Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/20/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf: a) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kom- mission „Internet und digitale Gesellschaft“ Medienkompetenz - Drucksache 17/7286 - b) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ - Drucksache 17/5625 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jens Koeppen für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier zur besten Kernzeit im Deutschen Bundestag über die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ beraten und die Zwischenberichte präsentieren, läuft wahrscheinlich zeitgleich auf Twitter die Auswertung der Debatte; sie wird dort kommentiert und analysiert. Kaum jemand kann und will heute noch auf die Abendnachrichten um 20 Uhr warten; denn wahrscheinlich ist das der kalte abgestandene Kaffee vom Morgen, bestenfalls eine nette Zusammenfassung des Tagesgeschehens, aber es hat nicht mehr sehr viel mit News zu tun. Das Internet ist viel, viel schneller. Das ist Information und Bildung. Das ist Selbstbestimmung, und das ist Teilhabe. Das ist aber vor allen Dingen Unterhaltung und Lebensfreude, und in allererster Linie ist es wirtschaftliche Betätigung. Damit das so ist, so bleibt und kontinuierlich weiterentwickelt wird, hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ ins Leben gerufen. Ich bedanke mich am Anfang der Debatte ganz ausdrücklich bei all denjenigen, die mitarbeiten und mithelfen, dass diese Enquete zum Erfolg wird. Vor allen Dingen bedanke ich mich bei den Abgeordneten aller Fraktionen, die dies neben den ganzen Fachthemen zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben. Ich bedanke mich bei unseren Mitarbeitern und Referenten. Ich bedanke mich beim Sekretariat und bei der Bundestagsverwaltung. Ganz besonders bedanke ich mich - ich glaube, im Namen des ganzen Hauses - bei unseren Sachverständigen und Experten, die mit sehr viel Fleißarbeit, mit einem hohen Sachverstand und mit sehr viel Arbeitsaufwand in vielen Arbeitsstunden neben ihrer eigentlichen Tätigkeit dafür sorgen, dass die Enquete qualitativ sehr gut besetzt ist. Herzlichen Dank dafür! ({0}) Wir arbeiten seit fast zwei Jahren engagiert in dieser Enquete-Kommission. So manche Ernüchterung hat sich gezeigt, weil die Mühsal der demokratischen Gremien für einige neu ist. Ideologische Schützengräben, in denen man sich abducken konnte, wurden von allen aufgetan. Aber das ist nicht entscheidend. Für mich ist entscheidend, dass es diese Enquete gibt. Für mich ist entscheidend, dass engagierte, leidenschaftliche Debatten geführt wurden, dass sehr viel Herzblut hineingegeben wurde und dass dort ein Wille zum Konsens besteht. Eines ist, insbesondere in dieser Enquete-Kommission, ganz klar: Die reine Lehre, das vielbeschriebene weiße Blatt Papier, mit dem man noch einmal neu anfangen könnte, gibt es nicht. Hier benutze ich gern die Worte unseres Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. 18318 Das sollten wir gerade in dieser Enquete-Kommission beachten. ({1}) Meine Damen und Herren, für mich und für meine Arbeitsgruppe sind fünf Grundthesen ganz entscheidend. Diese möchte ich Ihnen in aller Kürze vortragen. Erstens. Das Internet ist ein Kulturbruch. In diesem Kulturbruch liegt das große Potenzial. Das Netz erweitert die Anzahl der Orte, an denen sich Menschen begegnen. Raum und Zeit sind nahezu bedeutungslos geworden. Soziale Netzwerke führen Menschen zusammen. Neue Marktplätze entstehen. Neue Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit eröffnen sich. Im Netz findet Information praktisch auf Abruf statt. Es herrscht eine Kultur der sofortigen Verfügbarkeit mit einer enormen Reichweite. Nur wer diese Netzkultur versteht, der kann ermessen, was es bedeutet, wenn man Menschen den Zugang zum Netz verwehrt. Das müssen wir unbedingt verhindern. Freiheit braucht aber auch Sicherheit. Das Verhältnis zwischen der Freiheit im Netz und dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach Sicherheit muss ausgewogen und besonnen ausgestaltet sein. Natürlich - ich wiederhole mich da -: Jede funktionierende Gesellschaft braucht ihre Leitplanken. Aber gerade hier müssen diese besonnen und mit Augenmaß gesetzt werden. Der zweite Punkt. Der gefühlte Klassenkampf zwischen digitaler Welt und analoger Welt muss aufhören. Es gibt die virtuelle Welt nicht, auch wenn wir immer noch das Gefühl haben, dass es ein Leben im Netz und ein Leben außerhalb des Netzes gibt. Wir müssen die analoge Welt mitnehmen; das ist eine große Aufgabe. Das Netz gehört niemandem, weder irgendwelchen Nerds noch den selbsternannten Angehörigen der Community. Es gehört auch nicht irgendeiner digitalen Elite und schon gar nicht einer bestimmten Partei oder Organisation. Online zu sein, ist ein ganz selbstverständlicher Teil unseres Lebens geworden. Wir sollten die Gelegenheitsnutzer lieber aufklären, als sie vielleicht abfällig als „Internetausdrucker“ zu bezeichnen. Das Netz ist auch nicht gut oder schlecht. Es ist einfach da. Wir machen das Netz. Es bestimmt unser Leben heutzutage maßgeblich, selbst wenn wir meinen, wir würden es nicht nutzen. Netzpolitik muss auch nicht neu erfunden werden, sondern wir müssen die analogen Erfahrungen an den Erfordernissen der digitalen Welt prüfen und sie anpassen. Dritter Punkt. Das Internet gibt unserer Gesellschaft neue Impulse. Nie zuvor konnten sich Bürgerinnen und Bürger so umfassend über ihr Gemeinwesen informieren. Größere Transparenz im staatlichen Handeln kann mehr Bürgerbeteiligung, noch mehr Vertrauen und das Pflichtgefühl befördern; denn das Internet ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Kein anderes Medium bietet zum Beispiel Politikern und Wählern eine vergleichbare Möglichkeit, direkt miteinander zu kommunizieren. Das sollten wir unbedingt bewahren und natürlich auch befördern. Der vierte Punkt. Wir müssen Überregulierung vermeiden. Selbstregulierung sollte Vorrang vor staatlicher Regulierung haben. Das gilt aus meiner Sicht übrigens auch für die analoge Welt. Freiheit braucht jedoch Eigenverantwortung und Medienkompetenz, über die wir nachher noch genauer reden werden. Unser Leitbild des Onlinenutzers ist der mündige Bürger. Wir setzen ganz klar auf Wettbewerb, Transparenz und Selbstregulierung, bevor der Gesetzgeber regulierend eingreifen muss. Schließen möchte ich mit dem fünften Punkt. Die Netzpolitik ist für uns ein eigenständiges Politikfeld; denn heute ist nahezu jeder Aspekt unseres Lebens an das Internet angeschlossen. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema. Die Netzpolitik muss auch dann, wenn die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat, an einer hervorgehobenen Stelle im Bundestag und in der Bundesregierung eine Bedeutung haben. Ich wünsche mir, dass wir am Ende des Tages mit unserer Arbeit in dieser Kommission dafür sorgen, dass das Thema Internet und digitale Gesellschaft noch mehr in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt wird und die Politik noch mehr agieren kann. Im Moment reagiert sie eher. Das ist dieses alte Hase-und-Igel-Spiel. Meistens ist das Internet natürlich viel schneller, als wir reagieren können. Zum Schluss wünsche ich mir, dass sich Anbieter und Nutzer medienkompetent innerhalb der von uns besonnen gesetzten Leitplanken bewegen können. Wenn wir das erreicht haben, dann haben wir etwas Großes getan. Ich möchte Sie auffordern, daran in der Enquete weiterhin mitzuwirken. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung verändert die Welt, in der wir leben. Sie verändert die Welt, in der wir arbeiten, und auch die Antwort auf die Frage, wie wir heute wirtschaften. Durch die Digitalisierung erfahren wir eine grundlegende Veränderung unserer Welt. Das bringt auch Anforderungen an die Politik mit sich. Arbeit verändert sich. Heute haben viele bzw. immer mehr Menschen die Möglichkeit, von jedem Ort der Welt zu jeder Zeit zu arbeiten. Der Betriebsbegriff ändert sich. Alles, was man heute braucht, ist ein Internetzugang. Der Laptop wird zur Werkbank des 21. Jahrhunderts. Wir sehen, dass diese Veränderung die Chance auf mehr Freiheit und auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit sich bringt. Wir sehen aber auch, dass neue Anforderungen an den Sozialstaat entstehen, dass die Anforderungen wachsen und wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie solche Formen der Arbeit abgesichert werden können. Die Wirtschaft verändert sich. Wir sehen eine digitale Wirtschaft, die wächst, aber wir sehen auch, dass sich die klassischen industriepolitischen Branchen verändern. Egal ob in der Stahlindustrie oder in der Automobilindustrie: Viele Wertschöpfungsketten verlaufen heute entlang digitaler Linien. Wir müssen uns fragen, wie wir hier Innovationen weiter stärken können. Auch die Bildung verändert sich. Wir diskutieren hier heute den Zwischenbericht zur Medienkompetenz. Junge Menschen sind immer mehr Informationen ausgesetzt. Sie müssen lernen, hiermit umzugehen und sich in neuen Technologien zurechtzufinden. Eine der größten Herausforderungen, die wir in der Politik zu bewältigen haben, ist: junge Menschen fit zu machen, sich in dieser digitalen Welt zurechtzufinden. ({0}) Auch die politischen Prozesse müssen sich verändern. Die Menschen können Politik heute in Echtzeit verfolgen. Sie können sie kommentieren, aber es entsteht auch der Wunsch, in Echtzeit dabei zu sein und Politik zu beeinflussen. Genau diese Möglichkeiten müssen wir eröffnen. Wir müssen Beteiligungsformen anbieten, damit die Menschen ihre Kommentare und Ideen in Echtzeit in politische Prozesse einfließen lassen können. Wir sehen auch, dass uns die Digitalisierung heute vor neue, ungelöste Herausforderungen stellt, etwa vor den permanenten Kampf zwischen individuellen Freiheitsrechten und notwendigen Sicherheitsinteressen. Ich spreche die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung an, bei der wir nicht vorangekommen sind. Das wird zwischen den Fraktionen, aber auch in den Fraktionen diskutiert. Hier müssen wir neue Antworten finden, und ich sage auch: Wenn wir eine Balance zwischen Sicherheit und Freiheit suchen, dann müssen wir aufhören, symbolische Diskussionen wie solche um Netzsperren, die Sperrung des Internetzugangs oder auch die Zensurinfrastruktur im Internet zu führen. In der digitalen Zeit stehen wir vor der Herausforderung, das Urheberrecht zu reformieren. Auf der einen Seite entstehen wunderbare Möglichkeiten für Kreative, neue Verbreitungswege zu finden. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass wir einen gesellschaftlichen Konsens für ein neues Urheberrecht in einer digitalen Zeit noch nicht geschaffen haben. Die Politik in Gänze tut sich schwer, diese umfassenden gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umbrüche zu gestalten. Es ist deutlich geworden, dass Netzpolitik kein Nischenthema ist, sondern dass es hier um große gesellschaftliche Veränderungen und eine moderne Gesellschaftspolitik geht. Deswegen müssen der Deutsche Bundestag und die Politik insgesamt endlich anfangen, diesen Wandel zu gestalten. Im Ernst: Es ist unsere Entscheidung, ob wir dabei sind. Dieser Wandel kommt, und ich hoffe, wir entschließen uns, ihn zu gestalten. Ansonsten findet er ohne uns statt. In Anbetracht all dieser Herausforderungen und Veränderungen, die ich gerade beschrieben habe, haben wir im Jahr 2009 gemeinsam die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ eingesetzt, verbunden mit der Hoffnung, dass hiermit aus der Mitte des Parlaments der digitale Wandel gestaltet werden kann und dass die Enquete so etwas wie ein netzpolitischer Thinktank, eine Denkfabrik, und auch ein Experimentierfeld für neue Möglichkeiten der politischen Partizipation ist. Wenn wir heute, knapp zwei Jahre nach dem Start der Enquete, eine Zwischenbilanz ziehen, dann müssen wir feststellen: Diesem hohen Anspruch, den wir an uns selbst gestellt haben, sind wir bisher nicht gerecht geworden. Wir haben erlebt, dass wir auf viele drängende Fragen der digitalen Entwicklung hier im Deutschen Bundestag noch keine Antwort und keine Sprachregelung gefunden haben. Genau deswegen sage ich: Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, wenn es jetzt darum geht, die Arbeit der Enquete-Kommission weiterzuführen. Ich will das hier deutlich sagen: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir werden als Parlament als Ganzes gewinnen oder als Ganzes verlieren, wenn es darum geht, Antworten zu formulieren. ({1}) Deswegen ist mein Appell, dass wir mit Taktierereien, mit parteipolitischen Reflexen und mit stundenlangen Diskussionen über Verfahrensfragen in der Enquete aufhören und uns darauf konzentrieren, den Streit in der Sache zu führen - das ist notwendig -, und dass wir damit anfangen, die Vision für eine digitale Gesellschaft noch stärker zu definieren. ({2}) Dabei will ich ausdrücklich an diejenigen appellieren, die wir als 18 Sachverständige eingebunden haben. Es war ein richtiger Schritt, dass wir uns geöffnet und neue Beteiligungsformen geboten haben. Das war die ausgestreckte Hand an eine Netzcommunity, die zu den erfolgreichsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre gehört. Ob es die Debatte um die Netzsperren ist, ob es die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung oder den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist: Wir waren immer erfolgreich darin, Dinge zu verhindern. Bei der Enquete machen wir jetzt das Angebot, etwas zu gestalten. Das ist schwieriger, als etwas zu verhindern. Demokratie ist anstrengend. Dabei geht es darum, Mehrheiten zu gewinnen. Es geht darum, zu überzeugen. Da mag es manchmal einfacher sein, die Arbeit der Enquete-Kommission auf Twitter hämisch zu begleiten. Aber mein Wunsch ist, dass diejenigen, die Ideen haben, sich einbringen und dass wir durch die Beteiligung des 18. Sachverständigen die Chance haben, die Arbeit der Enquete erfolgreich zu Ende zu führen. Dass die Enquete hier im Parlament wichtig ist, dass Impulse aus dem Parlament kommen müssen, zeigt die netzpolitische Bilanz dieser schwarz-gelben Bundesregierung. Dieser Regierung fehlt der Mut, auf einen konsequenten Breitbandausbau zu setzen und endlich das Grundrecht auf ein schnelles Internet zu verankern, notfalls mit einem Universaldienst. ({3}) Dieser Regierung fehlt der Mut, die gesetzliche Netzneutralität zu verankern und ein innovatives und freies Internet aufrechtzuerhalten. Initiativen dieser Regierung zur Modernisierung des Urheberrechts und zum Datenschutz? Fehlanzeige! Initiativen zur Weiterentwicklung des Informationsfreiheitsgesetzes, zu Open Data? Fehlanzeige! Das Einzige, was von dieser Regierung bleibt, ist die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes. Diese Initiative kam fraktionsübergreifend aus der Mitte des Parlaments. ({4}) Ich bin überzeugt: Dieses Parlament kann Impulse für die netzpolitische Arbeit in der deutschen Politik geben. Deswegen meine Hoffnung und das Angebot der SPD, die Arbeit der Enquete erfolgreich weiterzuführen. Wir sollten jetzt noch einen draufsetzen und mit parteipolitischen Spielen aufhören. Dann werden wir am Ende erfolgreich sein. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Blumenthal ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Lars Klingbeil, es entbehrt nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik, wie die Rede intoniert wurde und wie dann das Ende vollzogen wurde. Das muss an dieser Stelle einmal erwähnt werden. ({0}) Für die FDP-Fraktion war es im Bereich Medienkompetenz entscheidend, dass wir als Grundlage den aufgeklärten und selbstbestimmten Nutzer in den Vordergrund stellen. Für uns ist wichtig, dass wir keine staatliche Definition eines Otto Normalnutzers auf die Tagesordnung setzen, sondern dass wir uns politisch Gedanken darüber machen: Wie können wir einzelne Menschen befähigen und bestärken, das Potenzial und die Chancen im Internet zu nutzen, um im Umgang mit digitalen Medien erfolgreich wirken zu können? Wir betrachten das als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass gerade im Bereich Medienkompetenz ein Großteil der Initiativen auf Länder- und Bundesebene immer sehr stark auf Jugendliche und junge Menschen fokussiert war. Wir sagen: Das ist eine Chance für die gesamte Gesellschaft. Auch die älteren Generationen müssen mitgenommen werden. Auch dort ist der Ruf nach Teilhabe lauter geworden. ({1}) Für uns ist wichtig, dass wir dann, wenn wir über die Auswirkungen der digitalen Medien und die Chancen des Internets sprechen, eine differenzierte Sichtweise in den Vordergrund stellen. Wir haben in der öffentlichen Debatte in den letzten Jahren oft eine Tendenz zur Glorifizierung oder Dämonisierung erlebt. Sie erinnern sich an die Umbrüche im Rahmen des arabischen Frühlings: Da sprach man von der „Facebook-Revolution“ und vom „Twitter-Umsturz“. Es ist und bleibt menschliches, individuelles Handeln. Es wird nicht gelingen, nur mit Kommunikationsmedien ganze Regime und Systeme zu stürzen und einen Wandel herbeizuführen. Ausgangspunkt und Fixpunkt bleibt das menschliche Handeln. Das menschliche Handeln bedingt den Mut, zu opponieren, den Mut, sich gegen ein Regime zu stellen. Facebook und Twitter können hier hilfreich sein, aber es sind und bleiben Instrumente. Die Grundlage und der Ausgangspunkt ist das individuelle Handeln. ({2}) In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die andere Seite eingehen, die Dämonisierung des Netzes. Viele sagen: Das Internet ist ein Hort des Verbrechens, in dem illegale Handlungen möglich sind, etwa illegale Downloads und Urheberrechtsverletzungen. Auch das darf und kann man nicht dem Internet anlasten. Auch das ist und bleibt menschliches Handeln. Das sind Konsequenzen aus menschlichem Handeln. Wenn illegale Downloads stattfinden, dann geschieht dies, weil sich einzelne Menschen dazu entscheiden. Bitte lassen Sie uns mit dieser pauschalen Glorifizierung und Dämonisierung aufhören. Lassen Sie uns lieber Sorge tragen dafür: Wie können wir den einzelnen Menschen die Möglichkeiten und die Qualifizierung mitgeben, mit diesen neuen Chancen und mit diesen neuen Freiheiten richtig umzugehen? ({3}) Medienkompetenz ist und bleibt dabei die Grundlage. Wir haben vonseiten der Enquete-Kommission eine ganze Reihe von Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass auf Ebene der Länder eine Vielzahl von lobenswerten KamSebastian Blumenthal pagnen und Aufklärungsinitiativen gemeinsam mit Schülern, Eltern, Lehrern und auch schon mit älteren Menschen stattgefunden hat. Angesichts der knappen Haushaltslage in den Ländern möchten wir anregen, dass die Erkenntnisse aus diesen ersten Aufklärungskampagnen zwischen den Ländern und dem Bund besser vernetzt werden. Wir haben entsprechende Vorschläge in die Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Medienkompetenz eingebracht. Ein Punkt, der in der Projektgruppe Medienkompetenz sehr stark umstritten war und kontrovers diskutiert wurde, war der Jugendschutz. Sie haben sicherlich noch in Erinnerung, dass der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vor knapp zwei Jahren auf Länderebene grandios gescheitert ist. Es zeigt sich hier, dass der Grundsatz der Frequenzregulierung, der auf Landesebene immer noch das Steuerungsinstrument für die Staatsverträge im Medienbereich ist, nicht mehr in das Zeitalter der digitalen Medien passt. Wir haben in der Projektgruppe Medienkompetenz darauf hingewiesen und gesagt: In der Abwägung zwischen staatlichem Jugendschutz durch Staatsverträge und der Förderung und Stärkung des Einzelnen muss es eine ausgewogene Balance geben. Die Projektgruppe Medienkompetenz hat ihre Arbeit abgeschlossen. Die Diskussionen werden weitergehen, und auch die Gestaltungsaufgabe für uns im Parlament wird weiterbestehen. Die FDP-Fraktion war und ist von Anfang an ein starker Partner in diesem Diskurs. Wir werden damit weitermachen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal den Kollegen aus der Projektgruppe, den Mitarbeitern des Sekretariats, die es nicht immer leicht mit uns hatten, und natürlich auch unseren Sachverständigen und dem 18. Sachverständigen aus den Reihen der Öffentlichkeit zu danken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Wawzyniak das Wort. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Anfang stand ein großes Versprechen. Wir wollten die gesellschaftlichen Veränderungen durch das Internet untersuchen. Wir wollten neue Wege der Bürgerbeteiligung gehen. Wir wollten die Öffentlichkeit in besonderem Maße einbeziehen, verschiedene Beteiligungsformen entwickeln und Anregungen der Öffentlichkeit in unsere Arbeit einfließen lassen. ({0}) Was für eine Chance, habe ich gedacht. Ich hatte die Hoffnung, dass wir Netzpolitik jenseits der herkömmlichen parlamentarischen Zwänge diskutieren können, dass der Fokus der öffentlichen Debatte etwas mehr auf die klassische Netzpolitik und die gesellschaftlichen Veränderungen durch das Internet verlagert wird, dass eine Lust auf Einmischen in die Politik entsteht und dass Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität so diskutiert werden, dass es alle verstehen und nicht nur ein paar Experten. ({1}) Ich hatte die Hoffnung, dass wir den Alltag der Menschen aufnehmen und die gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Lebens-, Produktions-, Arbeits- und Kommunikationsweise debattieren. Ich nenne ein paar Beispiele. Wir buchen unsere Reisen online. Stellenangebote finden wir online. Bankgeschäfte werden online erledigt. Blogs und soziale Netzwerke sorgen für eine neue Kommunikation. Was bedeutet das für die Politik? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Ich habe gedacht, in einer Enquete-Kommission könnten wir jenseits von Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen arbeiten. Das ist Parlamentarismus, der Spaß macht, wo das Argument zählt und nicht die Fraktionszugehörigkeit. ({2}) Die Politik ist aber wie das Leben, und Hoffnungen erweisen sich mitunter als Illusion. Das liegt nicht nur an den Mühen der Ebene und an vermeintlich unabänderlichen Gegebenheiten, sondern auch an fehlenden Visionen, mangelndem Mut und parteipolitischem Kalkül. Böse Zungen behaupten, dass die Ergebnisse der Enquete mager und enttäuschend sind. Ich muss sagen: An vielen Stellen haben wir eher in Legislaturperioden gedacht und kurzfristige Handlungsempfehlungen aufgeschrieben, statt nach vorne zu schauen und weiter zu denken als bis zum Jahr 2013. Trotzdem gibt es einen sehr großen Erfolg für die Enquete. Es gibt eine Sensibilisierung der Politik und aller Parteien für Netzpolitik und die gesellschaftlichen Veränderungen, die das Internet mit sich bringt. Mittlerweile ist allen klar: Eine Gesellschaftspolitik, die der Zukunft zugewandt ist, kommt nicht mehr ohne Netzpolitik aus. ({3}) Alle Parteien wissen, dass sie ihre Konzepte auf den anderen sogenannten Politikgebieten nur entwickeln können, wenn sie die Veränderungen, die das Internet mit sich bringt, bedenken. Debatten über Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität werden mittlerweile in allen Parteien so geführt, dass nicht nur wenige Experten darüber diskutieren. Insofern danke ich der Enquete. Sie hat dazu beigetragen, dass die Linke einen wunderbaren Abschnitt in ihrem Parteiprogramm zur Netzpolitik formulieren konnte. Allein hätten wir das vielleicht nicht ganz geschafft. Vielen Dank! ({4}) Ich glaube, wir haben in der Enquete ein wenig die Chance verpasst, die Unterschiede produktiv zu nutzen. Manchmal ist zugespitzter Widerspruch besser als ein Kompromiss um jeden Preis oder der Versuch, die eigene Position durchzudrücken; denn Letzteres führt zu einer Blockadehaltung und vergibt die Chance, den Sachverstand der Sachverständigen einzubeziehen. Wir haben uns zu häufig in Formalien und Klein-Klein verfangen. Ich mache das kurz an drei Beispielen deutlich. Wir haben uns nicht von Anfang an dazu entscheiden können, die Projektgruppen öffentlich tagen zu lassen. Entschuldigung, aber das schließt externen Sachverstand aus. Wir haben es zunächst nicht geschafft, die Werkzeuge der Beteiligung, zum Beispiel ein Internettool zur Beteiligung, zu implementieren, weil die Koalitionsmehrheit das verhindert hat, und das, obwohl es ein wunderbares Konzept der Sachverständigen gab. Dass wir nun das Werkzeug haben, ist einer privaten Initiative zu verdanken. Wir haben zudem die Abstimmung zu Netzneutralität und Datenschutz immer wieder verschoben, weil die Gefahr bestand, dass Mehrheiten wanken. Was mich richtig nervt, ist die Tatsache, dass wir in der Enquete noch immer dem Verfahren Opposition versus Regierung verhaftet sind. Die Sachverständigen werden immer als Sachverständige der entsprechenden Fraktion bezeichnet. Nein, es sind Sachverständige der gesamten Enquete und nicht der einzelnen Fraktionen. Wir tun immer so, als würden wir in der Enquete Gesetze beschließen. Tatsächlich beschließen wir Handlungsempfehlungen. Der Bundestag ist frei, diese Handlungsempfehlungen aufzunehmen. Da kann man doch ein bisschen mehr Mut haben. ({5}) Ich will dennoch ein bisschen positiv in die Zukunft schauen. Wir haben jetzt noch mindestens ein halbes Jahr. Ich finde, wir sollten dieses halbe Jahr für einen Paradigmenwechsel in wichtigen Punkten nutzen. Befreien wir uns aus den strengen parlamentarischen Zwängen! Machen wir entsprechende thematische Vorschläge, und geben wir Handlungsempfehlungen, die über den Tag hinausgehen! Wir sollten den Mut haben, unterschiedliche Positionen nebeneinanderstehen zu lassen. Wenn wir die Chancen der Enquete nutzen wollen, sollten wir uns auf ein Verfahren verständigen, das Neugier, Interesse und Lust auf Einmischung weckt, neue Wege der politischen Teilhabe beschreiten und neue Diskussionskulturen etablieren. Wir als Enquete sollten Vorbild sein für eine moderne, transparente und beteiligungsorientierte Politik. Die Linke macht das auf jeden Fall mit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Konstantin von Notz.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Wawzyniak, angesichts dessen, was du dir alles von der Enquete versprochen hast, muss ich sagen: Das ist ein bisschen naiv. ({0}) Auch in einer Enquete wird Politik betrieben und gibt es die Mühen der Ebene. Damit müssen wir uns nun einmal auseinandersetzen. Ich möchte jetzt nicht nur das Kritische, sondern auch das Positive der Enquete benennen. ({1}) Wir haben uns am Anfang aus gutem Grund darauf verständigt, dass Bürgernähe und Partizipation für diese Enquete nicht nur theoretische Themen sein dürfen, die wir mit Expertinnen und Experten besprechen und zu denen wir am Ende etwas mehr oder weniger Schlaues aufschreiben. Vielmehr haben wir gesagt: Eine neue Form der Bürgerbeteiligung muss bereits Arbeitsgrundlage der Enquete selbst sein. Das ist angesichts einer Entwicklung unserer Demokratie, bei der sich immer weniger Menschen richtig eingebunden und verstanden fühlen, genau der richtige Schritt. ({2}) Die grundsätzliche Bearbeitung eines so breiten und dynamischen Politikbereichs wie der Netzpolitik ist eben ein Prozess. Niemand hat fertige Antworten, weder hier im Haus noch außerhalb dieses Hauses. Natürlich ist es nicht so, dass der Deutsche Bundestag eine Enquete einsetzt und dass wir dann nach zwei Jahren mit dem Thema durch sind. Deswegen sollten wir allzu kleinliche Aufrechnungen und Vorhaltungen vermeiden und das Licht dieses Gremiums nicht zu sehr unter den Scheffel stellen; ({3}) denn es gibt viel Positives zu bilanzieren. Kaum ein anderes Parlament in der Welt beschäftigt sich derzeit so intensiv und systematisch mit diesen für uns, für die moderne Wissens- und Informationsgesellschaft so grundlegenden Fragen. ({4}) Wir haben mit der Enquete die Einbindung externen Sachverstands in unsere Arbeit institutionalisiert, und zwar von der Wissenschaft und den Datenschützern über den CCC und die Bloggern bis zum BITKOM und der Verbraucherzentrale. Hinzu kommen viele kluge Menschen, die uns in Anhörungen beraten. Durch diesen Input, aber auch dank unserer sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - das muss man bei der Arbeit, die da angefallen ist, wirklich einmal sagen - sowie des Sekretariats der Enquete, aber auch dank des Engagements des Teams von Adhocracy wird der Output, den diese Enquete erzeugt, für unsere zukünftige Arbeit, so glaube ich, sehr wertvoll sein. Die bislang vorliegenden Zwischenberichte samt Handlungsempfehlungen sind nicht nur eine grundlegende Positionsbestimmung, sondern sie werden als Kompass die netzpolitische Debatte der nächsten Jahre in diesem Haus maßgeblich begleiten. Ich freue mich besonders, dass wir unserem Anspruch, den fundamentalen Umbrüchen mit entsprechend progressiven Ansätzen zu begegnen, ganz überwiegend gerecht werden, sowohl beim Datenschutz als auch bei der Netzneutralität, bei Fragen der Medienkompetenz und beim Urheberrecht. Wer hätte am Anfang der Arbeit dieser Enquete-Kommission gedacht, dass sich der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend einsetzt gegen Netzsperren, für mehr Open Data, für verbessertes E-Government, für mehr Open-Source-Lösungen, für mehr Creative-Commons-Modelle, für die Privatkopierregelung bei Downloads, für die Netzneutralität und für eine grundlegende Weiterentwicklung des bestehenden Urheberrechts? Das haben wir alle gemeinsam zu Papier gebracht. Das alles sind harte Weichenstellungen, und sie alle gehen in die richtige Richtung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kann man sehr zufrieden sein. Neben diesen inhaltlichen Einsichten gibt es auch Positives bei der Form, wie gearbeitet wird. Da ist nicht nur Adhocracy, die wir weiterzuentwickeln versuchen. Heute werden alle Sitzungen der Enquete und auch die Sitzungen einer Reihe von Projektgruppen gestreamt. Zudem finden alle Anhörungen öffentlich und mit Beteiligungsmöglichkeiten statt. Das alles ist nicht perfekt, aber, ich finde, es ist ein Anfang, und wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bin unter dem Strich zuversichtlich, dass diese Enquete trotz der überhöhten Erwartungen und des brutalen Zeitdrucks, der sich entwickelt hat, letztlich ihren Auftrag erfüllen wird. Ich erwarte aber auch, dass dann die Bundesregierung beginnt, gemeinsame Handlungsempfehlungen umzusetzen ({5}) - genau, Herr Jarzombek - und in der Tagespolitik nicht, wie zuletzt beim Telekommunikationsgesetz, genau in die andere Richtung zu rudern. Das ist ein hoch widersprüchliches Verhalten. Am Ende reichen die warmen Worte, die Sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, und die Einsetzung der Enquete selbst nicht aus. Der Gesetzgeber muss tätig werden: bei der Netzneutralität, beim Datenschutz in der digitalen Welt, bei der Reform des Urheberrechts und in vielen anderen Bereichen. Da können Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich nicht hinter dieser Enquete wegducken. Ganz herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Vorsitzende der EnqueteKommission, Axel Fischer. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor 13 Jahren die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft“ dem Deutschen Bundestag ihren Schlussbericht vorlegte, fand sich dort ein bemerkenswerter Satz. Er lautete: „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben!“ Vor 13 Jahren hatten 6,6 Millionen Menschen in Deutschland Zugang zum Internet. Heute sind es 52 Millionen, drei Viertel der Bevölkerung. Wenn man sich anschaut, wie Menschen in Deutschland heute Informationen einholen, wie sie in Kontakt mit Freunden bleiben oder wie sie ihre Arbeit organisieren, dann stellt man fest: Das hat sich in den letzten 13 Jahren tatsächlich sehr verändert. Diese Entwicklung ist noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat im Mai 2010 ihre Arbeit aufgenommen. Bereits bei der ersten Sitzung wurde deutlich, dass die 34 Mitglieder dieser Enquete unser Thema aus vielen unterschiedlichen Perspektiven behandeln werden. Wenn Unternehmer, Blogger, Journalisten, Künstler, Juristen, Wissenschaftler, Gewerkschafter, Programmierer, Verwaltungsfachleute und Abgeordnete zusammenarbeiten, kann es dabei nur kontrovers und spannend zugehen. Diese Erwartung hat sich erfüllt. Bisher lässt sich feststellen, dass sich der Satz „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben“ auch heute ohne Mühe für den Bericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ verwenden ließe; denn die Entwicklung geht weiter. Sie nimmt sogar an Dynamik zu. Was sich in den letzten 13 Jahren nicht sehr verändert hatte, waren die politische Wahrnehmung des Themas Internet und die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland konnte sich das Thema Internet mit dem Etikett „klein, aber fein“ schmücken. Mit Ausnahme der USA, wo das Netz seit dem Wahlkampf von Barack Obama 2008 einen eigenen politischen Raum erobert hat, fristete das Thema Internet in der Politik ein Schattendasein. Erst in jüngster Zeit ist das Thema mehr ins Zentrum der politischen und medialen Öffentlichkeit gerückt. Dabei wird deutlich, dass das Internet mehr als nur ein weiteres technisches Medium ist, das einige mehr und andere weniger versiert nutzen können. Das Netz ist für viele Menschen ein neuer kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Raum, in dem sie viele Freiräume haben. In diesem neuen sozialen Raum müssen die Grenzen der Freiheit des Einzelnen neu verhandelt wer18324 Axel E. Fischer ({0}) den. Lange Zeit waren die durchaus vorhandenen politischen Debatten rund um die Digitalisierung von vielen Politikern nicht wahrgenommen worden. Das ändert sich nun zusehends. In aller Bescheidenheit glaube ich, dass dies auch ein wenig mit der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zusammenhängt. Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die heute ihren Zwischenbericht vorlegt, ist derzeit das einzige parlamentarische Gremium der Welt, das sich derart umfassend, tiefgreifend und dabei themenübergreifend mit den Herausforderungen der Digitalisierung für unsere Gesellschaft beschäftigt, und darauf, denke ich, sollten wir alle stolz sein. ({1}) Wir haben damit begonnen, uns die Fragen zu stellen, die die Digitalisierung der Gesellschaft mit sich bringt: Wie wollen wir die neuen digitalen Räume gestalten? Warum gibt es kein deutsches Silicon Valley? Wie gehen wir mit dem Problem der digitalen Spaltung um, also mit der Tatsache, dass längst nicht alle Menschen Zugang zum Netz haben und es nutzen können? Und nicht zuletzt: Wie und wo setzen wir Grenzen, beispielsweise bei der Frage nach einem besseren Schutz vor Kriminalität, aber auch bei den Schutzbedürfnissen von Urhebern und Verbrauchern? Ich muss gestehen, zu Beginn unserer Arbeit überrascht darüber gewesen zu sein, wie kontrovers die Diskussionen verliefen und wie weit die Positionen teilweise auseinanderlagen. Das lag sicherlich zum Teil daran, dass wir uns die großen Themen, die kontrovers diskutiert wurden, zuerst vorgenommen haben: Netzneutralität, Datenschutz und Urheberrecht. Es lag aber meiner Meinung nach auch daran, dass diese Diskussionen in dieser Breite so bisher überhaupt nicht geführt worden waren. Bislang waren die Gruppen und Gleichgesinnten unter sich geblieben, Gegenrede war kaum zu befürchten. Der politische Mainstream hatte das Thema bisher nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. Aufgrund der Arbeit der Enquete-Kommission sind die Positionen jetzt klarer, mit mehr Argumenten unterfüttert und durchdachter. Die Kommission hat sich in einer sehr zeitgemäßen Weise geöffnet und dabei neue Wege der Bürgerbeteiligung beschritten. Die Kommissionssitzungen sind zumeist live oder zumindest zeitversetzt online zu verfolgen. Eine eigens eingestellte OnlineRedakteurin schreibt Artikel über alle Projektgruppensitzungen. In einem Blog und einem Forum werden Meinungen ausgetauscht, auf Twitter wird berichtet. Seit Februar letzten Jahres ist es zudem möglich, auf einer Beteiligungsplattform die Arbeitspapiere der Kommission in einem frühen Stadium zu kommentieren und eigene Vorschläge zu machen, und schon heute kann ich feststellen: Die Beteiligung der Bürger hat unsere Arbeit sehr bereichert. Die Zahl der Bürger, die das Angebot genutzt haben, blieb zwar unter unseren Erwartungen, die Qualität der Beiträge übertraf sie jedoch bei weitem. Wir haben bei diesem bisher einmaligen Experiment in der Geschichte des Deutschen Bundestages wertvolle Erfahrungen sammeln können, und darauf können wir aufbauen. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in dieser Woche haben die Betreiber der Internetplattform Wikipedia ihr englisches Informationsangebot für einen Tag aus dem Netz genommen. All diejenigen, die darauf zugreifen wollten, konnten das nicht. Als Grund dafür wurde angegeben, dass die verantwortlichen Betreiber zwei Gesetzesinitiativen in den USA missbilligen und deren Verabschiedung verhindern wollen. Dieser Vorgang zeigt mir, wie wichtig es ist, in unserer vernetzten Welt zu Spielregeln zu kommen, die verlässlich eingehalten werden. Denn wer sich auf das Netz verlassen soll, der darf nicht verlassen sein. ({3}) Ist es legitim, wenn vergleichsweise wenige mit ihrem Einfluss im Netz viele beeinträchtigen können? Wie gehen wir mit neu entstehenden Abhängigkeiten um? Wie demokratisch soll bzw. kann die digitale Gesellschaft funktionieren? Es werden viele Fragen der Ethik, der Legitimität, der politischen Beteiligung, des Gesetzesvollzugs und vieles andere mehr aufgeworfen, die verbindlich zu klären sind. Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf eine weiterhin intensive Diskussion innerhalb der Enquete-Kommission; denn, meine Damen und Herren, auf diese Fragen müssen wir Antworten geben. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Aydan Özoğuz ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeit der Projektgruppe Medienkompetenz, von der ich berichten darf, hat bisher vielleicht am besten aufgezeigt, für was eine Enquete-Kommission eigentlich gut ist: für eine konstruktive gemeinsame Arbeit mit großer Bereitschaft, dazuzulernen und sich auch auf verschiedene Ergebnisse zu verständigen. Das kann man ja leider nicht für die gesamte Arbeit der Enquete-Kommission sagen, wie wir schon gehört haben. Der Zwischenbericht zum Thema Medienkompetenz kann sich jedenfalls aus meiner Sicht wirklich sehen lassen. Dazu haben vor allem die Sachverständigen beigetragen, von denen ich zwei namentlich erwähnen möchte, die nachweislich einen sehr großen Anteil an diesem Bericht haben. Das ist zum einen Professor Wolfgang Schulz vom Hans-Bredow-Institut, zum anderen ist das Professor Ring, ehemals KJM-Vorsitzender. Beide verdienen wirklich Dank und Anerkennung. Ich glaube, Herr Jarzombek, da werden Sie mir auch zustimmen. ({0}) - Sie auch, das ist schön. - Wer glaubt, dass es bei den Diskussionen keine Bandbreite gab, dem möchte ich nur mitteilen, dass neben besagtem Professor Ring auch Alvar Freude Mitglied in dieser Projektgruppe war. Damit ist wohl klar, dass wir durchaus eine ganze Reihe von unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen mussten. Ich vermute einmal, dass jeder hier im Raum schon einmal die Forderung nach mehr Medienkompetenz erhoben hat oder zumindest davon gehört hat. Der Begriff löst ja seit einiger Zeit sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen können ihn kaum noch hören, weil sie sich seit Jahrzehnten damit beschäftigen. Die anderen wiederum finden, dass es noch viel zu tun gebe, besonders in Bildungseinrichtungen, aber auch in Elternhäusern, und dass wir erst am Anfang des Weges stünden. Ich finde, dass beide Seiten recht haben und dass es nicht nur eine Frage der Zeit ist, bis sich hierfür eine Lösung abzeichnet. Auch neue Generationen wachsen ja nicht geschlossen mit den gleichen Möglichkeiten, der gleichen Ausstattung oder der gleichen Förderung auf, was gerade in der digitalen Welt zu großen Nachteilen führen kann. Unbestritten ist, dass der Begriff „Medienkompetenz“ in den letzten Jahren sehr inflationär gebraucht wurde. Medienkompetenz gilt vielen auch als das Allheilmittel für diverse Probleme und Phänomene im Internet. So wird ganz verzweifelt nach Medienkompetenz gerufen, wenn zum Beispiel Seniorinnen oder Senioren in Abofallen tappen, wenn Schülerinnen und Schüler zu Mobbingopfern im Internet werden und ihre Eltern, sofern sie es überhaupt erfahren, hilflos danebenstehen oder wenn Eltern für die illegalen Downloads ihrer Sprösslinge zahlen müssen. Mitunter wundere ich mich auch über die Freizügigkeit, mit der Bilder und private Daten im Netz veröffentlicht werden. Ein Gespräch mit älteren Jugendlichen zeigt häufig, dass diese den jüngeren Jugendlichen eher davon abraten, allzu viel Freizügigkeit im Netz walten zu lassen. Ich zitiere zur Rolle der Nutzerinnen und Nutzer in einer digitalen Öffentlichkeit aus unserem Bericht: Als Ziel hat die Enquete-Kommission daher die aufgeklärten Nutzerinnen und Nutzer im Blick, die sich beispielsweise durch kreatives Schaffen der Medien bedienen und dabei verantwortungsvoll mit eigenen persönlichen Daten und respektvoll mit den Daten anderer Nutzer in den Medien umgehen. Die Enquete-Kommission betrachtet die Nutzer interaktiver Medien ausdrücklich mehrdimensional: als Sender und Empfänger, als Konsumenten und Produzenten, als Wissende und Lernende. Medienkompetenz ist somit nicht nur der Schlüssel zur Teilhabe an der digitalen Gesellschaft. Fehlende Medienkompetenz hat vielmehr ganz konkrete Auswirkungen auf die Offlinewelt. Medienkompetenz hat erhebliche Auswirkungen auf gesellschaftliche Teilhabe, Bildung und sozialen Aufstieg. Mittlerweile ist sie unverzichtbar geworden. Das gilt vor allem für die Bereiche Schule, Ausbildung und Beruf. In der Enquete-Kommission haben wir hierfür den Begriff „digitale Selbstständigkeit“ geprägt. Damit ist gemeint, dass jede Bürgerin und jeder Bürger in der Lage sein soll, alle Möglichkeiten der digitalen Gesellschaft selbstständig zu nutzen und sich gleichzeitig aber auch vor den damit verbundenen Risiken möglichst gut schützen zu können. Das ist unser Ziel. Wir haben einige Handlungsempfehlungen formuliert. Ich möchte nur ganz wenige herausgreifen. Herr Blumenthal hatte die erste bereits erwähnt. Es gibt viele wirklich tolle Initiativen und Projekte. Natürlich ist es Aufgabe von Bund und Ländern, diese Initiativen und Projekte zu bündeln, besser aufeinander abzustimmen und miteinander zu vernetzen. Darin waren wir uns völlig einig. Bund und Länder müssen die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen - die möchte ich noch hinzufügen - an die Medienwirklichkeit anpassen. Medienkompetenz muss ein wichtiger Baustein in der Aus- und Weiterbildung werden. An die Länder wiederum richtet sich der Appell, medienpädagogische Inhalte stärker und verpflichtend in den Lehrplänen aller Schularten zu verankern. Wir wissen, dass neue Medien nicht an Staatsgrenzen haltmachen und schon gar nicht an den Grenzen von Bundesländern. Spätestens die Schule muss der Ort sein, an dem Kinder mit neuen Medien in Berührung kommen. Deswegen empfiehlt die Kommission die Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I mit einem mobilen Endgerät. An dieser Stelle ist es mir besonders wichtig, hervorzuheben, dass diese Forderung nur im Gleichklang mit neuen digitalen Bildungskonzepten einhergehen kann. Die SPD-Fraktion hat hierzu ein Sondervotum eingebracht: Wir sagen, der weitere Ausbau der Hardwareausstattung oder die Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten sind nur dann sinnvoll, wenn Lehrerinnen und Lehrer damit kompetent und souverän umgehen können und wenn Bildungskonzepte dafür vorliegen, wie Computer sinnvoll in den Unterricht zu integrieren sind. Eine bloße Ausstattung um der Ausstattung willen halten wir nicht für zielführend. Natürlich ist eine solche Ausstattung auch nicht kostenlos zu bekommen. Hier müssen wir alle konstruktiv zusammenarbeiten und nach Lösungen suchen, damit jede Schülerin und jeder Schüler unabhängig von der Herkunft einen gleichwertigen mobilen Computer bekommt. Ebenso möchte ich die Eltern in den Blick nehmen. Es bedarf eines Bewusstseins der Eltern für ihre medienpädagogische Verantwortung. Dazu brauchen wir ein niedrigschwelliges Beratungsangebot für Eltern. Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz Zuletzt möchte ich erwähnen, dass die Enquete-Kommission die Forderung erhoben hat, die Forschung im Bereich Medienkompetenz zielgerichtet voranzutreiben, da es dort noch große Lücken gibt. Hier möchte ich meine Verwunderung über die Koalition zum Ausdruck bringen: ({1}) Die SPD-Fraktion hat bei den Beratungen zum Bundeshaushalt 2012 den Antrag gestellt, ein neues längerfristig angelegtes Programm zur Medienkompetenzforschung zu initiieren. Der Antrag wurde von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, einfach abgelehnt. Herr Blumenthal sprach eben von einem Gestaltungsauftrag. Im ersten Moment, in dem die Gelegenheit dazu gewesen wäre, haben Sie leider schon gleich wieder Nein gesagt. Das bedauern wir sehr. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz für die FDPFraktion. ({0})

