz wollen, dann geht es eben nicht um Sicherheit alleine, sondern da geht es um weit mehr. Zweitens. Die anderen Prozesse, die es bisher gegeben hat, die mit viel zu wenig Mitteln ausgestattet worden sind, die viel zu wenig substanziell vorangetrieben worden sind, obwohl die Plattformen schon da sind, sind immer superkonstruktiv begleitet worden, beispielsweise von der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung oder von der GKKE. Das sind die Gruppen, die Sie dann bei Ihrem Rat nicht mehr dabei haben. Das ist, glaube ich, Ihre Absicht. Deshalb ist das nicht richtig. Wenn wir uns darüber verständigen können, wie wir die bisher bestehenden Formate weiterentwickeln können, wie wir sie tatsächlich mit Ressourcen ausstatten können, wenn wir darüber reden können, wie der ganzheitliche Ansatz nicht versicherheitlicht wird, dann können wir auch in den Ausschussberatungen sicher darüber reden, wie wir da zusammenkommen. ({3}) Aber einfach nur das, was es schon gibt, mit dem Begriff „Nationaler Sicherheitsrat“ zu benennen ({4}) und nicht einmal darüber nachzudenken, wie man den Bundessicherheitsrat weiterentwickelt, das reicht schlicht nicht. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Henning Otte. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es lohnt sich, über den Antrag der FDP nachzudenken. Wir müssen allerdings feststellen, Herr Kollege Djir-Sarai, dass der Text erst gestern Abend veröffentlicht worden ist. Das war schon eine gewisse Ad-hoc-Aktion. ({0}) Der Antrag ist etwas überfrachtet. Einerseits wollen Sie eine tagesaktuelle wie auch eine kontinuierliche Beurteilung gewährleisten, und andererseits wollen Sie Sicherheits-, Außen- und Gesundheitspolitik miteinander verbinden. Das heißt, es geht Ihnen offensichtlich nicht richtig darum, das umzusetzen; ansonsten – das darf ich sagen – wären Sie ja in der Regierung und hätten mitgemacht. ({1}) Aber wir nehmen diesen Gedanken sehr gerne noch einmal auf, weil wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagen: Wir stehen für die innere und für die äußere Sicherheit ein. Denn wir sind es ja, die auch sagen: Wir brauchen eine Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 1,5 Prozent bis 2024 und dann 2 Prozent, um die Potenziale für die Sicherheit Deutschlands zu heben und unseren Verpflichtungen nachzukommen. Es war auch unsere Bundesverteidigungsministerin, die gesagt hat: Wir müssen die Idee des Bundessicherheitsrates hin zu einem Nationalen Sicherheitsrat weiterentwickeln, weil wir die Sicherheitsarchitektur neu überdenken müssen, um eine nachhaltige Sicherheitsvorsorge zu erwirken, die die Sicherheit auch für kommende Generationen gewährleistet. Deswegen sehen wir als CDU und CSU hier Handlungsbedarf und sagen: Auch die Haushaltsmittel dafür müssen zur Verfügung gestellt werden. ({2}) Wir stehen vor einer sich verändernden Sicherheitslage. Die Kräfteverhältnisse werden neu geordnet: Russland hat jetzt als Dankeschön für die Unterstützung der furchtbaren Handlungen in Syrien neue Stützpunkte in Syrien bekommen. Der Iran weitet sein Einflussgebiet aus. Afrika steht vor großen Veränderungen, die wir mit den afrikanischen Staaten, mit der Afrikanischen Union sicherstellen und konstruktiv gestalten müssen. Zudem stehen wir vor großen Herausforderungen wie der Globalisierung. Das heißt, Seewege müssen im Sinne des freiheitlichen Handels gewährleistet werden. Wir stehen vor der Herausforderung der Digitalisierung: Warenströme entwickeln sich neu, Produktionswege entstehen neu. Wir sind mit Cyberangriffen konfrontiert, und wir haben einen Terror, bei dem man innere und äußere Sicherheit nicht mehr voneinander trennen kann. Deswegen sind wir in der CDU/CSU-Fraktion der Meinung, dass wir diese Betrachtung von klaren Säulen, wie es sie bisher gab, verändern müssen. Wir haben eine Sicherheitsarchitektur, die 60 Jahre alt ist, die durchaus bewährt ist, aber die wir jetzt auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen neu ausrichten müssen. Viel zu sehr sind die einzelnen Ministerien in sich geschlossen mit der Verarbeitung von Herausforderungen beschäftigt, ob das eben das Verteidigungsministerium mit den Streitkräften ist, ob das das Außenministerium mit der Diplomatie ist oder ob es das Entwicklungshilfeministerium ist. Wir vollziehen den Weg des vernetzten Ansatzes, weil wir sagen: Nichts an Problemen kann militärisch gelöst werden, sondern immer nur durch den