Jimmy Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004148, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Natürlich begrüße ich auch die Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Zuschauerrängen und zu Hause ganz herzlich. ({0}) - Ja, genau. Der Abschluss der ersten Projektgruppenstaffel ist ein guter Anlass, auf die Arbeit der Internet-Enquete bis heute zurückzublicken. Nachdem das Thema Netzpolitik bislang sträflich vernachlässigt wurde, ist es nun durch die Enquete ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt worden. ({1}) Wir haben Politik, Wissenschaft, Netzgemeinde und Internetwirtschaft auf Augenhöhe an einen Tisch gebracht nicht nur kurzfristig, sondern über einen mehrjährigen Zeitraum, der Platz lässt für tiefgreifende Diskussionen. Die Aufteilung der Arbeit in thematische Projektgruppen hat es uns ermöglicht, unsere Themen von allen Seiten zu beleuchten. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wir haben intensiv und konstruktiv diskutiert, wie schon mehrfach hier hervorgehoben wurde. Wir haben uns sogar gestritten. Aber vor allem haben wir viel voneinander gelernt. Die Ergebnisse der Projektgruppen für Medienkompetenz, Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität sind bereits angesprochen worden. Lassen Sie auch mich einige Worte zur Projektgruppe Netzneutralität sagen. Ich glaube, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Projektgruppe Netzneutralität einen großen Anteil daran hatte, mit welchem Enthusiasmus, mit welchem öffentlichen Widerhall ein vermeintliches Orchideenthema wie Netzneutralität im letzten Jahr diskutiert wurde. Dies geschah nicht nur in den Blogs und in den IT-Magazinen, also in den üblichen Verdächtigen, sondern auch in der Mainstream-Presse. Nach ausführlichen und zu großen Teilen konstruktiven Diskussionen, nach Anhörung der Fachleute und Experten waren wir uns in der Analyse und sogar im Ziel einig. Der einzige Unterschied bestand am Ende darin, wie wir dieses Ziel eines diskriminierungsfreien, neutralen Netzes sichern. Die Frage war, ob es einer sofortigen gesetzlichen Regelung bedarf oder eben nicht. Gerade diejenigen, die immer zu Recht vor einer zu großen Einmischung des Staates warnen, sehen hier auf einmal einen akuten staatlichen Regulierungsbedarf. Das Internetprotokoll wurde doch einst so entwickelt, dass es selbst einen Atomkrieg überstehen kann. Es hat in der Vergangenheit auch eine ganze Reihe von Innenministern überstanden. ({2}) Wir brauchen keine Vorratsgesetzgebung. ({3}) Aber angesichts der breiten Debatte können wir feststellen, dass die Zeit, in der man beklagen musste, dass Netzthemen in der Politik nicht gehört werden, endgültig vorbei ist. Wir dürfen eines nicht vergessen: Aufgabe der Enquete ist es, Leitlinien für die Netzpolitik der Zukunft zu entwickeln. Allzu oft haben wir uns in den letzten Monaten aber in Diskussionen über Kommata und Fußnoten verloren. Wir haben uns sehr auf Details bestehender Gesetze und Regeln konzentriert, sodass wir zu oft den Blick für das Große und Ganze verloren haben. Das bringt uns nicht weiter. Wir müssen in den kommenden Projektgruppen darauf achten, uns nicht in der Tagespolitik zu verlieren, sondern uns den Sinn für Visionen zu erhalten. Bei der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger haben wir neue Maßstäbe in der parlamentarischen Arbeit gesetzt. Die auch unter www.demokratie.de zu erreichende Beteiligungsplattform Adhocracy ermöglicht es jedem, Vorschläge zu machen, über Ideen zu diskutieren oder sogar darüber abzustimmen. Natürlich wünsche auch ich mir eine breitere Beteiligung. Aber die Diskussion ist anregend, und der Anfang ist gemacht für, wie Aydan ÖzoðuzAydan Özoğuz ich hoffe, ein neues Miteinander zwischen Politik und Gesellschaft. Doch was bleibt am Ende? Was kommt nach der Enquete? Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das Thema Internet und Digitalisierung in Zukunft behandeln wollen. Wir müssen einen Weg finden, die Diskussion über das Internet positiv zu besetzen. Die Debatte wird leider viel zu oft verengt geführt und befasst sich nur mit dem Bahnhofsviertel des Internets. Ich will die Chancen, die das Netz uns bietet, beleuchten und zum Zentrum der Diskussion machen. Wir können vom Internet und von der Digitalisierung so stark profitieren. Es ist unangebracht, dass wir den Blickwinkel zu sehr auf die negativen Seiten einschränken. Die Enquete funktioniert, weil sie unterschiedliche Fachrichtungen zusammenbringt: Innen- und Rechtspolitik, Wirtschaft, Kultur und Medien, Bildung und Forschung und sogar Familienpolitik. Digitalisierung berührt uns alle und in allen Lebensbereichen. Sie muss deshalb auch politisch fachübergreifend behandelt werden. Ich spreche mich deshalb hier und heute dafür aus, der Netzpolitik den Raum zu geben, den sie braucht: einen eigenen Ausschuss und damit einen dauerhaften Platz im deutschen Parlament. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Projektgruppe Medienkompetenz haben wir es, anders als beispielsweise in der Gruppe Urheberrecht, tatsächlich über weite Teile geschafft, mit den Sachverständigen wirklich inhaltsorientiert und konsensual zu arbeiten. So sehe ich es zum Beispiel als großen Fortschritt an - es wurde schon erwähnt -, dass wir Jugendmedienschutz nunmehr von einem neuen Ausgangspunkt denken: weg vom vormundschaftlichen Verbotsdenken gegenüber Jugendlichen hin zu mehr Vertrauen auf die Fähigkeiten von Jugendlichen, Medien sinnvoll und selbstbewusst nutzen zu können. ({0}) Praktisch heißt das dann auch, Altersfreigaben von Filmen oder Spielen für Jugendliche im Netz infrage zu stellen und daraus keine Glaubenskämpfe zu machen. - Herr Brüderle, wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir nicht Ihren Rücken zuwenden? - Jetzt geht er sogar. Schade, gerade bei dieser Debatte. ({1}) Bei altersgerechter und interaktiver Medienbildung wird zumeist zuerst an Kinder und Jugendliche gedacht. Nachholbedarf - das haben die Diskussionen in der Mediengruppe gezeigt - haben vor allem ältere Generationen. Gerade Erwachsene müssen sich permanent im Umgang mit digitalen Medien fortbilden. Wie die CDU, insbesondere Herr Altmaier, dokumentiert, können dazu sehr schöne Erlebnisse erzählt werden. Herr Altmaier hat es wunderbar zelebriert, wie man sich das Netz bei der politischen Arbeit erobern kann. Ältere können also durchaus ihre Scheu vor immer neuen Geräten überwinden und sie interaktiv nutzen. ({2}) Allerdings gibt es viel zu wenig Forschung zur Medienbildung Erwachsener. Als Forschungspolitikerin begrüße ich daher ausdrücklich, dass die Internet-Enquete eine Stärkung der Wissenschaft in diesem Bereich einfordert. Wir waren uns auch noch relativ einig, dass Medienbildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden muss, sie aber in Deutschland einen noch viel zu geringen Stellenwert einnimmt. In der sogenannten Bildungsrepublik sind wir meilenweit davon entfernt, Medienbildung strukturiert und dauerhaft in unseren Bildungseinrichtungen anzubieten. Doch wie fast immer, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, hörte dann die fraktionsübergreifende Einigkeit auf. Was meine ich damit? Umfassende Medienbildung kann nur funktionieren, wenn auch alle einen Medienzugang haben. Digitale Medien dürfen kein exklusives Spielzeug gut situierter Schichten bleiben. Deshalb muss auch für sozial Schlechtergestellte die Anschaffung und der Besitz von internetfähigen Endgeräten möglich werden. ({3}) Ich sage es noch einmal, auch wenn es die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, SPD und FDP nicht so gerne hören und mir nicht zugestimmt haben: Ein paar Euro mehr beim Hartz-IV-Satz für den Internetanschluss nutzen nichts, wenn sich die Leute am Ende nicht einmal einen Computer leisten können. ({4}) Fazit: Internetfähige Hardware muss künftig zum Existenzminimum in unserer Gesellschaft gehören. ({5}) Einig waren wir uns allerdings bei der Frage eines Notebooks für jede Schülerin und jeden Schüler. Wenn wir es unabhängig vom Geldbeutel der Eltern schaffen, diese Notebooks jeweils in den Schulranzen zu bekommen, wäre es eine richtig gute Sache. In vielen Ländern ist das längst der Fall. Wie visionär ein solches Projekt ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass die KMK das letzte Mal vor vier Jahren eine Erhebung zur IT-Ausstattung deutscher Schulen durchgeführt hat. Natürlich dürfen Schülernotebooks nicht auf geschlossene Betriebssysteme oder auf bestimmte Programme eingeschränkt werden. Natürlich müssen Lerninhalte offen und flexibel gestaltet werden. Natürlich brauchen wir digitale Schulbücher. Warum sollen Kinder und Jugendliche kiloweise Papier durch die Gegend schleppen, wenn wir Lernmaterial digital anbieten können, ({6}) Lernmaterial übrigens, das Lehrerinnen und Lehrer in der Unterrichtsvorbereitung kollaborativ, also gemeinsam erstellen und jederzeit aktualisieren können? Das wäre natürlich aber auch nur möglich, wenn wir es endlich schaffen, das Urheberrecht an diesem Punkt anzupassen. Wir warten bis heute auf den Dritten Korb der Urheberrechtsnovelle. Deshalb muss Schluss sein mit der Verzögerung der Urheberrechtsnovelle. Die Änderungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich müssen endlich erfolgen. Alles andere würde bedeuten, Wissenspotenziale des Internets fahrlässig auszubremsen. Die Projektgruppe Medienkompetenz hat für die Onlineoffensive durchaus gute Vorschläge gemacht. Die Linke hat ihre Reformvorschläge für das Urheberrecht, wie beispielsweise die Bildungs- und Wissenschaftsschranke oder die Förderung von Open Access, längst in den Bundestag eingebracht. Hier wie dort darf die Regierung kopieren, kopieren, kopieren - und sie muss deswegen nicht einmal zurücktreten. ({7}) Ich bedanke mich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einiges Kritisches über die Arbeit in der Enquete-Kommission gesagt worden. Im Gegensatz zu den Projektgruppen Datenschutz, Urheberrecht und Netzneutralität kann man die Projektgruppe Medienkompetenz geradezu als Hort der Harmonie bezeichnen. Wir haben zwar in der Sache hart diskutiert, insgesamt waren die Beteiligten jedoch alle an einem Konsens interessiert. An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken, nicht zuletzt denjenigen, die sich über die Beteiligungsplattform Adhocracy eingebracht haben. Wir haben in dieser Projektgruppe tatsächlich fast alle Vorschläge einarbeiten können. Ich hoffe, dass die aktuellen und künftigen Projektgruppen sich ein Beispiel an der Projektgruppe Medienkompetenz nehmen; denn im Endeffekt schaden die Querelen in der Enquete-Kommission dem Ansehen dieses Hauses insgesamt. Die vorangegangenen Reden haben mir gezeigt, dass alle Kolleginnen und Kollegen eine konstruktive Fortführung und einen erfolgreichen Abschluss unserer Arbeit wollen. Ich hoffe, das bleiben keine Lippenbekenntnisse. Die teils unerfreulichen Begleitumstände der Enquete-Kommission sollen uns nicht vollends von den Inhalten ablenken. Stellen Sie sich daher bitte drei Szenarien vor: Ein älterer Herr sucht im Internet nach einem Kochrezept und tappt dabei in eine Abofalle; ({0}) ein Teenager stellt unbedacht alberne Fotos von sich bei Facebook ein und wird zum Gespött der Schule; ein Politiker twittert einen missverständlichen Kommentar, und eine virtuelle Welle der Empörung bricht über ihn herein, sein Name wird sogar Trending Topic. Tja, werden Sie sagen, wären diese drei nur medienkompetenter gewesen. - Alle rufen immer nach Medienkompetenz, wenn es darum geht, Menschen vor Fehlern im Internet zu bewahren. Selbst beim höchstumstrittenen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag waren sich alle einig: Wir brauchen mehr Medienkompetenz. - Wie aber dieses Mehr an Medienkompetenz genau aussehen muss, daran scheiden sich die Geister. Medienbildung darf nicht der kleinste gemeinsame Nenner sein. Wir stehen in Zeiten des digitalen Wandels vor einer Mammutaufgabe. Deshalb ist es gut, dass wir es in der Projektgruppe Medienkompetenz geschafft haben, uns weitgehend auf einen Text zu einigen. Dabei will ich drei wichtige Punkte herausstreichen: Erstens halte ich es für wichtig, dass die bereits vor drei Jahren im medienpädagogischen Manifest beklagte „Projektitis“ endlich eingedämmt wird. Bewährte Ansätze müssen wir ausweiten und verstetigen. Wir wollen keinen blinden Aktionismus und auch nicht, dass Medienbildung zu Profilierungszwecken instrumentalisiert wird. Deshalb empfehlen wir im Bericht, dass bei geplanten Maßnahmen zunächst der Bedarf erhoben wird, Ziele definiert und die Ergebnisse evaluiert werden. Vor allem aber fordern wir eine stärkere und verpflichtende Verankerung von medienpädagogischen Inhalten in den Lehrplänen und in der pädagogischen Ausbildung. Zweitens ist mir wichtig, dass die Aktivitäten im Bereich Medienpädagogik besser vernetzt werden, denn sie ziehen sich durch viele Politikfelder. Das wurde von einigen Rednern bereits benannt. Es gibt zahlreiche Initiativen und Projekte. Damit aber nicht überall das Rad neu erfunden werden muss und sich erfolgreiche Ansätze verbreiten können, muss es einen regen Austausch geben. Der Bund kann hier eine koordinierende Rolle übernehmen. ({1}) Drittens halte ich es für wichtig, dass wir Medienkompetenz nicht nur als Mittel zur Risikovermeidung sehen, was sie meiner Ansicht nach auch gar nicht leisten kann. Wir können höchstens Risiken minimieren. Nein, Medienkompetenz ist viel mehr: Sie befähigt zur gesellschaftlichen Teilhabe im digitalen Raum. Im Bericht haben wir daher nicht nur die Chancen der neuen Medien herausgestellt, sondern auch die Risiken benannt. Ja, man kann viele Fehler machen, wenn man sich im Internet bewegt; man kann sich aber auch großartige neue Möglichkeiten erschließen. Für beides braucht man umfassende Medienbildung. ({2}) In den vergangenen Monaten hat uns das Thema Cybermobbing immer wieder beschäftigt. Hier stoßen wir an die Grenzen dessen, was Medienkompetenz tatsächlich leisten kann. Mobbing hat es zwar schon immer gegeben, ob auf dem Pausenhof oder am Arbeitsplatz, jedoch haben sich die Form und die Massivität durch das Internet geändert. Wir müssen daher Medienbildung ganzheitlich betrachten: Es geht nicht allein darum, technische Fertigkeiten zu erwerben oder die Urteilsfähigkeit bei der Bewertung von Inhalten zu schärfen; es geht vor allem auch um das Zusammenleben in einem neuen Raum und das respektvolle Miteinander. Das, meine Damen und Herren, ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. ({3}) Medienkompetenz lässt sich natürlich nicht lernen wie Mathe oder Geschichte; Frontalunterricht, graue Theorie und Abfragewissen sind fehl am Platz, wenn es darum geht, jemandem beizubringen, wie man sich sicher und vor allen Dingen auch effektiv im Netz bewegt. Surfen ist selten ein Selbstzweck: Meist ist man auf der Suche nach Informationen, kommuniziert mit anderen oder schafft selbst Inhalte. Genauso funktioniert auch das Medienlernen: durch Ausprobieren, Selbstmachen und Sammeln von Erfahrungen. Das betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern eben auch ältere Menschen: Eltern, Berufstätige, auch Soldaten, nicht zuletzt Politiker. Je nach Alter, Wohnort, Beruf und Interessenlage entscheidet sich, welche Fähigkeiten und Kenntnisse eine Person medienkompetent machen. Da kann der 16-jährige Berliner Großstadtjunge genauso viel dazulernen wie die 45-jährige Bundestagsabgeordnete aus Mainz. ({4}) Ich hoffe, dass die Enquete ebenfalls dazulernt und wir uns für die kommende Arbeit in den Projektgruppen genügend Zeit nehmen und konstruktiv miteinander arbeiten, damit wir am Ende hier positiv über den Abschlussbericht sprechen können. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Jarzombek für die Unionsfraktion. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mein Leben lang in der IT gearbeitet. Als ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich mich gefragt: Wo kann ich all das Wissen, das ich gesammelt habe, einbringen? Insofern bin ich dankbar, dass es diese Enquete-Kommission gibt; denn sie bietet zum ersten Mal einen sehr prominenten Platz, an dem man über das Internet und über Netzpolitik reden kann. Die Enquete-Kommission hat allen, die daran beteiligt sind, nicht nur einen Platz für Netzpolitik mit Strahlkraft eingeräumt, sondern auch uns alle vor Langeweile geschützt: So viele Rednereinsätze an Abenden in Berlin wie auch im Wahlkreis hatte ich bei anderen Themen selten; ich fand es durchaus unterhaltsam. Allerdings muss man auch sagen - das ist mein persönliches Fazit nach knapp zwei Jahren -: Mich stört, dass wir in dieser Enquete-Kommission viel zu sehr Tagespolitik gemacht haben. ({0}) Anstatt das große Bild zu entwickeln und uns auf Gemeinsamkeiten der Netzpolitiker zu beziehen, anstatt uns die Frage zu stellen, wie wir eigentlich die Internetregulierung der Zukunft gestalten wollen, haben wir versucht, tagesaktuelle Streitfragen in diese Enquete-Kommission hineinzutragen. Hier hebt sich die Projektgruppe Medienkompetenz, wie ich finde, sehr deutlich ab; denn es gab ein sehr konstruktives Klima. Meine Kollegen haben es mir als Projektgruppenvorsitzendem leicht gemacht, hier zu einem guten Ergebnis zu kommen. Dafür bedanke ich mich. Okay, keiner applaudiert sich selbst. ({1}) Ich dachte, wenn man Kollegen lobt, sei das eine sichere Garantie für Applaus. Der Mitgründer des Chaos Computer Clubs, Wau Holland, hat einmal gesagt: Jede Oma, die es schafft, einen modernen Videorecorder zu programmieren, ist eine Hackerin. Das verdeutlicht ganz gut, worin die Herausforderung bei der Vermittlung von Medienkompetenz besteht: Wir müssen viele mitnehmen. Ich glaube, wir haben - schon vor mehr als einem halben Jahr - einen guten Bericht vorgelegt, der in der Szene mittlerweile viel Anerkennung gefunden hat und den ich heute gar nicht mehr im Einzelnen präsentieren möchte; denn er hat schon die Runde gemacht. Es gibt ein Programm, das ich besonders spannend finde - das haben auch schon einige Kolleginnen und Kollegen vor mir hier genannt -, nämlich das Programm „Ein Laptop für jeden Schüler“. Denn wir haben festgestellt, dass wir es ein bisschen mit dem Henne-Ei-Problem zu tun haben. Überall in der Schule wird viel zu wenig mit dem Internet gearbeitet. Es findet viel zu wenig Vermittlung von Medienkompetenz statt. Immer wieder wird gefragt: Sollen wir erst Fortbildungen für Lehrer machen, oder sollen wir erst in Ausstattung investieren? ({2}) Wir haben viel zu lange Klassensätze gekauft und Computerräume ausgestattet und so letzten Endes dazu beigetragen, dass zu viele die Gelegenheit haben, sich wegzuducken und nicht über das Internet zu reden. Sie könnten beispielsweise im Spanischunterricht spanische Zeitungsartikel behandeln und im Deutschunterricht reflektieren, welcher Quelle sie im Internet eigentlich vertrauen können und welcher nicht. Das wird aber leider nicht gemacht. Deshalb sind wir konsensual zu der Meinung gelangt, dass wir jedem Schüler einen eigenen Laptop oder ein eigenes Tablet in die Hand geben müssen, um sie dazu zu zwingen, sich mit dem Netz auseinanderzusetzen. ({3}) Ich glaube, das ist ein guter Weg, den wir jetzt über die Länder und Kommunen verfolgen müssen. ({4}) Es gab beeindruckend viele Initiativen zur Förderung der Medienkompetenz, und wir haben alle gewürdigt. Darauf möchte ich verweisen und mich bei all denjenigen bedanken, die dazu beigetragen haben. Ich möchte mich auch bei unseren externen Sachverständigen, die sich über Adhocracy beteiligt haben, bedanken; denn wir haben viele ihrer Gedanken aufgegriffen. Ich möchte mich bei den Professoren Ring und Schulz bedanken, die sich - so finde ich - sehr stark als Sachverständige eingebracht haben. Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Thema platzieren, das auch bezüglich der Herausforderungen, vor die uns der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag stellen wird, eine Rolle spielen wird, nämlich die Frage der Einbeziehung der Eltern. Wir haben auch heute hier viel über Schüler geredet. Ich glaube, dass die Angebote zur Förderung der Medienkompetenz von Eltern nach wie vor unzureichend sind. Deshalb möchte ich einfordern, dass wir ein Recht auf Medienkompetenz für Eltern schaffen, dass wir dieses Recht auch in Landesgesetzen verankern und dass es einen konkreten Ansprechpartner gibt, bei dem Eltern ihr Recht auf Förderung ihrer Medienkompetenz geltend machen können. Allein ein undefiniertes Recht hilft nicht. Ich wünsche mir vielmehr, dass an jeder Schule ein Lehrer, engagierte Eltern, ehrenamtliche Dritte oder vielleicht auch Schüler oder Gruppen von Schülern dafür sorgen - sie können beispielsweise Elternabende veranstalten und im Rahmen dieser über Medienkompetenz informieren -, dass Eltern ihr Recht einlösen können. Das ist aus meiner Sicht eine sehr wichtige Forderung an dieser Stelle. ({5}) Wir haben rund um das Thema JugendmedienschutzStaatsvertrag gesehen, dass sich die Regulierung des Rundfunks weiterentwickelt hat. Sebastian Blumenthal hat das sehr gut zum Ausdruck gebracht: Wir können die Regulierungsmechanismen des Rundfunks nicht eins zu eins auf das Internet übertragen. ({6}) Deshalb ist es mir wichtig - und dafür wird sich auch die CDU einsetzen, und ich meine, auch von einigen Länderkollegen gehört zu haben, dass sie den Gedanken gut finden -, dass wir neben den Alterskennzeichnungen „6“, „12“ und „18“ - diese Kennzeichnungen kennen wir bereits von professionellen Medien - im Internet eine weitere Kennzeichnung einführen, und zwar ein Regime von Kennzeichnungen für blogger- und nutzergenerierte Inhalte, die ein Stück weit selbstreguliert sind und bei denen Mechanismen des Crowdsourcings greifen. Wir müssen also - das würde den freiwilligen Selbstkontrollen ähneln, die wir schon heute von der Filmwirtschaft bis zur Spieleindustrie haben - auch bei blogger- und nutzergenerierten Inhalten eine freiwillige Selbstkontrolle einfordern. ({7}) Wir haben es geschafft, das Zugangserschwerungsgesetz zurückzunehmen und zu sagen, dass wir keine Sperren im Internet haben wollen. ({8}) Ich glaube, dass es als nächster Schritt gut wäre, auch auf Länderebene zu sagen, dass wir uns vom Instrument der Sperrverfügungen lösen wollen. ({9}) In mehr als zehn Jahren wurde noch kein einziges Mal eine Sperrverfügung erlassen. Professor Ring als der scheidende KJM-Vorsitzende erklärte, es sei technisch auch nur schwer möglich, das zu tun. Ich meine, wenn man es ohnehin nicht machen kann, dann sollte man sich davon auch verabschieden, um hier nicht einen Eindruck zu erwecken, den man gar nicht erwecken möchte. Nur aus Jugendschutzgründen Inhalte für alle zu sperren, wäre meiner Ansicht nach unverhältnismäßig. ({10}) Ich möchte abschließend noch ein Thema ansprechen. Im Zusammenhang mit dem JugendmedienschutzStaatsvertrag reden wir immer über Jugendschutzprogramme. Für mich ist es wichtig, dass man in der Verlängerung von Anerkennungen, die jetzt anstehen, voraussetzt, dass diese auch für mobile Geräte verfügbar sind. Denn Jugendliche surfen heute nicht mehr vorwiegend mit Windows-PCs, sondern mit Smartphones und Tablet-PCs. Auch hierfür müssen wir Lösungen finden. Ich freue mich, das mit Ihnen gemeinsam anzugehen. Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Chefredakteur von Prentice Hall aus dem Jahre 1957 zitieren, der gesagt hat: Ich habe die Länge und Breite dieses Landes bereist und mit den besten Leuten geredet und kann Ihnen versichern, dass Datenverarbeitung ein Tick ist, welcher dieses Jahr nicht überleben wird. Die Enquete-Kommission hat fast schon das zweite Jahr überlebt. Deshalb bin ich zuversichtlich: Wir werden auch in der nächsten Zeit einen guten Job machen. Ich danke Ihnen vielmals. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuhörer! Früher hätte man gesagt: Rezipienten; das würde auch die Twitterer und Blogger umfassen. Die Enquete ist ein bisschen wie ihr Gegenstand, das Internet: nicht nur gut oder nur schlecht, nicht nur schwarz oder nur weiß, sondern es gibt Licht und Schatten. Deswegen sollte man sich davor hüten, die Enquete und ihre Arbeit schlechtzureden; aber man sollte sie auch nicht nur gutreden. Natürlich war es so, Kollege Jarzombek, dass viele Themen nicht ausdiskutierbar waren, weil die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen Rücksicht auf die Konflikte in der Koalition in der aktuellen Tagespolitik genommen haben. Und natürlich war es so, dass ein Teil der Arbeit leider dadurch geprägt war, dass man unangenehme Entscheidungen und Abstimmungen durch Tagesordnungstricks, durch Verschieben, durch Sitzungsunterbrechungen zu verhindern versuchte und mit solchen Instrumenten teilweise auch den einen oder anderen Sachverständigen aus den eigenen Reihen zu disziplinieren versuchte. ({0}) Das hat leider auch das Bild der Enquete in der Öffentlichkeit und in der Szene stark geprägt. Dieser Eindruck ist zutreffend; aber das ist eben nicht alles. Es gab - wir haben es angesprochen - in den Arbeitskreisen breite Diskussionen, getragen von den Sachverständigen und von den Abgeordneten und in der Vorarbeit übrigens auch - in diese Richtung ebenfalls herzlichen Dank von den Mitarbeitern der Abgeordneten, der Fraktionen und des Sekretariats der Enquete. In vielen Bereichen konnten, wenn auch manchmal kontrovers - gerade im Bereich des Datenschutzes gab es oft weder für die eine noch für die andere Empfehlung eine Mehrheit -, zumindest Perspektiven, Themenfelder und Konflikte aufgezeigt werden. Ich glaube, das ist gut so. Aber ich glaube auch, dass wir uns - wir sollten uns da nicht unter Zeitdruck setzen lassen und im Zweifel das Parlament bitten, den Arbeitsauftrag zu verlängern - am Ende an der Qualität unserer Arbeit orientieren sollten und nicht nur daran, dass wir etwas vorlegen. Natürlich ist es so, dass wir uns im Internet mit neuen Qualitäten auseinanderzusetzen haben. Im Gegensatz - das muss man offen ansprechen - etwa zum Bereich der Medienkompetenz gibt es viele Bereiche, in denen es gravierend unterschiedliche Einschätzungen gibt. Sie alle kennen den schönen Witz, der nicht nur an Stammtischen, sondern manchmal auch in den Fraktionen über die internetaffinen Politiker und Parteien gemacht wird: Sie sitzen sich mit Laptops oder Smartphones gegenüber und unterhalten sich über Twitter. Und dann lacht alles. ({1}) Die Tatsache, dass noch immer viele über diesen Witz lachen, sagt weniger etwas über die Situation im Netz aus als über diejenigen, die darüber lachen. Denn sie verkennen völlig die Qualität des Netzes. Wenn ich jemandem gegenübersitze und mit ihm direkt spreche, dann beschränkt sich die Kommunikation mit ihm auf die Reichweite meiner Akustik. Sie ist gebunden an Raum und Zeit. Wenn ich die Kommunikation ins Netz trage, dann können auch Leute partizipieren, die nicht anwesend sind. Sie können zu einem viel späteren Zeitpunkt antworten und in andere Kommunikationszusammenhänge eintreten. Dieses Beispiel ist symptomatisch für das ganze Netz. Die Unabhängigkeit von Raum und Zeit im Netz, die teilweise durch Kommunikationsstrukturen, aber auch durch Daten und Datenerfassung gegeben wird, ist zum einen ein Vorteil, zum anderen stellt sie eine Gefahr dar; denn den natürlichen Schutz der Persönlichkeitsrechte, die uns Raum und Zeit oft bieten, gibt es im Netz vielfach nicht mehr. Vieles kann ausgeforscht und verknüpft werden, was in der normalen analogen Welt nicht ausforschbar und nicht verknüpfbar ist. Hier liegt der Kern unserer grundsätzlichen Auseinandersetzungen. Es stellt sich schon die Frage: Funktioniert das alles nur durch reine Selbstorganisation nach dem Motto der alten, gescheiterten Mär „Der Markt wird es schon richten“? Man könnte sagen: Das Netz wird es schon richten. - Ein großer Teil der Mitglieder der Enquete hat daran seine Zweifel; denn wir haben erlebt, dass die Selbstregulierungskräfte und die Marktkräfte auf den Finanzmärkten eben nicht zu Regulierungen geführt haben. Wir haben gerade schmerzlich erfahren müssen, dass fehlende Regulierung dazu führen kann, dass sich brutal unsoziales und teilweise sogar asoziales Verhalten durchsetzt. Beim Thema Internetstalking haben wir erlebt, dass das auch im Netz passiert. ({2}) - Lieber Jimmy Schulz, natürlich ist es wichtig, Kompetenzen im Internet zu erwerben. Die Frage ist nur: Reicht das aus? Keiner käme auf die Idee, zu sagen: Wir stärken die Kompetenz im Bereich Baukunde, und deswegen verzichten wir künftig darauf, Geländer vorzuschreiben. Das Problem ist doch, dass wir ein Ungleichgewicht im Netz haben - so war es auch in der Finanzkrise - zwischen denjenigen, die konstruieren, die Abläufe kennen und sie nutzen können, und denjenigen, die konsumieren. Deswegen gab es eine zentrale Auseinandersetzung um die Frage: In wie vielen Bereichen müssen wir den Verbraucher durch Regulierung schützen? Es geht also um das zentrale Feld des Datenschutzes. Leider konnten wir uns in vielen Bereichen nicht einigen. Wie sieht es denn aus? Kann ich den Verbraucher in seinem Surfverhalten ausforschen und sagen: Du hast ja akzeptiert, dass der Browser so eingestellt bleibt, wie er ist? Muss ich dafür seine Zustimmung erhalten? Es geht nicht um die Frage, ob jemand im Netz reguliert oder reglementiert wird, sondern es geht um die Frage, ob er das, was er zulässt, auch bewusst zulässt, oder ob ihm die Daten sozusagen aus der Tasche geklaut werden und er gar nicht mitbekommt, was ihm passiert. Leider muss man feststellen: Wir haben uns oft nur auf Formulierungen einigen können, die konsensual relativ schwach sind. Ich darf zitieren: Deshalb empfiehlt die Enquete-Kommission dem Deutschen Bundestag, die Informationspflichten so auszugestalten, dass die Informationen von der Art und vom Umfang her die Grundlage für informierte und freiwillige Einwilligungen bilden, … ({3}) Na super! Was denn nun? ({4}) Opt-in oder Opt-out, Privacy by Design, Privacy by Default - alles bleibt völlig schwammig und offen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Ich glaube nicht - das Gleiche gilt auch für den Beschäftigtendatenschutz -, dass die Arbeit der Enquete zu Ende ist. Jimmy, wir greifen deine Idee gerne auf - auch wenn du dich jetzt lieber mit deiner charmanten Kollegin als mit mir beschäftigst -, dass die Enquete ähnlich wie bei der Enquete „Bürgerschaftliches Engagement“ am Ende den Vorschlag unterbreitet, einen eigenen Ausschuss zu diesem Thema einzurichten, der dann vom nächsten Bundestag übernommen wird. Selbst dann haben wir ein gutes Maß an Arbeit geleistet. Ich vertraue darauf, dass wir in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode stärker sachorientiert arbeiten. Wir sollten uns daran orientieren, dass die Arbeit an diesem wichtigen Thema weitergeht, damit wir weiterhin agieren und diskutieren können. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehgeräten und im Internet! ({0}) Ich begrüße auch diejenigen, die es später als Podcast ansehen werden. Datenschutz ist auch eine Frage von Medienkompetenz. Ich glaube, das haben wir in der Enquete lernen können. Die einzelnen Projektgruppen konnten wir nicht separat betrachten, aber es gab immer wieder Schnittpunkte zwischen den Projektgruppen. Ich habe als Vorsitzender der Projektgruppe Datenschutz öfter den Hinweis gegeben, dass manches eher ein Thema für die Projektgruppe Medienkompetenz sei. Die Themen Medienkompetenz und Datenschutz greifen ineinander, Herr Kollege Reichenbach - jetzt unterhält er sich mit einer netten Kollegin neben ihm, wie es Jimmy Schulz vorhin mit seiner Kollegin getan hat -, ({1}) das haben wir gelernt. Ich freue mich, dass es auch dir gelungen ist, das zu erkennen. Die Projektgruppe Datenschutz hat seit der Konstituierung im Juni 2010 18 Sitzungen durchgeführt, in denen viel diskutiert wurde, in denen viele Ideen nicht nur von unseren offiziellen Sachverständigen, sondern auch vom sogenannten 18 Sachverständigen eingebracht wurden. Wir haben schon ein paar Sachverständige genannt. Ich glaube, jedem von uns war vor Beginn der Arbeit in der Enquete der Name „MrTopf“ kein Begriff. Jetzt wissen wir: Es ist einer der 18. Sachverständigen, die sich immer stark einbringen. Ich bin dankbar, dass es viele gab und gibt, die dies über die Beteiligungsplattform gemacht haben. Es hat übrigens zu Beginn lange gedauert, bis sie aufgebaut war. Wir haben uns in der Projektgruppe zuerst über das Forum beholfen. Auch darüber wurden gute Ideen eingebracht. Dies hat uns gezeigt: Nicht die Technik ist entscheidend, sondern vor allen Dingen ist die Beteiligung der Community, um den Begriff wieder einmal zu benutzen, relevant. Wer sich einbringt, wird in dieser Projektgruppe auch gehört. Über viele gute, qualitativ hochwertige Ideen wurde zumindest diskutiert; einige wurden übernommen. ({2}) Wir haben in den Handlungsempfehlungen - das war letztlich strittig; darüber wurde am meisten diskutiert im Bereich Datenschutz viele konsensuale Punkte aufgenommen. Ich bin sehr froh darüber. Ich sehe es nicht so negativ wie Sie, Herr Kollege Reichenbach, wenn wir eine Formulierung finden, die die Frage nicht ganz beantwortet. ({3}) Die Enquete-Kommission beschließt eben nicht alles, sondern sie gibt Handlungsempfehlungen. Sie gibt dem Deutschen Bundestag nicht vor, wie er zu handeln hat. Ich finde es richtig, dass hier im Deutschen Bundestag am Ende die Schlussfolgerung gezogen wird, was getan wird, nachdem wir aufgezeigt haben, welche Möglichkeiten es gibt. Wir haben in der Projektgruppe Datenschutz bei einigen Punkten erlebt, dass sich, wenn es zwei Positionen gab, die unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel darstellten, keine Mehrheit für eine der Positionen finden ließ. Ich finde auch das nicht negativ. Wir konnten zeigen, dass es zwei Optionen gibt. Der Deutsche Bundestag hat nach Vorlage des Berichts die Möglichkeit, intensiv über diese zwei Optionen zu lesen. Natürlich weiß nicht jeder außerhalb der Enquete so viel darüber wie wir; wir konnten in dieser Zeit viel darüber lernen. Deswegen ist es gut und sinnvoll, dass teilweise ausführliche Texte über diese Themen vorliegen. ({4}) Wichtig ist für uns auch, zu verstehen, dass Datenschutz nicht nur eine rechtliche Herausforderung ist, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir haben zum Beispiel intensiv über Fragen der Anonymität und des Umgangs mit Identitäten in den Netzwerken diskutiert. Dies betrifft häufig auch Tagespolitik. Wir haben erlebt, dass tagespolitische Themen von Kollegen der Opposition bewusst eingebracht wurden. Dies zu bemängeln und den Koalitionsfraktionen vorzuwerfen, dass man darauf geachtet hat, dass tagespolitische Entscheidungen nicht blockiert werden, ist etwas scheinheilig. Sie haben solche Themen bewusst eingebracht. Dabei ist klar, dass wir als Regierungskoalition darauf achten, dass aktuelle Punkte, auf die wir uns gerade - teilweise nach intensiven Diskussionen in der Koalition oder in den Fraktionen - geeinigt haben, auch umgesetzt werden. Lassen Sie mich zum Ende noch Dank sagen. Ich möchte Dank sagen an all die Kollegen in allen Fraktionen, die konstruktiv mitgearbeitet haben, an die Sachverständigen, an die Mitarbeiter, auch die Mitarbeiter des Sekretariats, die sehr viele Texte sortieren mussten und dies sehr gut geschafft haben. Ich glaube, wir müssen vor allen Dingen den von außen aktiv Beteiligten danken. Die Möglichkeit zur Beteiligung haben wir geschaffen, aber es reicht nicht, diese nur zu schaffen. Sie muss auch genutzt werden. Deswegen richte ich einen herzlichen Dank an die Sachverständigen außerhalb des Parlaments, die uns bei der Arbeit geholfen haben. Ich freue mich auf die zweite Hälfte und hoffe, dass wir weitere strittige, nicht immer konsensuale, aber am Ziel orientierte Berichte erstellen werden. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es passt sehr gut, dass wir über das Thema Medienkompetenz als erstes inhaltliches Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission hier im Plenum diskutieren. Medienkompetenz ist zwar nicht die Antwort auf alle Fragen, die sich uns im Zusammenhang mit dem Internet stellen. Aber nur ein aufgeklärter, mündiger Nutzer kann die Chancen realisieren, die sich ihm im Zusammenhang mit dem Internet bieten, und nur ein aufgeklärter, mündiger Nutzer kann mit den Risiken umgehen, die mit einer Nutzung des Netzes verbunden sind. Medienkompetenz kann nicht gesetzlich verordnet werden. Ihre Vermittlung ist auch nicht allein Aufgabe des Staates. Aber der Staat muss und kann entsprechende Bildungsangebote initiieren und fördern. Ein wichtiger Erkenntnisgewinn und ein wichtiges Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission ist für mich persönlich, dass im Zwischenbericht eine lange Liste von Initiativen, die es in diesem Bereich schon gibt, zu finden ist. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Aber es ist eine wichtige Handlungsempfehlung, die bestehenden Angebote besser zu vernetzen. Die Vermittlung von Medienkompetenz ersetzt nicht andere staatliche Aufgaben wie zum Beispiel den Verbraucherschutz oder den Jugendmedienschutz. Da gibt es natürlich auch Berührungspunkte. Eine große Leistung der Enquete-Kommission in diesem Bereich ist, dass man sich im Konsens auf ein Leitbild verständigt hat, wie gerade der Jugendmedienschutz im Verhältnis zur Medienkompetenz zu bewerten ist. Frau Özoğuz und Herr Jarzombek haben mit Herrn Professor Ring, Herrn Professor Schulz und Alvar Freude schon wichtige Protagonisten genannt, die diesen Konsens gefunden haben. Das darf man nicht unter den Teppich kehren. Meine Damen und Herren, nicht jeder Jugendliche, so medienkompetent er auch sein mag, muss, soll oder kann alle Angebote, die ihm das Internet bietet, verarbeiten. Man kann ihn auch nicht zu 100 Prozent schützen, vor allem dann nicht, wenn er gezielt nach gewissen Angeboten sucht. Schutz im Internet ist daher immer auch eine Art Risikomanagement, bei dem es darum geht, je nach Zielgruppe und Schutzzweck Verantwortlichkeiten zu verteilen, mit dem Ziel, die Risiken zu minimieren. Hier hat die Enquete-Kommission wichtige Grundlagen gelegt, an denen man sich bei zukünftigen Entscheidungen darüber, wie sich die Politik in diesem Spannungsfeld positioniert, orientieren kann. Wir haben neben der Behandlung der inhaltlichen Fragestellungen als zusätzlichen Auftrag vom Bundestag mit auf den Weg bekommen, die Öffentlichkeit in geeigneter Art und Weise in unsere Arbeit einzubinden. Das ist auch ein Lernprozess. Was meines Erachtens durchaus erfolgreich läuft, ist unsere Beteiligungsplattform www.enquetebeteiligung.de, über die die interessierte Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, mitzudiskutieren, eigene Vorschläge einzubringen und über die Vorschläge anderer abzustimmen. Fast alle Vorschläge, die wir über das Internet bekommen, sind von hoher Qualität. Das zeigt, dass sich auch außerhalb des Deutschen Bundestages wirkliche Sachverständige konstruktiv und ernsthaft mit diesen Themen beschäftigen. Von dieser Stelle aus möchte ich denen, die sich über diese Plattform einbringen, herzlich danken. Ich möchte in meinen Dank explizit auch diejenigen einschließen, die diese Adhocracy-Plattform, zum Teil in ehrenamtlicher Arbeit, mit aufgebaut haben und die sie im Moment am Laufen halten. ({0}) Die Ergebnisse fließen direkt in unsere Arbeit und Texte mit ein. Wenn ich sage: „Das ist auch ein Lernprozess“, meine ich damit, dass wir vielleicht noch lernen müssen, dies besser nach außen zu dokumentieren und den Nutzern aus dem Bundestag heraus ein Feedback zu geben. Ich glaube, wenn wir hier besser werden, dann erhöhen wir auch den Anreiz für die interessierte Öffentlichkeit, sich inhaltlich noch mehr zu beteiligen. Meine Damen und Herren, wenn es um das Bild geht, das wir aus unseren öffentlichen Sitzungen der EnqueteKommission über den Livestream nach draußen transportieren, bin ich durchaus kritisch und auch selbstkritisch.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brandl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach?

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, dass es der Enquete-Kommission als Ganzes vielleicht gutgetan hätte, wenn wir nicht nur unser Plenum öffentlich übertragen, sondern auch die viel sachbezogenere Arbeit in den Projektgruppen öffentlich gemacht hätten? ({0}) Sind Sie vielleicht bereit, darüber mit uns noch einmal zu diskutieren? ({1})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sehe hier ein Spannungsfeld. Wir erleben in den Projektgruppen eine sehr konstruktive Zusammenarbeit der Sachverständigen und der Abgeordneten und auch das, was man von einer Enquete-Kommission erwartet, dass sich nämlich die Abgeordneten und Sachverständigen aus unterschiedlichen Fraktionen und vor unterschiedlichen Hintergründen aufeinander zu bewegen. Genau das passiert in den Projektgruppen. ({0}) Herr Kollege, ich erlebe aber auch etwas anderes: Ich erlebe die öffentlichen Sitzungen der Enquete-Kommission, die per Livestream im Internet übertragen und natürlich direkt über Twitter intensiv kommentiert werden, und auch entsprechende Rückkopplungen. ({1}) Diese Sitzungen unterscheiden sich atmosphärisch ({2}) und auch von der Art und Weise der Zusammenarbeit her diametral von den Sitzungen der Projektgruppen. ({3}) Eine Annäherung oder Kompromissfindung findet in diesen öffentlichen Sitzungen nicht statt. Stattdessen steht immer die Vermittlung der eigenen Position, der eigenen unverrückbaren Wahrheit im Vordergrund. ({4}) Der Herr Kollege Notz hat ja vorhin dargestellt, bei welchen wichtigen und zentralen Punkten wir einen Konsens gefunden haben. Ich bin hier, wie ich gerade gesagt habe, selbstkritisch. Es liegt an uns, das besser darzustellen. Auch ich habe kein Patentrezept dafür. ({5}) Ich beobachte nur, dass in den öffentlichen Sitzungen der Enquete-Kommission, die per Livestream übertragen werden, zwar vordergründig die totale Transparenz gegeben ist, aber eigentlich nicht die Wirklichkeit des konstruktiven Miteinanders vermittelt wird. ({6}) - Herr Reichenbach, ich habe versucht, Ihre Frage differenziert zu beantworten. Ich bin nicht gegen Transparenz und gegen Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Wir müssen versuchen, das, was wir hier tun, in der Öffentlichkeit richtig darzustellen. ({7}) Sie müssen mir aber zustimmen, Herr Kollege: Die Erfahrung, die wir in den öffentlichen Sitzungen gemacht haben, ist nicht geeignet, das Bild der Enquete-Kommission in der Öffentlichkeit zu fördern. ({8}) Es wundert mich deswegen auch nicht, dass sich die Menschen, wenn sie nur dieses Schauspiel erleben, enttäuscht abwenden und sagen, die Enquete-Kommission sei gescheitert. - Herr Kollege Reichenbach, Sie dürfen sich setzen. ({9}) Ja, ich habe deswegen eine so lange Antwort auf Ihre Frage gegeben, ({10}) weil mir das ein Anliegen ist und das ein Thema ist, mit dem ich mich beschäftige, nämlich wie es uns besser gelingen kann, das konstruktive Miteinander öffentlich darzustellen und nicht immer nur den Streit zu betonen. Auch Streit ist wichtig, weil die Menschen wissen müssen, wer in der Politik für was steht. Aber das ist nicht das, was sie von der Enquete-Kommission erwarten. Wir haben sehr gute Zwischenberichte vorgelegt, insbesondere zur Medienkompetenz. Wer den Bericht liest, sieht, dass wir und die Sachverständigen sehr viel Mühe darauf verwendet haben, die teilweise sehr komplexen Zusammenhänge von verschiedenen Seiten zu beleuchten und auch in weiten Teilen zu konsensualen Handlungsempfehlungen zu kommen. Mir hat die Arbeit sehr viel Freude gemacht. Ich kann auch sagen: Ich habe in der Arbeit viel von den Sachverständigen gelernt. Herzlichen Dank für den tollen Input, den Sie immer wieder geliefert haben. Ich freue mich auf die zweite Hälfte der Arbeit der Enquete-Kommission und auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kretschmer für die Unionsfraktion. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Nachdem wir vor zwei Jahren während der Koalitionsverhandlungen überlegt hatten, diese Enquete-Kommission einzusetzen - ein Vorschlag von unserem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder -, ({0}) haben wir in diesem Parlament eine breite Mehrheit für die Einsetzung der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ gesucht und auch gefunden. Ich glaube, das war die richtige Entscheidung. Wir können bereits heute sagen: Das hat sich gelohnt. Wir haben auf der einen Seite das Bewusstsein im Parlament für die Themen der Netzpolitik und der Digitalisierung gesteigert, und wir haben auf der anderen Seite ein Signal in die Gesellschaft gegeben, dass uns diese zwei Themen besonders wichtig sind. Es handelt sich deswegen um zwei Themen, weil „Netzpolitik“ und „Digitalisierung“ nicht dasselbe meinen. Netzpolitik enthält wichtige Dinge, über die wir heute schon gesprochen haben, etwa Netzzugang und Datenschutz. Auch Punkte wie die Regulierung des Internets sind nicht zu vernachlässigen. Da gibt es eine ganze Menge Nachholbedarf. Aber man darf die Digitalisierung nicht darauf verengen. Die Digitalisierung ist die große bahnbrechende Entwicklung dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die Chancen beherzt zu ergreifen und daraus, gerade für das Hightechland Deutschland, Wertschöpfung, Wachstum und Arbeitsplätze zu generieren. ({1}) Wir erleben heute bei dieser technischen Revolution das, was auch in den vergangenen Jahrhunderten bei Technologiebrüchen häufig der Fall war, dass versucht wird, Besitzstände zu verteidigen, zum Teil mit scheinheiligen Argumenten. Ein Beispiel, an dem man das gut sehen kann, ist die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Hier hätte die Digitalisierung viel Nutzen stiften können, aber die Lobby hat verhindert, dass eine wirklich gute Lösung kommt. Wir dürfen bei diesem konkreten Thema, aber auch bei den anderen Punkten nicht klein beigeben. Die Digitalisierung ist eine große Chance für unser Land. Wir müssen sie aber auch ergreifen. Das Internet und die Digitalisierung warten nicht auf 80 Millionen Deutsche. Aber 80 Millionen Deutsche haben enorme Gestaltungsmöglichkeiten und können Standards setzen, wenn sie sich in diesem Bereich an die Spitze der Bewegung setzen. Es ist in den Diskussionen in der Enquete-Kommission, aber auch hier im Plenum des Deutschen Bundestags und in der Öffentlichkeit deutlich geworden, dass die Digitalisierung ein Querschnittsthema für Politik und Gesellschaft ist, das eine stärkere Koordinierung und eine stärkere Verantwortlichkeit an einer Stelle erfordert. Deswegen muss in den nächsten Monaten und Jahren darüber gesprochen werden, ob es nicht in der Regierung eine zentrale Verantwortlichkeit, eine zentrale Koordinierung in Gestalt eines Ministers oder Staatssekretärs geben muss. In den verschiedenen Beiträgen war viel von den 18 Sachverständigen die Rede. Dies haben wir mit eingeführt, als wir die Enquete-Kommission eingesetzt haben. Ich finde, es war richtig, sich die Mühe zu machen, auch intensiv über das richtige Beteiligungstool nachzudenken und sich dafür die passenden Regelungen zu geben. Immerhin haben sich über 2 200 registrierte Mitglieder an der Arbeit der Enquete-Kommission beteiligt. Es hat insgesamt rund 2 200 Kommentare und 12 000 Bewertungen gegeben. Für die Arbeit einer Enquete-Kommission sind das, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass es zum ersten Mal in dieser Form stattgefunden hat, große Zahlen. Ich finde, auch deshalb kann man sagen: Es war ein Erfolg. ({2}) Die Bedenken, ob man ein Beteiligungstool schaffen und einen 18. Sachverständigen fest etablieren sollte, beruhten, glaube ich, zum großen Teil auf einem zentralen Missverständnis, was die Frage angeht, ob dieser 18. Sachverständige über das entscheiden sollte, was letzten Endes der Deutsche Bundestag beraten und beschließen oder was die Enquete-Kommission an Ergebnissen erzielen soll. Das geht natürlich nicht. Der Sachverständige von außen kann immer nur beraten. Ich finde, dass wir es über das Beteiligungstool Adhocracy gut organisiert haben, uns eine Lobbygruppe zu schaffen, wie sie in anderen Politikfeldern völlig selbstverständlich ist: Der ADAC berät in der Verkehrspolitik, der BDI begleitet die Wirtschaftsfragen, und Greenpeace erhebt in Umweltfragen die Stimme. ({3}) An keiner Stelle erwartet man, dass die einzelne Lobbygruppe repräsentativ für die gesamte Bevölkerung bzw. für die gesamte Politik sprechen kann. Aber es ist uns trotzdem wichtig, zu hören, was Greenpeace denkt, was der BDI meint oder welche Position der ADAC vertritt. Deswegen ist es richtig, den 18. Sachverständigen eingeführt zu haben. In diesem Selbstverständnis müssen wir offen damit umgehen, auch in Zukunft Partizipationsmöglichkeiten im Deutschen Bundestag und in den Parteien bis hin zur Kommunal- und Landespolitik zu schaffen. Wenn man dieses Selbstverständnis hat, kann man diese Möglichkeit der Beteiligung selbstbewusst und offen schaffen. Wir zumindest wollen das gern. ({4}) Es wurde viel über die Frage gesprochen, wie viel Staat nötig ist. Ich teile die Einschätzung, dass gerade beim Internet die Selbstregulierung und Selbstverantwortung sehr gut funktionieren, sodass man sagen kann: An vielen Punkten im Internet ist durch die Experten und Akteure Gutes entstanden. Das zeigt auch die Domainvergabe in den vergangenen Jahrzehnten, ein äußerst komplexes Verfahren, das gut gemanagt worden ist. Aber wir sehen auch: Je weniger technisch die regulierten Bereiche werden, desto stärker wird der Legitimationsdruck, wenn es keine staatlichen Vereinbarungen und Gesetze gibt, in denen die Regularien festgelegt werden, sondern alles von nichtstaatlichen Organisationen geregelt wird. Deswegen ist es richtig, dass wir auf internationale oder europäische Vereinbarungen drängen, die gewisse Bereiche des Internets regulieren. Insofern ist es richtig, dass sich die Europäische Union darüber Gedanken macht, wie der Datenschutz im Internet innerhalb der Europäischen Union organisiert werden kann. Wenn die Europäische Union als großer Raum einen Standard setzt, besteht natürlich die Möglichkeit, dass dieser Standard auch international verstärkt zum Vorbild genommen wird. Aber zu dem Entwurf der EU-Datenschutzverordnung, der am 25. Januar vorgestellt werden soll, gibt es eine ganze Reihe von Fragezeichen und Bedenken, die wir intensiv miteinander diskutieren müssen. Ich weiß nicht, ob es in dieser Verordnung einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz des Privaten und den Interessen der Öffentlichkeit gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Linie zwischen dem Datenschutzrecht und dem Äußerungsrecht richtig gezogen worden ist. Ich weiß nicht, ob das, was man sich zum Thema „Recht auf Vergessen“ vorgenommen hat, technisch möglich ist. ({5}) Ich wäre dankbar dafür, wenn nicht nur in der Internet-Enquete-Kommission, sondern auch darüber hinaus intensiv über die Vorschläge der Europäischen Union diskutiert würde. Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Es geht darum, etwas Richtiges aus der Verordnung zu machen. Wir sollten uns intensiv in die Diskussion einbringen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 a bis c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele LösekrugMöller, Bernhard Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohnes ({1}) - Drucksache 17/4665 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) - Drucksache 17/8385 - Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt Voraussetzungen für die Einführung ei- nes Mindestlohns schaffen - Drucksachen 17/7483, 17/8385 - Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Mindestlohn jetzt - Drucksache 17/8026 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionsreihen so vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen und dann den Rednerinnen und Rednern zuhören können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion. ({6})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die gerechte Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg sind ein zentraler Markenkern einer sozialen Marktwirtschaft. Das legendäre Credo Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ war und ist unter anderem eine klare Absage an Dumpinglöhne. Ludwig Erhard hat später als Bundeskanzler formuliert: Ziel der deutschen Sozialpolitik muss es sein, alle sozialen Gruppen vor einer Entwicklung zu bewahren, in der sie zunehmend bloß Objekte staatlicher Fürsorge sind. Das ist eine deutliche Ansage gegen eine Politik der Ausgrenzung und zugleich ein Appell gegen staatliche Bevormundung und Einmischung in alle Bereiche des Lebens. Um Lohndumping und damit Wettbewerbsverzerrung zu verhindern, hat übrigens erstmals eine Koalition aus CDU/CSU und FDP im Jahr 1996 mit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes die Möglichkeit geschaffen, für bestimmte Bereiche einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn festzulegen. Schauen wir uns vor diesem Hintergrund die jüngste Entwicklung an. Zum 1. Januar dieses Jahres sind drei Mindestlohnregelungen neu bzw. erneut in Kraft getreten. Zum ersten Mal gibt es eine Mindestlohnregelung bzw. eine untere Lohngrenze für den Bereich der Zeitarbeit. ({0}) Die Gültigkeitsdauer der bestehenden Mindestlohnregelungen für Dachdecker und Gebäudereiniger wurde verlängert, und die Mindestlöhne wurden angehoben. Damit sind heute 4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in Bereichen beschäftigt, in denen allgemeinverbindliche Mindestlohnregelungen gelten. So viele Mindestlöhne gab es in Deutschland noch nie. ({1}) So viele Mindestlöhne gibt es nicht etwa unter einem sozialdemokratischen Kanzler, sondern unter einer christdemokratischen Kanzlerin. Das ist doch bemerkenswert. ({2}) Bei allen heute geltenden Mindestlohnregelungen handelt es sich um Regelungen, die die Tarifpartner, Arbeitgeber und Gewerkschaften, frei ausgehandelt haben und die anschließend durch das Bundesarbeitsministerium per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Die Erfahrungen, die mit Mindestlöhnen gemacht wurden, sind positiv. Es sind diese Bundesregierung und diese Koalition aus CDU/CSU und FDP, die eine wissenschaftliche Evaluierung der in Deutschland geltenden Mindestlohnregelungen haben vornehmen lassen. Das Ergebnis ist - zusammengefasst -, dass sich keine negativen Effekte zeigen. Die Mindestlohnregelungen haben sich allesamt bewährt. Das zeigt, dass der Weg, Mindestlohnregelungen durch die Tarifpartner frei aushandeln zu lassen und sie dann für allgemeinverbindlich zu erklären, richtig und erfolgreich ist. ({3}) Nun legen uns die Sozialdemokraten heute einen Gesetzentwurf zur Abstimmung vor, ({4}) der einen ganz anderen Weg vorsieht. Er sieht vor, dass der Bundestag die Höhe des Mindestlohns beschließt und dass die Tarifpartner eingeladen werden, an einer Kommission mitzuwirken, in der sie darüber beraten dürfen, ob der Mindestlohn nächstes oder übernächstes Jahr angehoben werden soll. Im Gesetzentwurf steht schon, dass dann, wenn sie sich nicht einig werden, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales das erledigt. Auf gut Deutsch: Dieser Gesetzentwurf der Sozialdemokraten ist nichts anderes als ein Misstrauensantrag gegen die Tarifpartner in Deutschland. ({5}) Warum soll eigentlich noch ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin einer Gewerkschaft beitreten, warum soll ein Unternehmen einem Arbeitgeberverband beitreten, ({6}) wenn die Tarifpolitik in Wahrheit im Parlament und in der Bundesregierung gemacht wird und der Beitritt zu einer Gewerkschaft oder zu einem Arbeitgeberverband für die Tarifgestaltung überhaupt keine Bedeutung mehr hat? ({7}) Wer mit staatlicher Lohnfestsetzung beginnt, Herr Heil - das wäre der Beginn einer staatlichen Lohnfestsetzung -, schwächt in Wahrheit die Gewerkschaften wie die Arbeitgeberverbände, untergräbt die Arbeit der Tarifpartner und beschädigt das Erfolgsrezept, das wir bei der Lohnfindung in Deutschland bisher hatten. Peter Weiß ({8}) ({9}) Im Gegensatz dazu ist der Beschluss des Bundesparteitags der CDU vom November des vergangenen Jahres ein wegweisender Beschluss, ({10}) der deutlich macht: Wir wollen die Tarifpartner stärken. ({11}) Unser Beschluss lautet: Wir wollen eine gemeinsame Kommission der Tarifpartner, der Gewerkschaften und Arbeitgeber, die miteinander eine allgemeine untere Lohngrenze verhandeln können, die anschließend durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Das heißt, die Verantwortung für die Lohnfindung bleibt dort, wo sie hingehört: bei den Tarifpartnern. ({12}) Es ist ein Vorschlag, der die Tarifpartner stärkt: Wer gute Mindestlöhne will, muss in die Gewerkschaft eintreten. Wer als Arbeitgeber mitreden will, muss in den Arbeitgeberverband eintreten. Es muss frei miteinander verhandelt werden. Lohnpolitik gehört nicht in das Parlament, sie gehört nicht in die Bundesregierung; sie gehört dorthin, wo der Sachverstand dafür stets vorhanden ist, nämlich bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. ({13}) Die Tarifpartner haben in der Vergangenheit in den verschiedensten Situationen gezeigt, dass sie zu sachgerechten Lösungen sehr wohl imstande sind. Mit der in Deutschland gewachsenen Tradition der Sozialpartnerschaft verfügen wir über ein Modell, das staatlichen Eingriffen weit überlegen ist - es ist übrigens international anerkannt - und für das wir von vielen beneidet werden. ({14}) Es ist nicht lange her, dass das Zusammenspiel der Sozialpartner den entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise geleistet hat. Deshalb finde ich: Eine solche Ohrfeige, wie sie hier von den Sozialdemokraten ausgeteilt wird, haben die Tarifparteien nicht verdient. ({15}) Mit dem System der Tarifautonomie sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland letztlich auch stets gut gefahren. Richtig ist, dass wir heute in vielen Bereichen eine geringe Tarifbindung und einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad haben. ({16}) Genau das veranlasst uns als Union ja dazu, eine Regelung zusätzlich vorzuschlagen, über die wir mit unserem Koalitionspartner in den nächsten Wochen und Monaten verhandeln wollen. ({17}) - Da gerade bei den Sozialdemokraten Parteitagsbeschlüsse angeblich eine so hohe Bedeutung haben, bitte ich doch, das auch der CDU zuzubilligen. ({18}) Weil eben in Teilbereichen nur diese geringe Bindung vorhanden ist, wollen wir eine Regelung schaffen, nach der über die Branchen hinaus, in denen schon heute Mindestlöhne bestehen, die Tarifpartner miteinander eine allgemeine Lohnuntergrenze verhandeln können. Ich glaube, dass dieses Modell letztlich genau den Erfolg haben wird, den gute und starke Tarifpartner bei Tarifverhandlungen auch bisher zustande gebracht haben. Deshalb gilt für uns in dieser Debatte über untere Lohngrenze und Mindestlöhne in Deutschland: Wir wollen in der Lohnpolitik an das Erfolgsrezept der sozialen Marktwirtschaft anknüpfen. Das heißt: Nein zum Staatsinterventionismus, Ja zu starken Tarifparteien und Ja zu Tariflöhnen. Vielen Dank. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Enkelmann, zur Geschäftsordnung?

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Kollege Weiß hat in seinem Beitrag deutlich gemacht, dass das Thema, über das wir hier debattieren, für das gesamte Haus sehr wichtig ist. Er sprach darüber, dass es dazu Verhandlungen innerhalb der Koalition gibt. Wir meinen schon, dass dann auch die zuständige Ministerin im Plenum anwesend sein sollte und nicht nur der Staatssekretär. ({0}) Unsere Fraktion fordert deswegen die Herbeirufung der Ministerin Frau von der Leyen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wünscht jemand das Wort dazu, oder ist das allgemeiner Konsens? ({0}) - Das ist offensichtlich der Fall. Hat die Bundesregierung einen Hinweis für mich, wo sich die Ministerin befindet? ({1}) - Deswegen frage ich. Ich habe keine offizielle Entschuldigung vorliegen. Dann unterbreche ich die Sitzung. ({2}) - Ich habe zweimal nachgefragt. - Es gibt jetzt doch eine Wortmeldung aus der Unionsfraktion.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe Frau Enkelmann so verstanden, dass sie möchte, dass die Ministerin anwesend ist. Aber offensichtlich legt sie doch nicht so viel Wert darauf, dass die Ministerin kommt, weil sie dazu keinen Antrag stellt. Wir sehen keine Notwendigkeit, dass die Ministerin an dieser Debatte teilnimmt. Das Ministerium ist durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Brauksiepe vertreten. Es handelt sich um die Beratung der Beschlussempfehlungen des Ausschusses. Da ist es ohnehin nicht üblich, dass Minister noch das Wort ergreifen. Wir sehen jedenfalls keine Veranlassung, sie herbeizurufen, zumal uns dieses Thema regelmäßig beschäftigt und die Ministerin zu Anträgen der Opposition immer wieder das Wort ergriffen hat und die Positionen dazu klarliegen. Es besteht also keine Veranlassung, die Ministerin herzubitten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut. Frau Enkelmann hat dies beantragt. Ich hatte gefragt, ob es dazu eine Gegenrede gibt, und Sie hatten durch Kopfnicken vorerst signalisiert, dass Sie einverstanden sind. ({0}) Nun haben Sie deutlich gemacht, dass die Unionsfraktion diesen Konsens nicht mitträgt. Wir stimmen also ab, ob die Frau Ministerin herbeigerufen wird. Ich bitte diejenigen, die für die Herbeirufung der Bundesministerin sind, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? ({1}) Das Präsidium ist sich leider in der Feststellung des Abstimmungsergebnisses nicht einig. ({2}) Also machen wir einen Hammelsprung. Ich bitte Sie, den Plenarsaal zu verlassen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der FDPFraktion, erstens sich zu erheben und zweitens sich auf den Weg zum Ausgang zu machen. Ich kann mir ja vorstellen, dass Sie manches beschwert. Aber jetzt ist erst einmal Hammelsprung aufgerufen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die es noch nicht geschafft haben, durch die Tür zu gehen, dies jetzt zu tun. - Sind alle drei Türen geschlossen? - Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind an ihren Plätzen, und die Türen sind verschlossen. Dann können wir die Türen öffnen und mit dem Hammelsprung beginnen. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die sich noch vor den Türen befinden, den Saal wieder zu betreten. Nach unserem Überblick ist dies ohne Weiteres möglich. Die Türen werden geschlossen. Die Abstimmung ist damit beendet. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis der Auszählung mitzuteilen. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit ich das Ergebnis der Abstimmung über die Herbeizitierung der Bundesministerin bekannt geben kann: 138 Kolleginnen und Kollegen haben mit Ja gestimmt, 190 Kolleginnen und Kollegen haben mit Nein gestimmt. Enthalten hat sich keine Kollegin bzw. kein Kollege. Damit ist dieser Antrag abgelehnt. ({3}) Zur Erklärung für all diejenigen, die diesem ungewohnten Prozedere das erste Mal beiwohnen: Wir haben bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass der Deutsche Bundestag auch jetzt, um 11.25 Uhr, noch beschlussfähig ist. ({4}) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Tagesordnungspunkt jetzt nicht mehr teilhaben können, uns zu ermöglichen, in dieser Debatte fortzufahren, das heißt, die Gespräche, die unbedingt notwendig sind, vor den Plenarsaal zu verlagern. Diese Bitte richte ich an Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen und im Übrigen auch an die Regierungsbank. Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({5})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in Zeiten wie diesen im Deutschen Bundestag in einer öffentlichen Debatte redet, dann taucht immer wieder ein Begriff auf, der im Hinblick auf das Vertrauen der Menschen in demokratische Politik so etwas wie die knappste Ressource zu sein scheint, nämlich der Begriff der Glaubwürdigkeit. Willy Brandt hat einmal gesagt, wie Glaubwürdigkeit entsteht: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Deshalb tun wir Sozialdemokraten das, was wir sagen, und legen heute diesem Haus in zweiter und dritter Lesung unseren Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Herr Weiß, ich finde, das ist ein Unterschied zu dem, was Sie hier geboten haben. Bei Ihnen klaffen Reden und Handeln meilenweit auseinander. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! ({0}) Viel über den Mindestlohn zu schwadronieren, aber keinen Gesetzentwurf vorzulegen, das ist kein Ruhmesblatt. Wir schlagen vor, in Deutschland einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, gibt Gelegenheit, die Lebenssituation von über 5 Millionen Menschen in Deutschland zu verbessern, von 16 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bisher weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Unter dem Strich helfen wir damit nicht nur den Menschen - das alleine wäre bereits ein Grund, dem Gesetzentwurf heute zuzustimmen -, sondern auch den öffentlichen Kassen und somit der Gesellschaft insgesamt. Eine Studie des renommierten Prognos-Instituts hat nachgewiesen, dass die fiskalischen, die finanzpolitischen Wirkungen der Einführung eines Mindestlohns für die öffentlichen Haushalte zu einem Plus von 7 Milliarden Euro führen würden, und zwar durch steigende Erwerbseinkommen für private Haushalte und damit steigende Steuer- und Beitragseinnahmen, durch eine Stärkung der Binnennachfrage, was gerade in Zeiten wie diesen sehr wichtig ist, und nicht zuletzt durch sinkende Sozialausgaben. Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen trotz Vollzeitarbeit ergänzend Arbeitslosengeld II vom Amt abholen müssen, sagen wir: Es muss Schluss damit sein, dass wir immer mehr Armutslöhne in diesem Land mit Steuergeldern aufstocken müssen. Das darf nicht sein; das wollen wir beenden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den bisherigen Regierungsfraktionen, ein Mindestlohn ist auch ordnungspolitisch geboten, weil es um fairen Wettbewerb geht, weil wir die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die ihre Leute anständig bezahlen wollen, vor Dumpingwettbewerb schützen wollen. Es muss um den Wettbewerb um die besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen gehen; es darf nicht um die niedrigsten Löhne in Deutschland gehen. ({2}) Wir haben uns angehört, was Herr Weiß vorhin gesagt hat. Herr Weiß, bei allem gebotenen Ernst: Ich nehme Ihnen persönlich ab, dass Sie Gutes wollen; das unterstelle ich Ihnen in dieser Frage. Ich sage Ihnen: Wir müssen uns in den Wahlkämpfen, auch im kommenden Bundestagswahlkampf, nicht streitig mit dem Thema Mindestlohn auseinandersetzen; wir müssen das nicht. Wir können - unsere Hand ist ausgestreckt - noch in dieser Legislaturperiode zu einer zureichenden Lösung kommen, zu einer vernünftigen Lösung, die den Menschen hilft. Ich will Ihnen sagen, was wir damit meinen: Erstens. Wir wollen, wie auch Sie, den Vorrang der Tarifautonomie in Deutschland beibehalten. Wir wollen, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in Lohnverhandlungen auf Augenhöhe Löhne festsetzen; das soll der Regelfall bleiben. ({3}) Zweitens. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, wollen wir - das konstatieren Sie auch - einen Vorrang für branchenspezifische Mindestlöhne nach dem Tarifvertragsgesetz und dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Auch da könnten wir gemeinsam etwas machen: Wir könnten es erleichtern, dass tarifvertragliche branchenbezogene Mindestlöhne zustande kommen. Ich will Ihnen eines sagen: Sie rühmen sich hier, zum 1. Januar in drei Branchen Mindestlöhne eingeführt zu haben. Ich kann mich ganz gut erinnern - die Kollegin Pothmer auch -, wie mühsam wir Ihnen diese Mindestlöhne in den Bereichen der Zeit- und Leiharbeit, des Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildung in den Verhandlungen abringen mussten. ({4}) Ich sage Ihnen: Wir könnten es einfacher machen, indem wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ändern und jeder Branche, die das will und kann, die Möglichkeit eines branchenspezifischen Mindestlohns nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Frage des Kollegen Wadephul?

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich nur wünschen. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und auf Ihr Angebot einzugehen, gemeinsam darüber zu diskutieren. Das, was Sie gerade vorgetragen haben, findet sich aber sämtlich nicht in Ihrem Gesetzentwurf wieder. Werden Sie deshalb in dieser Debatte, bei diesem Tagesordnungspunkt Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und damit gegebenenfalls ermöglichen, dass man zu gemeinsamen Regelungen kommt, oder werden Sie diesen Gesetzentwurf inkonsequenterweise zur Abstimmung stellen? ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese Frage ausgesprochen dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, diesen Zusammenhang zu erläutern. Ich habe eben gesagt: Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen. Ich erwähne das, weil Herr Weiß das angesprochen hat und dabei insinuiert hat, unterstellt hat, wir würden die Tarifautonomie infrage stellen. Herr Wadephul, ich frage Sie an dieser Stelle einmal - die Frage ist offen -: Wären die Gewerkschaften in diesem Land für einen gesetzlichen Mindestlohn, wenn es stimmen würde, dass seine Einführung die Gewerkschaften schwächt? ({0}) Deshalb ist der Zusammenhang klar. Herr Wadephul, unser Vorschlag an Sie ist: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass es einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen gibt, damit wir zu fairen Löhnen in Deutschland zurückkehren. Das wird durch unseren Gesetzentwurf nicht verunmöglicht; im Gegenteil: Er stärkt, wie ich gleich zeige, die Tarifautonomie. Wir wollen einen Vorrang für Mindestlöhne in einzelnen Branchen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz; sie sind schon jetzt möglich, aber wir wollen es einfacher machen. Ich sage Ihnen: Wir brauchen gleichwohl ({1}) - diese Klarstellung müssen Sie sich gefallen lassen eine verbindliche Lohnuntergrenze und einen gesetzlichen Mindestlohn. Das unterscheidet uns möglicherweise noch. ({2}) Wenn ich mir Ihren Antrag und Beschluss vom Parteitag in Leipzig anschaue, dann fällt mir Folgendes auf: Sie sagen, dass Sie einen Mindestlohn oder eine gesetzliche Lohnuntergrenze für die Bereiche wollen, in denen es keine Tarifverträge gibt. Ich sage Ihnen: Das ist schon heute über das Mindestarbeitsbedingungengesetz rechtlich möglich, nur funktioniert es leider nicht. ({3}) - Herr Wadephul, bleiben Sie bitte stehen. Ich will die Frage, die Sie gestellt haben, beantworten. - Frau Präsidentin, ich finde es ein bisschen ungehörig, eine Frage zu stellen und sich dann hinzusetzen. ({4}) Aber okay: So sind die Bürgerlichen im Moment. ({5}) Herr Wadephul, ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir brauchen eine gesetzliche Lohnuntergrenze auch in den Bereichen, in denen die Tarifautonomie einfach nicht mehr funktioniert. Die berühmte Friseurin in Thüringen, die 3,18 Euro pro Stunde verdient, erhält diesen Lohn gemäß Tarifvertrag. Wir wollen die Lebenssituation dieser Menschen konkret verbessern. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Das gehört zusammen. ({6}) Unser Angebot steht: Sie von der Koalition können heute ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn Sie sich auf diesen Weg einlassen. Das werden Sie aller Voraussicht nach nicht tun, auch weil Ihr Koalitionspartner Sie wieder einmal an einem richtigen Schritt hindert. In diesem Zusammenhang muss ich der FDP an einer Stelle ausnahmsweise recht geben. Herr Kollege Vogel von der FDP, ich habe heute im Handelsblatt gelesen, dass Sie die Position der Union schön umschrieben haben: Sie verstünden nicht genau, was die Union in diesem Bereich wolle. Am Ende des Tages sei das ein kräftiges Jein der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Sachen Mindestlohn. ({7}) Wo die FDP recht hat, hat sie recht: Sie eiern in dieser Frage herum. ({8}) Deshalb habe ich mich an den Lateinunterricht erinnert, den ich vor mehr als 20 Jahren hatte. ({9}) Da haben wir gelernt, was der Begriff „Placebo“ bedeutet. Placebo heißt - ich musste noch einmal nachgucken wörtlich übersetzt „Ich werde gefallen“. Im gemeinen Sprachgebrauch nehmen wir den Begriff „Placebo“ heute für Arzneimittel, die keine Wirkung entfalten. Deshalb kann man das, was Sie auf dem Parteitag in Leipzig beschlossen haben, tatsächlich nur als einen Pla18342 Hubertus Heil ({10}) cebo-Mindestlohn beschreiben. Sie wollen gefallen, aber Sie bewirken nichts mit dem, was Sie da beschließen. Auch hier gilt Willy Brandt: Politik, die nicht dazu beiträgt, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern, soll uns in diesem Land gestohlen bleiben. ({11}) Herr Weiß und Herr Schiewerling, ich nehme Ihnen ab, dass Sie Gutes wollen. Ich bezweifle nur, dass Sie eine Mehrheit im eigenen Laden und eine Mehrheit in dieser Koalition haben. Dass die Kanzlerin in dieser Frage schweigt und sich im Bereich der Finanztransaktionssteuer - da ist es ähnlich - nicht gegen einen schwächelnden Koalitionspartner durchsetzen kann, ist schlimm genug. Wir könnten miteinander zu vernünftigen Lösungen kommen. Wir legen Ihnen heute einen schlanken, einen guten, einen einfachen Gesetzentwurf vor. (Dr. Johann Wadephul ({12}): Der passt nur nicht zu Ihrer Rede! Sie werden ihn ablehnen. Aber damit sind Sie das Thema nicht los. Wir wollen faire Löhne in Deutschland. Wir werden dafür sorgen, dass der Mindestlohn kommt. Wenn Sie es nicht schaffen, wird dies nach der Bundestagswahl 2013 die erste Amtshandlung einer rot-grünen Bundesregierung sein. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Heil, mit solchen „Versprechungen“, was man nach der Wahl machen werde, soll man vorsichtig sein. ({0}) - Nein, warten Sie es erst einmal ab. Der Schuss geht für Sie nach hinten los, Herr Kollege Heil. Sie haben vor der Bundestagswahl 1998 schriftlich versprochen: Als Erstes werden wir nach einer gewonnenen Bundestagswahl den demografischen Faktor, den Schwarz-Gelb eingeführt hat, abschaffen. - Das haben Sie auch getan, aber nur ganz kurz. Denn wenig später haben Sie festgestellt, das passt gar nicht zusammen, und Sie haben den demografischen Faktor als Nachhaltigkeitsfaktor wieder eingeführt. ({1}) Seien Sie also vorsichtig mit solchen Aussagen, die die Zukunft betreffen. ({2}) Das Zweite, was ich sagen will - damit ich es nicht vergesse, sage ich es vorab -: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist kein Projekt dieser schwarz-gelben Bundesregierung. ({3}) Das steht klar und unmissverständlich im Koalitionsvertrag. Und um es noch klarer zu sagen: Sie können dabei das Wort „einheitlich“ auch durch die Worte „flächendeckend“ oder „für alle Branchen geltend“ ersetzen. Das ändert an der Bewertung durch unsere Fraktion nichts. Wir stehen zum Koalitionsvertrag, und ich habe keinen Zweifel, anzunehmen, dass das bei unserem Koalitionspartner anders gesehen wird. ({4}) Herr Kollege Heil, zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie haben die Glaubwürdigkeit an den Anfang Ihrer Rede gestellt. Glaubwürdigkeit beinhaltet für mich, dass das, was man sagt, stimmen sollte, ({5}) und man sollte keine falschen Eindrücke erwecken. Da stelle ich gewisse Anforderungen an Sie persönlich - denn ich schätze Sie sehr -, aber auch an Ihre Fraktion. Ich finde, eine Partei, die von 1998 bis 2009 den Bundesarbeitsminister gestellt hat, kann nicht einfach so einen Antrag hinschmieren, wie Sie es mit dem vorliegenden Antrag offensichtlich getan haben. Ich will Ihnen das an sieben Punkten untermauern. Ich erwarte von der SPD, dass sie im Gesetz selbst und nicht nur in der Begründung - Sie sagten nämlich, wer hart arbeite, müsse davon auch leben können - klar sagt, dass ihr Mindestlohn existenzsichernd nur für alleinstehende Vollzeitbeschäftigte sein soll ({6}) und dass ihr Mindestlohn nichts daran ändern würde, dass auch in Zukunft in mehreren Hunderttausend Fällen, in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Menschen Aufstockerleistungen in Anspruch nehmen müssten, um ihr eigenes Einkommen dem tatsächlichen Bedarf anzupassen, nämlich Verheiratete und Familien mit Kindern. Das ist übrigens keine Schande - das will ich hier einmal sehr deutlich sagen -, sondern es ist eine Errungenschaft unseres Sozialstaates, dass genau diese Aufstockung des Einkommens bis zum Bedarf stattfindet. ({7}) Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass sie ihre Begründung eines Mindestlohns laufend überprüft. Sie haben in Ihrem Antrag vom Februar 2011 noch davor gewarnt, dass eine Invasion von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Osteuropa nach Deutschland unDr. Heinrich L. Kolb mittelbar bevorstünde. Die Entwicklung des letzten Jahres hat gezeigt, dass genau das nicht eingetreten ist. Deshalb hätte ich von Ihnen erwartet, dass Sie sagen, dass jedenfalls dieses Argument zur Begründung eines Mindestlohnes in Deutschland nicht mehr taugt. ({8}) Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass, wenn sie auf Seite 5 ihres Gesetzentwurfs schreibt, der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Armutslöhnen sei zwischen 1998 und 2008 von 8,3 auf 12,7 Prozent gestiegen, sie dann auch dazuschreibt: Das ist genau der Zeitraum, in dem die SPD den Arbeitsminister in diesem Land gestellt hat. ({9}) - Nein, 98. Ich habe mir das selbst herausgeschrieben; ({10}) ich schreibe meine Reden durchaus noch selbst. - Dass wir diesen Niedriglohnsektor haben, ist übrigens kein Zufall und auch nicht versehentlich passiert. Vielmehr war es ein bewusstes Ergebnis Ihrer Politik. Sie wollten einen Niedriglohnsektor; Sie haben ihn ganz aktiv angestrebt. Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, wenn sie behauptet, der wachsende Niedriglohnsektor führe zu einer Erosion der Einnahmebasis der Sozialversicherungen und des Staates, wie es auf Seite 1 ihres Antrages steht, dass sie das wenigstens überschlägig mit der Realität vergleicht. Schon ein kurzer Blick in die Beitragsund Steuerkassen hätte Ihnen gezeigt: Die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern sprudeln auf Rekordniveau in diesem Lande. Das zeigt, dass Ihre Prämisse an dieser Stelle falsch ist. Ich hätte von der SPD, Herr Kollege Heil, auch erwartet, dass sie nicht vordergründig behauptet, sie wolle selbstverständlich einen unpolitischen Mindestlohn, dann aber ein System vorschlägt, das politischer nicht sein könnte. Was passiert denn, Herr Heil, wenn die Kommission der Meinung ist, dass 8,50 Euro zu hoch sind, wenn sie der Meinung ist, dass es in Deutschland überhaupt keinen Mindestlohn geben sollte, oder sich auf keinen Mindestlohn einigen kann, was jedenfalls nicht ganz ausgeschlossen werden kann, oder wenn das BMAS an dem vorgeschlagenen Mindestlohn keinen Gefallen findet? In all diesen vier Fällen ist die Konsequenz Ihres Gesetzentwurfes - schütteln Sie nicht den Kopf; lesen Sie es in Ihrem Gesetzentwurf nach, denn dort steht es -, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, also die Politik, einen Mindestlohn in Deutschland festsetzt. Das ist für uns nicht akzeptabel. Von der SPD, Herr Kollege Heil, erwarte ich nicht nur, sondern verlange es auch, dass sie verantwortungsvoll mit der Tarifautonomie umgeht. Was ist, wenn die Tarifpartner zu dem Ergebnis kommen, dass sie von dem Mindestlohn nach unten abweichen wollen? Das wollen Sie nicht zulassen. In der Begründung zu § 8 Ihres Antrags heißt es nur lapidar, man wolle den Tarifpartnern ein Jahr Zeit zur Anpassung lassen. Da kann ich nur sagen: Respekt vor der Tarifautonomie sieht nach unserer Auffassung anders aus, Herr Kollege Heil. ({11}) Von der SPD erwarte ich auch, Herr Kollege Heil, dass sie weiß - und Sie wissen das auch -, dass man mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht, auch nach 45 Arbeitsjahren nicht, erreichen kann, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Alterssicherung haben, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten Leistung der Grundsicherung im Alter liegt. ({12}) 45 Jahre Beschäftigung mit 8,50 Euro - natürlich in Zeitwerten; das wird ja fortgeschrieben - führen aktuell zu einer Rente von 571 Euro, mithin 100 Euro unter dem Grundsicherungsniveau im Alter. ({13}) So kann man Menschen für dumm verkaufen, Herr Kollege Heil. Das lassen wir Ihnen als ehemaliger Regierungspartei einfach nicht durchgehen. ({14}) Man könnte zu Ihrem Antrag noch viel sagen. Zu dem Antrag der Grünen etwas zu sagen, lohnt sich nicht; er ist viel zu dünn, Frau Kollegin Pothmer. ({15}) Über eine grobe Skizze unverbindlichster Art geht er nicht hinaus; deshalb ist er nicht der Rede wert. ({16}) Zu den Kollegen der Linken muss man sagen, dass sie mir zu abgedreht sind. Über deren Antrag kann man auch nicht ernsthaft diskutieren. Am Ende muss ich leider sagen: Die SPD hat bei dieser Aufgabe schändlich versagt. Das hätte ich von einer ehemaligen Regierungspartei nicht erwartet. ({17}) Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen, ebenso wie die Anträge der weiteren Oppositionsparteien. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kolb, es kann sein, dass wir aus Ihrer Sicht abgedreht sind, aber Ihre Position zum Mindestlohn, einschließlich die der gesamten Koalition, ist für jeden Arbeitnehmer, der wenig Geld verdient, eine Bedrohung der Existenz. Das ist viel schlimmer, Herr Kolb. Das will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen. ({0}) Wir stimmen über einen Gesetzentwurf der SPD zum Mindestlohn ab. Seit sechs Jahren diskutieren wir über diese Frage. Sie blockieren alles. Sie sind damit für die Armut durch Arbeit in diesem Land verantwortlich, und zwar alle miteinander, so wie Sie hier sitzen. Das will ich Ihnen sagen. ({1}) Die Einführung einer allgemeinverbindlichen Lohnuntergrenze ist dringend notwendig. Es stimmt, was in Ihrem Gesetzentwurf steht: Jeder fünfte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnbereich, 1,15 Millionen für weniger als 5 Euro in der Stunde. Herr Kolb, für dieses Geld würden Sie morgens nicht einmal das Augenlid heben, um das einmal deutlich zu sagen. ({2}) 3,4 Millionen arbeiten für weniger als 7 Euro die Stunde. Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2008. Inzwischen haben die Probleme in diesen beiden Lohnsegmenten deutlich zugenommen. Im SPD-Antrag, mit dem wir uns natürlich auseinandersetzen müssen, heißt es: Zwischen 1998 und 2008 ist der Anteil der Beschäftigten mit Armutslöhnen von 8,3 Prozent auf 12,7 Prozent gestiegen. - Das ist eine Steigerung um 50 Prozent. Das Problem hat sich seit 1998 dramatisch verstärkt. Liebe Genossinnen und Genossen von der sozialdemokratischen Partei, an dieser Stelle hat Herr Kolb recht; denn Sie müssen sich schon die Frage stellen: Wer hat damals regiert? Was ist in Ihrer Regierungszeit passiert, dass die Armutslöhne in unserem Land plötzlich so zugenommen haben? Es war Ihre Regierung, die die Leiharbeit geradezu gefördert hat. ({3}) - Herr Kolb, Sie haben übrigens immer zugestimmt. Da brauchen Sie gar nicht versuchen, sich herauszureden. Die Schutzregelungen für Arbeitnehmer bei befristeten Arbeitsverhältnissen wurden gelockert. Es war letztendlich die Agenda 2010 - die Sie heute wieder verteidigen -, die dazu geführt hat, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Arbeit aller Art anzunehmen haben, auch wenn es nur 1 Euro dafür gibt. Deshalb haben Sie das Problem mit verursacht. Sie sind nicht die Lösung, Sie sind die Ursache des Problems, liebe Genossinnen und Genossen, das muss ich euch leider sagen. ({4}) Es ist zwar recht und schön, wenn man die Feuerwehr ruft, wenn es nicht mehr geht, aber wenn man vorher den Brand selber gelegt hat, dann ist das nicht glaubwürdig. Liebe Genossinnen und Genossen - ({5}) - Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, ({6}) die CDU/CSU hat das, was ihr gemacht habt, immer sehr gefreut, sie freut es noch heute. Ihr wart der Türöffner für eine Entwicklung, die die Konservativen gefreut hat. Dies alles hat im Ergebnis dazu geführt - Sie berufen sich gerne auf den DGB und die Tarifautonomie -, dass der Vorsitzende des DGB Ihnen allen ins Stammbuch schreibt, dass Arbeit in unserem Land so billig geworden ist wie Dreck. Deswegen brauchen wir einen Mindestlohn, was Sie verhindern. Insofern ist der Gesetzentwurf der Sozialdemokraten durchaus richtig, weil er in die richtige Richtung geht. Wir müssen mithelfen, ein Problem zu lösen, für das Sie selbst maßgeblich verantwortlich sind. Aber 8,50 Euro als Mindestlohn reichen nicht aus. Herr Kolb hat hier im Übrigen auch recht. ({7}) In Ihrem Gesetzentwurf weisen Sie richtigerweise darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Rentenhöhe und den Löhnen gibt. Klar ist, dass zu niedrige Löhne zu niedrigen Renten führen. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf - ich zitiere -: Mit einem ausreichenden Mindestlohn würde erreicht, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Alterssicherung erreichen können, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten Leistungen der Grundsicherung im Alter liegt. Das stimmt. Leider tritt das bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht ein. ({8}) Ich habe die Bundesregierung gefragt: Wie hoch müsste denn ein Lohn sein, damit ein entsprechendes Rentenniveau erreicht wird? Ich habe eine Antwort bekommen. Die würde ich Ihnen gerne vortragen. Die Antwort ist nämlich eindeutig. Am 11. Mai habe ich vom Bundesministerium für Arbeit mitgeteilt bekommen: Um eine Nettorente im Alter in Höhe von 684 Euro ({9}) zu erreichen, wäre rechnerisch ein Stundenlohn von 10 Euro erforderlich. Herr Heil, das ist das Problem. ({10}) Es tut mir leid: Mit Ihrem Antrag werden Sie Ihren eigenen Anforderungen nicht gerecht. 10 Euro Mindestlohn sind notwendig, damit Menschen, die ihr ganzes Leben, also 45 Versicherungsjahre lang, vollzeitbeschäftigt waren, später eine Rente erhalten, für die sie nicht zum Amt gehen müssen. Das wird mit Ihrem Antrag nicht erreicht. ({11}) Es ist bereits auf die Studie des Schweizer Forschungsunternehmens Prognos hingewiesen worden; Herr Heil, Sie haben das getan. Ich möchte betonen, dass bei einem Mindestlohn von 10 Euro der Einkommenszuwachs mehr als 26 Milliarden Euro betragen würde. ({12}) So sagt es Prognos. Das ist deutlich mehr als das, was durch Ihren Gesetzentwurf zu erwarten wäre. Von uns allen hier hängt ab, ob wir letztendlich ein entsprechendes Gesetz beschließen werden. Wir werden Ihrem Antrag zustimmen, weil er in die richtige Richtung geht, auch wenn der Betrag noch nicht stimmt. ({13}) Ich sage allen, die dagegen stimmen werden, dass Arbeit auch etwas mit Würde zu tun hat. Wenn Menschen vollzeitbeschäftigt sind und von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, dann nimmt man ihnen die Würde. Ich sage Ihnen, dass es dringend notwendig ist, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. ({14}) Das erreichen wir, wenn wir einen gesetzlichen Mindestlohn einführen. Ich bitte Sie: Reißen Sie sich in diesem Zusammenhang einmal am Riemen! ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist allein in dieser Legislaturperiode die siebte Debatte zum Thema Mindestlohn. ({0}) Aber, Hubertus, es gibt immerhin einen kleinen Fortschritt. Das Bohren dicker Bretter hat sich gelohnt. Wir reden heute nicht mehr ernsthaft über die Frage, ob es einen Mindestlohn geben soll, sondern wir reden heute über die Frage, Herr Kolb, wie dieser Mindestlohn ausgestaltet werden wird. ({1}) Diese Frage ist alles andere als trivial. Wenn Frau von der Leyen - ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: ich finde es nicht hinnehmbar, dass sie bei einer solchen zentralen arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht anwesend ist ({2}) bei ihrer Position bleibt, nämlich einen Mindestlohn nur für die Bereiche einzuführen, in denen es keine Tarifverträge gibt, dann springen Sie mit diesem Ansatz deutlich zu kurz. Sie können doch die Friseurin aus Sachsen mit einem Tariflohn von 3,06 Euro nicht dafür bestrafen, dass sie sich im Tarifsystem befindet. Sie können doch die Floristin aus Thüringen nicht dafür bestrafen. Das Gleiche gilt für die vielen Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Gartenbau und in der Landwirtschaft. ({3}) Wenn diese Beschäftigten vom Mindestlohn profitieren wollen, dann müssen sie aus dem Tarifsystem aussteigen. Wenn Sie das machen, was Sie angekündigt haben, dann ist das ein Projekt zur Forcierung der Tarifflucht. Das können Sie nicht wirklich wollen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Weiß? ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Pothmer, ich möchte Sie nur um eine sachliche Klarstellung bitten: Würden Sie bitte dem Hohen Hause und auch der Öffentlichkeit sagen, dass die von Ihnen genannten Tarifverträge, die in der Tat eine sehr geringe Entlohnung vorsehen, die wir alle uns eigentlich gar nicht vorstellen können, zum Teil seit zehn Jahren gekündigt sind und nur noch die sogenannte Nachwirkung entfalten?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sind trotzdem weiterhin wirksam. Herr Weiß, weil Sie das wissen - ganz offensichtlich anders als Frau von der Leyen -, haben Sie in Ihrem Vorschlag, den die Arbeiternehmergruppe zur Umsetzung des Beschlusses des CDU-Parteitags vorgelegt hat, vorgesehen, dass diese Nachwirkungsfrist auf ein Jahr begrenzt wird; denn Sie wollen das, was Frau von der Leyen will, ganz offensichtlich nicht. Sie wollen mit Ihrem Beschluss erreichen, dass auch die Leute, in deren Branchen es Tarifverträge gibt, vom Mindestlohn profitieren. Das ist richtig. Das unterstützen wir im Übrigen. ({0}) Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Welche Haltung nimmt der Wirtschaftsflügel der CDU zu Ihren Vorschlägen ein? Bisher war es leider so, dass die gutgemeinten Vorschläge der CDA immer so weit ausgehöhlt worden sind, dass sie am Ende überhaupt keine Substanz mehr entfaltet haben. ({1}) Frau von der Leyen - sie ist ja nicht da -, in einer solchen Situation, in der der Arbeitnehmerflügel der CDU etwas vorlegt und der Arbeitgeberflügel der CDU dem widerspricht, kommt es zentral auf die Arbeitsministerin an. Sie muss jetzt zeigen, auf welcher Seite sie eigentlich steht. Sie hat in einem Interview mit der HAZ gesagt, sie wolle sich mit Verve dafür einsetzen, dass es noch in dieser Legislaturperiode einen Mindestlohn gibt. ({2}) Von dieser Verve konnte jedenfalls ich bisher nicht viel erkennen. ({3}) Bisher jedenfalls - das zeigt ihre Abwesenheit bei der heutigen Debatte zum x-ten Mal - hat sie sich nicht gerade als Speerspitze der Mindestlohnbewegung gezeigt. Wenn überhaupt, war sie vielleicht eine Mitläuferin. Der CDU-Parteitagsbeschluss ist Herrn Laumann zu verdanken. ({4}) Der Vorschlag zur Umsetzung dieses Beschlusses kommt aus der Arbeitnehmergruppe Ihrer Fraktion. Frau von der Leyen ist die Prokura in Sachen Mindestlohn ganz offensichtlich endgültig entzogen worden. Dabei müsste sie jetzt in die Debatte eingreifen. Sie müsste die Skeptiker in ihrer Fraktion mit Fakten überzeugen. Die Fakten, meine Damen und Herren, sind hier x-fach genannt worden. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Nahezu 3,6 Millionen Menschen arbeiten für Löhne unter 7 Euro die Stunde. 1,3 Millionen Beschäftigte müssen, obwohl sie hart arbeiten, noch zum Jobcenter gehen, um sich Finanzspritzen zu holen. ({5}) Das ist entwürdigend, und das ist teuer für die Gesellschaft. ({6}) Jeder vierte Beschäftigte, der arbeitslos wird, fällt sofort in Hartz IV, weil die Löhne so skandalös gering sind. Dass Mindestlöhne keine Arbeitsplätze bedrohen, haben die Studien, die Sie selber in Auftrag gegeben haben, endgültig unter Beweis gestellt. ({7}) Unter dem Strich ist festzustellen: Für viele Menschen ist Ihr Slogan „Arbeit soll sich wieder lohnen“ wirklich purer Hohn. Für diese Menschen gilt etwas ganz anderes: Armut trotz Arbeit. Das, finde ich, ist ein sozialpolitischer Skandal, der mit der sozialen Marktwirtschaft nicht zu vereinbaren ist. ({8}) Herr Kolb, jetzt zu Ihnen. Das, was ich gesagt habe, sehen Ihre Wählerinnen und Wähler ganz offensichtlich haargenau so. Eine Umfrage des Instituts Infratest dimap aus dem Jahre 2009 kam zu dem Ergebnis, dass über 70 Prozent der FDP-Wählerinnen und -Wähler für einen Mindestlohn sind, Herr Kolb. ({9}) Neuere Zahlen kann ich Ihnen leider nicht vorlegen. Das hängt damit zusammen, dass die Zahl der Wählerinnen und Wähler der FDP so weit geschrumpft ist, dass ihre Auffassungen nicht mehr messbar sind. Das kann Sie aber nicht ernsthaft wundern. Sie arbeiten doch mit Hochdruck daran, Ihre Umfragewerte in den Keller zu treiben. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für den Mindestlohn. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für die Finanztransaktionsteuer. ({10}) Aber hier im Bundestag blockieren Sie all die Projekte, die Ihre Wählerinnen und Wähler wollen. Daher müssen Sie sich nicht wundern, dass Sie inzwischen bei 2 Prozent gelandet sind. ({11}) Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 könnte das Jahr des Mindestlohns werden. Die Bevölkerung will ihn. Die Vorschläge der Opposition liegen auf dem Tisch. Es gibt auch einen entsprechenden CDU-Parteitagsbeschluss. Wenn die Union ihre sozialpolitische Glaubwürdigkeit nicht vollkommen verlieren will, dann muss sie jetzt etwas vorlegen - mit oder ohne FDP. Ich danke Ihnen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die Unionsfraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig: Wir in der CDU haben uns die Debatte um Mindestlöhne und Lohnuntergrenzen nicht einfach gemacht. Die Union war und ist der Meinung, dass ein Lohn dann ungerecht ist, wenn er von einer Seite festgelegt ist, sei es von den Arbeitgebern, sei es vom Staat. Deswegen haben wir lange - vielleicht viel zu lange - ausschließlich auf die Tarifautonomie gesetzt. Im Prinzip ist es richtig: Löhne von den Tarifpartnern verbindlich aushandeln zu lassen, ist der beste Weg, und er sorgt für gerechte Löhne. Wir haben aber auch anerkennen müssen, dass die Bindungswirkung von Tarifverträgen abnimmt auch als unbeabsichtigte Folge staatlichen Handelns, nämlich der Hartz-IV-Gesetze. Nun stellte sich für uns die Frage: Wie finden wir ein möglichst sinnvolles Verfahren, das die Grundidee der Tarifautonomie und die Grundidee gerechter Löhne in dieser neuen Situation miteinander verbindet? Das Ergebnis war der Beschluss von Leipzig. Hier wird schon ein Merkmal deutlich, das uns von den Sozialdemokraten unterscheidet: Wir haben sehr intensiv darum gerungen und darüber nachgedacht, wie ein gerechter Mindestlohn zustande kommt. Die SPD und ihre geistigen Milchbrüder von den Linken haben darüber geredet, wie hoch er sein soll. ({0}) Ich weiß, dass es in der Sozialdemokratie und bei den Linken eine Tradition gibt, die Parteitagsbeschlüsse bei der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit zur Bibel zu machen, aber mir ist bis heute noch nicht ganz klar, aufgrund welcher Eingebung Sie zu den verbindlichen Zahlen von 8,50 Euro bzw. 10 Euro Mindestlohn kommen. ({1}) Nun hat die SPD einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich halte den Gesetzentwurf für schlecht, und zwar nicht, weil das gewissermaßen in der - ({2}) - Der Kollege Heil.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich wollte Sie nicht mitten im Satz unterbrechen, aber wenn Sie schon freiwillig aufhören.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für den Kollegen höre ich gerne mitten im Satz auf.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Kollege.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zimmer, weil Sie nicht begriffen haben, wie wir auf 8,50 Euro kommen: Können Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das keine willkürlich herausgegriffene Zahl, sondern der Betrag ist, mit dem zumindest dafür gesorgt würde, dass ein Alleinstehender, der vollzeitbeschäftigt ist, kein ergänzendes Arbeitslosengeld II mehr braucht? Deshalb kamen wir auf 8,50 Euro. Das ist ganz einfach zu berechnen und müsste sich auch Ihnen erschließen. Sie müssen unsere Meinung ja nicht teilen, aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen, wir hätten gewürfelt. Ich sage Ihnen: Das, was vorhin gesagt wurde, stimmt. Natürlich wird eine Grundsicherung notwendig sein, wenn ein Angehöriger hinzukommt, aber wir würden im diesem Bereich Millionen von Arbeitnehmern helfen und auch Mittel für die Grundsicherung sparen. ({0}) Meine Bitte ist deshalb, dass Sie das einfach zur Kenntnis nehmen.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heil, ich unterbreche meine Rede für Ihre sehr intellektuellen Zwischenfragen immer gerne. 18348 Gleichwohl gebe ich an dieser Stelle doch einmal zu bedenken: Sie wollen einen Mindestlohn von 8,50 Euro gewissermaßen flächendeckend einführen. ({0}) Ich komme aus Frankfurt. Dort ist es mit 8,50 Euro wahrscheinlich nicht getan. In anderen Landesteilen reichen diese 8,50 Euro aus. ({1}) Insofern halte ich das, was Sie hier vortragen, dass nämlich 8,50 Euro gewissermaßen der Schlüssel- bzw. Zauberbetrag ist, durch den sich die soziale Wirklichkeit endgültig zum Besseren entwickelt, für problematisch. Diesen Optimismus teile ich nicht. - Danke schön. ({2}) Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, den ich für staatsrechtlich bedenklich und handwerklich schlecht gemacht halte. ({3}) Schauen wir in Art. 1. Dort heißt es: ({4}) Als unterste Grenze des Arbeitsentgelts wird der Mindestlohn festgesetzt. Er soll vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein ihre Existenz sicherndes Einkommen gewährleisten … Hier habe ich erst einmal gestutzt. ({5}) Normalerweise wird in einführenden Paragrafen über den Geltungsbereich eines Gesetzes gesprochen. Will die SPD den Mindestlohn nur für Vollzeitbeschäftigte und nicht für Teilzeitbeschäftigte? Nein, natürlich nicht. Ich vermute einmal, Sie haben hier nur ein wenig Prosa in den Gesetzentwurf hineingeschrieben. Diese Prosa hat hier aber nichts zu suchen. ({6}) Sie führt nur zu Verwirrung und schlimmstenfalls zu Rechtsunsicherheit. Zur Festsetzung des Mindestlohns. In § 4 Abs. 1 Ihres Entwurfs heißt es: ({7}) Die Mindestlohnkommission schlägt unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes, danach jeweils zum 31. August eines jeden Jahres den Mindestlohn durch Beschluss vor. Ein wenig später heißt es in Abs. 5: ({8}) Schlägt die Mindestlohnkommission bis zu dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt keinen Mindestlohn vor, bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Mindestlohn … ({9}) Also: Schlägt die Mindestlohnkommission nicht unverzüglich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einen Mindestlohn vor, bestimmt das Ministerium. Da Sie in § 4 Abs. 2 bereits festgelegt haben, dass der Mindestlohn mindestens 8,50 Euro beträgt, wird er dann unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs vom Ministerium erhöht, weil Sie in diesem Absatz ja auch festgelegt haben, dass nur ein höherer Mindestlohn vorgeschlagen werden kann. Das ist ein politischer Dreisprung, gegen den sich die Echternacher Springprozession harmlos ausnimmt. ({10}) Der Kollege Heil hat von der Tarifautonomie gesprochen und davon, dass er sie hochhält. Mir scheint hingegen: Es ist im Wesentlichen das Ministerium für Arbeit und Soziales, das in dem ganzen Prozess, den Sie hier vorschlagen, eine herausragende Rolle spielt. ({11}) Das Ministerium benennt den Vorsitzenden der Kommission, die dann noch acht weitere Mitglieder enthält. Über die Abstimmungsmodalitäten sagen Sie nichts. Ich vermute einmal, dass der Vorsitzende gewissermaßen der Tiebreaker sein wird. Das Ministerium kann, wenn die Kommission zu keiner Einigung gekommen ist, einen Mindestlohn bestimmen und durch Rechtsverordnung festlegen. Das Ministerium kann den Mindestlohn, wenn ihm die von der Kommission festgelegte Höhe nicht passt, ablehnen. Das Ministerium hat also ein Vetorecht. Was Sie hier vorschlagen, Herr Heil, ist ein mindestlohnpolitisches Ermächtigungsgesetz für das Ministerium für Arbeit und Soziales. ({12}) Ich habe keine Sorge, Herr Heil, ({13}) dass unsere Ministerin mit einer solchen Machtfülle nicht verantwortlich umgehen würde. Aber bei Ihnen habe ich da meine Zweifel. Vor jeder Wahl würde ein SPD-geführtes Ministerium Lohngeschenke machen können. Sie wären Ihrem alten Traum näher gekommen, Wahlgeschenke auf Kosten Dritter machen zu können. ({14}) Ich sage hingegen, Herr Heil, auch gegen das Gebrüll, das von Ihnen kommt: Ein Lohn ist ungerecht, wenn er in der Weise, die Sie vorschlagen, vom Staat festgelegt werden kann. Letzter Punkt. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf in § 1 Abs. 2, dass die Festsetzung des Mindestlohns unter Berücksichtigung der Beschäftigungseffekte, des Existenzminimums und der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen erfolgt. Gleichzeitig schreiben Sie aber auch, dass sich der Mindestlohn auf mindestens 8,50 Euro belaufen muss, und zwar unabhängig von den Beschäftigungseffekten und den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen. Auch zum Existenzminimum habe ich eine Frage. Ich komme aus Frankfurt. Da ist ein Lohn von 8,50 Euro nicht auskömmlich. Aber ich kann mir vorstellen, dass das in anderen Regionen anders ist. Ungleiches gleich zu behandeln - schafft das nicht neue Ungerechtigkeiten? Könnte es sein, dass Sie damit in ländlichen Regionen zu einer zusätzlichen Abwanderung beitragen, weil die regionalen wirtschaftlichen Auswirkungen für Arbeitgeber nicht mehr zu tragen sind? ({15}) Was ist, wenn die Kommission empfiehlt, ein Mindestmaß an regionaler Flexibilität einzuführen, was unseren Überlegungen entspricht? Nach Ihrem Modell kassiert dann mit einer großen Geste des „Basta!“ das Ministerium den Vorschlag ein und macht, was es für richtig hält. Klug ist das nicht, eher schon ideologisch getrieben. Ihr Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht. Er ist missverständlich. Er gibt dem Ministerium zu viel Macht. Er ist von einem Misstrauen gegen die Tarifpartner geprägt. Ihr Gesetzentwurf ist wie eine rektale Zahnbehandlung. Sie kann unter Umständen erfolgreich sein, richtet aber auf dem Weg dahin so viel Schaden an, dass die Gesamtbilanz negativ ist. Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen und zu gegebener Zeit einen eigenen Gesetzentwurf zu diesem Thema vorlegen. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Zimmer, wir haben in diesem Hause sehr wenige Regeln. Zu den wenigen Regeln gehört, dass wir Grenzüberschreitungen vermeiden sollten, etwa Grenzüberschreitungen derart, eine andere demokratische Partei zu verdächtigen, dass sie etwas tue, was in irgendeinem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht. Deswegen ermahne ich Sie, so etwas wie „Ermächtigungsgesetz“ nicht zu wiederholen. Ich tue das ganz freundlich. Diesen Stil wollen wir uns nicht wechselseitig zumuten. ({0}) Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Fraktion.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für Ihre Worte, Herr Präsident. Es hat mich schwer erschüttert, dass der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ im Zusammenhang mit der SPD verwendet wird, ({0}) einer Partei, deren Mitglieder durch den Nationalsozialismus verfolgt worden sind, die wegen ihres Kampfes gegen den Nationalsozialismus gestorben sind. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fällt mir ein wenig schwer, zur Tagesordnung überzugehen, aber wir diskutieren hier über einen Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland. An sich weiß jeder hier im Saal, dass es kein Argument gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Wir können Ihnen die Zahlen an den Kopf knallen und beobachten Ignoranz. Herr Kolb wirft uns vor, dass wir nicht imstande sind, in dieser Republik Traumwelten zu schaffen. ({2}) Das bedauern wir auch. Sicherlich wäre es wunderbar, wenn wir es schaffen würden, über einen Mindestlohn nicht nur Vollzeitbeschäftigte, sondern auch Familien abzusichern. Sicherlich wäre es wunderbar, wenn wir es schaffen würden, über einen Mindestlohn beispielsweise auch Teilzeitbeschäftigte mit 30 Stunden abzusichern. Sicherlich wäre es auch wunderbar, wenn bereits die Einführung eines ersten Mindestlohns dazu führen würde, dass Rentenansprüche oberhalb der Grundsicherung liegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich dennoch einige Zahlen nennen, die an sich bei Ihnen zu großer Sorge führen müssten, sodass Sie sich endlich Gedanken zu diesem Thema machen und einen Gesetzentwurf vorlegen. Das gilt auch für Sie von der FDP. Wir haben in der Bundesrepublik einen Niedriglohnsektor, der dem in den USA gleicht. 22 Prozent aller Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland sind im Niedriglohnsektor tätig. ({3}) In Dänemark sind es demgegenüber nur 8,5 Prozent, in Frankreich 11,1 Prozent. Wir hatten zwischen 1995 und 2006 einen 40-prozentigen Zuwachs zu verzeichnen. ({4}) Im untersten Quartil sind die Löhne in den letzten Jahren sogar um fast 14 Prozent gesunken. Wenn man eine einheitliche Niedriglohnschwelle sowohl für den Osten als auch für den Westen der Bundesrepublik Deutschland definiert, dann sind 40 Prozent aller Ostdeutschen im Niedriglohnsektor tätig. 20 Prozent der Aufstocker arbeiten mehr als 35 Stunden, aber 50 Prozent bekommen weniger als 6,44 Euro Lohn. 25 Prozent arbeiten sogar für weniger als 4,95 Euro. Niedriglöhne gefährden damit die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme. Die Krankenversicherungsbeiträge reichen nicht aus. ({5}) - Herr Kolb, Sie haben völlig recht. Ich würde Ihnen gerne antworten, wenn Sie mich lassen. ({6}) - Es ist richtig, dass die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen ist, Herr Kolb. Aber es ist nicht richtig, dass die individuelle Beitragshöhe gestiegen ist. Sie müssen zugeben, dass ein Niedriglohnempfänger insgesamt auch sehr niedrige Beiträge in die Krankenversicherung einzahlt. Leider müssen wir auch immer häufiger beobachten, dass das System des Arbeitslosengelds I nicht greift, sondern Menschen direkt Aufstockungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Herr Kolb, Sie haben selber dargelegt, wie die Situation in der Rentenversicherung ist. Was sollen wir von diesem Rentenversicherungssystem perspektivisch erwarten, wenn 40 Prozent der Ostdeutschen im Niedriglohnsektor tätig sind? Wie sollen diese Menschen jemals auf eine Rente oberhalb der Grundsicherung kommen? ({7}) Mindestlöhne generieren zusätzliche staatliche Einnahmen. Gerade in der gegenwärtigen internationalen Situation wäre es wunderbar, eine Art kleines Konjunkturprogramm zu haben. Wir könnten durch einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro 14,5 Milliarden Euro zusätzlich an Erwerbseinkommen erzielen. Die zusätzlichen Steuereinnahmen hat Hubertus Heil auf der Grundlage der Berechnungen des Prognos-Instituts bereits beziffert, ebenso die Entlastungen bei Sozialtransfers. Wir könnten die zusätzlichen Einnahmen beispielsweise dazu nutzen, in eine vernünftige Fachkräfteinitiative zu investieren. Auch das ist ein Thema, dem sich diese Koalition leider verweigert. Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze. Sie sollten die Recherchen ernst nehmen, die Sie selber haben durchführen lassen, meine Damen und Herren von der Koalition. Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir können nur hoffen, dass der Entwurf der Union irgendwann kommt. Er wäre wenigstens ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sie wollen eine Beschränkung auf Branchen ohne Tarifvertrag einführen. Das bedeutet zunächst einmal, dass es keinerlei rechtliche Weiterung im Vergleich zum Mindestarbeitsbedingungengesetz gibt. ({8}) Der nächste Punkt ist: Wir bedürfen an sich gesetzlicher Mindestlöhne auch im Bereich der Tarifverträge. Wie sollen die Gewerkschaften dort künftig agieren? Sollen Gewerkschaften auf Tarifverträge verzichten? Herr Kolb hat sehr offensiv gesprochen und behauptet, wir würden einen Misstrauensantrag gegen die Gewerkschaften stellen. ({9}) Ich kann nur sagen: Nach meiner Auffassung handelt es sich bei Ihrem Vorschlag um einen Attentatsversuch auf die Gewerkschaften; denn diese kämen in die kuriose Situation, auf eigene Tarifverträge verzichten zu müssen, um Beschäftigten in den betreffenden Branchen und Sektoren eine Mindestabsicherung zu ermöglichen. Überdies wäre das Ganze quasi ein Heiratsantrag an Scheingewerkschaften. Diese würden befördert werden, weil eine ganze Branche durch den Abschluss eines Scheintarifvertrags für die Lohnuntergrenze gesperrt werden könnte. ({10}) Sie wollen des Weiteren nach Branchen und Regionen differenzieren. Das wird zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen führen. Es wird Jahre dauern, bis wir in der Bundesrepublik Deutschland durchgängig Mindestlöhne haben. Viele Arbeitnehmer werden niemals wissen, welcher Mindestlohn für sie gilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten endlich zur Vernunft kommen. Ich finde, es gibt kein Thema, bei dem es so eindringliche Argumente gibt, die nahelegen, endlich zu einer gesetzlichen Lösung zu kommen. Aber diese Koalition scheint auch in diesem Punkt nicht handlungsfähig zu sein. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Kramme, Sie haben eben gesagt, wir dürften bei der Betrachtung der Lage und unseren Überlegungen, wie wir am besten darauf reagieren, nicht ignorant sein. Ich glaube, Sie haben recht. Aber dann sollten wir zur Versachlichung der Debatte beitragen. Johannes Vogel ({0}) Wir müssen uns zuerst überlegen, was wir wollen, und dann schauen, welches der beste Weg ist. ({1}) Wir wollen auf dem Arbeitsmarkt Fairness gegenüber drei Gruppen erreichen; Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, müssten dem eigentlich zustimmen. Wir wollen, dass Arbeitnehmer gute Löhne bekommen. Wir wollen aber auch, dass die Unternehmen in der Lage sind, die Löhne zu zahlen; denn nur dann entstehen Wachstum und Arbeitsplätze. Wir wollen außerdem Fairness und Perspektiven für diejenigen, die noch auf den Arbeitsmarkt wollen, und für diejenigen, die bei falschem politischen Handeln Gefahr laufen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ausdruck von falschem politischen Handeln sind Ihre Vorlagen. ({2}) Die Alternative ist das Vorgehen in drei Schritten, das unserer sozialen Marktwirtschaft entspricht und zu der sich diese Koalition - auch meine Fraktion - bekennt. Erstens. Die Tarifautonomie, die Vorrang hat und Wesensbestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft ist, erfordert starke Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das sollte der Regelfall sein. Zweitens. Wir sollten in Branchen, in denen es Probleme gibt, in denen die Unternehmen weniger zahlen, als sie könnten, die Möglichkeit nutzen, Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. ({3}) Die Lohnhöhe wird aber von den Tarifvertragsparteien festgelegt. Drittens. Mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gibt es eine letzte Auffanglinie für die dann noch bestehenden weißen Flecken in Deutschland. Dieses Vorgehen in drei Schritten entspricht der sozialen Marktwirtschaft. Dazu bekennen wir uns, und das ist besser als das, was Sie vorschlagen. ({4}) Schauen wir uns einmal an, was dafür und was dagegen spricht. Sie haben bereits die Ergebnisse der von dieser Regierung in Auftrag gegebenen Evaluation des Systems aus Mindestlöhnen und Allgemeinverbindlicherklärungen in einzelnen Branchen angesprochen. Ich finde die Ergebnisse hochinteressant. Sie sind ein Indiz für vieles, aber sicher kein Argument dafür, von diesem System abzukehren. Zwei Ergebnisse dieser Evaluation sind hervorzuheben. Es gibt Beschäftigungseffekte. Wenn zu hohe Löhne festgelegt werden, dann passieren Dinge - in geringem Ausmaß ist das in einzelnen Branchen bereits der Fall -, die weder Sie noch wir wollen. Es gibt negative Beschäftigungseffekte. Es werden Lohnbestandteile abgebaut, die zuvor gewährt wurden. Beschäftigte werden teilweise durch Zeitarbeiter oder durch befristet Beschäftigte ersetzt. Es gibt dann also den von Ihnen beschriebenen negativen Effekt. ({5}) - Das besagt die Evaluation. Wir können das gerne Punkt für Punkt durchgehen. Darüber haben wir im Ausschuss schon diskutiert. Lieber Hubertus, leider konntest du an der entsprechenden Ausschusssitzung nicht teilnehmen. Aber wir können darüber gerne noch einmal ausführlicher diskutieren. Die Evaluation beweist aber auch, dass diese Effekte gering sind - das ist richtig -, weil die Tarifpartner gut darin sind, die richtige Lohnhöhe zu treffen. Aber das kann nicht allen Ernstes als Beleg dafür angeführt werden, die Lohnfindung den Tarifpartnern wegzunehmen und sie der Politik in die Hand zu geben. Wir sollten bei dem bewährten System bleiben, das wir haben. ({6}) Ich freue mich über eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ja, bitte. - Herr Kollege Ernst, auch Sie haben sich gemeldet, aber die Kollegin Zimmermann hat sich zuerst gemeldet und somit den Vortritt.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ladies first, Herr Kollege, sie war zuerst.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Vogel, ich höre Ihnen immer wieder gern zu.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dito.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich muss aber jetzt einmal fragen, ob Sie in Folgendem mit mir einer Meinung sind: Wenn die Leute mehr Geld in der Tasche haben, können Sie mehr kaufen. Dann muss mehr produziert werden. Das schafft Arbeitsplätze. ({0}) Deshalb der Hinweis auf den gesetzlichen Mindestlohn. Sind Sie in dieser Hinsicht mit mir einer Meinung? ({1}) Das müssten auch Sie verstehen. ({2})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Zimmermann, ich bin der Meinung, dass diese Sicht leider ein wenig unterkomplex ist, Johannes Vogel ({0}) ({1}) weil Sie völlig außer Acht lassen, dass dann, wenn der Lohn zu hoch angesetzt wird - das ist nachweisbar; die Evaluation, die wir in Auftrag gegeben haben, hat das gerade wieder belegt -, der Arbeitsplatz weg sein kann. ({2}) Dann sind die Menschen arbeitslos. Das wollen wir alle nicht. ({3}) Dann werden gar keine Löhne gezahlt, und dann kann auch nichts ausgegeben werden. Das ist die Balance, die wir halten müssen, und diese Balance - das ist der Punkt halten die Tarifpartner besser als die Politik. Deshalb sollten wir dabei bleiben, Frau Kollegin Zimmermann. ({4}) - Teil unseres Austausches hier ist: Wir sollten die Argumente ernst nehmen und gewichten. Ich höre Ihnen auch gern zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, der Kollege Ernst will auch noch eine Zwischenfrage stellen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Er will auch noch eine Zwischenfrage stellen. Gern, lieber Kollege Ernst. ({0}) - Ich höre auch gern Zwischenfragen zu, Frau Kollegin.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich freue mich, Herr Kollege, dass Sie sich so sehr für die Verteidigung der Tarifautonomie einsetzen. ({0}) Mich wundert das etwas, wenn ich an die Positionen der FDP zur Tarifautonomie in der Vergangenheit denke. ({1}) - Man darf nicht nur eine Frage stellen. Herr Kollege, Sie wissen, man kann auch eine Bemerkung machen. Darauf möchte ich einmal hinweisen. Aber ich möchte Sie schon auch etwas fragen, Herr Vogel. Sie haben gesagt, dass letztendlich durch die Tarifautonomie die richtigen Löhne zustande kommen. Jetzt wissen wir, dass wegen der Schwäche der Gewerkschaften inzwischen Tariflöhne von 3,56 Euro gelten. Sind Sie der Auffassung, dass das ein richtiger und angemessener Lohn ist? Sind Sie der Auffassung, dass wir in diesem Bereich eine funktionierende Tarifautonomie haben? ({2}) Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es notwendig ist, die Tarifautonomie gerade von unten zu stützen, um wieder zu vernünftigen Löhnen bei Tarifauseinandersetzungen zu kommen? ({3}) Sind Sie mit mir der Auffassung - das ist meine letzte Frage -, dass der DGB und die Einzelgewerkschaften deshalb durchaus recht haben, wenn sie zur Unterstützung der Tarifautonomie - sie verstehen etwas davon für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn sind? ({4})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Ernst, Sie haben viele Fragen gestellt. Ich freue mich, wenn ich ausreichend Zeit bekomme, die Fragen zu würdigen. Erstens. Ja. Ich bekenne mich bewusst zur Tarifautonomie und zu starken Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ich finde, der heutige Tag, an dem die IG Metall erstmals seit vielen Jahren wieder steigende Mitgliederzahlen vermeldet, ist ein guter Tag, das zu tun. Es ist falsch, was Sie machen, nämlich die Tariffindung den Tarifpartnern aus der Hand nehmen zu wollen, was Ihrem Antrag zugrunde liegt, lieber Herr Ernst. ({0}) Ich finde es schade, dass Sie diesen Weg gehen. ({1}) Zweitens. Ich bin sehr wohl der Auffassung, dass neben dem Regelfall der funktionierenden Tarifautonomie in einzelnen Problembranchen von einzelnen Unternehmen, von schwarzen Schafen teilweise, in der Tat zu niedrige Löhne gezahlt werden, niedrigere, als sie zahlen könnten. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dort Auffanglinien brauchen. Deshalb bekennen wir uns zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Wir bekennen uns sogar zu einer weiteren Auffanglinie nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz. Aber der Vorrang für die Lohnfindung durch die Tarifpartner bleibt bei dem, was wir in der Koalition machen, gewährleistet; bei Ihnen nicht, und das ist der große Unterschied, Herr Ernst. ({2}) Drittens. Sie haben die Höhe von Tariflöhnen angesprochen; darauf will ich jetzt eingehen. ({3}) Johannes Vogel ({4}) - Das trifft sich gut, weil ich mich sowieso gerade mit den Argumenten auseinandersetzen wollte, die gegen das System, das wir heute in Deutschland haben, heute häufig genannt wurden. Lieber Hubertus Heil, du hast wie immer - das wird ja gern getan - den Tarifvertrag für Friseure in Thüringen angeführt. Das meine ich, wenn ich sage: Lasst uns einmal in die Details schauen! Das Interessante ist ja: Wenn wir genauer hinschauen, Herr Ernst, sehen wir: Die Tarifpartner machen ihre Arbeit besser, als Sie es ihnen offenbar zutrauen. Das Beispiel der Friseure in Thüringen habe ich mir angeschaut. Wenn wir die anderen Beispiele im Ausschuss diskutieren, werden wir zu ähnlichen Ergebnissen kommen; da bin ich ganz sicher. Das können wir gerne im Detail machen. In Thüringen, Herr Ernst, ist es so, dass im Tarifvertrag eine Umsatzbeteiligung fest vereinbart ist. Das heißt, der Stundenlohn ist da gar nicht der einzige Lohnbestandteil, sondern es kommt ein großer Teil Umsatzbeteiligung dazu. ({5}) Wenn man das mit dem durchschnittlichen Umsatz der Betriebe dort berechnet - lieber Hubertus Heil, du kennst die Zahl so gut wie ich -, dann kommt man je nach Geschäftsbetrieb auf einen Stundenlohn von 7 bis 8 Euro, lieber Herr Ernst. Das zeigt: Die Tarifpartner verstehen mehr von ihrem Geschäft als Sie, und deshalb gibt es erneut keinen Grund, ihnen die Tarifbindung aus der Hand zu nehmen. ({6}) Ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, auf die anderen Argumente, die von der Opposition angeführt wurden, einzugehen. Es wurde wieder einmal von der Zahl der Aufstocker geredet. Frau Kollegin Pothmer und Kollege Heil haben das getan. ({7}) - Ich muss Sie leider erneut darauf hinweisen, selbst wenn es in der Debatte vorher genannt wurde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Vogel, haben Sie Lust, noch eine weitere Zwischenfrage zu beantworten?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von wem denn?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Von der Linkspartei.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich nehme auch gerne noch eine dritte Zwischenfrage an.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. - Ich möchte nur kurz darauf hinweisen - ich komme aus Thüringen und habe mich ausgiebig damit befasst -, dass der durchschnittliche Lohn der Friseure unter 7 Euro inklusive der Umsatzbeteiligung liegt, weil diese nicht immer so optimal ist, wie Sie es darstellen. Bei Mietpreisen, zum Beispiel in Jena, wo ich herkomme, die sich auf dem Niveau von vergleichbaren Städten wie Marburg usw. oder sogar darüber bewegen, kann man mit solchen Einkommen durchaus als arm gelten. Deshalb ist ein gesetzlicher Mindestlohn erforderlich; denn wenn ich eine durchschnittliche Kaltmiete von 6 Euro pro Quadratmeter habe, muss ich mit einem Einkommen in Höhe von 7 Euro bei 150 Arbeitsstunden noch zum Amt laufen und Hilfe erbetteln. Das ist wirklich nicht tragbar. Stimmen Sie mir darin zu, dass das nicht korrekt ist? ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich nehme Ihre Zwischenbemerkung erstens als Bestätigung dafür, dass die Tarifpartner in Thüringen sehr wohl eine Umsatzbeteiligung vereinbart haben. Es ist schön, dass das festgehalten wird. Zweitens erneuere ich mein Angebot, dass wir uns diese Tarifverträge im Detail im Ausschuss anschauen. Drittens sage ich zur Frage der Aufstocker: Die Statistik zu den Aufstockern ist die wichtigste Statistik; denn sie sagt etwas darüber aus, wer in Deutschland von seinem Lohn leben kann und wer nicht. Die Statistik zeigt, dass wir etwa 300 000 Vollzeitaufstocker in diesem Land haben, nicht mehr. Das heißt, es sind diejenigen erfasst, die wegen der Lohnhöhe aufstocken, und nicht die, die nur Teilzeit arbeiten. Von diesen 300 000 stockt aber die weit überwiegende Zahl deshalb auf, Herr Kollege Lenkert und liebe Kollegin Pothmer, weil sie eine große Familie hat. Auch wenn Sie es ignorieren, ({0}) wenn Ihnen das gesagt wird: Ich finde - das kann ich für die gesamte Koalition sagen -, dass eine Familie dabei unterstützt wird, auf einem ordentlichen Niveau zu leben, ist eine sozialpolitische Errungenschaft in Deutschland. ({1}) Das ist nichts, was Sie schlechtreden sollten, Frau Kollegin, und das bleibt so. ({2}) Die zweite interessante Zahl zeigt, dass die Aussage des Kollegen Heil - er ist leider hinausgegangen -, die Zahl würde steigen, schlicht nicht stimmt. Die Zahl der Vollzeitaufstocker in Deutschland sinkt seit Jahren. Wir wollen diesen Prozess beschleunigen, deshalb bekennen wir uns zur sozialen Marktwirtschaft. Sie tun das nicht. Das ist der große Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Johannes Vogel ({4}) Ich muss an dieser Stelle sagen: Auch das letzte Argument, das während der gesamten Debatte immer wieder angeführt wurde, kann nicht überzeugen. Die letzen beiden Argumente bezogen sich auf die Prognos-Studie, die beweise, es sei gut für die Einnahmen des Staates, einen Mindestlohn einzuführen. Dazu muss man jedoch der Ehrlichkeit halber sagen: Diese Prognos-Studie beinhaltet keine Betrachtung der Beschäftigungseffekte; das sagen die Verfasser ganz offen. ({5}) Das ist die entscheidende Frage, wenn es um Mindestlöhne geht. Deshalb bitte ich Sie, diese Studie, die man wirklich nur als unseriös bezeichnen kann, beiseite zu lassen. Die zweite Behauptung ist - Frau Kollegin Kramme hat es eben wieder gesagt -, der Niedriglohnsektor in Deutschland würde steigen. Erstens ist das interessant, da Sie immer einen Zeitraum ansprechen, in dem Sie von den Grünen mit der SPD Regierungsverantwortung getragen haben. Zweitens muss man sich dies genauer anzuschauen. Die Wahrheit ist nämlich: Der Niedriglohnsektor steigt seit fünf Jahren nicht - im Gegenteil. ({6}) Auch dazu kann ich nur sagen: Wir wollen, dass sich dieser Prozess fortsetzt, Sie offenbar nicht, sonst würden Sie diese positiven Zeichen zur Kenntnis nehmen. Es bleibt dabei: Es ist richtig, dass die Lohnfindung in Deutschland bei den Tarifpartnern bleibt. Dort sollten wir sie belassen, und im Notfall finden wir branchendifferenzierte Lösungen, um Ausbeutung zu verhindern. Ein allgemeiner Mindestlohn von Aachen bis Cottbus und von Flensburg bis Konstanz, der am Ende noch von der Politik bestimmt wird, hilft keinem Arbeitnehmer und führt nicht zu höheren Löhnen, sondern nur zu höherer Arbeitslosigkeit. Deshalb lehnen wir ihn sowie Ihre Vorlagen ab. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Guten Tag, Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Herr Vogel, sind Sie Mitglied einer Gewerkschaft oder einer anderen Tarifvertragspartei? Dieser Eindruck drängt sich ja nach Ihrem Plädoyer für die Tarifautonomie auf. Wenn Sie das bisher noch nicht sind - ich habe einen Aufnahmeschein dabei; den kann ich Ihnen gerne geben. ({0}) - Nein, gibt es nicht. Aber angesichts seines Plädoyers für die Tarifautonomie wäre es ja ein logischer Schritt, das zu tun. ({1}) Ich habe kein Problem, über Mindestlöhne zu reden. Ich finde aber, langsam muss Schluss damit sein, dass wir darüber reden. Ich möchte gerne, dass es endlich einen Mindestlohn gibt, ({2}) und - davon gehe ich aus - Tausende, wenn nicht sogar Millionen Menschen, insbesondere die, die in diesen Niedriglohnbereichen arbeiten, möchten das ebenfalls. Mit dieser Debatte muss endlich einmal Schluss sein. Es ist unerträglich, dass wir immer wieder über die Frage „Mindestlohn, ja oder nein?