vernetzten Ansatz. Aber wir stellen auch fest, dass innere und äußere Sicherheit nicht mehr so voneinander zu trennen sind. Deswegen sagen wir: Es lohnt sich, das Konstrukt der 40 innerstaatlichen Sicherheitsorganisationen und ‑dienste einmal einer Generalinventur zu unterziehen. Wir brauchen eine einheitliche Lagebeurteilung, wir brauchen eine einheitliche Bewertung, wir brauchen eingeübte Verfahren, so wie wir das beispielsweise bei der „GETEX“-Übung gezeigt haben. Man muss üben, um die Sicherheit zu gewährleisten. Deswegen verfolgen wir auch Defender Europe 2020, um Sicherheit zu üben. Insgesamt geht es darum – Kollege Kiesewetter hat es auch gesagt –: Wir müssen die Krisenfrüherkennung verbessern, wir müssen strategische Vorausschau betreiben, möglichst europäisch eingebunden. Es geht um nichts mehr als um die Sicherheit unseres Landes, und das ist unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, auch hier in diesem Hause. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Josip Juratovic. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis.“ ({0}) Es ist doch erstaunlich, dass ausgerechnet die Partei, die sonst an jeder Ecke lähmende Bürokratie wittert, jetzt als Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart die Einrichtung eines weiteren Gremiums fordert. ({1}) Nun ist die Idee hinter diesem Antrag ja nicht ganz falsch. Der Begriff und der Umfang von Sicherheitspolitik verändern sich in diesen turbulenten Zeiten grundsätzlich. Da muss Deutschland die Mittel entwickeln, um entschieden und effektiv handlungsfähig zu bleiben. Ein Nationaler Sicherheitsrat wäre dabei jedoch der Versuch, einen Wasserrohrbruch mit einem Pflaster zu flicken. ({2}) Sicherheit ist heute ein Querschnittsthema, das auf der Agenda nahezu aller Ressorts steht. Sie nennen das Coronavirus, ein Thema vor allem des Gesundheitsministeriums. Wir sehen dies aber auch am Beispiel Huawei, bei dem das Verkehrsministerium federführend ist, oder beim Thema „staatliche Onlinepropaganda gegen unsere Demokratie“, bei dem das Justizministerium Lösungen finden muss, von den ressortübergreifenden Mammutherausforderungen der Klimakrise mal ganz abgesehen. Das alles sind sicherheitspolitisch relevante Themen. Welche dieser Ministerien säßen denn dann beim Nationalen Sicherheitsrat mit am Tisch und welche nicht? Das zentrale Argument von Befürwortern eines Nationalen Sicherheitsrats ist, dass er die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung steigern würde. Da frage ich mich doch, wie dies funktionieren soll. Wie bereits von meinem Kollegen Fritz Felgentreu erwähnt: Im Gegensatz zum amerikanischen Präsidialsystem, wo diese Idee ja herstammt, benötigt Regierungshandeln in unserem parlamentarischen System demokratische Mehrheiten und einen Konsens zwischen Koalitionspartnern. Das ist nicht immer einfach, weder in der Großen Koalition noch in jeder anderen Koalition. Ein Nationaler Sicherheitsrat würde daran aber nichts ändern. Im besten Fall wäre er unnötig, weil die Konsensfindung im Kabinett bzw. im Koalitionsausschuss stattfindet; im schlechtesten Fall wäre er blockiert. ({3}) Was ist also stattdessen zu tun? Ich bin überzeugt, dass Sicherheit eine kulturelle und keine institutionelle Frage ist. Wir brauchen eine neue politische Kultur und einen neuen gesellschaftlichen Konsens über die Eckpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik: Was sind eigentlich unsere konkreten Interessen und Ziele? Welche Mittel sind wir gewillt zu nutzen, welche lehnen wir ab? Wer ist dabei ein möglicher Partner und wer nicht? Hierüber bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Das Auswärtige Amt unter den SPD-Ministern hat dazu in den vergangenen Jahren in zahlreichen Initiativen und in engem Dialog mit NGOs und Stiftungen Vorlagen gemacht, nicht nur national, sondern auch international. ({4}) Hierauf gilt es aufzubauen: von einer reinen Sicherheitspolitik der Nationalstaaten hin zu einer multilateralen Sicherheitspolitik auch mit den Zivilgesellschaften. Einen Nationalen Sicherheitsrat brauchen wir dazu nicht. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der heutigen Debatte ist der Kollege Christian Schmidt für die CDU/CSU. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mal gekramt. In alten Archiven habe ich gelesen, dass der damalige Sprecher der CSU-Landesgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik Christian Schmidt im Oktober 2001 einen Nationalen Sicherheitsrat gefordert hat. ({0}) Dann habe ich gelesen, dass unser verehrter Freund, an den wir heute denken, Andreas Schockenhoff, mit einigen anderen im Jahr 2008 einen Nationalen Sicherheitsrat gefordert hat und dass die Debatte darüber im Bundestag sehr interessant war. Der heftigste Gegner des Sicherheitsrats war Werner Hoyer von der FDP. ({1}) – Ja, Werner Hoyer ist ein wirklich guter Mann. Ich schätze ihn, er ist ein Freund. – Werner Hoyer hat auf den Punkt hingewiesen, der hier auch mehrfach angesprochen worden ist: Welche Funktion hat der Sicherheitsrat? Wir müssen hinter die Begrifflichkeit gehen. Insofern muss ich den Antrag der FDP schon loben, weil Sie die Fragestellung aufgeworfen haben, wer entscheidet. Jeder denkt beim Nationalen Sicherheitsrat an NSC, und dann kommt der Nationale Sicherheitsberater, einer wie Henry Kissinger, der sagt, was dann passiert. Es geht hier um Koordinierung und Unterstützung und um Vernetzung. Das ist vom Kollegen Otte gerade sehr deutlich angesprochen worden. Auch im FDP-Antrag steht das nicht anders drin. Deswegen ist es ein Werkstück, an dem man durchaus arbeiten kann. Ich will hoffen, dass bei der nächsten Debatte über den Nationalen Sicherheitsrat, wenn ich dann die vergangenen Vorstöße vorlesen werde, auch der Ihrige mit dabei ist. Er ist heute dabei, bedarf jedoch noch einiges an Arbeit. Er beschreibt aber gerade in den Zeiten von Corona die Notwendigkeit, dass wir uns bei der Krisenvorsorge in Bezug auf die Bereitschaft und Fähigkeit, in krisenhaften Situationen, seien sie zivil oder militärisch, seien sie von innen oder von außen hervorgerufen, schnell zu reagieren, besser abstimmen müssen. – Ja, es ist einiges passiert.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel? ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, er darf mal. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es ist nett, Herr Kollege, dass ich auch mal darf. – Wenn ich Ihre Ausführungen gerade richtig verstanden habe – vielleicht hatte ich mich auch gar nicht deutlich genug ausgedrückt –, teile ich Ihre Kritik, dass ein solches Gremium nur beratende Funktion haben sollte. Wir zielen darauf ab, dass es sich nicht um bloße Handlungsempfehlungen handelt, sondern dass hier die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers gefordert ist. Wenn es unter die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers fallen würde und Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Entwicklungsministerium und, je nach Krisenfall zugeordnet, vielleicht auch andere Häuser in einem permanenten Stab im Kanzleramt, und zwar arbeitsfähig, vorhanden wären: Würden Sie einem solchen Antrag zustimmen, Herr Kollege?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Hampel, bevor wir über diese Frage reden, müssen wir noch mal darüber reden, welche Vorstellungen Sie von Verhandlungen, was Afghanistan betrifft, haben. ({0}) Diese haben durchaus ihren Sinn, wenn sie zum Frieden führen. Aber zu dieser Frage würde ich sagen: Wir sollten uns nicht über organisatorische Detailfragen auseinandersetzen, sondern wir sollten unterstreichen, dass auch in diesen Fragen das Ressortprinzip seine Funktion behalten muss, während die Kanzlerin/der Kanzler die Richtlinienkompetenz behält. Ansonsten wäre eine Verfassungsänderung notwendig. Dass man – das beendet meine Beantwortung Ihrer Frage – aber politisch einen langen Atem braucht, um die Koordinierung zusammenzuführen, hat sich in den letzten Jahren gezeigt. So ganz nutzlos waren die Debatten nicht. Aber sie können noch verbessert und optimiert werden. Lassen Sie mich zum Abschluss, Herr Präsident, auch darauf hinweisen, dass es nicht nur um horizontale Koordinierung geht, sondern auch um vertikale. Wer zurzeit den Blick auf die Bekämpfung der Pandemie wirft, der spürt, dass es in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auch noch Themen gibt, die bei der Krisenvorsorge besprochen werden müssen. Dafür ist heute nicht der Platz; das muss und sollte aber eine Notwendigkeit sein. Ob Corona oder wie in meiner Erinnerung die Vogelgrippe: Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit ist vertikal und horizontal gegeben. Deswegen: guter Ansatz, gute Idee. Wir arbeiten daran weiter; aber wir werden uns nicht alleine auf die FDP verlassen, sondern das in der Koalition besprechen. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Es gibt keine weiteren Redner.