“ diskutieren, aber keinen Schritt wirklich nach vorne gehen. ({3}) Schauen wir uns doch einmal an, wie die Diskussion in den letzten Jahren gelaufen ist: Die SPD hat vor Jahren - ungefähr vor zehn Jahren wurde durch meine Partei der erste Antrag dazu gestellt - darin einen Angriff auf die Tarifautonomie gesehen. Die Grünen konnten sich zu dem Zeitpunkt einen Mindestlohn für alle nicht vorstellen. Seinerzeit wurde in einer Debatte gesagt: Sie können doch nicht alles über einen Kamm scheren und einen x-beliebigen Vertrag aufsetzen. Solche Worte sind damals gefallen. Ich persönlich kann mir ganz viele Wege vorstellen, wie man es erreichen kann, dass der Niedriglohnbereich verkleinert wird. Aber nachdem nun über 20 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich arbeiten, ist der Karren so tief in den Dreck gefahren, dass er jetzt unbedingt wieder herausgeholt werden muss. ({4}) Wir reden nicht über eine geringe Anzahl, sondern wir reden insgesamt über 3,6 Millionen Beschäftigte. Das ist absolut keine vernachlässigbare Anzahl. Ich habe in letzter Zeit viele Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Gewerkschaftsbereich geführt, aber auch mit Beschäftigten. Dabei habe ich immer wieder gehört: 8,50 Euro - so lautet ja die aktuelle Forderung des DGB - sind im Grunde genommen zu wenig. Diese Forderung des DGB ist ja auch schon drei bis vier Jahre alt. Mit 8,50 Euro kann man gerade einmal verhindern, dass Arbeitnehmer aufstocken müssen, aber massiv ändert sich dadurch nichts. Zur Altersarmut hat ja auch schon mein Kollege Klaus Ernst einen Satz verloren. Die Grünen nennen nach wie vor leider noch keine Zahl. Das stellt sich für mich so dar: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. ({5}) Mit anderen Worten: Diese Herangehensweise ist für mich ziemlich unbefriedigend. Wegen der Sache und weil im Grunde viele Menschen, die davon betroffen sind, den Eindruck haben, dass das, was wir hier machen, Pillepalle ist, weil wir nicht in der Lage sind, in der Sache einen Schritt nach vorne zu gehen, werden wir als Linke beiden Anträgen zustimmen. Ich fordere Sie von den Koalitionsfraktionen auf, das ebenfalls zu tun. ({6}) Die CDU in Form von Karl-Josef Laumann ({7}) hatte damals gesagt, dass sie beim besten Willen keine gesellschaftliche Unterstützung für unseren Wunsch sehe, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Mittlerweile unterstützen 86 Prozent der Menschen in unserem Land die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns. An die CDU/CSU gerichtet - die FDP lasse ich einmal außen vor; die haben sich ja gerade ganz eindeutig erklärt -, sage ich: Es wird Zeit für einen Mindestlohn. Machen Sie deshalb das, was der Mehrheitswille dieser Gesellschaft ist, und nichts anderes! Hören Sie auf, ständig hin und her und drum herum zu reden! Angeblich haben Sie auf Ihrem letzten Parteitag so etwas wie die Einführung eines Mindestlohns beschlossen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine branchenabhängige Lohnuntergrenze inklusive einer Teilung in Ost und West. Dafür können Sie ernsthaft keine Zustimmung erwarten. Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich machen: Jeder Tarifvertrag hat die Form eines Branchentarifvertrags. Gewerkschaften sind doch nicht unterwegs, um überall nur Mindestlöhne zu vereinbaren. ({8}) Jeder Tarifvertrag ist ein Branchentarifvertrag, und jeder Tarifvertrag beinhaltet eine sogenannte unterste Entgeltgruppe, die als Einstiegsgruppe dient. Darunter findet nichts mehr statt, nur oberhalb. Die Arbeitgeber können natürlich gerne mehr bezahlen als das, was im Tarifvertrag steht, aber nicht weniger. Genau das ist das System, das wir mit Mindestlöhnen meinen. Wir brauchen eine Untergrenze, und das ist die Höhe des Mindestlohns. Alle Arbeitgeber können - daran wird niemand jemals etwas kritisieren - gerne mehr bezahlen, aber nicht weniger. ({9}) Zu Herrn Weiß möchte ich noch etwas sagen. Gewerkschaften sollen ihre Arbeit machen, aber erst, wenn wir gemeinsam den Dreck weggeräumt haben, den die Regierungen der letzten Jahre produziert haben. ({10}) Das gilt für alle. Daher geht dieses Thema alle an. Wir, die Linke, sind bereit, dabei zu helfen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Wir müssen es aber auch machen und nicht nur darüber reden. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Daher meine Aufforderung: Stimmen Sie zu, damit wir an dieser Stelle weiterkommen und nicht einen Schritt nach hinten machen. Wir haben lange genug darüber geredet. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Regel übe ich meist Kritik; heute möchte ich aber einmal mit einem Lob beginnen, und zwar für den Arbeitnehmerflügel der CDU/CSUFraktion. Sie haben energisch die Initiative für einen Mindestlohn ergriffen und lassen auch nicht locker. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland ist seit Jahren überfällig. Bleiben Sie also dran; denn er ist die elementare Grundlage für mehr soziale Gerechtigkeit. ({0}) Ich hoffe auch, dass Sie geradlinig bleiben und es nicht zulassen, dass es viele verschiedene Mindestlöhnchen geben wird, die sich von Region zu Region oder von Branche zu Branche unterscheiden. Vor allem appelliere ich an Sie - besonders an Sie, Herr Weiß -, dass Sie auf einen Tarifvorrang verzichten. Die daraus entstehenden Probleme kennen wir von der Leiharbeit. Wollen Sie den Pseudogewerkschaften wirklich wieder Tür und Tor öffnen und dann auf jahrelange Gerichtsverfahren hoffen? Wollen Sie tatsächlich neue Beschäftigte erster und zweiter Klasse schaffen? Ein gesetzlicher Mindestlohn ist per Definition der kleinste gesetzlich zulässige Lohn. Er muss also flächendeckend und für alle Beschäftigten gleichermaßen eingeführt werden. ({1}) Alles andere kann ich nur als Etikettenschwindel bezeichnen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt möchte ich mit vier Aspekten kurz, aber grundsätzlich etwas zu all denjenigen sagen, die einen gesetzlichen Mindestlohn immer noch ablehnen. Erstens. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, listet bereits über 100 Staaten auf, die über einen Mindestlohn verfügen. Mindestlöhne gehören längst weltweit zu den etablierten Instrumenten, um den Arbeitsmarkt gerechter zu gestalten. Die Bundesregierung hat das aber anscheinend noch nicht verstanden. Zweitens. Der Europarat wertet den fehlenden Mindestlohn in Deutschland als Verstoß gegen das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben ist. ({2}) Wir sind also längst verpflichtet, allen Beschäftigten, die diesen Schutz brauchen, einen angemessenen Lebensstandard durch einen Mindestlohn zu ermöglichen. Allein dieses Argument müsste doch überzeugen. ({3}) Drittens. Tarifautonomie und gesetzlicher Mindestlohn sind kein Widerspruch. Im Gegenteil: Diverse Studien und auch Aussagen der ILO belegen, dass Tarifautonomie und gesetzlicher Mindestlohn zusammengehören und sich ergänzen. Neben den Verhandlungen der Tarifparteien dient der Mindestlohn vorrangig dem Zweck, Beschäftigte im Niedriglohnsektor zu schützen. Das ist fair und fördert übrigens auch den sozialen Frieden. ({4}) Viertens. Abschließend möchte ich kurz darauf eingehen, warum Sie sich gerade jetzt in der Euro-Krise mit Lohnpolitik und mit dem Mindestlohn beschäftigen sollten. Wenn Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig sind, dann entstehen Ungleichgewichte, und diese Ungleichgewichte sind eine Ursache der Euro-Krise. Mit einer solidarischen Lohnpolitik, das heißt mit einem Mindestlohn und mit gerechten Tariferhöhungen, würde Deutschland endlich seinen Beitrag zu mehr makroökonomischer Stabilität leisten. ({5}) Wenn der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Fraktion dies immer noch nicht nachvollziehen kann, habe ich noch eine weitere Anregung: Klaus Schwab, der Präsident des Weltwirtschaftsforums, sagte in dieser Woche in Genf bei der Pressekonferenz - ich zitiere sinngemäß -: Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form passt nicht mehr in die Welt. Wir haben die Lektionen aus der Finanzkrise von 2009 nicht gelernt. Die globale Transformation muss dringend damit beginnen, dass sich weltweit wieder ein Sinn für soziale Verantwortung ausbreitet. Sehr geehrte Regierungsfraktionen, beginnen Sie einfach hier in Deutschland, und zwar mit einem Mindestlohn. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst eine Richtigstellung an die Adresse des Kollegen Klaus Ernst von der Linkspartei. Sie haben vorhin das Plenum mit der Bezeichnung „Genossen“ angeredet. Das trifft zwar für einen Teil, aber zum Glück nicht für die weitaus meisten Mitglieder dieses Hauses zu. Sie haben hier nicht auf einem Parteitag der Linken geredet, sondern im Plenum des Deutschen Bundestages, dessen Mitglieder überwiegend keine Genossen sind. ({0}) Wir hoffen, dass das so bleibt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die bisherige Debatte hat ergeben: Wir haben das gleiche Ziel, aber unterschiedliche Wege. Das Mindestlohnkonzept, das Sie, Herr Heil, vorstellen, ist nicht realisierbar. Lohnpolitik ist gerade nicht per se zuallererst Sozialpolitik. Das ist der entscheidende Fehler in Ihrem Entwurf. Sehr geehrter Herr Heil, Sie haben in Ihrer Rede selbst ausgeführt, dass die Löhne existenzsichernd sein sollen. Dann stellt sich aber die Frage - auch darauf haben bereits einige Vorredner hingewiesen -, für wen sie existenzsichernd sein sollen: Für den Singlehaushalt? Kollege Vogel hat eben die 300 000 Singlehaushalte angesprochen, für die eine Lohnuntergrenze Sinn macht. Aber man muss natürlich wissen, dass beispielsweise eine vierköpfige Familie schon jetzt über Sozialleistungen mehr Geld bekommt, als mit den von Ihnen geforderten Mindestlohnhöhen - also 8,50 Euro bzw. 10 Euro aus eigener Kraft verdient werden kann. ({2}) In Zukunft müsste es also auch nach Einführung von Mindestlöhnen ergänzende Sozialleistungen geben. Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle das Bauhandwerk erwähnen. Hier wurde von einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung ein branchenspezifischer Mindestlohn eingeführt. Es gibt noch Kollegen unter uns - wie den Kollege Kolb -, die damals an der Einführung des Blüm’schen Mindestlohns mitgewirkt haben und jetzt als Zeitzeugen fungieren können. Dieser Mindestlohn war wichtig, um inländische Arbeitsplätze zu schütPaul Lehrieder zen und Dumpinglöhne zu verhindern. Sie sehen: Hier und auch in weiteren Branchen waren die Beweggründe, Lohnuntergrenzen einzuführen, nicht sozialpolitisch motiviert. Mindestlöhne stellen einen geordneten Wettbewerb her und gleichen negative externe Effekte einzelner Branchen aus. Meine Damen und Herren der Opposition, wir haben auch über das Baugewerbe hinaus weitere zielführende Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, die bereits für viele Millionen Menschen Verbesserungen gebracht haben. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sorgt derzeit für zwingend gültige Arbeitsbedingungen in sage und schreibe elf Branchen und verhindert negative Auswirkungen auf die Lohnentwicklung von Geringverdienern. ({3}) Ich möchte ausdrücklich festhalten: An der Einführung aller in diesen elf Branchen bestehenden Mindestlöhne war die Union beteiligt. Das heißt, die Union ist die Partei der Mindestlöhne. Die Union hat sich dafür eingesetzt und nicht Sie von den Oppositionsfraktionen. ({4}) - René Röspel [SPD]: Dass Sie dabei nicht rot werden!) Neben dem Baugewerbe gehören dazu bereits die Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst, der Steinkohlebergbau, das Dachdeckerhandwerk ({5}) - das müssen Sie sich schon einmal anhören, Herr Heil -, das Elektrohandwerk, die Gebäudereinigung, das Malerund Lackiererhandwerk, die Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistungen und Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft. Seit dem 1. Januar 2012, also seit knapp drei Wochen, ({6}) gilt für die rund 900 000 Beschäftigten in der Zeitarbeit ein Stundenlohn von mindestens 7,01 Euro im Osten und 7,89 Euro im Westen. ({7}) - Für Sie ist es immer zu wenig; das wird auch in der Zukunft so sein. - Da sind wir schon ziemlich nahe an Ihrer Forderung. Bei der Zeitarbeit ist uns wichtig, dass nach einer angemessenen Einarbeitungszeit - jetzt passen Sie einmal auf; da können Sie etwas hinzulernen der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt wird. ({8}) - Hören Sie zu, Herr Heil! Bleiben Sie mit den Füßen auf dem Boden! - Hier soll noch in den nächsten Monaten eine zufriedenstellende Lösung gefunden werden. ({9}) Ob der Bereich der Weiterbildung zukünftig auch aufgenommen wird, wird derzeit ebenfalls überprüft. Meine Damen und Herren, das ist der richtige Weg. Diesen Weg wollen wir für weitere Branchen eröffnen, und den Zugang dazu wollen wir erleichtern. Schauen wir beispielsweise einmal nach Frankreich. In der Tat zeigen Studien - selbst wenn diese politisch wie wissenschaftlich zum Teil umstritten sind -, dass dort der monatliche Mindestlohn von 1 365 Euro - das entspricht einem Stundenlohn von 9 Euro; er liegt also zwischen den beiden Mindestlöhnen, die jeweils von Ihnen gefordert werden - nicht zu Arbeitsplatzverlusten führt. Allerdings muss man hier auch sehen, dass die Unternehmen, die die Minimumlöhne auszahlen, vom französischen Staat tatkräftig unterstützt werden. Die Subventionen für Sozialversicherungsbeiträge in Frankreich beliefen sich bereits im Jahr 2010 auf immerhin 30 Milliarden Euro. Zudem darf hier nicht außer Acht gelassen werden, dass es durch die staatlichen Subventionen zu erheblichen Mitnahmeeffekten kommt und die Unternehmen sich bemühen, möglichst nur den niedrigen, subventionierbaren Mindestlohnsatz zu zahlen. Das heißt, dass sich die Höhe der Löhne in Frankreich durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes sogar nach unten entwickelt hat. Sollte der Staat seine Unterstützungszahlungen also nicht weiter leisten, so ist davon auszugehen, dass auch in Frankreich erhebliche Arbeitsplatzverluste drohen. Nehmen wir das Beispiel Großbritannien; auch Großbritannien wird gern als Beispiel für einen gesetzlichen Mindestlohn angeführt. In Großbritannien gibt es immerhin 14 Ausnahmen beim bestehenden gesetzlichen Mindestlohn, unter anderem für alle Auszubildenden unter 19 Jahren, für Auszubildende zwischen dem 19. und dem 25. Lebensjahr im ersten Ausbildungsjahr, bei Praktika insgesamt, bei Praktika von Studenten, für Au-pairs, für Soldaten, für Fischer, für Gefangene, für freiwillig Dienstleistende, auch für Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften. ({10}) Die Geltung des gesetzlichen Mindestlohnes in Großbritannien ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Man kann nicht sagen, dass die Mindestlohnregelung, die in Großbritannien gilt, bei uns den erwünschten Effekt hätte. ({11}) Benachteiligt wären vor allem Geringqualifizierte. Für die Mehrheit der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten schon heute Tarifverträge; ich habe bereits darauf hingewiesen. Dass jedoch die Tarifbindung in der Vergangenheit abgenommen hat, konstatieren wir durchaus, Herr Ernst. Um soziale Verwerfungen in den Branchen zu verhindern, in de18358 nen keine Tarifverträge gelten oder Tarifverträge nur eine geringe Wirkungskraft entfalten, haben wir die Rechte der Tarifvertragsparteien ausgeweitet. Diese haben künftig neben den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bietet, auch die Möglichkeit, branchen- und regionalspezifische Lohnuntergrenzen vorzuschlagen. Diese Vorschläge der Tarifvertragsparteien kann die Bundesregierung für verbindlich erklären und auch auf ausländische Arbeitnehmer erstrecken. Wir sind offen, diesen Prozess zu erleichtern. Wir wollen keine Billiglöhne. Wir wollen branchenspezifische Mindestlöhne. Wir wollen starke Tarifpartner und Gewerkschaften. Vorhin wurde auch das Thema „Nachwirkungen von tarifvertraglichen Niedriglöhnen“ angesprochen. Hierzu darf ich festhalten: Um künftig zu verhindern, dass sich eine Tarifvertragspartei auf der Nachwirkung eines Tarifvertrages ausruht, um Haustarifverträge mit Niedriglöhnen ablösen zu können, soll die Nachwirkung von Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz auf ein Jahr beschränkt werden. Wir werden Verwerfungen und Fehlentwicklungen also auch da entgegenwirken. Das Aushandeln der Löhne muss die Aufgabe der Sozialpartner sein und auch bleiben; denn eine funktionsfähige Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften. Nur mit einer starken Position können diese für ihre Mitglieder verbindliche und wirkungsvolle Abmachungen treffen. Wenn der Gesetzgeber die Tarifautonomie abschaffen würde, hätten wir Lösungen, die nicht den Verhältnissen in den Branchen und Regionen entsprechen würden. ({12}) Ist der Mindestlohn zu niedrig, ist sein Nutzen zur Armuts- und Ausbildungsabwehr gering. Ein zu hoher Mindestlohn wiederum zwingt Unternehmen dazu, mehr für Arbeit zu zahlen, als sie einbringt, und er wird zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das wird Ihnen jeder, der vernünftig rechnen kann, bestätigen. Kurz vor Ende meiner Rede möchte ich noch auf eine Aussage von Frau Kollegin Pothmer eingehen. Frau Pothmer, Sie haben vorhin ausgeführt, wir hätten der Bundesarbeitsministerin die Prokura für das Thema Mindestlohn entzogen; das war Ihre Formulierung. Bestätigen Sie das? ({13}) - Sehr gut. - Ich stelle fest: Wir haben sie der Bundesarbeitsministerin nicht entzogen. Wenn die Bundesarbeitsministerin unsere Arbeitsgemeinschaft in einen Arbeitskreis einbezieht, so ist das nur von Vorteil. ({14}) Frau Pothmer, ich dachte mir vorhin: Dieselbe Formulierung habe ich schon einmal irgendwo gelesen. Ich habe nachgeschaut. Im Handelsblatt steht ein Zitat von Herrn Kollegen Heil. Sie haben Herrn Heil zitiert, ohne dies kenntlich zu machen. Man sollte Zitatstellen kenntlich machen, meine Damen und Herren. ({15}) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen alles Gute. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Debatte, die wir hier führen, werde ich den Eindruck nicht los, dass der soziale Fortschritt in unserem Land seit Jahrzehnten hinter dem technologischen Fortschritt zurückbleibt. Wenn ich einige Mitglieder der Bundesregierung höre, habe ich den Eindruck, dass unser technischer Fortschritt zwar im 21. Jahrhundert angekommen ist, dass unser sozialer Fortschritt aber beim Almosengedanken des 19. Jahrhunderts stehen geblieben ist. ({0}) Die Debatte um einen Mindestlohn in Deutschland wird selten mit einem Blick auf die Realität in unseren Betrieben und in unserer Gesellschaft geführt. Wir haben zwar eine hohe Beschäftigungsquote, aber das Jobwunder ist ein Jobwunder der prekären Beschäftigung. Jeder sechste Mensch in unserem Land ist armutsgefährdet. Das zeigt: Armut ist nicht nur ein Problem für die Menschen, die keinen Job haben; vielmehr sind auch viele Menschen mit Job armutsgefährdet, weil ihr Job schlecht entlohnt ist, weil sie über einen Werksvertrag, befristet oder in Teilzeit beschäftigt sind. Kolleginnen und Kollegen der Regierungsparteien, sehen Sie es mir bitte nach - ich kann es nicht unerwähnt lassen -: Frau Ministerin von der Leyen zeigt sich auf Fotos gerne mediengerecht mit strahlenden Kindern und tut so, als würde sie sich um deren Wohlergehen kümmern. Gleichzeitig toleriert sie aber, dass viele Eltern dieser Kinder einen Hungerlohn erhalten und dass somit laut UNICEF jedes sechste Kind in Deutschland dem Risiko der Kinderarmut ausgesetzt ist. ({1}) Im November letzten Jahres schien es für einen Moment so, als ob in Sachen Mindestlohn endlich Bewegung in die Union gekommen sei. ({2}) Immerhin haben Sie auf Ihrem Bundesparteitag im November 2011 einmal über das Thema Mindestlohn gestritten. Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich rate Ihnen, Ihre Ideen neu zu sortieren. Sie loben die Branchenmindestlöhne immer wieder in den Himmel und behaupten, hier schon einiges getan zu haben. Ich sage jedoch: Gerechtigkeit kann nicht Schritt für Schritt eingeführt werden. Es reicht nicht, Gerechtigkeit in einzelnen Branchen einzuführen und die anderen Branchen von der Gerechtigkeit auszuschließen; denn das Brot kostet für alle - für Leiharbeiter, Gebäudereiniger oder Industriearbeiter - gleich viel. ({3}) Wir müssen flächendeckend handeln; denn wir sind gewählt, für alle Menschen in unserem Land Verantwortung zu tragen und nicht nur für diejenigen, die zufällig in der richtigen Branche arbeiten. ({4}) Während der Finanz- und Euro-Krise ist auch die Bedeutung des Mindestlohns stark gestiegen. Wir alle wissen, dass Abstiegsängste nicht nur bei den Niedrigqualifizierten am Rand unserer Gesellschaft existieren, sondern dass auch viele Facharbeiter Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg haben. Niedriglöhne betreffen immer mehr Menschen der Mitte in unserem Land. Diese Facharbeiter sind nicht nur wirtschaftlich bedroht, sondern sie fürchten auch darum, gesellschaftlich stigmatisiert zu werden, beispielsweise bei der Kreditvergabe oder der Wohnungssuche. Viele Menschen empfinden es als Schande, dass sie aufgrund der Niedriglöhne nicht genug verdienen, um ihre Familien ernähren zu können, sodass sie am Ende des Monats über Leistungen des Sozialamts aufstocken müssen, etwa indem sie Wohngeld beantragen. Der Gang zum Sozialamt ist für viele Menschen eine Verletzung der Würde und des Selbstwertgefühls, was übrigens auch eine Ursache der zunehmenden psychischen Erkrankungen ist. ({5}) Die Menschen in unserem Land wollen aber keinen Staat, der Almosen verteilt, sondern einen sozial gerechten Staat, der sich gegen Niedriglöhne und Abstiegsängste einsetzt. ({6}) Man darf nicht vergessen: Ein würdevoller Lohn und Gerechtigkeit sind der Kitt des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Frau Merkel redet europaweit immer davon, wie wichtig es ist, die Staatsverschuldung zu senken. Hier in Deutschland treibt sie dagegen munter die Verschuldung in die Höhe, indem sie den Menschen ein eigenständiges Leben ohne die Notwendigkeit, über Leistungen vom Sozialamt aufzustocken, verweigert. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Staatskasse um mehr als 7 Milliarden Euro entlasten. Die FDP verspricht immer, Subventionen abzubauen. Gleichzeitig verteilt sie aber munter Subventionen an die Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können. ({7}) Das ist paradox und nur ein weiterer politischer Unsinn der FDP. ({8}) Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Gesetzentwurf können wir Gleichgewicht in die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes bringen: Wir senken die Staatsverschuldung, und wir schaffen soziale Gerechtigkeit für rund 6 Millionen Arbeiter, die von Niedriglöhnen betroffen sind. Ich rede mit sehr vielen Unternehmern. Auch sie wollen einen Mindestlohn, damit um Qualität konkurriert wird und sie nicht der Lohndrückerei ausgesetzt sind. Deshalb sind die politischen Rahmenbedingungen für eine soziale Gestaltung der Arbeit so wichtig. Hier können wir nach Baden-Württemberg schauen, wo nach dem Regierungswechsel dank SPD und Grünen an einem Tariftreuegesetz gearbeitet wird und ein Konzept für gute und sichere Arbeit existiert. ({9}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir für ganz Deutschland, am besten auch nach einem Regierungswechsel. Nun möchte ich mich an die Kolleginnen und Kollegen der Linken wenden. Vorhin hat hier der Kollege Klaus Ernst - er ist nicht mehr hier - stark kritisiert, dass die rot-grüne Regierung damals den Mindestlohn nicht eingeführt hat. Ich bin ein IG-Metaller. Klaus Ernst müsste als damaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall wissen, welch schwierige Diskussionen es innerhalb der Gewerkschaften gab. ({10}) Als wir uns geeinigt hatten, war es zu spät; dann hatten wir keine Kanzlermehrheit mehr. Ich denke, das gehört zur Wahrheit dazu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In die Debatte um eine untere Lohngrenze ist durch einen Beschluss des Bundesparteitages der CDU in der Tat Bewegung gekommen. ({0}) Herr Kollege Heil, wir können das erfreulicherweise vor dem Hintergrund einer hervorragenden wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland angehen. Dank unserer Strukturpolitik für Deutschland gibt es eine Beschäftigungsquote, die wir unter Kanzler Schröder nie erreicht haben. ({1}) Das ist übrigens die beste Sozialpolitik, die man in Deutschland machen kann. Herr Kollege Juratovic, Sie haben hier das Bild von armen Kindern bemüht. Es ist in jedem Fall traurig, wenn ein Kind in armen Verhältnissen aufwächst. Wir müssen danach streben, jeweils die Lage zu verbessern. Aber diese Koalition hat genau das gemacht. Wenn Sie Frau von der Leyen in diesem Zusammenhang erwähnen, dann sollten Sie sie lobend erwähnen. Ursula von der Leyen hat das Bildungs- und Teilhabepaket durchgesetzt; das haben Sie verabsäumt, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition. ({2}) Wir tun etwas für die Bildung der Kinder, damit es ihnen besser geht. ({3}) Die Diskussion ist völlig transparent. Jeder kann sich an ihr beteiligen. Jeder weiß, wie die Diskussionsprozesse ablaufen. Sie haben die Diskussion innerhalb der CDU verfolgt; wir werden mit unserer Schwesterpartei CSU über diese Frage zu diskutieren haben. ({4}) - Sehr konstruktiv, wie der Kollege Lehrieder sagt. Das ist bei dem CSU-Parteivorsitzenden, der Vorsitzender der Vertretung des Arbeitnehmerflügels der CSU war, eine Selbstverständlichkeit. ({5}) Auch mit den Freien Demokraten werden wir in der Koalition darüber zu diskutieren haben. ({6}) Ich hoffe, dass wir zu einer Einigung kommen. Ansonsten können wir hier im Deutschen Bundestag in dieser Wahlperiode zu keiner gesetzlichen Regelung kommen. Wir sind aber zuversichtlich; bei den Freien Demokraten tut sich viel. Herr Kollege Kolb, Sie haben die ersten Dinge in diesem Bereich schon im vorletzten Jahrzehnt mit Bundesarbeitsminister Blüm angeschoben. Dafür herzlichen Dank von der Unionsfraktion. ({7}) Darauf wollen wir aufbauen. Darüber hinaus ist der einzige Sozialminister, den die Freien Demokraten stellen - mein Freund Heiner Garg in Kiel -, der Auffassung, dass wir hier zu einer gesetzlichen Regelung kommen sollten. Das ist ein weiterer Baustein, wenn es darum geht, die erfolgreiche Arbeit unserer Koalition auch in diesem Bereich fortzusetzen. ({8}) Intransparent ist allein das, was die SPD hier vorträgt. Herr Kollege Heil, Sie haben wie immer eine lautstarke Rede gehalten, ({9}) nur passte sie überhaupt nicht zu dem Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben; das ist das Problem in der ganzen Debatte. ({10}) Sie wollen einen generellen gesetzlichen Mindestlohn anbieten und reden dann hier von branchenspezifischen Lösungen. Sie reichen uns noch formaliter die Hand. ({11}) - Ja, bitte, wo ist Ihre Hand? - Ich habe Sie gefragt: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück? ({12}) Dann sind Sie, wie Sie es als früherer Generalsekretär der SPD gelernt haben, ausgewichen und haben die Frage nicht beantwortet. ({13}) Wenn die Sozialdemokraten ernsthaft an einer Verständigung in dieser Frage interessiert wären und das nicht nur Rhetorik wäre, Herr Kollege Heil, ({14}) dann würden Sie diesen Gesetzentwurf einkassieren. Er leidet an zahlreichen Mängeln. Viele davon sind ausgewiesen. ({15}) Im Übrigen gibt es insbesondere für die Sozialdemokraten, aber auch für die Grünen keinen Anlass zu Selbstgerechtigkeit. Herr Heil, Sie haben so getan, als habe der Mindestlohn quasi schon im Godesberger Programm der SPD gestanden. Mitnichten! Das ist nun wirklich eine neue Entwicklung. Auch auf dem Niedriglohnsektor, den Sie als hochproblematisch darstellen, vollzieht sich keine neue Entwicklung. Noch 2005 hat sich Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder ({16}) hier hingestellt und gesagt, Rot-Grün habe unter seiner Kanzlerschaft den erfolgreichsten und effektivsten Niedriglohnsektor der ganzen Welt geschaffen. Meine Damen und Herren, vergessen Sie das nicht. ({17}) - Das hat Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt; ich kann es Ihnen gleich zeigen. Sie werden die Geister, die Sie selber gerufen haben, nicht mehr los, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, und dazu sollten Sie auch stehen. ({18}) Darüber hinaus sollten Sie nicht den Eindruck erwecken - Herr Kollege Vogel hat das schon sehr gut deutlich gemacht -, es sei in Deutschland vorstellbar, dass wir im Niedriglohnsektor eine Lohnhöhe hinbekommen, die sicherstellt, dass niemand mehr in diesem Bereich auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen ist. Sie selber, Herr Heil, haben eingeräumt, dass das bei einem Stundenlohn von 8,50 Euro nicht hinhauen würde. ({19}) Denn das sei maximal ausreichend für einen alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten. Nun wissen wir: Viele sind nicht vollzeitbeschäftigt, und zum Glück sind auch nicht viele alleinstehend, sondern haben einen Partner oder eine Partnerin. Die 8,50 Euro reichen nicht aus. Es wird also immer ergänzend der staatlichen Zuschüsse bedürfen. ({20}) Ich finde, gerade als Sozialpolitiker sollten wir das nicht diskreditieren. Die Menschen haben einen Anspruch auf staatliche Zuschüsse. ({21}) Sie sollten sich nicht dafür schämen; denn sie haben einen Rechtsanspruch auf diese Unterstützung. ({22}) Wir als diejenigen, die diese Rechtsansprüche hier im Parlament beschließen, sollten das nicht schlechtreden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ja, wir, die Union, tun uns schwer mit einer gesetzlichen Regelung in diesem Feld. Das haben wir deutlich gemacht, und das merken Sie in allen Diskussionen, die wir auch innerparteilich führen. ({23}) Das liegt daran, dass wir nach wie vor an die Tarifautonomie glauben. Herr Kollege Heil, Sie haben vorhin in diesem Zusammenhang zu Recht - das ist völlig unstreitig - auf die Tradition der Sozialdemokratie hingewiesen. Bemerkenswerterweise sind wir, die Mitglieder der christlich-liberalen Koalition, die letzten Verfechter der Tarifautonomie in diesem Hause. ({24}) Das ist mittlerweile das Ergebnis. ({25}) Denn den Bereich, den Sie gesetzlich regeln wollen, nehmen Sie den Tarifvertragsparteien weg. ({26}) Das heißt, dies bedeutet ein Weniger an Regelungskompetenz für die Gewerkschaften. ({27}) Deswegen wäre es angebrachter gewesen, wenn all diejenigen, die sich hier als die vermeintlich größten Verfechter von Gewerkschaftsrechten darstellen, ihre Rede in Moll und nicht in Dur gehalten hätten. Das gilt auch für Ihre Rede, Herr Kollege Heil. Richtig ist: Der Organisationsgrad der Gewerkschaften hat rapide abgenommen. ({28}) Es gibt weiße Flecken. Es gibt in der Tat auch Probleme, weil immer mehr Menschen nicht unter Tarifverträge fallen. ({29}) Deswegen müssen wir in diesem Bereich auch handeln; das ist keine Frage. Wir werden das auch machen. Es haben schließlich viele zum Ausdruck gebracht, dass die politische Hoffnung auch vieler Oppositionsabgeordneten auf den Schultern der christlich-liberalen Koalition ruht. ({30}) Da sind diese Hoffnungen gut aufgehoben. Wir werden uns dieser Thematik mit Augenmaß annehmen. ({31}) Aufgrund der Bedeutung der Tarifautonomie wird unser Maßstab sein: Wir werden nur das Allernotwendigste regeln. Insofern ist der Ausspruch, den ich von Ihnen gehört habe - „Mindestlohn light“ -, völlig falsch. Es geht darum, „Tarifautonomie XL“ zu garantieren ({32}) und möglichst viel Tarifautonomie aufrechtzuerhalten. ({33}) Deswegen sollte eine paritätisch zusammengesetzte Kommission mit dieser Aufgabe betraut werden. ({34}) Ich bin gegen eine pauschale Politikerschelte. Ich bin der Meinung, der Ausspruch „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ gilt auch für Politiker. Politiker sollten sich nicht anmaßen, etwas von Wirtschaft und von den Löhnen, die auf dem Arbeitsmarkt zu zahlen sind, zu verstehen. ({35}) Das ist nicht unsere Aufgabe. Dafür haben wir Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, und denen sollten wir uns anvertrauen. ({36}) Da sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut aufgehoben. Auf diesem Wege kommen wir zu einer vernünftigen Lösung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({37})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Festsetzung des Mindestlohns. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8385, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4665 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/8385 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7483 mit dem Titel „Jetzt Voraussetzungen für die Einführung eines Mindestlohns schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8026 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2011 und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 17/8226 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile - ganz langsam, damit zuvor wieder Ruhe einkehren kann - dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel für die Bundesregierung das Wort. ({1})

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist Spitze in Europa beim Wirtschaftswachstum und bei den Beschäftigungszahlen. Das ist angesichts der Finanz- und Staatsschuldenkrise wahrlich bemerkenswert. Was ist die Grundlage dieser positiven Entwicklung in Deutschland? Die Bundesrepublik hat ein äußerst erfolgreiches Modell entwickelt, um mit innovativen Produkten und Dienstleistungen und einer starken industriellen Basis im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können. Allein ein Fünftel der Wirtschaftsleistung Deutschlands beruht auf dem Export von Technologiegütern. Das zeigt: Eine hohe Innovationskraft zahlt sich aus. Deutschland verbessert sich im aktuellen Innovationsindikator der Telekom-Stiftung im Vergleich zum Jahr 2009 aus dem Mittelfeld auf Rang vier. Als einen wesentlichen Grund für dieses gute Ergebnis werden mehr Investitionen der öffentlichen Hand in Wissenschaft und Forschung genannt. In der Tat: Diese Bundesregierung investiert mehr Geld in Forschung und Entwicklung als jede andere Regierung zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. ({0}) Zwischen 2005 und 2011 stiegen die Ausgaben der Bundesregierung für Forschung und Entwicklung um sage und schreibe 42 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro. ({1}) Dies ist ohne Zweifel ein Signal, ein Signal an die Wissenschaft und an die Wirtschaft. So haben die deutschen Unternehmen trotz Finanz- und Schuldenkrise ihre Investitionen in Forschung und Entwicklung im Jahr 2010 auf 47 Milliarden Euro gesteigert. Das ist ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2005. ({2}) Insgesamt haben wir es gemeinsam geschafft, dass der Anteil für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Prozent im Jahr 2005 auf 2,82 Prozent im Jahr 2010 gestiegen ist. Wir kommen immer näher an das 3-Prozent-Ziel heran. Entsprechend ist auch die Zahl der in Forschung und Entwicklung tätigen Menschen gestiegen. Ich sehe Uwe Schummer hier sitzen, ({3}) einen Arbeitnehmervertreter. Er weiß, wie es bei den Arbeitnehmern in der Forschung aussieht. Wir brauchen sie. Zwischen 2005 und 2010 gab es einen beachtlichen Zuwachs von 72 000 Stellen im Bereich Forschung und Entwicklung. Das ist ein wahrlich erfolgreiches Ergebnis. ({4}) In der rot-grünen Regierungszeit ist zwischen 2000 und 2005 die Zahl der im Bereich FuE tätigen Personen zurückgegangen. ({5}) All dies zeigt, dass die heutige Bundesregierung auf dem richtigen Weg ist. Dies sagt auch die Expertenkommission „Forschung und Innovation“. Sie hebt die positiven Effekte der Hightech-Strategie hervor. Ich zitiere: Die Expertenkommission befürwortet diese Neuausrichtung - der Hightech-Strategie ebenso wie die Auswahl der prioritären Bedarfsfelder. ({6}) Das ist für uns Ansporn und Ermutigung. Dabei orientieren wir uns an drei Prinzipien: Erstes Prinzip. Wir wollen die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik stärken. Das ist das Markenzeichen dieser Bundesregierung. Wir sind davon überzeugt, dass sich die Schlüsselthemen unseres Landes, wie der Umbau der Energieversorgung oder der demografische Wandel, nur im Zusammenspiel aller Akteure erfolgreich gestalten lassen. Allein zwischen 2010 und 2013 wird die Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie knapp 27 Milliarden Euro in den Bereich Klima und Energie, in die Gesundheitsforschung, in die Mobilitätsforschung, in die Informations- und Kommunikationstechnologie sowie in die Sicherheitsforschung investieren. Mit ganz konkreten Zukunftsprojekten arbeiten wir an den großen, uns alle bewegenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Wir arbeiten an einer Vision von CO2-reduzierten und energieeffizienten Städten. Mit dem „Internet der Dinge“ gestalten wir die vierte industrielle Revolution. Mit der Förderinitiative „Forschungscampus“ schaffen wir langfristige öffentlich-private Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Wissenschaft auf Augenhöhe, und das Ganze unter einem Dach. Mit dem Spitzencluster-Wettbewerb mobilisieren wir gemeinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft Zukunftsinvestitionen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Gestern haben wir die neuen Sieger vorgestellt. Ich nenne stellvertretend für alle den Bioökonomiecluster in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Man sieht: Es bewegt sich etwas in Deutschland, und das ist gut so. ({7}) Zweites Prinzip: mehr Freiheit für wissenschaftliche Initiative. Spitzenleistungen in Forschung und Wissenschaft brauchen einen Raum der Kreativität und Freiheit, damit sie sich entfalten können. Diese Bundesregierung steht dafür, dass sich die Forschungseinrichtungen entfalten können, dass sie mehr Flexibilität und mehr Freiheit bekommen. Damit unterscheidet sich die Bundesregierung von der Opposition. Wir wollen thematische Breite und keine grüne Gängelung in der Forschung. ({8}) Ihre grüne Gängelung führt zu Abwanderung von Forschungskapazitäten, wie wir dies gerade bei der Verlagerung der Grünen Gentechnik von BASF ins Ausland erleben mussten. Sie von den Grünen freuen sich darüber, wir nicht. ({9}) Drittes Prinzip: alle Qualifikationen und Talente in Deutschland nutzen. Jeder muss seine Chance bekommen, sich und seine Talente zu entwickeln. ({10}) Auch hier gibt es positive Entwicklungen: Erstens. Mit dem beschlossenen Anerkennungsgesetz würdigen wir die im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen. Mit der Verbesserung der Zuzugsregelung für Hochqualifizierte im Gesetzentwurf der Bundesregierung stärken wir den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zweitens. Mit über 500 000 ist die Zahl der Studienanfänger so hoch wie nie zuvor. Mit dem Hochschulpakt haben Bund und Länder dafür den entscheidenden Rahmen gesetzt. Drittens. Seit 2005 hat sich die Zahl der Stipendien für Begabte mehr als verdoppelt. Jeder kann sich jetzt in diese Stipendienkultur einbringen und dazu beitragen, dass wir mehr Stipendien in Deutschland bekommen. ({11}) Viertens. Noch nie hatten wir so viele ausländische Studierende an deutschen Hochschulen. Das zeigt die Attraktivität des Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungsstandorts Deutschland. Meine Damen und Herren, Bildung, Forschung und Innovationen sind der Schlüssel für Fortschritt und Wohlstand in diesem Lande. Sie stärken unsere Wettbe18364 werbskraft. Sie fördern die individuellen Zukunftschancen und die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Der Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland ist in den letzten Jahren wahrlich attraktiver geworden. Auf diesem erfolgreichen Weg wird die Bundesregierung weiter vorangehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wurde leider noch gar nichts zum Thema gesagt, Kollege Kretschmer. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich Ende Dezember 2011 erfuhr, dass wir in der ersten Sitzungswoche im Januar den Expertenbericht „Forschung und Innovation“ beraten, habe ich gedacht: Wow, der liegt ja früh vor. Normalerweise wird er im Februar oder März veröffentlicht, und nun werden wir schon im Januar den EFI-Bericht 2012 beraten. - Als ich dann in die Tagesordnung schaute, habe ich gesehen, dass wir über die Unterrichtung durch die Bundesregierung zum EFI-Gutachten 2011 diskutieren werden. Das heißt, die Bundesregierung hat zehn Monate gebraucht, um eine Stellungnahme zu diesem Gutachten zu erarbeiten. Dafür könnte ich sogar Verständnis haben. Diese Berichte sind wirklich sehr interessant und enthalten eine Menge Material und Informationen. Man braucht Zeit, dies vernünftig durchzuarbeiten. Aber dann habe ich diese Stellungnahme in die Hand genommen. Sie umfasst nur etwa acht DIN-A4-Seiten. Der Umfang besagt ja nicht alles. Also habe ich gedacht: Gut, vielleicht steht in der Stellungnahme viel Aussagekräftiges zu diesem Bericht. Aber mit so gut wie keinem Wort geht diese Bundesregierung auf das EFI-Gutachten ein. Das ist aber unser Thema. ({0}) Kollege Staatssekretär Rachel, in Ihrem mündlichen Vortrag haben Sie dies leider auch nicht getan; das bedauere ich sehr. Dabei wäre ein Blick in dieses Gutachten ganz interessant gewesen. Im EFI-Gutachten 2011 ist wieder eine Reihe von Kernthemen behandelt worden. Ich will nur eines beispielhaft herausgreifen. Die Kommission nimmt ein zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung Schleswig-Holstein aufgetretenes Geschacher auf: Ein zu 50 Prozent vom Land SchleswigHolstein finanziertes meereswissenschaftliches Institut war in die Helmholtz-Gemeinschaft überführt worden, sodass es nur noch zu 10 Prozent vom Land finanziert werden muss. Die schleswig-holsteinische Landesregierung kann dadurch also Geld sparen. Dieses Vorgehen, für das es politisch und wissenschaftlich überhaupt keinen Grund gibt ({1}) - doch, die Expertenkommission sagt es mit etwas anderen Worten: keine wissenschaftliche Grundlage -, ({2}) hat die Expertenkommission zum Anlass genommen, zu überlegen, ob man die Forschungsfinanzierung nicht auf eine andere Basis stellen sollte. Sie sagt: Ein einheitlicher Finanzierungsschlüssel für Forschung ist nicht nur möglich, sondern auch nötig. Das ist eine wegweisende Formulierung. Ich finde, Forschungspolitik muss sich damit befassen. Es ist beschämend, dass die Bundesregierung darauf überhaupt nicht eingeht. ({3}) Als wir fast auf den Tag genau vor sechs Jahren darüber diskutiert haben, wie die Forschungsberichterstattung in Deutschland zukünftig aussehen könnte, haben wir hier im Parlament einheitlich gesagt: Ja, es ist richtig, dass ein unabhängiges Gutachtergremium die Situation der Forschung in Deutschland beleuchtet, seine Kritik darstellt und uns Handlungsoptionen aufzeigt. Alle waren sich einig. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Stellungnahme, dass dieses Gutachten eine gute Analyse der Stärken und Schwächen des Innovationsstandortes darstellt. Sie schreibt - ich zitiere aus dem Kopf -, dass dieses Gutachten für sie sogar Grundlage für weitere forschungs- und innovationspolitische Entscheidungen sein wird. Allerdings muss man ein solches Gutachten dann auch lesen und Kritik aufnehmen. ({4}) Wir waren uns damals einig, dass wir uns von außen einen Spiegel vorhalten lassen und die Kritik annehmen müssen. Aber die Bundesregierung schaut an diesem Spiegel vorbei. ({5}) Ich habe zuerst gedacht, es sei ein Zufall, dass das dieses Mal wieder so ist. Aber beim Blick in die anderen Gutachten habe ich festgestellt: Es ist offenbar die Strategie und Systematik dieser Bundesregierung, sich von außen nicht beraten zu lassen und nicht einmal vernünftige Vorschläge anzunehmen. Im EFI-Bericht 2008 - das ist fast sogar ein positives Beispiel, an dem Sie sich laben könnten - hat als eines der Kernthemen die steuerliche Forschungsförderung sehr breiten Raum eingenommen, also die steuerliche Förderung von Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren. Wir als SPD haben das etwas zurückhaltend beurteilt. Wenn man dadurch tatsächlich Investitionen heben kann, ist das ein geeignetes Instrument. Wenn damit Wirtschaftsförderung einhergeht, kann man darüber reden. Aber es kostet viel Geld - die notwendigen Mittel muss man haben -, und es darf nicht zulasten der Projekt- oder Grundlagenforschung gehen. Vor diesem Hintergrund waren wir hier sehr zurückhaltend. Es waren die beiden Fraktionen von CDU/CSU und FDP und eine Bundesministerin, die sich in Sachen steuerliche FuE-Förderung so weit aus dem Fenster gelehnt haben, dass dem Betrachter schon schwindelig wurde. Wissen Sie, was passiert ist? Nichts. Selbst die Gutachtenempfehlung, die für Sie eigentlich positiv ausgefallen ist und positiv angenommen worden ist, ist nicht umgesetzt worden. ({6}) Sie haben sich zwar weit aus dem Fenster gelehnt, aber Sie haben kein Stück zur steuerlichen FuE-Förderung in Deutschland beigetragen. ({7}) Im EFI-Gutachten 2009 war Bildung eines der Kernthemen. Gleich im Vorwort steht ein ganz wichtiger Satz: dass uns die Schwächen des deutschen Bildungssystems nachhaltig belasten und zu einer Bedrohung für die Innovationsfähigkeit Deutschlands werden. Ein bestimmtes Diagramm, das in diesem EFI-Bericht enthalten war, habe ich danach auch in vielen anderen Publikationen gesehen. Hier geht es darum, dass die Bildungschancen der Menschen in Deutschland so sehr wie in keinem anderen Industrieland von der Herkunft abhängig sind. Diese Abbildung macht deutlich: Von 100 gleich begabten Kindern, die aus Akademikerfamilien stammen, werden 83 ein Studium aufnehmen, von 100 gleich begabten Kindern, die aus Arbeitnehmerfamilien stammen, nur 23. Die Herkunft entscheidet also über die Bildungschancen. Der Appell, hier aktiv zu werden, wurde übrigens nicht nur an die Bundesregierung, sondern auch an die Politik insgesamt gerichtet. Was haben Ihre Fraktionen gemacht? Sie haben vor diesem Gutachten wie erstarrt verharrt. Der Bundesparteitag der CDU hat sich dann entschieden, sich von der Hauptschule zu verabschieden - völlig ignorierend, dass viele CDU-Bürgermeister in ländlichen Regionen längst Abstand von der Hauptschule genommen haben, weil sie sich diese aus demografischen Gründen nicht mehr leisten können. Aber es gibt auch Regierungen, die die Ungleichgewichte im Bildungssystem wahrnehmen und handeln. Ich bin sehr froh, dass die neue rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Studiengebühren ausgesetzt und zurückgenommen hat. Sie sind nämlich ein wesentliches Kriterium dafür, dass Arbeitnehmerkinder kein Studium aufnehmen. Es gibt also tatsächlich Regierungen, die handeln. ({8}) - Nein, das war kein großer Fehler. Vielleicht muss man etwas weniger als ein Abgeordneter, also weniger als 8 000 Euro im Monat, verdienen, um sich vorstellen zu können, dass eine normale Arbeitnehmerfamilie Schwierigkeiten hat, 1 000 Euro pro Jahr für das Studium der Kinder aufzubringen. ({9}) Vielleicht ist das eine Wahrnehmungsfrage. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Murmann?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Röspel, es ist nett, dass Sie eine Zwischenfrage gestatten. - Auch Sie haben sich inzwischen ja etwas von dem Gutachten entfernt. Deswegen möchte ich Sie fragen, wie Sie folgende Zusammenfassung, die am Ende des Gutachtens zu lesen ist, bewerten: Die dargestellte Bilanz zeigt: Deutschland ist im Bereich von Forschung und Innovation attraktiver und stärker als je zuvor. ({0}) Deutschland hat seine Stellung als dynamischer Innovations- und Forschungsstandort in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Die Bundesregierung arbeitet daran, diesen Erfolgskurs in den kommenden Jahren fortzusetzen und Deutschlands Innovationsführerschaft weiter auszubauen - mit umfangreichen Maßnahmen, zielgerichteter Förderung und übergreifender strategischer Innovationspolitik unter dem Dach der Hightech-Strategie. Denn Bildung, Forschung und Innovationen sind der Schlüssel für Wachstum, Wohlstand und Zusammenhalt und damit eine der wichtigsten Grundlagen für eine gute Zukunft in Deutschland. Das, was ich zitiert habe, war die komplette Zusammenfassung der Studie. Wie bewerten Sie das?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich nur voll unterstreichen, weil es in der Tat so ist, dass Deutschland heute besser dasteht als vor 10 oder 15 Jahren. ({0}) - Das ist noch Teil der Beantwortung. - Im EFI-Gutachten ist übrigens immer eine ganz spannende Tabelle enthalten, die weit über das hinausgeht, was in der Stellung18366 nahme der Bundesregierung zu lesen ist, in der nämlich nur die Entwicklung seit 2005 betrachtet wird. Aus dem Stand: Im EFI-Bericht 2009 können Sie auf Seite 72 die Abbildungen 13 und 14 finden. Dort ist die Entwicklung der Anteile der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, seit 1982 dargestellt. Hier wollen wir uns ja dem vereinbarten Ziel - das sagte auch Staatssekretär Rachel - nähern. Man sieht hier: Als Helmut Schmidt die Regierung an Helmut Kohl abgegeben hat, war dieser Anteil viel höher als zu dem Zeitpunkt, als Helmut Kohl die Regierung an Gerhard Schröder abgab. ({1}) Das heißt, die erste christlich-liberale Koalition hat diesen Bereich heruntergewirtschaftet. Unter der rot-grünen Bundesregierung, seit 1998, haben wir der Forschung und Entwicklung sowie der Bildung wieder einen Stellenwert gegeben und entsprechende Finanzen dafür zur Verfügung gestellt. ({2}) Es ist richtig und gut, dass die Große Koalition das fortgesetzt hat und Sie das jetzt auch tun. Deswegen kann ich das unterstreichen. ({3}) Urheber waren aber nicht Sie, sondern andere. Ich denke, damit ist Ihre Frage in aller Kürze ausreichend beantwortet. Wenn man sich das vorletzte EFI-Gutachten, das von 2010, anschaut, dann sieht man: Eines der Kernthemen ist die Föderalismusreform. Seit der Föderalismusreform hat der Bund nicht mehr die Möglichkeit, den Ländern und sogar den Kommunen finanzielle Mittel für Bildung zur Verfügung zu stellen. Wer in den Kommunen tätig ist, der weiß, dass sie danach lechzen. Das Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahre 2003 hat zu über 7 000 Ganztagsschulen geführt und den Kommunen geholfen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Im EFI-Bericht 2010 findet sich zum ersten Mal die Forderung, dass das Kooperationsverbot dringend beseitigt werden muss. Diese Forderung, die auch im aktuellen Bericht steht, ist an uns alle gerichtet, weil wir das in der Großen Koalition beschlossen haben. ({4}) Hier muss etwas passieren. Auch dazu hätte ich mir eine Äußerung seitens der Bundesregierung gewünscht. Vielleicht hören wir ja aus den Regierungsfraktionen gleich noch etwas dazu. Das ist ein dringender Appell der Expertenkommission. Dem sollten wir uns annehmen. Wir als SPD haben das getan. Wir werden in der nächsten Woche einen Antrag in Richtung Aufhebung des Kooperationsverbotes einbringen, und Sie als Regierung sind herzlich eingeladen, an diesem vernünftigen Antrag mitzuwirken und ihn zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Röspel, Sie haben völlig recht: Wir müssen uns mit dem EFI-Gutachten und mit den Aussagen darin kritisch auseinandersetzen. Das werden wir tun. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf Ausführungen zum Gutachten 2011. Darin gibt es eine ganze Reihe von Empfehlungen. Ich gehe der Reihe nach vor und ziehe nicht nur die eine oder andere heraus. Ich möchte an dieser Stelle feststellen, dass wir - das ist dort deutlich vermerkt worden - nach der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder eine führende Position in der Weltwirtschaft eingenommen haben, vor allen Dingen auch aufgrund der guten Forschungs- und Innovationspolitik. ({0}) Ein Grund für diese Entwicklung - das kann ich an dieser Stelle nur noch einmal unterstreichen - ist natürlich unsere technologie- und innovationsorientierte Volkswirtschaft. Im Gutachten kann man recht deutlich nachlesen, dass wir vor allen Dingen von den forschungsintensiven Industrien und von Spitzen- und Höchsttechnologien profitieren. Auch in diesem Jahr wird die Entwicklung bei uns aufgrund eines Wirtschaftspotenzials mit Wachstumserwartungen von 0,75 Prozent überaus stabil sein. Diese Leistungsfähigkeit wird vom Innovationsindikator belegt. Hier ist Deutschland - das ist immer wieder hervorzuheben - auf gutem Wege. Das lassen wir uns nicht schlechtreden. In den letzten Jahren haben wir uns im Ranking der innovativsten Nationen auf einen der vorderen Spitzenplätze vorgearbeitet. Das ist ganz wichtig. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass wir gegenüber vielen anderen OECD-Staaten und Konkurrenten einen Vorsprung durch Ideen und Innovationen haben. Das müssen wir bewahren und weiter ausbauen. ({1}) Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den Mitgliedern der Expertenkommission Forschung und Innovation für ihre geleistete Arbeit. Kollege Röspel, jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, den Sie auch angesprochen haben. Ein Grund für diese erfolgreiche Entwicklung liegt vor allem in der Dr. Martin Neumann ({2}) selbstkritischen Analyse. Das ist genau der Punkt, und genau das tun wir an dieser Stelle. ({3}) - Frau Sager, Sie haben ja gleich im Anschluss noch Gelegenheit, das aus Ihrer Sicht darzustellen. - Ich glaube, wir dürfen uns an dieser Stelle nicht auf den Erfolgen ausruhen - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, ({4}) sondern wir haben unsere Position immer wieder bzw. fortwährend zu überprüfen. Hier brauchen wir auch kritische Stimmen, die uns die Schwächen vor Augen führen und an der Bewertung keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese kritischen Stimmen können und sollen natürlich auch aus dem Wissenschaftssystem selbst kommen. An dieser Stelle muss es einen Dialog geben. Ich möchte hervorheben - deshalb ist dieser Bericht für uns sehr wertvoll -, dass aus meiner Wahrnehmung heraus der Stellenwert der Expertenkommission mit jedem Bericht wächst. Es gehört zur kritischen Analyse, dass wir über die Grenzen hinausschauen. Das ist ganz wichtig, vor allen Dingen in diesem Wettbewerb. Wenn wir uns die internationalen Entwicklungen konkreter anschauen und analysieren, stellen wir wieder fest, dass wir an dieser Stelle wirklich führend sind. Wenn wir zum Beispiel nach Skandinavien blicken oder in den südostasiatischen Raum, stellen wir fest, dass wir uns mitten in einem Wettbewerb befinden. Dieser Wettbewerb - das ist an alle Adressen gerichtet - nimmt keine Rücksicht auf Versäumnisse, sei es bei Investitionen, sei es bei der notwendigen Weichenstellung für Forschung und Innovation. In diesem Wettbewerb zählt nur die richtige Forschungspolitik. An dieser Stelle hat die Expertenkommission den Finger tief in die Wunde gelegt. Die Schwächen werden benannt - das ist ganz klar - und Empfehlungen gegeben. Ich glaube aber festzustellen - in diesem Kontext treffen wir uns dann wieder -, dass der Weg richtig ist und dass vor allen Dingen - das gilt auch in der Wirtschaft - das richtige Klima geschaffen wird - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung der Investitionen des Bundes, sei es zusätzlich durch eine Wirtschaftspolitik, die Mehrausgaben in Forschung und Entwicklung generiert. Dabei belegt das Gutachten 2011, dass wir mit der strukturellen und vor allen Dingen strategischen Ausrichtung auf dem richtigen Weg sind. ({5}) Die Koalition hat mit der weiterentwickelten Hightech-Strategie 2020 eine missionsartige - so möchte ich das sagen - Ausrichtung vorgenommen und die Forschungs- und Innovationsförderung auf globale Herausforderungen ausgerichtet. Daneben ist der Pakt für Forschung und Innovation als ein ganz entscheidendes Instrumentarium etabliert. ({6}) Wir zielen mit dem Pakt auf die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die wir als integralen Bestandteil unseres Innovationssystems verstehen. Genau diese Einrichtungen müssen weiter gestärkt und auch weiter an die Wirtschaft herangeführt werden. ({7}) Hier ist eine jährliche Steigerung der Mittel von mindestens 5 Prozent zu verzeichnen. Damit geben wir ein deutliches Signal. Hier kommt die Stelle, an der wir genauer hinschauen müssen, Herr Kollege Röspel - das sage ich auch an Ihre Adresse -: Wir müssen darauf achten, dass es in der Finanzierung der Hochschulen in der Kombination mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen eine Balance zwischen der Steigerung der Mittel, die ich gerade angesprochen habe, und dem, was über die Länderhaushalte an Mitteln für die Hochschulen bereitgestellt werden muss, gibt. Auf diese Balance müssen wir achten. ({8}) Das heißt aber auch - dazu wird in dem EFI-Gutachten ausreichend Stellung genommen -, dass wir das gesamte System der Wissensgesellschaft im Auge behalten müssen. Das beginnt tatsächlich mit dem „Haus der kleinen Forscher“ im Kitabereich und hört bei hochwertigen Forschungsergebnissen auf. Wenn man sich die Biografien der vielen erfolgreichen Nachwuchswissenschaftler genauer anschaut, sieht man, dass ihre Karriere tatsächlich auf Förderung und vor allen Dingen auf der hohen Qualität des Studiums beruht. Vor diesem Hintergrund sollten wir das Talentmanagement im Bereich der Forschung und der Hochschulen tatsächlich als eine zukünftige Aufgabe erkennen. An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen - das muss man hervorheben, weil es ein Schritt auf dem richtigen Weg ist -, dass wir mit der Aufstockung der Mittel für den Qualitätspakt Lehre und dem Hochschulpakt eine wirklich sehr gute finanzielle Grundlage gelegt haben. ({9}) Weil es zum System gehört und weil die Opposition immer verschiedene Argumente dagegen anführt: In diesem Zusammenhang freut mich die positive Aufnahme des Deutschlandstipendiums durch die Expertenkommission. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie immer machen. ({10}) Sie sagen immer: Das ist eine einseitige Orientierung. Ich sage noch einmal: Wir brauchen eine Kultur der Förderung und der Unterstützung der Hochschulen in den Regionen, wir brauchen ein funktionierendes bürgerschaftliches Engagement und müssen alle Kräfte der Gesellschaft bündeln, die ein Interesse daran haben, dass es auf diesem Weg weitergeht. ({11}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist zu knapp, um sich den vielen Aspekten zu widmen. Die Dr. Martin Neumann ({12}) Kommission hat uns sehr viele Empfehlungen mit auf den Weg gegeben. Darüber muss geredet werden. Ich habe das vorhin betont. Damit wir weiterhin Erfolg erzielen, ist, glaube ich, auch eine selbstkritische Analyse wichtig. Ich kann Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir uns in allen Projekten, die notwendig sind, bei allem Guten und Positiven wie auch da, wo wir tatsächlich noch Kräfte bündeln müssen, nicht auf dem Erfolg ausruhen, sondern wir werden uns als christlich-liberale Koalition für eine Fortentwicklung des Forschungs- und Innovationssystems einsetzen. Lieber Kollege Röspel, ich muss das noch ansprechen, weil Sie es hervorgehoben haben: Auf die vielen Empfehlungen und Hinweise werden wir Antworten geben. ({13}) Ich bedanke mich. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über ein Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation. Dieser Gruppe gehören sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Wirtschafts-, der Rechts- und der Sozialwissenschaft an. Sie haben, wie man es von der Wissenschaft erwarten darf, auch im Jahr 2011 - Herr Röspel hat es schon gesagt ihrer Auftraggeberin kein Gefälligkeitsgutachten vorgelegt und nicht nur eitel Freude bereitet. ({0}) Dafür kann man sich bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nur bedanken. Ich hoffe, dass auch nach der personellen Umbesetzung dieser Gruppe eine solche kritische Distanz bewahrt werden kann. Immerhin haben die Gutachten der letzten Jahre deutliche Signale gesetzt. Ich denke beispielsweise an den Verriss der Studienreform - nichts anderes als ein Verriss war es - oder an die Kritik zur Komplexität und Budgettransparenz eben jener von Ihnen gelobten Hightech-Strategie und Innovationspolitik. So weit, so gut. Wie hat die Bundesregierung auf das Gutachten 2011 reagiert? Auch in diesem Jahr hat die Bundesregierung zunächst einmal mit bunten Bildchen reagiert. Mit ihnen werden die wachsenden Mittel für Forschungsförderung gefeiert. Das Eigenlob aus den Haushaltsberatungen bekommt sozusagen einen visuellen Gedächtnisschrein. Aber die Expertenkommission ist eben nicht in Andacht erstarrt. Sie hat vielmehr festgestellt, dass man den Aufwuchs der Mittel grundsätzlich anerkennen müsse. ({1}) Das ist aber auch schon alles. Nicht die Menge macht es; manchmal macht es erst die Qualität. Es bleibt festzuhalten, dass mehr Mittel allein kein Garant für eine moderne Innovationspolitik sind. Zu den dann folgenden Kritiken - das hat Herr Röspel schon gesagt - äußert sich die Bundesregierung entweder gar nicht, oder sie reagiert durch gegenteilige Politik darauf. Deshalb frage ich mich: Warum vergibt die Bundesregierung überhaupt derartige Aufträge, wenn sie in diesen Punkten nicht wirklich im Kern etwas ändern will? Da kippt der Buddha aus dem Schrein. ({2}) Die Linke dagegen will etwas ändern. Lassen Sie mich das an einem Thema erklären, welches schon fast als Dauerbrenner der Berichte gelten kann: Föderalismus und Bildung. Die Kommission fordert unmissverständlich, den Wettbewerbsföderalismus im Bildungsbereich einzudämmen. ({3}) Stattdessen soll eine kooperative Bildungspolitik praktiziert werden. Ebenso fordern die Expertinnen und Experten erneut die Überwindung der sozialen Spaltung im Bildungswesen. Das wurde also nicht nur 2009 gefordert, wie Herr Röspel gesagt hat, sondern auch im diesjährigen Gutachten. Mehr Menschen aus bildungsfernen Schichten sollen an die Hochschulen dieses Landes kommen können. Ich frage mich: Wie viele Gutachten braucht es noch, bis man in diesem Punkt nachhaltig umsteuert? ({4}) Schließlich werden neue Angebote für Ganztagsschulen gefordert. Die Lernbedingungen sollen verbessert und die Zahl der Abgänge ohne Abschluss soll gesenkt werden. Die Linke fühlt sich durch die Kommission in ihren Positionen bestärkt. Ich zitiere aus dem Gutachten: Gute Bildungspolitik ist die Voraussetzung guter Innovationspolitik. ({5}) Seit Jahren drängen wir hier im Bundestag auf ein Bildungswesen, das individuelles Lernen tatsächlich ermöglicht. Es soll Schwächen ausgleichen, und es soll eben auch die vielfältigen Talente von Kindern und Jugendlichen fördern. Das wird aber nicht ohne Bundeshilfe gehen. Das bleibt auch in Bundesverantwortung, weil Bildung zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen gehört. ({6}) Was macht die Bundesregierung? Statt das Kooperationsverbot zu beerdigen und mit den Mitteln konsequent und ohne Umwege das öffentliche Bildungswesen zu stärken, wird viel Geld auf Nebengleisen - mit vielen bürokratischen Zwischenstopps - geparkt oder in solche Programme wie Bildungs- und Teilhabepaket sowie ein elitäres Studienprogramm geleitet. Das alles sind bürokratische Monster, bei denen klar ist, dass viel Geld an Stellen verpulvert wird, die mit Bildung direkt nichts zu tun haben. ({7}) Viel wichtiger wäre es, mit diesen vielen Mitteln das öffentliche Bildungswesen zu stärken. So könnte man wesentlich mehr Effekte erzielen. ({8}) Gemeinsam mit den Ländern sollte flächendeckend für eine gute Ausstattung der Bildungseinrichtungen gesorgt werden. Die Umsetzung moderner Lern- und Lehrformen sollte gesichert werden. Gute Kitaplätze für alle Kinder, längeres gemeinsames Lernen in Ganztagsschulen, offene, attraktive Hochschulen, und zwar nicht nur an einzelnen exzellenten Standorten, sondern überall, genau das sind die Aufgaben, die im Gutachten der Expertenkommission nachzulesen sind. Genau das gehört zu einer guten Innovationspolitik. ({9}) Aber auch in Wissenschaft und Forschung wächst nun die Kritik am Wettbewerbsföderalismus. Das Einwerben von zusätzlichen Mitteln, sogenannten Drittmitteln, aus der Wirtschaft und Bundesprogrammen wie beispielsweise der Exzellenzinitiative dominiert mehr und mehr die Haushaltsanstrengungen an Wissenschaftseinrichtungen. Heute wissen wir aber aus vielen Schilderungen, dass der Dauerstress wegen endloser Antragsrennen insbesondere personelle Ressourcen bindet, die letztlich massiv in der Lehre, aber auch in der Forschung fehlen. Angesichts der 19 000 Programme, die das Bundesforschungsministerium bereits jetzt finanziert, fragt man sich doch: Wäre das Geld nicht viel besser angelegt, wenn man einen Teil davon nutzte, um die Grundausstattung von Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern? ({10}) - Das kann sein. Aber wir werden versuchen, das zu verhindern. Schließlich könnten die Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses dadurch verlässlicher und gerechter gestaltet werden. Natürlich gehört dazu auch eine entsprechende Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Laufen nun Hochschulpakt und Exzellenzinitiative in ein paar Jahren aus, müssen wir dann sowieso über ein nachhaltiges Finanzkonzept diskutieren. Mir ist völlig klar, dass ein solches Konzept nicht erarbeitet werden kann, ohne zuvor das Kooperationsverbot beerdigt zu haben. Die Expertinnen und Experten, also die Geister, die Sie selbst gerufen haben, haben viele praktikable Vorschläge gemacht. Es bedarf schlicht und ergreifend mutiger und innovativer Grundsatzentscheidungen. Beim Kooperationsverbot können Sie damit anfangen. Nächste Woche werden wir darüber im Bundestag diskutieren. Dann werden wir sehen, welche Schlussfolgerungen Sie ziehen. Danke. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat das Jahresgutachten 2011 der Expertenkommission Forschung und Innovation leider ausgesprochen selektiv zur Kenntnis genommen. ({0}) Dass Sie in Ihrer Stellungnahme zu jedweder Kritik total schweigen - das haben die Kollegen bereits angesprochen -, ist peinlich. ({1}) Diese Expertenkommission wurde von der Bundesregierung eingesetzt. Was haben Sie denn eigentlich von diesen Experten erwartet? Kollektive Lobhudelei, oder was? ({2}) Sie behandeln das wie das Rauschen im Wald. Ich finde, dass Sie eine Missachtung gegenüber Ihren eigenen Experten an den Tag legen, wenn Sie kritische Aspekte mit keinem Wort erwähnen. Dass die Opposition das nun anders macht, wird Sie sicherlich nicht verwundern. ({3}) Kommen wir also zu einem besonders beliebten Thema: die steuerliche Forschungsförderung. Die Expertenkommission hat die steuerliche Forschungsförderung wiederholt angemahnt. Wir wissen, dass sich das in anderen Ländern als ein ergänzendes Instrument für kleinere innovative Unternehmen bewährt hat, die von der Projektförderung viel weniger profitieren als Groß18370 unternehmen. Dass die CDU/CSU da bisher nichts zustande bekommen hat, finde ich besonders peinlich. ({4}) Sie haben sich gleich zweimal ein Bein gestellt, sehr verehrter Herr Rupprecht. Das erste Mal haben Sie sich ein Bein gestellt, als Sie sich auf die dödelige Klientelpolitik der FDP, lieber Hoteliers zu fördern, als steuerliche Forschungsförderung zu betreiben, eingelassen haben. ({5}) Das zweite Mal haben Sie sich ein Bein gestellt, als Sie sich von den Industrieverbänden ein besonders teures Modell haben einreden lassen. Dieses Modell wäre nicht nur teuer; es würde vor allen Dingen die Großkonzerne der Pharma- und Autobranche bevorzugen. Dass Sie das bei Ihrem Bundesfinanzminister schlecht durchbekommen, muss einen nicht verwundern. Die Gutachter haben einfach recht, wenn sie sagen: Da muss die Koalition jetzt endlich einmal etwas zustande bringen und Farbe bekennen. ({6}) Die Kolleginnen und Kollegen haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es richtig ist, im Zusammenhang mit der Innovationspolitik die Bildungspolitik zu thematisieren, weil sie die Grundlage jeder Innovationspolitik ist. ({7}) Da finden die Gutachter erfreulicherweise klare Worte. Sie sagen nämlich ganz deutlich: Das deutsche Bildungssystem ist selektiv, und es bietet zu wenig Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Bildungsreserven werden aus Sicht der Gutachter nicht effektiv genug mobilisiert. Sie benennen auch Problemgruppen. Dazu gehören ganz besonders Kinder und junge Menschen aus einkommensschwächeren Familien, die von der Kinderbetreuung über die Schule bis in den Hochschulbereich hinein benachteiligt werden. Vor diesem Hintergrund muss man noch einmal eines feststellen: In diese Logik hinein kommen Sie jetzt mit Ihrem Betreuungsgeld, das Eltern belohnen soll, wenn sie ihre Kinder nicht in eine Kita mit der damit verbundenen Frühförderung bringen, sondern davon fernhalten. Das ist bildungspolitisch ein Irrläufer erster Klasse. ({8}) Dass Sie darüber kein Wort verlieren, finde ich auch blamabel. Dieses Instrument der Betreuungsprämie passt auch nicht zu einem anderen Thema der Gutachter, nämlich dass wir die Potenziale der jungen Frauen nicht genügend ausschöpfen. Die Große Anfrage der Opposition hat gerade gezeigt, dass nicht nur im Wirtschaftsbereich, sondern auch im Wissenschaftsbereich der Fortschritt leider immer noch eine Schnecke ist, wenn es darum geht, Frauen in Spitzenpositionen zu bringen. Die Bundesregierung scheut davor zurück, da endlich zu verbindlichen Regelungen zu kommen. Auch da: Schlechte Politik! ({9}) Die Expertenkommission fordert außerdem, den sich abzeichnenden Fachkräftemangel stärker durch eine gezielte Einwanderungspolitik zu bekämpfen. Was macht die Regierung da? Flickenteppich! Stückwerk! Hier eine Einzelfalllösung, dort eine Einzelfalllösung! Wir brauchen wirklich ein Punktesystem für die Einwanderung, und wir brauchen auch eine wirkliche Willkommenskultur. Das zu Recht als Unwort des Jahres qualifizierte Wort „Döner-Morde“ zeigt doch, dass wir bei der Willkommenskultur wirklich noch Nachholbedarf haben. ({10}) Das Jahresgutachten 2011 setzt sich ausgesprochen kritisch mit der Föderalismusreform 2006 auseinander. Die Gutachter - das wurde von den Kolleginnen und Kollegen hier schon gesagt - fordern die Rückkehr zu einem kooperativen Föderalismus. Sie fordern ganz klar die Rücknahme des Kooperationsverbotes. Für diese Forderung erfahren sie mit Sicherheit nicht nur viel Unterstützung bei den Wissenschafts- und Bildungsorganisationen, sondern zunehmend auch in der Bevölkerung. ({11}) Deswegen stellt sich besonders die Frage: Warum schweigt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu diesem Punkt? ({12}) Es ist doch unlogisch, dass die Länder eine zunehmend steigende Belastung aus der gemeinsamen Forschungsfinanzierung zu verkraften haben, dass sie immer weniger in der Lage sind, die Grundfinanzierung ihrer Hochschulen angemessen sicherzustellen, aber parallel dazu der Bund sich beim Ganztagsschulausbau seit 2006 aus der gemeinsamen Finanzierung verabschiedet hat. Da passt eindeutig etwas nicht zusammen. Daher brauchen wir eine Verfassungsreform, zu der sich die Bundesregierung dann auch bekennen müsste. ({13}) Bemerkenswert ist auch, dass die Gutachter kritische Anmerkungen zur gemeinsamen Forschungsfinanzierung machen. Auch wir sind der Meinung, dass die Strukturen nicht mehr logisch zu erklären sind: die unterschiedlichen Finanzierungsschlüssel und die Zuordnung von Einrichtungen zu Forschungsorganisationen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag vorgelegt und denken, dass wir hierüber in eine Diskussion kommen müssen. Das, was die Gutachter als einheitlichen Schlüssel vorlegen, hat uns nicht überzeugt, weil es viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten nicht beseitigt. ({14}) Aber es darf wegen dieser Problematik nicht mit der „Helmholtzifizierung“ der Forschungslandschaft weitergehen. Wir müssen an dieses Thema heran, das hat der Wissenschaftsrat angemahnt und das sagt auch der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Wir erwarten, dass sich auch die Bundesregierung diesem Thema endlich stellt. Es gibt im deutschen Forschungs- und Innovationssystem durchaus mutmachende Aufbruchsignale - das bestreiten wir überhaupt nicht -, aber es gibt auch viele Baustellen. Aber wenn eine Bundesregierung überhaupt nicht in der Lage ist, sich auf Kritik einzulassen, dann bezweifeln wir, dass sie zu dem in der Lage ist, was die Gutachter immer wieder anmahnen: eine kritische, transparente und ehrliche Bestandsaufnahme und ehrliche Evaluation Ihrer Politik. Das leistet Ihre Stellungnahme in keiner Weise. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Koalitionsfraktionen ist klar: Nur mit Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit können wir auf internationaler Ebene bestehen und unseren Wohlstand im internationalen Vergleich auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erhalten. ({0}) Deshalb, meine Damen und Herren: Deutschland soll ein innovatives Industrieland sein und bleiben. ({1}) Wir haben in den Krisen der vergangenen Jahre mehr als deutlich gelernt, welch große Bedeutung die innovative Kraft und die technologische Leistungsfähigkeit unseres Landes haben, um durch diese Krisen hindurchzukommen. Aus diesem Grund ist für uns vollkommen klar, dass wir in diesem Bereich weiter investieren müssen und jeder Euro, der in die Wissenschaft geht und für technologische Kooperation sowie für die Fachkräfteentwicklung angewendet wird, gut angelegtes Geld ist. ({2}) Wir investieren in den schweren Zeiten der Haushaltskonsolidierung, in Zeiten, in denen wir eine Verschuldungsbremse haben, zusätzliches Geld in Milliardengrößenordnungen in diesen Bereich und haben es geschafft, dass Deutschland das erste Mal seit der Wiedervereinigung 1990 beim Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt wieder vor den USA liegt. Das ist ein starkes Signal. ({3}) Wenn hier zwischen Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder verglichen wird, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass dazwischen die deutsche Einheit, ein gewaltiger Kraftakt, gelegen hat, den dieses Land, den wir erfolgreich gestemmt haben. Ich finde, es gehört zur Redlichkeit dazu, dass man dies immer wieder sagt, Herr Kollege Röspel. ({4}) Nein, meine Damen und Herren, diese Koalition unter der Regierung von Angela Merkel hat nicht nur davon gesprochen, dass Forschung und Entwicklung wichtig sind, sondern sie hat dies wie keine Regierung in der Vergangenheit, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wahrgemacht und in Forschung und Entwicklung investiert. Das können Sie beklagen, ({5}) und Sie können immer irgendwie daran herumkritteln, aber die deutschen Forschungsorganisationen, die deutsche Wissenschaft sowie der hier vorliegende Bericht sprechen eine ganz klare Sprache: Es wird anerkannt, und die Menschen sind dankbar dafür, dass auf uns Verlass ist, dass wir in diesem Bereich gemeinsam investieren. ({6}) Sie haben drei Punkte angesprochen: den einheitlichen Finanzierungsschlüssel, die steuerliche Forschungsförderung und das Kooperationsverbot. Zu allen drei Punkten möchte ich etwas sagen. Der einheitliche Finanzierungsschlüssel ist ein wichtiger Teil der Überlegungen zu der Frage, wie man das Wissenschaftssystem und die außeruniversitäre Forschung in Zukunft neu aufstellt. Ich möchte nur eines zu bedenken geben: Als die Regierung von Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn hier aktiv war, gab es nur ein Hauen und Stechen zwischen Ländern und Bund, weil sie permanent mit dem Kopf durch die Wand wollte. ({7}) Sie hat per Dudenhausen-Erlass verfügt, dass sich die außeruniversitäre Forschung nicht mehr an den Fachprogrammen des BMBF beteiligen konnte. Damit haben wir aufgeräumt. Wir haben heute eine ganz andere Kooperationskultur. Heute herrscht ein Klima, in dem über einen einheitlichen Finanzierungsschlüssel gesprochen wird. ({8}) Ich bin froh darüber, dass neutrale Wissenschaftler diesen Gedanken aufwerfen. Wir sollten uns damit intensiv beschäftigen. Wir sollten allerdings nicht so tun, Herr Kollege Röspel, als würde die Welt von diesem kleinen Raum hier gesteuert. Wir leben vielmehr in einem föderalen Land. Das heißt, die Länder haben ein ganz gewichtiges Wort mitzusprechen. Für meine Fraktion möchte ich ganz deutlich sagen: Wir wollen diese Diskussion führen, aber auf Augenhöhe mit den Ländern und nicht mit erhobenem Zeigefinger. Das ist der größte Unterschied zwischen unseren Fraktionen. ({9}) Wenn ich es richtig verstanden habe, haben wir die Grünen und die SPD überzeugt, dass die steuerliche Forschungsförderung in Deutschland eingeführt werden soll. Das ist ein tolles Signal. Das war in den vergangenen Jahren anders. ({10}) Ich habe da ganz andere Sachen gehört. Für die Koalitionsfraktionen ist klar, dass die steuerliche Forschungsförderung ein wichtiges Instrument ist, das wir gerne realisieren möchten. Aber, meine Damen und Herren, man muss ehrlich und redlich sein und seine Prioritäten klar benennen. ({11}) Wir haben unsere Prioritäten in den vergangenen Jahren und auch in diesem Jahr deutlich gemacht: Hochschulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzinitiative und viele andere Dinge. ({12}) Sobald finanzieller Spielraum für die steuerliche Forschungsförderung da ist, werden wir sie auch einführen. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Ich finde es in Ordnung, dass Sie Ihre Position in diesem Punkt geändert haben. Sie können gerne auch an diesen Projekten mitwirken, meine Damen und Herren. ({13}) Der letzte Punkt betraf die Frage des Kooperationsverbotes. Es wird in der kommenden Woche ja noch einmal Gelegenheit sein, intensiv darüber zu diskutieren. Auch in der Diskussion darüber stört mich einiges. Ich kenne keinen Antrag SPD-regierter Länder im Bundesrat, in dem gefordert wird, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird. ({14}) Das wäre allerdings der erste Schritt, der passieren müsste. Wir reden dauernd von Bundesländern, die ihre Aufgaben nicht erfüllen können - vor allen Dingen Sie erzählen davon. Sie sagen nicht, dass vor allen Dingen Länder, in denen die SPD regiert oder mitregiert, wie Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und jetzt Mecklenburg-Vorpommern, bei Wissenschaft und Forschung kürzen. ({15}) Wir werden in der nächsten Woche die Zahlen noch einmal miteinander diskutieren können. Vor allen Dingen tun Sie aber so, als könnten Sie für die Länder bestimmen und denen sagen, was richtig und was falsch ist. Wenn es um das Kooperationsverbot geht, müssen wir als Allererstes

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich bin sofort so weit - zur Kenntnis nehmen, dass es eine gemeinsame Kommission von Bundesländern und Bundestag, geführt von Müntefering und Stoiber, gab, in der auf Augenhöhe all das verhandelt wurde, was wir dann, übrigens auch gemeinsam mit der SPD, umgesetzt haben. Wenn hier jetzt wieder Veränderungen angemahnt werden, sollten wir darüber genau auf derselben Augenhöhe diskutieren und nicht versuchen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. ({0}) Das führt mit Sicherheit nicht zu einem vernünftigen Ergebnis. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin schon etwas verwundert über den Verlauf der Debatte. Ich habe das Gutachten gar nicht als eine Beurteilung des Regierungshandelns der schwarz-gelben Koalition gelesen, sondern als einen reichhaltigen Denkanstoß für die Entwicklung von Innovationen in Deutschland. ({0}) Vielleicht sollten wir uns mehr auf diesen Aspekt konzentrieren. Sie listen hier - auch die Bundesregierung hat das getan - alles nur akribisch auf, greifen aber keine einzige Empfehlung der Kommission konstruktiv auf. Zur Redlichkeit - darauf ist hier ja schon eingegangen worden - gehört auch, zu sagen, dass die wesentlichen Big Points, auf die sich die Forschungspolitik heute in Deutschland bezieht, gar nicht von der schwarz-gelben Koalition eingeführt worden sind, sondern dass die entOliver Kaczmarek sprechenden Grundlagen während der rot-grünen Regierungszeit gelegt worden sind und die Hightech-Strategie, die so oft angesprochen worden ist, während der Großen Koalition in Angriff genommen worden ist. Das zu sagen, hätte auch zur Redlichkeit gehört. Hier schmückt man sich mit fremden Federn. ({1}) Völlig richtig ist, dass der Bericht auch festhält, dass es eben nicht nur um Forschung und Entwicklung gehen darf, sondern dass auch nach dem gesellschaftlichen Nutzen von Forschung und Innovation zu fragen ist; denn nicht jede Innovation, nicht alles Neue ist zugleich ein Fortschritt. Für die SPD verbindet Fortschritt technologische Innovation und wirtschaftlichen Erfolg mit gesellschaftlichem und individuellem Wohlstand. Fortschritt soll eben auch zu sozialer Sicherheit und demokratischer Teilhabe der gesamten Gesellschaft beitragen. Wir müssen auch erkennen: Das Fortschrittsverständnis der Vergangenheit stößt bezüglich Ressourcenverbrauch und Klimaschutz an seine Grenzen. Nicht zuletzt deshalb haben wir ja auch parteiübergreifend eine Enquete-Kommission eingerichtet, die zum Ziel hat, einen alternativen Wohlstandsindikator zu entwickeln. ({2}) Vielleicht findet diese Verbindung von gesellschaftlichem Fortschritt und Innovation derzeit ihren deutlichsten Ausdruck in der Bedeutung und Nutzung des Internets. Innovation ohne das Internet kann zumindest ich mir nicht vorstellen. Deswegen widmet die Expertenkommission diesem Thema einen breiten Raum und zeigt auf, dass das Internet zumindest derzeit der größte und dynamischste Raum für Innovationen ist. Der Schutz dieses innovationsfreudigen Raumes war auch Teil einer Debatte von heute Morgen, als die EnqueteKommission ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Der Schutz dieses innovationsfreudigen Raums ist eine forschungspolitische Aufgabe von, wie ich meine, größter Bedeutung. Die Expertenkommission weist zu Recht darauf hin, dass der Erhalt des offenen und neutralen Internets im Widerspruch zu möglicher Preisdifferenzierung, Zugangsgebühren oder Marktallianzen steht. Sie sieht die Netzneutralität - wörtliches Zitat - akut gefährdet. An der Stelle sind wir uns womöglich auch noch einig. Uneinig sind wir uns in der Frage, wie man diesen Raum für Forschung und Innovation, aber auch für andere Entwicklungen schützen kann. Aus meiner Sicht ist es eine wichtige Voraussetzung, dass Daten im Internet diskriminierungsfrei transportiert werden können. Es darf kein Privileg für einzelne Anbieter mit Marktmacht geben. Deswegen wollen wir im Unterschied zur Koalition die Netzneutralität im Telekommunikationsgesetz verbindlich festschreiben. ({3}) Jeder Mensch muss im Internet grundsätzlich zu jedem Inhalt freien Zugang haben und Inhalte selbst anbieten können, selbstverständlich nur Inhalte, die sich im Rahmen von Recht und Gesetz bewegen. ({4}) Diese Diskriminierungsfreiheit ist ein konstitutiver Bestandteil des Internets. Wer das nicht versteht, hat das Internet nicht verstanden. Deswegen darf diese Diskriminierungsfreiheit nicht allein dem Markt überlassen werden. ({5}) Nur kurz will ich ein weiteres Thema ansprechen; es ist hier schon betont worden: Seit Jahren weist die Expertenkommission auf die bremsende Wirkung des Bildungssystems in Deutschland für Innovationen hin. Die soziale Selektivität ist hier schon angesprochen worden. Insgesamt will ich nur ein kleines Wort der Kritik an dem Bericht äußern. Aus meiner Sicht wird die Rolle der beruflichen Bildung allenfalls am Rande benannt und die Bedeutung der beruflichen Bildung nicht ausreichend gewürdigt. Deshalb eine kleine Anregung für den Bericht im nächsten Jahr: Das duale System der Berufsausbildung gehört in Deutschland zu den wichtigsten Faktoren der Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Deshalb sollte es auch im nächsten Bericht ausführlicher beleuchtet und gewürdigt werden. ({6}) Das Kooperationsverbot war hier schon Thema. Ob Bewegung in diese Diskussion kommt, werden wir in der nächsten Woche sehen, wenn wir die Debatte hier im Deutschen Bundestag führen. Zu den Vorschlägen: Die Bundes-SPD - so viel zum Thema Augenhöhe - hat unter Beteiligung vieler Kultusminister und Ministerpräsidenten der SPD einen Vorschlag erarbeitet, der es dem Bund und den Ländern erlauben soll, gemeinsam Bildungsaufgaben zu finanzieren. Es wäre gut, wenn dies gelänge. Das sage ich ganz offen. Anders geht es auch gar nicht. Es wäre gut, wenn wir im Bundestag einen breiten Konsens darüber finden würden, dass wir diese Aufgabe angehen und das Kooperationsverbot aufheben. ({7}) - Auch im Bundesrat, aber es wäre schön, wenn der Bundestag auch dieser Meinung wäre. Sie können davon ausgehen, dass die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten den Änderungsvorschlag im neuen Art. 104 c GG mittragen werden. Ich weise aber darauf hin, dass dies nicht das Einzige ist. Sie müssen auch dafür sorgen, dass die Länder ihre hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen können. Dazu gehört es auch, auf Steuerentlastungen zu verzichten und zusätzliche Mittel für Bildung bereitzustellen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir darüber eine Diskussion führen werden, weil die Gesellschaft viel weiter ist als die Diskussion, die wir hier in diesem Raum führen. Meine Damen und Herren, es stimmt: Deutschland ist ein innovationsfähiges und innovationsfreudiges Land. Das liegt vor allem an den vielen Menschen, die tagtäglich in Bildung, Wissenschaft und Forschung und in den Betrieben daran arbeiten. Innovationen bringen die Gesellschaft jedoch nur dann weiter, wenn wir die Debatte darüber zulassen, welchen gesellschaftlich und ökologisch nachhaltigen Ertrag Innovationen bringen. Deshalb ist es gut, dass uns die Expertenkommission als Ratgeber zur Verfügung steht. Ich würde mich freuen, wenn wir zukünftig wieder mehr über die einzelnen Empfehlungen diskutieren würden. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Albert Rupprecht für die Unionsfraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Sitte, es ist natürlich und zum Glück kein Gefälligkeitsgutachten. Dennoch gefällt uns die zentrale Botschaft des EFI-Gutachtens sehr wohl. Diese Botschaft lautet nämlich, dass die Innovationskraft Deutschlands exzellent ist. Das EFI-Gutachten belegt dies mit Schlüsselindikatoren. Ich zitiere aus dem Gutachten: Die Innovationskraft einer Volkswirtschaft bemisst sich an den Patentanmeldungen. Hier liegt Deutschland weltweit nach der Schweiz auf dem zweiten Platz. - Das EFI-Gutachten lobt explizit den massiven Mittelzuwachs zur Erreichung des 10-Prozent-Zieles, die HightechStrategie, die Anstrengungen bei der Elektromobilität und in vielen anderen Bereichen. Während die Länder um uns herum in Arbeitslosigkeit und in Verschuldung versinken, wird Deutschland von Tag zu Tag stärker. ({0}) Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung und mehr Lehrstellen als jugendliche Bewerber. Hingegen erleben wir, dass in anderen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent und mehr beträgt. All diese Erfolge wären ohne Forschung und ohne die Kraft zur Innovation nicht möglich. Deutschland belegt in der Tat Spitzenplätze im weltweiten Standortvergleich. Deutschland belegt - das wurde bereits gesagt - Platz vier beim Innovationsindikator der Stiftung Telekom und Platz vier beim weltweiten Vergleich der Europäischen Union. Auch andere Untersuchungen zeigen, dass wir in den letzten Jahren in sehr großer Anzahl Spitzenplätze bei den Indikatoren einnehmen. Was sagt der Mittelstand zu diesen Entwicklungen? 2005 haben bei Befragungen nur 10 Prozent der mittelständischen Betriebe gesagt, dass die Standortpolitik in Deutschland gut ist. Heute bewerten 77 Prozent der Unternehmen die Standortpolitik in Deutschland als gut. Das ist ein großer Erfolg. ({1}) Das alles haben wir trotz Finanz- und Wirtschaftskrise und trotz Euro-Schuldenkrise erreicht. Daran hat die Forschungs- und Innovationspolitik einen großen Anteil. Am Ende der Legislaturperiode werden wir gegenüber 2005 - die Zahl ist schon mehrfach genannt worden, aber sie muss auch heute wieder genannt werden einen Zuwachs des Bildungs- und Forschungsetats im Bundeshaushalt um sage und schreibe 74 Prozent haben. Das ist mit Ausnahme des asiatischen Raums weltweit die Spitzenposition. ({2}) In der Tat kann man sagen: Das EFI-Gutachten ist kein Gefälligkeitsgutachten, sondern es zeigt uns, an welchen Stellen es noch etwas zu tun und zu verbessern gibt. Frau Sitte und Frau Sager, an allen Punkten, die Sie aufgeführt haben, arbeiten wir im Augenblick. Da die Legislaturperiode nicht zwei Jahre, sondern vier Jahre umfasst, ist es vernünftig, sich ein Programm für die Dauer von vier Jahren vorzunehmen und nicht alles in das erste Jahr hineinzupacken. Wir werden in den nächsten zwei Jahren die anderen Punkte abarbeiten. ({3}) Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Deswegen werden wir an der Einführung der steuerlichen Forschungsförderung in dieser Legislaturperiode festhalten, sobald der Haushalt das zulässt. Wenn Sie die Medienberichterstattung der letzten Wochen verfolgt haben, dann wissen Sie, dass sowohl bei der Klausurtagung der CSU in Kreuth als auch bei der CDU-Vorstandstagung in Kiel explizit Beschlüsse gefasst wurden, in denen diese Punkte enthalten sind. Diese Beschlüsse wurden von allen und nicht nur von den Forschungspolitikern mitgetragen. Vor einer Sache möchte ich warnen: Jeder, der sich mit Innovationspolitik in Deutschland beschäftigt, versteht, dass man den Mittelstand nicht gegen die Großindustrie ausspielen kann. ({4}) Eine steuerliche Forschungsförderung muss sowohl den Mittelstand als auch die Großindustrie, also den gesamten Standort, umfassen, weil nämlich vernetzt geforscht und entwickelt wird. Man darf also nicht den einen gegen den anderen ausspielen. Ähnliches gilt für die Themen Wagniskapital und Business Angels, bei denen wir nach wie vor strukturelle Defizite haben. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass wir in der Großen Koalition nicht die Kraft hatten, in diesem Bereich etwas Vernünftiges hinzubekommen. Auch daran arbeiten wir im Augenblick. Wir werden auch da Verbesserungen erreichen, sobald der Haushalt dies zulässt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Rossmann?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rupprecht, wir sind in Bezug auf die steuerliche Förderung etwas erregt, weil es von Ihnen und vor allem vonseiten der Ministerin schon Presseerklärungen und Ankündigungen gab, dass diese Förderung in den Jahren 2010 und 2011 eingeführt werden sollte. Es ist immer wohlfeil zu sagen, dass man daran arbeitet. Meine Frage ist daher: Wann wird diese steuerliche Förderung kommen? Ich habe noch eine zweite Frage. Halten Sie den Unterschied zwischen 600 Millionen und 2 Milliarden Euro für relevant? Ist heute Ihre Botschaft, dass dieser Unterschied keine Relevanz hat? Dann müssten Sie ja - um meine Frage einzuleiten - zu einer Differenzierung kommen. Meine Frage ist: Sind Sie zur Differenzierung bereit, oder schließen Sie eine Differenzierung aus?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum ersten Punkt, zum Zeitablauf. Sie werden nicht gehört haben, dass ich mich abschließend auf einen Einführungszeitpunkt festgelegt habe; denn ich bin mir bewusst, dass das ein Thema für die ganze Legislaturperiode ist und dass wir angesichts der großen Krisen im Augenblick beim Haushalt ganz klar Prioritäten zu setzen haben. Deswegen haben sich die Pressemeldungen auf das Konzept bezogen, das wir einführen wollen. Der Ablauf war in der Unionsfraktion ganz klar. Ähnlich war es bei den FDP-Kollegen. Wir haben zunächst intern in den Fraktionen Eckpunkte formuliert. Diese Eckpunkte liegen vor. Diese haben in der Unionsfraktion einen sehr ausführlichen Diskussionsprozess ausgelöst. Zum Schluss gab es einen Beschluss aller fachpolitischen Gremien, der besagt: Wir wollen das. Eine entscheidende Frage ist noch offen: Wann soll das in dieser Legislaturperiode sein? Das ist eine Frage der Finanzierung. Ich glaube, das ist vernünftig. Alles andere würde die Bevölkerung nicht verstehen. ({0}) Herr Rossmann, ich will noch Ihre zweite Frage beantworten. Sie fragten nach der Differenzierung. Noch einmal: Ich bin mit Blick auf die Vernetzung von Innovationen der festen Überzeugung, dass sich der Mittelstand in Deutschland nicht entwickeln kann, wenn es keine Großindustrie gibt. Der Mittelständler, der der Automobilindustrie zuliefert, der Mittelständler, der als Maschinenbauer zuliefert, braucht Innovationsnetzwerke mit der Großindustrie. ({1}) - Frau Sager, es bringt uns nichts, wenn EADS nach Paris geht, weil der Mittelständler dann in Paris zuliefern wird. ({2}) Deswegen ist es entscheidend, dass im Wettbewerbsvergleich zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Deutschland und anderen Ländern Deutschland auch im Bereich der Großindustrie punktet. Ich stimme Ihnen zu - das ist unser Konzept -, dass der Mittelstand höhere Sätze bekommen soll. ({3}) Unser Vorschlag ist, dass der Mittelstand dreimal höhere Sätze bekommt als die Großindustrie bzw. die Großindustrie entsprechend niedrigere Sätze, aber trotzdem davon partizipiert. Wenn Sie mich persönlich fragen - darüber gibt es keinen Beschluss der Koalitionsfraktionen -, ob ich der Meinung bin, dass man im Zweifelsfalle mit einer Mittelstandskomponente beginnen sollte, um den Einstieg zu schaffen, so sage ich: Wenn wir feststellen, dass uns in einem Jahr nach wie vor die Euro-Schuldenkrise, die Haushaltskonsolidierung und anderes den großen Wurf erschweren, dann sollte man mit einem kleinen Schritt anfangen. Ich teile aber nicht die Position von Frau Sager, dass man auf Dauer die Großindustrie draußen lassen sollte. ({4}) Wir brauchen bei all diesen steuerlichen Maßnahmen natürlich die Zustimmung der Ministerpräsidenten. Ich stelle die Frage an Sie, ob Sie es gewährleisten können, dass die SPD-Ministerpräsidenten den steuerlichen Maßnahmen auch zustimmen können? Beim Kooperationsgebot und bei der Verfassungsfrage stimmen wir mit Ihnen überein, dass wir für die befristeten Pakte, sobald sie auslaufen, eine längerfristige Lösung brauchen. Deswegen wird in wenigen Tagen der Wissenschaftsrat beauftragt, bis 2013 einen Vorschlag vorzulegen. Zur Wahrheit gehört aber auch, sehr geehrte Damen und Herren, dass es noch nie so viel Kooperation und noch nie so viel Geld des Bundes für originäre Länderaufgaben im Bereich der Bildung gab wie heute: Hochschulpakt, Bildungspaket, Bildungsketten und vieles andere mehr. Zu behaupten, derzeit wäre es nicht möglich, dass wir im Bereich der Bildung vonseiten des Bundes den Ländern unter die Arme greifen, ist eine Falschaussage. Im Gegenteil. Im Augenblick tun wir das so stark wie noch nie. ({5}) Ich muss leider zum Ende kommen. Gerne würde ich noch etwas zum Thema Fachkräfte sagen. Dazu steht nicht nur etwas im EFI-Gutachten, sondern das Kabinett hat auch bereits ein Maßnahmenbündel beschlossen, das insbesondere Absolventen ausländischer Hochschulen in Deutschland das Aufenthaltsrecht erleichtert, was wir auch wollen. Dies werden wir im Frühjahr auch im Deutschen Bundestag beschließen. Summa summarum heißt das, dass wir die Punkte, die in dem EFI-Gutachten angesprochen sind, in der Legislaturperiode sehr wohl bearbeiten und auch umsetzen werden. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. 2005, als wir die Regierung übernommen haben, betrug die Arbeitslo18376 Albert Rupprecht ({6}) sigkeit 5 Millionen. Jetzt, nach sieben Jahren, gibt es so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wie noch nie. Wir haben eine so geringe Arbeitslosigkeit wie seit 20 Jahren nicht. Das ist auch eine Leistung unserer Innovations- und Forschungspolitik. Danke schön. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rupprecht, gestatten Sie mir den Hinweis: Die mehrfache Ankündigung des Endes der Rede ersetzt nicht den Schlusspunkt. Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Nadine Schön für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nahtlos an den Kollegen Rupprecht anschließen: Ja, wir können stolz sein auf unser Land. Deutschland gehört im Vergleich von 26 Industrieländern zu den vier innovativsten Standorten weltweit. Zu diesem Ergebnis kam unlängst der Innovationsindikator 2011. Das ist ein sehr großer Erfolg, vor allem, wenn man weiß, dass wir 2005 noch auf dem zehnten Platz lagen. Unter CDU/CSU-geführten Regierungen sind wir in die Weltspitze aufgerückt; und darauf können wir wirklich stolz sein. ({0}) Der Innovationsindikator wie auch das EFI-Gutachten, über das wir heute reden, sagen ganz klar: Deutschland ist auf Erfolgskurs. Wir sind innovativ, wir sind international konkurrenzfähig, und wir haben gute Zukunftsperspektiven. Was sind die Gründe für den Erfolg? An erster Stelle sind es die Investitionen. Trotz Krise - das haben die Kollegen bereits gesagt - hat Deutschland in den letzten Jahren konsequent in Bildung und Forschung investiert. Seit 2005 sind die Ausgaben des Bundes in diesem Bereich um 42 Prozent gestiegen. Als Mitglied des Wirtschaftsausschusses will ich auch die Privatwirtschaft erwähnen. Auch hier sind die Ausgaben in Forschung und Entwicklung gestiegen, und zwar um 20 Prozent seit 2005. Das ist eine beachtliche Zahl; sie muss auch erwähnt werden. Diese Investitionen sind der Treibstoff für Innovationen. Sie sind der Grund dafür, weshalb unser Land gerade in der aktuellen Krise so gut dasteht. Das wird in allen Studien positiv herausgestellt. ({1}) Gelobt werden in den Gutachten neben den Investitionen auch die Programme der Bundesregierung, vor allem die Hightech-Strategie. Als Abgeordnete, die aus einem Land kommt, das sich gerade im Strukturwandel befindet - weg von der Montanindustrie, hin zu einem modernen Industrie- und Technologiestandort -, nämlich dem Saarland, weiß ich um die Bedeutung dieser Programme, wie etwa das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das für die Unternehmen vor Ort wirklich sehr wichtig ist. Dieses Programm haben wir gerade wieder um 500 Millionen Euro aufgestockt. Solche Programme sind wichtig; sie sind wirkungsvoll, sie sind effektiv, und davon profitieren alle. Das sind die Gründe für den Erfolg Deutschlands in der Welt. Allerdings dürfen wir uns darauf nicht ausruhen; da gebe ich Ihnen völlig recht. Die Konkurrenz schläft nämlich nicht. China beispielsweise fördert seine FuETätigkeiten jährlich mit 100 Milliarden Euro. Auch andere Regionen und Staaten streben dynamisch voran. Wir dürfen mit den derzeitigen guten Plätzen nicht zufrieden sein; wir müssen vielmehr immer besser werden, wenn wir diese Spitzenpositionen verteidigen wollen. Deshalb brauchen wir noch innovationsfreundlichere Rahmenbedingungen. Was wir uns vorstellen, haben die Kollegen bereits angesprochen: zunächst die steuerliche Forschungsförderung. Egal ob Weltkonzern oder innovativer Mittelstand - in unseren Gesprächen vor Ort hören wir immer wieder, dass die steuerliche Forschungsförderung in den Betrieben ein wichtiges Thema ist. Auch das EFI-Gutachten empfiehlt ein solches Instrument. Wir wissen sehr wohl: Man muss die steuerliche Forschungsförderung mit Bedacht angehen. Auch Sie haben sie in Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt. Natürlich ist die Haushaltskonsolidierung immer unser prioritäres Ziel; das sage ich vor allem als junge Abgeordnete. Meiner Meinung nach liegen jetzt gute und machbare Vorschläge auf dem Tisch. Wir wissen um die Chancen dieses Instruments. Deshalb sollten wir diese Ideen nicht aus den Augen verlieren. ({2}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Wagniskapital. Unser Problem: In Deutschland entstehen die Ideen, umgesetzt werden sie aber in anderen Ländern. Neben MP3 und der Tintenstrahltechnik gibt es viele weitere Beispiele: Die Ideen wurden in Deutschland entwickelt, in amerikanischen oder asiatischen Unternehmen jedoch wurden sie zu marktfähigen Produkten gemacht. Wir aber wollen, dass in Deutschland nicht nur die Ideen entstehen, sondern dass hier aus den Ideen auch Produkte werden und die entsprechende Wertschöpfung in Deutschland stattfindet. Denn nur dann profitieren wir alle von den Innovationen. ({3}) Der Knackpunkt dabei ist oft die Finanzierung auf dem langen Weg von der Idee zum Produkt. Für die Finanzierung haben wir den High-TechGründerfonds, seit vergangenem Jahr sogar den Gründerfonds II, mit großen Investitionen von Staat und Unternehmen. Das ist eine tolle Sache mit wirklich großer Wirkung. Allerdings reicht das nicht: Wir brauchen in Deutschland - das sieht man im Vergleich mit anderen Nadine Schön ({4}) Ländern - noch mehr privates Kapital, zum einen für die Gründungsphase, zum anderen für die ganz entscheidende Wachstumsphase. Auch hier liegen gute Vorschläge unsererseits auf dem Tisch, an die wir in den nächsten Monaten herangehen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Innovationen entstehen vor allem in einer Gesellschaft, die Innovationen will, die sie akzeptiert und zulässt. Deshalb brauchen wir neben all den Rahmenbedingungen vor allem innovative Köpfe. Wir brauchen Menschen, die Lust haben, etwas zu erfinden, etwas zu tun. Das geht mit dem Spaß am Tüfteln im Kindesalter los, geht mit dem Erfindergeist in den Schulen weiter und mündet schließlich in dem Mut, sich selbstständig zu machen, mit seinen Ideen nach außen zu gehen und den Mut zu haben, sich mit seinem Produkt dem Markt zu stellen. Dazu braucht es auch eine Gesellschaft, die für neue Technologien, Fortschritt und Unternehmertum, aber auch für Risiko offen ist. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir alle arbeiten. Jeder von uns kann etwas dazu beitragen und mithelfen, dass wir ein innovatives und erfolgreiches Deutschland und eine gute Zukunft haben. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz - Drucksache 17/2419 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. ({1})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 21 Jahren wurde die deutsche Teilung überwunden. Vier Jahre danach folgten der Beschluss zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin und das ihn begleitende Berlin/Bonn-Gesetz, das die Aufteilung der Bundesregierung auf die beiden Standorte Berlin und Bonn regelte. Die Teilung der Bundesregierung war damit ein Preis für die deutsche Einheit. Seit vielen Jahren schlägt Ihnen die Fraktion Die Linke die Wiedervereinigung der Bundesregierung in Berlin vor. Da sagen Sie einmal, dass Sie hier keine lustvolle und kreative Opposition haben! ({0}) Die Linke garantiert: Keinem Bonner wird es schlechter gehen. Die Fakten 2012 sind aber: Fast die Hälfte der Regierungsmitarbeiter ist nach wie vor am Standort Bonn. Auf der anderen Seite sind alle der Bundesstadt Bonn versprochenen Ausgleichsmaßnahmen - im Sinne der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie des Erhalts und der Fortführung des Betriebs von Liegenschaften - seit 2005 bei weitem übererfüllt, unter anderem durch die Ansiedlung von 19 UN-Behörden. Diese Teilung erweist sich inzwischen als außerordentlich uneffektiv für das Regierungshandeln: Die Entscheidungsfindung dauert zu lange und wird durch bürokratische Teilung behindert. 170 Beamte des Bundes sind auch in dieser Minute, in der wir jetzt debattieren, in der Luft, zwischen Berlin und Köln/Bonn. In jüngster Zeit haben wir erfahren: Die Teilung der Regierung ist für akutes Reagieren in Krisensituationen absolut untauglich. ({1}) Natürlich ist Bonn eine wunderschöne Stadt, in der auch ich zeitweilig gern gelebt habe. ({2}) Aber wie soll ein Absolvent einer britischen Universität, der Bundesbeamter werden will, seiner englischen Partnerin auf dem Weg nach Deutschland erklären, dass der Weg nicht in die Bundeshauptstadt Berlin, sondern nach Bonn führt? ({3}) Die Linke stellt einen Antrag, der moderat und realitätsnah ist und dem Sie sich - das glaube ich - auch anschließen können. Wir nehmen Institutionen, wie beispielsweise das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die in der Region Köln/Bonn inzwischen fest verankert sind, selbstverständlich aus unseren Umzugsabsichten aus. ({4}) Nun wird mir gelegentlich vorgehalten, die Linke in Bonn und Köln vertrete dazu eine andere Position. Das stimmt ja auch. Ich sage allerdings: Na und? Das ist bei allen anderen Fraktionen auch so. ({5}) Für unseren Antrag sympathisiert selbstverständlich eine Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag. Die Ausnahme sind Abgeordnete aus den Landesgruppen NRW, aber das ist in allen Fraktionen so. Wenn Sie dauernd von uns verlangen, wir sollten so etwas wie eine normale Partei werden, dann machen wir das auch einmal. Aber dann dürfen Sie uns auch nicht wieder dafür kritisieren, meine Damen und Herren. ({6}) Selbstverständlich ist die Linke offen für weitere und bessere Ideen. Der Antrag liegt schon eine ganze Weile vor, und wir werden ihn heute in den Ausschuss überweisen. Beispielsweise haben wir im Haushaltsausschuss in der Zeit von 2006 bis 2009 in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe sehr wohl darüber diskutiert. Leider wurden wir kurz vor dem Ergebnis und dem Mut zur Entscheidung aufgrund von Koalitionsentscheidungen und -anweisungen angehalten. Wir machen das nicht, um die Bundesregierung zu ärgern, sondern um sie zu verbessern, und mehr können Sie von einer Opposition nun wirklich nicht erwarten. Wir handeln ganz im Sinne des berühmten Neujahresgebets aus Münster: Gib den Regierenden ein besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. Eine wiedervereinigte Bundesregierung in Berlin ist möglich, meine Damen und Herren. ({7}) Ergo: Das Berlin/Bonn-Gesetz hatte seinen Sinn. Es hatte seit 1994 auch eine gute und lange Zeit. Doch auch hier gilt das Bibelwort: Ein jegliches hat seine Zeit. - Es heißt nicht: Ein jegliches hat seine Ewigkeit. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jürgen Herrmann für die Unionsfraktion. ({0})

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Claus, solche Worte aus Ihrem Mund zu hören, überrascht mich schon. Nichtsdestotrotz widersprechen Sie der Wahrheit und nehmen nicht die Fakten wahr, die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht wieder einmal ein Show-Antrag. Sie haben selbst gesagt, dass Sie ihn jährlich stellen, aber auch durch Wiederholungen wird er sichtlich nicht besser. Wenn man den Tatbestand dieses Berlin/Bonn-Gesetzes einmal aufarbeitet, dann muss man sicherlich auch historische Aspekte berücksichtigen. Die Hauptstadtfrage wurde 1990 im Einigungsvertrag geregelt. Danach schloss sich aber die Frage an, wo der Parlaments- und Regierungssitz sein wird. In einer langen, historischen und sehr emotional geführten Debatte - das muss man einmal sagen, und der eine oder andere Kollege unter uns war damals auch zugegen - wurde dann mit sehr knapper Mehrheit beschlossen, dass der Regierungssitz nach Berlin verlegt wird. Auch als Nordrhein-Westfale sage ich hier ganz bewusst, dass das eine gute Entscheidung war. Sie ist historisch begründet und absolut vertretbar, und ich würde diese Entscheidung auch am heutigen Tag wieder so mittragen. Die Frage war allerdings: Wie geht es mit Bonn weiter? Wie geht es mit der Region rund um Bonn weiter, die als vorläufiger Regierungssitz ohne Frage ein guter Gastgeber war? Befürchtungen wurden laut, dass es zu einem Verlust von Arbeitsplätzen kommen könnte, Organisationen würden die Region verlassen und die Infrastruktur entsprechend leiden. Daher wurde 1994 das Berlin/Bonn-Gesetz auf den Weg gebracht, in dem eine Vereinbarung über die Ausgleichsmaßnahmen in der gesamten Region rund um Bonn vorgesehen war. Zusagen wurden dahin gehend gemacht, Teile der Bundesregierung, Ministerien, aber auch Bundesbehörden in Bonn zu belassen und die Ansiedlung internationaler Institutionen und Verbände voranzutreiben. Diese Forderungen wurden bis zum Umzug des Deutschen Bundestages und 20 weiterer Bundesbehörden nach Berlin im Jahre 1999 auch umgesetzt und festgeschrieben. Heute haben neun Ministerien ihren ersten Sitz in Berlin, wobei auch hier immer noch die Frage zu klären ist, ob der Erst- bzw. Zweitsitz in Bonn oder in Berlin liegen soll; darüber gibt es aber auch Absprachen. Natürlich - und das muss man ehrlicherweise auch sagen - hat es Verschiebungen in der Personalstruktur gegeben. Heute sind 55 Prozent der Beschäftigten in den Ministerien hier in Berlin angesiedelt; nur noch 45 Prozent sind in Bonn angesiedelt. Das ist zulässig, obwohl das Gesetz sagt, dass die Mehrheit eigentlich in Bonn verbleiben soll. Das ist aus meiner Sicht zulässig, weil die Organisationshoheit bei den Behörden, also bei der Regierung, liegt. Eine Frage ist für mich als Haushälter ganz entscheidend: Wie sieht es mit den Kosten aus? Wir haben uns oftmals irgendwelche Geschichten, Vermutungen und Gerüchte anhören müssen, wie teuer es ist, die Institutionen in Bonn aufrechtzuerhalten. Seit 2008 gibt es erfreulicherweise einen Teilungskostenbericht, den wir als Haushälter eingefordert haben. Darin sind Zahlen, Daten und Fakten genannt worden, die für mich ein überraschend deutliches Ergebnis gebracht haben: Die zweigeteilte Struktur ist gar nicht so teuer, wie wir immer vermutet haben. Die Kosten sinken sogar. Das muss man an dieser Stelle festhalten. 2010 haben wir noch 10,6 Millionen Euro für Flüge von Mitarbeitern oder den Aktentransport zwischen Bonn und Berlin ausgegeben. 2011 waren es nur noch 9,2 Millionen Euro, und in diesem Jahr werden wir voraussichtlich nur noch 8,8 Millionen Euro zur Verfügung stellen müssen. Die Haushälter haben im Übrigen immer eingefordert, dass nur notwendige Dienstreisen, zum Beispiel zu Ausschusssitzungen, erfolgen und ansonsten viel mehr Video- und Telefonkonferenzen einberufen werden. ({0}) Außerdem - das mag vielleicht kein tragendes Argument sein, aber es kam ja auch gerade von der Opposition bietet Bonn auch im Hinblick auf die Nähe zu gewissen Institutionen Vorteile. Brüssel ist nicht sehr weit entfernt. Ein gewichtiges Argument ist für mich allerdings die Frage: Was würde der Umzug in Gänze kosten? Welche Auswirkungen hätte er insgesamt? Bisher haben wir circa 9 Milliarden Euro für den Umzug nach Berlin ausgegeben. Da können die Vorschläge der Linken noch so gut sein, dass man das Tempelhofer Feld nutzen sollte, um dort Regierungsbauten zu errichten. Es wäre auch schön, wenn wir dort wieder einen Flugplatz hätten; dann könnte man die Dinge noch viel besser zusammenbringen. ({1}) Aber es würde Milliarden kosten, das umzusetzen. Auch die Rekrutierung von Arbeitskräften wäre nicht einfach. Ich erinnere an den demografischen Faktor, mit dem wir uns schon jetzt bei der Haushaltsaufstellung auseinandersetzen müssen; denn es gibt nicht mehr sehr viele junge Leute, die freiwillig in den öffentlichen Dienst gehen. Das schwache Argument der Linken, Berlin sei so hip, dass alle nach Berlin kommen würden, um hier zu arbeiten, scheint mir nicht sehr überzeugend. Diejenigen, die in der Rhein-Region leben, wissen, wie schön es dort ist. ({2}) Zudem wären Sonderregelungen für Beschäftigte erforderlich. Diese Erfahrung haben wir in vielen Bereichen schon gemacht. Als der Umzug der Ministerien damals geplant wurde, war es erforderlich, Maßnahmen in Bezug auf Reisekosten, Trennungsgeld usw. zu treffen, und viele waren nicht bereit, freiwillig zu gehen. Einige haben wir überzeugen können, ihren Wohnsitz nach Berlin zu verlegen, keine Frage. Aber was würde passieren, wenn wir von allen verlangen würden, umzuziehen? Ich glaube, das wäre der Arbeitsmoral und der Arbeitsbereitschaft nicht dienlich. Wir haben unter anderem damit zu kämpfen - das muss man an dieser Stelle noch einmal sagen -, dass Vereine, Organisationen, NGO und Stiftungen nicht mehr bereit wären, in Bonn zu bleiben. Auch darüber muss man sich im Klaren sein; denn letztendlich suchen sie die Nähe zur Regierung. Das würde dazu führen, dass sich Bonn in vielen Bereichen wieder verschlechtern würde. Die Ängste, die damals mit Blick auf den Umzug aufkamen, nämlich dass Bonn zu einer Region verkommt, in der nichts mehr los ist, würden wieder geschürt. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion steht zum Berlin/Bonn-Gesetz und zu dem Wort, das wir der Bonner Region damals voller Überzeugung und mit großer Mehrheit gegeben haben. Daran wird sich erst einmal nichts ändern lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Argumente für einen Verbleib in Bonn deutlich besser sind als die dagegen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Johannes Kahrs hat für die SPD das Wort. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte gehört zu denen, die für einen Abgeordneten relativ schwierig sind. Denn auf der einen Seite hat man Grundüberzeugungen, und auf der anderen Seite ist die Diskussionslage sehr differenziert. ({0}) - Außerdem wird man von Staatssekretären genötigt. Zum einen ist es so, dass man der heutigen Linkspartei dafür danken muss, dass sie damals mit ihren Stimmen dazu beigetragen hat, dass die Hauptstadt umziehen konnte. Ich finde, das kann man durchaus erwähnen. Das war ein vernünftiger Beitrag. ({1}) - Ich lobe nicht wirklich häufig die Linkspartei. Wenn ich es dann einmal tue, dann möge man es mir durchgehen lassen. In diesem Fall ist es, glaube ich, vernünftig. ({2}) Zum anderen glaube ich, dass wir damals einen richtigen und einen guten Beschluss gefasst haben. Bonn ist die Hauptstadt. ({3}) Das ist auch gut so. Ich selber bin Hamburger, ich bin Haushälter und als solcher würde ich das gerne bewerten. Wir haben von der Linkspartei gehört, dass sie den Umzug gerne sehr schnell hätte, am besten sofort. Ich glaube, dass das nicht funktioniert. Danach haben wir ei18380 nen historisch rückblickenden Beitrag bekommen, wie die Gesetzeslage ist, und den Hinweis, dass man sich an Gesetze halten muss. Das ist richtig. Aber wir alle wissen auch, dass Gesetze evaluiert werden müssen, dass man überprüfen muss, ob Gesetze noch zeitgemäß sind. Man muss auch in der Lage sein, Gesetze zu evaluieren, insbesondere nach über 15 Jahren. Das tun wir in vielen anderen Bereichen auch. Man muss an dieser Stelle all denjenigen danken, die diese Zweiteilung überhaupt möglich machen, nämlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zwischen Bonn und Berlin pendeln müssen. Das ist nicht wirklich einfach. Einige von ihnen verbringen ein Drittel ihrer Arbeitszeit auf Reisen. ({4}) Sie stehen bei uns im Haushaltsausschuss teilweise den ganzen Tag vor der Tür, dann wird der Tagesordnungspunkt aber abgesetzt und sie fahren zurück. ({5}) So läuft es weiter. Ich glaube, dass man würdigen muss, was die Mitarbeiter auf sich nehmen. Es ist ein wichtiges Zeichen, das immer wieder zu erwähnen. Wenn man am Berlin/Bonn-Gesetz irgendetwas ändern sollte, dann muss man das in einem breiten Konsens machen. Es geht hier nicht um Fragen von Regierung oder Opposition. Man muss gemeinsam überlegen, wie man einen vernünftigen Weg findet. Deswegen wird die SPD heute den Antrag der Linkspartei ablehnen, weil ich glaube, dass es nichts bringt, einen Hauruck-Antrag vorzulegen. Man muss sich vielmehr überlegen, wie man eine entsprechende Regelung vernünftig ausgestaltet. Einfach einen Komplettumzug zu fordern, ist ein Totschlagargument. Damit wird keine Debatte angestoßen, die wirklich interessant ist. Als bekannt wurde, dass ich in dieser Debatte rede, hatte ich sofort ein Gesprächsangebot von meinem Bonner Kollegen Uli Kelber. ({6}) Das ist in jeder Fraktion so, aber ich muss sagen: Wenn ich Bonner Bürger wäre, würde ich gar nicht anders können, als Uli Kelber zu wählen, ({7}) weil er die Interessen Bonns massiv und energisch vertritt. ({8}) - Das ist ganz wunderbar. Das ist ja auch richtig. ({9}) Es ist richtig, die Wahlkreisinteressen zu vertreten, man muss sie auch vertreten können, und auch die Bundesländer müssen ihre Interessen vertreten können. Aber ich finde, es gibt auch ein gesamtstaatliches Interesse. Bei diesem gesamtstaatlichen Interesse muss man sich überlegen, wie man einen Zustand erreichen kann, der dazu führt, dass wir in Berlin eine vernünftige Arbeitsweise entwickeln können, ohne dass man Bonn nachhaltig schädigt; das will keiner. Ich habe dort ein ganz reizendes Jahr verbracht. ({10}) Die Haushälter innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion haben einmal für sich aufgeschrieben, wie sie sich so etwas vorstellen können: eine stetig weitergeführte Konzentration ministerieller Kernaufgaben in Berlin und die Erledigung von Verwaltungsaufgaben in Bonn, und das über einen vertretbaren mehrjährigen Zeitraum. Ich finde, das ist angemessen, um Nachteile für Bonn und hohe Zusatzkosten eines zeitnahen Umzugs großer Funktionsbereiche der Bundesregierung nach Berlin zu vermeiden. Wenn man das als Maßstab nimmt, dann kommt man zu vernünftigen Ergebnissen. Der Bundesregierung muss mehr Freiheit für die Ausübung ihrer Organisationshoheit gegeben werden. Dazu ist es meiner Meinung nach notwendig, § 4 Abs. 4 des Berlin/Bonn-Gesetzes aufzuheben. Damit gibt man der Bundesregierung die Flexibilität, die sie braucht. Im Verteidigungsbereich haben wir es gesehen: Große Teile der Bundesregierung mühen sich, vernünftig damit klarzukommen. ({11}) Gleichzeitig wäre es zielführend, § 4 Abs. 2 und 3 aufzuheben, um eine freie Aufteilung der Erst- und Zweitdienstsitze zu ermöglichen. Man muss aber auch überlegen, welche Verwaltungsbereiche sinnvollerweise in Bonn verbleiben oder hinzukommen können. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man die Möglichkeit schafft, die Verantwortung für den Bund weiter auszubauen bzw. aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig die Region Bonn unberührt zu lassen. Das ist relativ schwierig, aber im Ergebnis sehen wir, dass es zurzeit nicht um die Frage geht: Wie viele Tonnen Post transportiere ich hin und her - ob es 1 oder 2 pro Tag sind -, oder wie viele Tausende von Kilometern werden geflogen? Das ist nicht der Punkt. Die Frage ist: Wie bekommt man gutes Regieren hin? ({12}) Ich selber bin Berichterstatter für den Bereich Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Da ist es sehr viel praktischer, wenn man mit den Mitarbeitern reden kann, wenn man sich mit ihnen trifft, wenn man kurzfristig eine Konferenz anberaumen kann. Wenn die in Bonn sitzen, ist das relativ schwierig. Ich glaube, dass das zur Lebenswahrheit gehört und dass man sich anschauen muss, wie man es vernünftig hinbekommt. Ein Kompromiss ist immer sinnvoll, setzt aber auch voraus, dass die Beteiligten kompromissbereit sind. Zu sagen: „Ein Gesetz ist ein Gesetz, und das muss ewig so bleiben“, widerspricht der Praxis in diesem Hause. Wir sind ständig dabei, Gesetze zu evaluieren und zu ändern. Früher unter Rot-Grün gab es die Nachbesserung von Gesetzen, ({13}) damit sie lebensnah und lebenspraktisch werden. Die Lebensrealität in diesem Land ändert sich. Die Region Bonn ist wirtschaftlich hervorragend aufgestellt. Ich glaube, dass man zusammen einen vernünftigen Weg finden muss. Ich glaube auch, dass man hierbei nicht in Kategorien wie Regierung und Opposition denken sollte. Gruppenanträge könnten zum Beispiel hilfreich sein. Die Abgeordneten der jeweiligen Fraktionen könnten ihrer Auffassung folgen, und man könnte gemeinsam ein Ergebnis erreichen, mit dem am Ende alle leben können. Dazu muss man einen vernünftigen Vorschlag vorlegen. Kompromisse sind immer gut und wären hier wichtig. Die Diskussion über die Aufteilung der Regierungsfunktionen wäre dauerhaft beendet. Zurzeit wächst der Frust bei vielen Abgeordneten im Deutschen Bundestag, weil man bei diesem Thema immer auf eine Totalblockade stößt. Da wir bei jeder Wahl neue Abgeordnete bekommen, die Bonn nicht kennen, wird das irgendwann dazu führen, dass das ganze Gesetz gekippt wird, so wie es die Linkspartei fordert. Das kann weder im Interesse der Bonner noch im Interesse aller anderen sein. Deswegen halte ich einen vernünftigen Prozess, den alle gemeinsam unterstützen, für sinnvoll. Ich glaube, dafür müssen sich einige bewegen. Wenn die örtlichen Abgeordneten weiter für ihren Wahlkreis kämpfen, ist das gut - das tun andere auch -, der Rest hat aber gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Florian Toncar das Wort.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag ist - Herr Claus hat es selber gesagt - im Grunde genommen ein Dauerbrenner. Man muss festhalten: Die Linken haben die Wirtschaftlichkeit nicht immer im Blick, aber dass man eine Idee fünfmal zu einem Antrag macht, ist ausgesprochen wirtschaftlich. Diese Erkenntnis des heutigen Tages möchte ich für das Protokoll festhalten. ({0}) Ich möchte einige Punkte nennen, warum der Antrag heute nicht unsere Zustimmung bekommt. Zum einen wird in dem Antrag behauptet, die Rolle Berlins als Bundeshauptstadt werde dadurch geschwächt, dass es Ministerien gibt, die zwei Dienstsitze haben, und dass die Beamten auf zwei Städte verteilt sind. Ich glaube, dass das eine ziemliche Übertreibung ist. Heute ist völlig unstrittig, dass Berlin die richtige Bundeshauptstadt ist und dass es diese Funktion voll ausfüllen kann. Berlin ist eine Metropole, die sich gewaltig entwickelt hat. Es ist eine weltoffene Stadt und eine Weltstadt geworden. Die Anerkennung für Berlin im In- und Ausland ist - meines Erachtens zu Recht gewachsen. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob alle Ministerien in Berlin sind oder nicht. ({1}) Im Übrigen darf man sich nicht nur anschauen, wohin die Touristen gehen, sondern man muss auch schauen, wohin unsere Bürger gehen, wenn sie politische Anliegen haben. Wo wird für oder gegen etwas demonstriert? Kommt irgendjemand auf die Idee, das in Bonn zu machen, oder ist es nicht vielmehr so, dass die politische Meinungsbildung, dass Versammlungen in Berlin stattfinden? ({2}) Berlin hat die politische Funktion, aber auch die kulturelle Funktion einer Hauptstadt. Das hat wirklich nichts damit zu tun, wie viele Stellen heute noch wo angesiedelt sind. Das muss man einmal festhalten. ({3}) Der zweite Punkt. Die Teilungskosten, das heißt die Kosten der zwei Dienstsitze, werden übertrieben dargestellt. Die Berichte liegen vor. Es sind circa 10 Millionen Euro pro Jahr. Die Kosten werden in den nächsten Jahren tendenziell sinken. Dies hängt auch mit modernen Technologien zusammen. Die Akten, die früher auf dem Postweg, zum Beispiel mit Flugzeugen, transportiert werden mussten, werden heute per E-Mail verschickt. Das kostet nichts. Auch das muss man sehen. Eine Komplettverlagerung innerhalb kürzester Zeit nach Berlin würde erst einmal erheblich Geld kosten. In Berlin wären Investitionen in Milliardenhöhe notwendig, um die Gebäude herzurichten, auszustatten etc. Die Beamten, die Mitarbeiter aus den Ministerien würden entsprechende Leistungen für den Umzug bekommen. Das alles würde von der öffentlichen Hand finanziert werden. Das heißt, man müsste in den nächsten Jahren sehr viel Geld in die Hand nehmen, und das in einer Zeit, in der es darum geht, dass wir die Nullverschuldung, einen Haushalt ohne neue Schulden, schaffen. Ich glaube, dass solche hohen Investitionskosten nicht mit diesem Ziel, das wir in den nächsten fünf Jahren vorrangig anzustreben haben, zu vereinbaren wären. Auch nach dem Vorschlag der Linken hätten die Ministerien, die dann alle in Berlin wären, natürlich getrennte Dienstsitze. Auch dann wären also nicht alle unter einem Dach, sondern Sie schlagen die getrennte Unterbringung innerhalb einer Stadt vor. Dies würde in jedem Fall weitere Kosten nach sich ziehen, weil es unterschiedliche Dienstsitze nebeneinander gäbe. Wenn man sich genau anschaut, was Sie eigentlich fordern, muss man feststellen, dass sich die Einsparungen, die Sie sich davon versprechen und die Sie den Bürgern versprechen, etwas relativieren. Auch wir als FDP-Fraktion wollen, dass die Kosten, die mit dem Vorhandensein zweier Dienstsitze verbunden sind, optimiert werden. Hier besteht in der Tat noch Handlungsbedarf. Da geht es beispielsweise um die Frage: Verfügen die unterschiedlichen Ministerien eigentlich über die entsprechende Technik, zum Beispiel über die erforderliche Konferenztechnik, um Videokonferenzen durchführen zu können, damit man nicht ständig mit dem Flugzeug unterwegs sein muss, um sich einmal persönlich zu treffen? Es gibt heutzutage ganz hervorragende technische Lösungen, mit denen wir, wenn wir sie einsetzen würden, Reisekosten sparen könnten. Natürlich muss man, auch aus Sicht des Bundestages, kritisch hinterfragen, ob tatsächlich in jeder Ausschusssitzung die persönliche Anwesenheit jedes zuständigen Mitarbeiters einer Bonner Liegenschaft nötig ist oder ob nicht manche Leute für wenige Minuten, in denen sie vielleicht noch nicht einmal etwas sagen müssen, nach Berlin kommen und einen ganzen Arbeitstag mit einer Reise verbringen. Auch der Deutsche Bundestag kann also im täglichen Betrieb Kosten optimieren. Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Sie haben in Ihrem Antrag geschrieben: Gerade jetzt, in der Wirtschafts- und Finanzkrise, brauchen wir handlungsfähige Ministerien und Strukturen. - Deshalb wollen Sie innerhalb der nächsten fünf Jahre alles nach Berlin holen. Unabhängig davon, ob man einen oder zwei Dienstsitze richtig findet: Wenn Sie in fünf Jahren 10 000 Beschäftigte und ihre Familien nach Berlin holen und hier neu unterbringen wollen, dann sorgen Sie garantiert für eines, nämlich dafür, dass durch Umstellungen und Einarbeitung Ressourcen gebunden werden und die Menschen erst einmal anderes machen, als sich um ihre Kernaufgaben zu kümmern. Es wäre für jede Struktur und jede Verwaltung eine Belastung, würde man sie schlagartig nach Berlin holen. Die Beschäftigten müssten sich, wie gesagt, hier erst einmal einarbeiten. Das Argument, gerade angesichts der Wirtschaftskrise könne man durch einen Komplettumzug für eine größere Handlungsfähigkeit sorgen, kann ich nicht nachvollziehen. Das ist mit Sicherheit eher ein Argument, das konstruiert ist und nicht trägt. Im Übrigen muss man sagen: Wenn es in der Privatwirtschaft zu Unternehmensfusionen kommt, hat dies meistens nicht zur Folge, dass zunächst einmal alles in einer Liegenschaft zentralisiert wird. So geht man auch in der Privatwirtschaft nicht automatisch vor. Es spricht also einiges dafür, dass Effizienz nicht immer mit Zentralisierung einhergeht, sondern dass es erst einmal wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass bestehende Arbeitseinheiten arbeitsfähig sind und arbeitsfähig bleiben und nicht mit einem Umzug oder ähnlichen Dingen beschäftigt werden. Insofern ist Ihr Antrag, auch was die Kosten und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung angeht, nicht unbedingt weiterführend. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Konsens der Beteiligten. Auch ich glaube, es ist richtig, dass man sich immer wieder fragt: Ist das eine sachgerechte Lösung? Können wir damit gut arbeiten? Aber es ist auch wichtig, dass man das Gespräch miteinander sucht, das Gespräch mit der Stadt Bonn und das Gespräch mit den Beschäftigten. Es wundert mich, dass ausgerechnet die Linken einen Antrag einbringen, der gar nicht mit den Beschäftigten besprochen worden ist; das finde ich bemerkenswert. ({4}) Es geht immerhin um 10 000 Menschen und die dazugehörigen Familien, die einfach mal eben nach Berlin geholt werden sollen; ({5}) diese Entscheidung würde, ginge es nach Ihnen, von oben herab gefällt werden, ohne dass zuvor ein entsprechender Konsens erzielt worden wäre. Mit Beamten kann man das machen. Das ist rechtlich möglich. Ob es fair ist, dies ohne entsprechende Konsultationen zu tun, ist eine andere Frage. Konsens herzustellen, ist bei Veränderungen, die man irgendwann einmal vornehmen will, die zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht auch überzeugender sind als heute, sicherlich ganz wichtig. Darum muss man sich bemühen, bevor man solche Initiativen beschließt. Insofern würde ich mir mehr Pragmatismus wünschen. Ich denke allerdings, dieses Thema wird in den nächsten Jahren nicht entscheidend sein, wenn es darum geht, die Finanzen zu retten und die Arbeit unserer Verwaltung zu verbessern. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Claus, wie lustvoll es bei der Linkspartei zugeht, weiß ich nicht; ({0}) das will ich auch gar nicht beurteilen. Ihre Rede jedenfalls war munter und spaßig; das gestehe ich Ihnen zu. Zum Teil war das sogar Realsatire. Wenn Sie sagen, diese Regierung hätte in der Finanz- und Euro-Krise bessere und zügigere Entscheidungen getroffen, wenn alle Ministerien in Berlin gewesen wären, frage ich Sie: Wer soll das bitte glauben? ({1}) Dazu, dass Sie auf die Frage, was denn noch in Bonn bleiben soll, großzügig das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erwähnen, muss ich sagen: Auch das ist eher Karneval. ({2}) Auch dass das Bundeszentralregister, das von Berlin nach Bonn verpflanzt wurde, nicht wieder zurückverpflanzt werden soll: Danke schön für diese Großzügigkeit. Eigentlich wollte auch ich damit anfangen, dass wir ohne die PDS überhaupt nicht hier in Berlin wären. Frau Vogelsang, das ist leider so. Ich war damals gemeinsam mit den anderen Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus - parteiübergreifend - abends im Schöneberger Rathaus. Wir haben dort stundenlang gestanden - von Sitzen war gar keine Rede - und auf das Ergebnis gewartet. Von daher weiß ich, wie hoch emotional das gerade für die Abgeordneten der CDU war. Sie hätten ihre Parteibücher spontan zerrissen, wenn ein anderes Ergebnis herausgekommen wäre. Deswegen habe ich auch das Abstimmungsergebnis im Kopf: 338 zu 320. Deshalb: Ehre, wem Ehre gebührt, und Schande, wem Schande gebührt. Das muss man zu diesem Tag noch einmal sagen; denn das geschah in einer Zeit, als hier ein ehemaliger VEB nach dem anderen geradezu implodierte, ({3}) als wir die Aufgabe hatten, einen Wasserkopf Ost und einen Wasserkopf West der Verwaltungen zusammenzuführen, was natürlich nur durch Entlassungen möglich war, und als gleichzeitig die Berlinhilfe West so gekürzt wurde, dass auch die flache Produktion im Westen zusammenbrach. In dieser Situation hätte eine Entscheidung für Bonn bedeutet, dass wir hier die Bürgersteige hochgeklappt hätten und wie in Dessau oder anderen Städten im Osten nur noch über Stadtrückbau und darüber hätten reden müssen, wie es sich in einem großen Freilichtmuseum lebt, das die Touristen besuchen, um einmal zu sehen, wie eine Industriestadt ausgesehen hat. Das alles ist uns erspart geblieben. Deshalb ist uns dieser Beschluss auch so etwas wie heilig; das sage ich ganz ausdrücklich. Nach Punkt 4 dieses Beschlusses soll eine faire Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn vereinbart werden. Darin steht nicht: Wir schieben die Bonner irgendwann so über die Rolle, wie ihr Berliner beinahe über die Rolle geschoben worden wäret, wenn 40 Jahre Sonntagsreden über deutsche Einheit und über Hauptstadt Berlin in die Tonne getreten worden wären. Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu: Dieses Motto gilt auch hier. ({4}) Herr Kollege Claus, ich muss auch sagen, dass es mich wundert: Sie schreiben zwar, wie prächtig sich Bonn entwickelt hat - das stimmt -, aber Sie verschweigen, dass sich auch Berlin in dieser Zeit ganz prächtig entwickelt hat. ({5}) - Ja. - Ich darf Sie erinnern: Zehn Jahre lang trug Ihre Partei hier Verantwortung; Ihr Gregor Gysi nur sechs Monate und den Rest der Zeit Ihr Harald Wolf. Auch als Opposition sage ich jetzt einmal zu diesem rot-roten Senat: Das ist eine positive Entwicklung. Die Jugend der Welt kommt heute nach Berlin und will hier auch leben und arbeiten. Wir müssen keine Anwerbeprämien und keine Zitterprämien mehr zahlen. Das alles ist nicht mehr nötig. Das war so nicht vorauszusehen. Deswegen können wir ganz gelassen sein und arbeitet die Zeit auch irgendwo für Berlin. ({6}) Ich bin ja auch dafür, dass man flexibel ist, aber man darf doch keine Basta-Politik machen und keinen entsprechenden Antrag - jetzt ist Schluss! - stellen. Wir müssen den politischen Aushandlungsprozess weiterführen. Wenn es zum Beispiel im Rahmen einer Bundeswehrreform sinnvoll ist, hier Veränderungen herbeizuführen, dann soll man das tun. Das alles lässt sich lösen, wenn man gleichberechtigt und ohne solche Scheuklappen bzw. Schubladen, wie „Bonn gegen Berlin“ oder „Berlin gegen Bonn“, vorgeht. Deswegen sage ich auch ganz bewusst: Die vielen Aufpasserinnen und Aufpasser aus Bonn hier wären gar nicht nötig gewesen. Wir in Berlin sind inzwischen sehr gelassen. ({7}) Wir sind insoweit verostet, dass wir das Motto „Freitags ab eins macht jeder seins“ übernommen haben. ({8}) Deswegen gibt es hier in dieser Runde nur relativ wenige Abgeordnete aus Berlin. ({9}) - Herr Krestel, ich habe Sie nicht übersehen. Ich sage nur: Hier sitzen relativ wenige Abgeordnete aus Berlin im Vergleich zu den Aufpassern aus der Rhein-Ruhr-Region. ({10}) Von daher nehmen Sie das als Zeichen unserer Harmlosigkeit. Nehmen Sie das auch als Zeichen unserer Dankbarkeit. Wir wissen, wie viel Solidarität wir in Berlin erfahren haben. Deswegen treten und schlagen wir auch nicht um uns. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Auch Freitag nach eins gilt allerdings: Wenn das Minuszeichen vor der Redezeit auftaucht, ist sie tatsächlich abgelaufen, Kollege Wieland. ({0}) - Woran lag es wohl, dass das so ist? Aber gut. ({1}) Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Volkmar Klein für die Unionsfraktion. ({2})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Wieland hat gerade zu Recht darauf hingewiesen, dass das gegenwärtig geltende Gesetz einen fairen Ausgleich zwischen Bonn und Berlin beinhaltet. Ich kann mir diesbezügliche Anmerkungen sparen und vielleicht auf den Antrag zurückkommen, in dem vorgegeben wird, sparen zu wollen. Offensichtlich hoffen die Antragsteller, dadurch gute Kommentare zu erhalten. Nur, erstaunlicherweise sind Sparen und wirtschaftliches Denken normalerweise überhaupt nicht Sache der Linken. Dennoch bekommen wir hier in regelmäßigen Abständen einen solchen Antrag vorgelegt. Vielleicht gibt es dafür auch ganz andere Gründe. Vielleicht will eine Partei, deren eigene Historie von Stacheldraht und Diktatur geprägt ist, vielleicht sogar zusammengehalten wird, ein Symbol für Demokratie und Freiheit in Deutschland am liebsten abschaffen; denn genau dafür, für Freiheit und Demokratie in Deutschland, steht Bonn, für Werte, die mit Bonn eigentlich in Deutschland erst heimisch geworden sind. Aber das gilt nicht nur für Freiheit und Demokratie. Bonn steht auch für gelebten Föderalismus und Dezentralität. Einige Länder auf der Welt suchen für sich andere Hauptstädte, mit denen sie genau das dokumentieren können. Das sind natürlich alles Themen, mit denen die Linken keinen Vertrag haben; all das sind Werte, mit denen sie weiterhin fremdeln. Hier sollen offensichtlich Traditionslinien gekappt und Identitäten deutscher Demokratie infrage gestellt werden. Das machen wir nicht mit. Uns ist wichtig: Ohne Bonn in der deutschen Geschichte gäbe es auch keine Freiheit für Chemnitz. ({0}) Diese ist uns genauso wichtig. ({1}) Jetzt ist es natürlich nicht so, dass dies ein teures Hobby wäre, wie hier und da insinuiert wird, ganz im Gegenteil: Wir haben eben schon einiges zu den Zahlen gehört. Wir müssen davon ausgehen, dass maximal 10 Millionen Euro an jährlichen Kosten für die getrennten Standorte entstehen. ({2}) Wenn man aber einmal überlegt, was ein Umzug - die Schätzungen liegen zwischen 3 und 5 Milliarden Euro kosten würde, dann kann man selbst bei dem heutigen extrem niedrigen Zinsniveau zu horrenden Zinszahlungen kommen. Wenn wir von Kosten in Höhe von nur 3 Milliarden Euro und von nur 2 Prozent Zinsen ausgehen, dann macht das 60 Millionen Euro Zinsen im Jahr. Das heißt, die ganze Operation, mit der vorgegeben wird, sparen zu wollen, kostet aufgrund der horrenden Zinszahlungen am Ende im Jahr viermal so viel wie heute. Also auch wirtschaftlich ist dieser Antrag substanzlos. Jetzt hat der Kollege Claus in seiner ihm eigenen freundlichen Ironie eben auf die Normalität seiner Partei hingewiesen und damit ein bisschen kaschiert - von Dialektik versteht man bei den Linken mehr als bei den anderen -, dass da noch einiges auszudiskutieren ist. Wenn man sich die Anträge der Linken im nordrhein-westfälischen Landtag ansieht - er hat selber darauf hingewiesen -, stellt man fest, dass diese diametral in die andere Richtung gehen. Da wird nicht nur gesagt: „Am Berlin/ Bonn-Gesetz muss festgehalten werden“, vielmehr soll das sogar jede einzelne Position betreffen. Ich will das jetzt nicht vorlesen; die Zeit können wir uns sparen. Es ist die Landtagsdrucksache 15/2907. Ich schlage vor, diese internen Probleme erst einmal bei den Linken selber zu klären. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Kosten weiter zu senken; auch das haben wir eben gehört. Dieser Prozess kann sicherlich noch verbessert werden. Bonn muss jedenfalls ein Symbol für Freiheit und Demokratie in Deutschland bleiben. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({0}), Tom Koenigs, Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Regime in Syrien international isolieren - Drucksache 17/8132

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in Syrien ist wirklich dramatisch. Seit mehr als zehn Monaten protestieren Hunderttausende in Syrien gegen das Assad-Regime und riskieren dabei ihr Leben. Mehr als 5 000 wurden laut UN-Angaben bisher getötet, darunter mehr als 300 Kinder. Hunderte starben durch Folter, auch darunter viele Kinder. Mehr als 60 000 Menschen werden vermisst. Das ist noch nicht alles. Das IKRK darf keine Aufständischen versorgen. Damit wird klar gegen Konventionen verstoßen. Staatliche Krankenhäuser werden zu Folterkammern. Ärzte, die Aufständische versorgen, werden gefoltert und ermordet. Ich denke, es geht den meisten hier so, dass es angesichts dieser Lage unerträglich ist, dass die internationale Gemeinschaft diesem Morden immer noch hilflos zuschaut, weil das wichtigste für Frieden und Sicherheit zuständige internationale Gremium, nämlich der UNSicherheitsrat, diese schweren Menschenrechtsverletzungen bis heute nicht einmal verurteilt, geschweige denn Sanktionen verhängt hat. Ich halte das für einen politischen Skandal. ({0}) Was sind die Gründe dafür? Es liegt vor allem daran, dass Russland eine knallharte internationale Interessenpolitik betreibt, Kriegsschiffe für Assad auffährt und das Regime weiter mit Waffen versorgt. Ich möchte an dieser Stelle Russland und China auffordern: Beenden Sie Ihre Blockade im Sicherheitsrat! Der Sicherheitsrat muss die Gräueltaten des Assad-Regimes klar verurteilen. Das ist das Mindeste. Solange das nicht passiert, sind Sie - auch das sage ich sehr deutlich - mitverantwortlich für jedes weitere Morden in Syrien. Solange das nicht passiert und das Regime nicht endlich politisch isoliert wird, wird es umso brutaler gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, weil es hofft, den Kampf doch noch überleben zu können. Immerhin haben die Europäische Union, die USA und andere inzwischen Sanktionen, ein Öl- und ein Waffenembargo verhängt. Dass zum Beispiel das Ölembargo wirkt, hat der syrische Ölminister gestern selbst gesagt. Er hat von schweren Verlusten in Höhe von 2 Milliarden US-Dollar gesprochen. Ich denke, zumindest die vernünftigen Teile der Linken sollten die abstruse Position bestimmter Teile der Fraktion noch einmal überdenken, dass solche Sanktionen Kriegsvorbereitung seien. Sie sind vielmehr die nichtmilitärische Alternative zum Krieg. ({1}) Ich begrüße ausdrücklich, dass der Europäische Rat am Montag seine Sanktionen weiter verschärfen will. Ich denke auch, dass es ein wichtiger Schritt war, dass die Arabische Liga aktiv geworden ist. Sie hat die Mitgliedschaft Syriens suspendiert und Sanktionen für den Fall beschlossen, dass der von der Liga vorgelegte Friedensplan nicht akzeptiert wird. Auch die Entsendung der Beobachtermission war zunächst eine richtige Maßnahme. In der Zeit haben immerhin die größten Demonstrationen stattgefunden, die Syrien bis dato gesehen hat. Allerdings: Jemanden wie den sudanesischen General Mustafa al-Dabi, der dem einen oder anderen hier gut bekannt ist und der als verantwortlicher General selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen in Darfur zu verantworten hat, zum Chef der Mission zu machen, heißt, den Bock zum Gärtner zu machen. Die 165 Beobachter haben sich wohl zum Teil ziemlich ahnungslos vom Assad-Regime vorführen lassen. Damit ist die Mission diskreditiert. Ich erwarte daher nicht sehr viel von dem morgigen Bericht. Fest steht: Von den Bedingungen des Friedensplans der Arabischen Liga, deren Einhaltung die Mission überwachen sollte, hat Assad keine einzige erfüllt: kein Rückzug der Armee aus den Städten und kein Ende der Gewalt. Im Gegenteil: Während der Mission gab es laut UN mehr Tote als zuvor. Ich fordere daher die Arabische Liga auf: Wenn sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, muss sie ihre eigenen Beschlüsse ernst nehmen. Das heißt, sie muss sofort ihre Mission beenden, Syrien dauerhaft aus der Arabischen Liga ausschließen und den Fall an den UN-Sicherheitsrat überweisen. So hat es die Arabische Liga beschlossen. Mit einer Fortsetzung der Beobachtermission, unter deren Augen das Morden einfach weitergeht, macht sich die Arabische Liga für das Regime zum nützlichen Idioten. ({2}) Ich komme nun auf einen schwierigen Punkt zu sprechen. Ich bin der Meinung, dass hier die Voraussetzungen für Responsibility to Protect, die Wahrnehmung der internationalen Schutzverantwortung, gegeben sind. Da die syrische Regierung die einheimische Bevölkerung massakriert, haben wir, die internationale Gemeinschaft, die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Ich sage: Ja, es ist richtig, es besteht die Gefahr eines Flächenbrands, wenn die Lage eskaliert. Deshalb ist eine Intervention oder die Einrichtung einer No-fly-Zone die falsche Antwort. Dennoch will ich zum Schluss zu bedenken geben, ob es nicht notwendig ist, dass die internationale Gemeinschaft über Sanktionen hinaus eine humanitäre, entmilitarisierte Sicherheitszone - nicht in Kerstin Müller ({3}) Syrien, wohl aber in der Türkei - einrichtet, in die die Flüchtlinge, aber auch Deserteure, die sich zur Abkehr entschlossen haben, fliehen können; denn die Schutzverantwortung verpflichtet uns, alles zu tun, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Dieser Verantwortung werden wir bislang nicht gerecht. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Dr. Thomas Feist. ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über Sanktionen - diese werden immer dringlicher - und ein klares Bekenntnis gegen das syrische Regime. Heute ist der richtige Zeitpunkt dafür. Sicherlich wäre ein früherer Zeitpunkt noch besser gewesen - Ihr Antrag stammt von Dezember letzten Jahres -; aber es ist gut, dass wir uns heute dafür Zeit nehmen. Wir sind uns in diesem Hause über wesentliche Punkte einig. Frau Müller, Sie haben das kurz angesprochen: Es gibt immer einige Spinner, die dagegen sprechen. So gab es bereits gestern eine Aktuelle Stunde zu einem abstrusen Aufruf, den sechs Bundestagsabgeordnete der Linken unterschrieben haben. Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, nur sagen: Es wäre wichtig, dass sich Ihre Führung eindeutig dagegen ausspricht und sich klar davon distanziert. Dieser Aufruf ist menschenverachtend und zynisch. ({0}) Mehr als 5 000 Tote, Zehntausende in Internierungslagern, psychische und physische Folter, dazu können und wollen wir nicht schweigen. Nun zu dem Antrag der Grünen. Frau Müller, Sie haben völlig recht: Der UN-Sicherheitsrat und die Arabische Liga sollten hier endlich klare und akzeptable Signale setzen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken. Aber die Bundesregierung tut genau das. Sie hat es im UN-Sicherheitsrat nicht vermocht, die lupenreinen Demokraten in Russland oder die Kapitalkommunisten in China zu überzeugen, entsprechende Positionen zu unterstützen. Daran müssen wir sicherlich noch arbeiten. Aber wie Sie wissen, ist es schwierig, gegen die Eigeninteressen von Russland, China und Syrien anzukämpfen. Dennoch dürfen wir nicht nachlassen. Wir brauchen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die das Vorgehen der syrischen Führung klar und deutlich verurteilt. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle auf die besondere Verantwortung hinweisen, die die Arabische Liga trägt. Es handelt sich hier um den ersten größeren Einsatz der Arabischen Liga. Sie hat schon Sanktionen ausgesprochen. Das ist in der Geschichte beispiellos. Aber wir werden die Staaten der Arabischen Liga daran zu messen haben, ob es ihnen gelingt, die Sanktionen gegen Syrien umzusetzen; denn vorwiegend müssen die Probleme dort gelöst werden, wo sie entstanden sind. Das ist der arabische Raum. Deswegen fordern wir die Arabische Liga auf, sich noch deutlicher und klarer als bisher gegen das Regime in Syrien zu positionieren. Sie fordern in Ihrem Antrag eine stärkere Isolation Syriens. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert - das wissen wir alle -; denn es wäre nicht das erste Mal, dass man es in einem neuen System auch mit Funktionsträgern aus dem vorherigen System zu tun hat. Deswegen versuchen wir dort, wo es möglich und sinnvoll ist, noch Unterstützung zu geben. Ich nenne als Beispiel dafür die Auswärtige Kulturund Bildungspolitik. Natürlich konnten wir nicht anders - die Regierung hat hier sehr verantwortungsvoll entschieden -, als diejenigen, die nicht unbedingt notwendig sind, um in den Goethe-Instituten oder den deutschen Auslandsschulen zu unterrichten, zurückzuholen. Aber es ist wichtig, für die syrische Opposition, vor allen Dingen für die Intellektuellen, Anlaufpunkte offenzuhalten. Ich bin unserer Staatsministerin sehr dankbar dafür, dass wir das nach wie vor tun; denn bei einem Regimewechsel braucht man Brücken. Wir haben gesehen, wie hervorragend das in Ägypten funktioniert hat, gerade durch das Engagement der Goethe-Institute auch in schwieriger Zeit. Ich darf noch zu einzelnen Punkten kommen. Keine Angst, ich werde die zwölf Minuten Redezeit nicht ganz ausschöpfen! Ich habe Ihnen zwei Minuten geschenkt, und ich werde auch dem Hohen Haus sozusagen noch ein paar Minuten zukommen lassen. Es ist wichtig, dass die nächsten Schritte wirklich Sanktionen bringen, die fühlbar werden. Das Waffenembargo, das Einfuhrverbot für Ölprodukte und den Exportstopp für Technologie nach Syrien haben Sie angesprochen. Dazu ist in Ihrem Antrag ein Punkt zu finden. Darin geht es um ein Kraftwerk, das Siemens dort bauen soll. Sie sagen, es wäre gut, wenn das in der momentanen Situation nicht geschähe. Auf der anderen Seite reden Sie davon, dass das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen aufgekündigt werden soll. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Den kann man nicht so einfach außer Kraft setzen. Sie wissen doch auch ganz genau, dass momentan - das ist gestern angesprochen worden - keine syrischen Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben werden. ({2}) - Nach Ungarn, aber nicht nach Syrien. Von Ungarn woandershin zu kommen, das war 1989 für die DDR-Bürger etwas anderes. ({3}) Ich denke schon, dass auch die Ungarn ihrer Verantwortung gerecht werden. Wir werden auf jeden Fall von Deutschland aus darauf achten, dass jetzt möglichst keine Flüchtlinge abgeschoben werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Feist, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Beck?

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie sprechen davon, dass Sie davon ausgehen, dass Ungarn nicht nach Syrien abschiebt. Ist Ihnen bekannt, was ich gestern in der Aktuellen Stunde bereits angesprochen habe, nämlich dass die aktuelle Erlasslage in Ungarn vorsieht, weiter nach Syrien abzuschieben, dass dies auch geschieht und dass es deshalb unverantwortlich ist, wenn wir die Drittstaatenregelung nach der Dublin-II-Verordnung bei syrischen Flüchtlingen für Ungarn weiter anwenden? ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen gibt es einen Erlass, in dem steht, dass es momentan nicht ratsam sei, syrische Flüchtlinge abzuschieben. Das haben Sie gestern auch angesprochen. Mir geht es nicht in erster Linie um die Formulierung, die gewählt worden ist, sondern mir geht es darum, dass dies momentan ausgesetzt wird. ({0}) - Dafür sind die Linken bekannt, vor allen Dingen Sie, Kollege Gehrcke. ({1}) Die Grünen sagen, dass Assad zurücktreten muss. Das ist etwas, was wir durchaus teilen. Die Frage ist nur, ob die deutsche Regierung jemanden auffordern kann, zurückzutreten und sich freiwillig vor dem Internationalen Strafgerichtshof seiner Verantwortung zu stellen. ({2}) Das sind Fragen, die in der weiteren Beratung sicher noch eine Rolle spielen werden. Wir sind heute in der ersten Beratung. Wir werden noch weiter darüber reden. Abschließend möchte ich noch etwas zum humanitären Engagement Deutschlands sagen. Sie haben die Flüchtlinge in der Türkei angesprochen. Das internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond kümmern sich um diese Flüchtlinge. Deutschland - auch das ist ein deutlicher Beweis dafür, dass wir uns um die Problematik der Flüchtlinge kümmern - ist an der Finanzierung dieser Maßnahmen mit 50 Prozent beteiligt. Ich denke, das ist eine gute Nachricht. Dies sollten wir festhalten: auf der einen Seite humanitäre Hilfe leisten und auf der anderen Seite schauen, dass Sanktionen genau das bringen, was sie bringen sollen, nämlich den Freiheitswillen des syrischen Volkes zu unterstützen. Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Wochenende. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie in vergleichbaren Fällen gibt es auch im Falle Syriens keine einfachen Antworten. Das gilt für die Vergangenheit und wird gerade in dieser Region wahrscheinlich leider auch für die Zukunft gelten. Jedes Land und jede Situation ist anders. Deshalb muss auch jede Reaktion von der internationalen Staatengemeinschaft wohlüberlegt und unter Umständen auch anders sein. Aber in jedem Fall muss die Gewalt vonseiten des Assad-Regimes beendet werden. ({0}) Das steht für alle Fraktionen im Vordergrund der Forderungen gegenüber dem syrischen Regime. Ich bekenne mich persönlich: Wir sind parteiisch und nicht frei von Sympathien und Hoffnungen für die Demonstranten, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten. Aber ich fühle auch Scham und Hilflosigkeit, weil wir nicht in dem Maße reagieren können, wie es notwendig wäre, weil - das haben die Vorredner schon angeführt - die Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben sind, weil es in dem Gremium, das nach dem Zweiten Weltkrieg für Frieden und Kooperation geschaffen worden ist, für weitergehende Handlungen keine Einigkeit gibt. Es ist nicht leicht, dass man nicht mehr tun kann. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. Syrien ist ein ethnisch und religiös gespaltener Staat, der von seiner Geschichte geformt ist. Aber ich will vor einer leichtfertigen Reaktion, wie man sie oft in der Berichterstattung sieht, warnen. Viele Menschen in Syrien - Kurden, Christen, Drusen und andere - wollen genauso Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber dem Regime und unterstützen nicht vordergründig Assad. Sie haben ihre eigene Biografie mitgebracht. Ich denke, diesen Unterschied sollten wir beachten. Wir sollten nicht dem fatalen Irrtum anheimfallen, anzunehmen, dass eth18388 nische oder religiöse Auseinandersetzungen immer machtpolitisch missbraucht werden. Wir haben in der eigenen europäischen Geschichte gesehen, wie ethnische und religiöse Konflikte - wie im ehemaligen Jugoslawien - für Machtpolitik missbraucht worden sind. Dieser einfachen Logik dürfen wir in Syrien nicht folgen. Deshalb habe ich allen Respekt vor jenen, die in Syrien gegen dieses Regime demonstrieren, egal welcher Ethnie oder Religion sie angehören. ({1}) Genauso differenziert müssen wir die Rolle der Arabischen Liga betrachten. Sie hat sich mit den Umbrüchen in der arabischen Welt verändert. Sie ist differenzierter und angemessener geworden. Sie handelt vielleicht noch nicht mutig genug; aber ich denke schon, dass wir die Arabische Liga und die Verantwortlichen heute stärker darin unterstützen sollten, das Regime in Syrien an den Pranger zu stellen. Die Suspendierung war richtig. Aber im Grunde muss sie nach dem morgen vorliegenden Bericht der Beobachtermission tätig werden und über die geschlossenen Kompromisse hinausgehen. Kollegin Müller hat es angesprochen: Der Leiter der Beobachtermission ist ein suspekter Akteur. Er wurde vom Assad-Regime in dieser Rolle gewünscht, und die Arabische Liga ist dem gefolgt. Das kann man nicht akzeptieren. Ich finde, morgen sollte die Arabische Liga sehr deutlich machen, dass sie dies nicht mehr goutiert, dass sie in eine andere Richtung geht und gegenüber dem syrischen Regime viel deutlicher aktiv wird als in der Vergangenheit. Ansätze dafür sind vorhanden. Es waren mutige Beobachter in der Mission, die gesagt haben: Ich kann mein Amt nicht mehr ausführen. Ich habe so viel Gewalt und so viele Schandtaten erlebt, dass ich mich zurückziehe. - Es hat mutige Vertreter in der Beobachtermission gegeben, die sich den Machenschaften dieses Regimes ausgeliefert fühlten und von ihrem Amt zurückgetreten sind. ({2}) Ein weiterer Aspekt, der meines Erachtens für ein differenziertes Bild mit berücksichtigt werden muss, ist die Rolle des Westens gegenüber Syrien. Diese ist ebenso wie die Rolle des Westens gegenüber Russland - ich werde gleich noch kurz darauf eingehen - von den Erfahrungen geprägt, die Syrien machte, als es in der Vergangenheit zu Verwerfungen in den Nachbarländern gekommen ist. So hat Syrien zum Beispiel eine Menge Flüchtlinge aus dem Irak - wir kennen die Situation dort und aus dem Libanon aufnehmen müssen. Die Syrer haben diese Bürgerkriege vor Augen und auch die sehr schwierigen Situationen, die damit in der Vergangenheit verbunden waren. Wenn es all diese Ereignisse in der unmittelbaren Nachbarschaft von Syrien in der Vergangenheit nicht gegeben hätte, wären heute möglicherweise noch mehr Syrer bereit, gegen ihr Regime auf die Straße zu gehen und zu kämpfen. Doch jetzt haben sie auch immer diese Bilder aus der Vergangenheit vor Augen. Wenn wir, völlig zu Recht, Vorwürfe gegen andere Akteure im Sicherheitsrat erheben, müssen wir uns natürlich auch immer wieder die geschichtliche Verantwortung des Westens in der Vergangenheit in Erinnerung rufen. Dennoch: Die syrische Opposition bekommt von uns alle Sympathien und alle Unterstützung. Das sollte nicht nur verbal geschehen, sondern auch im Rahmen des zurzeit Möglichen. Damit komme ich zur Rolle der Türkei. Ich finde es beeindruckend, dass insbesondere Ministerpräsident Erdoğan seine Haltung gegenüber Syrien in einem wahrscheinlich schwierigen Umdenkprozess geändert hat und dass heute die Türkei eine andere Rolle einnimmt als in den vergangenen Wochen. Das hat auch der Opposition genützt. So konnten sich syrische Oppositionelle in der Türkei treffen. Vertreter des Deutschen Bundestages hatten Gelegenheit, dabei in der Türkei mit ihnen zu reden. Dass die Opposition auch von weiteren Nachbarländern so unterstützt wird, geht letztlich auf das Konto der Türkei. Deswegen sollte die Bundesregierung die Türkei bei ihrer Haltung jedwede Unterstützung zusagen, nicht nur bezüglich der Flüchtlinge, sondern insbesondere auch politisch. Ich bedaure, dass die dritte Rede von Präsident Assad nicht den geringsten Anlass zur Hoffnung gegeben hat. Er hat weder signalisiert, dass er bereit wäre, auf Gewalt zu verzichten, noch gab es irgendein Anzeichen dafür, dass er der Opposition Angebote machen wird. Das ist nicht erträglich. Das müssen wir insbesondere auch Russland sagen. Russland muss klargemacht werden, dass es, wenn es schon meint, eine Schutzfunktion übernehmen zu müssen, auch auf eine Änderung des Verhaltens von Präsident Assad hinwirken muss. ({3}) Diese Verantwortung hat Russland; sonst macht es sich auf internationaler politischer Bühne schuldig. Gezielte Sanktionen vonseiten der Europäischen Union oder auch von einzelnen Ländern sind richtig, wie das Einfrieren von Konten oder die gezielte Außerkraftsetzung einzelner Handlungsoptionen der Akteure des syrischen Regimes. Weiterhin aktuell ist für Deutschland aber auch - wir hatten ja im letzten Jahr fast zur selben Zeit einen entsprechenden Antrag gestellt - die Kündigung des Rückübernahmeabkommens, die Aussetzung von Abschiebungen. Wir sollten das nicht auf verschlungenen Pfaden umsetzen, sondern ein ganz deutliches Zeichen setzen, indem wir dieses Rückübernahmeabkommen kündigen und keine Abschiebungen mehr vornehmen. ({4}) Zum Schluss möchte ich der Bundesregierung noch eine Überlegung mit auf den Weg geben: Frau Staatsministerin, ich möchte Sie wirklich bitten, noch einmal zu überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, alle europäischen Botschafter, zumindest zu Konsultationen, zurückzuziehen. Ich glaube, damit würden wir der Opposition ein deutliches Signal geben. Das Argument, das bisher dagegen gesprochen hat, nämlich dass man sich so der einzigen Möglichkeit berauben würde, um mit der Opposition in Kontakt zu treten, trägt heute nicht mehr. Dieses Vorgehen wäre zumindest erwägenswert. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wie schön.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht allzu sehr überrascht.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, vielen Dank. - Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Süddeutsche Zeitung hat für einen Artikel vom 20. Dezember 2000 folgende Überschrift gewählt: „Damaszener Morgenluft“. In diesem Artikel wurde auf die Reformen eingegangen, die der damals neue Präsident Assad junior, der ein halbes Jahr vorher installiert worden war, in Angriff genommen hat. Das heißt, seine Amtsübernahme ist positiv bewertet worden und gab Anlass zur Hoffnung. Assad hatte das berüchtigte Mezze-Gefängnis, in dem Tausende von Gefangenen gefoltert worden sind, aufgelöst. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: Die Presse in Syrien ist so frei wie noch nie. Sogar die Gründung privater Zeitungen wird diskutiert. Wenn Intellektuelle mehr Freiheit fordern und die Regierung kritisieren, lässt Baschar al-Assad sie gewähren. Anfragen seines Sicherheitsdienstes, ob man gegen die Kritiker wie in alten Tagen vorgehen solle, beschied der Präsident abschlägig. Das war damals nach Beobachtung von uns allen ein Hoffnungsschimmer in Syrien. Die Süddeutsche Zeitung hat es so ausgedrückt, wie wir es sicherlich auch alle empfunden haben. Es gab Hoffnung, dass dieser junge, im Westen ausgebildete Präsident als Nachfolger seines Vaters anders vorgehen würde. Leider hat die Zeit gezeigt, dass dieses Hoffnungspflänzchen Monat für Monat, Jahr für Jahr zertrampelt worden ist. Syrien ist in den Folgejahren eher zu einer Art Schurkenstaat geworden. Dennoch haben wir als Opposition es damals für gut befunden, dass der damalige Außenminister Steinmeier als hochrangiger Vertreter erstmals Syrien besucht und auch hier den syrischen Außenminister empfangen hat. Wir fanden das gut; denn es ist richtig und wichtig - auch heute noch -, zu versuchen, auch auf Staaten, mit denen man Probleme hat, politischen Einfluss zu nehmen. Wir haben das damals ausdrücklich unterstützt. Ich nehme von dieser Unterstützung auch heute nichts zurück. Leider hat sich dann vieles sehr dramatisch entwickelt, wie wir zur Kenntnis nehmen müssen. Der arabische Frühling ist spätestens seit den Ereignissen in Libyen und in Syrien fast zu einem arabischen Drama geworden. So hoffnungsvoll es begonnen hat, so problematisch ist die Situation speziell in Syrien und Libyen. Nun werden Libyen und Syrien häufig miteinander verglichen - auch darin, was wir machen können und was wir nicht machen können. Natürlich gibt es Vergleichsmöglichkeiten: Die Leute gehen auf die Straße, weil sie mit der Situation unzufrieden sind. Es gibt aber auch jede Menge gigantischer Unterschiede zwischen Libyen und Syrien. Deshalb ist eine Vergleichbarkeit der Situation nicht gegeben. Ein großer Unterschied ist, dass Libyen ein relativ isoliertes Land mit geringen Auswirkungen auf andere Nachbarstaaten ist. Das ist in Syrien völlig anders. Die Problematik der Situation liegt darin begründet, dass Syrien im Zentrum einer gefährlichen Region liegt. Alles das, was in Syrien passiert, hat Auswirkungen auf den Libanon, auf Iran, auf Israel, auf die gesamte Region. Deshalb ist Syrien ein Pulverfass, und deshalb müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir hier am besten vorgehen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Arabische Liga einen Paradigmenwechsel vorgenommen hat. Das war für diese Länder nicht einfach. Frau Müller, über Ihren Vorschlag, darauf hinzuwirken, dass die Beobachter abziehen, müssen wir aber noch einmal intensiv reden. Wir müssen uns wirklich überlegen, ob dieser Vorschlag richtig ist. Ich bezweifle das zum jetzigen Zeitpunkt, Frau Müller. Wenn die Arabische Liga ihre Beobachtermission fortsetzt - heutigen Agenturmeldungen zufolge soll die Zahl der Beobachter auf 300 verdoppelt werden -, heißt das, dass sie mit im Boot ist und für das in Haftung genommen werden kann, was passiert. Ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir die regionalen Kräfte einbinden. Ich habe großen Respekt vor der veränderten Rolle der Arabischen Liga. Dass sie nicht so handelt, wie wir es wollen, ist völlig klar. Wir müssen uns aber auch überlegen, wo diese Leute herkommen. Es gab noch nie den Fall, dass es die Arabische Liga gewagt hat, einen Mitgliedstaat so zu behandeln wie Syrien. Das ist ein neuer Schritt. Wir fordern mehr; aber wir sollten die Arabische Liga in ihrem Handeln unterstützen. ({0}) Ähnlich sieht es mit der Rolle der Türkei aus. Herr Mützenich, ich stimme dem, was Sie dazu ausgeführt haben, völlig zu. Wir können dankbar sein, dass sich die Türkei einmischt. Wir müssen auch froh darüber sein - und dies bestärken -, dass uns, dem Westen, nicht immer automatisch die Rolle des Weltpolizisten zukommt, der die Probleme lösen muss. Ich hoffe, es wird in Zukunft öfter passieren, dass schlagkräftige regionale Partner dafür sorgen, dass sich die Situation verändert. Deshalb finde ich es sehr gut, dass die Arabische Liga weitermacht, und deshalb finde ich es auch sehr gut, dass die Türkei sich nach langem Zögern eindeutig positioniert hat. Die Europäische Union und Deutschland haben den syrischen Nationalrat, also die Oppositionsbewegung, anerkannt. Herr Ghaliun war am 14. November letzten Jahres hier in Berlin und hat mit Außenminister Westerwelle gesprochen. Damit haben wir sehr deutlich gemacht, auf welcher Seite wir stehen. In Syrien erleben wir in diesen Tagen interessanterweise eine Spaltung der Baath-Partei. Es gibt eine neue Baath-Partei; es gibt dort neue Entwicklungen, die wir genau beobachten müssen. Auch das Bild dieses Regimes bröckelt natürlich, und das müssen wir im Auge behalten. Aus heutiger Sicht sieht die Perspektive für die Zukunft nicht sehr positiv aus. Wir müssen zunächst einmal versuchen, zu erreichen, dass das Morden aufhört. Deshalb stimme ich allen Vorrednern zu, dass es darum geht, zu versuchen, mit Sanktionen so viel wie möglich zu erreichen. Ich bin sehr froh darüber, dass alle Vernünftigen im Deutschen Bundestag einhellig der Meinung sind, dass wir dies tun sollten. Es besteht natürlich die Gefahr eines Bürgerkrieges. Außerdem besteht die Gefahr, dass sich weitreichende Spill-over-Effekte ergeben. Das ist außerordentlich problematisch. Es kann sogar passieren, dass nach Überwinden des Assad-Regimes die Aleviten, die circa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die aber das Regime stellen, plötzlich zu Verfolgten werden. Wir müssen dann besorgt sein, ob es nicht eventuell einen Völkermord mit umgekehrten Vorzeichen gibt. Mit all diesen Dingen müssen wir uns beschäftigen. Ich plädiere dafür, dass die Bundesregierung ihre sinnvolle Einflussnahme fortsetzt und dass sie zusammen mit anderen europäischen Staaten das Sanktionsregime verstärkt. Ich plädiere vor allem dafür, dass wir die Regionalkräfte ermuntern, ihren Einfluss geltend zu machen. Das ist wahrscheinlich sinnvoller und wirkungsvoller als all das, was wir hier tun können. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! - Kolleginnen und Kollegen, ich hätte mir nach der gestrigen Veranstaltung - eine Debatte ist es ja nicht gewesen ({0}) sehr gewünscht, dass man heute einmal tatsächlich über Syrien und über die Probleme des Landes redet, was nur teilweise der Fall war. Ich will mich mit dem anderen Unsinn nicht beschäftigen. ({1}) Ich habe mich immer an das gehalten, was die linken und demokratischen Kräfte in den betroffenen Ländern selbst vorschlagen und fordern. Ich will Ihnen einmal vorlesen, welche Forderungen der Nationale Koordinierungsrat - dort sind die linken und demokratischen Kräfte der Opposition vertreten - aufgestellt hat: Wir halten dabei an drei Ablehnungen fest: - das muss von allen Mitgliedern unterschrieben werden nein zur Gewalt, nein zur konfessionellen Spaltung des Landes und nein zur ausländischen Einmischung. Das sind die Forderungen. Ich finde sie richtig und teile sie. Ich schlage Ihnen erstens vor, dass wir nächste Woche - wir werden eine namentliche Abstimmung beantragen - über zwei Punkte entscheiden. Der Deutsche Bundestag muss sich gegen jegliche Form - ohne Tricks von Abschiebungen nach Syrien aussprechen, und das muss möglichst von allen Fraktionen getragen werden. ({2}) Ich bin zweitens dafür, dass wir uns auf einige Sanktionen hier einigen. Ich möchte unbedingt, dass wir uns gemeinsam gegen Rüstungsexporte und Waffenlieferungen nach Syrien und in die gesamte Nahostregion aussprechen. ({3}) Ich habe auch nichts dagegen, wenn gegen die Repräsentanten dieses Regimes Reiseverbote verhängt werden. Aber ich unterstütze keine Sanktionen, die die Bevölkerung treffen. Darüber kann man nächste Woche in namentlicher Abstimmung entscheiden. Ich will jetzt zu den einzelnen Forderungen etwas sagen. Die Forderung „Nein zur Gewalt“ richtet sich in erster Linie an das Regime Assad. Das muss ausgesprochen werden, und es wird auch von der Linken ausgesprochen. Von Assad geht die staatliche Gewalt aus. Er setzt staatliche Gewalt ein. Es ist in keiner Weise akzeptabel und auch nicht begründbar, wie die staatliche Gewalt in Syrien eingesetzt wird. Das soll hier klar ausgesprochen werden. ({4}) Ich möchte aber auch feststellen, dass wir davon abraten, dass auf der anderen Seite Gewalt eingesetzt wird oder dass von außen zur Gewalt aufgerufen wird. Hier gibt es eine Differenz mit meinen Freunden in Syrien. Sie sagen, Verhandlungen mit dem Assad-Regime sind unsinnig, bringen nichts. Ich sehe aber keinen anderen Weg als Verhandlungen. Das ist eine nicht ganz einfache Frage. Syrien, das sich in Teilen schon in einem Bürgerkrieg befindet, darf nicht weiter in einen Bürgerkrieg abgleiten. Ich will den Kollegen Hans-Ulrich Klose zitieren - das mache ich nur selten -, der zu diesem Thema am 16. Januar etwas sehr Vernünftiges gesagt hat. Er hat gesagt: „Internationale Bemühungen sollten sich darauf konzentrieren, überhaupt Gesprächskontakte zwischen beiden Konfliktparteien herzustellen.“ Er sagte weiterhin, die Alternative dazu sei der Bürgerkrieg. Ich sehe es ähnlich. Man muss miteinander reden, wenn man verhindern will, dass weiter aufeinander geschossen und gemordet wird. ({5}) Man muss miteinander reden, um zu Vereinbarungen zu kommen. Ich sehe keinen anderen Weg. Ich bin auch dafür, dass hier deutlich gegen ausländische Einmischung, gegen militärische Bedrohung und das Spiel mit militärischer Drohung Stellung bezogen wird. Wir - ich jedenfalls bin es - sind alle gebrannt von dem, was in Libyen passiert ist. Es fing harmlos an, und es endete bei 50 000 Toten in diesem Krieg. Ich weiß, wie der Irakkrieg in Szene gesetzt worden ist. Ich möchte keine Wiederholung. ({6}) Erinnern Sie sich doch daran, was der Kollege Mißfelder hier ausgeführt hat. Waffengewalt bleibt auf der Tagesordnung. Sie können viele Zitate finden, dass der Bürgerkrieg in Syrien mindestens von außen angeheizt wird, weil man kein Interesse an einer Vereinbarung hat. ({7}) Wer nicht will, dass weiter geschossen wird, sollte auch bereit sein, zu Verhandlungen überzugehen. Da muss man Druck auf das Regime ausüben. Ich bin nicht für unverbindliche Verhandlungen. ({8}) Ich bin für klare Verhandlungen, die ein Ergebnis bringen, dass das Morden und die Gewalt in Syrien aufhören. Das ist die Position, die ich vorschlagen möchte. Das ist eine Position, die auch in Syrien sehr breit akzeptiert wird. Gehen Sie nicht nur von Ihren Bildern von außen aus, sondern reden Sie mit den politischen Kräften, die in der Opposition sind, dann werden Sie zu anderen Ergebnissen kommen. Schönen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8132 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 25. Januar 2012, 13 Uhr. Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende, soweit dies möglich ist. Die Sitzung ist geschlossen.